Stop Teaching!: Neue Theaterformen mit Kindern und Jugendlichen [1. Aufl.] 9783839414088

New theater forms keep being developed together with children and adolescents, who are taken seriously as agents and exp

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German Pages 338 Year 2014

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Stop Teaching!: Neue Theaterformen mit Kindern und Jugendlichen [1. Aufl.]
 9783839414088

Table of contents :
Vorwort
GRUNDLAGEN UND GESELLSCHAFTLICHER KONTEXT
Stop Teaching! Theater als Laboratorium (a)sozialer Phantasie
Paradoxe Verhältnisse Zum biopolitischen Kontext der Theaterarbeit mit Kindern und Jugendlichen
Vom Hoffnungsträger zum Problemfall Kindheitsbilder im Theater für Kinder
Müssen wir heute wieder machen, was wir selber wollen? Das Paradox beauftragter Selbstständigkeit
Cabinet Particulier Ein separater Diskursraum für Jugendproduktionen?
Fremdes in Bildung und Theater/Kunst
Gemeinsam lernen Theaterpädagogik und ästhetische Erfahrung
PROJEKTE UND ARBEITSWEISEN
Versuchsanordnungen Vier Inszenierungen aus dem Genter Labor (Josse De Pauw, Tim Etchells, Gob Squad, Philippe Quesne)
Zerstörungsphantasien mit Sahne Gedanken über die Zukunft
Theater/Kunst mit Kindern Am Beispiel einer Performance mit Kindern von Eva Meyer-Keller und Sybille Müller
Perspektive Hamburg – Eine städtische Intervention Ein Gespräch
„Auswendiglernen kann doch jeder!“ Fatzer für Kinder
Ungewöhnliche Symptome der Jugend Samir Akika/Unusual Symptoms auf Augenhöhe mit jungen Akteuren
Hell on Earth Ein paar Notizen über die Arbeit mit Constanza Macras/Dorky Park
Mit Kindern arbeiten
In (Re-)Aktion – Vermitteln Eine Untersuchung kritischer Praxen der Kunstvermittlung
Jugendliche als Kollaborationspartner
Zwischen Live-Art und Lebensraum
INSTITUTIONEN
Die Winterakademie am Theater an der Parkaue Berlin als Feldversuch künstlerischer Forschung mit Kindern und Jugendlichen
Das Schultheater der Länder (SDL) Historische Entwicklung und strukturelle Aspekte
Partnerschaft zwischen Jugendlichen und Künstlern unart – Jugendwettbewerb der BHF-BANK-Stiftung
Kultur verändert Schulkultur Das „KulturTagJahr“ der ALTANA-Kulturstiftung
Abbildungsverzeichnis
Autorinnen und Autoren

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Patrick Primavesi, Jan Deck (Hg.) Stop Teaching!

Theater | Band 19

Patrick Primavesi, Jan Deck (Hg.)

Stop Teaching! Neue Theaterformen mit Kindern und Jugendlichen

Ermöglicht durch die Förderung des Hessischen Ministeriums für Wissenschaft und Kunst. Eine Publikation des Landesverbandes Professionelle freie Darstellende Künste Hessen e.V. (laPROF).

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2014 transcript Verlag, Bielefeld

Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Umschlagabbildung: Tim Etchells / CAMPO: That Night Follows Day, Gent 2007, © Phile Deprez Lektorat & Satz: Dominik Müller Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar Print-ISBN 978-3-8376-1408-4 PDF-ISBN 978-3-8394-1408-8 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Inhalt

Vorwort

Jan Deck, Patrick Primavesi | 9

G RUNDLAGEN UND GESELLSCHAFTLICHER KONTEXT Stop Teaching! Theater als Laboratorium (a)sozialer Phantasie

Patrick Primavesi | 15 Paradoxe Verhältnisse Zum biopolitischen Kontext der Theaterarbeit mit Kindern und Jugendlichen

Jan Deck | 47 Vom Hoffnungsträger zum Problemfall Kindheitsbilder im Theater für Kinder

Ingrid Hentschel | 69 Müssen wir heute wieder machen, was wir selber wollen? Das Paradox beauftragter Selbstständigkeit

Inge Schubert | 91 Cabinet Particulier Ein separater Diskursraum für Jugendproduktionen?

Wiebke Dröge | 109 Fremdes in Bildung und Theater/Kunst

Kristin Westphal | 125 Gemeinsam lernen Theaterpädagogik und ästhetische Erfahrung

Florian Vaßen | 139

P ROJEKTE UND ARBEITSWEISEN Versuchsanordnungen Vier Inszenierungen aus dem Genter Labor (Josse De Pauw, Tim Etchells, Gob Squad, Philippe Quesne)

Patrick Primavesi | 157 Zerstörungsphantasien mit Sahne Gedanken über die Zukunft

Eva Meyer-Keller, Sybille Müller | 185 Theater/Kunst mit Kindern Am Beispiel einer Performance mit Kindern von Eva Meyer-Keller und Sybille Müller

Kristin Westphal | 195 Perspektive Hamburg – Eine städtische Intervention Ein Gespräch

Martin Hammer, Maria Magdalena Ludewig | 203 „Auswendiglernen kann doch jeder!“ Fatzer für Kinder

Katalin Stang | 221 Ungewöhnliche Symptome der Jugend Samir Akika/Unusual Symptoms auf Augenhöhe mit jungen Akteuren

Anna K. Becker | 235 Hell on Earth Ein paar Notizen über die Arbeit mit Constanza Macras/Dorky Park

Carmen Mehnert | 243 Mit Kindern arbeiten

Sandra Strunz | 251 In (Re-)Aktion – Vermitteln Eine Untersuchung kritischer Praxen der Kunstvermittlung

Sara Ostertag | 257

Jugendliche als Kollaborationspartner

Gudrun Lange, Carina Borgards, Anna Eitzeroth | 269 Zwischen Live-Art und Lebensraum

Anna Eitzeroth, Anke Platon, Kathrin Tiedemann | 275

I NSTITUTIONEN Die Winterakademie am Theater an der Parkaue Berlin als Feldversuch künstlerischer Forschung mit Kindern und Jugendlichen

Karola Marsch | 287 Das Schultheater der Länder (SDL) Historische Entwicklung und strukturelle Aspekte

Tanja Klepacki | 297 Partnerschaft zwischen Jugendlichen und Künstlern unart – Jugendwettbewerb der BHF-BANK-Stiftung

Birgit Scherer | 305 Kultur verändert Schulkultur Das „KulturTagJahr“ der ALTANA-Kulturstiftung

Kristine Preuß, Friederike Schönhuth | 313

Abbildungsverzeichnis | 321

Autorinnen und Autoren | 325

Vorwort J AN D ECK UND P ATRICK P RIMAVESI

Seit einigen Jahren wird in den Darstellenden Künsten verstärkt mit Kindern und Jugendlichen als Akteuren gearbeitet. Diese Produktionen gehen weit über den Rahmen von Laien- oder Schultheater hinaus, oft handelt es sich um professionelle Experimente mit zeitgenössischen Theaterformen, Performance und Tanz. Dabei werden die Kinder und Jugendlichen nicht etwa bloß vorgeführt oder ausgestellt, sondern ernst genommen als Akteure mit spezifischen Erfahrungen und Fähigkeiten. Solche Projekte zielen auch nicht in erster Linie darauf, sie durch Theater zu erziehen oder ihnen gesellschaftliche Themen zu vermitteln, sondern von ihnen als Experten ihrer eigenen Lebenswelt zu lernen. Die Arbeit mit Laien als ‚Experten des Alltags‘ ist schon seit längerer Zeit zu einem festen Bestandteil des professionellen Theaters geworden. Gruppen wie Rimini Protokoll, Hofmann & Lindholm oder matthaei und konsorten haben wichtige Impulse in dieser Richtung gegeben: Nicht-professionelle Darsteller „gestalten die Aufführung durch ihre Geschichten, ihr berufliches oder privates Wissen und Nichtwissen, durch ihre Erfahrungen oder Persönlichkeiten“, wie es Miriam Dreysse und Florian Malzacher (2007: 9) zusammengefasst haben. Theater bekommt dadurch den Charakter eines sozialen Experiments, in dem jeder Mensch mit seiner eigenen Geschichte, Erfahrung und Persönlichkeit einen wichtigen Beitrag leisten kann. Dabei sollen aber weder die professionellen Theaterakteure ersetzt werden noch die Klischees von Authentizität nachgeahmt werden, die seit Jahrzehnten im Fernsehen und mittlerweile auch durch Kommunikationsplattformen im Internet produziert werden. Vielmehr werden Methoden der Recherche, der Dokumentation und der szenischen Montage angewandt und im Moment der Aufführung gemeinsam mit dem Publikum erprobt: ein lebendiges Erforschen gesellschaftlicher Themen statt ihrer psychologisch motivierten Verarbeitung zu gängigen Stereotypen. Lerneffekte gibt es natürlich auch in die-

10 | STOP T EACHING! N EUE T HEATERFORMEN MIT KINDERN UND J UGENDLICHEN

sen Projekten – für alle Beteiligten bis hin zu den Zuschauern, die aber nicht mehr durch vordergründige pädagogische Zielvorgaben gesteuert werden. Eher geht es darum, Theaterarbeit als einen offenen Prozess zu begreifen, der neben Rollenspiel und Einfühlung noch ganz andere Verhaltensweisen eröffnen kann, Freiräume für soziale Phantasie. Stop Teaching! Mit diesem Motto möchten die Beiträge dieses Bandes einladen, über das Verhältnis von Theater und Lernen neu nachzudenken, es weiter zu entwickeln. Mittlerweile reicht ja auch das Selbstverständnis des etablierten Kinder- und Jugendtheaters längst über die Belehrung eines jungen Publikums hinaus. Aber wie weit geht die Bereitschaft, sich auf Theater als Situation mit offenen, veränderlichen Positionen und Funktionen einzulassen? Schon im institutionellen Rahmen verbergen sich die Instanzen von Entscheidungsmacht und Kontrolle: Regisseure, Autoren, Schauspieler, Dramaturgen. Wie mit diesen Positionen umgegangen wird, ist eine für das aktuelle Theater insgesamt zentrale Frage, die sich aber besonders dort stellt, wo Theater noch von einem Bildungsauftrag her begriffen und legitimiert wird. In den Schulen etwa wird zunehmend mit neuen Theaterformen gearbeitet. Aber welche Rolle spielen dabei die Lehrer? Sind sie weiterhin Regisseur, Spielleiter und Choreograph, wie es in der Praxis des Schulfaches „Darstellendes Spiel“ oft der Fall war, oder eher Betreuer und Beobachter, die nicht selber gestalten, sondern vielmehr Freiräume zur Gestaltung eröffnen sollen – wie es schon Walter Benjamin (1973/1929) in seinem von der Regisseurin Asja Lacis inspirierten Programm eines proletarischen Kindertheaters gefordert hat? Stop Teaching! soll natürlich nicht heißen, alles Pädagogische aus dem Theater zu verbannen, Kinder und Jugendliche auf der Bühne und im Zuschauerraum nur noch sich selbst zu überlassen. Worum es vielmehr geht, wäre ein Impuls der Unterbrechung: innezuhalten und die festgefahrenen Rollen und Routinen in Frage zu stellen. Dazu könnte auch gehören, die hierzulande noch relativ starke Fixierung auf altersabgestufte Zielgruppen aufzubrechen und verstärkt an altersund generationenübergreifenden Theaterformen zu arbeiten. Nicht etwa dogmatisch, sondern neugierig – zum Beispiel auch für Tendenzen außerhalb Deutschlands. So hat vor einigen Jahren Tim Etchells Inszenierung That Night Follows Day am Theater Victoria (heute Campo) in Gent/Belgien den Anstoß gegeben, das Arbeiten mit Kindern und Jugendlichen zu diskutieren – nicht nur, weil sie die Themen Autorität, Erziehung und Kontrolle aus der umgekehrten, kindlichen Perspektive behandelt hat, sondern weil sie diese Thematisierung auch als Verhandlung, als Prozess vor und mit Zuschauern durchspielen konnte. Wichtiger als das Lehren ist jedenfalls das Lernen, für alle Beteiligten.

V ORWORT

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Seit dem Symposion und Festival Stop Teaching! Neue Theaterformen mit Kindern und Jugendlichen am Frankfurter Künstlerhaus Mousonturm im September 2008 hat sich dieser Impuls eher noch verstärkt. So sind in der Zwischenzeit im deutschsprachigen Raum und auch in länderübergreifenden Kooperationen viele weitere Produktionen und Initiativen entstanden, die zum Teil auch in diesem Band dokumentiert sind. Ohne Anspruch auf Vollständigkeit geben die hier dargestellten künstlerischen Projekte, zusammen mit theoretischen Reflexionen von Wissenschaftlern unterschiedlicher Disziplinen und mit Erfahrungsberichten aus den beteiligten Institutionen, erstmals einen breiten Überblick zu der genannten Tendenz. So versteht sich das Buch einerseits als Zwischenbilanz einer künstlerischen und zugleich gesellschaftlichen Entwicklung. Andererseits ist es aber auch eine Einladung zur Diskussion darüber, wie sich die Arbeit mit Kindern und Jugendlichen auf dem Feld der sich rasch verändernden szenischen Formen und Praktiken des Theaters weiter entwickeln kann. Für die Förderung dieser Publikation sind wir dem Hessischen Ministerium für Wissenschaft und Kunst zu Dank verpflichtet, vor allem der ehemaligen Staatsministerin Frau Eva Kühne-Hörmann und Herrn Albert Zetzsche, Referatsleiter für Theater- und Musikförderung. Auch den Kolleginnen und Kollegen von laPROF, zumal Angelika Sieburg und Katja Hergenhahn, danken wir für die finanzielle Unterstützung bei der Realisierung des Buches. Für die Zusammenarbeit bei dem Festival und Symposium Stop Teaching! danken wir dem großartigen Team des Künstlerhauses Mousonturm in Frankfurt a. M. und unserem damaligen Kooperationspartner Martin Baasch. Für das sorgfältige Lektorat danken wir Dominik Müller, der ebenso wie der transcript-Verlag die Entstehung des Buches über alle Schwierigkeiten (und leider unvermeidlichen Verzögerungen) hinweg geduldig begleitet hat. Unser besonderer Dank gilt schließlich allen, die inhaltlich zu diesem Buch beigetragen und dabei vielfältige Anregungen zum Weiterdenken und für eine zukünftige Praxis des Theaters mit Kindern und Jugendlichen gegeben haben.

L ITERATUR Benjamin, Walter (1973/1929): „Das Programm eines proletarischen Kindertheaters“, in: Ders., Über Kinder, Jugend und Erziehung, Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Dreysse, Miriam/Malzacher, Florian (2007): Vorwort, in: Dies. (Hg.), Experten des Alltags. Das Theater von Rimini Protokoll, Berlin: Alexander, S. 8-11.

Grundlagen und gesellschaftlicher Kontext

Stop Teaching! Theater als Laboratorium (a)sozialer Phantasie P ATRICK P RIMAVESI

Angesichts einer vielfältigen und lebendigen Praxis stellt sich die Frage, auf welche Weise gegenwärtig mit Kindern und Jugendlichen als Akteuren gearbeitet wird und welche Impulse davon ausgehen – sowohl für das etablierte Kinderund Jugendtheater als auch für die Weiterentwicklung neuer, postdramatischer Theaterformen, verschiedener Spielarten von devised theatre, Live Art und Happening, Tanz und Performance. Neuheit ist bekanntlich relativ. Schon im Theater von, mit und für Erwachsene(n) gibt es keine lineare Entwicklung: Unterschiedliche Formen, Tendenzen und Prozesse bestehen nebeneinander, mit ihren jeweils eigenen Entwicklungsgeschwindigkeiten. Substanzielle Veränderungen brauchen Zeit, und wenn sich Künstler und Theatermacher, Kritiker und vielleicht noch einige Wissenschaftler darüber verständigt haben, dass eine einstmals bahnbrechende Tendenz längst etabliert ist, dann hat ein breiteres Publikum vielleicht gerade erst begonnen, sie überhaupt wahrzunehmen und zu diskutieren. Theater ist eine kulturelle Praxis, die nicht nur durch eine jeweilige Ästhetik von Spielweisen und Inszenierungsformen geprägt ist, sondern auch durch entsprechende Arbeitsmethoden, Produktionsformen und Institutionen. Nach den zahlreichen Experimenten des modernen Theaters könnte es fast schon selbstverständlich erscheinen, dass die Fiktion dramatischer Figuren und Konflikte nicht mehr das Maß aller Dinge ist und dass oft gerade mit der Spaltung zwischen Akteur und Rolle gearbeitet wird. Darüber hinaus bleibt aber immer wieder nach den Zuschauern zu fragen, die sich ihrerseits nicht nur einfühlen, sondern zugleich in der Distanz von reflektierenden Betrachtern bleiben können. Auch dem Zuschauer kommen oft mehrere Positionen oder Funktionen gleichzeitig zu, als schaulustiger Voyeur, als womöglich bewusster Teilnehmer und als Zeuge, der für das was er sieht, immer auch mit Verantwortung trägt.

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Dies wird aber umso deutlicher, wenn ihm auf der Bühne nicht mehr nur professionelle Schauspieler gegenüber stehen. Wenn derzeit häufiger mit nicht-professionellen Akteuren gearbeitet wird, geht es nicht bloß um die Vorführung des Authentischen und um die Wirklichkeit des echten Lebens, außerhalb des Theaters. Vielmehr wird damit versucht, auch den Zuschauer als jemanden anzusprechen, der in seiner alltäglichen, mehr oder weniger durchschauten Lebenswirklichkeit selbst als Darsteller aufzutreten gewohnt ist.1 Allgemein kann gesagt werden, dass Theater ein Vorgang ist, der sich in hohem Maße reflektiert, schon während er stattfindet. Die Qualität einer solchen Selbstreflexion der Praxis kann gegenwärtig geradezu als Merkmal einer umfassenden Theatralisierung angesehen werden, die über die Künste hinaus alle Bereiche der Gesellschaft erfasst hat. Diese Einsicht ist es, die aktuell viele Theatermacher umtreibt, ihr eigenes Tun und die Position des Betrachters spielerisch zu überprüfen. Daher sind selbstreflexive Momente im Theater kein Luxus, sondern tragen viel dazu bei, dass der Vorgang als solcher überhaupt gelingen kann, Spaß macht, eben weil er bewusst erfahren wird, jenseits des Konsums von Illusionen. Das gilt gerade für die Arbeit mit Kindern und Jugendlichen, die im Theater nicht mehr nur als Zuschauer ernst genommen werden sollten, sondern auch als Akteure und Experten ihres eigenen Alltags. Wenn hier von gegenwärtigen oder zeitgenössischen Theaterformen die Rede ist, sind vielfältige, aus den Theater-Avantgarden des 20. Jahrhunderts hervorgegangene und inzwischen international verbreitete Entwicklungstendenzen gemeint, die sich als postdramatische Praxis bezeichnen lassen (vgl. Lehmann 1999). Dazu zählt außer der Abkehr vom dramatischen Werk als übergeordnetem Prinzip der Aufführung eine Infragestellung von Rollenspiel, Einfühlung und Illusion. Gleichzeitig werden innerhalb und außerhalb der etablierten Bühnenräume die kulturellen Kontexte und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen von Theater zum Thema gemacht. Dabei geht es vielfach um einen Prozess der produktiven Verunsicherung, der die Akteure und Macher ebenso wie die Zuschauer betrifft, deren Erwartungen und Projektionen reflektiert werden. All diese Tendenzen sind mittlerweile auch im Theater mit jüngeren Akteuren angekommen, mit durchaus unterschiedlichen Reaktionen und Wirkungen. Wie im Folgenden skizziert wird, kann Theater dadurch auf neue Weise als Spielraum erprobt werden, als ein offenes Labor für (un-)menschliches, soziales und asoziales Verhalten, mit einem nicht mehr bloß didaktisch abbildenden, interpretierenden und normierenden Bezug zur alltäglichen Erfahrung.

1

Vgl. den Band Paradoxien des Zuschauens, herausgegeben von Jan Deck und Angelika Sieburg (2008).

P RIMAVESI : S TOP T EACHING

T HEATER

ALS KOLLEKTIVES MIT OFFENEM AUSGANG

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L ERNEN ,

Was könnte Lernen im Theater bedeuten, wenn der Anspruch auf Belehrung einmal ausgesetzt wird? Vielleicht ermöglichen und erfordern neue Theaterformen auch andere Formen des Lernens, jenseits von Rollenspiel und pädagogischen Zielvorgaben – also vielleicht nicht in erster Linie urteilen lernen, sondern zuallererst wahrnehmen lernen und reflektiertes Verhalten lernen. In diesem Sinne stellt sich gegenwärtig die Frage, welche Impulse postdramatische Formen für das Verhältnis von Theater und Lernprozessen geben können. Unter den vielen hierfür relevanten Aspekten ist der institutionelle besonders wichtig, aber nicht getrennt von der jeweiligen Arbeitsweise und Ästhetik, sondern als ihre notwendige Voraussetzung. Vielfach sind innovative Theaterkonzepte auch von anderen Strukturen der gemeinsamen Arbeit geprägt, indem etwa schon die Entwicklung eines Materials oder Themas als kollektiver Prozess geschieht. Oder dadurch, dass der Anspruch auf Autorschaft, individuelle Regie-Handschrift und hierarchische Kontrolle nicht dominiert, sondern dass ein offener Umgang mit Unsicherheit und das Abgeben von Entscheidungskompetenzen als produktive Faktoren begriffen werden. Theater und Lernen auf neue Weise (zusammen) zu denken heißt jedenfalls auch, ansonsten gewohnte (Macht-)Positionen und Techniken, Methoden und Verhaltensweisen der Lehre ebenso wie der regieführenden Kontrolle ein Stück weit in Frage zu stellen. Gerade in der Praxis eines Theaters mit Kindern und Jugendlichen als Akteuren sind es derzeit solche strukturellen und institutionellen Aspekte, die eine Veränderung und Erweiterung der hierzulande etablierten Arbeitsweisen nahelegen.2 Möchte Theater mit Kindern und Jugendlichen nicht bloß einzelne Elemente von den aktuellen Theaterformen kopieren, um damit zeitgemäßer und ‚cooler‘ zu wirken, muss es seine eigenen pädagogischen und institutionellen Voraussetzungen überprüfen. Schon Walter Benjamin, der immerhin forderte, „die stärkste Kraft der Zukunft in den Kindern durch das Theater aufgerufen zu sehen“, hat in seinem Programm eines proletarischen Kindertheaters hervorgehoben, dass die Rolle des erwachsenen Spielleiters darin bestehen sollte, den Prozess als solchen zu beobachten und nicht etwa inszenierend einzugreifen. Erst dann könne die kindliche Geste als revolutionäres Potenzial, als „das geheime Signal des Kommenden“ erfahrbar werden. Für eine bürgerliche Pädagogik werde das Theater aber gerade an dem Punkt der höchsten Begeisterung zum Problem, wo „Wirklichkeit und Spiel für Kinder sich verschmelzen, so eins werden, daß gespielte

2

Siehe dazu den Band Kinder spielen Theater, herausgegeben von Gerd Taube (2007).

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Leiden in echte, gespielte Prügel in wirkliche übergehen können“ (Benjamin 1977a: 765 f.). Während das bourgeoise Theater spätestens in solchen Momenten mit moralischer Kontrolle eingreift, soll es im proletarischen Kindertheater keine moralische Einwirkung durch erwachsene Leiter geben. Erwachsene sind eher Zuschauer, die ihrerseits lernen sollen: „Die unvermeidlichen moralischen Ausgleichungen und Korrekturen nimmt das Kollektivum der Kinder selbst an sich vor. Daher kommt es, daß die Aufführungen des Kindertheaters auf Erwachsene als echte moralische Instanz wirken müssen. Es gibt keinen möglichen Standort für überlegenes Publikum vorm Kindertheater. Wer noch nicht ganz verblödet ist, der wird sich vielleicht schämen.“ (ebd.: 765)

Erst wenn die Erwachsenen auf jede didaktische und moralische Überlegenheit verzichten, können sie das Potenzial überhaupt wahrnehmen, das sich im Spiel und schließlich im Moment der Aufführung zu entfalten vermag, in einer „wilden Entbindung der kindlichen Phantasie“ (ebd.: 768 f.). Wenn mittlerweile die politische Utopie einer solchen proletarischen Pädagogik überholt zu sein scheint, bleibt Benjamins Programm doch gerade in der Forderung aktuell, das Theater als einen Freiraum zum Ausprobieren von Verhalten zu nutzen und zu verteidigen, auch gegen seine pädagogische Instrumentalisierung. Es geht also weiterhin um ein offenes Labor für Versuchsreihen ohne didaktisch festgelegte Zwecke, wie es ähnlich Heiner Müller (1975: 126), inspiriert von Brechts Lehrstücken, vorschwebte: ein „Laboratorium sozialer Phantasie“. Im Theater muss die Arbeit an der sozialen Phantasie auch das Spiel mit den asozialen, ansonsten verbotenen und unterdrückten Regungen einschließen können, wenn sie nicht zum bloßen Abziehbild moralischer Prinzipien erstarren will. Dementsprechend sind für Kinder nicht nur die lange schon als pädagogisch wertvoll eingestuften Arbeitsweisen und Formen von Theater als Rollenspiel zuträglich, sondern auch experimentelle Formen, die mit den alltäglichen, oft genug destruktiven Wahrnehmungs- und Verhaltensweisen zugleich die Machtverhältnisse und symbolischen Ordnungen des Alltags aufs Spiel setzen können. Was also bedeutet es in der heutigen Zeit, Theater als eine kindliche Kunst zu betrachten? Nicht von ungefähr ist diese schon von Goethe formulierte Perspektive von Brecht und vielen anderen Protagonisten der Avantgarden des 20. Jahrhunderts wieder ernst genommen worden, als es darum ging, auch die politische Dimension und Relevanz von Theater jeweils neu zu begründen. Was Theater im Zeitalter von Wissenschaft, Massen- und Medienkultur in besonderem Maße bieten kann, sind Formen des spielerischen Experiments.

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Dem kindlichen Spiel verwandt ist Theater eben nicht nur durch die Möglichkeit zur Verwandlung und zur Versetzung in fremde Rollen und fiktive Welten, sondern als ein Modus des ausprobierenden, experimentellen Verhaltens. Theater kann ja insgesamt als Experiment verstanden werden, als Versuch mit Verhaltensweisen und Reaktionsmustern auf der Bühne und noch grundsätzlicher: mit der Situation der Begegnung von Akteuren und Zuschauern. Dabei ist die Möglichkeit, zu scheitern, konstitutiv für den Theaterprozess, für den es ohne dieses Risiko auch kein Gelingen geben kann. Etwas muss aufs Spiel gesetzt werden, damit Theater sich ereignen kann – darin liegt nicht nur eine elementare Erfahrung von Schauspielern, die sich vor Zuschauern ausstellen, sondern auch eine notwendige Bedingung aller ästhetischen Setzungen einer Inszenierung. Schon im Theater mit Erwachsenen und für ein erwachsenes Publikum ist häufig zu spüren, dass die von Schauspielern angestrebte Professionalität und Routine auch schaden kann, wenn der Eindruck von Perfektion und restloser Kontrolle entsteht, die keine Lücke oder Störung mehr zulassen. Theater und Kunst sollten ganz im Gegenteil eher einer „Verunmöglichung von Kontrolle“ dienen, wie Müller (1990: 129) gefordert hat. Voraussetzung dafür ist, dass Theater mit ungewohnten Verhaltensweisen und mit einer gemeinsamen/geteilten Wahrnehmung experimentiert. Nur so entsteht eine Situation, in der die Bearbeitung und Reflexion alltäglicher Erfahrungen verändert werden kann, wobei aber die Trennung von Akteuren und Zuschauern an Bedeutung verliert: „Dann hat das Theater erst seine eigentliche Funktion: nämlich daß die Leute ihr Leben durchspielen können und Variationen von Situationen. Leute, die hinterher oder vorher etwas ganz anderes machen. Dann hat das Theater eine wirkliche Funktion als Laboratorium. […] wo Situationen oder überhaupt gesellschaftliche, kollektive Phantasie produktiv gemacht oder auch erst kreiert werden kann.“ (Müller 1986: 40 f.)

In diesem Sinne ist davon auszugehen, dass Theater kollektive Experimente organisieren kann bzw. Experimente mit dem Kollektiv oder der Gemeinschaft, mit ihrer Spaltung ebenso wie mit ihrer flüchtigen Versammlung. Liegt aber nicht gerade in diesem Modus des probenden, experimentellen Verhaltens zugleich ein Impuls, der das Theater mit kindlichen Formen von Spiel verbindet? Durch ihre Annäherung an experimentelle, womöglich riskante Situationen mit offenem Ausgang eröffnen zeitgenössische Theaterformen Potenziale, die auch Kindern und Jugendlichen helfen können, ihre alltäglichen Erfahrungen (zum Beispiel mit Erwachsenen) spielerisch zu bearbeiten. Anstelle der üblichen Filter und Rahmungen eines konventionell pädagogisch motivierten Theaters, das oft noch an der Konstruktion und Illusion einer kindgerechten Welt festhält, bieten

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experimentelle Formen von Theater auch für Konflikte zwischen den Generationen neue Spielräume. Um dieses Potenzial von Theater genauer einschätzen zu können, empfiehlt sich zunächst ein kurzer Rückblick auf einige Vorgeschichten des zeitgenössischen Theaters, in denen bereits die Funktion und Wirkungsweise von Lehr- und Lernprozessen neu verhandelt wurden.

V ORGESCHICHTEN : Z UR E NTWICKLUNG EINER (ANTI -)P ÄDAGOGIK DES T HEATERS

MODERNEN

Bürgerliches Theater war im deutschsprachigen Raum seit der Aufklärung stets darum bemüht, seinen Charakter als „Bildungsanstalt“ und Instrument moralischer und sittlicher Erziehung hervorzuheben. Das lag vor allem daran, dass die langwierige Umgestaltung einer Praxis, die zum Teil auf höfische Traditionen, zum Teil noch auf Elemente von rituellen Spielformen seit dem Mittelalter zurückging, hin zu einer anerkannten bürgerlichen Institution durchaus auf Widerstand stieß. Sie musste sich behaupten und legitimieren gegen eine Vielzahl antitheatraler Vorurteile, die (wie etwa im berühmten Hamburger Theaterstreit) vor allem von kirchlicher und theologischer Seite geäußert wurden (vgl. Primavesi 2008: 35 ff.). Die daraus resultierende (Selbst-)Verpflichtung des Theaters auf Zwecke der Bildung ging seit dem 18. Jahrhundert einher mit einer umfassenden Literarisierung, die auch die Kontrolle des Bühnengeschehens durch polizeiliche Zensur erleichterte. Formen der Improvisation, des Stegreifspiels, wurden zurückgedrängt und allmählich ersetzt durch das Prinzip der Texttreue, auch wenn diese (oft zum Ärger der Dramatiker) keineswegs strikt eingehalten wurde und für die Bühnenpraxis jedenfalls nicht einfach vorausgesetzt werden sollte. Das Theater der Aufklärung des 18. und frühen 19. Jahrhunderts kann noch als ein „Labor der Emotionen“ bezeichnet werden, sofern es auch einer damals noch ungewohnten detaillierten Vorführung (und Bewertung) von Befindlichkeiten, emotionalen und moralischen Konflikten diente (siehe dazu Ruppert 1995). In der Folgezeit entwickelte sich Theater aber schrittweise zu einem repräsentativen Bildungsinstitut, das – gestützt auf einen immer wieder reproduzierten Kanon dramatischer Werke – spezifisch bürgerliche Werte vermittelte. Gleichzeitig, in einer Vielzahl mehr oder weniger gelungener Kompromissbildungen, konnte Theater zu einem Geschäft werden, das sein Publikum durch Unterhaltung an sich zu binden vermochte. Mit diesen Voraussetzungen mussten sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts und dann vor allem in der Weimarer Republik all jene Künstler und Autoren auseinandersetzen, die das Theater für politische Bildung bis hin zur Agitation und Indoktrination des Publikums nutzen wollten. Ei-

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nige der fruchtbarsten Ansätze zu einer experimentellen szenischen Praxis sind jedoch gerade davon geprägt, die überkommene Verknüpfung von Theater und Bildung in Frage zu stellen. Bertolt Brecht schrieb die Lehrstücke, seinen radikalsten, bis heute kaum realisierten Beitrag zu einem modernen Theater, in erster Linie für Kinder und Jugendliche. So lautete der 1930 ergänzte Untertitel des Lindberghflugs (von Brecht 1950 umbenannt in Der Ozeanflug) „Radiolehrstück für Knaben und Mädchen“. Das auf Elisabeth Hauptmanns Übersetzung eines japanischen NohSpiels basierende und von Kurt Weill vertonte Lehrstück Der Jasager wurde als „Schuloper“ betitelt, mit Berliner Schülern uraufgeführt und noch im gleichen Jahr 1930 an vielen Schulen nachgespielt. Diskussionen dazu an einer Neuköllner Schule veranlassten Brecht sogar, die beiden neuen Fassungen Der Jasager und Der Neinsager zu schreiben.3 Insofern Brechts Theaterkonzeptionen insgesamt auf der expliziten Vorführung des Theaterspielens und auch auf der Aktivität des Zuschauers insistieren, sind sie immer noch relevant. Wie Benjamin (1977b: 538) über das epische Theater notiert hat, ist es vor allem die Art des selbstreferenziellen, sich selbst ausstellenden und damit distanzierenden Schauspielens, die erkennen lässt, „wie sehr in diesem Felde das artistische Interesse mit dem politischen identisch ist“. Und Brecht hat öfters darauf verwiesen, dass das Theaterspielen als solches bereits eine soziale Funktion hat und insofern auch eine politische Praxis ist, die zwar ihre Differenz zum alltäglichen Leben betont, gleichwohl aus der Organisation des Verhaltens von Menschen in bestimmten Situationen zusammengesetzt ist. In dieser Perspektive bleibt aber gerade das Verhältnis von Theater und Politik zwiespältig, geht jedenfalls nicht auf in einer Instrumentalisierung des Theaters für ideologische Belehrung und Propaganda. Ende der 1920er-Jahre sah Brecht (1992a: 233) in der „Requirierung des Theaters für Zwecke des Klassenkampfes“ noch eine massive „Gefahr für die wirkliche Revolutionierung des Theaters“, um die es ihm doch eigentlich zu tun war. Umgekehrt bestand er jedoch auf der politischen Relevanz einer solchen Revolutionierung: „Der Schrei nach einem neuen Theater ist der Schrei nach einer neuen Gesellschaftsordnung.“ (Brecht 1992b: 238) Im Kontext der Verfremdungstheorie hat er dann rückblickend das Aufkommen eines politischen Thea-

3

Siehe dazu insgesamt den Band Assoziales Theater. Spielversuche mit Lehrstücken und Anstiftung zur Praxis (herausgegeben von Koch/Steinweg/Vaßen 1983) und (darauf aufbauend) das Themenheft Lehrstück. Theater. Pädagogik der Zeitschrift Korrespondenzen (Nr. 11/12/13, 1992).

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ters geschildert, das sich (im Dienste etablierter Machtverhältnisse) gegen ein zuvor schon auf andere Weise politisches Theater richtete: „Das Theater, das wir in unserer Zeit politisch werden sahen, war vordem nicht unpolitisch gewesen. Es lehrte die Welt so anzuschauen, wie die herrschenden Klassen sie angeschaut haben wollten.“ (Brecht 1993b: 217)

Wenn der Ausschluss politischer Themen lange Zeit eine bestimmte Politik der Darstellung begleitet hat, so konnte ihre bloße Einbeziehung noch keine strukturelle Veränderung erzielen. Erst mit der Oktoberrevolution seien einige Theater „wirklich politische Anstalten“ geworden, die dem Zuschauer die Welt „als eine ihm und seiner Aktivität zur Verfügung stehende“ darstellten. Dieses Ziel hat Brecht selbst aber kaum durch Abbildungen der Wirklichkeit erreicht, eher schon durch die Idee einer Veränderung der Produktions- und Rezeptionsbedingungen von Theater, vor allem in der Lehrstückarbeit, die den Zuschauer als Teilnehmer und Akteur einsetzen und ‚verwerten‘ sollte. Das Experiment der Lehrstücke, das bis heute für eine Praxis der Einbeziehung von Teilnehmern als ‚Fachleuten‘ steht, konnte von Brecht selbst nur zum Teil verwirklicht werden. Bald nach seinen ersten Versuchen sah er sich bereits genötigt, Missverständnisse aufzuklären, unter anderem eine Überbetonung des Lehrhaften, die er bereute – weshalb er später auch die Übersetzung „learning play“ statt „teaching play“ bevorzugte (vgl. Brecht 1993a: 117 f.). In solchen nachträglichen Reflexionen wie auch im Kontext von Brechts Idee einer „Großen Pädagogik“ erscheinen die Lehrstücke als Entwürfe einer nicht-bevormundenden Praxis der Übung, des Durchspielens eigener und fremder Erfahrungen in Laborsituationen, zur Selbstverständigung und Überprüfung von Haltungen und Gesten. Dass die Lehrstücke auch mit ihrer produktiven Verknüpfung von Spiel und Reflexion weit über die im Schulunterricht bis heute vermittelten Klischees eines autoritären Belehrungstheaters hinausgehen, hat bereits Reiner Steinwegs Edition (1976) von programmatischen Entwürfen und Kontexten dieses ‚Modells‘ gezeigt. Parallel zur Institutionalisierung des Kinder- und Jugendtheaters – das sich (in beiden deutschen Staaten) grundsätzlich auf einen kanonisierten Brecht beziehen mochte und weniger auf die Lehrstücke – hat die Auffassung von Theater als einem offenen Experiment mit ungewohnten, von gesellschaftlichen Normen abweichenden Verhaltensweisen (auch ohne expliziten Bezug auf Brecht) stärker die seit den 1970er-Jahren entwickelten Formen von postdramatischem Theater geprägt. Zu denken wäre etwa an die Anfänge des texanischen Regisseurs Robert Wilson, der seine ersten Performances mit taubstummen oder in ihrer

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Sprachfähigkeit eingeschränkten Jugendlichen aufführte, um zu demonstrieren, dass sie über eine besondere mathematische und auch emotionale und künstlerische Intelligenz verfügten. Daraus entstanden dann Wilsons erste OperaPerformances, mit denen er bald international bekannt wurde: The King of Spain (1969), The Life and Times of Sigmund Freud (1969), Deafman Glance (mit Raymond Andrews, 1970) sowie Life and Times of Joseph Stalin (1973), A Letter for Queen Victoria (1974) und The $ Value of Man (1975), alle mit Christopher Knowles. Wilson kannte von dem damals zwölfjährigen Knowles zunächst nur seine Tonband-Aufzeichnungen, auf denen scheinbar sinnlos wiederholte Silben ein hochkomplexes Zahlenspiel ergaben. Bei ihrer ersten Begegnung war er kurz vor der Premiere des Stalin-Stückes in die Garderobe von Wilson gekommen, der ihn sofort fragte, ob er mit ihm zusammen auftreten wolle, worauf die beiden sich über die Repetition der Silben in einer Art Prolog zu der eigentlichen Aufführung verständigten: „Ich sagte: ‚Na, dann komm, Chris‘, nahm ihn bei der Hand, und wir gingen auf die Bühne, vor den Vorhang. Die Brooklyn Academy ist ein großes Theater mit 2000 Plätzen. Ich sagte: Ladies and Gentlemen! E, E, E, EM, E, E, EM, EM, EM, EM, ENM, ENMN, ENMN, ENM, EN, EN, EML, EM, EM, EM, EML, EM, EM, EML, EML, EMNI, EMNI, EMMLY, EMN, EM, EM, EMMLY, EMILY, EMILY, EMILY, EMILY LIKES, AND EMILY LIKES, AND EMILY LIKES THE TV. BECAUSE …‘ Und der Junge sagte dann, als ich an dieser Stelle unterbrach: ‚EMILY LIKES THE TV BECAUSE SHE WATCHES IT.‘ ‚BECAUSE A …‘ ‚BECAUSE B …‘ Wir haben dann auf diese Weise ungefähr fünf Minuten hin und her gespielt. Wir gingen von der Bühne ab, es gab Applaus.“ (Wilson in Wilson/Müller/Linders 2007: 23 f.)

Bis heute bildet einen Schwerpunkt von Wilsons Arbeit die für Kinder tätige Byrd-Hoffmann-Stiftung und das in einer alten Fabrik bei New York eingerichtete Watermill-Zentrum für Jugendliche aus aller Welt, mit denen er seine Bühnenproduktionen in Workshops entwickelt. Ein anderes Beispiel wäre die von Claudia und Romeo Castellucci und Chiara Guidi gegründete Societas Raffaelo Sanzio, die seit den 1990er-Jahren zu den schönsten und auch erschreckendsten Theatervisionen in Europa beigetragen hat und bei ihren Inszenierungen immer wieder mit Kindern und kindlicher Phantasie arbeitet, beispielsweise in Hänsel e Gretel (1993), Genesi – From the Museum of Sleep (1999) oder Sul concetto di volto nel figlio di Dio/On the Concept of the Face, Regarding the Son of God, Vol. I (2010). Seit 1995 unterhält die Gruppe in Cesena zugleich eine Theaterschule für Kinder, aus der inzwischen die

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selbstständig auftretende Gruppe Dewey Dell hervorgegangen ist. Wegweisend ist diese Form von Theater durch die extreme Intensität szenischer Situationen, deren Wahrnehmung keinerlei didaktische Steuerung oder Kontrolle erfährt. Die Zuschauer sind vielmehr auf sich selbst verwiesen, d. h. darauf, die eigenen emotionalen Impulse und Widerstände, Reaktionen und Assoziationen auszuhalten und zu reflektieren. Proteste bis hin zu öffentlichen Skandalen gab es immer wieder, wenn der unausgesprochene gesellschaftliche Konsens über Tabus verletzt wurde, wenn in der Entfaltung surrealer Atmosphären und schockierender Momente plötzlich Kinder oder Jugendliche auftauchten: Wenn beispielsweise in Giulio Cesare (1997) zwei junge magersüchtig wirkende Akteurinnen in einem ausgebrannten Theater erscheinen und ‚Krieg spielen‘, wenn in Genesi die Erfahrung der Vernichtung in den Gaskammern von Auschwitz durch ein Kind vorgeführt wird, oder wenn in der szenischen Auseinandersetzung mit dem Antlitz Gottes (Sul concetto…) ein übergroßes Renaissance-Gemälde mit einem Porträt von Christus durch eine Gruppe von Kindern beworfen wird mit einer Art Handgranaten, die aber abprallen und schließlich den Bühnenboden vor dem Bild bedecken. Im deutschsprachigen Raum hat in den letzten Jahren auch die Gruppe Rimini Protokoll öfters mit ‚Kids‘ gearbeitet: Shooting Bourbaki (2002) mit Schweizer Jugendlichen, die aktuelle Tendenzen zu einer Militarisierung des alltäglichen Lebens und ihre Begeisterung für Schusswaffen ebenso zeigten wie ihre pubertären Wünsche und Ängste. Die Produktion Uraufführung: Der Besuch der Alten Dame (2007) inszenierte mit Kindern und ehemaligen Besuchern oder Mitwirkenden eine Spurensuche zur Uraufführung von Dürrenmatts Werk im Jahre 1956, während Airport Kids (2008) mit den vor allem auf Flughäfen lebenden Kindern von Diplomaten und Geschäftsleuten extreme Beispiele einer Globalisierung von Identität vorführte.4 Kinder und Jugendliche sind inzwischen häufiger auch an experimentellen Tanz-Produktionen beteiligt, etwa in der Neueinstudierung Kontakthof von Pina Bausch, die das 1978 entstandene Stück nach einer im Jahr 2000 aufgeführten Version mit Laien („Damen und Herren ab 65“) nun 2008 mit Teenagern ab 14 einstudierte. Die Erfahrung des Sich-Zeigens und -Verbergens, eines mitunter verzweifelten Bemühens um Kontakt, mit der das Tanztheater von Pina Bausch sein Publikum in den 70er-Jahren eher verstört als begeistert hatte, wurde für die Jugendlichen ebenfalls zu einer extremen Erfahrung mit Illusion und Enttäuschung. Wegweisend war in den letzten Jahren auch

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Zur Arbeit von Rimini Protokoll siehe den Band Experten des Alltags. Das Theater von Rimini Protokoll, herausgegeben von Miriam Dreysse und Florian Malzacher (2007).

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Boris Charmatz’ Inszenierung Enfant (2011), wo neun Tänzer gemeinsam mit zwölf Kindern im Alter von sechs bis zwölf Jahren einen von großen Maschinen beherrschten Raum erkunden. Erst werden die Tänzer von den Maschinen durch den Raum bewegt, dann die Kinder von den Tänzern getragen oder geschleudert. Allmählich gelingt es ihnen aber, sich aus dieser Manipulation zu befreien und dadurch zu behaupten, dass sie die Bewegungen der Erwachsenen auf komische Weise imitieren und selbst zu steuern beginnen. Diese und viele weitere Beispiele können – bei aller Verschiedenheit in Arbeitsweise und Ästhetik – doch insgesamt zeigen, dass es bei einem Theater mit Kindern und Jugendlichen heute weder bloß um pädagogische noch bloß um künstlerische Interessen und Ziele geht, eher um produktive Wechselwirkungen zwischen beidem. Von daher bleibt aber erneut nach dem Publikum zu fragen, den mehr oder weniger erwachsenen Zuschauern eines solchen Theaters. Ein theoretisches Konzept von „Zuschaukunst“, das Brechts Pädagogik der Lehrstücke ebenso nahekommt wie der neueren Praxis performance-naher Theaterformen, ist die Idee eines „emanzipierten Zuschauers“, die der französische Philosoph Jacques Rancière formuliert hat. In dem gleichnamigen, 2004 auf Einladung des Kurators Mårten Spångberg entstandenen Vortrag geht er von seiner früheren Studie über den „unwissenden Lehrmeister“ aus, der Schüler auch und gerade in dem unterrichten kann, was er selbst (noch) nicht weiß (vgl. Rancière 2007/1987). Zur Übertragung dieses Experiments aus der französischen Aufklärung auf die Situation des Theaters erwähnt er zunächst die bis in die Antike zurückreichende Geschichte des antitheatralen Vorurteils, wonach der Zuschauer im Theater stets passiv sei, unwissend ausgeliefert den Illusionen der Bühne. In diesem Sinne hätten auch die Avantgarden versucht, das schlechte Spektakel zu überwinden, sei es durch eine Versammlung, deren Teilnehmer sich ihrer Situation und ihrer Interessen bewusst werden sollten (Brecht), sei es durch eine Zeremonie, bei der die Gemeinschaft ihre vitalen Energien entfalten sollte (Artaud). Der für die Geschichte des modernen politischen Theaters grundlegenden Annahme, der Zuschauer des Spektakels müsse erst noch aktiviert werden, widerspricht Rancière mit der These, dass jeder Zuschauer schon durch seine Wahrnehmung aktiv sei und durch seine Imagination, die das aus der Distanz Erfahrene verarbeitet, ergänzt, weiter entwickelt. Das Pathos des modernen Belehrungstheaters würde demnach verschleiern, dass es stets mit einem Akt der Entmündigung einsetzt, um die Zuschauer dann erst zur Mündigkeit erziehen zu können. Aus der Analyse dieser durchaus ambivalenten Geste einer Ermächtigung des Zuschauers durch das Spiel der Bühne ergibt sich schließlich die Forderung, das Theater auf andere Weise zu organisieren. Man solle endlich darauf

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verzichten, den Zuschauer zu aktivieren und in eine gemeinsame Präsenz erst noch hineinzuversetzen (um dadurch das Spiel der Repräsentation zu überwinden). Vielmehr wäre am Austausch der unterschiedlichen, von jedem einzelnen immer schon mitgebrachten Potenziale zu arbeiten. Diese liegen aber für Rancière nicht nur im Bereich von Fähigkeiten und Kompetenzen, sondern können ebenso Mängel oder Schwächen sein. Experimentell ist demnach die Praxis des Spiels auch insofern, als sie die szenische Erscheinung dieser Potenziale, ihre jeweiligen Performances, miteinander verknüpft, ineinander übersetzt: „It should be the institution of a new stage of equality, where the different kinds of performances would be translated into one another. In all those performances, in fact, it should be a matter of linking what one knows with what one does not know, of being at the same time performers who display their competences and spectators who are looking to find what those competences might produce in a new context, among unknown people.“ (Rancière 2007b: 280)5

Die Zuschauer sind relativ, im Vergleich mit den besonderen Kompetenzen der Akteure, unerfahren und unwissend. Gleichzeitig wissen sie aber jeweils vieles andere, was weder die Akteure noch die anderen Zuschauer wissen. Mit diesem Wissen, das ja zumeist auch auf Praktiken basiert oder mit ihnen verknüpft ist, können sie ihrerseits als Akteure gelten, mit unterschiedlichen Fähigkeiten. Damit ergibt sich der Kontext eines jeweiligen Publikums als Pluralität von Kompetenzen und nicht etwa als eine Einheit oder, wie im traditionellen Kunstverständnis, als andächtige Stiftung von Gemeinschaft durch die einzigartige, virtuose Leistung der Künstler. Im Unterschied zu einer Ideologie der Gemeinschaft – mit der seit der europäischen Aufklärung nicht nur das bürgerliche Theater, sondern häufig auch die Avantgarden des 20. Jahrhunderts das Theatererlebnis als Fest der Vereinigung ansonsten getrennter Individuen und Gruppen oder Klassen der Gesellschaft neu begründen wollten – geht Rancières Ansatz von der Produktivität der Gegensätze und Abstände aus. Distanz sollte nicht nur zwischen Bühne und Publikum weiter bestehen bleiben, sondern auch und vor allem zwischen den Zuschauern. Diese nicht als Gemeinschaft zu adressieren, sondern im Gegenteil als Vielzahl differenter und einander fremder Positionen, wäre die Grundlage einer anderen Praxis. Sie ermöglicht den Prozess der Übersetzung und Vermittlung von Erfahrungen und Wissen als einen notwendig offenen, in seinen Wirkungen unvorhersehbaren Austausch vieler Einzelner eben durch die Artikulation von Differenzen.

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Vgl. auch Rancière 2010.

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Wenn die Instrumentalisierung des Theaters zu Zwecken der Bildung und Erziehung stets davon ausging, dass dieser Vorgang als ein gemeinsames Bildungserlebnis systematisch zu optimieren wäre, lässt die von Rancière (und zum Teil auch von dem Brecht der Lehrstücke) formulierte Perspektive Theater als ein notwendig disparates, kontroverses Ereignis erscheinen. Anstatt die Ansichten und Meinungen der Zuschauer vorschreiben und kontrollieren zu wollen, sollte es vor allem Raum für unterschiedliche Reaktionen und Verhaltensweisen geben. Die von Rancière dem Theater zugeschriebenen Übersetzungsprozesse bedürfen jedenfalls der wahrnehmbaren Distanz (von Wissen, Kompetenzen und Meinungen ebenso wie von Sprachen, Kulturen und Religionen), während die Behauptung einer quasi-religiösen, einmütigen Gemeinschaft die besondere Chance theatraler Prozesse minimiert oder völlig ausschließt. Anders gesagt: Theater, das keinen Widerspruch hervorruft, bleibt unter seinen Möglichkeiten, verhindert eben jene Auseinandersetzung, die es doch eröffnen sollte. Daraus ist nun zwar auch keine normative Regel oder Programmatik abzuleiten, denn allein der Wille zur Spaltung des Publikums begründet noch keinen ästhetischen Vorgang. Dieser hätte ja nicht nur das Urteilsvermögen, sondern zugleich die Wahrnehmungsfähigkeiten der Zuschauer herauszufordern. Provokation wird im Theater eben dann produktiv, wenn sie sich nicht als bloßer Selbstzweck feiert und erschöpft, sondern auf immer neue Weise das Gewohnte und vermeintlich Selbstverständliche in Frage stellt, als Enttäuschung von Erwartungen und als Verunsicherung, durch eine Verfremdung des vermeintlich Vertrauten, die nicht gleich schon wieder als didaktische Methode eintritt, sondern eher sporadisch, intermittierend. In dieser Perspektive ist gerade die neuere Geschichte des politischen Theaters auch für die Frage nach aktuellen Ansätzen in einer veränderten Arbeit mit Kindern und Jugendlichen aufschlussreich. Der Fehler traditioneller Auffassungen von politischem Theater, den Zuschauer aktivieren und zuallererst zu einem kritischen Bewusstsein erziehen zu wollen, wird wohl in keinem anderen Text so konsequent reflektiert und in extremer Zuspitzung demonstriert wie in Peter Handkes Publikumsbeschimpfung. Dass dieses 1966 von Claus Peymann uraufgeführte Stück in den letzten Jahren wieder eine gewisse Konjunktur erlebt hat, hängt sicher mit der Frage zusammen, wie – in einer Zeit allseitiger Angebote und Aufforderungen zur Partizipation – die eigene Aktivität des Publikums thematisiert werden könnte, ohne zurückzugreifen auf überholte Techniken der ‚Animation‘ und der aufdringlich spektakulären Einbeziehung von Zuschauern ins Bühnengeschehen. Bevor Handkes Text am Ende zur eigentlichen Beschimpfung übergeht (die sich damals an eine Gesellschaft von Mittätern bei den Verbrechen des Zweiten Weltkriegs richtete), entfaltet er eine gezielt widersprüchli-

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che Kette von Anweisungen und Positionsbestimmungen, die das anwesende Publikum als solches adressieren: die Gewohnheiten und Erwartungen der Zuschauer, ihre Gedanken und Wahrnehmungen. Aus der Litanei dieser Aussagen ragen jene heraus, die sich konkret auf die Situation des Theaters beziehen, auf die gemeinsame Anwesenheit von vielen Zuschauern miteinander und mit den Akteuren. Und dennoch verbleibt der Text, zumindest wenn die Inszenierung (wie bei Peymann) seiner eigenen Logik zu folgen versucht, im Rahmen des übergreifenden Sprachspiels der Anrede. Gerade durch die Art, wie er das Publikum zugleich anspricht und übergeht, anerkennt und missachtet, wird die Geste des offenen Kontakts und der Bezugnahme durchkreuzt, mit einer gegenläufigen Tendenz zur völligen Abschließung: Zu Beginn der Aufführung und am Ende sollen Tonbandeinspielungen eine ‚normale‘ Theateratmosphäre vortäuschen, Bühnenarbeiter hinter dem Vorhang und später dann Beifallsgeräusche, bis das Publikum den Saal verlässt (vgl. Handke 1978: 11 f., 48). Mit seinem Pathos des Theaterprotestes entspricht Handkes Text ganz den künstlerischen und politischen Tendenzen seiner Entstehungszeit. Wie Susan Sontag 1962, also bereits einige Jahre vor der Publikumsbeschimpfung, mit Bezug auf das Happening feststellte, ging es um eine aggressive Behandlung des Publikums: „Das Ereignis scheint darauf angelegt, das Publikum zu ärgern und zu beschimpfen. […] Was in den Happenings geschieht, entspricht nur dem, was Artaud für das Schauspiel fordert: die Bühne, das heißt die Distanz zwischen Zuschauer und Darsteller wird aufgehoben und ‚der Zuschauer körperlich einbezogen‘. Im Happening ist das Publikum der Sündenbock.“ (Sontag 182: 310, 321)

In dieser Perspektive erscheint Handkes Publikumsbeschimpfung wie ein früher Versuch, die Mittel der radikalen Performance-Kunst (einschließlich Happening und Life Art) auf den Bühnen der (west-)deutschen Stadt- und Staatstheater einzusetzen und im Prozess der Aufführung zu reflektieren. In der Form eines Theaterstücks soll der aggressive Akt der Beschimpfung hier gerade dadurch seine Wirkung entfalten, dass er – anders als das Happening in Galerien oder auf der Straße – mit einem distanzierten und stillgestellten Publikum rechnet, dass vielleicht sogar bis zum Ende zuhört. Dabei adressiert der Text die Zuschauer zugleich als Schauspieler der Wirklichkeit: „Ihr wart die richtigen. Ihr wart atemberaubend. Ihr habt unsere Erwartungen nicht enttäuscht. Ihr wart die geborenen Schauspieler. Euch steckte die Freude am Spielen im Blut,

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ihr Schlächter, ihr Tollhäusler, ihr Mitläufer, ihr ewig Gestrigen, ihr Herdentiere, ihr Laffen, ihr Miststücke, ihr Volksfremden, ihr Gesinnungslumpen.“ (Handke 1978: 46)

Noch wichtiger aber als die eigentliche Beschimpfung – von der es zu Beginn schon heißt, dass sie „an niemanden gerichtet“ sei und die zunächst auch als bloße „Schimpfprobe“ bezeichnet wird – ist das Spiel mit Widersprüchen und Paradoxien, das auch die Position der Akteure und des Theaters insgesamt in Frage stellt. So weist der Text über die 60er-Jahre und ihre Forderung nach Aktion und Eingreifen in die politische Wirklichkeit hinaus auf die Frage nach einer Neuorganisation des Theaters als Kommunikationsprozess und als ein Labor experimentellen Verhaltens. Die Aggression gegen das Publikum ist jedenfalls kein Selbstzweck, dient schließlich eher dem Grundimpuls, eine neue Situation zu schaffen, durch Störungen, Irritationen und Brüche. Diese können konstruktiv werden, indem sie eindeutige Sinnzuschreibungen unterlaufen, wenn Vorgänge gezeigt oder in Gang gesetzt werden, die mit hoher Intensität den Zuschauer betreffen, auch wenn sein Interpretieren und Beurteilen vorübergehend außer Kraft gesetzt ist. Dabei erscheinen zeitgenössische Theaterformen oft eher unpathetisch und wenig spektakulär, ohne den Zwang zur großen Geste und häufig mit dem Gestus der Untersuchung und des Experiments. Zwar ist davon auszugehen, dass gegenüber der früheren Begeisterung für ein explizit politisches Theater (wie sie noch in den 70er-Jahren verbreitet war) durch den Verlust der großen politischen Utopien längst Skepsis über seine Wirksamkeit vorherrscht. Neuerdings stellt sich aber durchaus wieder die Frage, wie denn – über die Instrumentalisierung der Bühne für politische Ziele hinaus – Theater politisch, das hieße, auf politische Weise zu machen wäre. Dazu zählt die Thematisierung der institutionellen und strukturellen Voraussetzungen von Theaterarbeit ebenso wie die Arbeit an Ereignissen, welche die Wahrnehmungsgewohnheiten der Zuschauer enttäuschen oder unterlaufen, jedenfalls nicht nur bedienen. Und schließlich geht es auch um Formen der Ausschließung, wodurch manche Personenkreise, Gruppen und Schichten der Bevölkerung im Theater gar nicht vorkommen, keine Stimme haben und keine Möglichkeit, die für sie relevanten Themen zu artikulieren. Auch hierfür ist Rancières Theorie des Politischen aufschlussreich, wie er sie zunächst in dem Buch Das Unvernehmen formuliert hat. Darin wird der aktuelle Zustand staatlicher Demokratie insgesamt von einer Logik der Aufteilung (von Macht, Verantwortung und Ressourcen) und der Ausschließung her definiert, als Ignoranz gegenüber denjenigen, die in ihr keine Stimme haben (vgl. Rancière 2002). Im Unterschied zu dieser Politik der Ausschließung sei Kunst von einer umgekehrten Tendenz geprägt: Durch In-

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tegration und Pluralisierung, Koexistenz und Heterogenität könnten hier auch Gegenentwürfe einer anderen Praxis des Politischen entwickelt werden. Indem Rancière (2007a: 45 ff.) Kunst als „Aufteilung des Sinnlichen“, beispielsweise als Anordnung von Körpern „in einem spezifischen Raum und in einer spezifischen Zeit“, definiert, gelangt er zu einer Annäherung von einerseits vermeintlich selbstgenügsamer, unpolitischer Kunst (die aber gerade darin das Bild von Freiheit und Souveränität als „Versprechen von Emanzipation“ bewahrt) und andererseits einer explizit politisch engagierten Kunst, die den Widerspruch zwischen Kunst und Leben aufheben will. Wichtig für die Diskussion um eine Politik des Theaters ist aber vor allem Rancières Feststellung, dass Politik immer schon Teil von Kunst und zumal von Theater sei, nicht etwa ein Anderes, Äußeres oder bloß Inhaltliches, das auf der Bühne abzubilden wäre. Gegenwärtig wird auch im Theater häufiger versucht, die etablierte und vorherrschende Politik der Ausschließung aufzubrechen, Stimmen hörbar zu machen, die ansonsten überhört werden und keine Resonanz finden. In diesem Kontext steht die schon länger zu beobachtende Tendenz, mit nicht-professionellen Akteuren zu arbeiten, diese als „Experten des Alltags“ zu Wort kommen zu lassen. Während solche Produktionen und Projekte durch Gruppen wie Rimini Protokoll oder Hofmann & Lindholm etabliert sind und auch im regulären Stadttheaterbetrieb ihr Publikum finden, ist im deutschsprachigen Kinder- und Jugendtheater das Prinzip der Repräsentation, der Stellvertretung durch Rollenspiel, immer noch die Regel. Damit kommen, von wenigen Ausnahmen abgesehen, die Stimmen von Kindern und Jugendlichen nur sehr indirekt zu Gehör, vielfach übertönt und souffliert durch die Rede der erwachsenen Schauspieler, je mehr diese sich um ein kind- oder jugendgerechtes Sprechen und Verhalten bemühen. Im Rahmen der etablierten (theater-)pädagogischen Programmatik wird an gewohnten Methoden (Werkinszenierung, Rollenspiel, Einfühlung) festgehalten, die den jungen Zuschauern Bilder von Kindheit oder Jugend vorführen, die wesentlich von Erwachsenen geprägt und gestaltet sind. Wenn es verstärkt seit Ende der 90er-Jahre auch Versuche gibt, dieses einseitige, immer noch auf ein spezifisches „Unvernehmen“ gegründete Verhältnis zwischen den Generationen im Theater zu unterlaufen oder gar umzukehren, so sind die wichtigsten Impulse dafür aus Belgien gekommen, insbesondere aus Gent und dem dortigen Theater Victoria.

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T HEATER V ICTORIA ODER D IE K INDER AUF DIE B ÜHNE ! Nachdem sich das Genter Theater „Oud Huis Stekelbees“ 1993 in „Victoria“ umbenannte, wurde es zu einem der wichtigsten Impulsgeber für das Theater mit Kindern und Jugendlichen in Europa. Wohl nicht ganz zufällig war 1993 das gleiche Jahr, in dem die Subventionsstruktur in Flandern, dem nördlichen, niederländisch-sprachigen Teil Belgiens, grundlegend verändert wurde. Gab es vorher, seit 1975, noch die vier Förder-Kategorien Repertoiretheater (A), Tourneetheater (B), Kammerspiele (C) und experimentelles oder didaktisches Theater (D), trat nun eine flexiblere Regelung in Kraft, mit der auch Tanz, Musiktheater und die vielen bedeutenden Kunstzentren besser unterstützt werden konnten. Damit berücksichtigte die Kulturpolitik endlich die neueren Tendenzen, die von international bekannten Tanz-Ensembles wie Rosas (Anne Teresa de Keersmaeker), Ultima Vez (Wim Vandekeybus) und den Ballets C de la B (Alain Platel) neben den großen Theatercompagnien Troubleyn (Jan Fabre) und Needcompany (Jan Lauwers) manifestiert wurden. Die Szene in Flandern war bereits durch eine neue Generation von Theatermachern geprägt, deren körperbetonte Inszenierungsformen die Entgrenzung textgebundener und psychologisch-realistischer Traditionen vorführten. Gegenüber den damals noch in einer traditionellen Schauspielästhetik befangenen Stadttheatern öffneten sich die Kunstzentren und freien Ensembles den anderen Künsten und technischen Medien ebenso wie einer Durchdringung von Tanz und Theater. In diesem Kontext konnte sich auch das Kinder- und Jugendtheater in Flandern von der bis dahin vorherrschenden pädagogischen Zielsetzung emanzipieren. Bereits in den Jahren davor wurden im Kindertheater gesellschaftliche Konflikte und auch Fragen der institutionellen Macht verhandelt, wie Erwin Jans und Geert Opsomer damals, 1993, in ihrem Überblick zur flämischen Theaterszene notiert haben: „Der Schwerpunkt verlagerte sich von einem Theater für Kinder zu einem Theater von Kindern, um ihnen schon im Handeln eine kritische Haltung gegenüber der gesellschaftlichen Realität beizubringen. Das ‚Mitspieltheater‘ war extremster Ausdruck dieser Haltung.“ (Jans/Opsomer 1993: 25ff.)

Künstlerisch erwachsen wurde dieses Theater jedoch erst in der zweiten Hälfte der 80er-Jahre, indem es sich von dem früheren pädagogischen Auftrag weitgehend befreite:

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„Der Pädagogik steht nun eine bewußte Anti-Pädagogik gegenüber. Die Anti-Pädagogen plädieren für eine nicht-hierarchische, respektvolle Einstellung gegenüber dem Kind und seiner Eigenart. Im Theater werden Werte wie Emotionalität, Spontanität, Erstaunen, Phantasie und ein eher assoziatives Denken neu definiert.“ (ebd.: 17ff.)

Mit dieser künstlerischen Emanzipation wurde die bis dahin vorherrschende Ausrichtung auf eine bestimmte Zielgruppe überwunden, wie Christien Boer betont hat: „Ebenso wie im Erwachsenentheater darf sich der Zuschauer in einer Vielheit von Bildern wiederfinden oder seine eigene Blickrichtung bestimmen“ (ebd.: 19). Wenn für diese neue Richtung von Theater mit Kindern und Jugendlichen Texte verfasst wurden, so geschah dies in engem Kontakt mit der Theaterpraxis. Gegenüber der bis dahin tonangebenden Generation von niederländischen Theaterautoren, die auch in Deutschland viel gespielt wurden (Judith Herzberg, Ad de Bont, Pauline Mol und Suzanne van Lohuizen), kamen in Flandern nun einige jüngere Autoren an die Theater, wie Willy Thomas und Arne Sierens. Letzterer schrieb Mitte der 90er-Jahre eine Reihe von Texten, die direkt mit dem Produktionsprozess am Theater Victoria verknüpft waren und um die alltägliche, oft desaströse Realität von Kindern und Jugendlichen aus den ärmeren Vierteln von Gent kreisen. Mit dieser Erfahrung und Thematik hat das Theater Victoria immer wieder gearbeitet, vor allem aber in einigen Kooperationsprojekten, die der aus Gent stammende und immer noch dort lebende Regisseur und Choreograph Alain Platel gemeinsam mit Arne Sierens durchführte: Moeder en Kind (1995), Bernadetje (1996) und Allemaal Indiaan (1999). Platel, Jahrgang 1956 und heute einer der bedeutendsten belgischen Tanz- und Theaterkünstler, war nach einer Ausbildung zum Heilpädagogen und einigen Jahren Studium in zeitgenössischem Tanz 1984 Mitbegründer der Compagnie Les Ballets C de la B in Gent. Bereits in dem Stück Bonjour Madame (1993), mit dem er erstmals großes internationales Ansehen erreichte, obwohl es wegen der Beteiligung von Clochards/Obdachlosen zumal beim Theaterfestival von Avignon heftigen Protest gab, waren auch Kinder mit auf der Bühne. Hatte Platel seine Stücke bis dahin eher auf Anregung anderer Künstler oder Institutionen und gemeinsam mit seinen Tänzern entwikkelt, wollte er Bonjour Madame zunächst auf einem eigenen Szenario aufbauen zu dem Thema „wie Männer mit ihren Gefühlen umgehen“, worauf er dann aber verzichtete: „Bonjour Madame war ein Schlüsselerlebnis für mich, denn es war die Aufführung, bei der ich zu Beginn der Proben alle meine Notizen wegschmiß. Ich hatte mich gut vorberei-

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tet und jede Menge Notizen, aber auf der Probebühne mußte ich mich auf zehn ganz unterschiedliche Männer und auf ein paar Kinder einstellen und zusehen, wie ich die zusammenbrachte. Ich konnte nicht einfach hergehen und sagen: So, jetzt macht mal das und das, sondern ich mußte sehr genau beobachten, wie sie sich verhielten, was sie entwickelten, und dann von diesem Material ausgehen. […] Und dann mußte ich einen Weg finden, wie sie zusammen tanzen konnten, sie waren alle so verschieden. Deshalb bat ich jeden einzelnen, ein kleines Solo zu erfinden, um seinen Stil vorzustellen. Und dieses Solo sollte er dann einem anderen schenken, es ihm beibringen und sehen, was der damit macht. Auch die Kinder sollten es lernen. So arbeite ich heute noch bei den Proben“ (Platel 2007: 33 f.)

Diese von Platel rückblickend reflektierte Methodik hatte bald großen Erfolg. Zu seiner schonungslosen Bearbeitung des gesellschaftlichen Tabuthemas Obdachlosigkeit kam die Verknüpfung von Tanz und Theater, der offene Prozess einer gemeinsamen Suche, im Beobachten und Austauschen von Bewegungsmaterial, und schließlich die Einbeziehung von Kindern als weitgehend gleichberechtigten Darstellern. Ein Meilenstein für diese Entwicklung waren in der zweiten Hälfte der 90er-Jahre die gemeinsam mit Arne Sierens am Theater Victoria produzierten Familienstücke.6 Die Serie wurde 1995 durch Moeder en Kind eröffnet, in einer Landschaft aus alten Möbeln, Sesseln, Sofas, Kühlschrank und Waschmaschine. Inspiriert war die Produktion von Filmen (John Cassavetes und Vitali Kanevski) und eigenen Beobachtungen in Genter Arbeitervierteln, vor allem aber von den Farbfotos aus dem Buch Living Room von Nick Waplington (1991), der zwei Jahre lang in englischen Arbeiterfamilien gelebt und ihren Alltag genau dokumentiert hat. So geht es auch in Moeder en Kind um das alltägliche Zusammenleben, Essen, Spielen, Rauchen und Trinken, Musikhören und das Füttern von Haustieren. Auf die große, von ebenso chaotischen wie intensiven Beziehungen geprägte Familie (vier Tänzer und zwei Teams von je vier Kindern) trifft sehr bald zu, was Platel (zit. n. Cools 1995: 15) als Kern all seiner Stücke beschrieben hat: „a group of people brought together in a particular place, and who are there for far too long. As a consequence, certain things start to happen“. Diese Formel verdeutlicht, dass es sich bei Moeder en Kind nicht einfach um eine sozialkritisch motivierte Milieustudie über die Lebensverhältnisse in Arbeiterfamilien handelt. Die dramaturgische Struktur des Stückes entspricht immer

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In dieser Zeit wurde auch das Thema der Gewalt gegen Kinder durch die Affäre um den Vergewaltiger und Mörder Marc Dutroux akut, der nach vorübergehender Freilassung endgültig 1996 verhaftet und verurteilt wurde.

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noch einem das bürgerliche Theater begleitenden Modell, dessen Entwicklungsbogen vom Schicksalsdrama und dem Boulevardtheater des 19. Jahrhunderts über die surrealistische Sprengung der Familie und die existenzialistische „Dramatik der Enge“ bis hin zum Absurden Theater (und schließlich den Vorabendserien der populären Fernsehsender) reicht: Das mehr oder weniger realistisch dargestellte Alltagsleben der bürgerlichen Familie unter den Bedingungen der neoliberalen kapitalistischen Gesellschaft führt meistens zur Schwächung oder Abwesenheit des Vaters und der symbolischen Ordnung. An die Stelle überkommener Moralvorstellungen tritt die pragmatische und zugleich libidinös aufgeladene Organisation des Zusammenlebens als einer anti-ödipalen Wunschmaschine (vgl. Deleuze/Guattari 1977). Bei Platel und Sierens entlädt sich die neurotische Spannung der Familienbeziehungen, Aggression und Zuneigung, in einem Feuerwerk von körperlicher Bewegungsenergie, die den Zuschauer direkt angeht, ohne Raum für abwägende Distanz. „Moeder en Kind“ (1995)

Foto: © Phile Deprez

Die Kinder trampeln und tanzen nicht nur auf den Möbeln herum, sondern zugleich auf den Nerven der Erwachsenen. Die erscheinen zwar nicht gerade wehrlos, werden aber an kreativer Energie völlig in den Schatten gestellt durch Kinder, die genau wissen, wie sie Grenzen überschreiten, Schwächen ausnutzen, Aggressionen provozieren können:

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„All this makes them responsible too for this crude drama, in which people do things to each other the public knows they shouldn’t. Guilty children on stage is something seldom seen in theatre.“ (Korteweg 1995)

Die von Rezensionen einhellig betonte Frische, Spontaneität und Direktheit der Aufführung, die auf mehreren Tourneen weltweit bekannt wurde, hängt sicher mit diesem Moment einer (im anthropologischen Sinne) durchaus karnevalesken Umkehrung aller Werte, Instanzen und Normen der bürgerlichen Gesellschaft zusammen. Damit entspricht die Aufführung zugleich einem historischen Kontext, der für den neuen Namen der Institution Victoria wohl nicht ganz zufällig ist: So erscheint neben Kurt Schwitters Idee, durch die Begegnung von Victor und Ria einen möglichen Roman mit einem Sieg (victoria) beginnen zu lassen,7 auch Roger Vitracs Stück Victor ou les Enfants au pouvoir! (Victor oder die Kinder an die Macht!) von 1929 als ein wichtiger Bezugspunkt für den antipädagogischen Ansatz dieses Theaters. „Moeder en Kind“ (1995)

Foto: © Phile Deprez

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Vgl. dazu den Hinweis auf der Pressemappe des Theaters, wo zur Einführung des neuen Namens explizit der Schwitters-Text zitiert wurde: „Victoria (beginning of a novel)… Victor and Ria, Victoria, it was even more, it was a victory“. Theater Victoria, Gent 1996.

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„Moeder en Kind“ (1995)

Foto: © Phile Deprez

Vitrac war von 1922 an Mitglied der Surrealisten um André Breton, wurde von diesem aber wie Antonin Artaud 1925 ausgeschlossen, unter anderem deshalb, weil sie zusammen das Théâtre Alfred Jarry gegründet hatten. Dort wurde Victor oder die Kinder an die Macht! 1928 von Artaud uraufgeführt, als Angriff auf die bürgerliche Gesellschaft. Die Handlung spielt am Abend des neunten Geburtstags von Victor, der mit seiner Körpergröße von über 1,80m und seinem anarchischen und destruktiven Verhalten die ganze Familie ruiniert und am Ende auch selbst stirbt. Das Stück folgt den Mustern des Boulevardtheaters, aber in grotesker Übersteigerung der üblichen Intrigen: heimliche Liebschaften und Inzestbeziehungen erscheinen als Ausdruck der Brüchigkeit zugleich der Familie und des französischen Staates im Jahr 1909. Den damals virulenten Revanchismus gegen Deutschland verkörpert ein lächerlicher General, während einige mysteriöse Damen die bürgerliche Gesellschaft der ‚Belle Epoque‘ andeuten. Der Verlust von kausalen Zusammenhängen, eine weitgehende Herrschaft des Zufalls und die Montage gegensätzlicher Elemente betrifft aber auch die Ideologie des Modernismus: Galt das Kind im Ersten Surrealistischen Manifest von André Breton noch als Symbol des Protestes gegen eine überlebte Gesellschaft, ist es bei Vitrac längst nicht mehr idealisiert, sondern nur noch monströs. So wird in der Figur des Victor der Surrealismus selbst verkörpert und im Medium des Boulevardtheaters spielerisch ad absurdum geführt: „Absage an den Surrealismus bei

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gleichzeitiger Nutzung surrealistischer Themen“ (Grimm 1982: 340).8 Anfang der 60er-Jahre wiederentdeckt als ein Vorläufer des absurden Theaters, ist Victor bis heute eines der wichtigsten Stücke des modernen Repertoires und Vorbild für eine antiidealistische, nüchterne Auffassung des Kindes, wie sie auch am Theater Victoria zu beobachten war. „Bernadetje“ (1996)

Foto: © Phile Deprez

In der Wohnküche von Moeder en Kind gab es als Fluchtorte nur die Schränke, auf denen mit Spot-Beleuchtung die Videoclips großer Popstars nachgetanzt wurden. In Bernadetje (1996) war die Bühne ein echter Autoscooter, mit fünf Wagen und einem Jahrmarktsgerüst, auf dem in umgekehrten Leuchtbuchstaben das Wort Lourdes auf die Pilgerstätte verweist, wo die heilige Bernadette verehrt wird. Am Anfang stand eine Kindheitserinnerung, die Platel mit Arne Sierens teilte: ein in der Nähe von Gent gelegener Wallfahrtsort mit Jahrmarkt und Autoscooter. In den Beziehungen zwischen den Figuren wie in den pathetischen Tableaus, die auf den Scooter-Wagen zur Musik von Bach oder Schubert (Ellens Gesang / Ave Maria) während der Fahrt gestellt werden, manifestiert sich eine religiöse Erfahrung: Jede der typenhaft stilisierten Personnagen hat ihr eigenes Ritual, die erwachsenen Akteure ebenso wie die Kinder, mit hoher Bewegungsenergie und Virtuosität zwischen Tanz, Karaoke und Akrobatik (vgl. Platel

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Vgl. dazu Primavesi 2009.

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2007: 55). Gearbeitet wurde nicht mit einem fertigen Skript, sondern durch allmähliche Festlegung von Typen, Szenen und Geschichten in einem über zwei Monate dauernden Improvisationsprozess, orientiert am Jahrmarkt als einem großen Maschinentheater: „The dodgems, that’s what the fair is really about: it’s the street, it’s a town, a discothèque, it’s the place to pick up a girl – a bit like the last row in the cinema, but that’s too dark to put on stage. You go to the dodgems to parade round the sides and look at each other. To chat and smoke cigarettes. And then all at once to go and buy some tokens. To fight over the empty cars, climb into them, to drive around with big gestures, and smash! And especially to take everything personally.“ (Programmheft, Gent 1996)

Während sich die Kindern und Halbstarken auf der Bühne des Jahrmarkts in die Rollen der Erwachsenen einzufühlen beginnen, lassen diese ihre Beziehungskrisen eskalieren, die nur durch Momente von Trance auf den Scootern gelegentlich unterbrochen werden. „Bernadetje“ (1996)

Fotos: © Phile Deprez

Auf ähnliche Weise changierte auch die dritte Produktion von Sierens und Platel Allemaal Indiaan (1999) zwischen völliger Verzweiflung und Euphorie. Hier besteht der Raum aus zwei großen Einfamilienhäusern, die von außen und innen bespielt werden: „in dem einen wohnen zu wenig Menschen, in dem anderen zu

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viele“ (Platel 2007: 55), links ein alleinerziehender Vater, der Feuerwehrmann Franky, mit einer blinden Tochter und einem Sohn, deren Mutter in der Psychiatrie ist, rechts die alleinerziehende Mutter Tosca mit vier Kindern, von denen eines geistig behindert ist, der Junge Arno, der als Indianer verkleidet ist. Wieder geht es um die Auflösung der Familie, um unerträgliche Nachbarschaftskonflikte, alltägliche Formen von Gewalt, Isolation und Überforderung, mit denen sich Erwachsene, Jugendliche und Kinder, Schauspieler und nichtprofessionelle Akteure wechselseitig in Krisen treiben. Gegen Ende wird auch die Frau aus Montenegro, die in der unteren Etage in einer Art Waschsalon Unmengen von Kleidern wäscht, durch die Parole „Kosovo go Home“ angefeindet. Auch bei dieser Inszenierung lässt Platel (der auf seine Prägung durch das Tanztheater von Pina Bausch öfters verwiesen hat) die Konflikte körperlich ausagieren, in einer katastrophischen Choreographie, die von unablässig dröhnender Musik beschleunigt wird. „Allemaal Indiaans“ (1999)

Foto: © Kurt van der Elst

Der Titel „Allemaal Indiaans“ wurde bei Aufführungen im deutschen Sprachraum zu „Jeder ist ein Indianer“, bedeutet aber wörtlich übersetzt eher „alle indianisch“. Insofern der mit Indianerschmuck markierte Arno geistig behindert ist, erscheint die sonst als Ausnahmefall angesehene Behinderung bzw. Andersheit selbst als eine Norm, die für die ganze Gesellschaft gilt, etwa im Sinne von „alle verrückt“. Damit wird aber deutlich, dass es mit der Beteiligung von Kindern und Jugendlichen als Akteuren vor einem ‚normalen‘, nicht in Altersklassen sortierten Publikum immer auch um die wenigstens punktuelle Möglichkeit eines anderen, anormalen Verhaltens geht. Vor Kindern, die im Theater als solche er-

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scheinen, haben Erwachsene, wie es schon bei Benjamin (1977a: 765) heißt, allenfalls die Möglichkeit, sich zu schämen, wenn sie „noch nicht ganz verblödet“ sind. Ein Effekt, der in den 1920er-Jahren noch für die Utopie des Kindes als einer anderen, kommunistisch verstandenen Zukunft stehen konnte, ist in neoliberalen Verhältnissen aber selbst nicht davor sicher, zur Marke oder Mode zu werden, bedarf jedenfalls der ständigen Neu-Erfindung und auch Veränderung, um nicht zu einer neuen Norm des „Außergewöhnlichen“ zu verschleißen. Dessen war sich gerade Platel sehr wohl bewusst: „[I]n unseren Familienstücken waren die Kinder völlig gleichberechtigt. Später fiel mir irgendwann auf, daß Stücke mit Kindern eine richtige Mode geworden waren, plötzlich gab es überall Kinder auf der Bühne, und da hatte ich dann keine Lust mehr dazu. Vielleicht kommt das wieder, aber im Moment will ich das nicht.“ (Platel 2007: 61)

„Allemaal Indiaans“ (1999)

Foto: © Kurt van der Elst

Mit Allemaal Indiaans war also bereits ein Wendepunkt erreicht, an dem die Einbeziehung von Kindern normal erschien und vielmehr die Aufteilung in Erwachsene und Kinder selbst in Frage zu stellen war. Das hieß allerdings nicht, dass nun wieder zurückzukehren war zur pädagogischen Kontrolle von Zielgruppen durch das gewohnte Rollenspiel. Die Beteiligung von Kindern als Akteuren in neuen Theaterformen hat – weit über Belgien hinaus – am Anfang des 21. Jahrhunderts zu einer grundsätzlichen Neuorientierung von Kinder- und Ju-

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gendtheater geführt, auch wo es um Theater von professionellen erwachsenen Akteuren vor jungem Publikum ging. Unter dem programmatischen Titel Kinder gibt es (nicht). Ein Blick auf das Jugendtheater gab der belgische Theaterkritiker, Dramaturg, promovierte Rechtswissenschaftler und Regisseur Klaas Tindemans (Sohn von Carlos Tindemans, der an der Universität von Antwerpen den ersten Studiengang für Theaterwissenschaft in Flandern eingerichtet und damit sowie als Kritiker die Entwicklung des neueren belgischen Theaters mit geprägt hat) im Jahr 2009 eine Einschätzung der damaligen Situation: „Jugendtheatermacher von heute gehen von ihrem eigenen Weltbild aus, sie untersuchen, wo und wie Kinder in ihrer eigenen Welt herumlaufen: das Kind, das sie früher waren, das Kindliche, das sie in sich bewahrt haben und wiederentdecken. Oder von ihrem Erstaunen, womöglich sogar ihrem Ärger über die Kinder von heute. Das Kind steht nicht mehr im Mittelpunkt wie früher, als eine Phase in der pädagogischen Entwicklung, das Kind aus dem Kindertheater ist ein Fremdling und gerade in dieser ‚Verfremdung‘ begegnet man den spannendsten Kindern. Aber sie bleiben fundamental fremd. Das darf man dem jungen Publikum auch zeigen, in aller Hilflosigkeit. Der große Unterschied zwischen einem pädagogischen Kinderbild und einem künstlerischen Kinderbild – als Theaterthema und als Publikum – ist schon eine erste Erklärung für die Kluft. Die Kinder – Figuren – im Jugendtheater sind meistens nicht sozial integriert.“ (Tindemans 2009b: 101 f.)

Dass diese Einschätzung, die Tindemans an einer Vielzahl aktueller, sehr unterschiedlicher Stücke und Produktionen entfaltet, auch für die Adaption von Tendenzen des Theaters aus Flandern in Deutschland zutrifft, zeigt der Erfolg seines eigenen Stückes Bulger. Eine unzulässige Geschichte. Das 2006 in Brüssel von Tindemans selbst uraufgeführte Stück behandelt ein reales Verbrechen: den Fall von zwei zehnjährigen Jungen, die 1993 in Liverpool ein Kleinkind aus einem Supermarkt entführten und ermordeten, wobei damals gerade die Frage, ob die Behandlung der kindlichen Täter als Erwachsene akzeptabel sei, europaweit kontrovers diskutiert wurde. Als mögliche Ursachen für die Tat wurden der Einfluss der Gewaltdarstellung in Videofilmen wie auch die desaströsen Familienverhältnisse der Kinder angesehen. Zu dem von mehreren Revisionen und erneuten Verurteilungen über zehn Jahre andauernden Skandal trug nicht zuletzt der Umstand bei, dass die beiden Kinder vor der Tat mit ihrem bereits blutenden Opfer auf dem Weg durch Liverpool von insgesamt 38 Bürgern gesehen wurden, von denen keiner etwas unternahm. Das Stück hatte 2008 am Berliner GorkiTheater, inszeniert von Nora Schlocker, seine deutsche Erstaufführung und erhielt den Förderpreis für neue Dramatik beim Stückemarkt des Berliner Theater-

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treffens. Gerade dieses Stück zeigt, dass es im Jugendtheater darum geht, die Normierung von kindlichem Verhalten durch Erwachsene nicht einfach mit den Mitteln der Bühne zu reproduzieren, sondern in Frage zu stellen. Eine solche Infragestellung hieße aber auch, normgerechtes und abweichendes Verhalten ebenso wie Schuldzuweisungen und Erklärungsversuche als Projektionen von Erwachsenen kenntlich zu machen, ähnlich wie Tindemans es in Bulger tut, wo es um die Täter als Objekt solcher Projektionen geht: „Niemand weiß was da genau passiert ist. Außer uns. […] Wir haben ihn nicht berührt. Wir haben ihm nicht wehgetan. Wir sind weggelaufen, weil wir sein Gesicht nicht mehr ertragen konnten. Nur darum. Nicht, weil wir was mit ihm gemacht hätten. Er lebte noch, in dem Moment. Das hab ich gesehen. Da bin ich mir sicher. Aber ich seh an deinem Blick, dass du mir nicht glaubst. […] Du weißt, dass du eingesperrt werden wirst. Eingesperrt? Ich bin schon mein ganzes Leben eingesperrt. Aber ich bin auch immer wieder ausgebüchst.“ (Tindemans 2009a)

Beunruhigend an diesem Stück ist nicht nur der Fall selbst, sondern auch die Konsequenz, mit der die Entfesselung kindlicher Gewalt aus Phantasien und Verhaltensweisen von Erwachsenen abgeleitet bzw. gespiegelt wird. Die Tat bahnt sich an, indem die gelangweilten und frustrierten Kinder „Familie spielen“ und ihr Opfer wie ein Haustier quälen, bevor sie es noch lebend auf Eisenbahngleisen liegen lassen (Hierin weicht das Stücke vom realen Fall ab, in dem schließlich durch gerichtsmedizinische Gutachten belegt wurde, dass das Kind zu diesem Zeitpunkt bereits tot war. Außerdem gibt es bei Tindemans mit einem hinzugefügten Mädchen, die als Anführerin der Gruppe erscheint, insgesamt drei Täter). Die Tat wird schließlich als Manifestation einer Gewalt erkennbar, die sich stets gegen Schwächere richtet, die aber eigentlich – in Reaktion auf die Vorgeschichte, eine zerstörte Kindheit – den Erwachsenen gelten sollte: „Es ist Krieg. Sie sind der Feind.“ So werden Ideen ausgetauscht, wie man Erwachsene ärgert: Schrauben locker drehen, elektrische Sicherungen sabotieren, Haustiere vergiften, nachts alle Möbel umstellen. In der Berliner Aufführung zeigten die Akteure zu den Worten „Sie sind der Feind“ ins Publikum. Mit dieser Geste, die der Stücktext an anderer Stelle schon nahelegt, ist auch das Theater mit Kindern und Jugendlichen an dem Punkt angekommen, den die Kunst des Happenings und die Publikumsbeschimpfung von Handke in den 1960er-Jahren erreicht hatten. Dies war zugleich der Ausgangspunkt, von dem aus in den letzten Jahren, wiederum von Gent ausgehend, eine Reihe von vier Inszenierungen zustande kam, die – ähnlich wie es bei den Familienstücken von Platel und Sierens der Fall war – zeitgenössische Formen von experimentellem

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Theater mit Kindern und Jugendlichen als Akteuren ausprobiert haben, vor überwiegend erwachsenem Publikum. Im Auftrag des Theaters Victoria entstanden üBUNG (Josse de Pauw, 2001), That Night Follows Day (Tim Etchells, 2007), Before Your Very Eyes (Gob Squad, 2011) und schließlich Next Day (Philippe Quesne, 2014).9 Mittlerweile ist das Theater Victoria zusammen mit anderen Genter Institutionen im Theater Campo aufgegangen, der Bezug zu Vitracs Victor oder die Kinder an die Macht! ist aber weiter präsent, in einem kindlichen Theater der Grausamkeit, das immer wieder auf durchaus aggressive Weise die Handlungen, Verhaltens- und Denkweisen der Erwachsenen spiegelt, gerade indem die Kinder darin fremd erscheinen.

L ITERATUR Benjamin, Walter (1977): Gesammelte Schriften, Band II. Herausgegeben von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser, Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Benjamin, Walter (1977a): „Programm eines proletarischen Kindertheaters“, in: Ders., Gesammelte Schriften, Band II.2, S. 763-769. Benjamin, Walter (1977b): „Was ist das epische Theater? (Zweite Fassung)“, in: Ders., Gesammelte Schriften, Band II.1, S. 532-539. Brecht, Bertolt (1992): Werke. Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe. Band 21: Schriften 1. 1914–1933. Herausgegeben von Werner Hecht u.a., Berlin/Weimar/Frankfurt a. M.: Aufbau/Suhrkamp. Brecht, Bertolt (1992a): „[Soziologische Betrachtungsweise]“, in: Ders., Werke. Band 21, S. 233. Brecht, Bertolt (1992b): „Über eine neue Dramatik“, in: Ders., Werke. Band 21, S. 238. Brecht, Bertolt (1993): Werke. Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe. Band 22.1: Schriften 2. 1933–1942. Herausgegeben von Werner Hecht u.a., Berlin/Weimar/Frankfurt a. M.: Aufbau/Suhrkamp. Brecht, Bertolt (1993a): „Missverständnisse über das Lehrstück“, in: Ders., Werke. Band 22.1, S. 117 f. Brecht, Bertolt (1993b): „Politische Theorie der Verfremdung“, in: Ders., Werke. Band 22.1, S. 217. Cools, Guy (1995): „Some like it now“, in: The Bulletin vom 26.10.1995, S. 15.

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Siehe dazu meinen Beitrag Versuchsanordnungen im vorliegenden Band, 157-183.

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Paradoxe Verhältnisse Zum biopolitischen Kontext der Theaterarbeit mit Kindern und Jugendlichen J AN D ECK

D IE (W IEDER -)E NTDECKUNG DER K INDHEIT UND DIE E RFINDUNG DER J UGEND Es war ein richtiger Schock, der die bundesdeutsche Bildungslandschaft 2001 erschütterte: Als die OECD ihre erste sogenannte „PISA-Studie“ veröffentlichte, schienen die Schüler hierzulande von vielen ihrer Altersgenossen im Rest Europas abgehängt zu sein. Als besonders leistungsschwach galten Kinder aus zugezogenen und sozial benachteiligten Familien. Daher begann eine Sorge um die sogenannten „bildungsfernen Schichten“, während man gleichzeitig die Eltern dieser Kinder als „Sozialschmarotzer“ diffamierte, um sie wenige Jahre später mit Harz IV nur noch weiter in die Armut und Abhängigkeit von staatlicher Unterstützung hinein zu treiben. Um Gleichheit ging es auch nach PISA nie, allenfalls um Chancengleichheit. Hinter diesem Terminus verbirgt sich die Theorie, gleiche Bildung sei die Voraussetzung für ein erfolgreiches Leben. Der Rest liege dann in der Selbstverantwortung des Einzelnen. Zwei Parolen waren seitdem prägend für die mit großem Eifer geführten Bildungsdebatten: Zum einen die Feststellung, dass Deutschland keine Rohstoffe habe, weshalb man in die Köpfe der Kinder investieren müsse. Kinder gelten also als Zukunftsinvestition für ein Land, das gerne ökonomisch an der Weltspitze bleiben möchte. In dieser Perspektive geht es weniger um das Wohl der Kinder als vielmehr darum, in Zukunft den anderen Nationen im globalen Wettbewerb ein paar Nasenlängen voraus zu sein. Dazu fügt sich ein zweites Argument, die sogenannte demographische Wende. Da in Deutschland immer weniger Men-

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schen geboren werden, gelten Kinder plötzlich wieder als kostbares Gut, als notwendige Ressource, um ein vermeintlich schrumpfendes Volk auf qualitativ und quantitativ abgesicherter Basis in die Zukunft zu führen. Gut ausgebildete Kinder und Jugendliche sind in einer solchen Argumentation zuallererst ein Standortvorteil. Der neoliberale Zeitgeist begreift sie als beliebig formbare Variable in der Wertschöpfungskette. Dieses Denken wird in der soziologischen Debatte einer biopolitischen Tradition von Regierungstechniken zugeschrieben, welche die Perfektionierung von Humankapital als wichtigste Voraussetzung ökonomischen Wachstums begreifen. Gute Ernährung, Sport, Kommunikationsfähigkeit und eben Bildung werden in diesem Diskurs vor allem als Grundlagen für die Selbstoptimierung der Subjekte verstanden – in einem Markt, in dem Selbstmanagement als elementare Bürgerpflicht erscheint. Umgekehrt wird so die Verantwortung persönlichen Scheiterns den Subjekten und ihrer mangelnden Selbstoptimierung angelastet. Was auf den ersten Blick wie eine Erziehung zur Mündigkeit aussieht, erweist sich bei näherem Hinsehen als der Zwang, die eigenen Kompetenzen marktgerecht auszubilden. Immerhin sind die Kinder in Deutschland bei der Pisa-Studie von 2012 wieder im Mittelfeld gelandet. Vielleicht liegt das aber auch daran, dass nur Alltagsaufgaben (wie der Kampf mit einem Fahrkartenautomat oder dem Thermostat einer Klimaanlage) Gegenstand der Untersuchung waren. Und dennoch ist auch hier von „Bildungsverlieren“ die Rede (vgl. Titz 2014). Bei den damit skizzierten Parolen aus den bildungspolitischen Debatten der letzten Jahrzehnte handelt es sich aber keineswegs um ein völlig neues Phänomen spätkapitalistischer Gesellschaften. Ein Blick in die Geschichte zeigt, dass die Sorge um Kinder und Jugendliche immer wieder dann besonders groß war, wenn größere ökonomische und politische Veränderungen stattfanden. Die bereits 1960 erschienene Studie Die Geschichte der Kindheit von Philippe Ariès (2011) spricht von einer allmählichen „Entdeckung der Kindheit“ in Europa im 15. und 16. Jahrhundert. Im Mittelalter wurden Kinder wie kleine Erwachsene behandelt und es galt als normal, dass sie schon früh unter Erwachsenen leben und lernen sollten. Bis zum 18. Jahrhundert etablierten sich dann zwei Institutionen, die den heutigen Charakter von Kindheit massiv prägen: Zum einen die (Klein-)Familie als Ort von Privatheit und Intimität, zum anderen die Schule als Ort des klassenund altersspezifischen Lernens. Es waren die kirchlichen Moralisten, denen die mittelalterliche Bildungsanarchie ein Dorn im Auge war und die eine sittliche Ordnung der Gesellschaft durch umfassende religiöse Erziehung erreichen wollten. So entwickelte sich allmählich ein gesellschaftlicher Diskurs, der Eltern die moralische Verantwortung für das Seelenheil ihrer Kinder überantwortete und

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die Familie zum Ort der Fürsorge machte. Die Entdeckung der Kindheit erschuf damit auch neue Empfindungen und Eltern erhielten die moralische Pflicht, sich um die Erziehung ihrer Kinder zu kümmern. Das Kind wurde zum „unabdingbaren Bestandteil des Alltagslebens, man beschäftigte sich bevorzugt mit seiner Erziehung, seiner Unterbringung, seiner Zukunft“ (Ariès 2011: 554). Laut Ariès gibt es einen Zusammenhang zwischen einem solchen Familiensinn und dem Bezug zur eigenen ökonomischen Klasse. Gerade das Schulsystem markiert die zunehmende Klassentrennung zu Beginn der Neuzeit. Im 17. Jahrhundert hatte man karitative Schulen entstehen lassen, die vor allem die Bildung für Arme verbessern sollten, dabei jedoch ebenso die Kinder wohlhabenderer Familien anzogen. Seit dem 18. Jahrhundert aber akzeptierten die bürgerlichen Familien diese Vermischung nicht mehr. Man behielt die karitativen Schulen für das Volk bei und schickte die Kinder der besser gestellten Bürger in Pensionate und Kollegs, wo sie unter ihresgleichen waren. Diese Schultrennung ist die Kennzeichnung eines entstehenden gesellschaftlichen Klassensystems: „Man hat den Eindruck, als verfiele ein allumfassender polymorpher sozialer Körper, als löse er sich in eine Unzahl von kleinen Gesellschaften, die Familien und einige massive Gruppierungen, die Klassen auf; in Familien und Klassen waren Individuen zusammengeschlossen, die aufgrund ihrer moralischen Ähnlichkeit, der Identität ihrer Lebensweise zusammengehörten, während der frühere ungeteilte soziale Körper die größere Vielfalt der Altersstufen und der Stände umschloss.“ (Ariès 2011: 563)

Diese Erkenntnis hat weder etwas mit naiver Mittelalter-Nostalgie zu tun, noch muss man sich ein homogenes soziales Gefüge zurückwünschen. Es geht zunächst ganz empirisch um die Feststellung, dass die Entdeckung des Kindes nicht vom Aufstieg des Bürgertums zu trennen ist. Der Blick ins 18. Jahrhundert legt die Vermutung nahe, dass die Sorge um das Kind schon immer mit ökonomischen Machtverhältnissen verbunden war. Das bedeutet nicht, dass beides unabdingbar gekoppelt sein muss, aber es besteht zumindest ein entwicklungsgeschichtlicher Zusammenhang zwischen beiden Phänomenen. Ähnlich interessant ist die Entstehung des Begriffes „Jugend“, der sich ebenfalls in Abhängigkeit von gesellschaftlichen Veränderungen und damit verbundenen Interessen entwickelt hat. Der amerikanische Journalist John Savage (2008) untersucht in seinem Buch Teenage das, was er die „Erfindung der Jugend“ nennt, nämlich unterschiedliche Definitionen und Diskurse um Jugendliche zwischen 1875 und 1945 in Westeuropa und den USA. Der Begriff der Jugend bildet den Rahmen um die Funktionalisierung einer Altersgruppe, deren Energie und Be-

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geisterungsfähigkeit zum Objekt von Regierungen, politischen Bewegungen und ökonomischen Interessen wurde. Seit Ende des 19. Jahrhunderts wurde Jugend einerseits, an der Schwelle zur Moderne, zur Quelle der Hoffnung auf Erneuerung der bürgerlichen Kultur und Gesellschaft und damit auch zur ästhetischen Projektionsfläche (ausgehend vom „Jugendstil“ in immer neuen Moden und Strömungen populärer Kultur), anderseits aber immer wieder Anlass zu diffusen Ängsten und Sorgen, die ebenfalls im Zeichen der modernen Massengesellschaft standen. Dass Jugendliche Drogen konsumierten oder kriminell wurden, schrieb man selten konkreten gesellschaftlichen und ökonomischen Ursachen zu, sondern unzureichender Erziehung und Ordnung oder gar kriminellen ‚Anlagen‘. Gesetzesverschärfungen, disziplinierende Jugendorganisationen und der Einzug zum Militär waren entsprechende Gegenmaßnahmen. Auf der anderen Seite führten Aufbegehren und Protest in den verschiedenen Jugendbewegungen des 20. Jahrhunderts nicht selten zu Repressionserleichterungen. Und gerade Musik, Mode und Populärkultur boten wichtige Spielräume, um sich von anderen Generationen zu unterscheiden und aufmüpfig zu werden. Doch diese Freiheiten waren fragil und wurden immer wieder in Frage gestellt. Savages Teenage-Studie orientiert sich an zwei Wissenschaftlern, die für den Begriff der Jugend insgesamt wichtig sind: Der US-Psychologe Stanley G. Hall prägte 1898 den Begriff der Adoleszenz für das Übergangsstadium zum Erwachsenwerden und stellte ihn damit dem biologisch definierten Begriff der Pubertät gegenüber. Er beklagte, dass jungen Menschen zwischen zwölf und 25 keine Würdigung ihrer Lebensphase, keine Vorbilder und Rituale zur Verfügung ständen. Er hob den produktiven Aspekt dieser Zeit hervor und betonte, dass junge Menschen in dieser Altersstufe besonders neugierig und leistungsfähig seien. Er setzte sich für die Verlängerung der Schulpflicht ein und dafür, dass die Jugendzeit möglichst von Anforderungen des Erwachsenenlebens verschont bleiben sollte. So empfahl er den amerikanischen Autoritäten, dass „Jugendliche, um die Lehrzeit des Lebens erfolgreich abzuschließen, Ruhe, Freizeit, Kunst, Legenden, Romantik, Idealisierungen und mit einem Wort Humanismus“ (Savage 2008: 90) brauchten. Für die Erfindung des Begriffes „Teenager“ bezieht sich Savage auf den Soziologen Talcott Parsons, der 1942 den Begriff der „Jugendkultur“ prägte. Die amerikanische Jugend sei vor allem an der Beziehung zum anderen Geschlecht interessiert, und das beherrschende Thema sei, sich gut zu amüsieren. Parsons bestätigte, dass es den amerikanischen Jugendlichen gelungen war, sich eine eigene Welt zu schaffen.

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„Trotz des Mangels an politischem Bewusstsein war die Jugend deutlich von den kriegsbedingten Umbrüchen und den patriotischen Forderungen nach Emanzipation geprägt. Jugendliche hatten längst begonnen, ihre Unabhängigkeit geltend zu machen – eine Entwicklung, die sowohl die Regierungen, wie auch die Industrie überraschte. Gleichzeitig verbreitete sich ihre gutgelaunte Kultur allmählich auch im kriegsgeschüttelten Großbritannien und in Nordeuropa.“ (ebd.: 461 f.)

1944 entstand mit der Zeitschrift Seventeen die erste kommerzielle Jugendzeitschrift, die genau an den Bedürfnissen dieser Jugendbewegung ansetzte und als Zielgruppe jugendliche Mädchen anvisierte. Neben Berichten über Stars und Hollywoodklatsch lag ein Schwerpunkt auf Mode und Tipps zum Selbermachen von Kleidung. Das übergreifende Ziel der Zeitschrift war es, ihre Leserinnen zu guten Erwachsenen zu machen, beispielsweise durch Appelle an Verantwortungsgefühl und finanzielle Selbstständigkeit sowie durch Aufforderungen wie „Denk daran… Du bist eine Erwachsene in der Ausbildung“ (ebd.: 458). Die Kaufkraft von Jugendlichen wurde in dieser Zeit auf 750 Millionen Dollar geschätzt, der Kampf um dieses Geld war eröffnet. Die von Stanley G. Halls angemahnte Zeit der Adoleszenz hatte nun ihre öffentliche Anerkennung gefunden – allerdings vor allem um den Preis ihrer ökonomischen Nutzbarmachung. Der Teenager wurde zum Symbol einer erfolgreichen Ökonomie. Versuche, Heranwachsenden mit Verständnis zu begegnen, verschmolzen bereits während des Zweiten Weltkrieges mit den Anfängen einer spezifisch jugendlichen Konsumkultur, als „sich die Nachfrage auf dem florierenden Jugendmarkt mit Fragen der Sozialpolitik verband und man Heranwachsenden ein gewisses Maß an Freiheit“ (ebd.: 474) zugestand. Der Begriff „Teenager“ manifestierte damit vor allem die Verkürzung aller Interpretationsansätze von Jugend auf den des jugendlichen Konsumenten. „Der Verbreitung amerikanischer Werte in der Nachkriegszeit ging der Teenager als Botschafter voraus. Dieser neue Typus entsprach der psychischen Verfasstheit der Zeit: Der Teenager lebte im Jetzt, wollte Vergnügen, war gierig nach Produkten und verkörperte die neue globale Massengesellschaft, in der die Kaufkraft sozialen Einschluss garantierte. Die Zukunft sollte dem Teenager gehörten.“ (ebd.: 474)

Ein Blick in die Geschichte von Kindheit und Jugend zeigt also, wie sehr ihre Begriffe ökonomisch und sozial geprägt sind. Die Entdeckung der Kindheit ging einher mit einer Individualisierung einerseits und der Spaltung der Gesellschaft in ökonomische Klassen andererseits. Die Erfindung der Jugend entdeckte in erster Linie die jugendlichen Konsumenten als Markt, verpflichtete sie damit aber

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auch, sich die eigene Jugendlichkeit zu kaufen – was ebenfalls zu Strukturen von sozialem Ausschluss und Ausgrenzung bei Nicht-Konsum zur Folge hat. Die gesellschaftliche Bedeutung von Kindern und Jugendlichen ist also nicht unabhängig von ihrer politischen und ökonomischen Nutzbarmachung, auch wenn Werbung, Verklärung und Nostalgie diesen Zusammenhang immer wieder verschleiern.

D IE Ö KONOMISIERUNG DER B ILDUNG UND DIE R OLLE DER K ÜNSTE Die biopolitische Ökonomisierung von Bildung ist nur eine neue Variante, Kinder als Ressource für politische und ökonomische Zwecke zu begreifen, als ‚Wiederentdeckung‘ oder ‚Neuerfindung‘ von Kindheit und Jugend im Zeitalter eines neoliberalen, globalisierten Kapitalismus. Dazu tragen neue Forschungsansätze bei; etwa die Hirnforschung, die sich die Entdeckung neuer kindlicher und jugendlicher Potenziale auf die Fahnen schreibt und zu einer Bildungsleitwissenschaft zu werden droht, der sich alle anderen Disziplinen unterordnen. „Sind Kinder nur dazu da, die Weiterentwicklung der Gesellschaft zu sichern, den Reichtum der Erwachsenen zu halten [...] und sich sonst in die Vorgaben der Erwachsenengesellschaft und deren Zukunftsvorstellungen einzufügen?“, fragt der 2008 von UNICEF veröffentlichte Bericht zur Lage der Kinder in Deutschland (Betram 2008). Dieses Problem behandelt auch der Autor Henning Sußebach (2013), der in seinem Text Liebe Sophie! Brief an meine Tochter die gymnasiale Schulzeitverkürzung, die mit der Kennziffer „G8“ gekennzeichnet ist, thematisiert. Sußebach schreibt seiner 12-jährigen Tochter einen Brief, in dem er die Nutzbarmachung von Kindern und Jugendlichen durch Erwachsene selbstkritisch beklagt. Es ist ein interessanter Bericht aus einer Welt, die ganz unter dem Druck zukünftiger Leistungsfähigkeit steht: In Internetforen würden „Pillen fürs Abi“ empfohlen, die sonst Schwerkranken helfen sollen. In BadenWürttemberg habe sich die Zahl von Fünft- und Sechstklässlern mit Nachhilfeunterricht in kurzer Zeit verdreifacht, drei Milliarden Euro investierten Eltern in Deutschland jährlich in Nachhilfe (vgl. Sußebach 2013: 39 ff.). Sußebach schildert auch „prenatal education systems“: Babybauch-Beschaller, die versprechen, Kinder noch vor der Geburt kreativer und intelligenter zu machen und mit dem Slogan „Babys are born to learn“ werben (vgl. ebd.: 65 f.). Andere Unternehmen bieten Geräte zur Kinderortung an und versprechen umfassende Kontrolle und Sicherheit. Doch selbst wenn man diese beiden letzten Beispiele als schlechte Science-Fiction-Phantasien und allenfalls marginale Randentwicklungen abtun

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möchte, ist kaum zu ignorieren, dass inzwischen – wiederum marktbedingt – ein grundsätzlich anderes Verständnis von Heranwachsen und Lernen vorherrscht als noch vor einigen Jahrzehnten. „In Hamburg gibt es den Mini Keks 4, einen Fragebogen zur Einschätzung von 4-jährigen Kindern, in dem in 64 Teilbereichen die ‚Kompetenzen des Kindes‘ angefragt werden – an erster Stelle und besonders ausführlich ‚Selbstkonzept und Motivation‘, also Leistungsbereitschaft. ‚Das Kind ist beharrlich und ausdauernd‘, ‚Das Kind zeigt Eigeninitiative‘, ‚Das Kind ist motiviert, etwas zu schaffen oder zu leisten‘ und so weiter. Erst später – und deutlich knapper – geht es um das eigene Körpergefühl, um Musik und Kreativität.“ (ebd.: 72)

In den neuen Lernformen, die sich an konkreten biopolitischen Zielen orientieren, geht es keineswegs mehr nur darum, Autoritäten zu gehorchen, sondern die Bewertungsinstanz für das eigene Tun zu internalisieren. Kinder und Jugendliche sollen sich selbst beobachten und selbst optimieren. In diesem Kontext erhalten Lernziele wie Selbstkontrolle, kritisches Urteilsvermögen oder Selbstmotivation einen ganz anderen Charakter. Kinder und Jugendliche werden in Lernentwicklungspläne miteinbezogen, sie sollen selbst über ihre eigene Entwicklung urteilen und analytisch sprechen lernen. Im Kontext der bestehenden Verhältnisse wird Eigenverantwortung zur Einsicht in die Notwendigkeit einer ständigen Selbstoptimierung, im Rahmen eines absolut gesetzten Wettbewerbs um ökonomische Vorherrschaft. Inge Schubert (im vorliegenden Band, S. 102) sieht dabei eine „eigentümlichen Verbindung von reformpädagogischen und neoliberalen Anknüpfungen im Hinblick auf Autonomisierungspostulate und die Selbstbildung von Kindern“ am Werk. Ähnliche Tendenzen zu einer restlosen Funktionalisierung und Instrumentalisierung von Kreativität sind längst auch im Bereich der Künste zu beobachten. In einer Phase verschärfter Mittelkürzungen und Schließungen von Theatern und anderen Kulturinstitutionen sehen sich die Künste einem wachsenden Rechtfertigungsdruck ausgesetzt. Wie die Debatte um das Buch Der Kulturinfarkt (Haselbach et al. 2012) verdeutlichte, wird den Künsten von vielen Akteuren in Politik und Gesellschaft aufgetragen, sich entweder am Markt – und damit populistisch am Massengeschmack – zu orientieren oder „sozial relevant“ zu sein, also gesellschaftlich funktional. Dieses Verständnis von Kunst als verlängerter Arm von Sozialpolitik hat neuerdings wieder zu einer Konjunktur von Konzepten für „kulturelle Bildung“ geführt. Zwar gibt es in den Künsten durchaus Widerstände gegen eine solche Funktionalisierung. Doch im Zeitalter schrumpfender öffentli-

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cher Haushalte wittert man die Chance, mithilfe der Zauberformel von der kulturellen Bildung eine gewisse Relevanz zu beweisen und sich als wertvoller Teil der Gesellschaft zu behaupten, sich also mithilfe von Arbeit im Bildungsbereich als Künstler ökonomisch über Wasser halten zu können. Gerade im Wissen um diese vorherrschenden Tendenzen ist es allerdings durchaus noch möglich, Formen künstlerischer Praxis zu entwickeln, die sich dem neoliberalen Bildungsparadigma entziehen oder es zumindest in Frage stellen können. Dies gilt insbesondere für die in den letzten Jahren zunehmenden Versuche, Theater, Tanz und Performance mit und für Kinder und Jugendliche zu machen, ohne sie bloß erziehen und an vorgegebene Denk- und Verhaltensmuster gewöhnen zu wollen. Doch das bedeutet, die eigenen Mittel und Interessen ebenso zu reflektieren wie das jeweilige institutionell-politische Umfeld. Kinder- und Jugendtheater ist hierzulande, auch wenn es noch einige Ausnahmen geben mag, keinesfalls frei von den skizzierten Tendenzen zur neoliberalen Selbstoptimierung. In vielen Produktionen und Kontexten dominiert immer noch ein pädagogisches und belehrendes Verständnis von Theater, wie es zunächst von der bürgerlichen Aufklärung entwickelt wurde und im Laufe des 20. Jahrhunderts auch das Selbstverständnis politisch engagierter Kunst geprägt hat: das Publikum bilden und erziehen zu wollen. So erscheint Kinder- und Jugendtheater mitunter als letzte Bastion von Theateransätzen, die ansonsten schon längst ausgedient haben. Die pädagogische, instrumentalisierende Auffassung von Theaterarbeit passt aber andererseits durchaus zum neoliberalen Zugriff auf die jungen Köpfe: Wichtige Themen wie Rechtsradikalismus, Armut, Castingshows oder Migration werden kindgerecht zurechtgestutzt und in leicht nachvollziehbare Bühnengeschichten umgewandelt. Nicht selten werden sie so nach dem Muster von TV-Serien und Werbeklischees psychologisiert und politisch trivialisiert, da sie zumeist einer Rollenkonstellation und den damit verbundenen, für typisch gehaltenen Konflikten angepasst werden. Zudem gibt es eine Sortierung von Stücken und Aufführungen nach relativ eng definierten Altersstufen. Die statistische Erforschung kindlichen und jugendlichen Rezeptionsverhaltens und das damit einhergehende, angeblich passgenaue Design von alterstufengerechten Stücken entspricht exakt der Vorgehensweise von Hirn- und Verhaltensforschung bei der Erziehung von Kindern und Jugendlichen im neoliberalen Zeitalter. Damit läuft gerade das Selbstverständnis der (vielfach noch der 68er-Generation angehörenden) Protagonisten und maßgeblichen Institutionen der Kinder- und Jugendtheaterszene Gefahr, die strukturelle Anpassung der eigenen Praxis an die aktuellen, eigentlich als problematisch erkannten Tendenzen neoliberaler Ökonomisierung zu übersehen. Ähnliches gilt für die Theater- und Tanzpädagogik in Bildungseinrichtungen und darüber hinaus, denn gerade im

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pädagogisch-künstlerischen Bereich dominiert nicht selten eine Auffassung von Bildung und Erziehung, die in vielen Punkten noch dem Methodenverständnis der 1970er-Jahre verhaftet ist. Es gibt aber mittlerweile auch Gegentendenzen in Projekten und Produktionen, die mit zunehmendem Erfolg versuchen, sich auf andere Weise mit Kindern und Jugendlichen auseinandersetzen, indem sie diese selbst aktiv Theater machen lassen. Ziel dabei ist nicht, sie zu erziehen, sie mehr oder weniger geschickt zu belehren oder etwa bloß (ein weiteres Mal) zu zeigen, dass auch Kinder Theater spielen können. Vielmehr geht es um neue Formen von Theater mit Kindern und Jugendlichen, die als Experten ihres eigenen Alltags ernst genommen werden.

K INDER

UND

J UGENDLICHE

ALS

E XPERTEN

Sie stehen in Reih und Glied nebeneinander: Nahezu vorbildlich aussehende Kinder, diszipliniert und folgsam. Sie sprechen gut verständlich und chorisch einen gelernten Text – über die volle Länge eines Theaterabends. Der britische Regisseur Tim Etchells, sonst mit der Performancegruppe Forced Entertainment bei Festivals und an Produktionshäusern in ganz Europa zu sehen, hat 2007 mit dem belgischen Theater Campo eine Produktion erarbeitet, in der 16 Kinder zwischen acht und 14 Jahren agieren. Diese Aufführung That Night Follows Day richtet sich nicht nur, aber vor allem an Erwachsene, denen der alltägliche Prozess der Erziehung aus der Kinderperspektive vorgeführt wird. „You feed us. You wash us. You dress us. You sing to us. You watch us when we are sleeping. You explain to us the different causes of illness and the different causes of war. You whisper when you think we can’t hear. You explain to us that night follows day.“ (Zitat aus That Night Follows Day)1

Auch Etchells setzt an bei der Entdeckung der Kindheit. Das Macht-WissenRegime von Fürsorge, Erziehung und Disziplin wird auf die Bühne gestellt und den Erwachsenen als chorischer Text ins Gesicht geschleudert. Dabei verweigert sich Etchells dem naheliegenden Versuch, Kinder sich selbst mithilfe von vordefinierten Rollen spielen zu lassen, sie auszustellen oder irgendeine Form von Authentizität zu produzieren. Die Kinder bleiben im disziplinierten Chor – mit

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Diese Textpassage findet sich auch online unter www.timetchells.com/projects/per formances/that-night-follows-day/ (Stand: 28.12.2013).

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Ausnahme einer Szene, in der sie für eine begrenzte Zeit herumrennen und sich austoben dürfen. Der Abend übersetzt die Zurichtung von Kindern in eine künstlerische Form und schafft es gleichzeitig, die Erziehungsperspektive umzudrehen. An diesem Abend sind die Erwachsenen die Lernenden, sie lernen nicht nur etwas über Kinder, sondern vor allem etwas über sich selbst, über die Art und Weise, wie sie an der Konstruktion von Zeit und Raum, Moral und Disziplin ihrer Kinder beteiligt sind. Etchells’ Produktion tourte durch ganz Europa. Auch wenn das Arbeiten mit Kindern und Jugendlichen auf der Bühne damals längst schon Bestandteil von Theaterpädagogik war, hat That Night Follows Day den Blick auf diese Praxis grundlegend verändert. Es begann eine Auseinandersetzung, die bis heute noch anhält. Die Frage, wie man mit Kindern und Jugendlichen auch zeitgenössische Theaterformen ausprobieren und sie als Experten ihres eigenen Alltags ihre Lebenswelt thematisieren lassen kann, ist keinesfalls ein für alle Mal beantwortet. Denn gerade im Kontext der oben skizzierten gesellschaftlichen und ökonomischen Tendenzen bedarf es ständig neuer Ansätze und Versuche, um der Instrumentalisierung zu entgehen. Spätestens seit dieser Produktion ist davon auszugehen, dass es keine neutrale Arbeit mit Kindern und Jugendlichen gibt. Um das herrschende Bildungsdispositiv nicht einfach zu bedienen, ist seine bewusste Reflexion erforderlich. That Night Follows Day war allerdings auch künstlerisch singulär, was es nicht leichter machte, die Erfahrung dieser Produktion mit Kinder und Jugendlichen zu verwerten, ohne sie einfach zu imitieren. Seither haben andere Arbeiten auf diesem Feld viele weitere Wege und Potenziale erschlossen. Solche Produktionen sind aber mit einer Reihe von Problemen konfrontiert, die man als vier Paradoxien beschreiben kann, die für Produktionen mit Kindern und Jugendlichen grundlegend sind. Die erste Paradoxie betrifft die Arbeitsweise. Auf der einen Seite versuchen zeitgenössische Produktionen mit Kindern und Jugendlichen, professionelle Produktions- und Arbeitsbedingungen herzustellen. Nicht nur durch künstlerische Leitungsteams, Profistrukturen und Arbeitsweisen, sondern auch im Umgang mit ihren Akteuren. Die Kinder und Jugendlichen auf der Bühne werden nicht als zu belehrende, zu erziehende oder zu integrierende Subjekte verstanden, sondern wie professionelle Schauspieler oder Performer behandelt. Sie werden bezahlt, müssen sich im Rahmen ihrer Möglichkeiten in professionelle Arbeitsstrukturen einordnen und werden auch hin und wieder durch das ansonsten übliche CastingVerfahren ausgewählt. Es ist wichtig, dass sich solche Produktionen vom Empowerment-Charakter sozialer Projekte abgrenzen. Denn um jemanden ‚ermächtigen‘ zu können, muss man ihn erst für ohnmächtig erklären. Die in diesem

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Band vorgestellten zeitgenössischen Produktionen arbeiten jedoch im Gegenteil daran, Kinder und Jugendliche nicht als ohnmächtige, unfertige Wesen, sondern als Experten einer gestaltbaren Welt anzusprechen. Auf der anderen Seite geht es den meisten zeitgenössischen Arbeiten mit Kindern und Jugendlichen darum, die Produktionen unter Einbeziehung des Wissens, der Kompetenzen und der Haltungen der Akteure zu entwickeln. Die unterschiedlichen Fähigkeiten von Alltagsexperten und Theaterexperten sollen sich ergänzen. Nicht selten konkurriert dieser Wunsch nach kollektiven Arbeitsformen mit dem eben skizzierten Professionalitätsanspruch. Denn das heißt für die Künstler, sich auf Themen, Darstellungs- und Sichtweisen einzulassen, die dem eigenen künstlerischen Anspruch zunächst entgegenstehen. Es passiert nicht selten, dass Künstler in solchen Projekten auch von ihren eigenen künstlerischen Handschriften abrücken müssen, damit die Kinder und Jugendlichen zu künstlerischen Mitproduzenten werden können. Die zweite Paradoxie betrifft die Darstellungsweise. Auf der einen Seite sollen die Jugendlichen auf der Bühne ihren Charakter als Alltagsexperten behalten. Das heißt, dass sie nicht das sogenannte ‚Handwerk‘ des Bühnenschauspielers erlernen sollen, bevor sie die Bühne betreten. Denn wenn es den Künstlern darum geht, eine Lebenswelt auf dokumentarische Weise performativ zu rahmen, dann führt zur Schau gestellte Bühnenkompetenz eher in eine andere Richtung. Gerade die Privilegierung zum Beispiel von wenigen, als professionell geltenden Sprechweisen soll nicht einfach reproduziert werden. Die performative Wende in den Darstellenden Künsten hat Spielräume auch dafür geschaffen, dass Kinder und Jugendliche als Akteure auftreten können, ohne dass sie auf die üblichen theatralen Konventionen festgelegt werden. So bleiben ihre Spielweisen nicht selten ohne Virtuosität. Andererseits lehnen es die meisten Produktionen in diesem Bereich ab, eine vermeintliche Authentizität zur Schau zu stellen. Und das nicht nur, weil es reine Authentizität im künstlerischen Kontext niemals geben kann – bliebe sie doch immer Inszenierung und Pose. Im Falle von Projekten mit Kindern und Jugendlichen führt die gewollte Authentizitäts-Inszenierung nur zur Repräsentation von Klischees über Kinder und Jugendliche. Selbst wenn solche Produktionen Wirklichkeitseffekte erzeugen, verbleiben sie immer im Kontext theatraler Rahmung und damit in einem künstlichen Setting. Diese Performances gleichen einem Versuchslabor, in dem unter bestimmten, klar definierten und künstlich hergestellten Rahmenbedingungen ‚wirkliche‘ Ereignisse ausprobiert werden. Sie funktionieren jenseits von ausgestellter Künstlichkeit und Authentizität und können dadurch auch Inszenierungen von Authentizität in unserer Gesellschaft kri-

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tisch in den Blick nehmen. Deshalb sind die performativen Rahmungen, die Offenlegung von Fragestellungen und die Sichtbarmachung der Erarbeitungsprozesse wesentliche Elemente, um der Erwartung einer spezifischen Authentizität von Kindern und Jugendlichen eine kritische Reflexion entgegenzusetzen.

D ER B LICK DER J UGEND

AUF SICH SELBST

Eine dritte Paradoxie betrifft den Darstellungsinhalt. Auf der einen Seite haben Produktionen mit Kindern und Jugendlichen häufig zum Ziel, die Lebenswelt ihrer Akteure in den Blick zu nehmen und deren Sichtweise in den Fokus zu rükken. Die künstlerischen Leitungsteams erforschen mit den Akteuren urbane Orte und mediale Räume, Kulturen und Subkulturen und vieles mehr. Dabei ist es wichtig, dass die Haltung der Akteure zu ihren eigenen Kontexten mit Jugendklischees angereichert und durch den Glamour jugendlicher Rebellion verziert wird. Es geht also um gemeinsame Forschungsprozesse, in denen die Kinder und Jugendlichen als Mitautoren ihrer Geschichten ernst genommen werden müssen. Dabei ist gerade die inzwischen allgegenwärtige Popkultur als Kontext und Referenzsystem ernst zu nehmen für Sozialisation und Erwachsenwerden. Auf der anderen Seite geht es aber nicht darum, jugendliche Popkultur ungebrochen auf die Bühne zu stellen. Denn so wichtig Popkultur für die Entwicklung der Identität von heutigen Jugendlichen sein mag, so sehr bleibt zu bedenken, in welchem Maße individuelle Selbstbilder und Lebensentwürfe durch Marketingstrategien großer Konzerne geprägt werden. Ein kritischer Umgang mit den Lebenswelten und ihren Leitbildern ist also notwendig. Das gemeinsame Entwickeln künstlerischer Forschungsmethoden, die eine kritische Befragung ermöglichen, ist unerlässlich, will man nicht bei einer bloßen Affirmation stehen bleiben. Gerade künstlerische Herangehensweisen sind dabei zentral; hier ist die Kompetenz des Leitungsteams gefragt, um zu verhindern, dass ausschließlich Popstar-Haltungen oder Fernsehposen kopiert und adaptiert werden. Diese drei Paradoxien sind in der Praxis nicht einfach auflösbar. Sie geben den zeitgenössischen Projekten mit Jugendlichen aber eine produktive Spannung, wenn sie nicht versteckt oder harmonisiert, sondern offengelegt werden. Das ist eine Qualität vieler Arbeiten, die in den letzten zehn Jahren entstanden sind. Sie haben unterschiedliche Schwerpunkte und arbeiten mit ganz unterschiedlichen Altersstufen. Gemeinsam ist ihnen jedoch, dass sie diese Paradoxien immer wieder zum Thema machen.

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Die Produktion HighQ – Hirne in Hochgeschwindigkeit der Berliner Gruppe lunatiks produktion ist dafür ein Beispiel. Das Projekt beschäftigte sich mit Kindern, denen die Diagnose „Hochbegabung“ zugeschrieben wurde und die daher aus medizinischer und psychologischer Sicht als gleichzeitig hochintelligent und sozial problematisch galten. Lunatiks entschieden sich zunächst dafür, die Kategorie „Hochbegabung“ nicht plakativ in Frage zu stellen. Sie befragten aber mithilfe der sechs Akteure zwischen zehn und 16 Jahren das Thema Intelligenz grundsätzlich.2 Die erste Paradoxie ist hier auf interessante Weise zum Thema geworden. Die Akteure sind Experten des Alltags im besten Sinne. Sie können die Kategorie, in die sie eingeordnet werden, grundlegend hinterfragen. Sie machen klar, dass Hochbegabung keine schulischen Überflieger produziert – wie in unserem leistungsorientierten Bildungssystem behauptet wird –, sondern an vielen Stellen auch ein Problem ist; gerade auch im Verhältnis zu den Mitschülern. Aus diesem Grundkonflikt heraus entwickelte die Produktion eine künstlerische Form, die den Abend lebendig hält: Da Hochbegabten nachgesagt wird, sie würden sich schnell langweilen, wird der Abend in einzelne Nummern aufgeteilt, deren Reihenfolge immer per Los ermittelt wird. So sind die Akteure ständig im Fokus, ohne ausgestellt zu werden. An einer Stelle der Produktion gibt es allerdings eine interessante Umkehrung: Das künstlerische Leitungsteam muss selbst auf die Bühne und wird von den Akteuren befragt. Dies berührt auch die zweite der geschilderten Paradoxien: Die Darstellungsform ist ein Spiel mit der Authentizität der Akteure als „Hochbegabten“. Auf der einen Seite zeigt ein Akteur seine besondere Begabung, indem er sich die genaue Reihenfolge von vielen kleinen Plastikbechern in zwei Farben in kürzester Zeit merken kann. Auf der anderen Seite werden auch die Theatermacher vorgeführt, indem sie spontan jeweils neue Fragen beantworten müssen, auf die sie sich kaum vorbereiten konnten. Insgesamt dekonstruieren die Akteure an diesem Abend die Logik von Intelligenztests und damit zugleich die wissenschaftlichen Grundlagen ihrer scheinbar „authentischen“ Identität. Als Beispiel für die dritte Paradoxie ist unter anderem die Produktion Welle:Asphaltkultur von Samir Akika und seinem Team von Unusual Symptoms interessant. Mit 19 Absolventen der Hamburger HipHop Academy wurde ein Abend entwickelt, der einen aktuellen Blick dieser Generation auf gesellschaftliche Themen inszeniert. Auch wenn dabei Hip-Hop als Kunstform und Lebens-

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Informationen zum Projekt gibt es online unter www.lunatiks.de/highQ.htm (Stand: 28.12.2013).

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einstellung einen großen Raum einnimmt, wird er nicht zum Selbstzweck; vielmehr dient er als Tool, um politische Zukunftsfragen zu thematisieren.3 Wie diese Beispiele bereits zeigen, ist die Entscheidung, Kinder und Jugendliche als Experten für ihren Alltag und ihre Lebenswelt auf die Bühne zu stellen, nicht schon per se ein politischer Akt oder ein zeitgenössischer Theateransatz; ähnlich wie bei sonstigen Produktionen, in denen nicht-professionelle Akteure auf der Bühne stehen. Gerade in der Arbeit mit Kindern und Jugendlichen ist es wichtig, sich den Konventionen und gesellschaftlichen Zwängen zu verweigern, die solche Projekte als „vorbildlich“ und „integrativ“ loben und damit ungefährlich machen wollen: Bildung, Erziehung, Authentizität, Empowerment. Gerade im Bewusstsein darum, dass solche Projekte durch eine künstlerische Form gerahmt und inszeniert werden, können die gesellschaftlichen Inszenierungsformen und Konstruktionen von Kindheit und Jugend in den Blick kommen, mit denen Heranwachsende sonst im Sinne neoliberaler Politik nutzbar gemacht werden. Als eine weitere, vierte Paradoxie bei der Arbeit mit Kindern und Jugendlichen lässt sich die Frage nach der Sichtbarkeit beschreiben. Auf der einen Seite geht es bei solchen Projekten darum, Jugendliche auf die Bühne zu stellen, um etwas sichtbar zu machen, etwas mit ihnen zu erforschen; um diejenigen zu Wort kommen zu lassen, über die sonst nur gesprochen wird. Auf der anderen Seite sind Kinder und Jugendliche heute absolut transparent. Ihre Körper, Psychen, Gehirne und Verhaltensweisen sind Objekt unzähliger Gesundheitsfürsorgen, Bildungsstrategien und Zukunftskonzepte. Schon an Säuglingen wird auf „Kompetenzen“ geachtet, an Kindern versucht man Mängel festzustellen und diese auszugleichen und spätestens als Jugendliche sollen junge Menschen bereits ausschließlich mit Blick auf ihre potenzielle Zukunft aus- und abgerichtet sein. Auch in sozialen Netzwerken zelebrieren viele ihre Selbsttransparenz, was zwar nicht selten als unreflektierte Selbstdarstellung kritisiert wird, letztlich aber gerade damit dem Transparenzdiktat entspricht, das zum Alltag von Kindern und Jugendlichen gehört. Die Frage an Künstler ist in diesem Zusammenhang, wie man in den Darstellenden Künsten die Perspektive von Kindern und Jugendlichen thematisieren kann, ohne diesen Transparenzzwang einfach nur zu reproduzieren. In diesem Zusammenhang ist die Produktion Before Your Very Eyes interessant, welche die deutsch-britische Performancegruppe Gob Squad mit Acht- bis 14-

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Vgl. den Text von Anna K. Becker im vorliegenden Band, S. 235-242.

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Jährigen erarbeitet hat. Wie That Night Follows Day ist sie im belgischen Theater Campo erarbeitet worden. In der Produktion geht es ganz explizit um die Zukunft der Kinder, sie imaginieren sich selbst als Erwachsene und reflektieren ihre potenzielle Zukunft. Dabei blicken sie aber auch in ihre eigene Vergangenheit, denn Gob Squad hat sie zu Beginn des Arbeitsprozesses gefilmt. So kann das gefilmte Ich aus der Vergangenheit sein mittlerweile älter gewordenes reales Ich auf der Bühne befragen. Wie die Produktion von Tim Etchells richtet sich dieser Abend an die Erwachsenen im Publikum; an ihre Vorstellungen von Zukunft und Glück ebenso wie an ihre Angst vor dem Scheitern. Von ähnlichen Projekten dieser Art unterscheidet sich Before Your Very Eyes jedoch vor allem dadurch, dass seine Akteure in einer großen Glasbox agieren, in der sie zwar zu sehen sind, ihrerseits aber die Zuschauer nicht sehen können. Auf diese Weise wird das Geschehen einerseits gerahmt und als ‚Laborsituation‘ gekennzeichnet, während andererseits trotz Sichtbarkeit eine Art Schutzraum für die Kinder und Jugendlichen geschaffen wird. Die 15-jährige Akteurin Ine Verhaegen sieht das im Gespräch mit der Journalistin Anja Quickert als wichtigen Vorteil: „Vieles von dem, was wir in den Proben entwickelt haben, ist nicht in das Stück reingekommen. Aber die Dinge und die Bilder gehören uns. Schon während der Proben hatten wir eine Art Box, in der wir gespielt haben. Wir nennen sie ‚unsere Box‘. In unserer Box sehen wir nichts außer uns selbst und das, was in der Box ist. Die Spiegel vergrößern alles. Es sieht wirklich cool aus und ich vergesse, dass da draußen Zuschauer sitzen. In der Schule, bei Präsentationen oder so, habe ich immer totalen Stress und beginne zu zittern. Hier gar nicht. Ich weiß nicht genau, warum. Vielleicht, weil ich die Leute da draußen nicht kenne und sie mir deshalb egal sind.“ (Verhaegen/Quickert 2012)

Natürlich ist diese Arbeit keine Verweigerung des Transparenzdiktats. Aber sie macht den Blick auf die Akteure sichtbar; sie inszeniert Transparenz, ohne dass die Angeschauten die Chance haben, zurückzuschauen. In diesem Sinne ist die Box eine Art Panoptikum, auch wenn es nicht dafür sorgt, dass die Angeschauten Angst vor ihrer Beobachtung haben, sondern sich durch die Unmöglichkeit des Rückblickes sogar Freiheitseffekte ergeben. So erweist sich das Panoptikum als ein interessantes Symbol für die Ambivalenz von Transparenz und Freiheit, wodurch das Erziehungsdispositiv unserer Zeit gekennzeichnet ist. Einen anderen Umgang mit dem Blick auf Kinder und Jugendliche inszeniert das Projekt Teenage Riot der belgischen Gruppe Ontroerend Goed. Die jugendlichen Akteure befinden sich hier ebenfalls in einer Box, allerdings ist diese nicht

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transparent, sondern vollständig geschlossen. Einblick in das Geschehen innerhalb dieses kleinen und engen cubes erhält der Zuschauer ausschließlich durch eine Kamera, deren Bilder von den Akteuren selbst gefilmt und an die Außenwand der Box projiziert werden. Direkt nach der Performance können die Zuschauer aber in kleinen Gruppen den cube betreten und sich mit den Akteuren unterhalten.4 „Teenage Riot“

Foto: © Mirjam Devriendt

Bei dieser Inszenierung geben selbstbewusste Teenager den Zuschauern Einblick in eine Welt, die ihnen sonst fremd bleibt und die allen Vorstellungen von braven und zukunftsorientierten Jugendlichen widerspricht. Schon gleich zu Beginn fährt die Kamera über die Innenwände, auf der „wank“ und „fuck“ zu lesen ist, bevor sie die Jugendlichen in einer Art Party-Szenerie zeigt. Dem Titel Teenage Riot machen diese im Laufe des Abends alle Ehre, denn sie überschreiten mit Worten und Handlung alle ihnen zur Verfügung stehenden Grenzen. Würmer werden lebendig geteilt; Gewaltvideos glorifiziert; junge Mädchen geben Tipps, wie man extrem dünn bleibt; ein Junge gibt Ratschläge, wie man Mädchen mit dem Finger befriedigt. Doch es mischen sich auch Artikulationen von Angst und

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Meine Beschreibungen und Zitate zu Teenage Riot beziehen sich auf eine Aufführung am 20. September 2012 am Künstlerhaus Mousonturm. Mehr zum Projekt unter www.ontroerendgoed.be/en/projecten/teenage-riot/ (Stand: 28.12.2013).

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Einsamkeit zwischen die rebellischen Posen: Die Akteure haben zu wenige Facebook-Freunde, wünschen sich Plattenverträge, finden sich zu dick oder bezeichnen ihr Tagebuch als einzigen Freund. Das Objekt ihres Hasses sind jedoch Erwachsene, und es scheint, als wäre ihre größte Angst diejenige vor dem Älterwerden. Die Erwachsenen sind das ‚Außen‘, die Jugendlichen verlassen ihre Box meist nur, um sie zu beschimpfen und ihnen ihren Hass entgegen zu schleudern. Ein Jugendlicher ruft dem Publikum vom Dach des Hauses zu: „We don’t want to be like you. You’re not an example, you’re a warning!“. An einer anderen Stelle filmen sie das Publikum und bewerfen die projizierten Bilder einzelner Zuschauer mit Tomaten. In einer weiteren eindrucksvollen Szene verbrennen sie Familienbilder. Vor den Augen der Erwachsenen wird lustvoll Anarchie demonstriert. „Teenage Riot“

Foto: © Mirjam Devriendt

Natürlich spielt Teenage Riot auch mit Jugendklischees, mit Stereotypen von adoleszentem Rebellentum. Doch im Kontext des biopolitischen Zwangs zur Selbstoptimierung wirken diese Posen tatsächlich subversiv. Interessant ist vor allem, dass die Jugendlichen überwiegend per Kamerablick zu sehen sind. Der YouTube-Handycam-Stil rahmt die Aktionen und reflektiert den Blick der Zuschauer. Diese werden zu Zeugen und müssen sich ständig mit ihren eigenen Vorstellungen von Jugend auseinandersetzen: Ist das angemessen? Kann man so etwas zeigen oder passieren lassen? Die Akteure haben dabei selbst die Kontrol-

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le über das selektiv Gezeigte. Und der Zuschauer weiß nicht, ob das, was er sieht, gerade tatsächlich passiert oder Teil eines vorproduzierten Videos ist. Was die Jugendlichen wirklich in der Box tun, bleibt dem Publikum also verborgen. Auch wenn die Box im Projekt Teenage Riot kein Panoptikum ist, sind Zweifel berechtigt, ob die Jugendlichen dort freier sind. Das Panoptikum lässt keine ungesehene Bewegung, keinen Schlupfwinkel zu, es bedeutet grenzenlose Überwachung. Doch die geschlossene Box überlässt den Jugendlichen die Verantwortung darüber, was nach außen dringt. Trotz allem Rebellentum reflektiert Teenage Riot also Selbstüberwachung, gerade durch die bereitwillige Selbstpräsentation. Denn die Rebellion wird durch ihre Medialität zur Medieninszenierung, welche zwar die Erwachsenen schockiert, gleichzeitig aber zum Klischee wird. Diese grundlegende Ambivalenz macht das Projekt zu einer kritischen Reflexion von Jugend und Jugendbildern: Auf der einen Seite hat jugendliche Dissidenz im Kontext der dargestellten pädagogischen Debatten durchaus subversiven Charakter. Auf der anderen Seite lässt die Medialisierung diese Dissidenz zur Pose erstarren, harmlos und benutzbar erscheinen.

E RFINDET

EUCH NEU !

Wenn konservative Kulturkritiker das vermeintliche „Verschwinden der Kindheit“ beklagen, so kann man ihnen kaum ernsthaft zustimmen. Selten wurde so viel über Kinder und Jugendliche geredet; selten wurde so viel spezifisches Wissen über sie gesammelt; selten wurden so viele Maßnahmen ergriffen, um ihre Zukunftschancen zu verbessern. Wenn man Geschichte als einen teleologischen Prozess fortschreitender Demokratisierung betrachtet, dann könnte man dies als Fortschritt betrachten. Zumindest in den wohlhabenden Regionen der Welt werden Kinder und Jugendliche auch weniger misshandelt. Dennoch ist der Zugriff auf ihre Körper und Gehirne nicht weniger stark. Neue gesellschaftliche Verhältnisse haben andere Machtformen entwickelt. Je mehr spezifisches Wissen über Kinder und Jugendliche gesammelt wird, umso mehr Macht wird ausgeübt, indem eine Normalität, ein Maß erzeugt wird, das zum Erziehungsideal wird. Es gibt also kein Verschwinden der Kindheit, eher ein neues ‚Bildungsdispositiv‘. Der Bildungsforscher Norbert Ricken (2008: 17) charakterisiert dieses aktuelle Dispositiv als „eine Form der ‚Regierung der Individuen‘, die deren Freiheiten gerade nicht bloß unterwirft und diszipliniert, sondern allererst einsetzt und produktiv ‚führt‘ und dadurch [...] die daraus entstehenden Risiken einer auf Freiheit aufbauenden Machtform kompensiert“. In diesem Sinne werden alle Bildungsmaßnahmen und flankierenden Programme zur optimalen Entwicklung

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von Körper und Geist auf ihre Funktion als frühzeitige Ertüchtigung für einen prognostizierten Wettbewerb um ökonomische Ressourcen geprüft. Deswegen ist alles, was einmal einen Schutzraum bieten sollte, zum Ort und Objekt der Einflussnahme geworden; nicht nur die Schule, sondern alle kinderund jugendbezogenen Institutionen, Medien und Produkte: Kindergärten, Kinderspielplätze, Kindermuseen, Kinderuniversitäten, Kinderparlamente, Kinderhotels, Kinderbücher, Kinderfilme, Kinderbowle, Kinderkanal oder Kinderüberraschungseier, wie Henning Sußebach (2013: 43) treffend zusammenfasst. Und leider muss man hinzufügen: Auch das Kinder- und Jugendtheater. Dabei soll es gar nicht darum gehen, etwa kategorisch zwischen ‚gutem‘ subversiven und ‚angepasstem‘ pädagogischen Kinder- und Jugendtheater zu unterscheiden. Worauf es ankommt, ist vielmehr die grundsätzliche Feststellung, dass eine Kunstform für diese Altersgruppe unweigerlich zum Teil eines Bildungsdispositivs wird, das in der Wechselwirkung von Macht und Wissen letztendlich eine biopolitische Normalisierung betreibt. Wenn im Rahmen von Kinder- und Jugendtheater oder von Projekten mit Kindern und Jugendlichen gleichwohl widerständige Praktiken entstehen können, so gibt es dafür sicher kein Patentrezept, keinen völlig unbedenklichen Weg. Wichtig ist aber zunächst einmal der Ansatz, jeden direkten Anspruch auf Erziehung, Belehrung, Integration oder Bildung aufzugeben und in den Arbeitsprozessen ebenso wie in Aufführungssituationen die gewohnten Hierarchien des Wissens oder Könnens aufzulösen. Gerade bei Projekten mit Kindern und Jugendlichen bedeutet das nicht, dass die professionellen Kulturarbeiter auf ihr Wissen und Können verzichten sollen. Vielmehr betrachten sie es zunächst als Werkzeug zur gemeinsamen Forschung, um es auf dieselbe Stufe zu stellen wie das Forschungs- und Erfahrungspotenzial, das Kinder und Jugendliche einbringen. Im Kontext der vier oben beschriebenen Paradoxien fällt den Theaterexperten ja immer noch die Rolle zu, die gemeinsamen Forschungen in künstlerische Prozesse und Produktionen münden zu lassen. Das neoliberal geprägte Bildungsdispositiv ist gerade insofern angreifbar, als es von vielen Widersprüchen geprägt ist. So wird beispielsweise behauptet, es gehe um gleiche Chancen für alle, obwohl immer mehr Kinder, gerade aus nichtakademischen Familien, durch das Raster zu fallen scheinen. Und man behauptet, die Gehirne und Körper nachhaltig positiv zu beeinflussen, während gleichzeitig vermehrt Krankheitssymptome von Burn-out bereits bei Kindern festgestellt werden. In diesem Zusammenhang können auch herkömmliche Projekte der kulturellen Bildung etwas von den Projekten mit Kindern und Jugendlichen lernen, wie sie hier vorgestellt werden. Eine widerständige Praxis müsste bedeu-

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ten, die Logik des Bildungsdispositivs zu unterbrechen oder zu unterlaufen. Dazu ist es wichtig, das Dispositiv selbst zu hinterfragen, den gesellschaftlichen Blick auf Kinder und Jugendliche zu thematisieren, Arbeitsprozesse und Recherchen auf die Bühne zu stellen. Das alles sind Strategien, dem teleologischen Zukunftsbild, der Vorstellung von einer planbaren und bruchlos modellierbaren Zukunft, etwas entgegenzusetzen: Bilder von brüchigen, zufälligen, diskontinuierlichen Lebenswegen, die zeigen, dass (Erfolgs-)Geschichte keine Logik hat und deren Kontinuität stets nachträglich konstruiert ist. Genau deshalb ist es wichtig, Projekte mit Kindern und Jugendlichen als gemeinsames künstlerisches Forschen und als offenen Prozess zu begreifen. Und vielleicht wäre es wichtig, noch mehr die Chancen zu betonen, mit welchen die Darstellende Künste als nicht-produktive Arbeit ein Gegenbild zu neoliberalen Effektivitätsvorstellungen bieten können: Als Praxis von Verschwendung und Exzess, von Überschreitung und Irritation, von Verfremdung und Entäußerung. Die in den letzten Jahren entstandenen Produktionen mit Kindern und Jugendlichen sind wichtige und interessante Beispiele, um von einer überholten Erziehungsperspektive wegzuführen und ein neues Feld der Auseinandersetzung zu eröffnen. Es sind Produktionen für Menschen aller Altersstufen; Ergebnisse einer ernsthaften Auseinandersetzung zwischen Erwachsenen und Kindern bzw. Jugendlichen, die eine genauso ernsthafte Auseinandersetzung zwischen den Generationen beim Publikum provozieren können. Demgegenüber birgt das Festhalten an einer kindgerecht oder jugendgemäß ausgerichteten Kunst die Gefahr, an der biopolitischen Neuentdeckung und Neuerfindung von Kindern und Jugendlichen mitzuwirken. Der Blick in die Geschichte von Kindheit und Jugend bei Ariès und Savage hat gezeigt, dass die Erforschung dieser Lebensphase zumeist mit der ökonomischen und politischen Funktionalisierung dieses Wissens einhergeht. Natürlich kann man spezifisch erworbenes Wissen über Heranwachsende nicht mehr rückgängig machen oder gar vergessen. Wenn man an Entwicklungs- und Entfaltungsmöglichkeiten von Kindern und Jugendlichen jenseits von Marktzurichtung interessiert ist, muss man sich jedoch weigern, die eigenen Erkenntnisse irgendeiner Verwertung zuzuführen, und anderen Perspektiven nachgehen. Denn die gesellschaftlichen, ökonomischen und technischen Bedingungen für Alternativen sind in Europa immer noch ausreichend vorhanden. Vielleicht muss man im Sinne kritischer Denker wie Antonio Negri und Michael Hardt an der biopolitischen Perspektive ansetzen und diese gegen sich selbst wenden, indem man der eigenen Arbeit ein anderes Verständnis von Zukunft zugrunde legt: Zukunft als offener Prozess, in dem alles möglich ist. In diesem Sinne ist das „Erfindet euch neu!“ zu verstehen, das der französische Philosoph

D ECK: P ARADOXE V ERHÄLTNISSE

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Michel Serres (2013) in seiner Liebeserklärung an die vernetzte Generation in die Welt ruft: Nicht als neoliberale Selbstoptimierung, sondern als Versuch, Raum, Zeit, Körper oder Bildung neu zu denken. Das gemeinsame Erforschen der Welt in Kombination mit dem Bewusstsein, dass alles veränderbar ist, wäre eine gute Voraussetzung, um kommenden Generationen wirklich die Chance zu geben, sich selbst zu erfinden und selbst zu wählen, wie sie leben möchten.

L ITERATUR Ariès, Philippe (2011): Geschichte der Kindheit, 17. Auflage, München: dtv. Bertram, Hans (Hg) (2008): Mittelmaß für Kinder. Der Unicef-Bericht zur Lage der Kinder in Deutschland, München: Beck. Haselbach, Dieter/Klein, Armin/Knüsel, Pius/Opitz, Stephan (2012): Der Kulturinfarkt. Von Allem zu viel und überall das Gleiche. Eine Polemik über Kulturpolitik, Kulturstaat, Kultursubvention, München: Knaus. Ricken, Norbert (2008): „Bildung als Dispositiv. Systematische Anmerkungen zum Einsatz der ‚studies of governmentality‘ in den Erziehungswissenschaften“, in: Ders./Andrea Liesner (Hg.), Die Macht der Bildung. Gouvernementalitätstheoretische Perspektiven in der Erziehungswissenschaft. Dokumentation einer Arbeitsgruppe des Kongresses der DGfE 2006 (= Arbeitsberichte Systematische Bildungsforschung, Band 2), Bremen: Universität, S. 6-21, online unter www.allpaed.uni-bremen.de/cms/fileadmin/Material/Bericht-2 __DGfE_Macht-SYSBF.pdf (Stand: 30.04.2014). Savage, John (2008): Teenage. Die Erfindung der Jugend (1875–1945), Frankfurt a. M.: Campus. Serres, Michel (2013): Erfindet Euch neu! Eine Liebeserklärung an die vernetzte Generation, Berlin: Suhrkamp. Sußebach, Henning (2013): Liebe Sophie! Brief an meine Tochter, Freiburg im Breisgau: Herder. Titz, Christoph (2014): „Pisa-Versager: Die Aufgegebenen“, in: Spiegel Online vom 13.04.2014, online unter www.spiegel.de/schulspiegel/wissen/ pisa2014-schulversager-a-961914.html (Stand: 30.04.2014). Verhaegen, Ine/Quickert, Anja (2012): „Before Your Very Eyes“ beim Theatertreffen, in: tip Berlin vom 19.05.2012, online unter www.tip-berlin.de/kulturund-freizeit-theater-und-buehne/your-very-eyes-beim-theatertreffen (Stand: 28.12.2013).

Vom Hoffnungsträger zum Problemfall Kindheitsbilder im Theater für Kinder1 I NGRID H ENTSCHEL

Wir alle glauben zu wissen, was ein Kind ist, was Kinder sind, worin Kindheit besteht. Die Kindheitsforscher sagen uns allerdings, dass wir uns täuschen: Was wir zu beschreiben und zu erkennen glauben, sei immer nur ein bestimmtes historisch geformtes Bild von Kindheit. Und was die Sache zusätzlich erschwert: dieses Bild oder die Kindheitsbilder sind nicht zu verwechseln mit dem Kinderleben selbst, also der gesellschaftlichen Wirklichkeit, in der Kinder leben und aufwachsen. „Kindheitsbild meint die Entwürfe und Vorstellungen, die sich eine Epoche, eine soziale Gruppe oder auch ein Einzelner von Kindern macht und die individuell und gesellschaftlich außerordentlich wirksam sein und das Verhalten gegenüber ‚wirklichen‘ Kindern durchaus beeinflussen können.“ (Richter 1987: 19)

Und ein solches Kindheitsbild ist abhängig von dem, was wir jeweils unter Erwachsenheit verstehen. Um die Generativität des Begriffs zu begreifen, sollten wir uns ein extraterrestrisches Wesen vorstellen. Nennen wir es ETF, extraterrestrischer Freund.2 ETF verirrt sich auf ein Kindertheaterfestival. Er stammt von einem Planeten,

1

Dieser Aufsatz basiert auf einem Vortrag, den ich am 7.10.2011 im Ballhof, Schauspiel Hannover, auf Einladung der Stiftung Niedersachsen im Rahmen des Best-offFestivals gehalten habe.

2

ETF tauchte bereits in einem frühen Aufsatz von mir auf, der einige Kindheitsbilder bis zum Ende der 1980er-Jahre formulierte (vgl. Hentschel 1994).

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wo so diffizile Zustände wie Kindheit und Jugend unbekannt sind. Die Menschen werden dort durch ein dem Klonen ähnliches Verfahren ins Leben gesetzt. Von Anfang an besitzen sie alle Fähigkeiten, die zu einem gesellschaftlichen Leben notwendig sind. Von daher sind unserem außerirdischen Freund die Bedeutungshorizonte von Begriffen wie Kindheit und Jugend natürlich fremd und unbekannt. Er nimmt Kinder nur als kurz geratene Erwachsene wahr oder umgekehrt die Erwachsenen als groß gewachsene Kinder. Aber diese Beschreibung ist bereits irreführend, da unserem Besucher ja der Sinn für die uns so selbstverständlichen Generationsunterschiede fehlt. Alle Menschen erscheinen ihm auf einer Wahrnehmungsebene, etwa so, wie wir beim Anblick einer Wiese ja auch nicht wesensmäßig unterscheiden zwischen den großen und den kleinen Grashalmen – Gras ist Gras. ETF vergleicht ständig zwischen dem, was er im Foyer des Theaters, neben sich auf den Zuschauerbänken, und dem, was er auf der Bühne sieht. Und da ihm nichts selbstverständlich ist, gerät er in einen Strudel von Fragen, der ihn schließlich dazu veranlasst, sich die Codes von Kindheit durch Zurateziehung von Expertenwissen, gezielten Alltagsbeobachtungen, ja sogar auch durch den Versuch der Introspektion anzueignen. ETF’s Schwierigkeiten belehren uns darüber, dass es unmöglich ist, etwas über die Kindheitsbilder zu sagen, ohne zugleich Bilder und Vorstellungen von Erwachsenheit vor Augen zu haben. In meinen Untersuchungen betrachte ich – sozusagen als ein fortgeschrittener ETF – Theater als kulturgeschichtliches Dokument, wie auch Kunst, Theater, Literatur nach einem auf die Literatur bezogenen Gedanken von Umberto Eco als Dokumente der Menschheitsgeschichte zu lesen wären. Sie geben in Form und Inhalt Auskunft über die spezifische Verfasstheit einer Gesellschaft, und zwar in der Weise, wie sie sich selbst betrachtet und zum Ausdruck bringt. Das gilt besonders für das Theater als diejenige Kunstgattung, in der, vermittelt durch die Relation von Spieler und Zuschauer, der Mensch sich gewissermaßen selbst zusieht. So ist der Schauspieler auf der Bühne ein Mensch, und zugleich steht er auch als Zeichen für den Menschen. Die Entwicklung des professionellen Theaters für Kinder lässt sich in Stücken, Inszenierungen und Konzeptionen als Indikator für historische Veränderungen von Kindheit betrachten. Ein Blick in die Geschichte des Kindertheaters zeigt, wie Dramaturgien und Konzeptionen jeweils bestimmten gesellschaftlich vorherrschenden Kindheitsbildern entsprechen, und wie es selbst dazu beiträgt, diese zu modifizieren. Wir können beobachten, wie sich die Kindheitsbilder im Kindertheater in großen Wellenbewegungen transformieren. Entweder wird die Besonderheit des Kindes,

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seines gesellschaftlichen Status’, seines Weltzugangs betont, oder es werden ihm dieselben Fragen und Probleme zugemutet, mit denen wir es als Erwachsene zu tun haben. Je nachdem werden Kinder mit Mutmachtheater, mit Lerntheater, Trosttheater oder Präventionstheater bedacht, oder sie bekommen Aufführungen von poetischer, künstlerischer Vieldeutigkeit zu sehen, voller Märchenhaftigkeit und Phantastik. Heute, im zweiten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts, ist es Kompetenztheater, das Kinder im Rahmen der Konzepte der kulturellen Bildung in der Entwicklung ihrer Kompetenzen unterstützen soll. Stets scheinen Theaterangebote für Kinder besonders begründungsbedürftig zu sein. Anders als beim Schauspiel für Erwachsene, als bei Oper, Konzert und Museumsbesuch, müssen besondere Zielsetzungen und Zwecke benennbar sein, wenn es darum geht, Theaterangebote für ein Kinderpublikum zu formulieren. Die Begründungen und Konzeptionen des Theaters für Kinder haben sich immer analog zu den Fragen, Themen, den wissenschaftlichen und politischen Paradigmen entwickelt, die die Erwachsenen gerade beschäftigten. Das bedeutet natürlich: Theaterkunst für junge Menschen wurde und wird funktionalisiert, für bestimmte Zwecke eingespannt, mit Aufgaben und Aufträgen befrachtet. Selten darf es einfach nur Theater sein, wie es beispielsweise der Philosoph Gerhard Stamer (2011) in seinem provozierenden Beitrag Das Kamel, der Löwe und das Kind fordert. Aber eben darum sind die Stücke, Inszenierungen und Aufführungen des Theaters für Kinder ein so interessantes Forschungsfeld. In ihnen lässt sich nämlich erkennen, wie Kindheit jeweils definiert, wie sie gesehen wurde und wie Erwachsene bezogen auf die Menschen, die die Dimension der Zukunft repräsentieren, denken, handeln und fühlen. Stets sind es neue aktuelle Problemlagen sowie wissenschaftliche Paradigmen, die zur Begründung von veränderten ästhetischen und vor allem aber pädagogischen Praxen im Theater für Kinder ins Feld geführt werden. Ganz neu ist aber oftmals gar nicht die Realität, sondern lediglich der Blickwinkel und das Interesse, unter dem sie nun betrachtet werden. Mit geradezu messianischer Gründlichkeit orientieren sich Projektförderungen und Theaterkonzeptionen an neuen bildungs- und kulturpolitischen Zielsetzungen, wie aktuell am Sammelbegriff der „Kulturellen Bildung“ und an den entsprechenden kompetenzorientierten Bildungsstandards. Dass gegenwärtig Bildung als selbstverständlicher und nahezu unbefragter Auftrag der Theaterkunst für Kinder betrachtet wird, dass Theaterkunst überhaupt ‚Aufträge‘ zu erfüllen hat, dass eine Theateraufführung, die sich in ihrer Komplexität nicht in eines der im offiziellen Sprachgebrauch üblichen Bildungs-

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und Kompetenzziele und -profile fügt, als purer – nämlich verzichtbarer – Luxus angesehen wird, lässt sich nur vor dem Hintergrund historischen Wissens angemessen einschätzen. Um uns zu erkennen, brauchen wir den Anderen, um unsere Zeit zu begreifen, müssen wir die Geschichte betrachten. Um zu verstehen, an welchem Punkt sich gegenwärtig das Theater für Kinder heute befindet, ist ein kurzer Blick in die Geschichte des Kindertheaters nötig. An dieser Stelle soll nur die jüngere Geschichte des sogenannten emanzipatorischen Kindertheaters, die im Zuge der 68er-Bewegung im 20. Jahrhundert begann, erwähnt werden.3 Die verschiedenen Konzeptionen und Phasen des Kindertheaters – seine Politisierung, seine psychologische Wende, seine ästhetische Orientierung, die Hinwendung zu den aktuellen partizipativen RealityTheaterformaten, in denen die Kinder selbst das Wort ergreifen (vgl. Tiedemann/Raddatz 2007)4, bis hin zum didaktischen Sprachlerntheater im Rahmen kultureller Bildungsoffensiven –, sind verbunden mit bestimmten Vorstellungen von Erziehung, Politik und schließlich Bildung, die zunehmend an die Stelle gesellschaftspolitischer Orientierungen tritt.

D AS

SOZIALE

K IND : P OLITIK , B EFREIUNG , U TOPIE

„Ein Kind ohne Kopf ist ein Krüppel fürs Leben“ – So formulierte der Verleger Klaus Wagenbach 1979 – zehn Jahre später – das Motto für die Arbeit des Grips-Theaters, als er das erste Buch über die anarchischen Pioniere eines gesellschaftlich engagierten Theaters für ein Kinderpublikum veröffentlichte. Der Satz wurde wegweisend für eine neue Sichtweise auf Kindheit und damit das Kindertheater. Vom Objekt von Erziehungsstrategien wurde das Kind zum Subjekt gesellschaftlicher Innovation erklärt und bisweilen auch verklärt. Es wurde ein radikal anderes Kindheitsbild eingeführt als das, was man in den Kindergärten und Schulen der Nachkriegsrepublik angetroffen hatte: das des aufgeklärten, pfiffigen und klugen Kindes, das den Erwachsenen auf die Sprünge hilft und ihnen immer einen Schritt voraus ist. Melchior Schedlers Buch über das Kindertheater unter dem Titel Schlachtet den blauen Elefanten! (im Jahre 1973) war programmatisch für eine ganze Be-

3

Es gab früher natürlich Vorläufer: die didaktischen Dramen der Aufklärung, Märchenspiele und die Kindertheater in der Weimarer Republik. Ich beziehe mich im historischen Rückblick auf meinen Aufsatz Seismographen von Kindheit – Pädagogische und ästhetische Entwicklungen im Kindertheater (Hentschel 2007).

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Bezogen auf den Verlust des Spiels vgl. Hentschel 2010.

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wegung zu verstehen. Der blaue Elefant stand als Symbol für kindertümelnde Phantasie, für eine Traumwelt, die in der Tradition der blauen Romantik die Kinder von der wirklichen Realität ablenkte. Deswegen gehörte das farbenfrohe Tier geschlachtet. Das neue Kindertheater räumte auf mit einem alten Bild von Kindheit, mit Traumwelten, Weihnachtsmärchen, Illusionierungs-, Verniedlichungs- und Verdummungstheater, wie man damals sagte. Es räumte auf mit einem bürgerlichen Kunstbegriff, der mit der Definition von schönem Schein, von Illusion, von Zweckfreiheit u. ä. operierte. Kindertheater wollte sich demgegenüber auf den Boden der Realität, der Tatsachen begeben, weshalb viele Schauspieler damals auch die etablierten Theaterinstitutionen verließen und auf die Straße, in die Jugendzentren und Schulen gingen, um vor Ort ganz reale Wirkungen zu erzeugen. Eine ähnliche Entwicklung haben wir auch heute im Jahre 2012 wieder zu verzeichnen, wo Theaterproduktionen direkte Zugriffe auf die soziale Wirklichkeit durch authentische Spielorte und Laiendarsteller als Experten des Alltags unternehmen wollen. Die Rollenfiktion und die Phantasie werden zugunsten der Aktion von realen Kindern und Jugendlichen, denen man eine Stimme geben will, von der Bühne verbannt. Verstand statt Gefühl, Realität statt Traum und Fiktion, darum ging es in den Stücken, die an der Wiege des emanzipatorischen Kindertheaters standen. Die Ambition war anfangs eine kämpferische. Zusammen mit dem Proletariat und den Frauen wurden Kinder als Unterdrückte, Marginalisierte und Unterprivilegierte wahrgenommen, zu deren Befreiung das Theater beitragen wollte. Seit den Studien über Autorität und Familie der Frankfurter Schule (vgl. Adorno/Horkheimer 2005/1936) wusste man um den Zusammenhang von familialer Unterdrückung und ökonomischer Ausbeutung. Die politischen Resultate in Form von Autoritätshörigkeit und blinder Folgebereitschaft standen in der deutschen Nachkriegsrepublik noch erschreckend deutlich vor Augen. Antifaschistische Pädagogik hieß in der alten Bundesrepublik vor allem Entmystifizierung von Autoritäten, Stärkung von Mut und Widerstandskraft. Ergänzt durch eine sozialistische Perspektive kam noch die Fähigkeit zur Solidarität, zum gemeinsamen Kampf, hinzu. In den frühen Stücken des Grips-Theaters finden wir das Bild des frechen, aufmüpfigen, pfiffigen Kindes, dem oftmals das des angepassten, braven und unsympathischen Kindes beigestellt ist. Das sensible, ängstliche Kind, das uns heute vertraut ist, sehen wir erst später, in den 1970er-Jahren, seine Ängste überwinden. Das Spezifikum der Kindertypen des Grips-Theaters besteht in ihrer

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Überlegenheit. Diese Kinder verkörpern eine utopische zukunftsweisende Perspektive: Sie sind es, die ihren Eltern bzw. den Erwachsenen den Weg zur entschiedenen Durchsetzung ihrer Interessen weisen. Sie sind Vorreiter der Politisierung der Erwachsenen, wie noch 1982 in dem Stück Dicke Luft von Volker Ludwig und Rainer Lücker. Es herrscht Smog. Alex und Mai entdecken, dass nicht nur die Luft, sondern auch die Nahrungsmittel mit Giften belastet sind, und sie entdecken vor allem die Apathie der Erwachsenen. Unterstützt von der unkonventionellen Haltung eines Kinderbuchautors gründen sie am Ende eine Bande, in der alle, auch die Oma von nebenan und der vormals so ekelhaft diensteifrige Hausmeister Pingel, schwören, gegen die Umweltvergiftung mit phantasievollen und ganz praktischen Aktionen vorzugehen. Ausgeschlossen bleibt nur der reiche unsympathische Autobesitzer und Naturfeind Herr Stahl.

Die Kinder werden in diesem Stück als überaus selbstständig und emotional unabhängig geschildert. Wie in der Zeichnung der Erwachsenenfiguren gibt es auch hier eine entsprechende Negativfigur, die eine analoge Wandlung zum Positiven durchmacht: Ulf, der Typ des angepassten Kindes, ein braves Konsumkind („Lieber krepier ich an Auspuffgas, als vor Langeweile sterben“) tritt am Ende bekehrt der Bande bei, die Vision von giftfreien Autos hat ihn überzeugt. Mit Kindern als Protagonisten wird eine konkrete Utopie ausgemalt. Das Emblem dieser Bühnenkinder ist das soziale Kind: Wir sehen Kinder in ihrem sozialen Umkreis, auf der Straße, dem Hof, mit den Geschwistern in der Wohnung, mit der Familie beim Essen oder beim Kindergeburtstag. Der Bereich von Innerlichkeit ist hier relativ klein. Das Kind erscheint vorrangig als gesellschaftliches Wesen, das befähigt wird, soziale Probleme zu erkennen, und dem zugetraut wird, später verändernd in die Zukunft einzugreifen. Dieses Bild von Kindheit kann man durchaus noch in die Reihe und Tradition des Kindheitsbildes der Romantik stellen, wie es Dieter Richter (1987) in seiner Untersuchung Das fremde Kind. Zur Entstehung der Kindheitsbilder des bürgerlichen Zeitalters beschrieben hatte: Die Kinder verkörpern ein utopisches Potenzial, in das Erwachsene ihre Zukunftshoffnungen setzen. Das hat sich heute gründlich gewandelt. Bevor ich zu den zeitgenössischen Darstellungen des Kindes auf der Bühne komme, ein Wort zum Kindertheater der sozialistischen Länder, das sich zeitgleich mit anderen politischen Zielsetzungen und ästhetischen Konzeptionen entwickelt hatte. Für die sozialistische und kommunistische Bewegung waren Kinder von strategischer Bedeutung und ihnen – wie dem Bildungs- und Erziehungssystem insgesamt – wurde das Maß an

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gesellschaftspolitischer Aufmerksamkeit zuteil, das Kinder eigentlich verdienen, wenn auch die bildungspolitischen und kulturpolitischen Zielsetzungen dabei – gelinde gesagt – durchaus nicht immer im Sinne der Kinder waren. Vor allem in der DDR wurde das Kind als wesentlich für die sozialistische Umgestaltung der Gesellschaft betrachtet. Noch zum Zeitpunkt der Wende 1990 unterhielt die DDR mehrere große Theater für Kinder, in denen bis zu 50 Schauspieler und Musiker, insgesamt über 200 (!) Personen, beschäftigt waren, wie in Berlin, außerdem zahlreiche kleinere Theater und Puppenbühnen. Das junge Kindertheater der DDR, gegründet gleich nach dem Zweiten Weltkrieg, knüpfte nicht an die fortschrittlichen Bewegungen der Weimarer Zeit an, sondern griff – gemäß der kulturpolitischen Doktrin, die eine Orientierung am klassischen Erbe vorsah – zunächst auf das klassische Repertoire zurück, wobei bis zu 70 Prozent Märchen auf den Spielplänen standen. Statt Lust zum Widerstand wie in Westberlin wurde Einsicht in eine moralische Werteskala auf der Bühne vorgeführt. Während Inszenierungen in der DDR wirkungsästhetisch auf Einfühlung und Identifikation setzten, wurden die Inszenierungen des sozialen Kindes im Westen von der Brecht’schen Theatertradition beeinflusst: Klares, konturiertes, nicht psychologisches Spiel. Sachverhalte werden dem Zuschauer durch Spielim-Spiel-Dramaturgien verdeutlicht. Das Lachen gehört zu diesen Inszenierungen, auch das Verlachen von Autoritätspersonen, direkte Publikumsansprachen und eingängige Songs.

D AS

PSYCHOLOGISCHE

K IND : D IE

NEUE I NNERLICHKEIT

Nach der politischen kam die psychologische Phase im Kindertheater, die in Zusammenhang mit der zunehmenden Bedeutung psychologischer Theorien und Strategien in pädagogischen und sozialen Arbeitsfeldern stand. Wie sich in der Pädagogik der 1970er-Jahre psychologische Verfahren und Argumentationen einstellten, nahm auch das Theater für Kinder psychologische Sichtweisen und Themen auf. Für die Kinder wurden Gesamtschulen gegründet und Kinderläden. Für die Lehrer entstanden Zeitschriften wie Päd.extra und die Konkurrenz Betrifft: Erziehung im Beltz-Verlag und es entfaltete sich eine reiche, an der Psychoanalyse orientierte Therapiekultur. Mit der Thematisierung von menschlichen Gefühlswelten kamen auch die in Westdeutschland verbannten Märchenstoffe wieder zum Vorschein, verbunden mit der Neuentdeckung von Imagination und Innerlichkeit. Thematisiert werden

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die Probleme des behüteten Kindes: irrationale Ängste, Probleme bei Trennung und Verlust, Identitätsfindungsprobleme, Schul- und Versagensängste; allesamt Themen, für die es keine gesellschaftspolitischen Lösungs- oder Erklärungsansätze gibt. In diesen Stücken kommt es nicht darauf an, Erkenntnisse über soziale und gesellschaftliche Prozesse auf der Bühne zu vermitteln und zum mutigen Handeln und Eingreifen zu aktivieren, sondern Möglichkeiten emotionalen Erlebens zu eröffnen, die dem Publikum im Alltag versperrt sind. Die Inszenierungen, für die das schwedische Unga-Klara-Theater beispielhaft geworden ist, setzten auf den emotionalen Mitvollzug der Zuschauerkinder, der sich psychologisch gesprochen auf der Ebene der vorbewussten Rezeption abspielte und nicht verbal thematisiert werden musste (vgl. Hentschel 1986). Prinz Ohnetrauer von Per Lysander und Suzanne Osten5 befasst sich mit den Erfahrungen des emotional unverstandenen Kindes. Das Kind steht nicht als Opfer der Schwarzen Pädagogik im Zentrum, angesprochen ist hier das Kind, das durch Liebe leidet. Es unterdrückt seine Gefühle und Triebe nicht aufgrund äußerer Zwänge, weil Verbote und damit Angst vor der Bestrafung herrschen, wie es noch Thema der Erziehungsdiskussion der 1960er-Jahre war, sondern es reagiert auf das unausgesprochene Verbot negativer Gefühle. Das Unglück dieses Kindes besteht darin, dass es zum Glücklichsein verdammt ist. Ohnetrauer ist ein behütetes Kind. Während im Palast alles auf seine Unterhaltung und Freude abgestellt ist, wird ihm die wirkliche Welt außerhalb der hohen Schlossmauern vorenthalten. So zieht er eines Tages aus, das kennen zu lernen, was immer vor ihm versteckt worden ist: die Trauer und der Schmerz. Er lernt sie in unterschiedlichen Formen kennen: als toten Marmorblock, als lebendige Guerillakämpferin, als weinendes Kind. Aber erst als er sich verliebt und im Verlust am eigenen Leibe erfährt, erkennt er, dass Schönheit und Glück ohne Schmerz und Trauer nicht empfunden werden können.

Ein Stück wie Prinz Ohnetrauer trug der Veränderung der klinischen Bilder in den Praxen der Kinderpsychologen Rechnung, in denen sich die Persönlichkeitsstörungen von den traditionell neurotischen hin zu narzisstischen verschoben hatten. Ein Thema, das nach wie vor aktuell ist. Angesichts der Überfürsorglichkeit, mit der Kinder heute umhegt werden, angesichts von Helicoptering, zwanghaftem Schutz- und Überwachungsverhalten von Eltern ihren Kindern gegenüber, erscheint mir mittlerweile das Kindheitsbild des psychologischen Kinder-

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Deutsch: Verlag Autorenagentur Frankfurt a. M. (UA 1974, Stockholm).

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theaters der 1970er-Jahre aktueller denn je zu sein. Auf den Bühnen aber ist es – soweit ich sehen kann – kein Thema. Was bedeutet die psychologische Perspektive der Innerlichkeit für die Kindheitsbilder in ihrer Relation zu den Konzeptionen der Erwachsenen? Angesichts der Phantasmen und Innenwelten des Menschen verschwindet die Notwendigkeit, zwischen Kind und Erwachsenen in realistischer Weise zu differenzieren. Insofern ist der Weg vom psychologischen zum poetischen Kinderstück nicht weit. Das gesamte kulturelle Repertoire der Märchen und Mythen kann als Folie dienen, um innere Konflikte und Wachstumsprozesse darzustellen. Dies gilt natürlich nur, solange psychoanalytische und entwicklungspsychologische Theorien paradigmatisch im Rahmen ästhetischer und pädagogischer Reflexionen leitend waren. Mit dem naturwissenschaftlichen Paradigmenwechsel, der im 21. Jahrhundert zusammen mit der Biologie und der Hirnforschung einhergegangen ist, verändert sich der Blick auf die Innenwelt des Kindes, was auch ein Grund für das gegenwärtige Ausbleiben phantastischer Erzählungen im Theater für Kinder sein mag. Historisch betrachtet lag der Schritt weg von psychologischen Orientierungen hin zu poetischer und ästhetischer Vieldeutigkeit nahe – und wurde entsprechend auch in der Literatur für Kinder vollzogen, die in ihrer Entwicklung insgesamt viele Parallelen zur Entwicklung des Kindertheaters aufweist. Fortan war eine Egalisierung im Verhältnis von Kindern und Erwachsenen auf der Bühne zu beobachten. Nicht die Besonderheit des Kindes mit seinen Potenzialen, sei es in positiver oder negativer Hinsicht, stand im Mittelpunkt des Interesses, sondern die Nähe der Kinder zu den Erwachsenen, wobei sich die Unterschiede zwischen Kindern und Erwachsenen immer mehr verwischen.

D AS

EGALITÄRE



DAS BEFRIEDETE

K IND

In Stücken wie Die Nachtvögel von Rudolf Herfurtner (in: Viktor 1989) nach einem Kinderbuch von Tormoud Haugen stehen Kind und Erwachsener auf einer Stufe. Es zeigt einen Vater, der unter den gleichen Ängsten leidet wie sein kleiner Sohn. Beide werden von Nachtvögeln, bösen Albträumen, heimgesucht. Das Stück spielt in einem Treppenhaus, einem Schauplatz, den der Autor aber keineswegs naturalistisch verstanden wissen will. Das Treppenhaus ist der Raum zwischen innen und außen, zwischen privat und öffentlich. Dort wird für den achtjährigen Joachim jeder Weg zum Schreckensparcours, den er nur mithilfe ausgeklügelter Rituale bewältigen kann. Sei-

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ne Ängste finden ihr Pendant in denen des Vaters, der, Lehrer von Beruf, Probleme hat, diesen auszuüben, und sich offensichtlich in einer Depression befindet. Joachim ist trotz der belasteten Familiensituation in gutem Einvernehmen mit seinen Eltern. Das Kind kommt in die Lage, seinen Vater nachts, wenn er vor Angst aus dem Bett fährt, trösten zu müssen. Am Ende, als es Joachim gelungen ist, seine eigenen Ängste mithilfe eines imaginierten Dialogpartners aufzulösen, wird sein Vater mit Blaulicht in die psychiatrische Klinik gefahren.

Keiner verfügt – mutig wie noch das pfiffige Kind im Grips-Theater – über eine Lösung. Rudolf Herfurtner beschreibt nahezu illusionslos ein Stück Realität und lädt ein zum emotionalen Mitvollzug. Nicht Erkenntnis, keine Lösung, auch kein Happy End – eher ist es Empathie, die dieses Stück bei seinen Zuschauern herausfordert. Ein Begriff, der auch in der psychotherapeutischen Fachdiskussion der 1980er-Jahre eine zentrale Rolle erhielt. Um das Kinderbild, das ich hier mit dem Begriff der Gleichheit bezeichnen will, zu begreifen, benötigt man den historischen Kontrast: Hier begehrt niemand auf. Das Kind nicht, die Frau nicht, der depressive Vater überantwortet sich fremder Hilfe oder wird ihr überantwortet. Wir erfahren nicht, ob er sich am Ende freiwillig in die Klinik begibt. Ein Kinderbild, wie es bei Herfurtner gezeichnet wird, ließe sich auch als „das befriedete Kind“ bezeichnen. Das befriedete Kind lebt im Einklang mit seinen Eltern, Probleme betreffen die ganze Familie und werden nicht durch Kampf oder aggressive Abgrenzungen, auch nicht durch Kinderöffentlichkeit oder Protest, sondern partnerschaftlich durch Verständigung bearbeitet. Es ist offensichtlich, wie diese Bühnenfiguren Prozesse gesellschaftlicher Demokratisierung ebenso wie eine allgemeine psychologische Aufgeklärtheit zur Voraussetzung haben, Kompetenzen wie sie Jürgen Habermas (1981) in seiner bildungspolitisch einflussreichen Theorie des kommunikativen Handels beschreibt.

D AS

ÄSTHETISCHE K INDERTHEATER ALS T HEATER FÜR ALLE Diese Entwicklung führte dazu, zu diskutieren, ob es denn überhaupt noch gegeben sei, eine eigenständige Theaterkunst für Kinder zu formulieren, ob nicht Kindertheater eben nur Theater sei (vgl. Hentschel 1996). Aus dieser Debatte erwuchs das Theater der Generationen. Ein Theater für alle Altersgruppen, das sich aber anders als das Theater für Erwachsene auch an Kinder richtet. Denn berühren sich auf der Ebene der Phantastik, der Träume, Ängste, Albträume und Wunschbilder nicht Kinder und Erwachsene? Stammen unsere Ängste, die uns

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als Erwachsene schweißgebadet aufwachen lassen, nicht aus unserer Kindheit, bedienen sie sich nicht an deren Bildern? Das Theater der Generationen ist ein ästhetisches Theater: Es hat ästhetische Vieldeutigkeit zur Voraussetzung, sodass Kinder und Erwachsene die Aufführungen auf der Basis ihrer je eigenen Erfahrungshorizonte rezipieren können. Der Autor, der diese Vieldeutigkeit am besten beherrscht, ist sicherlich F. K. Wächter. Die ästhetische Wende im Theater für Kinder begünstigt eine spielerische Ästhetik, die Bezug nimmt auf das Kinderspiel und seine Verwandlungsfähigkeiten. Ein riesiges weißes Tuch auf der Bühne darf einen Palast darstellen, kann Wasser, Meer und Abgrund sein. Figuren und große Marionetten können die Menschenschauspieler begleiten. Wie in der Spieltätigkeit der Kinder existieren Phantasie und Realität nebeneinander, ohne in Konflikt zu geraten. Wurden Kinderspiele in den Stücken des sozialen Kindertheaters vor allem als Probehandeln eingesetzt, als versuchsweises Durchspielen anderer produktiver Lösungswege, so tritt das Spiel hier nicht nur als eine Form psychischer Verarbeitung auf, sondern auch als lustvolle Transformation und Vision. Kinder spielen König und Prinzessin, um ihren Anspruch, einmal Herr im eigenen Reich zu sein, wenigstens in Spiel zu befriedigen. Sie erspielen sich eine Welt, die anders als in der Lebenswirklichkeit einmal mit ihrer Innenwelt, mit ihren Träumen, Wünschen und Ängsten übereinstimmen darf. Platz für den König von dem Schweizer Theatergenie Peter Rinderknecht ist hier ein wunderbares Beispiel, in dem wir alle, Kinder wie Erwachsene, als Wesen mit eigenem Recht, mit Anspruch auf Einfluss, Geltung und Erfüllung unserer Wünsche betrachtet werden. Eine Bestärkung von Lebensfreude und Zuversicht. In den besten Fällen bilden solche Aufführungen eine Resonanz auf unser Inneres und funktionieren wie ein Füllhorn von Spielanregungen, die die Kinder zu Hause in ihren eigenen Spielen mit den verschiedensten Materialien umsetzen können und die auch Eltern auf Ideen bringen können, zu denen sie sonst keinen Zugang haben. Mit der Abkehr von der pädagogischen Fundierung des Kindertheaters ab Mitte der 1980er-Jahre und der ästhetischen Orientierung kamen dann auch die lange verschütteten Theatertraditionen eines Theaters der Bilder, des Tanzes und der Abstraktion zutage. Beckett für Kinder wurde möglich.

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P ARADOXE K INDHEIT : W ESEN MIT EIGENEM R ECHT

UND DOCH DEFIZITÄR

Im neuen Jahrtausend allerdings scheint sich das Blatt zu wenden. Das Verhältnis der Generationen zueinander ist durch verschiedenste Entwicklungen komplizierter geworden. Kinder sind immer weniger klar von Erwachsenen abzugrenzen. Industrie und Medien, die breite Konsumentenschichten benötigen, aber auch die Kinder selbst wollen dies immer weniger. Die meisten Kinder bevorzugen Produkte für Erwachsene, immer früher tragen sie deren Kleidung und sehen sich deren Sendungen im Fernsehen an. Das spiegelt sich in zahlreichen Publikationen zu Beginn des dritten Jahrtausends wider. Thema ist das Kind als Gegenüber und Partner des Erwachsenen. Die Zeiten sind vorbei, als Kinder vorrangig als Wesen wahrgenommen worden sind, die unsere Fürsorge und Unterstützung benötigen, wie es der Perspektive der Entwicklungspsychologie entsprach, wenn sie etwa den entwicklungsbedingten Egozentrismus des Kindes oder sein unzureichendes Realitätsbewusstsein zum Thema machte. Die gegenwärtige Kindheitsforschung betrachtet Kinder nicht mehr nur als „Menschen in Entwicklung“, sondern auch als „Personen aus eigenem Recht“. Das hat Folgen für die Erwachsenen. Experten sind sich einig: Die Autorität der Erwachsenengeneration weiß sich nicht mehr auf einem gesicherten Boden. Was sollen Theatermacher den Kindern zeigen und warum? Welche Geschichten lohnt es zu erzählen? Welche Erfahrungen sind tragfähig für Kinder, die in einer rasant sich wandelnden Welt aufwachsen? Auch Erwachsene weisen heute Lebensphasen auf, die traditionell nur bei Jugendlichen vorkamen: Phasen der Ausbildung, der Umorientierung und Selbstfindung, Phasen der Erprobung neuer Lebensentwürfe. Die ‚richtigen‘ Erwachsenen scheinen in unserer Gesellschaft ebenso zu verschwinden wie das ‚kindliche‘ Kind – man schaue sich nur die Schaufenster der Bekleidungshäuser an, wo Dreijährige das Outfit von David Beckham, Madonna oder Rihanna tragen. Dieser Entwicklung entspricht das Theater der Generationen, das in seinen Spielweisen, Formen, Stoffen und Geschichten nicht mehr zwischen Kindern und Erwachsenen unterscheidet, sondern Theater für alle machen will und sich deswegen verstärkt an die Theaterformate anlehnt, die im Theater für Erwachsene zu finden sind, von denen sich das Theater für Kinder in seinen Anfängen kritisch distanziert hatte. Was passiert in dem Zeitraum, den wir angesprochen haben, im Theater für erwachsene Zuschauer? Ich will nur einige Stichworte nennen, die auch für die Entwicklung der Ästhetik im Kindertheater bedeutsam sind. Angesichts der Do-

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minanz der elektronischen Medien und der allgegenwärtigen Visualisierung unserer Kultur ist das Theater dabei, sich selbst zu thematisieren, vom Theater als Theater zu erzählen und seine Rolle in der Gegenwart zu befragen. Man spricht von einer Re-Theatralisierung der Theaterkunst und davon, dass es seine performativen Dimensionen in den Vordergrund treten lässt. Anstelle des magischen ‚Als-ob‘ der traditionellen Rollendarstellung begreift Theater zunehmend seinen Charakter einer lebendigen Begegnung zwischen Schauspielern und Zuschauern in einem realen Raum, führt reale Aktionen aus, verwendet Materialien wie Sand, Wasser, Erde, echte Lebensmittel, bringt Zuschauer und Schauspieler in ‚wirklichen‘ Situationen zusammen. Auch das Theater für Kinder ist von dieser Entwicklung nicht unberührt geblieben. Immer häufiger werden Inszenierungen und Stücke von ihrer Theatralität her entwickelt. Kindertheater ist heute vor allem Theater und erst in zweiter Linie für Kinder gedacht. Bildertheater, Performance, Tanztheater, Installationen, all diese Formen sind auch im Theater für Kinder zu sehen. Das sind Theaterkonzeptionen und Ästhetiken, die allerdings den Pädagogen und denjenigen, die Theater für Kinder finanzieren und als sogenannte ‚Kunden‘ abnehmen, nicht wenige Schwierigkeiten bereiten. Was im Bildertheater zu sehen ist, lässt sich nicht ohne weiteres verbalisieren oder in Einsichten und Urteilen formulieren. Der Begriff des „Lernens“, mit dem Kunsterzeugnisse für Kinder so gerne verknüpft werden, erweist sich hier als problematisch: Der Fokus der Rezeption verlagert sich vom Verstehen zum Erleben. Während das realistische und pädagogische Kindertheater ein höchst mögliches Maß an Eindeutigkeit für den Zuschauer erreichen wollte (dem dienten Dramaturgie und Handlungsführung, die auf Analogiebildung und Wiederholung beruhten), setzt das Bildertheater auf Vieldeutigkeit. Der Zuschauer hat die Freiheit, sich aus dem breiten Spektrum an Zeichen, die seitens der Bühne angeboten werden, Bedeutungen zu generieren, die seinem jeweiligen Erfahrungs- und Verstehenshorizont entsprechen. Ente, Tod und Tulpe6 erzählt vom Sterben und vom Tod. Im minimalistischen Bühnenbild wird mit elektronischer Musik, mit einer Schauspielerin, einem Musiker und zwei Puppen, der Ente und dem Tod, die Geschichte von der Ente erzählt, die ihren eigenen Tod trifft, die Tage gemeinsam mit ihm verbringt, sich ihm annähert und so den Tod als Gestalt kennenlernt, die zum Leben gehört. Auf der Bühne entsteht nach dem Bilderbuch von Wolf

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Bei der hier beschriebenen Inszenierung des gleichnamigen Bilderbuchs (vgl. Erlbruch 2009) für die Bühne handelt es sich um die mehrfach preisgekrönte Produktion von Martina Couturier (Regie: Jörg Lehmann), Berlin 2009.

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Erlbruch eine berührende Bilderwelt, die dem Zuschauer Raum für eigene Gedanken, Gefühle und Assoziationen lässt.

Weder auf der Bühne noch im Zuschauerraum wird Sinn und Bedeutung vorgegeben. Das Theater wird zum ästhetischen Erlebnis, das vom Spiel der Imagination im Zusammenspiel von Bühne, Schauspieler, Zuschauer, Musik und Bild kreiert wird. „Ente, Tod und Tulpe“ (2009)

Foto: © Markus Lieberenz

Allerdings sind nach meiner Beobachtung dergestalt poetische Theateraufführungen, die nicht didaktisch differenzieren, sondern sich vieldeutig an ein vielschichtiges Publikum wenden, inzwischen weniger zu finden. Theatermacher klagen mir, dass sie Probleme hätten, solche Inszenierungen auf dem Spielplan zu rechtfertigen, in den Schulen zu bewerben und bei den Projektförderungen erfolgreich zu beantragen. Nach einer Phase der Egalisierung und Gleichheit ist es gegenwärtig wieder die Besonderheit des Kindes, die im Mittelpunkt von Förderprogrammen, von Bildungsstrategien und eben auch der Theaterästhetik steht, nun allerdings mit negativen Vorzeichen. Ich sehe derzeit im Wesentlichen zwei Entwicklungsrichtungen: Eine tendiert dahin, in erster Linie Theater zu sein und darin sozusagen den Auftrag als subventioniertes Theater zu sehen, die andere versucht, ihre Arbeit den von der Förderpolitik favorisierten Programmen kultureller Bildung einzufügen, mit funktionalisierenden Verengungen.

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D AS GEFÄHRDETE K IND – P ROBLEMKINDHEIT – B ILDUNGSKINDHEIT Kindheit im Jahre 2014 scheint vor allem eins zu sein: problematische Kindheit, gefährdete Kindheit. Die Kinder werden immer weniger. Der demographische Wandel lässt sie zum raren, kostbaren Gut werden, und sie sind immer kürzere Zeit Kind: die Pubertät setzt heute schon mit elf Jahren ein, die Konsumindustrie tut ein übriges, Kindheit zu verkürzen und die Phase der Jugendlichkeit zu verlängern. In dieser Situation heißt Kindertheater immer häufiger nicht Theater für Kinder, sondern Theater mit Kindern. Zusammen mit dem egalitären Kindheitsbild in der Pädagogik ist die Autonome Ästhetik des Kindertheaters auf dem Rückzug. Das Kind wird wieder zum Objekt von Erziehungsstrategien, nun „Bildungsprogramme“ genannt. Im Zuge der zahlreichen neu geschaffenen Programme zur kulturellen Bildung, verbunden mit dem Aktivismus, den die vermeintlich negativen Ergebnisse der PISAStudie in Gang gebracht haben, werden kulturelle Angebote für Kinder nun nach ihrem Bildungswert befragt und evaluiert. Das Theater für Kinder wird so didaktisiert, pädagogisiert und instrumentalisiert als Kompetenzzentrum für defizitäre kleine Menschen. Hier spielen die kompetenzorientierten Bildungsstandards ebenso eine Rolle wie – damit zusammenhängend – die Entwicklung von Evaluationsinstrumenten und empirischer Wirkungsforschung. Zusammen mit den gesellschaftlichen Prozessen der Ökonomisierung von öffentlichen Aufgaben wie Bildung, Erziehung und Soziales wird auch Kunst und Kultur den Parametern der Wirtschaftlichkeit und Berechenbarkeit unterworfen. Effizienzdenken und entsprechende Erhebungen machen vor dem Kindertheater nicht halt. Die Expertokratie nimmt gerade im Zusammenhang mit der breiten Bildungsoffensive, die unter dem Begriff der „Kulturellen Bildung“ zur Breitenwirkung der Künste und auch des Theaters beitragen will, einen bedenklichen Aufschwung – und sie hat Folgen für die Kinder. Spätestens seit dem Hype um die PISA-Studie erscheinen Kinder wieder als bildungs- und erziehungsbedürftige Wesen, als Menschen, die besonderen Schutz und besondere Programme benötigen. Kinder sind vor allem eines: Gegenstand für Spezialisten. Schaut man sich die entsprechenden Ratgeber für Eltern an, so geht ohne wissenschaftliche Experten nichts mehr: der Speziallöffel zum Füttern aus Weichkunststoff ist der Vorläufer des Elternführerscheins, der seine richtige Verwendung beim Füttern zertifiziert. So steht auch der Begriff des Lernens wieder im Zentrum der Pädagogik und der Künste. Unter den Leitwerten von Selbstbestimmung, Leistungsfähigkeit, Stärke und Initiative rücken die Künste, allen voran die Musik, dann der Tanz

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und schließlich das Theater in den Blickpunkt von Förderungs- und Optimierungsstrategien. Die Erfolge ästhetischer Bildungsprozesse in der frühen Kindheit beweist uns stichhaltig die Hirnforschung. Leben wird inzwischen in seiner Plastizität von der Bildbarkeit her betrachtet. Was in den frühen Jahren nicht trainiert wird, wird immer defizitär bleiben. Das Kind ist der potenzielle Athlet, dessen Ausbildung um keinen Preis versäumt werden darf. Inwieweit auch das Theater für die Allerkleinsten, für die Krabbelkinder, das sich inzwischen mit spielerischen und feinfühligen interaktiven Konzeptionen etabliert, dieser Tendenz zuzurechnen wäre, bleibt zu diskutieren. Der Zuspruch für kulturelle Bildungsangebote ist da, wenn ihre Ziele und Ergebnisse Optimierung von Kompetenzen versprechen. Folgt man den soziologischen Studien, so sind Kinder heute Projekte und Objekte der Lebensoptimierung ihrer Eltern. Das Designerkinderzimmer ist ‚in‘. Dabei geht die gesellschaftliche Schere immer weiter auseinander. Haben wir auf der einen Seite die übertrainierten Kinder der sogenannten Bessergestellten, so auf der anderen die vernachlässigten aus prekären Verhältnissen – bis hin zu den Opfern von sexueller Gewalt und Kinderpornographie, welche die extremsten Überschreitungen der Grenze zwischen Kindern und Erwachsenen darstellen. Sie zeigen an, wie stark die Generationengrenze ins Rutschen geraten ist. Die Konsumwelten machen es vor. Studien weisen nach, dass Kindheit für Eltern und Erwachsene im 21. Jahrhundert zunehmend zu einem defizitären, bedrohten und besorgniserregenden Zustand wird (vgl. Kranzl-Nagl/Wintersberger 1998). Kinder sind heute – so die durch die dramatisierende Sicht der Medien beeinflusste Wahrnehmung – ständig Gefährdungen ausgesetzt. Ihre freie Bewegung ist im Stadtraum kaum noch möglich: Das Kind wird zum Objekt zahlloser Präventionsstrategien, an denen auch das Kindertheater regen Anteil nehmen soll. Angeregt durch entsprechende Förderprogramme stehen Stücke zur Verhinderung von Fettleibigkeit, zur Förderung von Gesundheitsbewusstsein und Bewegung, zur Verhinderung sexueller Gewalt, zur Drogenprävention, zum Umgang mit Trauer und Verlust, zur Problematik von Scheidung und Trennung, zur Mülltrennung auf den Spielplänen. Das gefährdete, letztlich defizitäre Kind ist Ausdruck unserer Lebensangst, unserer Optimierungssucht, Projektion des Leistungsdrucks, den eine ökonomisierende Gesellschaft auf Erwachsene ausübt. Ich möchte noch einmal auf unseren alten Freund ETF zurückkommen. Nach Jahren als regelmäßiger Besucher der Kindertheaterfestivals – vielleicht hat er hier inkognito an diesem Band mitgeschrieben – ist er immer noch leidenschaft-

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licher Menschenforscher, aber der Programme, und vor allem der Begriffe, überdrüssig: „partizipativ“, „soziale Kompetenzen“, „Lernen“, „Entwicklung“, „Weltwissen“, „Selbstbewusstsein“ und „Gesundheitsbewusstsein“, „Profilierung“, „Aggressionsabbau“, „Kooperationsfähigkeit“, „Selbst- und Fremdkompetenz“, … Er ist irgendwie frustriert von der Vielfalt der Diskurse über Kindheit. Vor allem das Aufkommen der Hirnforschung, der Kompetenzorientierung und der Bildungsprogramme, die Vielfalt der Theaterinszenierungen, verwirrt unseren Freund. Auch, dass nun Kindertheater vor allem partizipativ sein soll, dass es in der Mehrzahl für besser befunden wird, wenn Kinder selbst Theater spielen, als sich Aufführungen anzuschauen, die Erwachsene für sie spielen, irritiert ETF nachhaltig. In dieser Verfassung reist er gen Süden – zum Theaterfestival 2011 nach Avignon. Da sind die Straßen bekanntermaßen voll von fröhlichen Menschen, von Straßenkünstlern, es gibt Hunderte von Off-Theatertruppen, die das Repertoire der europäischen Moderne anbieten, und natürlich jede Menge Performance und Avantgarde. Jedenfalls keine Kinder. ETF ist irgendwie erleichtert. Allerdings hat er sich da geirrt: Das Festivalprogramm steht unter dem Motto Aux enfants – Kinder, wie er sehen muss. Er hat eine Karte für Boris Charmatz’ Tanztheaterperformance Enfant ergattert: 27 Kinder werden von zwei riesigen überdimensionalen Maschinen bewegt, durch die Luft geworfen, sind Opfer der Erwachsenen, die über ihr Schicksal bestimmen, verfügen, ihre Aufenthalts- und Bewegungsräume definieren. Neun Schauspieler/Tänzer bewegen die willenlosen Kinder wie Marionetten. „Im Bild des ausgelieferten Kindes liegt mehr als das sensible Verhältnis zwischen Kind und Erwachsenem; die Frage: Wie gehen wir grundsätzlich um mit denen, die schutzbedürftiger, schwächer, hilfloser sind als wir selbst? Und da eröffnet uns ‚Enfant‘ den Blick dafür, dass es oft nicht eine direkte Grausamkeit ist, die schmerzt, sondern die Teilnahmslosigkeit von Berührung und Kontaktaufnahme“ (Nehring 2012). Dann, im zweiten Teil des Stückes, erwachen die Kinder und behaupten sich als eigenständige, autonome Wesen, ganz allgemein breitet sich nun ein kindlicher Zugang zur Welt aus, diese Kinder „wirken erstaunlicherweise überhaupt nicht wie von einem Erwachsenen inszeniert oder dirigiert. Obwohl sie sich bruchlos in den Wirbel der Choreographie einfügen, scheinen sie doch keinen Moment fremdbestimmt, sondern so natürlich wie beim Spielen im Kinderladen nebenan“ (ebd.).

Und das ist die eigentliche Leistung dieser Inszenierung: einen Abend zu schaffen, in dem sich Hilflosigkeit in Autonomie verwandelt, „Kinder als vollkommen selbstbestimmte Geschöpfe das Bühnengeschehen übernehmen und ihr

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Welt- und Seinsverständnis als choreographisches Prinzip“ (Nehring 2012) die Aufführung durchdringt. „Enfant“ (2011)

Foto: © Borris Brussey

Am nächsten Abend dann Romeo Castelluccis Sul concetto di volto nel Figlio di Dio7, zu übersetzen als Über das Konzept des Angesichts bei Gottes Sohn, immerhin ist Christus ein Kindheitsbild, das die Bilderwelt unserer Kultur bis heute entscheidend beeinflusst. ETF ist orientiert. Es ist ein Kind, das die Hoffnung der Welt darstellt. Ein Mann im adretten Businessanzug versucht, seinen inkontinenten Vater im weiß möblierten Wohnzimmer zu säubern, immer neue Exkremente dringen durch die Windeln. Er wischt den nackten Hintern des alten Mannes, das Theater stinkt nach Scheiße. Im Hintergrund das Bild Christi als überdimensionales Gemälde. Kinder treten auf, die Schulrucksäcke voller Handgranaten, die sie auf das Bild des Gottessohns werfen... Es erweist sich als unzerstörbar.

Eine Geschichte von Kindern und ihren pflegebedürftigen Eltern. Die Generationentragödie im Jahre 2011. Gott ist nicht tot, sondern ein Pflegefall.

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Produktion: Socìetas Raffaello Sanzio, Cesena; Koproduktion: Theater der Welt, 2010.

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Eine gute Idee, dass sich Erwachsene einmal mit Kindheit befassen, findet ETF, der inzwischen über alle Differenzierungen bestens orientiert ist. Im Übrigen ist unser Extraterrestrischer Freund inzwischen auch zu einem Anhänger des performativen Theaters mutiert, wenn sich auch die fäkalen Originalgerüche in der letzten Aufführung als störend, aber immerhin sehr erlebnisintensiv erwiesen haben. Kindheit ist im traditionellen Theater bisher ein eher marginales Thema. In den großen Texten der Weltdramatik kommen Kinder kaum vor, es sei denn als Grund für Abtreibung, Ehrenmord oder Selbstmord. Das scheint sich gründlich zu wandeln; auch beim Theatertreffen in Berlin sah man 2012 gleich zwei Inszenierungen, die sich dezidiert mit der Sicht- und Erlebnisweise von Kindern befassten.8 Das Kinderbild der Romantik mit ihren Heilserwartungen, das in verschiedenen Ausprägungen das 20. Jahrhundert beherrscht hatte, scheint endgültig ausgedient zu haben.

V OM O BJEKT

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S UBJEKT –

LASST DIE

K INDER

RAUS !

Walter Benjamin (1973/1929) formulierte im Programm eines proletarischen Kindertheaters, das er zusammen mit Asja Lacis schrieb, Kindertheater als einen aktiven Prozess künstlerischer Bildung von Seiten der Kinder. Kinder sollten Theater spielen: nicht nur für sich selbst, nicht nur aus pädagogischen Gründen, sondern um einem erwachsenen Publikum ihre Sichtweise der Welt darzustellen. Theater von Kindern als eine Form von Kinderöffentlichkeit. Eine revolutionäre Theatervision, die Benjamin auf Anregung der russischen Schauspielerin und Pädagogin Asja Lacis formuliert hatte: Kinder spielen Theater, um sich als selbstständige Wesen zu erkennen zu geben. Als Kinder, die nicht nur Objekt, sondern auch Subjekt von Erziehung sein können und einen wesentlichen Pfeiler gesellschaftlicher Veränderungen darstellen. Ein Gedanke, der in Zeiten einseitig fokussierter Indienstnahme des Kindertheaters auf die Wechselseitigkeit der Generationen verweist. Was ist es, was die Kinder uns zu sagen haben? As Night Follows Day ist eine Inszenierung mit 16 Kindern zwischen acht und 14 Jahren, ein Bild strengster Disziplin, Gesicht geradeaus, das Arrangement ei-

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Die Performance-Gruppe lässt Kinder selbst agieren und ihr Leben spielen bzw. reflektieren in Before Your Very Eyes (Regie: Gob Squad). Die preisgekrönte OffTheaterproduktion Conte d’Amour (Regie: Marcus Öhrn) mit Nya Rampen, Finnland, und anderen zeigte eine Geschichte erotischer Bindung und sexuellen Missbrauchs aus der Perspektive der Kinder.

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nes Klassenfotos oder eines Kinderchors tritt dem Publikum frontal gegenüber. Sie sind bereit, zu sprechen, zu singen, zu spielen, unisono oder solo, und immer mehr ganz undiszipliniert die Wahrnehmung der Erwachsenen zu irritieren. „Ihr füttert uns. Ihr wascht uns. Ihr zieht uns an. Ihr singt uns etwas vor. Ihr seht uns beim Schlafen zu. Ihr macht Versprechungen, von denen ihr glaubt, dass wir uns nicht daran erinnern. Ihr erzählt uns Geschichten mit glücklichem Ende und Geschichten mit unglücklichem Ende und Geschichten mit einem Ende, das eigentlich gar kein Ende ist. Ihr erklärt uns, was Liebe ist. Ihr erklärt uns, warum man krank wird und warum es Kriege gibt. Ihr flüstert leise, wenn ihr glaubt, dass wir euch nicht hören können. Ihr erklärt uns, dass auf den Tag die Nacht folgt.“

Dass nach dem Tag die Nacht kommt, ist eine von vielen unumstößlichen ‚Wahrheiten‘, die Eltern ihren Kindern beibringen und mit der sie ihre eigene Welt und die der Kinder definierend formen. That Night Follows Day kippt das System der Gewissheiten; hier hören Erwachsene zu, wie Kinder die erwachsenen Projektionen auf ihre Kinderwelt wahrnehmen und zurückspiegeln.9 Betrachtet man die gegenwärtigen Studien zur gesellschaftlichen Entwicklung von Kindheit und Kindheitsbildern, so fällt auf, dass Kinder entweder überschätzt oder unterschätzt werden. Immer sind sie Ziel, Objekt der Vorstellungen, Wünsche und Ängste, die wir Erwachsenen uns von ihnen machen. Benutzen wir das Theater für Kinder doch auch einmal dazu, den Kindern ein Forum zu geben, Kinderöffentlichkeit darzustellen. Lassen wir uns etwas sagen von ihnen! Lassen wir sie spielen und spielen wir für sie im Theater, frei von didaktischen Aufträgen, pädagogischen Funktionalisierungen und Wunschprojektionen! Das muss nicht immer bedeuten, dass Kinder selbst auf der Bühne stehen und die Skripte schreiben. Alle Autoren und alle Schauspieler tragen ein Kind in sich, auf das sie hören können, dessen Einflüsterungen sie wahrnehmen und erspielen können. Kinder sind nicht nur die ‚Anderen‘, die Jungen, die Unvollkommenen, diejenigen, für die wir Verantwortung übernehmen, sondern Kinder erinnern uns an das, was wir selbst an Anarchischem, an Unangepasstem, an Zartem und Offenem in uns tragen. Für Kinder ist die Welt noch nicht fest geworden, sie können sie immer wieder ins Spiel und aufs Spiel setzen: Gewagt, riskant, wütend und wild. Drückte nicht Max Reinhardt einmal das Verhältnis des Schauspielers zum Kindsein aus, als er das Theater bezeichnete als den se-

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Produktionsplattform Victoria, Belgien (Konzept, Text, Regie: Tim Etchells 2007, UA/UK).

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ligsten „Schlupfwinkel für diejenigen, die ihre Kindheit heimlich in die Tasche gesteckt und sich damit auf und davon gemacht haben, um bis an ihr Lebensende weiterzuspielen“? Im Spiel begegnen sich die Weltzugänge von Kindern und Erwachsenen. Kinder gibt es auf den Straßen und Plätzen immer weniger, umso kostbarer sind sie. Für das Theater sind sie lebensnotwendig. Kindheit und Spiel gehören zusammen wie Spiel und Theater. Spiel ist der Kern der Kunst. Vor allem aber des Theaters (vgl. Hentschel 2008). Das Spiel, das zwischen Schauspieler und Zuschauer, Bühne und Publikum, Realität und Phantasie oszilliert, um uns in seinen besten Stunden etwas ganz Persönliches zu schenken, das wir mit anderen teilen können. Als Erwachsene brauchen wir, was Kinder uns geben können – wenn wir sie nur ließen...!

L ITERATUR Adorno, Theodor W./Horkheimer, Max (2005/1936): Studien über Autorität und Familie. Forschungsberichte aus dem Institut für Sozialforschung. Mit einem Vorwort von Ludwig von Friedeburg. Reprint der Ausgabe Paris 1936, Lüneburg: Zu Klampen. Benjamin, Walter (1973/1929): „Das Programm eines proletarischen Kindertheaters“, in: Ders., Über Kinder, Jugend und Erziehung. Mit Abbildungen von Kinderbüchern und Spielzeug aus der Sammlung Benjamin, Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Erlbruch, Wolf (2009): Ente, Tod und Tulpe, München: Antje Kunstmann. Habermas, Jürgen (1981): Theorie des kommunikativen Handelns (Band 1: Handlungsrationalität und gesellschaftliche Rationalisierung, Band 2: Zur Kritik der funktionalistischen Vernunft), Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Hentschel, Ingrid (1986): „Die Schauspieltechnik und der Spiel-Raum des Zuschauers“, in: Dies., Kindertheater – Die Kunst des Spiels zwischen Phantasie und Realität, Frankfurt a. M.: Brandes & Apsel, S. 337-362. Hentschel, Ingrid (1994): „Das Kind ist gut, das Leben schlecht... oder wer sieht eigentlich durch den Spiegel? – Kindheitsbilder im emanzipatorischen Kindertheater“, in: Jörg Richard (Hg.), Kindheitsbilder im Theater, Frankfurt a. M.: Haag und Herchen, S. 17-36. Hentschel, Ingrid (1996): „Über Grenzverwischungen und ihre Folgen. Hat das Kindertheater als Spezialtheater noch Zukunft?“, in: Annett Israel/Silke Riemann (Hg.), Das andere Publikum, Berlin: Henschel, S. 31-47.

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Hentschel, Ingrid (2007): „Seismographen von Kindheit – Pädagogische und ästhetische Entwicklungen im Kindertheater“, in: Gerd Taube (Hg.), Kinder spielen Theater, Milnow: Schibri, S. 102-121. Hentschel, Ingrid (2008): Dionysos kann nicht sterben – Theater in der Gegenwart. Teil II: Imagination und Spiel, Münster: LIT. Hentschel, Ingrid (2010): „Der Gegensatz von Spiel ist nicht Ernst, sondern Wirklichkeit! Spielverlust und Deep Play – Über performative Paradigmenwechsel im Theater der Gegenwart“, in: Florian Vaßen (Hg.), Korrespondenzen. Theater – Ästhetik – Pädagogik, Berlin: Schibri, S. 43-60. Kranzl-Nagl, Renate/Wintersberger, Helmut (1998): „Über die Bilder von Kindheit“, in: Medien-Impulse 25, S. 4-12, online unter www.fachportal-paeda gogik.de/fis_bildung/suche/fis_set.html?FId=491841&mstn=7 (Stand: 15.12. 2012). Nehring, Elisabeth (2012): Sendung über Enfants im Deutschlandradio Kultur, 3.12.2012. Richter, Dieter (1987): Das fremde Kind. Zur Entstehung der Kindheitsbilder des bürgerlichen Zeitalters, Frankfurt a. M.: Fischer. Stamer, Gerhard (2011): Das Kamel, der Löwe und das Kind. Vortrag anlässlich der Hannoverschen Vorträge zum Kindertheater zur Eröffnung des Kindertheaterhauses am 12. Mai 2011 in Hannover. Unveröffentlichtes Vortragsmanuskript. Tiedemann, Kathrin/Raddatz, Frank (Hg.) (2007): Reality strikes back. Tage vor dem Bildersturm (= Recherchen, Band 47), Berlin: Theater der Zeit. Viktor, Marion (Hg.) (1989): Spielplatz, Band 2, Frankfurt a. M.: Verlag der Autoren.

Müssen wir heute wieder machen, was wir selber wollen? Das Paradox beauftragter Selbstständigkeit I NGE S CHUBERT

Die 10-jährige Lara, die im Rahmen eines bildungswissenschaftlichen Forschungsprojektes1 interviewt wurde, setzt große Anstrengungen in ihr schulisches Fortkommen. Lara erklärt: „Mein größtes Ziel ist es eigentlich, dass ich wirklich ‘ne ordentliche Ausbildung schaffe und dass ich da wirklich hinterher im Leben gut weitermachen kann.“

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Es handelt sich um das Forschungsprojekt „Zum sozio-emotionalen Selbstverständnis hochbegabter Schülerinnen und Schüler. Eine Prozessanalyse von Bildungsverläufen in der Perspektive themenzentrierter qualitativer Interviews“. Beteiligte Institutionen: Pädagogische Hochschule Karlsruhe, Sigmund-Freud-Institut Frankfurt a. M., GoetheUniversität Frankfurt a. M.; Projektleitung: Prof. Dr. Dr. Rolf Haubl, Prof. Dr. Timo Hoyer, Dr. Inge Schubert, Prof. Dr. Gabriele Weigand; Wissenschaftliche Mitarbeit: Erica Augello, Marizela Brkic, Simon Dechert, Lone Grießl, Sebastian Jentsch, Dr. Angela Kühner, Panja Schweder, Sara Widmann. Ziel des Projektes ist es, genauere Einblicke in die subjektiven Theorien von (Hoch-)Begabung zu gewinnen. Analysiert wird, wie als „hochbegabt“ getestete Kinder und Jugendliche ihre Begabung im familiären, sozialen und schulischen Bereich wahrnehmen, wie sie ihren Sonderstatus ins Selbstbild integrieren, welche Verarbeitungsformen sie entwickeln und welche (lern-) biographischen und psychodynamischen Entwicklungen das Label „hochbegabt“ hervorruft. Zudem werden begabungsförderliche und -hinderliche Faktoren im Verlauf von Kindheit und Jugend erfasst. Das Projekt läuft seit Juli 2009 und ist auf einen Zeitraum von vier Jahren angelegt.

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Das eigentliche Leben beginnt in Laras Vorstellung erst ‚hinterher‘, wenn sie es geschafft hat mit der Schule. Ein Zukunftswunsch von Lara ist es, dass sie später – so wie die Eltern – „in der Wirtschaft“ arbeiten kann. Das gegenwärtige Schulund Internatsleben verlangt Lara emotionale Entbehrungen und eine hohe Selbstdisziplinierung ab. Selbstmanagement und Selbstbildungsprozesse von Kindern sind im Konzept von Laras Schule wichtige Prämissen. Das selbstbestimmte Lernen der Schüler ist in einen hoch strukturierten Zeitrahmen eingebettet, in einen bis ins Detail durchorganisierten 14-Stunden-Tagestakt mit festen Zeitfenstern. Das Konzept der Selbstbildung von Kindern verortet sich also in einem stark reglementierten Schulleben, in dem ein immenses Tempo, hohe Leistungsstandards und ein großes Maß an Kontrolle herrschen. Lara nimmt den Verzicht auf unstrukturierte Zeit und Freiräume abseits von Schule auf sich für ein Zukunftsversprechen und die Hoffnung auf ein Leben danach. Sie erklärt im Interview, ebenso wie viele andere Kinder ihrer Schulklasse, dass sie sich die Internatsschule, die sie besucht, selbst im Internet ausgesucht hat, dass sie sich selbst für die Schule entschieden hat. Sie begreift ihre Entbehrungen und ihren Verzicht als selbst gewählte Entscheidung für eine gute Zukunft. Nun sind Kinder, die Heimweh haben und die an sie gestellten Anforderungen und Herausforderungen bestehen wollen, kein neues Phänomen modernisierter Gesellschaften. Bezogen auf die Geschichte von Kindheit und die Geschichte von Schule befinden sich Kinder in Laras Alter an der Schwelle, an der die Internalisierung geltender Normen mit über die weitere Schulkarriere entscheidet. Mit dem Ende der Grundschulzeit werden Kinder nicht nur nach Leistungsnormen segregiert. Kinder werden auch im Hinblick auf die Zivilisierung ihres Verhaltens und ihre Fähigkeit zur Selbstdisziplinierung beurteilt. Schulempfehlungen und Bewertungen richten sich auch danach, in welchem Maß Kinder geltende Normen gesellschaftlicher Affektregulierung verinnerlicht haben (vgl. Haubl 2007). Schulische Leistungen und ihre Prämierungen gehen in der Regel einher mit Anpassungsleistungen, die Kinder erbringen. Wenn Kinder die institutionellen Einpassungszwänge in ihr Selbstbild übernehmen, werden die Anforderungen von Schule und Gesellschaft zumeist weniger als Zumutungen erlebt und mehr als Herausforderungen gesehen, denen sie sich stellen, weil diese zukünftige Gratifikationen versprechen (vgl. ebd.). Von den in der Studie untersuchten Schülern repräsentiert Lara einen Typus von Schülerin, deren besondere kognitive Fähigkeiten sich mit enormen Anpassungsleistungen verschränken. Laras Kinderleben zeichnet sich aus durch eine beschleunigte Entwicklung und einen starken Bildungsbezug. Lara ist mit vier Jahren eingeschult worden und hat eine Grundschulklasse übersprungen. Ihre frühe Einschulung hat sie sich zum eigenen Projekt gemacht und in ihr Selbst-

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bild übernommen. Sie differenziert sich darüber von ihrer Zwillingsschwester, die regulär eingeschult wurde. Lara ist ihrer Zwillingsschwester zwei Klassenstufen voraus. Im Gegensatz zu ihr hat Lara ein hohes Lerntempo, das sie in der Grundschulklasse in eine Außenseiterrolle bringt. Lara bezeichnet ihre Schwester als „die Normalere“. Im Gegensatz zur ihr hatte die Schwester viele Freunde in der Grundschule. Lara verfügt über ein enormes Wissen über die Ordnungsstrukturen und die Programmatik der neuen Schule, das sie bereitwillig präsentiert. Sie wirkt darin merkwürdig wenig identifiziert. Lara weiß sich Situationen flexibel anzupassen, sie erfüllt sozial erwünschte Erwartungen. Im Kontakt mit den neuen Kindern der Schulklasse antizipiert sie deren soziale Erwartungen. Lara macht ihre Aussagen und Antworten abhängig von den Vorstellungen und Erwartungen der anderen, „also es kommt drauf an, das was die [Mitschüler, I.S.] halt hören wollen“. Vor dem Hintergrund der ihr aufgegebenen frühen Autonomisierung, die mit einem häufigen Wechsel von Gruppenzugehörigkeiten verbunden ist, zeigt sich Lara als erfolgreiches, flexibles Kind, das hinter einer vordergründigen Autonomie an die Normen der anderen gebunden ist: an die Familie, das Projekt der Schulkarriere und die Vorstellungen der anderen Mitschüler. Lara übernimmt die Rolle des ‚vernünftigen‘ Kindes, das ihren ‚Verstand‘ auch im Alltag einzusetzen weiß. Abgrenzungsfigur ist ihr Cousin, der nach ihren Aussagen „im Prinzip nur Blödsinn“ macht. Dieser lässt in der Mikrowelle Schokoküsse platzen und Schallplatten zu Schüsseln verformen. Lara weiß sich zu verhalten. Sie rennt nicht so wie der Cousin einfach in Socken auf die Wiese. Lara diszipliniert sich selbst darüber, dass sie „weiß, dass Grasflecken nicht rausgehen“. Mit ihren Anpassungsleistungen bewegt sich Lara in Widersprüchen. Sie beschneidet sich darin, Akteurin lustvoller Streiche zu sein, und wird zur Voyeurin von verbotenen Kinderspielen. Sie erlebt ihre Schulsituation im Internat als narzisstische Aufwertung und zugleich als Trennungssituation, unter der sie leidet. Die hohe Anpassungsleistung und Flexibilität, die Lara für eine gute Zukunft einsetzt, hat aber auch einen Preis. Lara, die den Fremdzwang zum Selbstzwang gemacht hat (vgl. Fertig 1984), gerät mit ihren kognitiven Wahrnehmungen und affektiven Bedürfnissen in Widersprüche. So stellt Lara in ihrer Erzählung über die Schule und das Internatsleben paradoxe Eindrücke nebeneinander: „Also zwischen manchen Menschen ist es echt brutal hier, aber sonst verstehen sich eigentlich alle ziemlich gut“. Forcierte frühe Autonomisierungsstrebungen, so zeigt die Fallrekonstruktion von Lara, binden Kinder an die Eltern und ihre auf die Kinder übertragenen Wünsche. Autonomisierung und Individuation von heranwachsenden Kindern

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finden im Spannungsfeld von Bindung und Ablösung statt (vgl. Schubert 2005). Es geht dabei um einen innerpsychischen sozioemotionalen Selbstbildungsprozess von Kindern, der sich nicht über pädagogische oder institutionelle Vorgaben oder elterliche Aufträge herstellt. Lara fühlt sich auf merkwürdige Weise mehr den Messwerten ihrer Begabung und wenig den Erwartungen der Eltern verpflichtet. Dennoch möchte sie diese nicht als positive Herausstellung annehmen. Sie erklärt dazu: „Weil im Prinzip wenn man irgendwas [an Begabung, I.S.] hat, wenn man jetzt zum Beispiel ‘nen 5-Euro-Schein auf der Straße findet und man einfach weitergeht, dann ist der nichts Besonderes im Prinzip. Aber wenn man ihn mitnimmt und irgendwie feststellt, es ist ‘n gefälschter, den irgendjemand mitnehmen soll, dann merkt man irgendwann, das ist etwas Besonderes.“

Lara beschreibt den Umgang mit ihrer kognitiven Begabung im irritierenden Bild eines auf die Straße gelegten gefälschten 5-Euro-Scheins. Sie vergleicht ihre Begabung mit Falschgeld, das aufgehoben und gewinnbringend eingesetzt werden sollte. Erst dann kann es als etwas Besonderes angesehen werden. Damit Lara als etwas Besonderes gesehen wird, muss sie sich erst noch bewähren. Die Interviewrekonstruktion macht deutlich, dass Lara den an der Testung festgemachten Bildungsauftrag vordergründig in ihr Selbstbild übernimmt. Die besonderen kognitiven Fähigkeiten und die ihr zugeschriebenen Potenziale erscheinen dabei als etwas Fremdes. Es wird deutlich, dass der moderne Topos der Selbstbestimmung von Kindern ein höchst widersprüchliches Konstrukt ist. Das neoliberale Konzept der Selbstbestimmung hat Bedürfnisse von Kindern wenig im Blick. Bezugspunkt sind vielmehr antizipierte Zukunftsvorstellungen einer Wissens- und Leistungsgesellschaft, die von ökonomischen Interessen geleitet sind. Auch in Aushandlungsprozessen von Eltern und Kindern kommen Hoffnungen, Ängste, Zukunftsvorstellungen, Vorgaben, manipulative Einflussnahme und Machbarkeitsphantasien von Erwachsenen zum Tragen, die oftmals die Bedürfnisse von Kindern verfehlen. In den Gruppeninterviews mit den Eltern der Kinder wird deutlich, dass Kinder auch autonom und erwachsen entworfen werden, weil schwierige Familien- und Arbeitssituationen Eltern in ihren Möglichkeiten einschränken. Mit einer traditionell-entwicklungstheoretischen Perspektive, in der Kinder in einem psychosozialen Schonraum gedacht sind, werden Kinder wie die 10jährige Lara, die sich selbst als handelnde Subjekte und wenig als Objekte von elterlichen Vorstellungen und Bildungserwartungen sehen, mehr im Hinblick auf

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ihre Überforderung und weniger im Hinblick auf ihre Gestaltungskraft wahrgenommen. Dass die Mehrzahl der Kinder aus Laras Schulklasse angibt, die Schulwahl letztlich selbst getroffen zu haben, was ja eine weitreichende Entscheidung ist, verweist auch auf Veränderungen in Eltern-Kind-Verhältnissen und pädagogischen Bezügen, die mit dem gesellschaftlichen Wandel einhergehen. Vor dem Hintergrund liberalisierter elterlicher Erziehungsverhältnisse werden vor allem Kinder aus bildungsorientierten Schichten heute mehr und früher dazu angehalten, selbst die Regie über sich und ihre Bildungsbiographie zu übernehmen. Das Fallbeispiel Lara macht deutlich, dass Eltern und Erwachsene wenig als Personen zur Verfügung stehen, an denen Affekte festgemacht und verhandelt werden können. Aus der Trennungssituation heraus entwerfen sich Eltern und Kinder oftmals in einer idealisierten Nähebeziehung. Aus dem Schuldgefühl heraus, die Kinder für das Bildungsprojekt weggegeben zu haben, entwerfen Eltern das Familienleben nicht selten im Bild einer idyllischen Gemeinschaft. Lara und die Kinder ihrer Klasse sind im Hinblick auf ihr psychoemotionales Erleben weitgehend auf sich selbst und die Peers zurückgeworfen. Vor dem Hintergrund ihrer erlebten Selbstbestimmung haben sie kein erwachsenes Gegenüber, an dem sie aggressive Impulse festmachen und abarbeiten könnten.

S ELBSTDISZIPLINIERUNG

UND

AFFEKTKONTROLLE

Max, ein Schüler aus Laras Klasse, thematisiert im Interview die eigene Selbstdisziplinierung. Er berichtet, wie er sich selbst dazu bringt, seine Unlust zu überwinden, um sich den schulischen Anforderungen und Pflichten zu stellen. Max erklärt seine Schwierigkeiten beim „geführten Lernen“ in der Schule, er wünscht sich in die Gruppe „der freien Lernzeit“, in der die schulischen Pflichten ohne vorgegebenen Rahmen erledigt werden können. Er hat aber Zweifel daran, ob er es schafft. Max zeigt sich im Interview als ehrgeiziger Schüler, auf der Suche nach geeigneten Lernstrategien. Er spricht vom „Zähne zusammenbeißen“ und seiner Selbstüberwindung. Max vergleicht seine Überwindung bei den Hausaufgaben und beim Lernen für Schularbeiten mit seinen harten Erfahrungen im Sport. Man müsse den körperlichen Schmerz überwinden, damit es zu einem Lerneffekt kommt. Sich selbstbezogen auf die gestellte Aufgabe und die eigene Leistung zu konzentrieren, sich nicht ablenken zu lassen von anderen Reizen, ist für Max ein wichtiger Wert. Als Beispiel für seine Fähigkeit, abzuschalten und sich ganz der vorgegebenen Aufgabe zu widmen, beschreibt Max eine Situation der Testung im Auswahlverfahren der Schule. Max erinnert eine vorgeführte Filmszene, in

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der eine Frau im Rollstuhl schreiend den Berg herunter gerollt sei. Es sei ihm im Gegensatz zu einem anderen Jungen gelungen, sich auf die vorgegebene Testungsaufgabe zu konzentrieren und sich nicht vom Film ablenken zu lassen. Der Junge, der dann nicht aufgenommen worden sei, habe die Unfallszene immer wieder zurückgespult und hätte dummerweise auch gelacht. Max ist froh darüber, dass er das Auswahlverfahren geschafft hat und von der Schule angenommen worden ist. Ein starkes Abgrenzungsbild ist für Max das Berufsbild des Kassierers. An der Kasse möchte er auf keinen Fall „enden“. Auch die Sicherheit des Lehrerberufs, den seine Eltern ausüben, ist für Max wenig interessant. Sein Wunsch ist es, einmal zu studieren und einen „höheren“ Beruf ergreifen zu können. Pilot für Langstreckenflüge ist für Max ein Traumziel. Er erzählt von der Strategie von einzelnen Mädchen seiner Klasse, sich mit Gummibärchen über das Heimweh hinwegzuhelfen. Er erklärt, dass es seine Lernstrategie sei, sich mit Kakao oder Klavierspielen zu helfen. Max ist Externer in seiner Klasse. Er möchte gerne auch Internatsschüler sein. Er gibt an, dass er es jetzt noch nicht als Internatsschüler schaffen würde, aber vielleicht einmal später. Er betont, dass er einen eigenen Raum für sich braucht und auch den engen Kontakt zu seinen Eltern, insbesondere zu seiner Mutter, die er bei der täglichen Hausarbeit unterstützt. Seine soziale Seite ordnet Max einem vermuteten „Mädchen-Gen“ zu. Max möchte es besser als seine älteren Brüder machen, die den Eltern mit ihrem unbedachten Lebenswandel Sorgen bereiten. Die Anstrengungsbereitschaft, die Max im Hinblick auf seine schulische Karriere zeigt, und das hohe Maß an Selbstdisziplinierung stehen auch im Zusammenhang mit den Selektionsverfahren und Testungen der Internatsschule, die Schüler nicht nur im Hinblick auf Leistung und Intelligenz auswählt, sondern diesen auch ein soziales ‚Casting‘ abverlangt. Insofern sagen die Antworten von Max an vielen Stellen mehr über vorgestellte und sozial erwünschte Eigenschaften, über mögliche zukunftsrelevante Kompetenzen, die im Rahmen von Schule Erfolg versprechen, und weniger über die Bedürfnisse und eigenen Strebungen aus. Die Selbsterklärungen von Max werfen auch ein Licht auf Diskurse um Bildung, Erziehung, Familie und Schule, in denen Kindern als künftigem Humankapital generativ das Projekt einer antizipierten Zukunft in einer globalisierten Wissens- und Leistungsgesellschaft aufgegeben wird.

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T EMPORALISIERUNG

UND

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O PTIMIERUNG VON K INDHEIT

Die Soziologinnen King und Busch (2012) fokussieren die Auswirkungen gesellschaftlicher Zeitverhältnisse auf die familialen Bedingungen des Aufwachsens von Kindern. Sie verweisen auf Paradoxien in Familien, die versuchen, ihren Kindern bestmögliche Voraussetzungen für ihre Zukunft mitzugeben. In ihrem Bemühen um die Kinder, so King und Busch, geraten Eltern in widersprüchliche Logiken von Fürsorge und Effizienz, von elterlichen Idealen und praktischer Zeitnot, die das angestrebte Ziel der Optimierung von Lebenschancen oftmals konterkarieren. Unter beschleunigten, flexibilisierten und entgrenzten Verhältnissen verändern sich nicht nur äußere Rahmenbedingungen von Familien, sondern auch familiale Beziehungs- und Bewältigungsmuster. Die Verlagerung von Leistungsanforderungen auf zunehmend frühe Phasen des Lebens und Tendenzen der Verdichtung und Verkürzung, wie sie in der Umstrukturierung von Bildungseinrichtungen stattfinden, nehmen auch Einfluss auf die familialen Interaktionen. Insbesondere Mittelschichtseltern sind bemüht, ihren Kindern über die Angebote von Schule hinausgehende Förderung zukommen zu lassen. Mütter geraten dabei als Coaches ihrer Kinder häufig in die Kritik. Aus der Perspektive von Kindern werden Bring- und Abholdienste und die Zeit im Auto weniger als Belastung und mehr als Gemeinsamkeit wahrgenommen.

S CHULE

UND

L EISTUNGSGESELLSCHAFT

Historisch gesehen fordert die moderne Leistungsgesellschaft ein Leistungsethos im Hinblick auf kognitive Fähigkeiten, dem die soziokulturelle Vorstellung der Erfüllung von Rollenpflichten zugrunde gelegt wird. Der Anpassungsauftrag, Kinder auf ein Leben in der Erfüllung von Rollenpflichten vorzubereiten, ist ein Strukturelement von Schule und Erziehung (vgl. Combe/Helsper 1994), das sich auch unter den Bedingungen von modernisierten Gesellschaften weiter fortzusetzen scheint. Kinder sind in modernen Leistungsgesellschaften im Hinblick auf ihre zukünftige Leistungsfähigkeit, ihre Verpflichtung auf Leistung und deren Verwertung von besonderem Interesse. Die Institution Schule übernimmt hier die Aufgabe, Schüler auf eine antizipierte Zukunft vorzubereiten und danach zu selektieren, ob und wie weit sie fähig und bereit sind, gesellschaftliche Leistungen zu erbringen.

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D IAGNOSTIK UND M EDIZINALISIERUNG „ POSTDISZIPLINARE “ V ERFAHREN

ALS

Lern- und (Hoch-)Begabungsdiagnostik und das Projekt der Gesundheitsprävention werden im Hinblick auf eine bessere Förderung von Kindern heute in großem Umfang praktiziert. Sie sind Bestandteile moderner Schul- und Förderkonzepte. (Lern-)Diagnostik und Risikodiskurse sind zugleich auch Instrumente, die Zugehörigkeit und Teilhabe, Passungen und Anpassungen herstellen (vgl. Liebsch 2012). Robert Castel (1983, zit. n. Liebsch 2012) nennt diese Anpassungen „postdisziplinare“ Verfahren. Er fasst die unablässige Arbeit an sich selbst zum Wohl eines effizienten und anpassungsfähigen Subjekts als instrumentellen Zugriff auf die Person und ihre Umwelt als Summe verschiedener Faktoren. Zugehörigkeit und Teilhabe werden neben postdisziplinaren Verfahren zu einem relevanten Teil über Zwang, Kontrolle und Anpassung realisiert. Mit Castel können Diagnostik und Prävention als neue Verfahren der Regelung von Zugehörigkeit und Ausschluss betrachtet werden, die Individuen und Gruppen hervorbringen und formieren (vgl. ebd.). So sind beispielsweise die im Rahmen von Schuleingangsuntersuchungen erfolgte Klassifizierung der Kinder entlang von Entwicklungsstandards sowie die regelmäßig vergleichende Leistungsmessung von Schülern eine Form der Etablierung neuer Normen (vgl. Kelle 2010; Liebsch 2012). Die „technokratische Administration von Differenz“ (Castel/Castel/Lovell 1982, zit. n. Haubl/Liebsch 2010) erzeugt individuelle und gruppenbezogene Kategorisierungen und Besonderungen von Kindern, die auf deren psychosoziales Selbstbild Einfluss nehmen. Auch die Praxis der Hochbegabungstestung erzeugt neue Gruppen und Identitäten, die neue Zuordnungen und Hierarchien herstellen. Die IQ-Testung als normative Konstruktion wird dabei zu einem neuen Bezugspunkt, über das sich Kinder in der Schulklasse im Hinblick auf soziale und genetische Erklärungsmuster zueinander in Beziehung setzen. Getesteten Kindern droht die Gefahr einer Stigmatisierung, wenn sie im Vergleich zu ihren Peers als wertvollere bildungspolitische Ressource angesehen werden (vgl. Haubl 2012; Schubert 2011, 2012). Unter den Bedingungen einer verschärften Leistungskonkurrenz werden pädagogische Probleme und störende Verhaltensweisen von Kindern vermehrt an das Medizinsystem delegiert (vgl. Haubl 2007; Hengst 1981), während darunterliegende Beziehungsdimensionen ausgeblendet bleiben. Dies erschwert Bemühungen, sinnverstehend mit nicht passungsfähigen Verhaltensweisen von Kindern umzugehen. Die umstrittene AD(H)S-Diagnose und -Medikation erfasst hauptsächlich männliche Kinder, die wiederum durch Abweichungen und Auffälligkeiten typi-

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siert und durch die Medikation körperlich reguliert werden. Kinder mit geringen Anpassungsleistungen werden so als „Störer“ kategorisiert. Ihr Verhalten wird mit einer medizinischen Diagnose in Verbindung gebracht, die wiederum andere mögliche Ursachen, wie schulische Unter- und Überforderungen, soziale Anpassungsschwierigkeiten o. ä., außer Betracht lässt. Das Phänomen, dass auch kognitiv begabte Kinder, denen schulische Leistungen zumeist ein Leichtes sind, sich in der Schulklasse als Marginalisierte erleben, wirft ein Licht auf schulische Normativitätserwartungen. Die Diagnostizierung der Abweichung und Besonderung bringt für getestete hochbegabte Kinder ein positives Stigma, unter dem sie im Hinblick auf ihre soziale Einbindung und Anerkennung in der Schulklasse zumeist auf neue Weise leiden (vgl. Schubert 2011, 2012). Das Aufspüren und Identifizieren von Abweichungen und Risikofaktoren ist zu einem festen Bestandteil heutiger Kindheit geworden, das bereits mit der pränatalen Diagnostik beginnt und Einfluss auf die Eltern-Kind-Beziehung nimmt. Die Optimierung des Kindes, dessen Vermessung und Diagnostizierung, ist für Eltern Auftrag und Risiko zugleich. Mit dem Eintritt in die außerfamiliale Betreuung – mit den Bildungsstandards zur frühkindlichen Entwicklung – verlagert sich die Kontrolle und Regulation von dem privaten Raum zunehmend in den öffentlichen Raum.

E LTERLICHE ABSTIEGSÄNGSTE UND O PTIMIERUNGSSTREBUNGEN Insbesondere in Mittelschichtsfamilien wirken Abstiegsängste und in die Kinder gesetzte Zukunftserwartungen in die Alltagskommunikation hinein. Haubl (2007) verweist darauf, dass die Proletarisierung der Mittelschicht bei ihren Mitgliedern die Angst vor sozialer Desintegration erhöht, die diese – in ihrer Leistungsideologie verhaftet – durch eine Steigerung ihrer Anpassungsleistungen zu bewältigen suchen. Dieser paradoxe Bewältigungsmodus wird in bildungsnahen Elternhäusern zumeist an die Kinder weitergegeben. Unter den Bedingungen einer zunehmenden Dynamisierung des Arbeitsmarktes samt der dadurch erzwungenen Aggressivierung der Selbstvermarktung der eigenen, flexibel einsetzbaren Arbeitskraft erhöht sich in den Familien zugleich die Gefahr einer Destabilisierung. Eltern geraten zunehmend unter Druck, Kindern möglichst früh eine optimale Förderung zukommen zu lassen. Kinder sind in unterschiedliche Arrangements elterlicher Arbeitsteilung und elterlicher Care-Leistungen sowie in das Management der Vereinbarkeit von Familie und

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Beruf, eingebunden. Vor dem Hintergrund einer durchaus gelingenden Praxis der Pluralisierung von Familienformen stehen Eltern oftmals unter Legitimationszwang gegenüber einer herrschenden Familienideologie, die auf überkommene, traditionell-bürgerliche Familienbilder zurückgreift. Auch die Institution Schule greift auf normative bürgerliche Familienbilder zurück, wenn es um Erwartungen an Eltern und geforderte Unterstützungsleistungen für die Kinder geht. Die Konflikte zwischen Eltern- und Lehrerschaft um G8- oder G9Karrieren, Auf- und Abstufung von Kindern und Optimierungsstrebungen beginnen oftmals schon im ‚Casting‘ der besten Grundschule, in das viele Kinder einbezogen werden. Im Konkurrenzkampf um die besten Plätze im Hinblick auf das Ranking von Schulen erfahren Kinder Prinzipien neoliberaler Selbstvermarktung und institutioneller Regulierung, die über Zugehörigkeit und Ausschluss entscheiden. Die Logiken von schulischer Eliteförderung und Selektion sind insofern nicht nur als institutionseigene Logiken verstehbar. Sie werden auch in der Konkurrenz um die wenigen Plätze von den Eltern und Institutionen mitkonstruiert.

AUTONOMIE

UND

H ETERONOMIE

Autonomie und Trennungsfähigkeit sind in Hinblick auf Zukunftsperspektiven in einer globalisierten Gesellschaft wichtige „Kompetenzen“, die aus der Erfahrung verlässlicher Beziehungen erwachsen. Kinder positionieren sich zu lebensweltlichen Erwartungen und elterlichen Entwürfen im Spannungsverhältnis von Autonomie und Bindung. Sie setzen sich ins Verhältnis zu bestehenden Normen und Werten und positionieren sich zu gesellschaftlichen Diskursen. Die Kindern angetragene Autonomie wird zumeist in den Dienst des Bildungsentwurfs gestellt. Autonomie verschiebt sich dabei in Antizipation der Bedingungen des zukünftigen Arbeitsmarkts hin zur Fähigkeit des Aushaltens von Heteronomie, hin zur möglichst reibungslosen Unterwerfung unter Sachzwänge. Soziologische und pädagogische Perspektiven in der Kindheitsforschung suchen die Frage nach dem Verhältnis von Individuum und Gesellschaft, Selbstbildung und Fremdbestimmung, Subjekt und Objekt vor dem Hintergrund unterschiedlicher theoretischer Bezüge zu beantworten. Kinder sind Akteure, die einerseits handelnd in ihre Umgebung eingreifen und die Entdeckung und Begründung von Differentem und Neuen vorantreiben. Sie bringen andererseits die Reproduktion des Bestehenden als eine Facette ihrer Individuation hervor. Um den Zusammenhang solch dialektisch-ambivalenter Prozesse zu fassen, sollen nachfolgend Perspektiven von Kindheitsforschung

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und gesellschaftliche Rahmenbedingungen moderner Kindheit weiter beleuchtet werden.

K INDHEIT

IN DER POSTMODERNEN

G ESELLSCHAFT

Unter den Bedingungen der Pluralisierung familialer Lebensformen, der Veränderung traditioneller Geschlechterarrangements und veränderter gesellschaftlichökonomischer Rahmenbedingungen haben sich gegenwärtig neue Diskurse von Bildung und Erziehung herausgebildet, in denen Kindern mehr Raum für Autonomie und Selbstbildung gegeben und zugesprochen wird. Konzepte der frühen Selbstbildung- und Autonomisierung von Kindern finden zunehmend Eingang in pädagogische Institutionen (vgl. Hessisches Sozialministerium 2011). Auch in der Kindheitsforschung ist eine solche Wende zu verzeichnen. Ausgangspunkt ist der gesellschaftliche Wandel, der sich in einer neuen soziologischen Perspektive auf Kindheit und Kinder spiegelt. In westlich modernisierten Gesellschaften, in denen Kinder durch Bildung auf ein künftiges Arbeitsleben vorbereitet werden, hatten sich ursprünglich kindbezogene Wissenschaften entwickelt. Kinder waren darin aus einer adultistischen, auf Entwicklungsziele in der Zukunft bezogenen Perspektive konzipiert: als Objekte von Erziehung, Sozialisation, Beschulung und Versorgung (vgl. Erikson 1982; Parsons 1968 u. a.). In einer langen historischen Tradition sind Kinder in die normativen Schonräume der sie organisierenden bürgerlichen Kernfamilie und der spezialisierten Kinderinstitutionen hereingenommen worden, in denen sie als geschützt und ausreichend versorgt konzipiert waren im Sinne der Vorbereitung auf ihre spätere Position als Erwachsene (vgl. Hengst/Zeiher 2005). In der neuen Kindheitssoziologie werden Kinder nicht mehr vorrangig als im Aufwachsen Befindliche konstruiert. Kindern wird vielmehr der Status als Bevölkerungsgruppe mit eigenständiger, gegenwärtiger Position und Aktivität und eigenen Rechten in der Gesellschaft zugesprochen. Das Kindheitsbild in der Spätmoderne erhält in den kindbezogenen Wissenschaften und Forschungstraditionen eine neue Akzentsetzung, vom Werdenden hin zum Seienden, vom Zukunftsbezug zum Gegenwartsbezug (vgl. Qvortrup et al. 1994; Zeiher 1998; Hengst/Zeiher 2005). Forschungstraditionen der Sozialisationsforschung und Sozialpsychologie, die sich mit der Erforschung von Individuation und Vergesellschaftungsprozessen befassen, verschränken Prämissen der Sozialisationsforschung mit Perspektiven der kritischen Dekonstruktion von Subjektpositionen. Eine solche Perspektivenverschränkung nimmt die ideologische und inszenierte Qualität der

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Wahrnehmungen und Selbstbilder von Kindern sowie die Zuschreibungen auf Kinder in den Blick. Anschlüsse an dekonstruktivistische Theorien erweitern sozialpsychologische und psychoanalytische Forschungsansätze. Eine solche Multiperspektivität stellt weitere Sichtweisen zur Verfügung im Hinblick darauf, was es den Individuen ermöglicht, sich und ihre Welt in einer bestimmten Logik zu erklären. Aspekte, Themen und Erfahrungen, die keine Erwähnung und Benennung finden, werden diskurstheoretisch identifiziert, um Normen des sozialen Daseins zu hinterfragen.

D ISKURSTHEORETISCHE UND SOZIOLOGISCHE P ERSPEKTIVEN Doris Bühler-Niedernberger und Heinz Sünker (2009) kommen bei ihren Analysen von öffentlichen bildungspolitischen Dokumenten zu dem Ergebnis, dass diesen Konzepten eine normative Entwicklungs- und Sozialisationsordnung zugrunde gelegt wird. Angesichts der in den Dokumenten politischer Parteien und Berufsgruppen aufgefundenen Argumentationslinien von normativen, Defizite beschreibenden Kindheitsbildern und Sollenserwartungen plädieren sie für die Demontage solcher normativen Zuschreibungen. In den Erziehungswissenschaften war im Kontext des kulturellen Umbruchs der 68er-Jahre des vergangenen Jahrhunderts die Selbststeuerung des Kindes ins Blickfeld gerückt, die in Entwicklungspsychologie und Sozialisationstheorie in Konzepte vom Kind als Subjekt einging. Der Fokus auf die Emanzipation des Kindes wurde von der Kindheitssoziologie aufgenommen und auf die Positionierung des Kindes in der Gesellschaft und auch auf die Aktivität von Kindern im Alltagsleben bezogen. Die neue Kindheitssoziologie stellt die Frage der Eigenständigkeit der Kinder als Frage nach den Herrschaftsverhältnissen zwischen den Generationen und als Frage nach dem Zugang zu Ressourcen und Rechten. In aktuellen Bildungs- und Erziehungskonzepten kommt es zu einer eigentümlichen Verbindung von reformpädagogischen und neoliberalen Anknüpfungen im Hinblick auf Autonomisierungspostulate und die Selbstbildung von Kindern. Selbstbestimmung ist heute ein Ideal, das mit den neoliberalen Veränderungen des gesellschaftlichen Gefüges eine neue Qualität erhalten hat. Zu den Prämissen des Neoliberalismus zählen die Forderungen nach einer weitgehenden Marktförmigkeit gesellschaftlicher Beziehungen und die Selbstbestimmung der Subjekte auf dem Markt. Das Versprechen der Selbstbestimmung, das sich in der alltäglichen Erfahrung der Freiheit des Konsums realisiert, wird so auf die Ge-

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stalt des Kunden reduziert. Selbstbestimmung als neoliberaler Wert erscheint so als marktförmig ausgerichtete neue Kompetenz von Selbstmanagement. Da das gesellschaftliche Interesse an Kindern insbesondere am Bedarf an künftiger Reproduktion der Gesellschaft ausgerichtet ist, sind Kindheitsbilder als Konstruktion von Sein und Konstruktion von Sollen strukturell auf Zukunft bezogen. Kinder und deren Aufwachsen geraten im Rahmen des Paradigmenwechsels in der bundesdeutschen Familienpolitik und dessen Auswirkungen auf die Bildungspolitik vor allem als Zukunftsfaktor in den Blick (vgl. Klinkhammer 2010). So dominieren in bildungspolitischen Diskursen ökonomische Argumentationslinien, die Investitionen in die nachfolgende Generation als Kalkül und Lösung sehen. Bildungspolitische Dokumente identifizieren mangelnde Kompetenzen bei Schülern und schwindende Humanressourcen, die für globale Konkurrenzkämpfe nicht ausreichten. Lange (2010) kritisiert, dass die „sozialtechnologische Optimierung der Ressource Bildung“ Kinder als potenzielle Träger dieser Ressource primär mit ihrem Nutzen für das gesellschaftliche Funktionieren in den Blick nimmt. Die hieraus resultierenden Konflikte und Widersprüche zwischen Gegenwarts- und Zukunftsbezug, in denen Kinder in erster Linie zu erschließendes Bildungskapital sind, markieren Kindheiten in der Spätmoderne als Bildungskindheiten. Kinder sollen über entsprechende Bildung die Zukunftsfähigkeit der Gesellschaft sichern. Im Zuge des demographischen und gesellschaftlichen Wandels werden Kinder dabei dem politischen Ziel der optimalen Ausschöpfung von Humankapital und Bildungspotenzialen unterstellt und in ihren eigenen psychosozialen und emotionalen Bedürfnissen übergangen. Wissensbestände und Aussagesysteme über moderne Kindheit, die zum Beispiel Arbeiten aus der Familien- und Kindheitsforschung hervorbringen, erzeugen dabei Diskurse, die das Alltagsleben von Erwachsenen, Kindern und Jugendlichen und deren Handeln mitstrukturieren. Die Soziologen Lange und Mierendorff zeigen auf, wie Kindheitsbilder und Wissen über Kinder und Kindheit als soziale Konstruktionen eingebettet sind in spezifische historische Konstellationen und Machtverhältnisse, wie diese in einer Wechselwirkung von politisch öffentlichen Diskursen im Zusammenspiel mit Denk- und Argumentationsmustern von Kindern und Eltern ineinander greifen (vgl. Lange/Mierendorff 2009). Mit Bourdieu (2005) haben Wissen und Macht die Tendenz, sich zu stabilen Formen zusammenzuschließen, die sich dann als Ensemble nicht hinterfragter, als wahr angenommener Deutungsangebote der sozialen Welt herausbilden (vgl. Kajetzke 2008; Bischoff/Betz 2011). Kindheits-, Erziehungs- und Bildungsvorstellungen sind jedoch hinterfragbare Diskurse, die sich vor dem Hintergrund gesellschaftlicher, ökonomischer und machtpolitischer Verhältnisse in

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sozialen Praktiken der darin eingebundenen sozialen Akteure in Abhängigkeit von deren Ressourcen als (Re-)Produktion von Sinnsystemen ausgestalten. Moderne bildungsbezogene Kindheitskonstruktionen müssen insofern mit dem Blick auf äußere Rahmenbedingungen von moderner Kindheit und das generationelle Spannungsverhältnis von Kindern und Erwachsenen kritisch hinterfragt werden. Vorstellungen und Handlungsaufforderungen zu bildungsbezogener Kindheit, die den Alltag von Kindern bestimmen, sollten dabei einer kritischen Sicht unterzogen werden. Die Fallbeispiele aus dem laufenden Kindheitsforschungs-Projekt illustrieren Perspektiven von Kindern, die in ihren Aneignungs- und Anpassungsprozessen und den auftauchenden Widersprüchlichkeiten als Akteure sichtbar sind. Wie die Rekonstruktionen der Vorstellungen und Praktiken der Kinder zeigen, interpretieren diese auf ihre Weise die Rahmenbedingungen einer bildungsbezogenen Kindheit. Sie reproduzieren zugleich gesellschaftliche Normen, zu denen sie sich in Gegenwart und antizipierter Zukunft ins Verhältnis setzen. Ob und wie das Theater hier eigene Möglichkeiten hat, Kinder und Jugendliche als Akteure und Experten ihres Alltags sichtbar zu machen, generative Perspektiven, Widersprüche und Paradoxien in Szene zu setzen, um darunter liegende generationelle Dynamiken und gesellschaftliche Themen virulent werden zu lassen, bleibt dann fraglich, wenn genau dies auch die Intention der Erwachsenen wäre. Wie aber kann Theater anders zu einem Erfahrungsraum werden, der den Prozess einer produktiven Verunsicherung ermöglicht, in dem die Zuschauer ihre eigenen Bedeutungen herstellen und hinterfragen können? Wie kann Theater als ein sozialer Raum Freiräume für Kreativität jenseits pädagogischer Zielvorgaben nutzen? Welche Möglichkeiten speziell das Theater hat, mit künstlerischen Herangehensweisen herrschende Deutungsmuster und gesellschaftliche Diskurse über Kinder zu dekonstruieren und für Zuschauer Anlässe zu schaffen, neue Sichtweisen zu entwickeln, mögen die anderen Beiträge in diesem Band beantworten.

L ITERATUR Bischoff, Stefanie/Betz, Tanja (2011): Die diskursanalytische Rekonstruktion von politischen Leitbildern bildungsbezogener „guter Kindheit“, Educare Working Paper, online unter www.uni-frankfurt.de/fb/fb04/we2/professiona lisierung/Educare-Working-Paper-1-2011-Bischoff-Betz.pdf (18.11.2013).

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Bourdieu, Pierre (2005): Was heißt sprechen? Zur Ökonomie des sprachlichen Tauschs, Wien: Braumüller. Bühler-Niedernberger, Doris/Sünker, Heinz (2009): „Gesellschaftliche Organisation von Kindheit und Kindheitspolitik“, in: Honig, Ordnungen der Kindheit, S. 155-183. Bühler-Niederberger, Doris/Mierendorff, Johanna/Lange, Andreas (Hg.) (2010): Kindheit zwischen fürsorglichem Zugriff und gesellschaftlicher Teilhabe, Wiesbaden: VS. Castel, Robert (1983): „Von der Gefährlichkeit zum Risiko“, in: Manfred Max Wambach (Hg.), Der Mensch als Risiko. Zur Logik von Prävention und Früherkennung, Frankfurt a. M.: Suhrkamp, S. 51-74. Castel, Françoise/Castel, Robert/Lovell, Anne (1982): Psychiatrisierung des Alltags, Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Combe, Arno/Helsper, Werner (1994): Was geschieht im Klassenzimmer? Perspektiven einer hermeneutischen Schul- und Unterrichtsforschung. Zur Konzeptualisierung der Pädagogik als Handlungstheorie, Weinheim: Deutscher Studien-Verlag. Erikson, Erik Homburger (1982): Kindheit und Gesellschaft, Stuttgart: Klett. Fertig, Ludwig (1984): Zeitgeist und Erziehungskunst. Eine Einführung in die Kulturgeschichte der Erziehung in Deutschland von 1600-1900, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft. Haubl, Rolf (2007): „Krankheiten, die Karriere machen. Zur Medizinalisierung und Medikalisierung sozialer Probleme“, in: Christian Warrlich/Ellen Reinke (Hg.), Auf der Suche: Psychoanalytische Betrachtungen zum AD(H)S, Gießen: Psychosozial, S. 159-186. Haubl, Rolf (2012): „Bindung und Begabung. Soziale und emotionale Aspekte“, in: Journal für Begabtenförderung 1 , Innsbruck: Studienverlag, S. 26-37. Haubl, Rolf/ Liebsch, Katharina (2010): Mit Ritalin leben. ADHS-Kindern eine Stimme geben. Göttingen: Vandenhoek & Ruprecht. Hengst, Heinz (1981): „Tendenzen der Liquidierung von Kindheit“, in: Ders./Michael Köhler/Barbara Riedmüller/Manfred M. Wambach (Hg.), Kindheit als Fiktion, Frankfurt a. M.: Suhrkamp, S. 11-73. Hengst, Heinz/Zeiher, Helga (Hg.) (2005): Kindheit soziologisch, Wiesbaden: VS. Hessisches Sozialministerium (2011): Bildung von Anfang an. Erziehungs- und Bildungsplan für Kinder von 0 bis 10 Jahren, Wiesbaden. Honig, Michael-Sebastian (Hg.) (2009): Ordnungen der Kindheit. Problemstellungen und Perspektiven der Kindheitsforschung, Weinheim: Juventa.

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Kajetzke, Laura (2008): Wissen im Diskurs. Ein Theorievergleich von Bourdieu und Foucault, Wiesbaden: VS. Kelle, Helga (2010): Kinder unter Beobachtung. Kulturanalytische Studien zur pädiatrischen Entwicklungsdiagnostik, Opladen: Barbara Budrich. King, Vera/Busch, Katharina (2012): „Widersprüchliche Zeiten des Aufwachsens. Fürsorge, Zeitnot und Optimierungsstreben in Familien“, in: Diskurs Kindheits- und Jugendforschung 1, S. 7-23. Klinkhammer, Nicole (2010): „Frühkindliche Bildung und Betreuung im ‚Sozialinvestitionsstaat‘ – mehr Chancengleichheit durch investive Politikstrategien?“, in: Bühler-Niederberger/Mierendorff/Lange, Kindheit zwischen fürsorglichem Zugriff und gesellschaftlicher Teilhabe, S. 205-228. Lange, Andreas (2010): „Bildung ist für alle da oder die Kolonialisierung des Kinder- und Familienlebens durch ein ambivalentes Dispositiv“, in: BühlerNiederberger/Mierendorff/Lange, Kindheit zwischen fürsorglichem Zugriff und gesellschaftlicher Teilhabe, S. 89-114. Lange, Andreas/Mierendorff, Johanna (2009): „Methoden der Kindheitsforschung. Überlegungen zur kindheitssoziologischen Perspektive“, in: Honig, Ordnungen der Kindheit, S. 183-210. Liebsch, Katharina (2012): „Risikolagen: Gewalt gegen sich selbst und andere“, in: Dies. (Hg.), Jugendsoziologie. Über Adoleszente, Teenager und neue Generationen, München: Oldenbourg, S. 177-207. Parsons, Talcott (1968): „Die Schulklasse als soziales System: Einige ihrer Funktionen in der amerikanischen Gesellschaft“, in: Ders, Sozialstruktur und Persönlichkeit, Frankfurt a. M.: Suhrkamp, S. 161-193. Qvortrup, Jens/Bardy, Marjatta/Sgritta, Giovanni/Wintersberger, Helmut (1994): Childhood Matters. Social Theory, Practice and Politics. Aldershot u. a.: Avebury. Schubert, Inge (2005): Die schwierige Loslösung von Eltern und Kindern. Brüche und Bindung zwischen den Generationen seit dem Krieg, Frankfurt a. M.: Campus. Schubert, Inge (2011): „,Ich finde an unserer Klasse einfach toll, dass die so zusammengewürfelt ist‘. Heterogenität und Homogenisierungsbedürfnisse in schulischen Gruppen“, in: Timo Hoyer/Ulrich Beumer/Marianne LeuzingerBohleber (Hg.), Jenseits des Individuums – Emotion und Organisation, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, S. 219-245.

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Schubert, Inge (2012): „Durch Besonderheit dazugehören? Identitätssuche und Ausschluss in schulischen Gruppe bei hochbegabten Schülerinnen und Schülern“, in: Joachim Heilmann/Heinz Krebs/Annelinde Eggert-Schmid Noerr (Hg.), Außenseiter integrieren: Perspektiven auf gesellschaftliche, institutionelle und individuelle Ausgrenzung. Gießen: Psychosozial, S. 267-287. Zeiher, Helga (1998): „Kinder in der Gesellschaft und Kinder in der Soziologie“, in: Zeitschrift für Soziologie und Sozialisation 16, Weinheim: Juventa, S. 2646.

Cabinet Particulier Ein separater Diskursraum für Jugendproduktionen? W IEBKE D RÖGE Im Grunde ist es das Ziel des Dialogs, dem Denkvorgang auf den Grund zu gehen und den kollektiven Ablauf der Denkprozesse zu ändern. Die Fähigkeit, historisch gewachsene

Engpässe kultureller

Praktiken zu erkennen und zu überwinden, ist die unbestreitbare Stärke postmoderner Kommunikation. DAVID BOHM

   Tanzproduktionen mit Jugendlichen und jungen Erwachsenen haben sich in den letzten Jahren sehr verändert und divers entwickelt. Gleichzeitig ist der Blick auf dieses Feld und der Dialog darüber erstaunlich unverändert. Am stärksten fällt auf, dass eher über Jugendliche und Jugendproduktionen gesprochen wird, anstatt mit ihnen gemeinsam. In diesem Beitrag wird aus der unmittelbaren Tanzperformance-Arbeit mit Jugendlichen argumentiert – mit der Motivation, den Wahrnehmungs- und Interpretationsraum zu weiten. In der künstlerischen Begegnung einer Choreographin mit Jugendlichen ist weit mehr zu entdecken als eine spezifische Altersgruppe. Wenn es darum geht, etwas über Jugendliche oder Heranwachsende zu sagen, haben Erwachsene schnell eine Idee, Ansicht oder Prognose parat. Schließlich waren alle einmal selbst jugendlich. Dieser Tatbestand verleitet zum einen dazu,

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sich als bereits Wissender über Jugendliche zu stellen, selbst wenn dies ohne jede Absicht passiert. Zum anderen liegt in der selbst gemachten Erfahrung einer Jugendzeit die Grundlage für Empathie. Würde dieses Einfühlungsvermögen mehr mit einer Unvoreingenommenheit gegenüber dem Hier und Jetzt einhergehen – und weniger mit einem Vergleichen von Erfahrungen aus der Vergangenheit und Vorgriffen auf die Zukunft –, könnte tatsächlich etwas sehr Inspirierendes wahrgenommen werden. Die folgende Frage ist ein erster Vorschlag für eine andersartige Auseinandersetzung: Sind wir bereit, in einer Haltung des geöffneten Willens zuzuhören und zuzusehen, die eine grundlegende Bereitschaft ist, von allen vorgefassten Ab- und Ansichten loszulassen und uns für neue Möglichkeiten des künstlerischen Dialogs und für neue Intentionen zu öffnen? Im Sinne des diesem Buch gewidmeten Titels „Stop Teaching“ geht diese Frage über die Begegnung von Künstlern und Jugendlichen hinaus und schließt alle an der Beziehungsbildung Beteiligten ein. So entstehen ein zusammenhängenderes Bild und gleichzeitig ein Gefüge, welches die interdependenten Resonanzen aufzeigt. Die Art und Weise, wie in diesem Beitrag darauf eingegangen wird, bezieht sich auf die Stellen, die etwas vermissen lassen in einem Bereich, der eine große Bereicherung für die darstellende Kunst darstellt. Das Herausgreifen jener wunden Punkte dient dazu, die Tendenz zwischen Ignoranz und Übergriffigkeit zu verdeutlichen, mit der Beteiligte an Jugendproduktionen konfrontiert sind; mal offensichtlich, mal subtil. Das in der Überschrift genannte Cabinet Particulier deutet bildhaft auf eine abgesonderte Art von Diskurs über oder auch von Blicken auf Jugendproduktionen an Theaterhäusern, der a) b) c) d)

Jugendliche entweder erwachsenen Künstlern so ähnlich wie möglich wünscht (als Nachahmungs- und Erfüllungsgehilfen), sie von allen Anderen abgrenzt (als exotische Parallelweltbewohner), ihnen einen Erziehungs- und Jugendschutzauftrag überstülpt (als Führungsbedürftige) oder schlichtweg für eine Marktlücke auf dem Theatermarkt funktionalisiert (als Ausgebeutete).

Den Diskurs führen Erwachsene über Jugendliche, in den Wissenschaften besonders (Kunst-)Pädagogen, Sozialwissenschaftler, Theaterwissenschaftler und Bildungsexperten. Ebenso entscheiden Erwachsene an wichtigen Schnittstellen über den Stellenwert von Jugendproduktionen im Gesamtkontext darstellender

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Kunst; wie zum Beispiel Theaterintendanten, Kulturämter oder Stiftungen. Im Kontext von Kultureller Bildung sind durchaus positive Effekte eines starken Diskurses zu spüren; besonders solche, die die Legitimation und das qualitative Potenzial von Tanzarbeit überzeugend außer Frage stellen können. Dies führte in den letzten Jahren zu einer besseren Lobby für zeitgenössische Tanzkünstler in diesem Berufsfeld, wobei die Betonung auf der Kooperation von Bildung und Kunst liegt und diese fast ausschließlich von der Bildungsseite beforscht und hinterfragt wird. Der große Beitrag von Künstlern in der Tanzarbeit mit Jugendlichen war und ist, sichtbar zu machen, dass Jugendliche keine Belehrungen im herkömmlichen Sinne brauchen oder danach verlangen. Sie sind Teil der Gesellschaft und als solcher auch von künstlerischem Interesse und eigener Strahlkraft. Sie wollen partizipieren, aktiv sein, etwas Spannendes erleben, mitgestalten – und nicht von Erwachsenen beschäftigt werden. Genauso wenig streben Künstler die Metamorphose zum neuen Lehrer an. Aus dem anhaltenden Kulturboom heraus entstehen zunehmend mehr Projekte mit großer Außenwirkung, zum Teil initiiert durch Ausschreibungen, die zu Kooperationen mit Orchestern oder Theaterhäusern aufrufen. Auch die Angebotsstruktur des Marktes lenkt den Umgang mit Jugendproduktionen, denn in Abhängigkeit vom künstlerischen Auftrag, in Relation zum Zeitumfang und finanziellen Ausgleich, wird zu bestimmten Produktionsweisen gezwungen oder verleitet. Anders ausgedrückt, lässt manche Art der Ausschreibung einen bestimmten Blick vermuten: sowohl auf Jugendliche als auch auf Künstler, die mit ihnen arbeiten. Nicht immer stimmt dieser mit denen der Jugendlichen oder der Künstler überein und häufiger stellt sich die Frage, wer von allen Beteiligten den eigentlichen Nährwert aus den Projekten zieht.  Die hier vertretene These ist, dass sich die angesprochenen Künstler schlichtweg deutlicher artikulieren und von sich und ihren Arbeitsweisen sprechen müssen, um an Entscheiderstellen die Weichen für inspirierende Ausgangspunkte von Jugendproduktionen im Tanz zu stellen. Das in diesem kurzen Beitrag formulierte Anliegen kommt von einer Choreographin, die unmittelbar mit Jugendlichen und jungen Erwachsenen Tanzperformances produziert. Sie hält es für zwingend wichtig, dass Künstler sich in den theoretischen Diskurs einmischen: einerseits, damit diese direkte und praxisnahe Perspektive an Erfahrung sichtbar wird, andererseits, da von hier aus die Möglichkeit besteht, die Stimmen und Atmosphären der Zielgruppe selbst mit zu transportieren. In diesem Beitrag treten sie in

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Form einer ‚Zitatspur‘ aus kurzen Interviews mit Teilnehmern aus dem Klub_21 hervor.1 Beides trägt unter Umständen zu einem vollständigeren Bild bei. Dafür schiebt die Choreographin ihren potenziellen Eigenanteil an den errichteten Stellwänden des Cabinet Particulier gerne beiseite und eröffnet einen freien Zugang in eine Arbeit, die unbedingt als Teil einer kulturellen Ganzheit betrachtet werden darf. Es sind alle Kollegen dazu eingeladen, dies auf ihre Weise auch zu tun.

ÄHNLICHE ARBEITSWEISEN . U NGLEICHER D ISKURS In Abhängigkeit von den Zielen und Arbeitsweisen einer Künstlerin mit Jugendlichen können grob drei Ansätze und Ansprüche unterschieden werden. Der erste fragt danach, ob die Choreographin als Regisseurin ein starkes künstlerisches Konzept realisieren konnte, das zu Jugendlichen passt bzw. in das sie hinein passen. Der zweite Ansatz fragt danach, ob es der Choreographin gelungen ist, ein Konzept ausschließlich aus den Ideen und Anliegen der jungen Performer in einer eher demokratischen Gemeinschaftsarbeit zu entwickeln. Der dritte Ansatz ist eine Kombination aus beidem. Aus den Impulsen der Jugendlichen erarbeitet die Choreographin unter Einbezug ihrer künstlerischen Erfahrungen ein wirkungsvolles Konzept. Alle drei Richtungen verfolgen eigene künstlerische Anliegen und Visionen, welche es genauso in Produktionsweisen mit ausgebildeten Performern gibt. Die Vorlieben in den Arbeitsweisen unterscheiden sich je nach biographischem Hintergrund, künstlerischem Konzept und der persönlichen Stärke des Künstlers oder gegebener Bedingungen. Es erscheint insofern absolut überinterpretiert, diese Ansätze per se in ‚pädagogische‘, ‚sozial motivierte‘ oder ‚künstlerische‘ zu sezieren, sobald die Performer keine ausgebildeten Künstler, sondern Jugendliche sind. Die Unterschiede in den Produktionsformen spiegeln lediglich ein Gesamtbild dessen, was es generell an Gruppenarbeitsweisen und Führungsstilen gibt. Viel wichtiger ist es, die Ansätze und Motivationen transparent zu machen, sodass Jugendliche selbstbestimmt eine Wahl treffen können, zu welchen Angeboten sie gehen möchten.

1

Die Zitate stammen zum einen aus einer Audioaufzeichnung während der Proben mit der ersten Klub_21-Gruppe. Wir sprachen über ihre Motive und Anliegen an den Klub_21. Zum anderen habe ich mehrere Monate später per E-Mail Fragen versendet, um den Teilnehmern die Gelegenheit zu geben, sich an diesem Artikel zu beteiligen.

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„Es gibt viele Wege, ein Stück zu entwickeln, die ich auch respektiere. Nur weil weniger Menschen am Entstehungsprozess beteiligt waren, heißt das nicht, dass das Stück gleich schlecht ist. Nur würde ich bei einer solchen Produktion nicht mitmachen wollen.“ (Edna) „Erst bauen wir eine Burg, dann zerstören wir sie selbst wieder!“ (Sonia) „[I]ch habe in der Tat schon Stücke gesehen, in denen sogar inhaltlich das Verhältnis von Regisseur und Schauspieler, von Subjekt und Herrschaft des Anderen, thematisiert wurde und dennoch die Schauspieler bloß Objekte der Regie und der Begehren der Zuschauer waren, indem sie nur ausgeführt haben, was ihnen einstudiert wurde. Das hat mich am Wert der Arbeit zweifeln lassen und mir die unbeantwortete Frage aufgegeben, ob man es sieht, wenn das die Arbeitsweise war und ob Kunst nicht vielleicht Wege aufzeigen kann, wie man abseits verstockter Herrschaftsmechanismen arbeitet.“ (Tobi)

F ILTER

WECHSELN , BITTE !

In mehr als 15 Jahren choreographischer Arbeit mit Jugendlichen und jungen Erwachsenen für und in sehr unterschiedlichen Zusammenhängen – zum Beispiel in Stadt- und Privattheatern, in Universitäten, Schulen und Kunsthochschulen, im Rahmen von Festivals und Wettbewerben oder in Jugendclubs – entsteht ein multiples Erfahrungsfeld. In mehreren Artikeln habe ich meine choreographische Arbeitsweise reflektiert und in den Zusammenhang von sich verändernden Arbeitsfeldern für Choreographen gestellt. Dabei bin ich besonders auf die Prozessarbeit mit sogenannten ‚Laien‘ eingegangen. 2 Ich halte die Erfahrung, wie und mit welcher unterschiedlichen Haltung Choreographen arbeiten, für eine wertvolle und unbedingt öffentliche Information. Vermutlich könnte über sie ein neuer Eindruck gewonnen werden, der eher inadäquate, überalterte Selbstverständlichkeiten bezüglich der Wahrnehmung auf Jugendliche in Tanzperformances ablöst. Jugendliche Performer erhalten überwiegend Rückmeldungen und Fragen bezüglich eines Vergleichs oder dem Grad der Nähe zu ausgebildeten Tänzern oder Schauspielern. Dann wird meist ihre dem Projekt gewidmete Disziplin bewundert oder vermisst. Darüber hinaus gilt das Interesse ihrer persönlichen Entwicklung in der Gruppe und der Frage danach, ob sie ihren zukünftigen Beruf auch in der Kunst sehen. Besonders häufig wird vermutet, dass die Arbeit mit

2

Vgl. Dröge 2009; 2010; 2012.

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tänzerisch-theatralen Methoden einen positiven Einfluss auf ihr Selbsterleben im Alltag nimmt und sie persönlich verändert hat. Zusammenfassend lässt sich sagen – wenn auch ganz sicher nicht mit dem Anspruch auf Vollständigkeit –, dass eher der private oder soziale Aspekt des Menschen in solchen Projekten gesehen wird und weniger sein Anteil an dem künstlerischen Produkt, dem Stückinhalt selbst oder seinen Entstehungsvorgängen. Wie möchtest du gesehen werden? „Die ehrliche Antwort wäre wohl: Als schön. Die angemessenere Antwort und gleichfalls nicht erzwungene: Als reibungsvoller Aspekt des Textes, den der Zuschauer von uns zu sehen aufgetragen bekommt.“ (Tobi)

„Shape Place Face. Eine Räumaktion“ (Klub_21, 2013) 3

Foto: © Jörg Baumann

Choreographen von Jugendproduktionen erhalten Fragen und Rückmeldungen darüber, wie oder ob es ihnen gelungen ist, dass die Jugendlichen professionell und souverän auf den Zuschauer wirken. Daran anknüpfend wird gespiegelt, inwiefern sie die jungen Darsteller geschickt – im Sinne von ihren Talenten entsprechend – und wirkungsvoll eingesetzt haben. Besonders wichtig erscheint die Frage danach, ob und inwiefern das Gezeigte etwas von der Lebenswelt der jun-

3

Choreographische Leitung: Wiebke Dröge. Ein Projekt von Tanzlabor_21 | Tanzbasis Rhein_Main

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gen Darsteller widerspiegelt oder biographische Elemente aufweist. Ein großer Teil der Anerkennung basiert auf der Annahme, mit wie viel mühevoller Arbeit der Weg bis zur Aufführung verbunden gewesen sein muss. Grundsätzlich wird es als löblich gesehen und gleichzeitig ungefragt angenommen, als Künstler auch pädagogisch für die Jugend tätig zu sein und ihnen darüber zu mehr Selbstwertgefühl zu verhelfen. Bei Zweifeln daran wird auch dies kommuniziert. Kontextübergreifend erhalten Jugendliche und die mit ihnen arbeitenden Künstler – verglichen mit sogenannten ‚Profiproduktionen‘ – eine ganz eigene Art von Rückmeldungen und Fragen. In einer Produktion mit ausgebildeten Performern kommen Rückmeldungen fast ausschließlich zum Stück selbst, dazu, wie und ob es gefallen hat. Es werden Gespräche geführt über das Thema oder die Fragestellung des Stücks, die gewählten künstlerischen Mittel, die Dramaturgie und die Qualität der Performer sowie über die Gesamtwirkung. Fragen zum privaten Leben und der persönlichen Entwicklung durch die Produktion werden in der Regel eher nicht gestellt. Lässt sich nicht ein anderer Blick finden? Einer, der der eingangs gestellten Frage entspricht: Sind wir bereit, in einer Haltung des geöffneten Willens zuzusehen, die eine grundlegende Bereitschaft ist, von allen vorgefassten Ab- und Ansichten loszulassen und sich für neue Möglichkeiten des künstlerischen Dialogs und für neue Intentionen zu öffnen? Jede künstlerische Produktion mit Jugendlichen ist unterschiedlich – sowohl hinsichtlich des Verhältnisses von Choreograph und Performer als auch bezüglich der konkreten Arbeitsweise im Probenprozess. Es macht daher wenig Sinn, zu verallgemeinern, wer diese Jugendlichen sind, die sich in solche Produktionen einfinden. Genauso erübrigt es sich, eine verallgemeinernde Aussage über Künstler treffen zu wollen, die mit Jugendlichen arbeiten. „Man hat uns nicht auftreten lassen, um zu zeigen, wie großzügig man ist, sondern, weil man gesehen hat, dass wir sehr wohl etwas sagen können! So rede ich es mir jedenfalls ein. Selbst wenn es nicht so war – ich weiß, dass wir ein Stück erarbeitet haben, hinter dem ich voll stehe. Das ist sicherlich außergewöhnlich für Jugendtheater, Tanz etc.“ (Tobi)

M ERKMALE

DES

W ANDELS

Mit einem großen Schuss Zuversicht und Veränderungsglaube folgt eine lose Liste von Kennzeichen, die einen neuen, größeren Blickwinkel auf Jugendproduktionen im Bereich Tanz und Performance eröffnen könnten.

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Fragen stellen und ins direkte Gespräch gehen Als Zuschauender, besonders als ein Geübter, zieht man gern Schlüsse darüber, wie ein Stück erarbeitet wurde. Besonders bei Jugendproduktionen ist man sich sicher und hält es für eine Berechtigung, sich seines Urteils sicher zu sein. Es kursieren viele Ideen darüber, wie Künstler mit Jugendlichen zu arbeiten haben, verbunden mit einem hohen Maß an sozialen und moralischen Ansprüchen und Übergriffen. Lässt sich das mit künstlerischer Freiheit vereinbaren? Gehen sie zum Choreographen und fragen ihn, mit welchen Motivationen er arbeitet und das Stück entstanden ist! Ich bin immer sehr bereichert von solchen Begegnungen. Sie öffnen auch meinen Blick und keine Frage ist zu unwichtig, um nicht gestellt zu werden. Darf ich? Jugendliche als eigensinnige Kunstproduzenten Die Geschichte von Jugendproduktionen in professionellen Kontexten ist noch recht jung. Hingegen ist die Tradition alt, dass Jugendliche sich im – noch holprigen – Stil ihrer erwachsenen Vorbilder versuchen, verbunden mit dem Selbstverständnis, dass dies auf eine pädagogische Bühne gehört. Entstehen eigensinnige Produktionen, so fällt es bei allem anerkennenden Staunen schwer, dies als Kunst anzuerkennen. Lieber entscheidet man sich dafür, dies als gelungene, moderne Darstellungsweise von Jugendlichen zu sehen. Das Zutrauen in eine Eigenständigkeit, das Annehmen einer neu hinzu gewachsenen Kunstform muss noch reifen. Wie wäre es, eine Jugendproduktion für sich stehend inmitten des Theaterprogramms erscheinen zu lassen, statt im Schultheaterkontext, in den sie – bei allem Respekt – definitiv nicht hingehört?! Besonders für das gegenwärtige und zukünftige Publikum könnten Jugendproduktionen noch viel gezielter und mit höherer Transparenz formuliert, platziert und vorgestellt werden. Beim Zuschauer-Warm-Up zur Klub_21-Präsentation Mimetic Frameworks im Juli 2014 konnten einige Grundannahmen und der Blick auf das Projekt erneuert werden. In der direkten Begegnung etwas über den Prozess zu erfahren und einen körperlichen Geschmack von der Arbeit zu bekommen, hat beiden Seiten gut getan. Worte und Bilder ins Bewusstsein holen Es ist elementar wichtig, sich in Worten auszudrücken. Und gleichzeitig: Egal, wie man es benennt, man liegt immer daneben. Als Interessierter hört oder liest man etwas und verdreht es unbewusst in Gedanken zu etwas völlig Anderem, zumeist zu etwas über Jahrzehnte hinweg Eingeübtem. So bildet das künstlerische Arbeiten mit Jugendlichen im Gehirn reflexhaft Assoziationen zu den Stichworten „Kind“, „Soziales Projekt“, „Pädagogik“ – selbst dann, wenn diese

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Worte nicht benutzt wurden. Man steckt ein wenig in einem Dilemma. Kunst ist etwas, das man aus sich heraus tut. Wären demnach nicht die meisten Kompanien und Regietheater als Privatschulen einzuordnen? In dem Moment, wo Kunst unter Anleitung geschieht, ist man per se schon in der Grauzone und bei Jugendlichen automatisch bei Schwarz/Weiß. Und die Frage an Choreographen von Jugendproduktionen: „Wann machst du denn mal wieder ein richtiges Stück?“ In einer Probe im Juni 2014 mit dem Klub_21 entwickelten die Jugendlichen spontan eine halbstündige Improvisation zu Erwartungen über das, was sie über sich in Kunstprojekten zu hören und sehen bekommen. Dieser Moment war sehr entlarvend – Jugendliche werden in unserer Gesellschaft dahin gehend stark unterschätzt bzw. falsch eingeschätzt. Sie kennen alle Begriffe, Formulierungen, Gesten und Statements der Sozial- und Kulturpolitik über sich selbst als „Zielgruppe“ wort- und bildgenau. Sie durchschauen pädagogische Ideen der Kunstvermittlung und sind peinlich berührt davon – nicht, weil sie zu schüchtern sind, sondern weil sie sich (in ihrem Potenzial) nicht gesehen fühlen. Expertenforen gemeinsam mit Jugendlichen Selbstverständlich macht es Sinn, dass Künstler sich über ihre Arbeit mit Jugendlichen austauschen und sich in Workshops gegenseitig Einblicke gewähren. Noch mehr Sinn macht es meines Erachtens, auch mit Jugendlichen gemeinsam Foren zu organisieren, in denen sie sowohl leiblich als auch geistig mitmischen. Wenn wir uns dafür interessieren, herauszufiltern, welche künstlerischen Methoden und Arbeitsweisen Jugendlichen am meisten entsprechen, liegt es so nahe, sie in diesen Suchprozess zu integrieren. Im 21. Jahrhundert bedarf es einer anderen Forschungsstrategie als einer von der Zielgruppe abgegrenzten. Wenn Tanzkunst mit Jugendlichen etwas mit den Jugendlichen zu tun haben soll, wer anderes als sie selbst kann die Wissensquelle dafür sein? In der Kunst geht es auch darum, mutig zu sein. Über Jugendliche hinweg eine neue Sparte für sie zu entwickeln, erinnert an veraltete Bildungsstrategien. An dieser Stelle sei noch einmal eine Klub_21-Teilnehmerin (Edna) zitiert: „Sie wollen Freiheit für uns und fragen im gleichen Atemzug danach, wie man das dann kontrollieren kann.“ Von Häppchenkunst zum Gesamtkunstwerk Kollektives Arbeiten hat derzeit ein hohes Ansehen. Dennoch wird das Gesehene danach untersucht, wer welche Idee hatte bzw. welchen Beitrag zum Stück geleistet hat. Dies ist ein Widerspruch in sich, denn nichts kann unabhängig voneinander entstehen und es macht überhaupt keinen Sinn, ein Kunstwerk in derartige

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Häppchen zu sezieren.4 Gleichzeitig schwingt eine Art Misstrauen mit, das suggeriert, dass Jugendliche auf die Ideen ihrer Choreographen angewiesen seien. Die Suche nach singulärer Autorenschaft scheint ungebrochen. Ein altes Machtspiel? Wenn ich alle in ihren bereichernden Qualitäten sehe und diese in aller Verschiedenheit zulasse, bin ich stets in allerbester Gesellschaft – da gibt es keine Rangordnung, keinen Mangel, sondern ausschließlich ein gemeinsames Kunstprojekt, das sich Ausdruck verschafft. „Das hat [...] mir die unbeantwortete Frage aufgegeben, ob man es sieht, [wie] die Arbeitsweise war.“ (Tobi)

V OM G ANZEN

AUSGEHEN :

K LUB _21 5

Aufgrund der hohen Diversität von Bedingungen, Motivationen, Arbeitsweisen und Konzepten von Jugendproduktionen im Theater- und Tanzbereich liegt m. E. eine konstruktive Möglichkeit darin, die eigenen Schwerpunkte herauszustellen und diese gleichzeitig im Gesamtkontext zu reflektieren. Mit dem Klub_21 | Tanz und Performance für Jugendliche und junge Erwachsene, der im Sommer des Jahres 2012 gestartet ist, erfüllt sich ein lang gehegtes Anliegen, nämlich 1.

2.

4

Jugendlichen professionelle Bedingungen eines Theaterortes – wie dem Künstlerhaus Mousonturm Frankfurt – zu geben, in denen sie gemeinsam mit Choreographen mit hoher Selbstwirksamkeit auf künstlerischinterdisziplinäre Weise tätig sein können, den vollen Rückhalt der Projektstelle Tanzlabor_21 | Tanzbasis _Frankfurt_Rhein_Main zu genießen, der es ermöglicht, als Choreographin mit einer dialektischen Haltung des schöpferischen Zweifelns zu arbeiten,

Der Sozialwissenschaftler, Philosoph und Anthropologe Gregory Bateson verweist in seinem Schaffen immer wieder darauf, dass alles mit allem verbunden ist und es vor allem aus Gewohnheit schwer ist, die Welt tatsächlich so zu erleben. Seine Ansätze zum Verständnis des Lebens basieren auf der Theorie und Praxis von Beziehung, Verbindung, Muster und Kontext. Dadurch erfährt sich der Mensch in einem vielfach größeren interdependenten Gesamtzusammenhang als gewöhnlich. „There are times when I catch myself believing that there is such thing as ‚something‘ which is separate from something else“ (Gregory Bateson in Bateson 2010).

5

Klub_21 | Tanz und Performance für Jugendliche und junge Erwachsene ist ein Projekt von Tanzlabor_21 und steht unter der Leitung der Autorin. Mehr Infos unter www.tanzlabor21.de.

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3.

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um der Begegnung mit Jugendlichen eine Chance für etwas Neues bzw. Unerwartetes einzuräumen und sich, unmittelbar aus dem Klub_21 heraus, aktiv in die Debatte um den Sinn und Wert von Tanz- und Theaterproduktionen mit Jugendlichen einzumischen und dabei gemeinsam auf sowohl körperliche als auch theoretischreflexive Weise diskursiv zu sein.

„[...] ob Kunst nicht vielleicht Wege aufzeigen kann, wie man abseits verstockter Herrschaftsmechanismen arbeitet.“ (Tobi)

Klub_21

Foto: © Jörg Baumann

Was ist ein Haufen? Was erwartet man von einem Haufen Jugendlicher? Diese Fragen bildeten den Leitfaden für das Startprojekt mit den ersten Jugendlichen, die im Sommer 2012 zum Klub_21 kamen. Mit „Haufen“ hatten wir nicht nur einen sperrigen und zugleich sehr offenen Begriff, von dem aus man in viele inhaltliche Richtungen gehen konnte. Zugleich sollte von Beginn an ein Statement gesetzt werden, wie dieser Klub_21 | Tanz und Performance für Jugendliche und jungen Erwachsene gedacht ist. Welche Haltung haben wir zu Jugendlichen? Welche Erwartungen haben wir an sie? Inwiefern nehmen sie Einfluss auf die Entwicklung und das Profil des Klub_21? Welche Art von Begegnung zwischen Jugendlichen und Choreographin ist hier gewünscht und welche Arbeitsweisen

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braucht es, um diesem Wunsch gerecht zu werden? Hier ein Auszug aus dem Beschreibungstext zum Klub_21: „Der Klub_21 schafft eine besondere, kreative Atmosphäre, in der jeder ein Wissender und ein Neugieriger zugleich ist. Wir experimentieren mit großer Hingabe mit Fragen, die uns inspirierend und spannend erscheinen. Der Klub_21 bietet jungen Menschen zwischen 14 bis 24 Jahren die Möglichkeit, sich auf interdisziplinäre Weise dem Zeitgenössischen Tanz zu nähern. Dabei dienen die wöchentlichen Dienstagstreffen als Labor, in dem sowohl künstlerische Erfahrungen weiter vermittelt werden als auch die Teilnehmenden mit eigenen Ideen experimentieren.“

Zurück zum „Haufen“. Die Wahl dieses Begriffs als Opener des Klub_21 sollte auch die Haltung widerspiegeln, mit der wir Jugendlichen begegnen wollen: unvoreingenommen, erwartungsfrei, ohne festgelegte Bestimmung, wer sie sein oder werden sollen, selektionsfrei, undefiniert. Gleichzeitig diente der Haufenbegriff als Selbstappell an die Choreographin und Leiterin des Projekts, Wiebke Dröge, der Entwicklung des Klub_21 Zeit zu geben, den Haufen nicht verfrüht zu sortieren oder zu labeln. Inwiefern lässt sich eine klare künstlerische, choreographische Haltung, die sich in ihr im Laufe der Jahre herausgebildet hat, mit Offenheit vereinbaren? Sie wollte den Jugendlichen Zeit geben, selbst auch eine Haltung zu finden. Sie erhoffte sich dadurch eine spannende gemeinsame Arbeit, in der Reibung entsteht, die sie für eine grundlegende Voraussetzung für künstlerisches Schaffen hält. Sie wollte Menschen begegnen, die inspiriert sind und selbst etwas zu sagen haben. Sie wollte sich und den anderen diesen Raum geben; unabhängig davon, dass es bereits Aufführungstermine gab, Stückbeschreibungen für den Leporello her mussten usw.

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Mit welcher Motivation wird jungen Menschen eine Jahresgruppe zu Tanz und Performance angeboten? Wer soll sich davon angezogen fühlen und wie muss der Einstieg gestaltet sein, dass Motiv und Zielpublikum zueinander passen? Die Einstiegsschwelle beim Klub_21 ist bewusst niedrig gehalten. Es gibt kein Casting, kein Vortanzen, keine Audition, auch kein verstecktes Casting unter dem Titel „Workshop“. Die Interessierten haben einige Zeit lang die Möglichkeit, an den wöchentlichen Terminen teilzunehmen, um dann selbst zu entscheiden, ob sie bleiben möchten. Jeder, der bleiben möchte, ist willkommen. Bislang hat sich diese Vorgehensweise bewährt. Auf diesen Weg wird bereits indirekt vermittelt,

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dass uns Selbstwirksamkeit wichtig ist und wir den jungen Menschen zumuten wollen, selbst die Verantwortung für sich und das Zusammenspiel in der Gruppe zu übernehmen. Zugleich wird damit auch kommuniziert, dass es nicht darum geht, sich für etwas zu qualifizieren, sich einem Ideal ähnlich zu machen und danach selektiert und bewertet zu werden. Natürlich fühlen sich nur bestimmte Menschen davon angezogen. Insofern erzeugt das Nichtauswählen dennoch eine Selektion, wobei diese mit dem hier vertretenen Wertesystem und Menschenbild übereinstimmt und transparent kommuniziert wird. „Selbstmotivation, davon braucht man so viel hier!“ (Sonia) – „Casting? Um Gottes Willen: KEIN CASTING! Die spannendsten Leute würden niemals kommen. Ich übrigens auch nicht. Bäh, das ekelt mich an.“ (Tobi) – „Es geht darum, wie man sich einbringt.“ (Lorin) – „Kein Casting zu machen, ist hervorragend. Es nimmt Stress und das sieht man auch am Ergebnis.“ (Edna)

ARBEITSATMOSPHÄRE Was in Worten leicht gefällig klingt, ist in der praktischen Umsetzung eine hochkomplexe Angelegenheit. Die Arbeitsatmosphäre ist nicht von allein deshalb kreativ, weil es um Tanzkunst geht; die Grundlage für künstlerisches Handeln muss erst geschaffen werden und ist eine spannende Daueraufgabe. Die Basis entsteht durch das Herausfordern und Erkennen von individuellen Handlungsspielräumen. Eine prickelnde Arbeitsatmosphäre ist dann zu spüren, wenn sich in der einzelnen Person ein inneres Anliegen bildet, meist durch ein Gefühl der Begeisterung, sich in der Bewegungsarbeit zu erleben. Wer sich begeistert, kann etwas beitragen. Wer die Begeisterung als Teil von sich selbst spürt, ist bereits inspiriert. Schließlich ist Kunst etwas, was man aus sich selbst heraus tun möchte. Die Qualität der Arbeitsatmosphäre bestimmt schließlich den gesamten Prozess. Im Klub_21 ist die Arbeitsstimmung weit entfernt von schulischen Regelwerken oder traditionellem Regietheater. Um das zu begreifen und dem zu vertrauen, brauchen die Teilnehmer Zeit; und es beansprucht an dieser Stelle eine Um- und Neudefinition der Aufgabenfelder, der Rolle und Haltung (‚attitude‘) einer Choreographin. Dahinter steht die Überzeugung, dass in den jungen Leuten ein großes Potenzial schlummert, mit dem sie selbst etwas bewirken können. Hier wird ihnen der Raum dafür gegeben, dieses Potenzial zu entsichern – wobei

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es keinesfalls darum geht, menschliches Potenzial im Dienste einer äußeren Idee oder einer Person zu ‚benutzen‘. Klub_21 im Probenraum

Foto: © Margo Schuster

S TRUKTUREN

VON

AUFMERKSAMKEIT

Das Hauptmerkmal der Arbeitsweise des Klub_21 ist die eigenständige Entwicklung einer Tanzperformance. Das Thema und die Auswahl der Mittel werden von allen gemeinsam entschieden oder sind so offen gehalten, dass Mitgestaltungsoptionen deutlich gegeben sind. Diese Herangehensweise unterscheidet sich immens von den meisten Jugendclubs an Stadt- und Staatstheatern. In der Praxis des Klub_21 hat dies auch Konsequenzen auf den Probenprozess. Hier geht es darum, sogenannte Strukturen von Aufmerksamkeit zu generieren und zu kommunizieren und sich gemeinsam an diesen abzuarbeiten. Initiieren kann dies grundsätzlich jeder, Jugendliche und Choreographin gleichermaßen. Aufmerksamkeitsstrukturen sind etwas anderes als Aufgabenstellungen, da es bei ersterem mehr darum geht, sich in etwas hinein zu bewegen, als etwas Bestimmtes herauszufinden, zu erfüllen oder hervorzubringen. Der Prozess des Forschens und eine Haltung der Hingabe stehen im Vordergrund. Hingabe meint hier die innere Bereitschaft, sich ändern zu wollen bzw. sich für etwas noch Unbekanntes zu öffnen.

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„Das Gemeinschaftliche ist wichtig, sich durch die Scores, Rahmen und Bedingungen durchzukämpfen, oft mit selbst gewählter Überforderung. Ich bin erstaunt, dass es irgendwie weiter geht. Ich weiß, immer wird etwas sein, was mich anstrengt, nicht diese körperliche Anstrengung, etwas, worauf ich vollkommen konzentriert bin. Das reizt einen.“ (Sonia) „Manchmal am Anfang, war ich total frustriert, du denkst, da kannst du nix mehr rausholen! 20 Minuten später sieht es dann schon ganz anders aus, bei fast allem was wir gemacht haben. Es braucht Zeit, bis etwas kommt. Etwas Eigenes!“ (Tobi) „Im Gegensatz zu Schule ist es erst mal eine Überforderung, selbst zu denken. Es ist teilweise anstrengend. Mitverantwortung zu tragen hebt die Energie, den Ehrgeiz und die Zufriedenheit.“ (Lucie)

Die Probeninhalte sind formulierte Fragen, die sich durch die teilnehmenden Tanzenden über die gemeinsame Erfahrung und Reflexion erweitern und verdichten. Es ist grundsätzlich ein Angebot zu spielerischer Konzentration für beide Seiten – die Teilnehmer und die Choreographin. Sie veranlasst, ermöglicht und moderiert das Austauschen und Verarbeiten von Eindrücken. Der auf etwas Größeres, über sich selbst hinaus weisende Wert dieser Arbeit liegt in dem Unbekannten, das eine Produktionsgemeinschaft entdeckt. Dies zuzulassen ist ein Hinweis auf Veränderung, einer Grundeigenschaft von Leben und Entwicklung. In dieser choreographischen Arbeit geht es vor allem um den Umgang mit implizitem Wissen und mit Wahrnehmungsprozessen, die in Komposition münden. Zusammen genommen ergibt sich ein Raum gemeinsamer Wissensspuren. Das Feld so weit aufzumachen, entspricht der Intention, den Raum möglicher Wirkund Wissenszusammenhänge im Tanz zu vergrößern. Dazu gehört auch, sich von festgelegten Projektionen auf Jugendliche zu lösen und mutig einen noch nicht definierten Raum zu betreten bzw. sich nicht so leicht von Deutungsreflexen und Kontrollmechanismen verführen zu lassen. Teilzuhaben macht für alle (kunstschaffenden) Menschen weitaus mehr Sinn, als nur zu- oder eingeteilt zu werden. Wir könnten uns allen mehr zutrauen, allein indem wir unseren nach Gewissheit suchenden Blick entschulen, die Blende auf Neugierde weiten und Fragen stellen. Das Infragestellen der Verhältnisse scheint mir die Grundlage für ein selbstbestimmteres Leben zu sein. „Stop Teaching“ hieße in diesem hier gemeinten Sinne eine hellwache Form der Unwissenheit, gepaart mit dem Aufsuchen von Unsicherheit. Dies verlangt eine Haltung der (Selbst-)Akzeptanz und eine

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starke (Selbst-)Bewusstheit. In der beschriebenen Weise werden integrierende Aufmerksamkeiten hergestellt, kollektiv und individuell verarbeitet und wieder in den offenen Raum hineingebracht. Tanz ist Raum. Alles, was im Raum geschieht, ist...! „Man muss vor allem offen sein für Neues und die Fähigkeit haben, sich auf vieles einzulassen. Oder zumindest bereit sein, das lernen zu wollen. Menschen, die sich rein körperlich bewegen wollen und sich von teilweise kontroversem Inhalt innerlich distanzieren, sollten lieber nicht zum Klub_21 kommen. Sie würden wahrscheinlich auch nicht glücklich.“ (Edna) Was wäre dein größter Wunsch, was ein Zuschauer dich nach dem Stück fragt? „Wie kann man mitmachen?“ bzw. „Wo kann man sich einschreiben?“

L ITERATUR Bateson, Nora (2010): An Ecology of Mind. A Daughter’s Portrait of Gregory Bateson. Dokumentarfilm, Canada/USA: The Impact Media Group. Dröge, Wiebke (2009): „Bevor Form entsteht. Entsichern und Begleiten als Verwebungsprozess von dynamischen Wissensfeldern“, in: Kristin Westphal/Wolf-Andreas Liebert (Hg.), Gegenwärtigkeit und Fremdheit. Wissenschaft und Künste im Dialog über Bildung, Weinheim/München: Juventa, S. 235-252. Dröge, Wiebke (2010): „‚Bevor Form entsteht‘ – informelle Bühnen von Tanz(enden)!“, in: Margit Bischof/Claudia Rosiny (Hg.), Konzepte der Tanzkultur. Wissen und Wege der Tanzforschung, Bielefeld: transcript, S. 95-108. Dröge, Wiebke (2012): „Interview“, in: Bundesverband Tanz in Schulen (Hg.)/Katharina Schneeweis (Red.), Leitfaden zur Initiierung, Gestaltung und Optimierung tanzkünstlerischer Projekte an Schulen, Köln: Bundesverband Tanz in Schulen, S. 11-55, online unter www.bv-tanzinschulen.info/filead min/user_upload/content-service/TIS_Leitfaden_2012_End.pdf (Stand: 11.12.2013).

Fremdes in Bildung und Theater/Kunst K RISTIN W ESTPHAL Antons Sturmflut Also ich will eine Sturmflut darstellen. Das hier ist ein kleines Dorf und das hier ist der Deich. Wenn Selina an der Lasche hier zieht, bricht der Deich und das Wasser spült da rein und haut die Häuser weg. Dort füll ich vorher das Wasser rein. Und das war’s dann auch schon. Und was ist das hier? Das sind die Häuser vom Dorf und das hier ist ein Baum. Blitzeis Blitzeis hätte ich auch gerne gemacht. Da hätte ich alles so ganz bunt gemacht und dann hätte ich alles mit weißem Puderzucker übergossen. Das hätte ich auch so gemacht: so dass es erst so regnet, und dann aufhört zu regnen und dann plötzlich alles gefriert so, indem weißer Puderzucker darüber gestreut wird. ZITATE AUS DER ARBEIT „KATASTROPHEN BAUEN“ (VGL. MEYER-KELLER/MÜLLER 2009)

In den letzten Jahren haben vielfach neue Ansätze für eine Zusammenarbeit der Künste und Bildung in interdisziplinär angelegten Projekten dazu beigetragen, dass eine produktive Annäherung zwischen professionellen Theater-, Tanz- oder

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Performance-Machern in Kooperation mit Schulen oder im außerschulischen Bereich mit Kindern und Jugendlichen stattfinden konnte.1 Dem gegenüber steht eine geringere Anzahl an künstlerischen Projekten – die zum Beispiel in Belgien oder der Schweiz anzutreffen sind –, die professionell mit Kindern als Kindern und als Experten ‚on stage‘ arbeiten und teils international touren.2 Beide Varianten eröffnen Möglichkeitsräume für eine Spielpraxis in Bildungs- und Kunstinstitutionen, die nicht allein davon ausgeht, dass Kinder und Jugendliche rein kognitiv in die Unterscheidung von Symbolen, Zeichen und kulturellen Traditionen eingeführt werden, sondern darüber hinausgehend zur Fähigkeit der Unterscheidung durch zum Beispiel Theaterspielen selbst gelangen oder lernen, Performances als Rechercheinstrument einzusetzen. Von den Modellen im ästhetischen und kulturellen Feld, die unter anderem bedeuten, Kinder auf die Bühne zu holen bzw. performative Räume zu öffnen für kindliche Erfahrungs-, Sichtund Artikulationsweisen, erhofft man sich, dass sie nicht nur auf den Bildungshorizont bzw. -prozess der beteiligten Kinder und Jugendlichen insgesamt oder auf die Ausgestaltung der Institutionen in Kunst und Bildung zurückwirken, sondern ebenso Impulse setzen für eine neue Art und Weise, Kunst mit Kindern statt für Kinder zu realisieren. Damit wird kräftig an vorhandenen pädagogischen, aber auch künstlerischen Traditionen gerüttelt, die noch einem Duktus des Belehrens und Vorführens verhaftet sind. Die Aufmerksamkeit solcher Projekte, um die es uns in diesem Band insbesondere geht, setzt sich – wie im Folgenden noch zu sehen sein wird – mehreren Anforderungen aus: auf der Ebene der Aufführung und deren Rezeptionsund Produktionsästhetik; auf der Ebene, wie sich mit und durch die Künste auseinandergesetzt wird. Weniger geht es um die Ermittlung von Bedeutungen eines Stücks als vielmehr um die spezifische Situation einer Aufführung, die Sinn selbst erst hervorruft. Die leiblich-körperliche Anwesenheit von Zuschauer und Akteur konstituiert Theater als eine Theatersituation, die mit der grundlegenden Fremderfahrung verbunden ist, sich als Anderer vor Anderen zu zeigen. Damit verbindet sich ein Verständnis von Kunst als Ereignis, das erst im Moment des

1

Das Thema wurde von mir zuletzt im Kontext phänomenologischer Diskurse bearbeitet (vgl. Westphal 2011, 2012 sowie Westphal (Hg.) 2012).

2

Erwähnt sei das unter Dirk Pauwels vom Victoriatheater in Gent, Belgien (fusioniert 2008 zum Campo arts centre) entwickelte Konzept, Theater mit Kindern für Erwachsene zu realisieren. Dazu gehören die Stücke üBUNG (2001) von Josse De Pauw, gefolgt von Tim Etchells That Night Follows Day (2007) und Before Your Very Eyes (2009) der Gruppe Gob Squad sowie Philippe Quesnes Next Day (2014), vgl. den Beitrag von Patrick Primavesi im vorliegenden Band, S. 157-183.

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‚Vor-Augen-Tretens‘ sein Potenzial in Zeit und Raum entfaltet. Diese Perspektive lenkt das Bewusstsein auf die Gegenwart und den Erfahrungsprozess aller Beteiligten, der sich auch darin bestimmt, was nicht auslegbar ist, und uns auf das Phänomen des Nicht-Darstellbaren, Unbestimmten und Fremden stoßen lässt (vgl. Bilstein/Dornberg/Kneip 2007). Sie führt uns dergestalt zu einer anderen Wahrnehmung nicht nur von Theater, sondern auch zu einer anderen Sichtweise eines Subjekt- und Bildungsbegriffs, der über seine kognitive Ausrichtung hinaus auf die Wirklichkeit einer körperlich-sinnlichen und situativ-szenischen Aufführungspraxis im Theaterspielen abhebt (vgl. Westphal 2006). Ästhetische Erfahrungsprozesse im Theaterspielen sind unseren Gedanken zu Folge nicht mehr orientiert an der Vorstellung eines Bildungsverständnisses, das Bildung als bloßen Aneignungsprozess von Bildungsgütern begreift, die dem Subjekt mehr oder weniger äußerlich bleiben. Das Subjekt rutscht vielmehr in unserer Betrachtungsweise in eine andere Position: eine doppelte. Es ist Subjekt, soweit es den Bildungsprozess mit hervorbringt, in dem es sich konkret befindet – zugleich ist es Teil eines Kontextes, eines Gegenstandes oder eines Gegenübers, dem es sich erfahrend überlässt, über das es nicht vollständig verfügt.3 Ästhetische Erfahrungen im Theaterspielen sind nicht nur zu verstehen als aktive Leistung im Sinne des Erkundens und Erforschens von Welt- und Selbstverhältnissen, sondern auch als eine Leistung im passiven Sinne des Widerfahrens und Gewahr-Werdens, des Affekts und Gefühls, Angerührt-Werdens oder auch Nicht-Verstehens. „Kunst ist fremd. Wenn sie es nicht wäre, ist sie keine“, sagt Bernhard Waldenfels. Fremderfahrungen kann man nicht per Lehrplan verschreiben. Sie sind jedoch ein wesentlicher Bestandteil in der Begegnung mit den Künsten unabhängig davon, ob diese Begegnung im außerschulischen oder im schulischen Kontext gebrochen wird. Die nachfolgenden Überlegungen zur Fremdheit basieren – vor dem Horizont anthropologisch-phänomenologischer Diskurse in der Philosophie und Pädagogik – auf einer Vorstellung von Kunst und Bildung, in der die Künste weder als Illustration oder Beiwerk von Wissen noch als Auslöser für das Reproduzieren tradierter Interpretationsmuster ‚dienen‘, sondern in der die Künste als Element von Fremdheit tradierte Interpretationsmuster und Normierungen geradezu stören und auf diese Weise individualisierte Bildungsprozesse erst ermöglichen. In den Prozessen der Aufnahme und Aneignung von Kunst werden Bildungsprozesse initiiert, die die Beteiligten dazu herausfordern, sich auf Irritationen, Grenzerfahrungen und Überraschungen einzulassen, um sich und Welt

3

Befragt wird diese These in dem Band Performances der Selbstermächtigung, herausgegeben von Kristin Westphal und Wolf-Andreas Liebert (2014).

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anders zu sehen und somit kulturell verfestigte Wahrnehmungs-, Fühl- und Denkmuster zu verlassen.4 Die Überlegungen kreisen zunächst um die grundlegende Frage nach der bildenden Wirkung der Künste und den darin verborgenen Fremdheitspotenzialen. Dabei gehen wir davon aus, dass dem Leib für jegliches ästhetische und künstlerische Handeln eine zentrale Bedeutung zukommt, insofern er an den Sinnstiftungsprozessen der Künste stets beteiligt ist, die er zugleich hervorbringt. Deutlich wird: Fremdes in der Kunst kann sich in verschiedenen Dimensionen artikulieren: als Thema, als Verfahrensweise und als Erfahrung der Irritation. Eingebettet wird das Fremde in das für Bildungsprozesse typische Generationsverhältnis.

F REMDES

IN DEN

K ÜNSTEN UND W ISSENSCHAFTEN

Paul Valéry vergleicht die künstlerischen Tätigkeiten mit denen der Wissenschaften. Kunst sei nicht funktional und zweckgebunden: „Die auszudrückende Sache ist bis zum Schluß nahezu frei, denn das Ziel ist die Korrespondenz selber – und nicht so sehr die Nutzung der Korrespondenz.“ (Valéry 1993/1926: 26) Er kommt zu dem Schluss, dass sie stets ein und dasselbe Ziel anstreben, nur mit zweierlei Verfahren. Das Ziel beschreibt Valéry als ein Bewältigen, Überwinden von etwas. Die Einstellung darauf geschehe durch Angleichung an das Milieu oder durch Veränderung des Milieus, aber die Trennung dieser beiden Wege sei künstlich (vgl. ebd.: 25). Wissenschaft und die Künste sind diesen Überlegungen zu Folge mit Blick auf die Frage nach dem Zweck und ihrer Funktion zu unterscheiden, aber gleichermaßen in der Lage, Eingriffe in die Wirklichkeit vorzunehmen und neue Wirklichkeiten zu schaffen. Auch die Künste verändern Wirklichkeit und gehen experimentell vor, um aus Fremdem Neues zu schaffen. Diese Vorstellung von Wissenschaft und Kunst ist als Kritik gegenüber einem einseitigen Verständnis einerseits von Kunst und andererseits von Wissenschaft als Repräsentation zu lesen. So finden wir derzeit in den zeitgenössischen Künsten eine forschende Auseinandersetzung mit den Ordnungen des Sehens und Hörens, die über ihre Grenzen hinausweisen, und umgekehrt haben in den Wissenschaften Verfahrensweisen Raum bekommen, die künstlerischen nahe

4

Diesen Thesen und Fragen widmet sich die Veröffentlichung Gegenwärtigkeit und Fremdheit unter der Herausgeberschaft von Kristin Westphal und Wolf-Andreas Liebert (2009).

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kommen.5 Vor diesem Horizont eines Ineinanderdenkens von Verfahrensweisen sind die Fragen interessant: Wie können wir eine Bildung gestalten, die das gemeinsame, die Wirklichkeit übersteigende Potenzial der Wissenschaften und Medien/Künste aufnimmt? Und was kann gerade die am konkreten Phänomen und an der bildenden Mitwirkung der Dinge arbeitende Phänomenologie für die Beschreibung und Analyse von neueren Artikulations-, Produktions- und Rezeptionsweisen im Theater beitragen? Wie lassen sich die mit Hör- und Sehgewohnheiten, mit Wirklichkeiten und Möglichkeiten, Natürlichkeit und Künstlichkeit spielenden Verfahrensweisen beschreiben und wie vor allem lassen sich Fremdheitserfahrungen – als Transformationsprozesse bzw. im Sinne von Walter Benjamin Übersetzungsvorgänge etwa – überhaupt beschreiben? Haben wir dafür eine umschreibende Sprache oder entzieht sich diese nicht eher?6

D AS F REMDE

IN DER

P HILOSOPHIE

Lässt man sich in den Wissenschaften auf die Frage nach dem Fremden ein, werden die Grundfesten der Wissenschaft selber angerührt. In der Moderne wird von der Vision einer allgemeinen Vernunft ausgegangen, in der das Eigene und Fremde nur dann zum Thema wird, wie zum Beispiel in Hegels idealistischer Philosophie, wenn das Fremde sich als etwas Angeeignetes unter ein Allgemeines subsumieren lässt. So wird unterstellt, dass Vernunft uns allen gemein ist und jedes Subjekt um der Wahrheit willen nicht individuellen, sondern allgemeinen Interessen und Überzeugungen folgt. Selbst das mir gegenüber stehende andere Subjekt gilt hinsichtlich seiner Vernunft und Autonomie als mit mir vergleichbar. Die Fremdheit wird in diesen Diskursen neutralisiert, indem der Andere als ebensolches autonome Subjekt anerkannt wird. In der Philosophie und den Geisteswissenschaften finden wir das Fremde lange bis ins 20. Jahrhundert hinein nicht als Grundbegriff etabliert, außer in der Form letztlich aufhebbarer Entfremdung in der Hegel’schen/Marx’schen Tradition, so Bernhard Waldenfels (1997: 16), der sich grundlegend mit den Dimensionierungen von Fremdheit auseinandersetzt. Entfremdung heißt in dieser Tradition, dass das Fremde ein

5

Vgl. die von der Medienkünstlerin Dorcas Müller unternommene Untersuchung Strahlenwirkung I. Eine thermografische Untersuchung im Rahmen eines Symposiums an der Universität Koblenz und die dazu gehörige Veröffentlichung (Liebert/Westphal 2009). Weitere Informationen unter www.uni-koblenz.de/~west phal/sym/.

6

Vgl. unter methodologischen Gesichtspunkten Westphal/Zirfas 2014.

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Durchgangsstadium bildet, das mit seiner Aneignung ein Ende findet. Das gilt auch für den Bildungsprozess selbst. Als Erfahrung durchläuft er das Stadium der Auseinandersetzung mit dem Anderen und Fremden und kehrt dann bereichert zu sich selbst zurück. Dagegen akzentuiert Waldenfels die Erfahrung des Fremden nicht als Rückweg aus der Entfremdung, sondern als unabschließbare Entzugs- und Kontingenzerfahrung. Fremd ist ein relationaler Begriff. Er zeigt sich stets mit Bezug auf eine bestimmte Normalität und Ordnung. Jedoch zeigt er sich nicht als integrierbares Fremdes, als Beunruhigung, als Grenzerfahrung, als Überschreitung von Ordnungen.7 Hierbei gibt es Abstufungen: Sie bewegen sich zwischen der Erfahrung, die Fremdes in bekannte Muster integriert, der paradoxen Erfahrung der Unzugänglichkeit des Fremden im Sinne Husserls, bis hin zu einer Erfahrung, die aufstört und irritiert und dazu nötigt, dass man Altes aufgibt. Das Fremde ist ein Schlüsselbegriff einer Phänomenologie der Erfahrung. „Dialogisch gesprochen erscheint das Fremde als jenes, worauf wir antworten, wenn wir etwas sagen und tun.“ (Waldenfels 1997: 77) Es melde sich in Form von Aufforderung, Provokation, Stimulation und Anspruch. Eigenes und Fremdes stellen dabei keine stabilen Größen vor/dar, die Voraussetzung einer Erfahrung wären; vielmehr gilt, „dass Eigenes und Fremdes aus einer Differenzierung hervorgehen“ (Waldenfels 2006: 156). Als Differenzierungsgeschehen ist die Erfahrung des Fremden durch eine Verschiebung gekennzeichnet, die mit einer uneinholbaren Nachträglichkeit verbunden ist. „Das Antworten geschieht hier und jetzt, doch es beginnt anderswo.“ (Waldenfels 2006: 215; vgl. auch Merleau-Ponty 1960: 320) Fremdes ist fernerhin – dem Wesen des Theaters ähnlich – durch Flüchtigkeit gekennzeichnet. Es ist nicht dingfest zu machen, da es außerhalb von Ordnungsmustern und Regelungen steht. „Die Aufforderung des Fremden hat keinen Sinn, und sie folgt keiner Regel, vielmehr provoziert sie Sinn, indem sie vorhandene Sinnbezüge stört und Regelsysteme sprengt.“ (Waldenfels 1997: 52) Diese Nichtassimilierbarkeit kommt für Waldenfels besonders deutlich in der Kunst zum Tragen.8 Merleau-Pontys grundlegende Untersuchungen zu den Formen zwischenleiblicher Begegnungen greifen unter dem Aspekt des sich zeigenden Anderen auch die Schauspielkunst auf. Am Beispiel der Geste eines Schauspielers beobachtet er die Verflechtung vom eigenen und fremden Leib. „Was ich als den Leib des Anderen zu betrachten beginne, ist eine Möglichkeit von

7 8

Vgl. die Einführung in die Studien von Waldenfels (2006: 11). Vgl. hierzu die Anregungen von Bernhard Waldenfels, die er im Rahmen der Philosophischen Salons – Frankfurter Dialoge II am Schauspiel Frankfurt vorgetragen hat und die meinen Ausführungen unterlegt sind (vgl. Waldenfels/Schweeger 2004).

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Bewegungen für mich.“ (Merleau-Ponty 1994: 437) Ein Zuschauer im Theater ist in der Wahrnehmung beim Anderen und nie ganz bei sich. Eine Aufführung ermöglicht insofern für die Beteiligten die Überschreitung des Eigenen bzw. dessen, was sie dafür halten mögen (vgl. Roselt 2008: 245). Levinas hebt hervor, dass sich das Ich im Begehren besonders durch unsere kulturelle Tätigkeit, die leibliche, sprachliche und künstlerische Gebärde, auf den Anderen richte, ihn aber zugleich durch die kulturell ermittelten Normierungen und Wissensbezüge unabwendbar verfehlen würde (vgl. Lippitz 2012: 11 f.). Nach ihm ist der Andere als Fremder – radikaler als bei Merleau-Ponty – als Entzug gekennzeichnet: „Die Beziehung zum Anderen stellt mich in Frage, sie leert mich von mir selbst; sie leert mich unaufhörlich, indem sie mir so unaufhörlich neue Quellen entdeckt.“ (Levinas 1997: 219 f.) Sowohl der strukturalen Ontologie von Merleau-Ponty wie der Fremdheitsphilosophie von Levinas als auch der „Responsiven Rationalität“ von Waldenfels liegt der Kerngedanke zu Grunde, „dass jedes soziale Handeln und jede soziale Erfahrung nicht im einzelnen Menschen ein einpoliges Aktzentrum hat, von dem allein aus die Initiativen ausgehen und die Wirkungen zurücklaufen und kalkulierbar wären“ (Lippitz 2003: 129). Mit Blick auf unsere Frage nach den Fremdheitspotenzialen in den Künsten ist daran interessant, dass sie sich mittels Befremdung durch Andere und Anderes vollziehen, und uns von daher zu einem anderen Subjekt- und Lernverständnis führen. Die Erfahrung des Fremden führt uns über uns in die Zwischenwelt der Kommunikation und Interaktion hinaus, von der aus auch Bildung neu und anders konfiguriert werden muss: nämlich als Struktur von Alterität und Fremdheit. Pädagogik ist dann zu verstehen als ein offenes, dezentriertes und responsives Geschehen, das zwischen den Generationen stattfindet (vgl. Lippitz 2008: 165).

„F REMDWERDEN

UND - MACHEN “ IM

T HEATERSPIEL

Entscheidend für die weitere Argumentation sind die von Waldenfels inspirierten Fragen: Wie wird das Fremde in den Künsten als Fremdes erfahren? Wie können wir vom Fremden sprechen? Wie kann es sichtbar gemacht werden? Wie wird es in den Künsten sichtbar?9 Macht es einen Unterschied, wenn ich in der Philosophie über das Fremde spreche oder es in seiner Unmittelbarkeit vermittelt über die Künste erfahre? Die Verfremdung spielt in der Kunst- und Theatertradition

9

Vgl. Waldenfels/Schweeger 2004: 11.

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eine wichtige Rolle. Fremdheit hat hier zu tun mit einer speziellen Form der Aufführungspraxis. Unter Verfremdung ist bei Brecht (oft gleichbedeutend mit ‚Entfremdung‘) der Prozess des Fremdwerdens bzw. des Fremdmachens zu verstehen, indem gewohnte Darstellungs- und Bedeutungszusammenhänge aufgelöst, neue Wahrnehmungsweisen und Erkenntnismöglichkeiten eröffnet werden. „Eine verfremdende Abbildung ist eine solche, die den Gegenstand zwar erkennen, ihn aber zugleich fremd erscheinen lässt.“ (Brecht 1967: 680) Das Bekannte soll nicht mehr als selbstverständlich erscheinen, damit es auf neue Weise erkannt und auch verändert, bzw. in seiner Veränderbarkeit begriffen werden kann. Ein Beispiel aus Brechts Stück Mann ist Mann zeigt uns den Ansatz seines frühen politischen Theaters, in dem es um Gewohnheiten geht, die zu körperlichen Haltungen geronnen sind und von Brecht als veränderbar ausgelegt werden: Bei Jeraiah Jip, einem von vier Soldaten einer Maschinengewehrabteilung der britischen Kolonialarmee in Indien, bleibt, nachdem er die Opfergaben aus einem Tempel mit seinen Kumpanen geplündert hat, sinnbildlich ein Teil seines Körpers zurück. Jip bleibt mit den Haaren in einer Pechfalle hängen. Sein Körper gehört nicht mehr ihm, sondern dem Tempel. Sein Körper hinterlässt Spuren. Das hat im weiteren Verlauf des Stücks fatale Folgen. So entzieht sich der Körper der eigenen Verfügung und ist unweigerlich einer Veränderung ausgesetzt. Damit ihn seine fehlenden Körperhaare nicht verraten, versteckt sich unser Proband Jip. Seine Kameraden tauschen derweil seine Identität mit Galy Gay, um zu verhindern, dass Jip vom Offizier identifiziert wird. Dieser findet an dem Wechsel der Identität wiederum Gefallen, ohne das Spiel zunächst zu durchschauen. Die fremde Identität bedeutet dem neuen Inhaber Galy Gay in der Folge, bisherige Gewohnheiten und Muster aufzugeben; mehr noch: sich aufzugeben. Eine große Irritation ist im weiteren dramaturgischen Verlauf des Spiels nämlich, dass er in der Begegnung mit seiner nach ihm suchenden Frau verleugnet, sie zu kennen. Zum Höhepunkt gelangt das Spiel um die Verleugnung seiner Identität, indem er – nun gänzlich in die Haut des Galy Gays geschlüpft – seiner eigenen und zugleich fremden Beerdigung beiwohnt.

Dieses Beispiel an den belustigenden Fragen zur (Nicht-)Identität lässt sich auch lesen als eine Reflexion über die Arbeit eines Schauspielers, der in fremde Körper und Identitäten schlüpft. Anders als das psychologisierende Theater geht es Brecht gerade nicht um die Aneignung des Anderen im Sinne einer Identifikation. Es zeigt uns die von Brecht als zentrales Problem eines Theaters im wissenschaftlichen Zeitalter erkannte Frage, ob es nicht nur zugleich unterhaltend und lehrhaft sein, und ob es ‚aus einer Stätte der Illusionen zu einer Stätte der Erfahrungen gemacht werden‘ könne. Im Tun und weniger in der Einfühlung liegen

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nach Brecht die Darstellungsmöglichkeiten des neuen Theaters. Es „lässt seine Auffassung von Verfremdung weiterhin brauchbar erscheinen – allerdings nicht im Sinne einer schematisch wiederholbaren Methode, vielmehr als Infragestellung des Theaters selbst, seiner Voraussetzungen, Institutionen und Formen“ (Primavesi 2005: 378).10 An unserem Beispiel festgemacht, das ein Verwirrspiel um Identität ausgehend von noch gesicherten Verhältnissen und Gewohnheiten anstellt, geht es im übertragenen Sinne auch um die Identität des Theaters selbst, die auf dem Spiel steht. „In dem Stück wird die nicht-identische, unzugängliche Seite des Subjekts ausgestellt, derzufolge es immer schon ein Anderer war.“ (Lehmann 2002: 218) Phänomenologisch gewendet ist Fremdheit konstitutiv für jede Identität. Ihr wohnt der Entzug – wie dem Leibkörper schon – inne. Menschliche Existenz ist demzufolge immer schon ‚kritisch‘ und Identität immer schon eine Suchbewegung, ohne dass sich der Mensch je findet. Das Theater als ein Ort, in dem diese Erfahrung für Theatermacher und -rezipienten möglich gemacht wird, ist diesen Fragen selbst ständig ausgesetzt. Wird das Befremden bei Brecht als Theatermethode verwendet, um eine – auch körperliche – Haltung zu einem Geschehen und einer Figur zu gewinnen und auf diese Weise zu neuen Erkenntnissen über ästhetische Distanz zu gelangen, ist der Performancekunst, wie sie sich im letzten Jahrhundert seit den 60erJahren und bis heute zu vielfältigen Formen als Kritik gegenüber den klassischen Künsten herausgebildet hat, daran gelegen, sich auf ‚Widerfahrnisse‘, Zufälliges, auf Ungeregeltes, Improvisiertes einzulassen. Handlungen werden in der Performancekunst situativ entwickelt und nicht mehr entlang eines Skripts; das Miteinanderspielen generiert erst den Sinn, statt ihn auszuführen. „Der Begriff der Performance bezeichnet nicht nur Prozesse der Verkörperung bzw. der Ausführung körperlicher Handlungen, sondern immer auch deren Wahrnehmung.“ (Fischer-Lichte 2005: 23)

So unterscheidet sich eine Performance vom bloßen Tun nicht etwa durch den Rahmen, in dem sie stattfindet, wie wir es vom Theater aus anderen Kontexten her kennen, sondern durch bewusste Inszenierung und/oder Rezeption, die dieses Tun als Performance erst qualifizieren. Der Einfluss der Performancekunst wie

10 Mit weiteren Hinweisen zu den Quellen von Brechts Auffassung. Vgl. auch den Sammelband von Raddatz (2007), hier besonders das Gespräch zwischen Raddatz und Weber, S. 257 ff.

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auch der Medien auf die Darstellenden Künste führt im weiteren Verlauf bis heute zu einer Vielfalt an Darstellungsformen und -möglichkeiten.

F REMDES

ERFAHREN

Realität derzeit ist an unseren Schulen: Künstlerische Fächer werden eher gekürzt bzw. müssen sich Ressourcen untereinander aufteilen. Sie unterliegen außerdem häufig einer Instrumentalisierung/Ökonomisierung. Zugespitzt formuliert heißt das, dass in der Regel die Erfahrung von Fremdheit in schulischen Ordnungen nicht zugelassen wird; ihr kommt sogar die Rolle eines Störfaktors zu, die besonders schulische Unterrichtsabläufe eher zu gefährden droht. Unvereinbar scheinen also die Sprachen der Künste und der Wissenschaften gegenüber der Bildung und in der Frage nach dem Verhältnis zu Selbst und Welt. Das Subjektive, das Leiblich-Sinnliche, das Qualitative entzieht sich der messbaren Objektivierbarkeit. Es passt nicht in die Ordnung des objektiven Wissens, es wird zunehmend unvertraut und befremdlich, es entzieht sich als Lebendiges den quantifizierbaren Wissenschaften.11 Die neuere Bildungsdiskussion begreift demgegenüber Bildung als Unverfügbarkeit vor dem Horizont von Alterität. Sie hält an Kontingenz, Unverfügbarkeit, Fremdheit und Alterität wie auch Kreativität usf. fest und ist als Kritik gegenüber einem einseitig rational ausgerichteten Verständnis von Kunst und Wissenschaft zu verstehen (vgl. Westphal/Liebert 2009: 9). Der Rekurs auf die Phänomenologie des Fremden nach Waldenfels wie auch auf die neuere Lesart von Brechts Verständnis von Theater, Körper und Identität als Nicht-Identität erlaubt uns, deren Theorie produktiv zu machen für die Frage, inwiefern Fremdes Anlass sein kann, Bildungsprozesse anzustoßen und wenn ja, wie diese aussehen. Geklärt wird hierfür die Bedeutung von Irritationen, Be-

11 Kutschmann (1986: 295) rekonstruiert das Verhältnis von Körper und Naturwissenschaft und belegt wie in dieser Zeit, in der Descartes gelebt hat, der Mensch durch die von ihm hergestellten Instrumente und Maschinen körperlich verwickelt ist. So finde eine Inversion von Explanans und Explanandum zwischen Körper und instrumentellen Modell statt. Das heißt, wenn der Körper noch anfangs als erklärendes Paradigma für die Instrumentenentwicklung fungierte, so dreht sich diese Beziehung dergestalt um, dass das Instrument zum Modell des menschlichen Körpers wurde. Vgl. den aktuellen Diskurs innerhalb der Forschung zur Kulturellen Bildung (Rat für Kulturelle Bildung 2013).

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fremdungen oder gar Störungen bis hin zu gewaltsamen Einbrüchen, wie wir sie von Katastrophen für die Menschheit her kennen. Ein zentraler Gedanke für die Pädagogik ist, dass es bei Fremderfahrungen gerade nicht darum geht, sich diese anzueignen, ihnen den beunruhigenden Charakter zu nehmen, wie es in einer identifikatorischen künstlerisch-schulischen Praxis häufig unter didaktischen Gesichtspunkten der Fall ist. Im Gegenteil geht es vielmehr darum, dem Fremden seine Fremdheit zu belassen. Auch gehen die vorgestellten Theorien nicht konform mit der gängigen Vorstellung in der Pädagogik, dass Bildung mithilfe ‚innerer Kräfte‘ sich vollziehen würde. Bildung wird hier vielmehr als ein Antwortgeschehen betrachtet, an dem die Umwelt und die Anderen beteiligt sind und das letztlich – im Sinne eine Nicht-Ortes – von woanders her rührt. Fremdheit begegnet uns darüber hinaus nicht nur im Anderen, sondern auch als Fremdheit meiner selbst im eigenen Hause. Die Erfahrung des Fremden ist mehr als ein bloßer Erfahrungszuwachs. Sie bedeutet ein SichFremdwerden. Während die Andersheit des Anderen eine Verflechtung von Eigenem und Fremden, nämlich die intersubjektive und interkulturelle Ebene der Zwischensphäre bedeutet, zeigt die Andersheit meines Selbst die Fremdheit in mir selbst (vgl. Woo 2007: 68). Fremdes erfahren wir also auch intrasubjektiv und intrakulturell. Lippitz stellt Alterität und Bildung in einen systematischen Zusammenhang: Das Bildungssubjekt konstituiert sich demnach selbst und wird konstituiert in den Spannungsfeldern von Selbst- und Fremdbestimmung, von Selbstsein und Anderssein, von Ich und dem Anderen. Kein Mensch handelt, denkt oder fühlt allein aus sich selbst heraus. Handlungen, Erfahrungen, Sprache sind im „Zwischenreich der Interaktionen bzw. in den Zwischenwelten der Medien“ (Lippitz 2008: 44) angesiedelt. Sinn artikuliert sich als Differenzgeschehen. Dies gelte auch für den Leib. Er ist ein vieldimensionales Geflecht von Natur-, KulturFremd- und Selbstartikulationen, das sich einer in sich zentrierten Selbstbeobachtung entzieht (vgl. ebd.). Alterität und Fremdheit als Struktur von Bildung erlaubt es – so Lippitz –, neu und anders über Pädagogik zu denken und den pädagogischen Umgang mit den Heranwachsenden als ein offenes Geschehen zu gestalten und zu erfahren. Dieser Zugang in der Pädagogik korrespondiert mit der Vorstellung eines schöpferischen Tuns in den Künsten, wie wir es in der Theatertheorie und anhand von Theaterkonzepten in der Praxis mit Kindern hier besonders untersuchen wollen.

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Woo, Jeong-Gil (2007): Responsivität und Pädagogik. Die Bedeutung der responsiven Phänomenologie von Bernhard Waldenfels für die aktuelle phänomenologisch orientierte Erziehungsphilosophie, Hamburg: Dr. Kovaþ.

Gemeinsam lernen1 Theaterpädagogik und ästhetische Erfahrung F LORIAN V ASSEN

T HEATER

UND

P ÄDAGOGIK – T HEATERPÄDAGOGIK

Theaterpädagogik ist sprachlich kein schönes Kompositum, lange wurde es kaum verwendet und hatte dem entsprechend wenig Wirkung. In anderen europäischen Sprachen ist Theaterpädagogik immer noch ein ‚Fremdwort‘ (zum Beispiel im Englischen: „theatre pedagogy“) und auch in der deutschen Sprache verliert es erst langsam seine irritierende Künstlichkeit – in der Praxis, vor allem im Umgang mit sogenannten Amateuren in sozialen Einrichtungen und sogar am Theater, wird es oft immer noch vermieden. Auch wenn es den Begriff schon länger gibt, ist das kulturelle Subfeld der Theaterpädagogik, wie wir sie heute verstehen, wohl erst in den späten 1960erund 70er-Jahren entstanden, weniger anschaulich als „Kinderladen“, eher vergleichbar mit dem sprachlich ebenfalls ambivalenten Begriff der „Studentenbewegung“. In dem Kompositum Theaterpädagogik stoßen zwei deutlich entgegengesetzte Bereiche aufeinander, deren Differenzen – hier Kunst, da Pädagogik – unüberbrückbar schienen. Das geniale Kunsttheater, fest verankert in der bürgerlichen Gesellschaft, hatte nichts zu tun mit der autoritären Pädagogik, der – wie es später kritisch hieß – „schwarzen Pädagogik“ der damaligen Zeit. Nicht zufällig fallen – nach ersten pädagogischen Reformbestrebungen und der Wandervogelbewegung bzw. nach Ansätzen der Theateravantgarde zu Be-

1

Teile dieses Textes, der eine erweiterte Fassung meines Vortrags auf dem Symposium Stop Teaching! im Künstlerhaus Mousonturm (Frankfurt a. M.) im September 2008 darstellt, sind in der Zwischenzeit an anderer Stelle veröffentlicht worden.

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ginn des 20. Jahrhunderts2 – die Reformpädagogik und etwa Bertolt Brechts Versuche mit dem Lehrstück-Spielen gemeinsam in die 1920er-Jahre3, eine erste Annäherung von Kunst und Pädagogik, u. a. auch im Bauhaus, bei Orff oder Hindemith, wird sichtbar. Der Nationalsozialismus zerstörte diese innovativen Ansätze bzw. integrierte auffällig leicht einige Strömungen der Reformpädagogik und des sogenannten Laientheaterspiels, wie man zum Beispiel an der Person Rudolf Mirbt und dem „Deutschen Volksspiel“4 sehen kann. Die restaurative Nachkriegsphase Westdeutschlands knüpfte in vielen Bereichen, auch in der Theaterpädagogik, nicht an die 1920er-Jahre an, sondern setzte die Praxis der nationalsozialistischen Zeit – mit scheinbarer oder wirklicher Entideologisierung – fort. Erst in dem Maße, in dem sich das Theater in den 1960er- und 70er-Jahren politisierte und für und in die verschiedensten gesellschaftlichen Bereiche öffnete und einmischte (Beispiele: Kindertheater à la Grips, Lehrlingstheater, kritische Versuche mit dem Volkstheater, Boals Forumtheater und LehrstückVersuche), und erst als sich die Pädagogik als Prozess verstand, in dessen Mittelpunkt nicht Belehrung, Erziehungskonzeption und pädagogische Ideologie, sondern das Kind und der Jugendliche stand (bis hin zur antiautoritären Erziehung), entwickelten sich neue produktive Verbindungen, getragen auch von kommunikativen Mustern der Theaterpädagogik.

E RFAHRUNGSWISSENSCHAFT

UND

E RFAHRUNGSKUNST

Galt es als Ziel des Theaters in dieser Phase, im Kontrast und doch in gewisser Hinsicht durchaus analog zum bürgerlichen Theater als moralische Anstalt, noch Sinn, zum Teil Moral, häufig politisches Bewusstsein zu vermitteln, so lieferten Ende des 20. Jahrhunderts Erfahrungs-, Erinnerungs- und Körpertheorien in den Sozialwissenschaften (inklusive der Pädagogik) und Performance, Ereignis, Geschehen, Spiel und situative Begegnung und deren Reflexion in den Künsten die Basis eines veränderten Begriffs des Theaters und der Theaterpädagogik in Theorie und Praxis.

2

Vgl. das Forschungsprojekt des Deutschen Archivs für Theaterpädagogik (Sommer 2010: 23 f.).

3

Vgl. auch die Beziehung von Brecht und dem Pädagogen Peter Suhrkamp, seinem späteren Verleger.

4

Vgl. die Beiträge von Anne Keller (2010) und Andreas Schlüter (2010) zur Geschichte der Theaterpädagogik in der Zeitschrift für Theaterpädagogik.

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Das Theater verlässt immer öfter seinen traditionellen Platz und besetzt die unterschiedlichsten Räume, es löst sich von Zeitvorgaben und sprengt seine dramatische Form. Als kultureller Ort der Geselligkeit und Versammlung begegnen sich nicht nur (Schau-)Spieler und Zuschauer in einem besonderen Spannungsverhältnis sowie die Zuschauer untereinander, es treffen sich auch TheaterAmateure und nicht professionelle Akteure mit professionellen Schauspielern und ‚Theatermachern‘. In einem Erfahrungsraum bietet sich die Möglichkeit für die Korrespondenz von Erfahrungswissenschaft und Erfahrungskunst (vgl. Vaßen 2010), sprich von Pädagogik und Theater. Erinnerung und Erfahrung, Erkenntnis und Gefühl, Erprobung, Erkundung und Darbietung/Veröffentlichung, Wiederholung und Übung, Spontaneität und Improvisation, Bei-Sich-Sein und Außer-Sich-Sein bilden die Grundlage für neue Wissensformen, Theater wird zunehmend zu einem „Laboratorium sozialer Fantasie“ (Müller 1975: 126). Die Kontextbezogenheit des Theaters, seine Entgrenzung im sozialen Feld korrespondiert mit der Öffnung der Theaterpädagogik im ästhetischen Feld. Theater als Gemeinschaftskunst ist sicherlich stärker als Zeichnen, Malen, Schreiben und Lesen eine soziale und zugleich multidimensionale Kunstform. Es bietet als Raum die Basis für Versammlung, Zusammenkunft, Begegnung und damit die Möglichkeit für kollektive Kreativität (vgl. Fischer/Vaßen 2011), d. h. es ist gesellig und damit in besonderem Maße gesellschaftlich. Beim TheaterSpielen findet künstlerische Arbeit statt und zugleich Beziehungsarbeit. Im theatralen Kunstprozess existiert folglich auch ein außerkünstlerisches Potenzial, das die Erweiterung zu anderen sozialen Feldern jederzeit erlaubt, so dass Theater auf der Grundlage der Erforschung von sozialer Wirklichkeit als handlungsund erkenntnisleitendes Modell für Gesellschaft dienen kann.

ALLTAGSTHEATRALITÄT

UND

D IFFERENZERFAHRUNG

Dabei wird vor allem die Inszeniertheit des Alltags, speziell von Kultur, Politik, Sport und anderen gesellschaftlichen Bereichen durch die und in den Medien wahrnehmbar, Bereiche, die geradezu für die Medien inszeniert werden bzw. ihre Dramaturgie durch die Medien erhalten. So erst werden Ereignisse zu Event und Spektakel. In kulissenartigen Environments präsentieren sich die Individuen, kostümiert in speziellen Outfits und ausgestattet mit einem spezifischen Lifestyle. Erfolg haben heißt, wahrgenommen werden, sich zur Schau stellen und Aufmerksamkeit erregen, d. h. tendenziell prominent werden; im Mittelpunkt steht das Marketing der eigenen Person – imagebuilding und impression-

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management.5 Die falsche Marke bei Kleidung, Accessoires und Kosmetika steht für ein falsches Leben. In dieser Fetischisierung manifestiert sich sowohl die Reduktion als auch die Sterilität des Körpers, ganz zu schweigen von der Sprache, die oft völlig abhandengekommen ist oder aber inflationäre Tendenzen aufweist: Über alles und nichts wird geredet, nicht nur in den viel gescholtenen Talkshows, auch in Millionen von SMS und Handy-Telefonaten, twitternd und bei Facebook; Nähe wird suggeriert und zugleich wird Intimität zerstört. Auch Politik machen heißt reden, ohne etwas zu sagen. Dieser Entwicklung steht das Theater in seiner Präsenz, in der körperlichen Beziehung von Spieler und Zuschauer, vor allem aber in der eigenen Theaterpraxis der Beteiligten mit ihrer Leiberfahrung, die neben den Fernsinnen Auge und Ohr auch Tast- und Geruchssinn einbezieht, entgegen. Durch die Kenntnis der Konstruktionsweise von Theatralität können inszenierte, medial bedingte Wirklichkeitsveränderungen besser durchschaut werden. An Stelle der zweidimensionalen, flächigen, nur das Gegenwärtige zeigenden ‚Realitätsbildes’ der neuen Medien bietet das Theater zudem die Möglichkeit von Räumlichkeit, Historizität und Kontextualität. In der ‚Langsamkeit’ des Theaters entsteht ein anderes Zeitbewusstsein als in Alltag und medial geprägter Umwelt; an die Stelle organisierter, verwalteter Zeit tritt lebendige Zeit, treten Freiräume, Umwege, Sackgassen und Experimente, die auch scheitern können und die eine rein funktionale Handhabung von Zeit, ausgerichtet an ökonomischer Rationalität unterlaufen. Selbst wenn Alltagserlebnisse im Theater dargestellt werden, erhalten sie durch die szenisch erarbeitete neue Form eine Tendenz zur Fremdheit, zum Abweichenden, die ‚Normalität’, Regelhaftigkeit und Routine überschreitet und in Frage stellt. Trotz aller Berührungspunkte und Parallelen zwischen ästhetischer und sozialer Theatralität entstehen deshalb im Theater vor allem Differenzerfahrungen. Gerade die Differenz und gleichzeitige Nähe von Figur und Rolle einerseits und Person andererseits kann zu Schwellenerfahrungen führen, die bei den Spielenden Transformationen zur Folge haben (vgl. Fischer-Lichte 2003). Neben dem Sich-Selbst-Fremd-Sein als destruktive Entfremdung des Menschen im Kapitalismus entsteht so Fremdsein als produktive Erfahrung der eigenen Vielheit, das das Fremde als Anteil jedes Menschen sichtbar macht, wie es die neuere Diskussion um Dezentrierung und Identitätsproblematik aufzeigt.6 Im Kontext von Theater und Theaterpädagogik spricht schon Brecht vom „Dividu-

5

Genauso gut könnte man sicherlich von expressionmanagement sprechen.

6

Vgl. u. a. die Schriften von Bernhard Waldenfels; siehe auch die weltinnenpolitische Argumentation in Bezug auf verschiedene Identitätsmerkmale eines jeden Menschen beim Nobelpreisträger für Ökonomie Amartya Sen (2007).

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um“, denn „am einzelnen ist gerade seine Teilbarkeit zu betonen“ (Brecht 1992d: 359). Bei seinen Überlegungen gibt es insofern offensichtliche Bezüge zu den modernen Naturwissenschaften, insbesondere Parallelen zur Quantentheorie: Atom und Individuum als das ursprünglich ‚Unteilbare’ sind beide im 20. Jahrhundert ‚teilbar’ geworden und befinden sich dem entsprechend in einer Wechselwirkung mit ihrer Umwelt, respektive mit anderen Menschen. Brecht spricht deshalb von der „Zertrümmerung der Person“, der „Gespaltenheit des Menschen“ (Brecht 1992c: 320), er betont, dass das Individuum „ein widerspruchsvoller Komplex“ und eine „kampfdurchtobte Vielheit“ (Brecht 1993: 691) sei und dass „das Dividuelle ungeheuer“ ausgebaut werden müsse (Brecht 1992a: 179). Das Neue kommt aus der Fremde/dem Fremden in und außerhalb von uns und bewirkt eine Veränderung des Selbstbildes. 1929 formuliert er dazu pointiert: „Jeder sollte sich von sich selber entfernen. Sonst fällt der Schrecken weg, der zum Erkennen nötig ist“ (Brecht 1992b: 280). Es geht demnach nicht um Ganzheitlichkeit und Identität, sondern um Aufspaltung und Fremdheit.

AISTHESIS

UND

„Z USCHAUKUNST “

Wahrnehmungs- und Ausdrucksschulung als „Zuschaukunst“ (Brecht) und Schauspielkunst ermöglichen ästhetische Erfahrungen und sinnliche Erkenntnisse als Störung von Alltagserfahrungen und produktive Irritation von Alltagsbewusstsein. Die Theater-Praxis zeigt zwar, dass das Selber-Spielen zu intensiveren Erfahrungen führt als das Theater-Sehen, gleichwohl ist Aisthesis als Wahrnehmungsaktivität unabdingbar im theatralen Prozess. Aisthetische Prozesse sind dann ästhetisch, „wenn sie einen Bruch mit den üblichen Wahrnehmungen markieren. Sie haben einen kontemplativen, reflexiven, dekonstruktiven Charakter, der das bislang Un-erhörte, Ungesehene, Un-erahnte hören, sehen und ahnen lässt. Ästhetische Erfahrungen bringen das Andere zur Geltung. In der ästhetischen Erfahrung wird die (sinnliche) Selbsterfahrung zur Fremderfahrung.“ (Zirfas 2005: 74 f.)

Brecht betonte schon früh, dass Zuschauen eine wichtige Tätigkeit ist, die geübt und gelernt werden muss, zumal wenn sie aufgrund genauer Beobachtung zum Handeln führen soll. Er spricht deshalb vom „komplexe[n] Sehen“ (Brecht 1991: 59) und lehnt es ab, „den Zuschauer in eine einlinige Dynamik hineinzuhetzen, wo er nicht nach rechts und links, nach unten und oben schauen kann“ (ebd.) – eine Formulierung, die schon auf das postdramatische Theater vorausdeutet, das

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in seiner dekonstruierten Form von Raum, Zeit, Körper und Sprache sowie seiner Performativität dazu führt, dass in der Grenzüberschreitung von Bühne und Zuschauerraum, besonders in der konstruierenden Rezeption, dem multiperspektivischen Blick und dezentrierten Sehen des Zuschauers, der ästhetische Prozess zu Ende geführt wird. Es geht um gemeinsames Beobachten und Zuschauen, um Zeugenschaft und Teilnahme, erst der Zuschauer vollzieht in einem ‚Energieraum’ die ästhetische Synthese des Theaterereignisses. In der Nachfolge Brechts spricht Heiner Müller (1975: 125) von dem „Versuchsfeld, auf dem Publikum koproduzieren kann“, und lehnt es ab, „ein fertiges Muster auf die Bühne“ zu stellen. Er will dem Zuschauer mit seinem Theater keine „Synthese“ liefern, sondern Rohmaterial, denn sein „Drama“, so Müller, „entsteht nur zwischen Bühne und Zuschauerraum, und nicht auf der Bühne“ (Müller 1986: 39, Herv. F.V.). Dem entsprechend wird der Theaterbesucher in den letzten Jahren verstärkt in die theatrale Präsentation einbezogen (vgl. Fischer-Lichte 1997). Dabei geht es nicht mehr nur um das Ausfüllen vor Leerstellen wie in der Rezeptionsästhetik und auch nicht nur um die kritische Teilhabe wie im epischen Theater oder um Mitspieltheater, vielmehr ist der Zuschauer mit seiner physischen Anwesenheit, mit seiner Reflexion und Erfahrung konstitutiv für das Theaterereignis und damit die Kunstproduktion. Die Zuschauer, die ja in der Regel gegenüber den Darstellern die Mehrheit bilden, erhalten durch ihre aktive Rolle im Zusammenspiel eine besondere „Ver-antwortung“ (Lehmann 1999: S. 471; vgl. Etchells 1999: 20; Malzacher 2008: 47 f.) für das Geschehen.

V ERMITTLUNGSKUNST

UND

K UNSTVERMITTLUNG

Mit der intensiven Verbindung von nicht-professionellen und professionellen Theaterpraktikern entsteht eine wachsende Professionalisierung in der Vermittlungskunst und in der Kunstvermittlung der ‚Theatermacher‘ sowie gleichzeitig in der theatralen Qualifizierung der Theater-Amateure, sprich der sog. Experten des Alltags, die mit ihrer andersgearteten Professionalität wiederum ihrerseits das Theater bereichern. Damit werden auch im Bereich der Darsteller, der (Schau-)Spieler, die Grenzen von Kunst und Wirklichkeit, von ästhetischer und außerästhetischer Aktion fließend. Der Gegensatz von Spiel ist nicht mehr Ernst, sondern Wirklichkeit, wie es im ernsten Spiel, im deep play, sichtbar wird, das sich mit seinen realen Erfahrungen im Wirklichkeitsraum gegen die Spielsucht der neuen elektronischen Medien in virtuellen Räumen stellt (vgl. Hentschel 2010).

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Im Reenactment des Wiederaufbaus zum 30. Jahrestag des Hüttendorfs in Gorleben 2010 in dem Hüttendorf-Projekt Republik Freies Wendland vor dem Ballhof-Theater in Hannover durch Jugendliche etwa verbinden sich theatrales Handeln und handwerkliche Tätigkeit, Erinnerung, Geschichte und aktuelle politische Demonstration und Reflexion. So werden Erfahrungen nicht mehr auf der Bühne repräsentiert, sondern im Spielprozess erschaffen, sie werden produziert und präsentiert. In den neuen Formen des Reality-Theaters, im neuen dokumentarischen Theater oder dem biographischen Theater, im Expertentheater, in der ästhetischen Intervention, in der site-specific-Performance und der performativen Recherche werden je unterschiedliche ästhetische und soziale Erfahrungsmöglichkeiten erprobt. Dabei ist die Form der Wiederholung ebenso wichtig wie die Improvisation. In den meisten Schauspieltheorien gehören Übung und Präsenz ebenso zusammen wie innere Vorgänge und äußere, körperliche und gestische Bewegungen. „[Die] kodierte Körperbewegung […] ist eine wiederholte Bewegung, in der sich bestimmte Bedeutungen durch soziale Praxis eingeschrieben, verfestigt und meist auch konventionalisiert haben.“ (Kurzenberger 2010: 149)

In den Proben werden diese Gesten wiederholt und reflektiert, um dann in der Reproduktion der Aufführung eine neue Lebendigkeit zu erhalten. Die zentrale Kategorie hierbei ist das Üben, das nach Walter Benjamin (1985: 77 f.) „unstetig“, „ruckweise, plötzlich“ „erfolgt“ und auf der „eigene(n) Erfahrung“ und der „Fähigkeit“ zu „Wissen“ und auf „Einsehen“ basiert (vgl. Vaßen 2010). Im Vorgang des Übens, in der Überwindung des Willens durch Ermüdung, wird das intentionale Handeln aufgelöst, die Kontrolle im Sinne von „Jetzt will ich diese Figur, jene Stimmung, das Gefühl so und so spielen“ geht verloren. Es entsteht ein unwillkürliches Kunsttun, das zu einer ‚Leichtigkeit‘ führen kann, aus der die notwendige Lebendigkeit des Spielens entsteht.

S CHULE

ALS

B ILDUNGS - UND K ULTUR -O RT

Die hier skizzierten theatralen Vorgänge gelten für professionelle Schauspieler wie für nicht-professionelle Darsteller; erstere arbeiten in der Regel mit einem Regisseur, letzte eher selten. Sie erhalten zumeist Unterstützung durch Theaterpädagogen, Theaterlehrer oder Spielleiter, die im Sinne des Spannungsfeldes von Vermittlungskunst und Kunstvermittlung oder im Rahmen ‚angewandter Kunst‘ helfen, dass theatrale Prozesse in Gang kommen und in ein ästhetisches Produkt

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münden. Ohne in direkte Konkurrenz mit dem professionellen Theater zu treten, produzieren auch die nicht-professionellen Theatermacher Theaterkunst. Dabei hat das Theater in der Schule schon lange eigene ästhetische Formen und Themen verwendet, auch wenn es sich in der Vergangenheit oft in zumeist verhängnisvoller Weise an dem Vorbild des Stadttheaters orientiert hat, ihm nacheiferte und sogar in Konkurrenz zu ihm trat. Berührungspunkte und Überschneidungen sind dennoch durchaus sinnvoll, besonders nachdem das für die Schule so verhängnisvolle Literaturtheater neuen Theaterformen gewichen ist. Gerade in den letzten Jahren, angesichts der veränderten Theaterstruktur und auf der Basis des postdramatischen Theaters, lässt sich sogar umgekehrt ein Einfluss der Theaterpädagogik auf das professionelle Theater feststellen, die sogenannten ‚Experten des Alltags‘ bringen innovative Konzepte und Formen ins Theater. Zugleich aber ist das Bemühen um eigene ästhetische Verfahren, Materialien und Formen in der Theaterarbeit außerhalb des Theaters unbedingt notwendig. Greift man also aus der Vielzahl der Arbeitsfelder der Theaterpädagogik die Schule als das zurzeit wohl wichtigste heraus und wählt man die Schüler als Zielgruppe, so gelangt man neben der Theater-AG und ähnlichen Organisationsformen zu dem ästhetischen Unterrichtsfach Darstellendes Spiel. Gegenstand dieses Faches ist, wie die Ständige Konferenz Spiel und Theater an deutschen Hochschulen 2008 nochmals nachdrücklich formuliert hat, analog zu Musik und Bildender Kunst die Kunstform Theater. Der ursprünglich in Abgrenzung zum (bürgerlichen) Theater entwickelte Begriff des „Darstellenden Spiels“ wird jedoch der neueren Entwicklung in keiner Weise mehr gerecht; die große Mehrheit der beteiligten Institutionen, Verbände und Interessierten spricht deshalb – analog zum Fach Musik und Kunst – von dem Fach Theater und fordert die Abschaffung der Bezeichnung „Darstellendes Spiel“. Die Schulen sollten Bildungs- und Kultur-Orte werden, die sich in den Stadtteil, in die außerschulischen Räume, hin zu Kultur, Sport und anderen Bereichen öffnen – hierin den Theatern nicht unähnlich. Dazu wäre es sinnvoll, wenn jede Schule einen je spezifischen Kulturfahrplan entwickeln würde, der zum Beispiel jahrgangsspezifisch geeignete Unterrichtsfächer, das Ganztagsangebot und außerschulische Aktivitäten integriert, sodass alle Kinder und Jugendliche, unabhängig vom Alter, der sozialen Situation und ethnischer Herkunft, auch TheaterErfahrungen als Zuschauer und Spielende machen können. Die Forderung wäre demnach analog zu Maßnahmen wie „Jedem Kind ein Instrument“: „Jedes Kind besucht und spielt Theater“, so wie es zumindest für den ersten Teil der Forderung in Osnabrück in dem Schulprogramm Theater hautnah, einer Vereinbarung von Theater, Schulen und Stadt, festgelegt und – sinnvoll theaterpädagogisch begleitet – mit Erfolg praktiziert wird.

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„E NTSCHULUNG “ – T HEATERPÄDAGOGIK

OHNE

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F UNKTIONALISIERUNG

In der Geschichte der Bildungseinrichtungen gab es immer wieder grundlegende Reformansätze und Experimente zur ‚Entschulung‘ der Schule. Dabei ging es in der Regel nicht um deren Abschaffung, sondern um eine Veränderung „von Lehr-Lernprozessen“, um „neue und ungewohnte Kommunikationsformen“, „wechselnde(r) Lernorte“ und andere „Lernumwelten“ (Koch/Manke 1986: 236 f.), einen neuen Zeitbegriff und intensivierte Theorie-Praxis-Relationen. Diese pädagogische Diskussion wiederholt sich in konzentrierter Form auch in Bezug auf das Theater-Spielen. Dabei werden die Gefahren insofern besonders sichtbar, als hier die scheinbare Autonomie von Kunstprozessen in besonderem Maße die Gefahr beinhaltet, lediglich einen „Beitrag […] zur Reproduktion der bestehenden kulturellen Ordnung“ (Bourdieu/Passeron 1974: 146, zit. nach Koch/Manke 1986: 239) zu leisten. Die Theater-Praxis an der Schule muss deshalb genau beobachtet, ständig überprüft und immer wieder erprobt werden, damit eine derartige Funktionalisierung verhindert wird, etwa wenn Theater-Spielen allein zur Verbesserung von sog. Schlüsselqualifikationen verwendet wird. Auch die Künste bleiben nicht unberührt von der staatlichen Vereinnahmung und der kapitalistischen Verwertung, der es immer wieder gelingt, auch kreative, subversive und widerständige Vorgehensweisen zu benutzen. Weder dürfen ökonomische Interessen dominant werden7, noch darf eine Orientierung hin zum egoistischen Subjektverständnis, zum Ego-Star stattfinden. Auch Selektion und reduktionistische Leistungsbemessung steigern die Gefahr des Missbrauchs. Keiner sollte sich zudem der Illusion hingeben, das Theater-Spielen, andere Kunstformen und insgesamt kulturelle Bildung, Armut und soziale Probleme verhindern oder abschaffen. Doch auch die Kehrseite darf nicht übersehen werden: Der Theaterpädagoge als enttäuschter, vielleicht sogar gescheiterter ‚Theater-Künstler’, der endlich sich und seine Kunstvorstellungen verwirklichen will und für den die Kinder und Jugendlichen nur ein interessantes Material sind für seine eigene Kunstproduktion. Auch diese Haltung ist Missbrauch, auch hier heißt es „Stop!“, um sowohl den Eigensinn und die eigene Kreativität der Kinder und Jugendlichen als auch das soziale Feld der Theaterpädagogik zu verteidigen.

7

Vgl. den Themenschwerpunkt „Unternehmenstheater“ im Heft 57 der Zeitschrift für Theaterpädagogik, S. 31–62.

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M ÖGLICHKEITEN UND G RENZEN DER W IRKUNGSFORSCHUNG Die Geldgeber, in der Regel also der Staat bzw. die zuständigen Ministerien und Ämter, verlangen: Finanzieller Input muss einen sichtbaren Output haben! Die Theaterpädagogik, der immer die bekannten Forschungsergebnisse aus dem Musikbereich vorgehalten werden, hat mit der Wirkungsforschung begonnen und kommt zu guten Resultaten. Aber ob diese Forschung wirklich das untersucht und misst, was Theater-Erfahrungen ausmacht, bleibt fraglich.8 Wie sollen in dem seit einigen Jahren auf die Vermittlung von Kompetenzen9 konzentrierten Lernort Schule theatrale Prozesse als produktive Umwege, als Versuch, das Nicht-Zu-Verstehende zu verstehen, und als Lernprozesse ohne teaching statistisch erfasst werden? Denn: „Künstlerische Arbeitsprozesse, die damit verbundenen Erfahrungen und die dabei entstehenden Produkte – auch im pädagogischen Zusammenhang – sind einmalig und unvergleichlich und in hohem Maße situationsabhängig.“ (Hentschel 2007: 11–15)

Im Rahmen der Wirkungsforschung zeigt das „Jugend-Kultur-Barometer“ (vgl. Zentrum für Kulturforschung 2004.), dass bei den Jugendlichen ein größeres Interesse an Kultur – wenn man von einem weiten Kulturbegriff ausgeht – besteht als bei der Gesamtbevölkerung. An der Spitze stehen – nicht überraschend – Musik und Film, das ‚klassische‘ Theater dagegen findet sich weit hinten, noch nach Museum und Ausstellung. Auffällig ist aber, dass es einen grundsätzlichen Aufwärtstrend bei den eigenen künstlerischen Aktivitäten gibt, gerade auch beim Theater-Spielen, was sich auch an einer Vielzahl von Formen, Orientierungen, Gruppen, Arbeitsfeldern feststellen lässt. Dabei steht erwartungsgemäß die Schule im Mittelpunkt und hier ist nun auch Erfreuliches zu vermelden: Theater-Spielen steht mit 15 % der dortigen Aktivitäten an zweiter Stelle nach der Schülerzeitung. Die Untersuchung belegt weiterhin – nicht überraschend –, dass der Einfluss des Elternhauses sehr hoch ist: Der Stellenwert der Kulturellen Bildung hängt – wie die Bildung allgemein – vom sozialen Umfeld ab. Wenn die Eltern ein künstlerisches Hobby haben, ha-

8

Vgl. den Themenschwerpunkt „Wirkungsforschung“ im Heft 48 der Zeitschrift für

9

Zu der Problematik von sogenannten Schlüsselkompetenzen vgl. auch den Themen-

Theaterpädagogik, S. 35–72 sowie Domkowsky (2008) und Reinwald (2008). schwerpunkt „Schlüsselkompetenzen“ im Heft 46 der Zeitschrift für Theaterpädagogik, S. 31–38.

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ben auch 70 % ihrer Kinder eins. Die Unterschiede sind groß: 56 % der Gymnasiasten, aber nur 15 % der Hauptschüler haben Theater-Erfahrungen. Das Theater-Interesse ist erstens umso größer, je positiver kulturelle Einflüsse auf Kinder und Jugendliche wirken. Zweitens zeigt sich, dass es sehr positiv ist, wenn Kinder möglichst früh mit Theater und Theater-Spielen in Kontakt kommen; später ist es erheblich schwieriger, den Erstkontakt herzustellen. Wir brauchen also mehr Theater in der frühen Kindheit bzw. für die ganze Familie, und die Kinder sollten schon im Kindergarten und in der Grundschule mit dem Theater-Spielen beginnen. Und wozu nun der ganze Aufwand einer solchen Datenerhebung? Wie schon erwähnt, sind die subjektiven Faktoren, etwa die Wirkung von Theater als „Verstehen des Nicht-Verstehbaren“, nur schwer zu überprüfen oder gar zu ‚messen‘. Aber es gibt doch einige wichtige Fakten. So lässt sich etwa feststellen, dass Theater-Spielen den interkulturellen Dialog fördert; die Jugendlichen, die Theater-Spielen, lesen auch mehr, sie zeigen ein wachsendes Interesse an Politik, ihre Berufsvorstellungen werden klarer und sie engagieren sich stärker in der Schule; diese Entwicklung ist besonders sichtbar bei Jugendlichen mit bildungsfernem Hintergrund (vgl. Keuchel 2008: 13-16).10 Offensichtlich verursacht das Theater-Spielen bei den Jugendlichen auch einen ‚Wohlfühlfaktor‘ in Gesellschaft und Schule. Vielleicht zeigen ja so ‚banale‘ Tatsachen wie die, dass sich Schüler, zurückblickend auf ihre Schulzeit, sehr oft an Theateraufführungen als herausragende und intensive positive Ereignisse erinnern, dass hier in einem zumeist unbewussten Lernvorgang Veränderungen stattfanden, die zu einer neuen Erfahrungsqualität führten.

ÄSTHETISCHE E RFAHRUNG

ALS

S CHWELLENERFAHRUNG

Die „biografische Bedeutung aktiver Theater-Erfahrung“ wird auch durch die empirisch qualitative Untersuchung von Vanessa-Isabelle Reinwald (2008) bestätigt, die aufzeigt, wie Theater-Spielende sich durch die Theater-Praxis verändert haben: Theater-Spielen ermöglicht mehr noch als Theater-Sehen Prozesse ästhetischer Bildung im Sinne von Selbstbildung; und das heißt nicht das Erlernen von Inhalten, sondern eigenes ästhetisches Wahrnehmen und Handeln. Die Auseinandersetzung mit Rolle und Figur, mit Texten und literarischen Formen,

10 Mit Blick auf den Titel von Keuchels Beitrag Das Theaterpublikum von morgen kann man aktuell sagen, dass die Entwicklung so vorangeschritten ist, dass man vom ‚Theaterpublikum von heute‘ sprechen sollte.

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mit Körper und Raum, mit theatralen Ausdrucksformen und Präsentation führt in besonderem Maße zu ästhetischen Erfahrungen. In der neueren theaterwissenschaftlichen Diskussion wird der Zusammenhang von ästhetischer Erfahrung, Schwellenerfahrung und der Ästhetik des Performativen besonders hervorgehoben; es wird gezeigt, wie – über Kunst im Sinne des Werkbegriffs hinaus und zudem grundsätzlich auch das Feld der Kunst überschreitend – in dem dynamischen Prozess eines Ereignisses sowie in dem Erlebnis der körperlichen Anwesenheit als Gemeinsamkeit und Energiefeld Schwellenerfahrungen möglich sind, die zu Transformationen bei den Beteiligten führen können. Da die Rezeption von Kunst sich, wenn sie „als ästhetische Erfahrung erlebt wird“, anders als im Alltag durch eine „ungeheure(n) Verdichtung, Intensität und Beschleunigung“ (Fischer-Lichte 2003: 143) auszeichnet, führt sie häufig zu einer „Destabilisierung von Selbst- und Weltwahrnehmung des rezipierenden Subjekts“ und – damit verknüpft – zu „Veränderungen seines körperlichen Zustandes“ (ebd.: 150) auch im Sinne vom embodied mind. Dieser Prozess ist auch für die Theaterpädagogik von höchster Bedeutung. Auffällig allerdings ist zumindest bei Erika Fischer-Lichte (2003: 145 f.), dass sie zwar zu Recht „Wahrnehmung nicht als ein passives Geschehen“ versteht, „das dem Wahrnehmenden widerfährt, sondern als eine Handlung, welche das Subjekt aktiv vollzieht“, dass sie aber kein einziges Wort über die besondere Intensität der ästhetischen Erfahrung als Schwellenerfahrung von selbst theatral Agierenden, von Spielenden, verliert, bei denen – nach unserer Erfahrung – die erwähnten Transformationsprozesse besonders radikal und nachhaltig verlaufen.

„D IE ARENA DES ANDEREN “ Beim Theater-Spielen geht es nicht darum, dass mit seiner Hilfe etwas gelehrt wird und es ist auch keine Methode durch die für etwas gelernt wird, sondern im ästhetischen Ereignis des Theater-Spiels, in dem Ästhetik, Theatralität, Leiblichkeit sowie Ethik, Sinn und Reflexion eng miteinander verbunden sind, entstehen neue Erfahrungen. Oft jedoch besteht ein Missverhältnis von Lehrenden und Lernenden in dem Sinne, dass der Lehrende durch das Theater-Spielen bei den Lernenden entweder Defizite kompensieren oder vorhandene Fähigkeiten erhalten bzw. hervorheben will. Carola Wenzel spricht in diesem Zusammenhang mit Blick auf das Kindertheater von „defizitär“ bzw. „museal“ und setzt – ausgehend von der Vorstellung des ‚Anderen‘ – diesem Blick eine neue Sichtweise des „generationale[n] Verhältnis[ses] zwischen Erwachsenen und Kindern“ (Wenzel

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2006: 12)11 entgegen, im Sinne einer „Differenz, die die Spannung und die Kraft der gemeinsamen Arbeit durch ihre prinzipielle Unauflösbarkeit speist“ (ebd.: 159).12 „Nur in der Erfahrung der Vergeblichkeit des Verstehens bleibt der Andere als Anderer respektiert.“ (ebd.: 160) Mit Wimmer spricht Wenzel deshalb vom „wissende[n] Nicht-Wissen“ als „Kern pädagogischer Professionalität“ (Wimmer 1996: 244). In der „Arena des Anderen“, wie sie diese Theater-Arbeit nennt, entstehen in der Ensemble-Arbeit, also in der Gruppe oder im Kollektiv, ohne direkte Anleitung und ohne Lehrverhalten von Erwachsenen bei Kindern und Jugendlichen, zum Beispiel Schülern, dadurch Erfahrungen13, dass sich zugleich sie selbst und die teilnehmenden Erwachsenen verändern. Diese Lernprozesse basieren, wie etwa Tim Etchells Theater von Kindern That Night Follows Day zeigt, in der „Erfahrung des Fremdwerdens“, das nicht auf eine „individuelle Konfrontation“ zu reduzieren ist, sondern als kollektive „Verunsicherung“ (Primavesi 2010: 97) sichtbar wird. Im Zentrum eines neuen Verständnisses von Theaterpädagogik stünde demnach gemeinsames Üben und Lernen in einem offenen Prozess, lediglich unterstützt durch einen Theaterlehrer als Initiator, Moderator, Begleiter, Helfer, Supervisor14 und insgesamt als „Beobachter“15. Diese Ersetzung der Lehr-Haltung setzt Eigensinn und Eigenständigkeit bei den Theater-Spielern frei und ermöglicht selbstbestimmte Lernprozesse bis hin zur Erfahrungsarbeit, d. h. Selbstbildung im Kontext von Fremdheit – gemeinsames Theater-Lernen statt Theater-Lehre.

11 In dieser für die hier diskutierte Fragestellung sehr anregenden Untersuchung scheint mir allerdings der Aspekt der Philosophie überbetont. 12 Dem Theater für Kinder setzt sie ein Theater mit Kindern entgegen, das sich zu einem Theater von Kindern entwickelt. 13 Vgl. Vaßen 2010; hier besonders die Untersuchung von Walter Benjamins (1977) Überlegungen zum proletarischen Kindertheater. 14 Vgl. die für ein Lehrbuch durchaus neue Konzeption von Pfeiffer/List (2009). 15 Benjamin (1977: 766) setzt an die Stelle des „Besserwissens und Besserwollens“ die nichtpsychologische und demnach nicht auf „Latenzen, Verdrängungen“ gerichtete „Beobachtung“ des Spielleiters, durch die „jede kindliche Aktion und Geste zum Signal“ wird.

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Projekte und Arbeitsweisen

Versuchsanordnungen Vier Inszenierungen aus dem Genter Labor (Josse De Pauw, Tim Etchells, Gob Squad, Philippe Quesne) P ATRICK P RIMAVESI

Ein Theater mit Kinder und Jugendlichen, das jenseits von Rollenspiel und dramatischen Dialogen auch experimentelle, in der Performance-Kunst und in der Arbeit mit Film und Video entwickelte Inszenierungsformen ausprobieren will, wird über die Nachahmung von Effekten kaum hinauskommen, wenn es nicht auch seine strukturellen und institutionellen Rahmenbedingungen verändert. Der naheliegende Schritt, zeitgenössische Theaterkünstler mit einer besonderen künstlerischen Handschrift und in der Praxis erfolgreichen Arbeitsweisen einzuladen, diese auch in Projekten mit Kindern und Jugendlichen selbst anzuwenden, wird hierzulande noch zu wenig riskiert. Wie eine solche Zusammenarbeit aussehen könnte, haben in den letzten Jahren aber schon insgesamt vier Produktionen des Genter Theaters Campo (früher Victoria) gezeigt, die auf internationalen Festivals großen Erfolg hatten und auch in Deutschland über längere Zeit zu sehen waren: That Night Follows Day, uraufgeführt 2007 als Inszenierung des englischen Autors und Regisseurs Tim Etchells (bekannt geworden mit der Gruppe Forced Entertainment), und Before Your Very Eyes, das die Performance-Gruppe Gob Squad 2011 ebenfalls in Gent mit Kindern und Jugendlichen erarbeitet hat. Die beiden Produktionen werden im Folgenden näher betrachtet, zunächst aber das Stück üBUNG, inszeniert von Josse De Pauw 2001 am Theater Victoria, mit dem diese Serie begonnen wurde, sowie als deren vorläufiger Abschluss Next Day von Philippe Quesne, eine Koproduktion von Campo mit Theater der Welt 2014 in Mannheim und anderen Festivals. Gemeinsam ist diesen vier Inszenierungen – trotz ihrer unterschiedlichen Methodik und Ästhetik – die Intensität, mit der, ausgehend von der struktu-

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rellen Entscheidung, nur Kinder und Jugendliche auftreten zu lassen, ein übergreifendes Thema realisiert wurde: die Frage, wie diese neue Generation mit den Konflikten und Projektionen von Erwachsenen umzugehen vermag.

J OSSE D E P AUW : Ü BUNG Ausgangspunkt des gesamten Projekts, das nun schon über zwölf Jahre dauert und als eine der international erfolgreichsten Produktionsserien des zeitgenössischen Theaters gelten kann, war die Entscheidung des Genter Theaters Victoria, nach den dort in den 1990er-Jahren schon mit gemischtem Ensemble produzierten Familienstücken von Alain Platel und Arne Sierens einen Neuansatz zu versuchen. Jenseits der gewohnten theaterpädagogischen Programmatik sollten in mehreren Inszenierungen mit externen Regisseuren nur Kinder auftreten, vor einem ‚normalen‘, überwiegend erwachsenen Publikum: „[A] trilogy of plays or performances for which theatre-makers who had never previously worked with children would be invited to create something in which only children would appear. Important to know is that the aim was not to create children’s theatre – the plays were intended for an adult audience.“1

Damit waren das Ziel und der strukturelle Rahmen für diese Versuchsreihe gegeben, auch wenn deren Ausgestaltung und die beteiligten Regisseure nicht schon sofort festgelegt wurden. Mit Philippe Quesnes Produktion Next Day konnte die geplante Trilogie inzwischen sogar noch zu einer Tetralogie erweitert werden. Als erster wurde mit Josse De Pauw ein erfahrener Regisseur, Schauspieler und Autor gewonnen, der in Belgien als Filmschauspieler bekannt ist und schon öfters für seine Theaterstücke und Inszenierungen ausgezeichnet wurde. De Pauw hatte zuerst aber durchaus Probleme mit der Vorstellung, einen Text speziell für Kinder oder Jugendliche zu schreiben. Der Ausweg war, wie er es rückblickend formulierte, „in der Welt der Erwachsenen eine Art Kurzschluss zu verursachen durch den Blick, den die Jüngeren auf sie richten“ (De Pauw 2001). Das ‚Stück‘ entwickelte sich zu einem Szenario und dieses wiederum zu einem Schwarz-Weiß-Film, der mit professionellen erwachsenen Schauspielern gedreht wurde und schließlich als ein Vor-Bild der Theaterproduktion dienen konnte.

1

Selbstdarstellung des Projekts auf der Homepage von Campo: www.campo.nu (Stand: 29.07.2014).

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Das Szenario für den Film entsprach dem Muster vieler gerade aus dem französischen Kino der 1970er- und 80er-Jahre bekannter Milieustudien über die Neurosen und Begierden der Bourgeoisie: In einem luxuriösen Landhaus gibt es ein festliches Abendessen, das mit zunehmendem Alkoholkonsum allmählich ausartet, umkippt in eine Kette von Beleidigungen, offen ausgetragenen Konflikten und Verzweiflungstaten einschließlich Seitensprüngen und Schlägerei. Am nächsten Morgen herrscht tiefe Ernüchterung, die Fassade der Normalität lässt sich kaum mehr wieder herstellen. Die Akteure in diesem Spiel um ein eskalierendes Fest, das phasenweise auch an Thomas Vinterbergs Dogma-Film FESTEN (1998) erinnert, sind außer den Gastgebern, dem kinderlos gebliebenen und unter der Oberfläche ihres Reichtums unglücklichen Ehepaar Robert und Rolanda, der in ihrem Haushalt angestellte russische Geiger György sowie das ebenfalls voneinander entfremdete Ehepaar Ivo und Ria und schließlich noch Olivier, eine Art Haus- und Hobbydichter. Ihm bleibt es vorbehalten, nachdem er sich im Bad eingeschlossen hat, eine kleine Ballade zu flüstern, die für De Pauw den emotionalen Kern der Geschichte trifft: „Something beautiful passed by me, close to my head, brushing against my heart. I don’t know what it was. I wanted to catch hold of it, but couldn’t find anything. Suddenly I cried, gently, for a long time, until sleep came over me.“ (De Pauw 2001)

Die Stimmung dieses Verlusts, dessen Objekt oder Ursache sich dem Bewusstsein entzieht, ist Melancholie, die sich im Inneren der äußerlich glänzenden Lebensverhältnisse ausbreitet. Die am Anfang noch glücklich und unbeschwert wirkenden Paare und Freunde scheitern an ihren eigenen Gefühlen, die sie erst im Laufe der langen, von Streitereien und wechselseitiger Erniedrigung geprägten Nacht realisieren. Soweit der Film. Entscheidend für den in vieler Hinsicht herausragenden Theaterabend war jedoch, wie der Film eigentlich nur als Folie für das Auftreten, Sprechen und Agieren der Kinder diente, die 2001 bei der Premiere elf bis 14 Jahre alt waren. An der Rückseite der Bühne wird der Film auf großer Leinwand projiziert, vor der die sechs beteiligten Kinder stehen und jeweils einen der erwachsenen Akteure nachahmen: Der Film läuft ohne Ton und sie sprechen genau synchron den jeweiligen Text ein; außerdem tragen sie genau die gleichen Kleider wie die Darsteller im Film und agieren mit den gleichen Gesten, aber in einer gewissen Distanz, so dass sie zum Beispiel auch in Umarmungen oder Kampfszenen jeder für sich bleiben. Durch diese spezifische Versuchsanordnung entsteht eine besondere Spannung zwischen der Aktion der Nachahmung und ihrem Vorbild.

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Ähnlich wie Walter Benjamin es für das epische Theater im Unterschied zur gewohnten, illusionistischen Spielweise betont hat: „Das epische Theater dagegen behält davon, daß es Theater ist, ununterbrochen ein lebendiges und produktives Bewußtsein. Dieses Bewußtsein befähigt es, die Elemente des Wirklichen im Sinne einer Versuchsanordnung zu behandeln.“ (Benjamin 1977c: 522)

„üBung“ (2001)

Foto: © Phile Deprez

Die Kinder sollten sich nicht mit den Gefühlen der erwachsenen Figuren identifizieren, nur deren Verhalten und Sprechen so präzise wie möglich wiedergeben. Dem großen Spaß, den alle Beteiligten dabei hatten, konnte De Pauw freien Lauf lassen, solange die Kinder sich genau an den durch die Filmschauspieler vorgegebenen Rhythmus hielten, um deren Rede skandieren und ,rappen‘ zu können. Dazu war es nötig, die Texte auswendig zu lernen und während des Auftritts immer zugleich das Vorbild (auf der Leinwand oder zusätzlichen Monitoren) und das eigene Tun zu beobachten. Durch die Genauigkeit der Ausführung verkehren sich die Rollenbilder: Je mehr die Erwachsenen im Film ‚sich gehen lassen‘ und immer kindischer herumtoben, desto mehr fällt an den Kindern auf, wie nüchtern und distanziert sie mit ihren Vor-Bildern spielen können. Dabei ging es De Pauw, der seine Funktion in diesem Fall weniger als Regieführen, sondern als Dirigieren einer musikalischen Komposition sah, gerade nicht darum, die Emotionen zu kontrollieren:

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„I really had no idea what would come out of this synchronisation of live children and filmed adults in the end. In any case, I was not interested in controlling the emotions that would come out of it. I don’t like putting the pressure on to have a particular outcome.“ (De Pauw 2001)

„üBung“ (2001)

Fotos: © Phile Deprez

Der melancholische Grundton bleibt, dazwischen gibt es aber extrem komische Momente, nicht nur weil die Anzüge und Kleider etwas zu groß für die Kinder sind, sondern weil sie durch ihr distanziertes Spiel die Schwächen, Tricks und Peinlichkeiten auch im zunächst noch routinierten Verhalten der Erwachsenen aufdecken. So vollzieht sich, was Brecht und Benjamin ein Zitieren und Zitierbarmachen von Gesten genannt haben. Und es bleibt in der Schwebe, also auch von der Wahrnehmung der Zuschauer abhängig, ob die Kinder mit den Gesten der Erwachsenen bereits ihre eigene Zukunft proben oder ob sie sich darüber lustig machen. Der Titel üBbung steht insgesamt für die Einübung von Verhaltensweisen durch Imitation, ein Vorgang, der im alltäglichen Zusammenleben weit mehr ‚Lerneffekte‘ zeitigt als alle Form der bewussten Vermittlung oder Erziehung. Kinder und auch Jugendliche übernehmen Verhaltensweisen aus Gewohnheit und Übung, ebenso wie sie sehr früh schon lernen, Gesten, Redeweisen, Tonfälle und weitere Eigenheiten ihrer erwachsenen Vorbilder zu parodieren, durch Nachahmung auch anderen vorzuführen, um sich davon zu distanzieren. Die

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strenge Form aber, mit der in De Pauws üBUNG die Rede der Erwachsenen nachgeahmt wird, lässt es weitgehend offen, wie die Kinder emotional und intellektuell zu den im Film präsentierten Mustern von Erwachsensein stehen. Im Film ist schließlich auch noch im allgemeineren Sinne von Übung die Rede, wenn der Gastgeber Robert seinen früheren deutschen Chef zitiert, der bei peinlichen Situationen die Stimmung zu retten versucht hätte mit der Formel: „Ist doch alles nur eine Übung!“ Das führt darauf, dass diese Inszenierung zwischen Film und Theater, Erwachsenen und Kindern, Vorbildern und Nachahmung, gespieltem Ernst und ernsthaftem Spiel, den Modus der Übung auch als alltägliches Verhalten des Ausprobierens vorführt, das in seinen Wirkungen immer wieder relativiert werden kann. Indem dieses Theater des Alltags aber als solches ausgestellt wird, kommt es – ähnlich wie in der veränderten Schreibweise des Wortes üBUNG – zu einer Entstellung des Spiels selbst, zu einer intensiveren Erfahrung der relationalen Wirklichkeit zwischen Akteuren und Zuschauern.

T IM E TCHELLS : T HAT N IGHT F OLLOWS D AY Der zweite Auftrag für eine Arbeit mit Kindern und Jugendlichen ging an den Autor und Regisseur Tim Etchells, der am Theater Victoria 2007 die Produktion That Night Follows Day herausbrachte, die seither auf Festivals weltweit gezeigt wurde. Im deutschsprachigen Raum war die Inszenierung ebenfalls öfters zu sehen, u. a. in Graz, München, Berlin, Hamburg, Frankfurt a. M. und Münster. Wie schon bei De Pauw ging es gerade nicht darum, eine ‚altersgerechte‘ Sprache, Handlung und Spielweise zu konstruieren, sondern Theater als Labor für Ausdruckspotenziale von jungen Menschen in der Auseinandersetzung mit dem Verhalten und den Redeweisen von Erwachsenen zu nutzen. Etchells, der sonst Texte und Aufführungen mit der englischen Performance-Gruppe Forced Entertainment erarbeitet, kam nicht mit einem fertigen Stück nach Gent, sondern nur mit einigen ersten Textbausteinen. Zusammen mit der Lehrerin und Theaterpädagogin Pascale Petralia hat er aus einem großen Kreis von Interessenten schließlich eine Gruppe von acht- bis 14-jährigen Kindern ausgewählt und für das Projekt begeistern können. Die erste Idee für diese Inszenierung war es, mit Kindern und Jugendlichen chorisch zu arbeiten, und die erste Schwierigkeit bestand darin, Kinder zu finden, mit denen eine solche Arbeit zu machen wäre. Wie Petralia es rückblickend beschrieben hat, hatten die Kinder natürlich ihre eigenen Vorstellungen von Theater, zumeist eher traditionell, mit Kostümen, Rollenspiel, Versetzung in andere Figuren und andere Welten. Bei den auditions mit über 90 Teilnehmern

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wurden vor allem Kinder gesucht, die in der Lage wären, einfach auf der Bühne zu stehen, auch ohne dass die Szene vorher genau definiert worden wäre. Der nächste Schritt war ein Workshop mit etwa 30 Kindern, von denen dann schließlich noch 16 übrig blieben. Zu dem Workshop kam Tim Etchells nur mit der Choridee und ein paar Seiten Text als einer Basis für die gemeinsame Suche. Da er flämisch und niederländisch nicht verstand, konzentrierte er sich in dieser Arbeitsphase auf die Bewegungsenergie der Kinder und versuchte, sich in den Rhythmus der ihm fremden Sprache einzuhören. Aus den Sätzen der Kinder über ihren Alltag zu Hause und in der Schule entstand immer mehr Text-Material, bis es im Dezember 2006 eine Fassung gab, die auswendig gelernt wurde. Etwa vier Monate dauerten die Proben, die aber nur an drei Nachmittagen pro Woche stattfinden konnten. Premiere war im Mai 2007 in Gent und beim Kunstenfestival in Brüssel. Der Text besteht aus einer langen Liste von all den Sätzen und Phrasen, mit denen Erwachsene die Welt von Kindern prägen und definieren, die nun aber dem erwachsenen Publikum wie ein akustischer Spiegel vorgehalten werden – mitunter absurde Resultate des Bemühens um Erziehung und Bildung, Ruhe und Ordnung. Wie schon bei früheren Stücken von Forced Entertainment, insbesondere Speak Bitterness und Quizoola!,2 erinnert die Struktur des schließlich entwickelten Textes an Peter Handkes Sprechstücke aus den 1960er-Jahren, vor allem Publikumsbeschimpfung und Selbstbezichtigung. Darüber hinaus gibt es aber noch weitere Schichten des Textes, mehrere Bedeutungsebenen, mit denen die Rhetorik der Erziehung nicht bloß vorgeführt und bloßgestellt, sondern in gewisser Hinsicht auch untersucht und verhandelt wird, ähnlich wie in Brechts Lehrstücken. Viele Sätze beginnen mit „Ihr sagt uns“ oder „Ihr lehrt uns“ – dies oder jenes zu wissen oder zu ignorieren, zu tun oder zu lassen. So wird das Verhältnis der Akteure zu den erwachsenen Zuschauern immer wieder neu etabliert und bekräftigt als eine Situation der Entgegensetzung und der Ansprache. Die Implikationen der jeweiligen Sätze reichen aber weit darüber hinaus, etwa wenn in einer zitierten Belehrung („You tell us that midnight is the middle of the night. / That the sun comes up in the morning and goes down again in the night“3) zugleich schon die Verunsicherung mitschwingt, ob es denn so sicher sei, dass es auch einen neuen Tag gebe und dass, wie der letzte Satz behauptet, alles schon irgendwie gut gehen werde.

2

Zu Forced Entertainment vgl. Etchells 1999 sowie den Band „Not even a Game Any-

3

Textauszüge hier und im Folgenden zitiert nach Etchells 2007: 21-35.

more“, herausgegeben von Helmer/Malzacher 2004.

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Aus Wiederholungen, die sich mehrfach steigern bis zur massiven Anklage, entsteht ein eigener Rhythmus der Konfrontation. Nach einer längeren Sequenz, in der die Kinder den Erwachsenen vorhalten, welche Kose- oder Schimpfnamen sie ihnen geben, wird der Satz „You tell us ‚no‘“ von verschiedenen Sprechern wiederholt, bis die anderen Sätze übertönt werden und alle gemeinsam „You tell us ‚no‘“ rufen. Damit wird der Sprechakt des Verneinens und Verbietens so sehr herausgestellt, dass die bloß zitierende Wiederholung bereits umschlägt in die Manifestation eines Widerstands der Kinder gegen die Autorität der Eltern. Aber auch innerhalb der Gruppe produziert das Sprechen im Spiel von Differenz und Wiederholung, Anpassung und Abweichung eine Vielzahl von Konflikten. So gibt es eine Situation, in der ein Mädchen die Vorurteile und Klischees der Eltern zitiert: „You teach us that people don’t always mean what they say. / That boys are stronger than girls. / That poor people are dirty. / That white people are full of shit. / That black people are stupid. / That foreigners stink. / That young people are not trustworthy.“

Während sie so spricht, treten die anderen Kinder nach und nach aus der Chorreihe zurück, bis eine Weile lang noch vier Akteure vorne stehen und sie schließlich alleine weiterredet: „You ask for silence. You ask for TOTAL silence. / You tell us to be quiet.“ Auf diese Weise werden bestimmte Phrasen als Redeweisen von Erwachsenen und gleichzeitig auch als Aussagen der Kinder wahrnehmbar, die mit der Litanei von ständig wiederholten Vorschriften zu spielen beginnen. Das wieder mit indirekter Rede zitierte Bedürfnis der Erwachsenen nach Ruhe wird kenntlich auch als Verweigerung und Hilflosigkeit im Umgang mit den Kindern. Insgesamt bewirkt die Aufführung, dass die überwiegend erwachsenen Zuschauer sich nicht nur mit dem eigenen Sprechen konfrontiert sehen, sondern auch bereits mit seiner fatalen Wirksamkeit in der Reproduktion durch Kinder, die es von ihnen allmählich übernommen haben und nun gegen sie selbst wenden.4 Etchells’ unprätentiöse und doch poetisch verdichtete Sprache lässt gerade die versteckten, oft unbewussten Voraussetzungen, Widersprüche und Ambivalenzen der alltäglichen Phrasen hervortreten. Die Aufführung zeigt, dass die

4

Mit dieser Erfahrung wurde am Theater Victoria auch schon in den Familienstücken des Regisseurs und Choreographen Alain Platel und des Autors Arne Sierens gearbeitet: Moeder en Kind (1995), Bernadetje (1996) und Allemaal Indiaan (1999). Siehe dazu ausführlicher meinen Beitrag Stop Teaching! Theater als Laboratorium (a)sozialer Phantasie im vorliegenden Band, S. 15-45.

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Kinder sich die Texte auf jeweils spezifische Weise (wieder) angeeignet haben, mit ihren eigenen Haltungen und Tonfällen. So ist das Sprechen auf der Basis eines gemeinsamen Grund-Gestus sehr unterschiedlich, was gerade in den ChorPassagen deutlich wird, die sich oft erst nach und nach aus einzelnen Stimmen zusammenfügen oder wieder darin auflösen. Die Art des jeweiligen Sprechaktes und seiner szenischen Situation, in mehr oder weniger großen Gruppen oder allein, hat großen Einfluss darauf, ob die Feststellungen, Zitate und Berichte eher als Anklagen wirken oder als Beschreibung, als Entschuldigung oder gar als Versprechen für ein gehorsames, angepasstes Verhalten der Kinder: „We promise not to tell anyone what we heard or what we saw or what we did.“ Ähnlich wie im Theater von Forced Entertainment können die gesprochenen Sätze immer auch auf sich selbst verweisen, auf die Macht und Ohnmacht der Sprache und des Sprechens und zugleich auf das Theater, als Situation einer womöglich irritierenden Begegnung von Akteuren und Zuschauern. Der Bühnenraum dieser Inszenierung sieht aus wie eine Turnhalle, mit einem bunt markierten Boden, langen Bänken und Sprossenleitern an der Rückwand. Von Richard Lowden (der den Raum gestaltet hat und sonst als Akteur bei Forced Entertainment spielt) kam auch die Idee, für die bei internationalen Gastspielen benötigten Übersetzungen des Textes eine breite Schultafel zu verwenden, auf die der Text projiziert wurde. Ein weiterer Hinweis darauf, dass bei dieser Aufführung das Publikum der Erwachsenen in die Situation von Lernenden versetzt ist. Die Turnhalle dient als ein Grundraum, der die Aktivität der Kinder zulässt, gleichzeitig aber auch etwas mit der Disziplin des Aufführens zu tun hat, an die sich die Kinder selbst und mithilfe von Pascale Petralia gewöhnt haben. Als Ventil für die Spannung des konzentrierten Sprechens dient eine Unterbrechung, eine längere Phase mit Musik, in der sich die Kinder austoben können. Auslöser dafür ist der schon erwähnte Moment, wenn erst eine Gruppe und dann ein einzelnes Mädchen die Aufforderung, still zu sein, mehrfach wiederholt hat. Daraufhin geschieht dann genau das Gegenteil: Zwei andere beginnen sich zu streiten und durch den Raum zu verfolgen. Plötzlich sieht man alle durcheinander rennen, sich gegenseitig jagen, Schuhe wegnehmen und auch immer lauter werden, rufen und schreien. Anfangs versucht das Mädchen noch, den Text weiterzusprechen; als sie aber merkt, dass sie selbst mit Mikrofon kein Gehör findet, nimmt sie sich einen Stuhl und setzt sich schweigend vorne an den Bühnenrand. Nach und nach folgen die anderen nun ihrem Beispiel und beruhigen sich wieder, bis schließlich alle auf den Stühlen sitzen. Die Musik verstärkt auch für die Zuschauer diesen Moment der Unterbrechung, der ihnen womöglich ihre eigene Situation als Publikum wieder bewusst macht. Der Beginn des Abends arbeitet mit einem ähnlichen Kontrast: Bevor und während die Akteure hereinkommen,

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sind Stimmen und Geräusche wie aus einer Turnhalle oder von einem Schulhof zu hören. Von dieser diffusen Anfangsstimmung setzt sich dann das gemeinsame Sprechen ab, eingeleitet durch eine plötzliche Fokussierung des Scheinwerferlichts. „That Night Follows Day“ (2007)

Foto: © Phile Deprez

Mit einer Ökonomie des Spannungsausgleichs, der die nötige Aufmerksamkeit beim chorischen Sprechen unterstützt, arbeitet die ganze Aufführung, die auch keine dirigierende Führung von außen braucht. Es genügt, dass alle aufeinander achten und die für manche Aktionen verabredeten Zeitspannen einfach durch stummes Mitzählen einhalten. Am auffälligsten an der Sprachchoreographie von That Night Follows Day ist wohl der Verzicht auf Dialoge. So ist die Inszenierung weitgehend chorisch aufgebaut, gerade im fließenden Wechsel zwischen Passagen von einzelnen oder mehreren Sprechern. Das Sprechen richtet sich aber stets an das Publikum, wodurch – ähnlich wie bei Handke – an die Stelle von psychologischer Motivation die Rhythmisierung und körperliche Behauptung einer eigenen Position im Sprechen tritt. Voraussetzung dafür ist das präzise Zusammenspiel der Kinder, die sich bei Unsicherheiten gegenseitig helfen. Der Umgang mit gelegentlichen Lücken oder kleinen Fehlern zeigt, dass die Aufführung nicht etwa auf der Einhaltung einer starren Disziplin aufbaut, sondern auf der gemeinsamen und flexiblen Koordination des Geschehens. Von Anfang an tritt der Chor nicht so sehr als einheitliche Formation auf, sondern eher als auf-

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einander abgestimmte, aber lockere Reihe. So werden auch Differenzen und Spannungen in der Gruppe wahrnehmbar. „That Night Follows Day“ (2007)

Fotos: © Phile Deprez

Die Arbeit an That Night Follows Day markiert im Leben der beteiligten Kinder einen wichtigen Einschnitt. Das ist ein Aspekt ihres Kontextes, ohne den sie kaum zu verstehen ist. Über die Dauer von fast zwei Jahren war die Gruppe zusammengewachsen, bis dann der Zeitpunkt zum Ausstieg der meisten gekommen war. Inzwischen hat sich schon zweimal eine neue Gruppe den Text angeeignet und bis auf einige der Jüngeren haben alle ihren Part an die neuen Akteure weitergegeben, die mit der Inszenierung weiter arbeiten. Das Ausprobieren ungewohnter Verhaltensweisen blieb aber nicht ohne Folgen: Wie Petralia erzählt hat, benutzten die Kinder die Sätze des Stückes schon bald nach Beginn der Proben auch zu Hause und konfrontierten ihre Eltern mit einem neuen Selbstbewusstsein. Damit erscheint die Arbeit fast schon als soziale Utopie – „revolution has to start at home“, wie es bei der Diskussion nach einer der Aufführungen formuliert wurde. Was die Kinder im Prozess allmählich realisiert haben, war die Wirklichkeit der Theatersituation: für eine ganze Zeit lang die Erwachsenen als eine Gruppe von Zuschauern adressieren zu können.

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„That Night Follows Day“ (2007)

Foto: © Phile Deprez

Insgesamt zeigt die Inszenierung, dass Kinder mehr von Theater und von Performance verstehen, als Erwachsene ihnen gewöhnlich zutrauen, die gerne vor ‚Experimenten‘ im Kinder- und Jugendtheater warnen. Im Experiment wird ja auch die pädagogische Kontrolle aufs Spiel gesetzt. Ein Spiel aber, das seine Instrumentalisierung zu pädagogischen Zwecken unterläuft, kann diese Zwecke selbst in Frage stellen. Für die an That Night Follows Day beteiligten Kinder und Jugendlichen wurde es zu einer praktischen Erfahrung, dass auch im Alltag Erziehung als Theater und Spiel mit Rollen funktioniert. Bei den Proben wurde mit Tabus und Vorschriften ebenso gespielt wie mit einer autoritären Rhetorik. Gerade indem die Choreographie und der Text der Aufführung nicht an der Illusion einer authentisch kindlichen Welt festhalten, sondern explizit die Ordnungsvorstellungen der Erwachsenen wiedergeben und ad absurdum führen, wird das vorherrschende Prinzip der Konditionierung durchkreuzt. Natürlich war Tim Etchells auch selbst ein Teil des ‚Systems‘ der Erwachsenen. Seine vom experimentellen Theater geprägte Arbeitsweise ließ ihn aber, ähnlich wie De Pauw in üBUNG, nicht so sehr als Regisseur auftreten, sondern vielmehr als Beobachter, der die Inszenierung aus den Haltungen der Kinder entwickeln konnte. Die Produktion That Night Follows Day ist besonders geeignet, die TheaterArbeit mit Kindern und Jugendlichen zu reflektieren – da sie die Themen Erziehung, Fürsorge und Kontrolle einmal aus der umgekehrten, kindlichen Perspektive behandelt hat und weil sie diese Thematisierung auch als Verhandlung, als

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Prozess vor und mit Zuschauern durchspielte. Auf das Publikum konnte dieser Prozess ebenso komisch wie schmerzhaft wirken, als eine Konfrontation mit den bei jeder Erziehungsgeschichte verdrängten, dunklen Stellen der elterlichen Autorität. Dabei ging es aber nicht so sehr um eine individuelle Konfrontation, wie sie im Alltag vorkommt. Im Zentrum stand vielmehr die kollektive Äußerung, der Chor, der auch die Erwachsenen im Plural ansprach (das als Anrede gebrauchte niederländische „jullie“ bedeutet „ihr“). Mit der Entgegensetzung der Erwachsenen auf der einen und der Kinder auf der anderen Seite waren die Fronten der Aufführung jedoch keineswegs sicher. So offenkundig die Auflistung der von den Erwachsenen selbst gebrauchten Worte und Sätze das System ihrer Erziehung in Frage stellt, so zwiespältig bleibt die Erfahrung, in diesem Theater Zuschauer zu sein (ob man selbst Kinder hat oder nicht). Mit jedem einzelnen der Kinder und der von ihnen adressierten Erwachsenen wird man sich identifizieren können und müssen, wenn man der Aufführung folgt. Und gleichzeitig, durch die stilisierte Form des chorischen Sprechens, entsteht eine Distanz auch beim Zuschauer. So gelingt es der Inszenierung – quer zu den im Lauf des Abends dekonstruierten moralischen Phrasen der Erziehungsberechtigten – jene Wirkung auf die Erwachsenen auszuüben, die Benjamin (1977b: 765) am proletarischen Kindertheater beschrieben hat, dass sie „sich vielleicht schämen“ können, wenn sie nicht schon ganz verblödet sind. Die Erfahrung des Zuschauens bei der Aufführung That Night Follows Day ist eine Verunsicherung, eine Störung vieler Wahrnehmungs- und Denkgewohnheiten, sodass auch die Frage auftaucht, wer da eigentlich agiert, in wessen Namen, mit welchen Konsequenzen. Aufschlussreich für diese Erfahrung des Fremdwerdens ist außer dem, was Benjamin zum Kindertheater und zum epischen Theater von Brecht geschrieben hat, besonders eine Stelle aus seinem Kafka-Essay. Auch dort führt die Einsicht in die Kindlichkeit des Theaters auf die Geste, deren Bedeutung nicht festgelegt ist, sondern von der jeweiligen „Versuchsanordnung“ abhängt. In Kafkas Werk geht es stets um einen kindlichen und tierischen Gestus, der „die größte Rätselhaftigkeit mit der größten Schlichtheit verbindet“ (Benjamin 1977a: 419 f.). Benjamin schildert die Erfahrung beim Lesen von Kafkas Tiergeschichten als plötzliche Fremdheit, wenn man irgendwann auf den Namen des jeweiligen Tieres stößt: „[S]o blickt man erschrocken auf und sieht, daß man vom Kontinent des Menschen schon weit entfernt ist. Doch Kafka ist das immer; der Gebärde des Menschen nimmt er die überkommenen Stützen“ (ebd.). Etwas Ähnliches geschieht in That Night Follows Day, indem die Erwachsenen sich selbst fremd werden. So geht es für die Zuschauer in einem solchen Theater mit Kindern weniger um eine Lehre als um eine Erfahrung, die etwa so

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zu formulieren wäre: Wichtiger als das Lehren ist das Lernen, für alle Beteiligten, mit offenem Ausgang. „That Night Follows Day“ (2007)

Foto: © Phile Deprez

G OB S QUAD : B EFORE Y OUR V ERY E YES Seit 1994 hat die aus deutschen und englischen Mitgliedern zusammengesetzte Gruppe Gob Squad über 30 Arbeiten produziert: Bühnenaufführungen wie auch site-related theatre, Live-Filme, Video-Installationen, Live-Radio, interaktive Party-Performances usw.5 Dieses breite Spektrum ist exemplarisch für Techniken des Intermedialen, durch die Gob Squad häufig die Grenze der Theaterbühne überschreitet und im öffentlichen Raum ebenso wie in verschiedenen Medien mit neuen Wahrnehmungsverhältnissen experimentiert. Gob Squad arbeitet seit über zehn Jahren überwiegend in Deutschland, vor allem in Berlin, mit regelmäßigen Aufführungen an der Volksbühne und im Theater Hebbel am Ufer (HAU). Entstanden ist die Gruppe aus der Begegnung von Studenten des Creative Arts

5

Einen guten Überblick zur Arbeit der Gruppe geben ihre beiden Bücher The Making of a Memory (herausgegeben von Gob Squad/Quiñones 2005) und Gob Squad Lesebuch und der unmögliche Versuch daraus klug zu werden (herausgegeben von Gob Squad 2010).

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Course in Nottingham (Alex Large, Sean Patten, Liane Sommers und Sarah Thom) mit Gästen vom Gießener Studiengang Angewandte Theaterwissenschaft (Johanna Freiburg und Berit Stumpf). Inzwischen haben Alex und Liane die Gruppe verlassen, dafür sind Bastian Trost und Simon Will dazugekommen, sowie eine größere Zahl weiterer Künstler, die jeweils an einzelnen Produktionen mitarbeiten. Die Kerngruppe von Gob Squad versteht sich aber immer noch als Kollektiv, an dessen Arbeit alle mit persönlichem Einsatz und mit gleicher Verantwortung teilhaben. Die Gründung fand 1994 auf dem Weg zum GlastonburyPop-Festival statt, wo die Studenten als Performance-Gruppe auftraten, um das Eintrittsgeld zu sparen. Der Name Gob Squad entstammte damals der SongKompilation auf einer Musikkassette, ist also selbst schon eine Art Readymade. Das auf Marcel Duchamp zurückgehende, von Andy Warhol für die Popkultur produktiv gemachte Recycling von vorgefundenen kulturellen Artefakten (objets trouvés) ist insgesamt eine Grundlage der Arbeit von Gob Squad. Ihr Theater, das sie auch selbst als „Theater des Ready-Made“ bezeichnen (vgl. Gob Squad 2010: 110), spielt mit der Grenze zwischen Live-Ereignis und medialer Vermittlung, deren Rückgriff auf vorproduziertes Material ausgestellt wird. Exemplarisch für dieses intermediale Recycling ist die Produktion Gob Squad’s Kitchen (2007), da sie im Nachspielen einiger Filme von Andy Warhol aus den 1960er-Jahren (KITCHEN, SLEEP und SCREENTEST) das Prinzip einer medialen Rekonstruktion anwendet und schließlich auch auf die Zuschauer überträgt, die Weitergabe der eigenen Rolle an andere zum Prinzip macht. Das Publikum befindet sich vor einer dreiteiligen Leinwand. Darauf sind die hinter der Leinwand gefilmten Akteure ‚live‘ zu sehen, wie sie die legendären WarholFilme nachstellen. Durch den komplexen Versuchsaufbau mehrfach gebrochen, erscheinen die Illusionen und Versprechen des Pop entzaubert – als Kunstform wie als Weltanschauung und Lebensstil. So arbeiten die Akteure explizit mit dem Spannungsverhältnis zwischen Live-Abwesenheit und mediatisierter Gegenwart. Anstatt bloß die Realität des Theaters gegen den technischen Apparat auszuspielen, zeigen sie Wechselbeziehungen zwischen beiden, mit der Einsicht, dass gerade im Theater das Versprechen unmittelbarer Präsenz nicht einzulösen ist. Das für die Popkultur nach Andy Warhol geltende Prinzip der medialen Verdichtung von Phantasmen – „they’re faking it, until it becomes real“6 – wird in dieser Inszenierung reflektiert und zugleich als ein Grundelement theatraler Praxis kenntlich gemacht.

6

Andy Warhol, zitiert nach dem Programmheft der Aufführung Gob Squad’s Kitchen, Volksbühne Berlin 2008.

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Gob Squads Theater lebt aber auch davon, mit den eigenen Fehlern und dem Nicht-Perfekten zu arbeiten. Wenn sie im Unterschied zum traditionellen Rollenspiel vor allem sich selbst aufführen, geht es nicht etwa um die Behauptung von Authentizität, sondern um ein Spiel mit der Herstellung von Authentizitätseffekten, das sich gerade im Austausch und in der Weitergabe der vermeintlich intimsten und persönlichsten Merkmale, Erinnerungen, Denk- und Verhaltensweisen entfaltet. So gilt auch für die Produktion Are you with us (Berlin 2010) die auf Warhol verweisende Formel „Fake it till you make it“: In einer Reihe von Tableaus mit jeweils neuer, zum Teil spektakulärer Kostümierung werden Persönlichkeitsbilder und Typen vorgeführt, die immer wieder um die Identität der einzelnen Performer und auch der Gruppe Gob Squad kreisen. Dem entspricht die Kurzbeschreibung der Aufführung als „Half group therapy, half performance nightmare“. Was die Inszenierung dieser Personality-Show interessant machte, war gerade ihre über viele Stunden ausgebreitete Wiederholungsstruktur und eine an die Intensität von Albträumen erinnernde Wiederkehr scheinbar banaler Details, kombiniert mit dem Appell an die Zuschauer, sich auf das Spiel mit dem Scheitern und zugleich mit der Notwendigkeit sozialer Utopien einzulassen. So erhellt die Aufführung ein weiteres Grundprinzip der Arbeitsweise von Gob Squad: die Überaffirmation eines Zwangs zum personality design, das vom Starkult längst auf das alltägliche Leben im neoliberalen Kapitalismus übergegangen ist, der alles und jeden zum Produkt macht. Bei ihrer Inszenierung Before Your Very Eyes (Premiere am HAU, Berlin 2011) hielten sich Gob Squad erstmals völlig aus dem Geschehen heraus und überließen den Bühnenraum einer Gruppe von belgischen Kindern und Jugendlichen, die den Prozess ihres Erwachsenwerdens durchspielten. Damit griffen sie das Thema auf, das auch schon Josse De Pauw und Tim Etchells bearbeitet hatten. Am Theater Victoria, inzwischen Campo genannt, war aus dem Thema bereits eine Erfahrung geworden: Die Produktion That Night Follows Day war so erfolgreich, dass über Jahre hinweg neue Anfragen für Gastspiele kamen, wobei die Kinder des anfänglichen Ensembles aus ihren Rollen herauswuchsen. So wurde die Gruppe im Lauf der Jahre zweimal ausgewechselt, was das Älterwerden der Kinder umso deutlicher hervortreten ließ. An diese Erfahrung konnten Gob Squad mit ihrem Beitrag direkt anknüpfen. Die von ihnen konzipierte Versuchsanordnung war aber wieder ein sehr eigener formaler und technischer Rahmen, in dem das Altern sozusagen in Echtzeit dargestellt, beobachtet und reflektiert werden konnte. Die Grundlage dafür bot eine ungewöhnlich lange Vorbereitungszeit. Schon im Jahr 2008 wurde das Konzept entwickelt und die erste Gruppe der Kinder im Alter von sieben bis zwölf Jahren durch ein Casting ausgewählt. Von 2009 an wurden regelmäßig Interviewfilme mit den Kindern ge-

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dreht, in denen sie auf ihre persönlichen Erlebnisse ebenso wie auf Ereignisse in ihrer Umwelt zurückblicken sollten. Wie häufig bei Gob Squad wurde für die Aufführungssituation eine Form gesucht, die über die gewohnte frontale Anordnung von Bühne und Zuschauerraum hinausging. Entsprechend den äußeren Vorgaben, ein für die üblichen Aufführungsstätten verwendbares und tourfähiges Konzept zu entwickeln, waren dem sonst eher installativen, ortsspezifischen Raumdenken der Gruppe gewisse Grenzen gesetzt. Schließlich entstand eine Rauminstallation, die zwar frontal vor einem Theaterpublikum bespielt werden konnte, gleichzeitig aber die konventionelle Bühne in eine intermediale Versuchsanordnung verwandelte: einen von innen verspiegelten, von außen einsehbaren Glaskasten, in dem die Kinder agieren können, ohne selbst das Publikum zu sehen. Dabei filmen sie sich außerdem noch mit Videokameras, deren Nahaufnahmen aus dem Kasten auf die großen Leinwände projiziert werden, die auf beiden Seiten der Bühne angebracht sind. Schon einige Gob Squad-Aufführungen in den 1990er-Jahren hatten mit solchen von außen durchsichtigen Spiegelwänden experimentiert: Show and Tell (Frankfurt a. M., 1996), Close Enough to Kiss (München, 1997), und die Langzeit-Performance What Are You Looking At? (Berlin, 1998). In wechselnden Outfits (nach Anpassung und Geld aussehende Sportkleidung ebenso wie PunkKostüme mit entsprechender Schminke) spielte die Gruppe mit der Ausstellung des Privaten in einem (teil-)öffentlichen Raum, auch in Reaktion auf die zunehmende Vermarktung von Intimitätsklischees im Fernsehen. Die Zuschauer konnten um den Kasten herumgehen und aus nächster Nähe die Akteure betrachten, die wie in einer anderen Welt an der Etablierung effektvoller Posen arbeiteten. Die spezifische Eigenschaft des Glaskastens, nur von außen durchsichtig zu sein, von innen aber als Spiegel zu wirken, ergibt eine komplexe Schauanordnung: Wer im Kasten agiert, tut dies im Wissen um die Zuschauer, deren Stimmen meistens auch zu hören sind, mit deren unsichtbaren Blicken es aber keinen direkten Kontakt gibt. Wer außen steht, hat vermeintlich die souveräne Position des Betrachters wie vor einem Schaufenster, indem ihm wechselnde Posen und Gesten von lebendigen Akteuren präsentiert werden. Da diese aber den Blick nicht erwidern und keine erkennbare Reaktion auf das Verhalten des Betrachters zeigen, ist auch dessen Position vom Prozess abhängig: Während er sich vor einem Schaufenster und bei der „vierten Wand“ in konventionellen Theateraufführungen sicher sein kann, selbst nicht angeblickt zu werden, fehlt ihm nun diese Gewissheit des Voyeurs. So schaut er in einen ‚Spiegel‘, der sich nach eigenen, nicht vorherzusehenden Gesetzen bewegt, und den Standpunkt der Betrachtung verunsichert. Die vermeintliche Nähe zum ‚Gegenüber‘ wird zu einer unkalkulierbaren Distanz, in der sich der Betrachter mit seinem eigenen Begehren kon-

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frontiert sieht und zugleich Zeuge eines Vorgangs der Bloßstellung wird (vgl. dazu Gob Squad 2010: 71 ff.). Diese Konstruktion ist auch die Grundlage für Before Your Very Eyes, wobei sich die Bezeichnungen der früheren Installationen (Close Enough to Kiss und What Are You Looking At?) im neuen Titel zu potenzieren scheinen. Die voyeuristische Position des erwachsenen Zuschauers, der im Theater Kinder betrachten kann, die ihm etwas vorspielen, wird von Anfang an offensiv adressiert. Beim Einlass des Publikums sind die sieben Kinder bereits zu sehen, wie sie in dem nur nach oben offenen Kasten lachend Blindekuh spielen. Plötzlich ist eine Stimme aus dem Off zu hören, die die Kinder auf Englisch anspricht: „Hello, how are you? What are you doing? I just wanted to let you know they are all here now. Everyone sitting down, they are all watching you. They love to watch you play. So if you’re ready we can get things started.“7

Einige Kinder gehen an das das Glas heran und versuchen, hindurch zu sehen, treten aber bald wieder zurück. Das jüngste Mädchen, Aiko, beginnt unvermittelt über den Tod zu sprechen – dass sie alle sterben werden, auch wenn sie heimlich nicht daran glauben. Die Stimme meldet sich zurück: „Okay, but I don’t think that’s what everyone wants to hear right now. You’re still so young. They want to see you carefree.“ Nach diesem kurzen Prolog ist die Gruppe Queen mit dem Song Don’t stop me now! zu hören, der als Leitmotiv über der Aufführung steht, mit einem Gestus der Rebellion, des unbedingten Aufbruchs- und Freiheitsdranges, der sich selbst als extreme Beschleunigung feiert („travelling with the speed of light…“). Ein Leuchtband mit roter Schrift wendet sich an das Publikum: „Gob Squad präsentieren eine Live-Show mit ECHTEN Kindern! Eine seltene und großartige Gelegenheit! Seien Sie dabei und sehen sie mit eigenen Augen sieben Leben im Schnelldurchlauf. Before Your Very Eyes.“

Zu dem extrem euphorisierenden Queen-Song sind die Kinder nacheinander links auf der Leinwand neben dem Kasten zu sehen, wie sie auf den Straßen, im Park oder im Supermarkt von Gent tanzen. Nach ihrer Filmszene springen sie jeweils aus dem Bild und in den Kasten hinein, wo sie vor der Spiegelwand wei-

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Hier und im Folgenden wird der Text zitiert nach einer Aufzeichnung der Aufführung im Genter Theater Campo am 13.05.2011.

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ter tanzen. Schließlich gehen sie in die Ecke vor die Videokamera und erscheinen damit auf der rechten Leinwand, während beim Wechsel der Position immer ein anderes Kind nachkommt. Durch das Vortanzen wird zugleich die Medieninstallation etabliert, bis das letzte Kind in den Kasten hereinspringt, wobei aber plötzlich die Musik aussetzt und die Filmbilder erlöschen. Der kleine Maurice zappelt weiter ohne Musik, und auch durch die Aufforderung der Stimme lässt er sich nicht stoppen. Als er endlich still steht, klopft ihm ein anderer Junge mit einem Mikrofon auf die Brust, was auch gleich kommentiert wird: „That’s a good beginning. The sound of a small heart, beating. You do know why you’re here, don’t you? You’re here to live and then die. I don’t think anyone’s got the time to sit and watch you for decades. So you better get on with it. Grow! Go on! Grow up! I said: Grow up!“

„Before Your Very Eyes“ (2011)

Foto: © Phile Deprez

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„Before Your Very Eyes“ (2011)

Foto: © Phile Deprez

Damit ist auch die eigentliche Logik dieser Versuchsanordnung benannt, die durchaus als eine bio-politische bezeichnet werden kann: Leben im Schnelldurchlauf ist das Experiment, das hier den erwachsenen Zuschauern vorgeführt werden soll – wie in einer Völkerschau des 21. Jahrhunderts, die zugleich als Zeitmaschine funktioniert, eine Art Zukunftssimulator oder Brutkasten für den ‚Neuen Menschen‘. Die Kinder beraten erst einmal, wie sie ihr Wachstum beschleunigen könnten, und ziehen sich gegenseitig Arme und Beine lang. Die Stimme belehrt sie aber, dass das Experiment längst schon begonnen hat. Sie sollen sich im Fernsehen anschauen, was zugleich auf der rechten Leinwand groß zu sehen ist: einer der Jungen, mit Bällen jonglierend, weitere Aufnahmen aus der Zeit des ersten Castings für das Stück. Damals wurden die Kinder gefragt, was sie denn können (Antwort von Maurice: Fußball spielen, ein Picknick machen etc.). Dem steht nun gegenüber, was sie als junge Erwachsene, mit 19, können (Antwort von Zoe: Bikinis kaufen, Sex haben und schwanger werden oder auch nicht, ins Gefängnis kommen, Leute bezahlen um sich ihre Probleme anzuhören etc.). Die Stimme kommentiert nüchtern: „Well, you’d better start acting your age then.“ Der nun folgende Schnelldurchlauf wird immer wieder unterbrochen, durch kurze black outs und stehende Bilder, Tableaus: die Kinder erst als pubertierende Teenager mit Zigaretten, dann bereits in no-futureStimmung mit schwarz geschminkten Lippen und Augenringen, dann als Langweiler mit Kleidern und Frisuren, die so öde sind wie ihre Lebensverhältnisse,

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und auf einer katastrophalen Sushi-Party, wo sich alle etwas vorlügen, um die dünne Fassade der Normalität aufrechtzuerhalten. Dabei helfen die Anweisungen aus dem Off: „Try not to show discomfort!“, „Zoe, look jealous. You also wanted to have a dance. Now start eating your bad Sushi.“ oder „Tasja, you don’t know any jokes. […] Tell everyone about your new piece of technology!“. Ihr neues iPhone stellt sie gerne vor, aber mit ihrem vergangenen Selbst und dessen Fragen nach der Zukunft konfrontiert, verlässt sie wortlos den Kasten. In diesem Moment des Außenblicks, der ähnlich wie in Gob Squad’s Kitchen die Versuchsanordnung zu sprengen scheint, erreicht die Simulation eine andere, allgemeinere Ebene: Tasja berührt die Scheibe, an der gleichen Stelle, die Maurice mit seiner Hand von innen anfasst. Er sieht ihr mit einer Perücke noch entfernt ähnlich, spielt aber eigentlich ein neutrales Wesen aus Vergangenheit und Zukunft zugleich und gesteht viele Fehler ein: „I could have said no to the first cigarette. I could have studied more. I could have married her. I could have lived in America… I could have followed my heart.“ „Before Your Very Eyes“ (2011)

Foto: © Phile Deprez

Und dann beginnt die große Karaoke-Show zu Edith Piafs Chanson Je ne regrette rien, den alle nacheinander mit großem Pathos wiederholen, jeder seine eigene Strophe. Schließlich verfliegt aber auch der Zauber der Melancholie, unerbittlich souffliert die Off-Stimme Eingeständnisse der Enttäuschung:

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„What was an exciting mysterious future is now starting to fade. You realise you are not special. As the world forgets you, as you learn there is no one watching you, and there never was, you know, the only part of you that will remain is that part that has become someone else.“

Diesen letzten Teil nachzusprechen, weigert sich Tasja. Sie fragt vielmehr zurück, weshalb die Stimme sich so allwissend vorkomme und warum nicht alles ganz anders gemacht werden könnte, ob sie an Gott glaube, und überhaupt, wer für alles verantwortlich sei. Die Stimme antwortet nicht, verweist nur auf das, was notwendig folgt, das Altern. Als Maurice fragt, ob sie nun die Sterbeszene machen dürften, jubeln alle plötzlich wieder als Kinder, und einzig dieser Moment der Spielfreude rettet auch die Zuschauer vor der völligen Verzweiflung: „Yeah. Let’s do the dying!“ Ein letztes Aerobic mit Bärten und grauen Haaren, Kitteln und Pullovern, bis alle ermattet dahin sinken. Den übrig gebliebenen Fons fragt die Stimme noch, wie es sich denn anfühle, zurückgelassen zu werden, wie er gerne sterben würde und was dann passiert? „They put you in a coffin and drive you away“. Zu einem erst noch schwachen, in die Dunkelheit wie von weither anklingenden Don’t stop me know stehen alle wieder langsam auf, verlassen den Kasten und kommen nach vorne auf die Bühne. Dort ist der Song nochmal ganz zu hören und wieder laut aufgedreht, wobei das Ende des Versuches fast schon wie eine Befreiung wirkt, wenigstens für einen kurzen Augenblick: „…cause I’m having a good time now!“ So endet diese Durchquerung von Alter und Tod doch noch mit einer Auferstehung – wie sie im Theater immer schon möglich war, insofern es nicht nur auf Simulation und Illusion von Präsenz basiert, sondern auf der Möglichkeit zum Spiel mit der Abwesenheit und einer Verräumlichung der Zeit.8 Die bereits für Gob Squad’s Kitchen prägende Dekonstruktion von Mythen der Popkultur wird in Before Your Very Eyes weiter ausformuliert im Umgang der Gruppe mit ihrer eigenen Zukunft. Reflektiert die Auftragsarbeit für Campo doch indirekt auch das Älterwerden der Gob Squad-Mitglieder, die stets mit dem Gestus des Pop auftraten (‚Forever Young‘), nun aber zum Teil selbst schon Kinder haben. Indem die Kinder aus Gent dem – zwischen Lachen und Entsetzen schwankenden – Publikum demonstrieren, was es heißt, erwachsen zu werden, reproduzieren sie jedenfalls nicht nur die altersspezifischen Moden und Verhaltensmuster der Spaßgesellschaft. Sie erinnern zugleich an die schon in Schillers Don Karlos

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Zur Überlagerung der Zeitschichten in Before Your Very Eyes vgl. auch Wehren 2014: 232.

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formulierte Mahnung, beim Älterwerden die Träume der eigenen Jugend nicht zu vergessen. Dass es auch bei dieser Aufführung mit Kindern nicht um die Behauptung des Authentischen geht, sondern um eine Konfrontation der Zuschauer mit dem eigenen Voyeurismus, erhellt schon die Leuchtschrift zu Beginn der Aufführung, die uns „Echte Kinder!“ verspricht, wie selten gewordene Tiere in einer langsam überalternden Gesellschaft. Wie die ersten beiden Teile dieser Trilogie zur Konfrontation von Erwachsenen mit ihren Lebenslügen und Projektionen durch Kinder und Jugendliche hatte auch Before Your Very Eyes großen Erfolg, wurde 2011 eingeladen zum Festival Politik im Freien Theater und 2012 zum Berliner Theatertreffen sowie zu Gastspielen u. a. in Europa, Korea und Japan. Und ähnlich wie schon bei üBUNG hat gerade die intermediale Struktur der Inszenierung dazu beigetragen, die Schauanordnung des Theaters auf produktive Weise zu reflektieren und im Spiel mit dem Recycling kultureller Artefakte ein genuin theatrales Prinzip (wieder) zu entdecken. Dazu kam ein Recycling von Zukunftsängsten, die von den beschleunigt alternden Kindern aktualisiert werden. Ebenso wie die Off-Stimme nicht bloß die Autorität der Regieführung manifestiert, sondern auch die allgemein gültigen Normierungszwänge, ist diese Aufführung nicht bloß ein harmloses Spiel mit dem unvermeidlichen Älterwerden, sondern vielmehr ein Lehr- bzw. Lernstück über aktuelle Zustände und Befindlichkeiten mehrerer Generationen. Das Genter Labor nähert sich mit Before Your Very Eyes der Biopolitik einer Gesellschaft, die längst schon begonnen hat, das Altern zu einem kommerziellen Faktor zu machen und in eine Phase des unendlichen, über den natürlichen Tod hinausreichenden Konsums hinein zu verlängern.

P HILIPPE Q UESNE : N EXT D AY Im antiken griechischen Theater folgte auf die Trilogie dreier Tragödien noch ein komisches Echo, ein Satyrspiel, das manchmal auch thematisch den Bogen der vorigen Stücke aufgreifen konnte. In Gent, wohl auch bedingt durch den Erfolg der drei Produktionen mit Kindern, die alle erwachsenen Vorstellungen von Kindheit selbst in Frage stellten, kam es in diesem Jahr ebenfalls noch zu einem Nachspiel, einer futuristischen Vision des französischen Regisseurs Philippe Quesne. International bekannt wurde er durch sein Studio Vivarium, mit dem er Schaukästen installierte, wo menschliche Akteure in surrealen, atmosphärisch extrem verdichteten Situationen auftreten: ein paar langhaarige Hardrocker in einem kaputten Auto, die für ihre Pannenhelferin zum Dank einen ganzen Vergnügungspark in Gang setzen; ein seltsamer Bastler, der wöchentlich Bekannte

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in sein Apartment zu minutiös vorbereiteten Nonsens-Spektakeln einlädt, oder ein autonomes Kulturzentrum, das in einem Sumpfgelände vom Untergang bedroht ist. Dabei ergaben die Stücke L'Effet de Serge (2007), La Mélancolie des Dragons (2008) und Big Bang & Swamp Club (2010) eine Art Fortsetzungsgeschichte. In Quesnes Bühnenräume schaut das Publikum wie in Laborkästen, wo seltene Exemplare der menschlichen Spezies mit besonderen Gewohnheiten und Verhaltensweisen agieren. Während Quesnes sonstige Versuchsanordnungen mit dem verspiegelten Glaskasten in Before Your Very Eyes vieles gemeinsam haben, entwickelte er seinen Beitrag für das Genter Theater nach einem anderen Prinzip. Im Zentrum steht nicht mehr die ausgearbeitete Szenerie eines Schaukastens mit neurotisch diszipliniert agierenden Erwachsenen, sondern vielmehr eine offene Bühnenlandschaft aus Spielelementen, mit denen 13 Kinder zwischen acht und elf Jahren ein fremdgesteuertes und doch anarchisch erscheinendes Zukunftstraining absolvieren. Auch für Quesne war diese Produktion, die bei Theater der Welt im Mai 2014 Premiere hatte, die erste Arbeit mit Kindern. Diese kamen selbst auf die Idee, als auszubildende Superhelden in einem Trainingscamp zu lernen, wie die Welt zu retten wäre.9 Die Bühne sieht aus wie ein großer Spielplatz, auf den von oben der große Schriftzug „NEXT DAY“ und ein Turnring, später auch Schaumstoffquader und ein Flugzeug herabhängen, während auf der rechten Seite ein Berg aus weiteren Schaumstoffteilen in verschiedenen Größen und Farben aufgestapelt ist. Zu Beginn der Aufführung sind die Kinder bereits auf der Bühne, die meisten um einen Overheadprojektor wie um ein Lagerfeuer versammelt, wo sie kryptische Skizzen auflegen. Nebelwolken wehen herein und es ertönt In der Halle des Bergkönigs aus Edvard Griegs Peer Gynt-Suite. Zum rasanten Finale laufen alle im Kreis herum und springen schließlich in den Schaumstoffberg. Einzeln kommen sie zurück, jeder mit einem Instrument für die Band: Mundharmonika, Gitarre, Cello, Bassgitarre, Geige, Keyboard, Trommeln, Glockenspiel etc. Mit dem ersten Song beginnt das „Superhero Training Camp“ – dieser Titel erscheint als Projektion über tristen Wohnblocks, der Fotokulisse im Hintergrund. Im grellen Licht von Scheinwerfern spielt die Band den Anfang von Richard Strauss’ Also sprach Zarathustra (das auch in Kubricks 2001: A SPACE ODYSSEY verwendet wurde). Mit der Devise „Discover Your Power!“ treffen sich die Akteure in einem blauen Planschbecken, während das Trainingsprogramm angezeigt wird: „Musikstunde“ und „Werbespot drehen“, dann „Überraschungsangriff der Monster“, „Gegenangriff“, „Flugzeugabsturz üben“ und

9

Vgl. die Notizen im Programmzettel zu Next Day (Theater der Welt, Mannheim 2014).

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„Wiederaufbau nach der Katastrophe“. Die Herstellung des Werbespots wird ähnlich souverän absolviert wie die Musikstunde, indem diverse Objekte (Akkuschrauber, Gewehre, aufblasbare Krokodile, Popcornspender etc.) auf Sockel aus Schaumstoff gestellt und in einem Reigen der Produkte gefilmt werden. „Next Day“ (2014)

Foto: © Martin Argylogro

Wieder treffen sich alle im Planschbecken, trinken ihren Saft, legen sich schlafen. Nach einiger Zeit formiert die Band sich erneut, in blauem Dämmerlicht summen alle die Melodie von Ein Hund kam in die Küche. Plötzlich hört man laute Musik und das Rattern von Maschinengewehren, sieht rotes Licht und den Angriff der Monster auf der Leinwand. Die Kinder kreischen, bauen eine Barrikade aus Schaumstoff und ziehen sich Neonmasken über. Nun folgt eine kurze Ansprache: Für das Training zur Abwehr der Monsterangriffe werden menschliche Wesen gebraucht. Die Schutzmauer fällt, aber die Akteure mit neonfarbenen Umhängen triumphieren in Heldenpose auf den Trümmern. Sie versorgen sich mit kleinen Schaumstoffwürfeln und bewerfen die Zuschauer, die sich kräftig zur Wehr setzen und den Kampf zwischen Bühne und Publikum aktiv mitgestalten dürfen. Nun soll auch der Absturz geübt werden: Unter einer großen Flugzeugschablone wird Schaumstoff zu einem Bunker aufgeschichtet. Zwischendrin unterhalten sich die Kinder öfters darüber, was gerade auf dem Plan steht und was Superhelden sonst noch alles können müssen. Am Bühnenrand werden schließlich echte Pfannkuchen gebacken, und mit den Ghost Riders In The Sky

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von Johnny Cash klingt das Trainingscamp aus – fast wie ein Kindergeburtstag, der ohne weiteres Eingreifen von Erwachsenen etwas aus dem Ruder gelaufen ist. Ein komisches Nachspiel war dieser Next Day, nach dem die vorigen Inszenierungen in eher melancholischer Stimmung die tiefen Abgründe ausloten konnten, die sich mit den Themen Familie, Kindheit, Erziehung und Zukunft heute verbinden. Ausgerechnet der sonst eher als Surrealist und Melancholiker bekannte Philippe Quesne entwickelte das Satyrspiel, in dem die Kinder aber wiederum fremd erscheinen: Was sie da aufführen, ist nicht bloß ein futuristisches Spiel ohne Grenzen, sondern die komische Überzeichnung von Erziehung und (Aus-)Bildung als Optimierung spezifischer Fähigkeiten. Dazu gehört Kreativsein ebenso wie spontanes Austoben von Ängsten und Aggressionen. Kindliche Gefühle erscheinen als der eigentliche Treibstoff, den die Maschine der neoliberalen Konsumgesellschaft braucht, um nicht in den selbst geschaffenen Routinen zu erstarren. Insofern hat aber auch bei dieser Inszenierung vieles, was als mehr oder weniger gelungener Klamauk erscheinen mag, eine Entsprechung in der ökonomischen und kulturellen Wirklichkeit, aus der die Kinder und Jugendlichen kommen, die darin mitspielen. „Next Day“ (2014)

Foto: © Martin Argylogro

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Der am Genter Theater Victoria/Campo bis hin zu diesem komischen Ausblick in die Zukunft reichende Bogen der hier skizzierten vier Produktionen hat gezeigt, wie vielfältig das Spektrum von zeitgenössischen, experimentellen Theaterformen sein kann, in denen Kinder und Jugendliche vor erwachsenen Zuschauer auftreten und deren eigene Projektionen, Ängste und Hoffnungen bearbeiten. Was dabei Gestalt angenommen hat, sind nicht etwa Lösungen für die von Erwachsenen geschaffenen Probleme, sondern Formen und Wege einer Verständigung zwischen den Generationen – jenseits der gewohnten pädagogischen Hierarchien von Kontrolle, Erziehung und Belehrung. Stop Teaching ist ein wichtiger Impuls, der von diesen Arbeiten ausgeht, schon viele andere inspiriert hat und womöglich noch weiterwirken kann, wenn Theater als Versuchsanordnung verstanden wird, die weniger Normen festlegt als Freiräume öffnet.

L ITERATUR Benjamin, Walter (1977): Gesammelte Schriften, Band II. Herausgegeben von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser, Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Benjamin, Walter (1977a): „Franz Kafka“, in: Ders., Gesammelte Schriften, Band II.2, S. 409-438. Benjamin, Walter (1977b): „Programm eines proletarischen Kindertheaters“, in: Ders., Gesammelte Schriften, Band II.2, S. 763-769. Benjamin, Walter (1977c): „Was ist das epische Theater? (Erste Fassung)“, in: Ders., Gesammelte Schriften, Band II.1, S. 519-531. De Pauw, Josse (2001): Josse De Pauw im Gespräch über die Produktion üBUNG, Programmheft, Gent: Theater Victoria. Etchells, Tim (1999): Certain Fragments. Contemporary Performance and Forced Entertainment, London: Routledge. Etchells, Tim (2007): That Night Follows Day, Gent: Theater Victoria. Gob Squad/Quiñones, Aenne (Hg.) (2005): The Making of a Memory. 10 years of Gob Squad remembered in words and pictures, Berlin: Synwolt. Gob Squad (Hg.) (2010): Gob Squad Lesebuch und der unmögliche Versuch daraus klug zu werden, Berlin: o.V. Helmer, Judith/Malzacher, Florian (Hg.) (2004): „Not even a Game Anymore“. Das Theater von Forced Entertainment, Berlin: Alexander. Wehren, Michael (2014): „Sieben Leben im Schnelldurchlauf“, in: Micha Braun/Günther Heeg/Lars Krüger/Helmut Schäfer (Hg.), Reenacting History: Theater & Geschichte, Berlin: Theater der Zeit, S. 225-233.

Zerstörungsphantasien mit Sahne Gedanken über die Zukunft E VA M EYER -K ELLER UND S YBILLE M ÜLLER Die Texte sind entstanden aus Gesprächen mit Gil Hantschke, Emma Hütt, Zebra Kirschning, Leo Pesch, Timon Prechtel, Gideon Renau und Lea Schirbel.

Bauen nach Katastrophen (2009) ist eine Performance mit Kindern für Erwachsene, in der gemeinsam mit den Kindern intuitive Katastrophenforschung betrieben wird. Im Basteln sind Kinder Spezialisten. Ihr Ansatz ist nicht konzeptionell, sondern entspringt einer natürlichen Entdecker- und Experimentierfreude. Die Kinder erstellen Katastrophenmodelle und zeigen das ‚Making-of‘ von Naturkatastrophen und Unfällen, indem sie in den Modellen das Eintreten der Katastrophe erzeugen. Dadurch werden ganz nebenbei und spielerisch grundlegende physikalische Kenntnisse vermittelt. Unser Hauptziel ist jedoch, die Kinder für die Folgen des Klimawandels mit den immer häufiger auftretenden Naturkatastrophen und vor allem auch für den Umgang mit medialen Bildern im digitalen Zeitalter zu sensibilisieren. Das Publikum kann die Katastrophen detailgenau auf Bildschirmen mitverfolgen, aber auch den Vorgang des Erzeugens live im Theater beobachten. Wir haben mit unterschiedlichen Gruppen von Kindern in Parma (Italien), Stamsund (Norwegen), Hamburg und Berlin (Deutschland) zusammen gearbeitet. Die Kinder waren zwischen zehn und zwölf Jahre alt, Jungen und Mädchen. Durch jeden Arbeitsprozess hat sich das Projekt weiterentwickelt. In Stamsund und Berlin haben wir schließlich angefangen, mit Texten zu arbeiten. Diese Texte entstanden durch die Gespräche mit den Kindern während der Proben. Wir

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haben bei gegenseitigen Präsentationen oder Gesprächen ein Aufnahmegerät laufen lassen, dessen Aufnahmen wir später transkribierten. Aus den Beiträgen der Kinder entwickelten wir Texte, die dann in der Vorstellung von ihnen vorgetragen wurden. Dabei hörten sie über Kopfhörer den Text und sprachen ihn dann in ein Mikrofon. Im Folgenden ist eine Auswahl der Texte, die durch den Probenprozess mit den Kindern entstanden sind, zu lesen. Es wird drei Textteile geben: Im ersten Teil werden zwei Beschreibungen der Katastrophenmodelle, die die Kinder gebaut und in Szene gesetzt haben, vorgestellt. Der zweite Teil behandelt phantastische Modelle, die sie gebaut hätten, wenn alles möglich gewesen wäre, und der dritte behandelt die Frage, wie die Kinder die Zukunft sehen und ob sie davor Angst haben.

B ESCHREIBUNGEN Überschwemmung/Dammbruch Hier ist Wasser, das kippe ich gleich rein. Dann regnet es mit so ’nem Sprühgerät, diesen Teil sieht man nicht in der Kamera. In der Wanne ist Meerwasser drin, das Wasser steigt, dann zieht Leo hier, an einem Stück Wischlappen, dann bricht der Damm und alles wird überschwemmt. Der Damm ist aus Kartoffelpüree, da sind noch so kleine Backerbsen drin, das sollen Steine sein und einfach so ein bisschen Verzierung. Die Streichhölzer sind Stützbalken. Hier sind alle Häuser aus Zuckerstückchen, hier ist eine Schule, hier sind zwei Wachtürme. Timon

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Der Dammbruch

Foto: © Lucas Fester

Waldbrand Also das soll einen Waldbrand darstellen. Ich hab den Boden aus... also ganz unten ist Kartoffelbrei, dann hab ich da Kakaopulver rauf gemacht, die Bäume hab ich hauptsächlich aus Streichhölzern, Zahnstochern und diesem Backzeug gemacht. Dann hab ich hier noch ein paar Pappeverbindungen. Vielleicht klappt es, vielleicht auch nicht. Wenn’s nicht funktioniert, ist es auch nicht so schlimm. Hier zündet man ein Streichholz an und dann probier ich den Dominoeffekt zu erreichen indem es hier anfängt und sich das Feuer dann durch den ganzen Wald frisst. Gideon

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P HANTASTISCHE K ATASTROPHENMODELLE Ich würde mir einfach einen riesigen Wetterballon kaufen, der das Wetter verändern kann und so. Ich würde dann einfach die ganze Welt zerstören. Es gäbe überall Tsunamis und Tornados und andere Katastrophen. Es würde alles zusammen kommen. Dann kommt noch so ein fetter Meteorit und zerstört die ganze Welt. Die Menschen sind schon auf dem Mond. Die Kamera ist dann irgendwie im Weltall, wie ein Satellit und dann kommen ganz viele Meteoriten von allen Seiten und es macht Boum! Ein neuer Urknall und alles fliegt in die Luft. Timon und Leo

Ich würde das ganze Theater nehmen. Dann kommt ein Flugzeug mit einer durchfressenden Säure. Das Flugzeug knallt da oben rein und die Säure verätzt alle. Gideon

Ich würde irgendwelche Menschen in klein züchten und dann würde ich so ‘ne Schule bauen. Dann würde ich einen Schüler beauftragen, einen Amoklauf zu machen, der kriegt dann eine Pistole, die ist auch klein gezüchtet, und dann ja... Zebra

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Proben zu dem Katastrophenmodell Blitzeis

Foto: © Lucas Fester

Als erstes würde ich ein ganzes Einkaufszentrum aufkaufen, weil ich ein Erdbeben darstellen will. Das wäre dann mit echten Menschen, aber die wollen alle Selbstmord begehen. Die würde ich über ein Interview aussuchen. Ich würde die erst mal aufstylen, damit die schön sterben, weil das ist ja nicht schön, wenn die hässlich sterben, dann würde ich die umstylen, bisschen Haare, Make-up, Klamotten, bis die gut aussehen, auch wenn sie hässlich sind. Dann müssen ein paar so Muskeltraining machen, so wie bei „Germanys Next Topmodel“. Nur die Schönen sterben. Dann würde ich so eine riesige Platte bauen, dort würde ich die Menschen drauf stellen und würde noch so ein paar Häuser bauen lassen. Ich bin da richtig reich irgendwie und dann würde ich alles zusammenstürzen lassen. So wie Zebras Idee nur in echt. Das Einkaufszentrum ist das Einzige, das überlebt. Emma

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Z UKUNFT Es wachsen keine Pflanzen mehr, die trocknen alle aus. Der Nordpol wird schmelzen. Vielleicht in 20 Jahren. Die Inuits sterben... und dann kommt da noch ganz viel Wasser. Es wird viele Überschwemmungen geben. Die Seite vom Ostbahnhof (Berlin), also Mitte, wird zum Meer. Also ich werde dann am Strand wohnen. Lea

Sie haben in Afrika kein Wasser mehr, weniger auf jeden Fall. Sie können ihre Pflanzen nicht mehr gießen, dann haben sie kein Essen mehr, dann sterben die Tiere, dann haben sie kein Fleisch mehr und sie können auch nichts trinken und dann sterben sie. Oder sie ziehen zu uns und dann kaufen sie sich auch Anziehsachen und dann wird es noch dichter und dann kommt noch weniger Wärme wieder raus und dann wird’s noch heißer. Lea

Wenn ich groß bin, werde ich Wissenschaftlerin. Ich werde mir einen Ozonbunker bauen. Dann baue ich mir eine kleine Ozonschicht, so ‘ne extra Ozonschicht. Da drin werde ich ein Feld aufbauen und total einen auf Bio machen, meine Ozonschicht werde ich pflegen und immer schön anstreichen. Lea

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Ich persönlich hab selbst Angst. Finde unsere ganze Welt eigentlich bloß Scheiße. Wenn es nach mir ginge, sollte die ganze Welt zurück in die Steinzeitepoche, ohne Einkaufszentren, ohne Nintendo, ohne Handys, ohne Abgase. Die Welt würde dann wenigstens ein bisschen länger existieren. Gideon

Ich baue mir auch so eine eigene Ozonschicht, aber dann baue ich mir da drin eine Rakete und fliege damit rum und suche mir ‘nen neuen Planeten. Wir leben irgendwie über unsere Kapazitäten. es gibt so ein Programm, das ausrechnet, wie viele Erden wir bräuchten, wenn alle Menschen so viel Energie verbrauchen wie wir, bei mir waren das 1,7 Erden. Dann können wir ja gar nichts mehr machen. Und nichts mehr essen. Zebra

Kennt ihr McFit? Man könnte McFit für die Energie nutzen, also die Laufgeräte zur Energiegewinnung nutzen. Der Hauptreaktor der Erde sollte mit Hamstern betrieben werden. Man könnte auch Meerschweinchen benutzen, oder einen Strauß, oder Zebras, oder Esel mit Mohrrüben vorne dran. Gil und Timon

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Ich hab keine Angst vor der Klimaerwärmung, weil... wir haben das ja ausgerechnet, dann bin ich ja schon achtzig und dann ist die Möglichkeit, dass ich da so langsam sterbe, schon groß, dann begehe ich Selbstmord oder sterbe an Krebs. Emma

Wenn diese komische Klimaerwärmung kommt, krepieren ja immer mehr Menschen, also wenn die dann alle sterben, dann wird es doch wieder kälter. Gil

Also wenn in Afrika wirklich niemand mehr leben will, dann braucht ja keiner mehr das Land da. Dann würde ich mir diesen Zipfel hier abhacken und damit in ein kälteres Gebiet fahren. Dort würde ich das Land verankern und etwas anpflanzen. Leo

Ich hab keine Angst vor der Zukunft, weil ich denke, dass die Menschen schon was erfunden haben, wenn es soweit ist. Also ich rufe ein paar Aliens an und die kommen und retten uns. Ich würde die Zukunft dadurch ändern, indem wir jetzt was anderes machen und nicht mehr reden. Gil und Timon

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Die Vorstellungen von Bauen nach Katastrophen fanden 2009 im Theater Hebbel am Ufer 3 in Berlin statt. Die Performance wurde ermöglicht durch den Hauptstadtkulturfonds und das Lofoten International Arts Festival Norwegen. Auf der Basis von Dokumentationsmaterial der Performance entstand 2010 der Film VON MENSCHEN GEMACHT, der die Interaktion der Kinder während der Performance hervorhebt. Gil Hantschke: Ich heiße Gil und bin zehn Jahre alt. Ich spiele Akkordeon und habe keine Haustiere. Emma Hütt: Ich bin ‚geht so’ in der Schule. Ich seh ganz gut aus. Ich hasse fast alle Sportarten. Ich habe viele gute Freunde. Zebra Kirschning: Ich bin gut in der Schule. Ich habe sehr gute Freunde. Ich habe helle braune Haare und grüne Augen. Leo Pesch: Ich mag nur verrückte Sachen, wie Fantasy-Drachen. Ich habe einen Hund und zeichne gerne (wie auch das Deckblatt). Ich will in jedes Land dieser Welt reisen. Timon Prechtel: Ich heiße Timon, bin zehn Jahre alt und wohne in Kreuzberg 36. Ich bin seit drei Jahren in der Theater AG der Heinrich-Zille-Grundschule. In Italien habe ich den Ausbruch des Strombolis live miterlebt. Ich habe zwei Meerschweinchen. Gideon Renau: Ich möchte nichts schreiben. Lea Schirbel: Ich bin einigermaßen gut in der Schule und habe blonde Haare. Meine Freunde in der Gruppe sind Emma und Zebra. Die anderen nerven nur. Eva und Sybille sind nett. Ich schwimme gerne und spiele gerne Theater.

Theater/Kunst mit Kindern Am Beispiel einer Performance mit Kindern von Eva Meyer-Keller und Sybille Müller K RISTIN W ESTPHAL

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SCHREIBEN

Heiner Müller hat in einem Gespräch einmal gesagt, die Aktualität der Künste liege im Morgen. In der Tradition der Erziehungswissenschaften (Schleiermacher) wird der Horizont von Kindern auf ein noch unbestimmtes Künftiges gesehen, der wie der Horizont der Künste als ein geöffneter Möglichkeitsraum gedacht wird. Den Künsten wie auch den Kindern wird ihr Potenzial als das, was aus der Zukunft auf die Gegenwart noch zukommt und keineswegs schon in der Gegenwart ausgebildet ist, zugeschrieben. Aus der Perspektive von Erwachsenen teilen wir uns die Gegenwart mit der heranwachsenden Generation. Doch reichen wir nicht an die Welt des Kindes heran. Kinder sind uns vertraut, sofern wir uns erinnern lassen an die eigene Kindheit, und sie sind uns zugleich fremd, sofern sie ihre eigenen Erlebniswelten haben, die sich uns entziehen (vgl. Lippitz 2003: 193). Die Art und Weise, wie Kinder die von Erwachsenen bestimmten Ordnungen und Spielregeln deregulieren, spielerisch außer Kraft setzen, Neues erfinden oder endlos wiederholen, was ihnen im Spiel Lust bereitet, ist mit dem künstlerischen Tun vergleichbar, ohne dass sie jedoch gleich als Künstler gelten. Ähnlich wie Kinder mit Ordnungen, die sie erst über Erwachsene vermittelt bekommen, umgehen, wird auch in künstlerischen Schaffensprozessen mit vorgegebenen Ordnungen gespielt, die neue Sichtweisen auf Welt- und Selbstverhältnisse eröffnen. Sie haben die Struktur von Ereignissen, in denen Sinn entsteht, aus dem Sinn im Tun hervorgeht. Das kindliche Spiel hat mit unserer Welt zu tun und schafft

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dennoch eine eigene Welt.1 Es rührt uns Erwachsene an und unterbricht uns in den Gewohnheiten, Welt zu sehen bzw. zu deuten. Das Potenzial einer künstlerischen Tätigkeit wie auch das des kindlichen Spiels haben so gesehen etwas gemeinsam: Beide lassen aus etwas, das Teil eines Bedeutungszusammenhanges ist, etwas Anderes entstehen. Dieses Andere entzieht sich mit Merleau-Ponty einer Eindeutigkeit und schafft einen Überschuss an Sinn. Im Unterschied zum kindlichen Spiel jedoch setzt uns die künstlerische Tätigkeit bewusst neuen Ordnungen vor vorhandenen Regelsystemen auf dem schwankenden Boden unserer Wahrnehmung und damit unseres Urteilens aus. Kindern einen Weg zum künstlerischen Tun zu bahnen, erfüllt so gesehen ein Doppeltes: Die Erwachsenen zeigen ihnen, wie sie künstlerisch arbeiten, und gleichzeitig begegnen sie den Kindern in dem, was ihnen schon durch ihr Spielvermögen gegeben ist: Die Welt und sich selbst zu finden und zu erfinden.2 In der jüngsten Zeit haben etliche Gruppen Konzepte entwickelt, die ihre künstlerische Arbeit weder im Sinne eines rein erwachsenen Spiels für Kinder, noch eines Theaterspiels über Kinder verstehen, sondern den Ansatz in der künstlerischen Arbeit mit Kindern als Kinder suchen. Interessant daran ist, dass sie nicht einfach die Bühne den Kindern überlassen – Versuche, die es in der Vergangenheit gegeben hat –, sondern ganz im Gegenteil: Die Stimme der Künstler (als Erwachsene) fließt in die Arbeit mit Kindern und Jugendlichen ein und wird zur Disposition gestellt (vgl. Westphal 2014). An einem Beispiel soll das genauer ausgeführt werden.

B AUEN

NACH

K ATASTROPHEN . E IN L ANGZEITPROJEKT

Auf eine ungewöhnliche Weise initiieren die Berliner Performance-Künstlerinnen Eva Meyer-Keller und Sybille Müller eine Performance-Installation mit Kindern für Erwachsene. Die Installation mit dem Titel Bauen nach Katastrophen (Festival Natura Dèi Theatri in Parma 2007; Kampnagel Hamburg 2008; Lofo-

1

Vgl. die Überlegungen von Jörg Zirfas zu Scheuerls pädagogischer Theorie des Spiels von 1954 und Zirfas’ Versuch, die Kriterien an das Theaterspielen in der Schule anzulegen (in: Liebau/Zirfas (Hg.) 2008: 130 f.), sowie Bilstein/Neysters (Hg.) (2013).

2

Vgl. die Ausführungen von Bernhard Waldenfels zum Verständnis von Finden und Erfinden. Er begreift eine Erfindung als einen Prozess des Erfindens und den Fund als Resultat dieses Prozesses. Der Prozess orientiert sich am Vorgefundenen und folgt einer Umgestaltung oder Umstrukturierung im Prozess des Erfindens (in: Waldenfels 2004: 162 ff.; vgl. Westphal 2009: 171).

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ten 2009; Brüssel 2009; Berlin 2009) zeigt einen performativen Zugang zu einer schon in der Kunst selten behandelte Thematik. Katastrophen sind für den betroffenen Menschen eine extreme, ja eine ungeheuerliche Fremdheitserfahrung, seien sie von Menschen Hand verursacht oder naturbedingt. Das Genuine daran ist, dass das Individuum die Erfahrung im Sinne eines Widerfahrnisses macht. Es ist einem Geschehen ausgesetzt und darin mit Haut und Haaren verwickelt, fern jeder Steuerungsmöglichkeit und souveräner Selbstbehauptung. In der europäischen Kunst können wir beobachten, dass in früheren Jahrhunderten die Visualisierungen von Katastrophen als Mahnung vor göttlichen Strafen gelten oder sie die pure Faszination von Naturgewalten wie die menschliche Sensationslust befriedigen.3 Die Darstellungen zeigen sich gegenüber dem Phänomen oft als widersprüchlich: Sie faszinieren als Gewalt der Zerstörung und verkünden häufig die Möglichkeit eines Neuanfangs. Katastrophen werden somit als zerstörendes und als schaffendes Phänomen reflektiert.4 „Bauen nach Katastrophen“ (2009)

Foto: © Lucas Fester

3

Burghardt und Zirfas (2014) untersuchen, wie sich diese Frage in Japan verhält.

4

In der Moderne sind es die Massenmedien, die Katastrophenszenarien vermitteln. Die Medienkunst nimmt dabei eine besondere Position ein, insofern sie sich den Fragen mit ihren eigenen Mitteln stellt (vgl. Kwastek 2007: 210).

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Das Konzept für die Produktion von Eva Meyer-Keller und Sybille Müller hatte einen sehr speziellen Ausgangspunkt – anlässlich einer Einladung zum Workshop Normal ist Anders 2006 entstand die Idee, mit Alltagsgegenständen, Kindern und Katastrophen zu arbeiten. Trotz kritischer Einwände der Veranstalter wurde diese Idee weiter verfolgt: So wurde anlässlich einer Klimakonferenz unter Wissenschaftlern in Potsdam recherchiert, das Konzept in einem Arbeitskreis mit Theaterwissenschaftlern und -pädagogen im Rahmen eines europäischen Kongresses an der Frankfurter Goethe-Universität unter der Fragestellung nach neueren Formen des Theaters mit Kindern und Jugendlichen diskutiert und nicht zuletzt auf einem Symposium im Künstlerhaus Mousonturm aufgenommen. Der Zugang der Produktion knüpft an eine Erfahrungsweise an, die insbesondere der kindlichen nahe kommen dürfte, insofern gerade Kinder ‚Experten‘ im Erforschen von Alltagsmaterialien und Beobachten von Vorgängen und schon den ‚alltäglichen Katastrophen‘ in ihrem Umfeld sind. Hinzu kommt, dass Überschwemmungen und Vulkanausbrüche wie zum Beispiel in Island – der dazu führte, dass der Flugverkehr im europäischen Raum lahm gelegt wurde – Themen sind, die in kulturell übermittelter wie erzählter und vielleicht auch für manchen Zuschauer einen Bezug im eigenen Leben hat. Am Aufführungsort Kampnagel in Hamburg zum Beispiel dürfte das Thema am Modell der Sturmflut die existenzielle Tragweite bei manch einem Zuschauer entsprechende Assoziationen, wenn nicht gar Erinnerungen ausgelöst haben. Das Besondere der Konzeption ist, dass die beiden Performancemacherinnen mit jedem neuen Aufführungsort mit einer neuen Gruppe von Kindern in den jeweiligen Ländern das Stück neu- bzw. weiterschreiben – oder besser: anders schreiben. Für Kinder in Parma stellt sich die Frage anders als auf den Lofoten oder in Berlin. An jedem Aufführungsort erarbeiten die Künstlerinnen zunächst gemeinsam mit den Kindern mithilfe von alltäglichen Gegenständen aus dem Haushalt wie Föhn, Mixer, Zange, Papier und Streichhölzern sowie Zutaten wie Zuckerstükken, Mehl, Pudding und Wasser in Versuchsanordnungen Katastrophenmodelle, die zusätzlich mit den Mitteln der Kamera, die die Kinder selber bedienen, und von einem Sounddesigner (Jeff McGrory) begleitet werden. Das Projekt zeigt sich somit in vielerlei Hinsicht als ein experimentell angelegter Produktionsprozess. Mittels Beobachtung, Wiederholung und Analyse werden Naturereignisse wie Sturmflut, Erdrutsch, Überschwemmung, Vulkan oder Hagelschlag usf. nachmodelliert aufgeführt. Sie erscheinen als Faltungen, Einschläge, Überwerfungen, Verschiebungen, Prasseln, Quellungen, Sog und Druck, Brand und Wind, Blitz und Donner etc. (vgl. Burk 2009).

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„Bauen nach Katastrophen“ (2009)

Foto: © Lucas Fester

Für die Performance werden den Betrachtern verschiedene Einsichten auf die Präsentationen gezeigt. Auf Tischen steht zum einen einsehbar das Material und Werkzeug, mit dem gearbeitet wird. Auf verschiedenen rollenden niederen Tischen sind zum anderen die Versuchsanordnungen für die einzelnen Aktionen aufgebaut, die man aus der Nähe nachvollziehen kann. Zugleich gewähren fernerhin Bildschirme Einsicht in das innere Geschehen der hergestellten „Katastrophenverläufe“ und in Großaufnahmen sehen wir, wie sich Farben, Muster, Gestalten und Strukturen etc. während des Versuchs verhalten und verändern. Im Raum befindet sich außerdem eine „Tonstation“, an der vor Mikrofonen Geräusche zu den Bildern der Aktionen ge- und erfunden werden. Daneben ist die Technik – bedient von einem Sounddesigner – ebenfalls einsehbar aufgebaut. Gezeigt bekommt man von den Kindern ihre Entdeckungen, wie sich Geräusche und Töne anders anhören, wenn man sie technisch aufnimmt. Die Katastrophenmodelle werden von den Kindern und den Künstlerinnen in einem streng rhythmisierten und choreographierten Ritual gemeinsam vorgestellt. Dabei wird sich nonverbal mit Gesten verständigt. Jeder Handgriff, der einmal aus einem Zufall erwachsen ist, muss nun zur Präsentation wiederholbar gemacht werden und verlangt den Kindern ein hohes Maß an Konzentration, Disziplin und Abstimmungsbereitschaft für das Gesamtgeschehen ab.

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Die beiden Künstlerinnen treten eher in den Hintergrund und helfen den Kindern dabei, den Ablauf zu realisieren. Verfolgt wird die Idee, die durch Medien vermittelten katastrophalen Ereignisse aufzugreifen, mit den Kindern Assoziationen zu sammeln und die Thematik auf eine ästhetische Weise unter Verwendung verfremdender Mittel zu bearbeiten, über die sie selbst verfügen können. Die existenzielle Dimension, die katastrophale Geschehnisse auf den Menschen haben, bleibt den Kindern dabei natürlich entzogen. Die performative Arbeit mit Kindern an dem Thema „Nachbauen von Katastrophen“ mit den Mitteln der Medien/Künste kann im besten Falle für die aufgeworfenen Fragen und Themen sensibilisieren. Die Faszination in unserem Beispiel liegt vor allem bei der Einsicht der Differenzen, die die Versuche mittels visueller und akustischer Medien im Spiel mit Nähe und Ferne ergeben. Wir sehen, wie etwas vor unseren Augen – wie es in einem Labor geschieht – und zugleich in technisch-visueller und akustischer Form auf den Bildschirmen vor uns mehrfach aufgebaut anders erscheint. Physikalisch-ästhetische Experimente werden mit performativen und technischmedialen Elementen in eine Auseinandersetzung gebracht. Der Akt des Aufbauens und Zerstörens einer Anordnung hält die Kinder und Zuschauer in Bann. Es ist dann nicht mehr eine Sache, die sich gegen Technik und Wissenschaft verhält, sondern mit den Mitteln von Wissenschaft und Kunst zu eigenen Artikulationen und Ausdrucksformen (er-)finden kann und dabei die Frage nach dem Verhältnis von Wirklichkeiten und Möglichkeiten zum Thema macht. Unsere Performancemacherinnen drücken ihren Anspruch wie folgt aus: „In diesem Projekt werden Kindern keine erwachsenen Worte in den Mund gelegt, sondern Kinderideen werden zu ‚erwachsenen‘ Ideen, weil sie eine Phantasiewelt eröffnen, von der wir profitieren können und weil sie Teil einer Gesamtkonzeption sind, die gerade mit der Phantasie bzw. den Assoziationen des Zuschauers spielt.“ (Meyer-Keller/Müller 2009: 193)

Projekte, die mit Kindern professionell künstlerisch on stage arbeiten, gehen eine Gratwanderung ein, wenn sie Kinder einerseits als Kinder und als ‚Experten‘ einsetzen, ohne sie andererseits instrumentalisieren zu wollen. Die Chance solcher Projekte besteht darin, dass sie Kinder an den Bedingungen und Möglichkeiten der erwachsenen Welt teilhaben lassen, durch und in den Medien/Künsten potenziell Fremdes im Sinne anderer Sichtweisen zu erfahren.

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Die Philosophie lehrt uns, dass es in der Frage, Abwesendes sicht- und hörbar zu machen, unterschiedliche Grade gibt. Wie Kinder sich und Welt sehen, haben unsere Performancemacherinnen in der letzten Inszenierung mit Berliner Kindern am Hebbeltheater Berlin Hau3 aufgeführt mit Blick auf ihre gegenwärtige Zukunft.5

L ITERATUR Bilstein, Johannes/Neysters, Silvia (Hg.) (2013): Kinder entdecken Kunst. Kulturelle Bildung im Elementarbereich, Oberhausen: Athena. Burghardt, Daniel/Zirfas, Jörg (2014): „Kunst und Katastrophe. Perspektiven aus ethnographischen Schulbesuchen in der Krisenregion Tǀhoku“, in: Kristin Westphal/Ulrike Stadler-Altmann/Susanne Schittler/Wiebke Lohfeld (Hg.), Räume Kultureller Bildung. Nationale und transnationale Perspektiven, Weinheim und Basel: Juventa/Beltz (im Druck). Burk, Karin (2009): „Aspekte der Geste im Kindertheatermodell Walter Benjamins“, in: Westphal/Liebert, Gegenwärtigkeit und Fremdheit, S. 185-192. Kwastek, Katja (2007): „An den Grenzen der Darstellbarkeit. Katastrophen als Thema der Medienkunst“, in: Jürgen Schläder/Regina Wohlfahrt (Hg.): AngstBilderSchauLust. Katastrophenerfahrungen in Kunst, Musik und Theater, Berlin: Henschel, S. 196-211. Liebau, Eckart/Zirfas, Jörg (Hg.) (2008): Die Sinne und die Künste, Bielefeld: transcript. Lippitz, Wilfried (2003): „Selbständige Kinder im Kontext ihrer Lebenswelt“, in: Ders., Differenz und Fremdheit, Frankfurt a. M.: Peter Lang, S. 193 ff. Meyer-Keller, Eva/Müller, Sybille (2009): „Bauen nach Katastrophen. Eine Performance von Kindern für Erwachsene“, in: Westphal/Liebert, Gegenwärtigkeit und Fremdheit, S. 193-202. Waldenfels, Bernhard (2004): Phänomenologie der Aufmerksamkeit, Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Westphal, Kristin (2009): „Zur Aktualität der Künste im Morgen. Am Beispiel von Theater mit Kindern für Erwachsene“, in: Dies./Liebert, Gegenwärtigkeit und Fremdheit, S. 171-184.

5

Vgl. den Abschnitt „Zukunft“ im Beitrag von Meyer-Keller/Müller im vorliegenden Band; S. 190-192.

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Westphal, Kristin/Liebert, Wolf-Andreas (Hg.) (2009): Gegenwärtigkeit und Fremdheit. Künste und Wissenschaft im Dialog über Bildung, München/Weinheim: Juventa. Westphal, Kristin (2014): „Theater als Ort der Selbstermächtigung. Am Beispiel Gob Squad: Before your very Eyes“, in: Dies./Wolf-Andreas Liebert (Hg.), Performances der Selbstermächtigung, Oberhausen: Athena.

Perspektive Hamburg – Eine städtische Intervention Ein Gespräch M ARTIN H AMMER UND M ARIA M AGDALENA L UDEWIG

Perspektive Hamburg – Eine städtische Intervention feierte im Mai 2008 auf Kampnagel in Hamburg Premiere. Es folgten Gastspiele in Magdeburg, Frankfurt, Berlin und New York. Das folgende Gespräch führen die Regisseurin Maria Magdalena Ludewig (Union Universal) und der Dramaturg Martin Hammer. Martin Hammer (MH): Was ist der Nukleus, die Keimzelle für die Idee, diese beiden Gruppen auf der Bühne sich gegenüber zu stellen? Maria Magdalena Ludewig (MML): Also der Ausgangspunkt war für mich, dass ich diesen Zeitungsartikel über das Mädchen, das in Jenfeld verhungert ist, gelesen habe. Und ich damals irgendwie angefangen habe, mich damit zu beschäftigen. Dann hab ich auch einen Theaterabend gesehen, der versucht hat, das zu visualisieren, weil man damals relativ viel über diesen Prozess berichtet hat. Oder über die Mutter zumindest, weil diese damals ganz empört gesagt hatte, als man ihr vorwarf, dass sie ihr Kind misshandelt habe: „Das ist mein Kind, und was ich mit meinem Kind mache, ist doch meine Sache“. Sie verstand also die Kategorie von Recht und Unrecht überhaupt nicht mehr, weil sie so weit außerhalb einer gesellschaftlichen Sphäre lebte, dass die Frage, ob sie irgendetwas falsch gemacht hätte, für sie überhaupt nicht mehr zu rezipieren war. Dass es Regeln gibt, die sie nicht in ihren eigenen vier Wänden entscheiden kann. Jedenfalls hab ich dieses Theaterstück darüber gesehen, das ich nicht sonderlich gut, ja ziemlich furchtbar fand. Wo sie versucht haben, das irgendwie so ein bisschen hinter eine Glaswand zu stellen, mit diesen Protokollen zu arbeiten und

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dem so dokumentarisch zu begegnen. Und ich kam da raus und hatte das Gefühl: Das ist überhaupt nicht das, was mich interessiert, weil es das Problem letzten Endes so in eine Ecke stellt, die mich wieder zum Zuschauer macht. Als derjenige, der ich davor sitze und sage „Ach, das bin ja nicht ich“ und „Ach, wie schrecklich“ und dergleichen. Und das hat dann doch so einen erzieherischen Ton. Für mich war die Frage damals eher: Wie kommt eigentlich einer dazu, so weit außerhalb der Gesellschaft zu stehen, dass diese normalen alltäglichen Mechanismen des ‚In-Gesellschaft-Seins‘ nicht mehr funktionieren? Und dann dachte ich damals: OK, wir müssen eine Form finden, wie wir diese Keimzelle des ‚Aus-Gesellschaft-Fallens‘ erzählen. Und wir müssen das so tun, dass es nicht zum Betroffenheitstheater wird – wo man sich Leute anguckt, die ganz krass sind, und man selber auf seinem warmen Teppich sitzt –, sondern wo man an den Punkt heran kommt, wo man sich etwas intensiver mit den Weichenstellungen beschäftigt und weniger mit dem „Da ist schon alles schrecklich, ist ja klar, dass es so weitergeht“. Und da kam eigentlich relativ schnell die Idee: Wir müssen mit diesen Kindern arbeiten – da, wo es anfängt, wo es darum geht, die Weichen zu stellen. Kann man das mit zehn Jahren schon sehen, den Unterschied? Wie viel macht da Erziehung und wie viele Weichen sind noch nicht gestellt? Dann kam auch recht schnell die Überlegung, zu sagen: Wenn wir nicht wollen, dass da wieder die bürgerlichen Zuschauer sitzen, die sich mal die armen Kinder angucken, dann müssen wir uns letzten Endes Kinder von beiden Seiten angucken, dann müssen wir uns größer fragen, nicht „Wie passiert nur das Drama?“, sondern „Wie passieren die Weichen, sowohl im positiven als auch im negativen, in beide Richtungen; also wo gehen die Türen zu und wo gehen sie auf?“. Und damit war, glaube ich, ein Untersuchungspunkt gesetzt, auch in soziologischer Hinsicht zu sagen: Es geht gar nicht darum, anhand eines schrecklichen Falles zu zeigen, wie alles schiefgeht, sondern sich zu fragen, wie geht überhaupt irgendwas. MH: Das heißt, es ging eigentlich nicht um die Kinder. Sondern um den Blick von außen darauf. MML: Naja… MH: Also es ging nicht darum, jetzt mal ein paar Kids, die vielleicht sonst nicht die Chance dazu hätten, zu ermöglichen, an einem Projekt teilzunehmen, auf einer Bühne zu stehen und so einen Gruppenprozess durchzumachen.

H AMMER /L UDEWIG : P ERSPEKTIVE HAMBURG – E INE STÄDTISCHE I NTERVENTION

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MML: Das ist vielleicht ein Nebeneffekt, würde ich sagen, und gleichzeitig gibt es aber noch einen anderen Punkt, der da so querschießt. Wir wollten versuchen, eine maximalgroße Herausforderung zu formulieren für einen Zuschauer; und zwar für einen Zuschauer, der sich in einem Realort befindet. Die Bühne ist kein Fiktionsort, sondern ein Realort, an bzw. in dem sich zwei Gruppen begegnen, nein, eigentlich drei Gruppen – es begegnen sich zwei unterschiedliche KinderGruppen und es begegnen sich eine Gruppe Kinder und eine Zuschauergruppe. Diese Begegnung findet aber nur statt, wenn diese Kinder in einer Art und Weise zu diesem Publikum sprechen, dass sie auch die Herausforderung formulieren können: Wer bin ich eigentlich? Was hab ich eigentlich für ein Recht auf Zukunft? Wie erlaubt ihr mir eigentlich zu sprechen? Und insofern war unser Interesse schon, dass diese Kinder zum Sprechen kommen. Dass sie eine Stimme bekommen, die sie normalerweise nicht haben. Denn Kinder werden ja normalerweise gesellschaftlich repräsentiert. Sie sprechen selten selbst für ihre Bedürfnisse, sondern Erwachsene sprechen für sie. Und tatsächlich ging es an dem Punkt schon darum, diesen Prozess zu ermöglichen, dass diese Kinder mal für sich sprechen und diese Herausforderung formulieren. Aber eben, um eine größtmögliche Herausforderung fürs Publikum zu finden. MH: Was heißt Bühne als ‚Realort‘? Heißt das, man nimmt ready-made-mäßig ein Stück Wirklichkeit und stellt es jetzt auf eine Bühne? Also ist das Wirklichkeit, was da oben stattfindet? MML: Nö. Das ist keine Wirklichkeit. Also sagen wir so: Bildet eine Abiturprüfung, für die du intensiv einen ausgewählten Stoff vorbereitet hast, dein tatsächliches Wissen in einem bestimmten Fach ab? Die performative Leistung, die du in der mündlichen Prüfung vollbringst, sagt auch nicht aus, wie gut du den Rest der Schulzeit im Fach Mathe warst. Aber du hast dich vielleicht auf dieses eine Ding vorbereitet. Ist das jetzt eine wirkliche Situation? Wir haben natürlich die Kinder darauf vorbereitet, zu sprechen und auch geführt zu sprechen. Sie sprechen bei uns nicht aus dem Stegreif, sie haben einen Text, der ihnen abgelauscht ist aus dem Interview und der letzten Endes ihren eigenen Gestus beibehalten hat. Sie haben ihn gelernt, aber, ich weiß nicht ob du dich erinnerst, einige haben auch Variationen in den Text eingebaut. Das war ja ganz interessant zu sehen, ihr Umgang mit dem Text, der ursprünglich mal ihrer war, den sie dann wieder gelernt haben, bei dem wir aber teilweise versucht haben, deren Gestus nachzubilden, in einer ganz merkwürdigen Zwischenform zwischen Kunstsprache und...

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MH: Darf ich kurz unterbrechen? Kann man sagen, sie spielen Figuren? Wenn sie einen Text haben, den sie vergessen können, wenn sie aus einem Skript aussteigen können, heißt das ja, es gibt irgendeine Form da oben. Ist das eine Figur? MML: Das ist interessant. Was würdest Du sagen? MH: Ich glaube schon. MML: Erinnerst du dich an die Situation, wo wir darüber sprachen, dass das Stück, je länger wir es spielten, nicht unbedingt besser würde? Weil man das Gefühl hatte, dass manche von den Kindern angefangen haben, zu genau zu wissen, wo die Lacher liegen und wo sie Sympathie bekommen. Da merkte man irgendwann: Sie werden extrem gut in ihrer Rolle, vielleicht zu gut – und damit wieder weniger ambivalent, weniger gut. MH: Was aber im Grunde genommen heißt, dass sie schon immer eine Rolle gespielt haben. Nur hat die Premiere, wie bei jeder normalen Theaterproduktion, auch wenn du einen Shakespeare machst, eine andere Atmosphäre und dann spielt sich das irgendwann ein und wird noch mal zu was anderem. Das heißt aber, dass die Kinder eigentlich auch schon bei der Premiere so etwas wie eine Rolle, wie eine Figur hatten, nur sie eben noch nicht so gut kannten. Ich würde noch einmal eine Unterscheidung aufmachen, du sagtest vorhin „Bühne als Realort“. Ich glaube, man muss noch mal unterscheiden zwischen dem Theater als öffentlichem Ort und der Bühne. Ich würde nämlich behaupten, dass das, was auf der Bühne passiert, nie Wirklichkeit sein kann, sondern immer – ich sag jetzt mal – ‚Kunst‘ ist: als Opposition. Ich glaube, dass man da oben damit spielen kann, dass das Theater damit spielen kann, immer die Kunst zu verlassen und in die Realität zu kommen, aber in dem Augenblick hört es gleichzeitig auf, also nur in diesem Wechselspiel. Goffman hat eine schöne Unterscheidung gemacht, er unterscheidet nämlich zwischen dem Theaterbesucher und dem Theaterzuschauer. Er bezieht es eher auf klassisches Theater, aber sagt eben, der Theaterbesucher sei derjenige, der sich ein Ticket kaufe, reinkomme, sich mit seinem Sitznachbarn unterhalte, der zwischendurch über die Scheinwerfer nachdenke, während das Stück läuft, und der auch darüber lache, wenn einer der Schauspieler unvorhergesehen stolpert. Dagegen sei der Theaterzuschauer derjenige, der sich in die Ebenen der Figuren denke und der quasi in diesen Kunstraum abgleite. Ich glaube, dass diese Spaltung grundsätzlich eigentlich immer vorhanden ist, auch wenn wir nicht über

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klassisches Theater reden, und dass man da eigentlich nie raus kommt. Das Theater kann damit spielen, aber letztlich den Kunstrahmen nie verlassen. MML: Ja, verstehe ich. Mit ‚Realort‘ meine ich vielleicht, dass die soziale Interaktion, also die Gleichzeitigkeit von Besucher-Sein und Zuschauer-Sein, Teil der Inszenierung bleiben sollte. Ich wollte nicht, dass jemand vergisst, wo er ist, wer er ist, und nur noch Zuschauer wird, der abtaucht. Deswegen mussten wir mit dieser performativen Situation ja so genau sein. Wir haben uns damals ja auch viele Gedanken gemacht, wie wir diesem Ausstellungsmoment entkommen. Für mich war damals der Schlüssel und die Herausforderung: Autonomie. Wie kriegen wir das wirklich hin, dass die Kinder auf der Bühne eine Art Autonomie entwickeln? Ich weiß, dass das ein Punkt war, den wir ganz oft probiert haben. Wir haben versucht, dass nicht wir diejenigen sind, die die Kinder in ein Korsett pressen und ihnen eine Rolle geben, die sie dann spielen müssen, sondern dass man eher das Gefühl hat – oder man nicht nur das Gefühl hat –, dass auch uns an einem bestimmten Punkt die Kontrolle genommen wird und wir wirklich merken: Die Kinder benutzen auch uns, sie benutzen diese Bühne und diese Plattform für sich. MH: Man kommt dann in so Momente, und ich glaube, das ist auch die Qualität, in denen man nicht mehr weiß: Ist das jetzt ein Spiel? Oder haben wir gerade den Kunstrahmen verlassen und sind in einem anderen gesellschaftlichen Rahmen, wo man sagen muss: „Das ist jetzt keine Theateraufführung, sondern vor mir steht jemand aus Jenfeld, der das und das erreichen will, die und die Probleme hat“? Dann würde ich schon nicht mehr von Theater sprechen, also auf jeden Fall nicht mehr auf einer Ebene von Fiktion. MML: Ja, aber das, muss ich sagen, waren die starken Momente. MH: Ja. Da, wo man als Zuschauer nicht mehr weiß: Sitze ich im Theater und gucke mir etwas an, von dem keine Gefahr ausgeht, oder ist das hier schon längst ein öffentlich-sozialer Rahmen, wo man ganz anders reagieren müsste? MML: Aber das war ja unser Ziel. Wir wollten ja eigentlich diesen öffentlichsozialen Rahmen, das finde ich eigentlich ein gutes Wort dafür, sozusagen das Theater als öffentlicher Raum. Wir haben das damals „Städtische Intervention“ genannt, weil wir eben unsere Intervention nicht nur auf die Bühne begrenzen wollten. Sondern: Stadt als Bühne, Bühne als Stadt. Was wieder Auswirkungen auf den Rechercheprozess und die Art der Proben hatte, aber dazu kommen wir

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ja später vielleicht noch mal. Aber auf der Bühne wollten wir ja auch, dass da eine wirkliche Begegnung stattfindet, was ja schwer genug ist, weil du dich an einem Kunstort befindest, in einem Kunstlicht und so weiter. Und du gleichzeitig etwas über die Leute erfährst. Die Kinder sollten aber eben nicht zu Sklaven oder Marionetten ihrer eigenen Geschichte werden, sondern ihre eigene Geschichte so gut kennen, dass sie darin schon wieder improvisieren können, also dass sie darin wieder jeden Abend was anderes machen können, wie der gute Schauspieler letztlich auch. MH: Exakt, man muss irgendwie eine Regel erfinden, einen Mechanismus, der eine destabilisierende Situation herstellt. In der man nie genau weiß, in welche Richtung sie gerade fällt. „Perspektive Hamburg – Eine Intervention“

Foto: © Moritz Schmidt

MML: Die Strategie, die wir gewählt haben, war ja, die Situation zu benennen, indem wir angefangen haben, dass die Kinder auf die Bühne kommen, sich aufstellen, das Publikum mit ihren Blicken herausfordern und sagen: „Liebe Mama, lieber Papa, liebe Freundin von Mama, liebe Frau Bezirksamtsleiterin, liebe Oma, liebe Betreuer vom Haus der Jugend, liebe Tante Rosemarie und lieber Klassenlehrer und liebe Erwachsene“.

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Wir haben ja von Anfang an ganz offen mit der Situation gespielt, dass da Kinder vor Erwachsenen stehen, die einen Raum betreten, der ihnen normalerweise mit einem Niedlichkeitsfaktor zugestanden wird. Wo man stolz auf sie ist, dass sie irgendwas auswendig können, und sagt: „Das ist aber ganz toll, was du gemacht hast“. Wir wollten aber versuchen, dass die Kinder dieser Art von – ich sage mal – ‚Dissen‘, oder dieser Art von Geringschätzung, die darin steckt, entkommen. Denn wenn du sagst „Das hast du aber sehr schön auswendig gelernt“, diskreditierst du ja letzten Endes die Aussage, die in dem Gesagten gemacht wird, denn die Leistung besteht nur darin, dass du es auswendig kannst – egal, was gesagt wurde. Wir wollten, dass da wirklich Erwachsene sitzen, die sich fragen: Welchen Anspruch haben diese Kinder eigentlich wirklich auf eine Zukunft, die wir Ihnen vielleicht nicht ermöglichen, die wir ihnen aber schulden? MH: Trotzdem ist es ein auswendig gelernter Text. MML: Ja, und das war eben der Punkt, an dem wir ganz, ganz lange gearbeitet haben. Ich erinnere ich mich an die Frage: Inwieweit ist das pädagogisch oder inwieweit ist das eine künstlerische Arbeit? Ich erinnere mich an diese vielen, vielen Proben, wo wir eigentlich meiner Ansicht nach hauptsächlich an Präsenz gearbeitet haben, also ganz viel mit diesem: Ich stehe hier vor dem Rest der Gruppe und halte es aus, einfach meinen Namen zu sagen und die Spannung innerhalb der Gruppe zu halten, die Leute anzuschauen, diesen Moment auszuhalten, dass ich im Fokus stehe, ohne zu grinsen, ohne Faxen zu machen, sondern so. Das haben wir ja sehr, sehr lange geübt. Wie lange haben wir diese ganzen Texte mit diesen Kindern besprochen? Ich erinnere mich an sehr lustige Situationen, wo wir den Kindern erklärt haben, was die Pille ist, erinnerst du dich noch an diese Situation, da warst du nicht dabei, oder? MH: Doch, ich glaube, da ging es aber um das Problem der demographischen Entwicklung, wo dann irgendwann auch diese Rentenausgleichsgeschichten besprochen wurden, dass wir zu wenig junge Leute haben. Und irgendwann kam dann, glaube ich, so ein Statement wie „Das ist ja Raub, wenn man den jungen Leuten das Geld abnimmt, um damit die Alten zu bezahlen“. MML: Ja und es gab auch Sprüche in Bezug auf die Pille. Ich weiß noch, wie den Kindern die Münder offen standen, das fanden sie vollkommen unerhört, dass man eine Pille nehmen darf, um zu verhindern, dass sie Geschwister kriegen. „Das gehört verboten“, meinten sie. Aber uns war wichtig, dass wir sie eben in diesem Anfangschor ‚Erwachsenensprache‘ sprechen lassen, man aber in der

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Art, wie sie es sprechen, genau merkt, dass sie, obwohl man das nicht erwarten würde, verstehen, was sie da sagen. Da gab es ja immer die meisten Lacher, auch aus Überraschung oder Verwunderung der Erwachsenen. Man kann eben Kindern das Rentensystem erklären. Man muss es nur wollen. MH: Lass uns doch, wenn du jetzt schon das Fass aufmachst, kurz bei der Frage bleiben, ob man sich hier in einem pädagogischen oder in einem künstlerischen Prozess bewegt. Ich weiß gar nicht mehr, wann das war, aber es gab zwei oder drei von diesen Jenfeld-Kids – ich glaube, das waren Milat und ein paar andere –, die extrem hart drauf waren, am Wochenende Penner mit Steinen beschmissen haben und solche Sachen. Wo wir schon echt dachten, das ist ‘ne schwierige Nummer. Die haben, soweit ich mich erinnere, gerade auf den großen Proben gegen Ende die Atmosphäre extrem vergiftet. Es war schwer möglich, mit denen eine normale Probe zu machen, es gab immer irgendwie einen merkwürdigen Magnetpunkt von... MML: ...Unruhe… MH: ...schlechter Stimmung. Und dann war die Frage: Macht man es mit ihnen zu Ende oder nicht? Und ich glaube, es war nicht lange vor der Premiere, vielleicht vier oder fünf Tage, aber nicht mehr, da saßen wir da und mussten uns entscheiden: Machen die das Projekt mit zu Ende – oder nicht? Und wir haben entschieden, dass sie es nicht mit zu Ende machen, und ich glaube nach wie vor, dass das richtig war. Wäre man aus einem pädagogischen Antrieb heraus an dieses Projekt heran gegangen, hätte man sie, glaube ich, bis zuletzt mitmachen lassen müssen. MML: Ja, aber vielleicht lag auch die Pädagogik unseres Projektes an einer anderen Stelle. Ich glaube, die Pädagogik unseres Projektes – oder die Stärke – lag nicht darin, zu sagen: „Wir müssen jetzt allen Kindern helfen und dadurch werden die alle bessere Menschen“, also, ich sag das jetzt sehr polemisch, sondern... MH: ...aber man hätte das ja auch als Ausgangsthese nehmen und sagen können: „Wir machen ein Projekt, mit dem wir Kindern, die es vielleicht ein bisschen schwieriger haben, helfen“. MML: Ja, vielleicht, aber warum hätten wir das tun sollen? Mich hätte das nicht interessiert. Wieso redet man eigentlich unwillkürlich über Pädagogik, nur weil

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wir mit Kindern gearbeitet haben? Tut man das bei anderen Arbeiten mit Laien auch? Das ist doch auch schon komisch. Aber egal. Meine Behauptung wäre ja, dass wir auf eine andere Art und Weise auch ein pädagogisches Konzept gefahren haben. Wir haben den Kindern, die dort mitgemacht haben, eine Situation ermöglicht, in der sie tatsächlich etwas geleistet haben und über sich hinausgewachsen sind – in einem Maße, dass es nicht einfach war, an ihnen vorbei zu gucken. Zumindest habe ich die Reaktionen des Publikums so gelesen, das ja durchaus oft sehr aufgewühlt aus dem Abend rausging, weil die Kinder sie ernsthaft herausgefordert haben, und es zu sehr lebhaften Diskussionen kam. Daher würde ich sagen, dass die Pädagogik war, etwas zu erreichen, was die Kinder aus der defizitären Situation herausbringt. Nicht: „Ja. ich bin ja hier das Hartz-IV-Kind und jetzt hab ich mal was Tolles gemacht und werde beklatscht“. Das passiert ja ständig, Die sind ja nicht blöd, die richten sich ja auch in diesen Situationen ein. Mein Anspruch war auch immer, zu sagen, ich interessiere mich schon für die Kinder, wir haben uns ja auch wirklich intensiv mit ihnen auseinandergesetzt. Aber wir haben uns halt immer gesagt – und ich hatte das Gefühl, das war ‘ne große Erleichterung: Wir machen das nicht um des guten Willens zuliebe, sondern wir haben alle ein gemeinsames Ziel, und das ist ‘ne richtig gute Premiere. Und die muss einem künstlerischen Maßstab standhalten, nicht einem pädagogischen. MH: Und dafür wurden sie bezahlt, ich weiß nicht, wie viel das war... MML: …50 Euro. „Wir bezahlen euch dafür, wir wollen was von euch, ihr arbeitet richtig und wir schätzen euch dafür. Und wenn ihr Scheiße baut, fliegt ihr raus“… MH: …„lösen wir den Vertrag auf“… MML: …genau. Wir haben sie einfach sehr, sehr ernst genommen, und wir haben gesagt: Wir wollen was von euch. MH: Aber wir haben sie als Arbeitspartner ernst genommen, und nicht als Kinder mit Defiziten, denen es zu helfen gilt. MML: Nein. Wir haben ja auch Castings gemacht. Ich meine, erinnerst du dich, wir hatten 100 Kinder, die sich bei uns beworben haben, und ich weiß noch genau: Am Anfang sollte das ein Trick sein. Es war die Idee: Wir machen Ca-

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stings, weil wir wollen, dass die Kinder das Gefühl haben, es ist etwas Besonderes, dabei zu sein. Wir waren aber davon ausgegangen, dass wir am Ende sowieso alle nehmen. Und wir haben das eigentlich nur gemacht, um so eine Situation zu erzeugen, dass man sich für etwas anstrengt, etwas will und sich dafür Mühe gibt. Und dann waren da irgendwie 100 Kinder in diesen Castings und wir mussten richtig auswählen, haben dann 60 genommen, weil wir dachten, es bleiben sicher welche weg, und mussten dann ja noch mal richtig Kinder rauswerfen nach einer Weile, weil wir es einfach nicht packten. MH: Und einige haben wir auch tatsächlich verloren. Ich weiß noch, aus Jenfeld gab es noch einen kleinen Jungen, den wir... MML: …genau, David oder so. MH: Ja so ein ganz dünner, schmächtiger, aber mit einer unglaublichen Präsenz. Und der durfte irgendwie nicht, von den Eltern aus oder irgendwas gab es da. MML: Ja, eine ziemlich traurige Geschichte. MH: Da haben wir uns noch sehr drum bemüht, ihn reinzukriegen, und es hat nicht funktioniert. MML: Aber wir haben uns nicht nur bemüht, weil wir ihn für einen armen Jungen hielten, sondern weil wir ihn wirklich spannend fanden, weil er so eine Energie hatte, trotz dieses zierlichen Körpers. MH: Letztendlich, weil er ein guter Performer war. MML: Ich hatte aber die ganze Zeit das Gefühl, dass die Kinder sehr froh darüber waren, dass es immer eine Möglichkeit gab, die persönlichen Krisen über die künstlerischen Krisen zu lösen. Also wenn Milat weinte oder Rudi weinte oder sonst was war, da musste man nicht das große Fass aufmachen, „Du armer Junge“ und „Ach Mensch“ sagen, sondern man konnte sagen: OK, aber guck mal, wir können doch jetzt trotzdem weiterproben oder du gehst jetzt ‘ne halbe Stunde raus und wir machen weiter, wenn’s wieder geht. Ich hatte das Gefühl – und das fand ich ganz interessant, weil das bei Schauspielern ja auch ein bisschen so ist –, dass diese Vereinbarung – es gibt da ein gemeinsames Projekt, und das ist jetzt nicht nur irgendwie aus Spaß oder so, sondern da gibt es einen Premierentermin und da gibt’s ‘ne Gage –, dass das eine

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Rahmung geschaffen hat, in der sie in der Lage waren, die eigene Situation zu etwas zu formen, was auch von einer anderen Seite, aus einer anderen Distanz heraus auch zu betrachten ist, im Sinne von... MH: …und ich glaube ja, dass diese Situation im Zuschauer eine Unsicherheit auslöst, weil er eben nicht mehr genau weiß, wie sie gerade genau zu betrachten ist. Habe ich den armen Jungen vor mir? Habe ich einen Performer vor mir, der das ja nur auswendig gelernt hat? Wird der gerade benutzt?... MML: …benutzt er gerade die Bühne?... MH: Das sind alles Dinge, die gleichzeitig in derselben Situation auftreten, und die du von Zuschauer zu Zuschauer in derselben Situation unterschiedlich bewerten kannst. Das heißt, du hast einen Moment, in dem ganz vieles gleichzeitig sein kann. Und das, glaube ich, führt zu einer Unsicherheit und war meiner Meinung nach die Qualität dieses Abends. Man geht raus und weiß gar nicht so genau, wo man anfangen soll, darüber zu sprechen – auf welcher Ebene, welche Frage die erste ist, die man stellen muss… Hast du dich jemals mit diesem Konzept, diesem Begriff von Kant, dem „interesselosen Wohlgefallen“, auseinandergesetzt? Das kommt nämlich genau darauf hin. Kant sagt, wenn du es mit Kunst zu tun hast, darfst du im Grunde genommen kein Interesse am Gegenstand haben. In dem Augenblick, wo du ein Interesse daran hast, hast du ein Interesse im realen Lebenszusammenhang. Wenn ich beispielsweise einen Tisch zum Schreiben benutzen möchte, habe ich das Interesse daran, dass er steht, dass ich mich darauf lehnen kann und so weiter. Wenn ich ihn als Kunst betrachten würde, wäre ein Tisch, der sofort zerfällt, sobald ich mich daran setzte, im Grunde genommen interessanter. Der Tisch, der steht, ist ein normaler Tisch. Der Tisch, der zerfällt, ist eine Performance. Diese beiden Ebenen kriege ich aber nie zusammen. Ich unterscheide also, meine Wahrnehmung ist immer unterschieden in diese beiden Bereiche. Und ich glaube, das ist dasselbe. Wenn man ein Interesse an diesem Gegenstand hat, hätte das bedeutet, man schafft es, dass Milat endlich mal rauskommt aus seinem Lebenszusammenhang, man bietet ihm etwas anderes. Aber gerade eben zu sagen: „Nein, das ist ein Kunstprozess, wir haben hier einen Vertrag, wir wollen, dass das und das zustande kommt“ – das führt auf diese andere Ebene, die diese Momente der Unsicherheit ausschließen kann, glaube ich. MML: Ja, und interessanterweise, nur um noch mal darauf zurückzukommen, hatte ich das Gefühl, dass diese vielleicht erst mal krass klingende Setzung – „Ja,

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ich bin gar nicht an dir als Mensch interessiert, sondern ich will mit dir ein Theaterprojekt machen und das soll gut werden“ – für die Kinder eine große Erleichterung bedeutete. Es formuliert eben auch eine Herausforderung: Was will ich denn selber mir abverlangen? Diese Herausforderung hat sie auch manchmal über einige Krisen hinweg getragen. Natürlich haben wir sie auch geröstet und in den Arm genommen und wir haben sie auch... MH: …das machst du ja mit einem gestandenen Profischauspieler auch, das ist Teil eines normalen künstlerischen Arbeitsprozesses, würde ich sagen. MML: Ja. Jedenfalls fand ich, dass dieses Konzept am stärksten aufgegangen ist, als wir bei diesem Gala Dinner von der Hamburgischen Kulturstiftung im großen Saal des Hamburger Rathauses waren, wo dann wirklich die Kultursenatorin und die ganzen großen Förderer, Stifter und reichen Bürger saßen. Und dann stand da wirklich Rudi aus Jenfeld, und Luna aus Eppendorf hat gefragt, ob sich jetzt alle mal die Schuhe ausziehen können, damit sie mal zeigen kann, wie ihre Familienverhältnisse sind. Und diese Kinder haben das genau an dem Ort, wo es darum geht, also wo lauter Leute sitzen, die darüber entscheiden – Politiker, was auch immer –, da haben die das gemacht und es hat ihnen unglaublichen Spaß gemacht. Und das hast du gemerkt. Sie haben die Situation genommen und was daraus gemacht. Sie haben das als ihre Chance gesehen. MH: Das ist das, was ich vorhin meinte. Dass man noch mal unterscheiden kann, was auf der Bühne als Ort geschieht und wie man das Theater als Ort begreift. Also auch auf Kampnagel – Wer sitzt da im Publikum? Durchmischt sich das bei der Premiere? Fängt man auch an zu gucken: Ist der neben mir eigentlich aus Jenfeld? Oder ist das ein Eppendorfer? Sieht man das? Und dieser spezielle Ort, dieses Stiftungsdinner, ist natürlich noch mal eine besondere Situation. MML: Da hat sich das Projekt für mich eingelöst. Du hast ja vom „interesselosen Wohlgefallen“ gesprochen: Wir haben das ja nicht gemacht, um im Rathaus zu stehen, sondern dieses Projekt hat es von ganz alleine dorthin verschlagen durch ein paar Zufälle. Aber genau da ist eigentlich die performative Situation entstanden, in der diese Performance Sinn macht. Mit dem Extra der vielen Gastspiele, dass wir mit Kindern, die es kaum mal bis in die Hamburger Innenstadt schaffen, plötzlich nach Frankfurt, Berlin, New York fahren. Die brauchten ja alle erst mal Pässe, für viele waren es die ersten Reisen überhaupt. In dem Moment löste sich schon ein Versprechen ein, denn wir haben realerweise das

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Leben von Milat, von Rudi und Joshua massiv beeinflusst. Da spielte die Kunst wieder zurück ins Leben. MH: Exakt, aber ich glaube, das ist ein Nebeneffekt; das kann nie das Ziel sein, oder es war nicht das Ziel, darauf hinzuarbeiten. MML: Aber deshalb ist der Nebeneffekt eingetreten, das ist ja das Absurde. MH: Ja, ich weiß. Ich glaube, dass du in dem Augenblick, wo du sagst „Wir möchten Milat ermöglichen, dass...“, die Kunst verlierst. MML: Aber das Interessante ist doch, und da können sich jetzt bestimmt sehr viele Pädagogen mit uns streiten, dass du vielleicht sehr viel wertvollere Pädagogik machst, wenn du versuchst, wirklich ernsthaft Kunst zu machen. MH: Das ist tatsächlich eine gewagte These, auf die ich jetzt nicht antworten kann, weil ich kein Pädagoge bin. MML: Ich auch nicht. MH: Gegenthese: Wenn du dich in einem pädagogischen Rahmen bewegst, würdest du jemanden wie Milat nicht aufgeben. Da würdest du sagen, es ist nicht so wichtig, ob die Szene gut ist oder nicht; Hauptsache, wir machen das alle zusammen zu Ende, damit auch Milat diese Erfahrung macht. Wir haben aber irgendwann gesagt, wir geben ihn auf, weil er im Grunde genommen das Produkt am Ende, das Kunstprodukt, stört. MML: Ja, aber die Diskussion war auch, dass er nicht nur das Kunstprodukt zerstört, sondern auch die Arbeit der anderen 40. Und es war ja nicht so, als hätten wir das von heute auf morgen entschieden. Wir haben viel mit ihm gesprochen und was weiß ich für Dinge getan. Und ich würde mal bezweifeln, dass du in einem pädagogischen Projekt, das auseinanderzufliegen droht, nicht auch irgendwann sagst: Das ist nicht mehr tragbar für die Gemeinschaft, weil es einfach den Prozess der Gemeinschaft komplett behindert. Eher würde ich sagen, dass das Interessante in so einer performativen Situation ist, dass dieses Scheitern zum Teil werden kann, die Störung kann ja auch gerade theatral sein. In unserer Anordnung ging das nicht so gut, zumindest bei diesem Stück, obwohl wir, glaube ich, solche Optionen auch versucht haben.

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Später bei dem Projekt in Heilbronn haben wir das ja durchaus integriert. Ich finde das auch gut. Kunst ist Störung. Das muss mit rein. MML: Vielleicht sollten wir noch über die Recherche und dieses In-die-StadtReingehen, über die Interviews und die Website, reden. Was das zu tun hat mit dem öffentlich-sozialen Raum, den wir zu schaffen und umschreiben versuchen. MH: Genau, lass uns doch noch mal auf den Begriff „Städtische Intervention“ von vorhin zurückkommen. Kannst du das noch mal genauer definieren? MML: Die Idee einer städtischen Intervention war, dass man versucht, die Wirklichkeit, in der man lebt, durch bestimmte Strategien zu beeinflussen, oder zumindest darin zu intervenieren. Und diese Intervention bedeutet eben, dass man zum Beispiel an Orte geht, an die man normalerweise nicht gehen würde, dass man dort Dinge tut, die man normalerweise nicht tun würde, und dass man dafür sorgt, dass sich bestimmte Menschen an Orten treffen, die sie normalerweise nie betreten würden. Und dass man erst mal nicht sagt: „Wir müssen im Theater eine Geschichte erzählen“, sondern: „Wir wollen erreichen, dass bestimmte Muster oder Prozesse aufgebrochen werden und anders zueinander stehen“. Dann stellen sich Fragen: Wie kann man in einen öffentlichen Raum eingreifen? Wie kann man bestimmte Geschichten, die normalerweise im Verborgenen liegen, die normalerweise nicht gesehen werden, nicht öffentlich sind, wie kann man die in eine Öffentlichkeit tragen? Wie kann man dafür sorgen, dass sich bestimmte Gruppen, die sich sonst nicht begegnen würden – wie ein bürgerliches Theaterpublikum und Kinder auf der Bühne, die nicht für Kinder spielen, sondern für Erwachsene –, begegnen? Wie kann man so einen Prozess organisieren? Für uns war die Konsequenz, uns im Umfeld der Kinder zu bewegen, sie da zu treffen, wo sie sind, und eine sehr breit angelegte Recherche zu machen. Wir haben ja 40 Interviews mit allen Kindern, ihren Familien und Eltern gemacht; bei ihnen zu Hause gedreht, die Videos online gestellt, eine eigene Website dafür einwickelt, wo sie die Filme auch gegenseitig sehen konnten. Das war ja fast ein soziologischer Ansatz, eine breite Recherche zu machen, Vergleichbarkeit herzustellen. Wir wollten unterschiedliche Leute aus den Schichten haben, dass man nicht nur den typischen Eppendorfer, sondern auch den untypischen Eppendorfer und den untypischen Jenfelder sucht. Wir wollten Gegenbeispiele und Gegenbewegungen suchen, ganz bewusst, was man ja letzten Endes in wissenschaftlichen Untersuchungen auch macht. Das eine war also die Recherchetechnik, das andere aber auch die Vernetzung mit den Institutionen vor Ort: den Einrichtungen, Schulen, dem Hort. Wir

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sind überall hingegangen und wollten, dass alle wissen, dass wir jetzt für fünf Monate hier sind. Wir wollten Teil des Lebens der Kinder werden. Deswegen haben wir auch gesagt: Wir arbeiten fünf Monate, proben mit den Kindern jede Woche, vor Ort, in kleinen Gruppen mit jeweils zehn Kindern, sodass sie die Möglichkeit haben, sich in ihrem sozialen Umfeld auf das Wagnis einzulassen. Und ich weiß, wir haben uns damals auch sehr viele Gedanken darüber gemacht, wie wir es schaffen können, dass diese Gruppen aufeinander kommen. Wir haben sie ja eigentlich erst aufeinander treffen lassen, als sie alle schon den Anfangschor konnten – und dann mit Erstaunen feststellten, dass sie alle dasselbe gemacht hatten, was sofort eine ganz andere Verbindung ausgelöst hat, als wenn sie am Anfang einfach so aufeinander gekommen wären. Diese Prozesse haben wir als Teil der Intervention verstanden, zum Beispiel: Wie sorgen wir dafür, dass 20 Kinder aus Jenfeld und 20 Kinder aus Eppendorf mit gleichen Verhältnissen zur Probe zu Kampnagel kommen? Da haben wir dann alle mit der U- und S-Bahn abgeholt und begleitet, ihnen allen die Tickets gezahlt. Auch den Eppendorfern. Später dann haben wir einen Shuttle-Service organisiert für die Endproben und Vorstellungen, da haben wir viel Geld für ausgegeben, aber das war uns wichtig. Das hat einen Unterschied gemacht. Wir haben an ganz vielen Stellen versucht, Vor- oder Nachteile der einzelnen Kinder einzuebnen, und uns sehr viele Gedanken darüber gemacht, wie die Leute eigentlich den Weg in diesen Ort Theater finden und wie wir in ihren sozialen Raum intervenieren, um diesen Weg zu ebnen. Auch für die Eltern. MH: Noch einmal zurück: Du sprachst vorhin von dieser Weichenstellung. Gab es das? Gab es das klare Unterscheidungskriterium zwischen den Jenfeldern und den Eppendorfern? Gab es so etwas, wo man sagt: Da liegt der Punkt, wo unterschiedliche Biographien beginnen? Oder wo Biographien auseinander zu driften beginnen? Wo irgendwie klar wird, wer hier nicht mehr mitspielt? MML: Ich erinnere mich an eine Beobachtung, als wir festgestellt haben, dass sowohl in Eppendorf als auch in Jenfeld in den Familien, wo der Fernseh- und Gameboy-Konsum nicht reglementiert war, die Kinder auf ganz unterschiedliche Art und Weise, aber auf einem ziemlich absteigenden Ast, unterwegs waren. Das ist natürlich ein Merkmal auf der obersten Peripherie, also auf der Oberfläche, das aber letzten Endes mit ganz vielen Faktoren zusammenspielt. Denn in dem Moment, wo das nicht reglementiert ist, hast du entweder Eltern, die nicht in der Lage sind, diese Disziplin durchzusetzen; oder du hast Eltern, die nicht genug darauf achten, weil sie zu viel mit ihrem eigenen Kram beschäftigt sind; oder du hast Kinder, die sehr verhaltensauffällig sind und von ihren Eltern

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deshalb die ganze Zeit davor gesetzt werden; und so weiter und so fort. Erstaunlicherweise war das eine ziemliche Stellschraube. Jakob und ich haben uns darüber unterhalten, als wir aus den Interviews rauskamen, dass das so ein Punkt war, wo du sehen konntest, funktioniert das oder funktioniert es nicht. Egal, ob ‚Bürgerkind‘ oder ‚Hartz-IV-Kind‘. „Perspektive Hamburg – Eine Intervention“

Foto: © Moritz Schmidt

MH: Es gab noch ein anderes Kriterium: Und zwar hatten wir ja, wie du vorhin schon sagtest, durchaus auch Kinder aus Eppendorfer Familien, die es nicht leicht hatten. Ich erinnere mich an Ragnar, dessen Vater aus der Familie raus ist und die große Probleme hatte. Dann gab es auch Jenfelder Familien, zum Beispiel Annikas, wo man von einer sehr gesunden Familie sprechen konnte. Worauf ich hinauswollte: Ich glaube, wir hatten damals eine Phrase von der „Phantasie für die eigene Biographie“. MML: Ja, unsere Grundfragestellung war ja in den Interviews: Wie entwickeln Kinder eine Phantasie für die eigene Biographie? Wie entsteht das überhaupt? Das war ja die Grundfrage, auf die wir es am Ende runtergebrochen haben. Und die Antwort war damals: Vorbilder, Anreize, Ermutigungen. Wenn du in einem Umfeld lebst, wo die meisten Erwachsenen, die du kennst, entweder Hartz-IVEmpfänger, Lehrer, Friseure oder Bäcker sind – du erlebst natürlich auch noch Deutschland sucht den Superstar, was sozusagen die magische Abkürzung zum Glück ist –, dann fällt dir nicht ein, oder dann traust du dir auch gar nicht zu, Rechtsanwalt oder Arzt zu werden. Weil du niemanden kennst aus deiner Umgebung, der das geschafft hat und der dir sagt: „Du kannst das auch schaffen“.

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MH: Und gleichzeitig sollte es möglich sein, dass du so einen Schritt gehst. Dann distanzierst du dich sofort von deinem eigenen Umfeld, weil du etwas machst, was keiner in diesem Umfeld macht. Du bewegst dich da raus, es entstehen auf einmal Gräben, die vorher nicht vorhanden waren. Du musst dann auch erst mal eine Sprache zu deinem Umfeld finden. MML: Ja. Interessant fand ich aber dann, wie das bei Abdul funktionierte. Abduls Vater hatte, als er nach Deutschland kam, mit nichts angefangen und dann eine Gärtnerei aufgemacht. Er legte sehr viel Wert auf Bildung, und ich glaube, er hatte sich ausgedacht, dass Abdul Rechtsanwalt werden sollte. Abdul fand das auch cool, konnte sich aber auch vorstellen, den Gärtnereibetrieb zu übernehmen, wobei der Vater ihm das ausreden wollte. Und da merkte man: Das ist eine richtige Bildungsfamilie, wo der Vater aus der Türkei kam und mit nichts angefangen hat außer einem Traktor, einem Anhänger und einer Harke; daraus hatte er jetzt einen ganzen Betrieb aufgebaut. Und Abdul strahlte auch schon vielmehr so etwas aus: der wollte studieren, der wollte all diese Dinge tun und das traute er sich auch zu aus dem Selbstbewusstsein, das der Vater durch seinen Weg ausstrahlte, auch ohne Bildungshintergrund. Und dann jemand wie Rudi, der eine Mutter hatte, die zwar mal Pianistin gewesen war oder so was Ähnliches – ganz konnte man das nicht Erfahrung bringen –, und die mit dem Keyboard da saß und ab und zu mal spielte, aber sonst wenig machte. Rudi hatte vielleicht keine Phantasie für die eigene Biographie, aber der hatte einen ganz starken Willen, was mich sehr beeindruckt hat. MH: Und er war vor allem auch sehr früh Derjenige, der für seine Mutter immer Telefonate geführt hat, weil sie nicht gut Deutsch kann, sprich: Er hat auch früh begonnen, eine Form der Souveränität zu entwickeln, er musste sehr früh damit anfangen. Die Frage ist natürlich trotzdem interessant, wenn man ihn jetzt mal sehen könnte, ob er die Chance hat, aus diesen Skills was für sich zu machen. MML: Vielleicht ist das dann wieder ein Projekt. MH: Rudi wiedertreffen. MML: Die sind jetzt 15, 16. MH: Wahnsinn. Die sind keine Kinder mehr.

„Auswendiglernen kann doch jeder“1 Fatzer für Kinder K ATALIN S TANG Aber das Kind ist kein Wachs, das sich, in eines Menschen Händen, zu einer beliebigen Gestalt kneten lässt: es lebt, es ist frei; es trägt ein unabhängiges und eigentümliches Vermögen der Entwickelung, und das Muster aller innerlichen Gestaltung, in sich. HEINRICH VON KLEIST, OKTOBER 18102

Die Wahrnehmung des Kindes als eigensinniger, sich einer Fremdbestimmung widersetzender und seine Entwicklung selbst steuernder Mensch ist weder ein postmodernes noch ein ausschließlich erziehungswissenschaftliches Paradigma. Seit der Aufklärung taucht dieses „Gespenst“3 auch immer wieder in der Literatur, Kunst und Philosophie auf und rüttelt an den Grundpfeilern der subtil gewordenen, auf Belehrung, Erziehungsbedürftigkeit und Bevormundung des Kindes ausgerichteten bürgerlichen Konzeptionen der Pädagogik. So bemerkt der

1

Der Satz von Flora Frense, 12-jährige Teilnehmerin am Projekt „Fatzer für Kinder“,

2

Kleist 2013: 44.

3

Anspielung auf das Kommunistische Manifest von Marx und Engels („Ein Gespenst

wurde aus deren Gespräch mit der Verfasserin am 01.05.2011 entnommen.

geht um in Europa – das Gespenst des Kommunismus“); zu diesem Thema siehe auch Jacques Derrida (2004/1993), der das Gespenstige als nicht mit dem Gegenwärtigen identisches, auf Vergangenheit und eine veränderte Zukunft verweisendes Phänomen definiert.

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Dramatiker Heinrich von Kleist bereits im frühen 19. Jahrhundert scharfsichtig, dass die Anerkennung der kindlichen Entwicklungs- und Lernbedürftigkeit als politisch-emanzipatorische Errungenschaft des Bürgertums ergänzende Aspekte benötige: den der Gegenwartsbezogenheit – „es lebt“ –, den der Gleichstellung mit dem (aufgeklärten) Erwachsenen – „es ist frei“ – und den der Selbstbildung durch ein „unabhängiges und eigentümliches Vermögen der Entwickelung“, die den Moment der Fremdheit zwischen den Generationen in sich einschließt. Diese Zuschreibungen von Kleist überschreiten den Horizont der reformpädagogischen Sicht eines „vom Kinde aus“ deutlich, da sie sich einer didaktischen Zukunftsorientierung und Erwachsenendominanz widersetzen und den Blick für das augenblickliche Handeln des Kindes, die soziale Gestaltung des pädagogischen Verhältnisses und die Schwierigkeiten einer pädagogischen Planung des Selbstbildungsprozesses öffnen. Eine weitere bemerkenswerte, kritische Anmerkung zum pädagogischen Entwurf der Bourgeoisie stammt von Walter Benjamin aus ästhetisch-philosophischem Blickwinkel. Seine Ideologiekritik kreist um die Verschleierungstendenzen des Bürgertums. In seiner Rezension Spielzeug und Spielen (1928) bemerkt er: „Wie nämlich die Merkwelt des Kindes überall von Spuren der älteren Generation durchzogen ist und mit ihnen sich auseinandersetzt, so auch in seinen Spielen. Unmöglich, sie in einem Phantasiebereiche, im Feenlande einer reinen Kindheit oder Kunst zu konstruieren. Das Spielzeug ist, auch wo es dem Gerät der Erwachsenen nicht nachgeahmt ist, Auseinandersetzung, und zwar weniger des Kindes mit den Erwachsenen, als der Erwachsenen mit ihm.“ (Benjamin 1969: 67)

Eine tiefblickende Betrachtung, die nicht nur mit der manipulativen Mystifizierung der Kindheit in der bürgerlichen Konstruktion abrechnet, sondern ebenso die Fragwürdigkeit einer ‚kindgerechten‘ Methodik freilegt. Benjamin weist sowohl darauf hin, dass die kindliche Wahrnehmung von Implikationen der Erwachsenen nicht frei sein könne, als auch darauf, dass ein Bild über das Kind als „unschuldig“ oder „paradiesisch“ eine unzulängliche, unrealistische Vorstellung der älteren Generation über die jüngere darstelle. Es gäbe nicht nur eine Auseinandersetzung des Kindes mit der Welt der Erwachsenen, sondern ebenso auch umgekehrt eine Beschäftigung des Erwachsenen mit der des Kindes. Das Spielzeug ‚entpuppt‘ sich in der Benjamin’schen Analyse als didaktisches Mittel, um dem Kind die Erwachsenenwelt näher zu bringen, und gleichsam als Ausdruck der Sicht des Erwachsenen auf das Kind und dessen Lernprozess.

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Historische Äußerungen wie diese aus kulturkritischen Betrachtungen hervorgegangene verdeutlichen die These, nach der das Bild des Kindes und das Verhältnis zwischen Kind und Erwachsenem immer eine Konstruktion der älteren Generation und keine universale und fest stehende Dimension darstellen (vgl. Scholz 1994). Sie regen die Frage nach Möglichkeiten an, die nicht die Belehrung und die Erziehung der Kinder durch den wissensmächtigen Erwachsenen, sondern die Inszenierung eines gemeinsamen (Kennen-)Lernens in den Fokus rücken. In diesem Zusammenhang sind in den letzten Jahren ästhetische Projekte, angesiedelt in der performativen und postdramatischen Theaterästhetik, entstanden, die auf der Suche nach neuen und innovativen Mitteilungs- und Kommunikationsformen im Theater zunehmend Kinder als ‚Partner‘ und ‚Experten‘ in ihre Produktion mit einbeziehen.4 Sie hinterlassen bei dem Rezipienten einen Eindruck, den der Theaterwissenschaftler Hans-Thies Lehmann wie folgt beschreibt: „Wir erleben, verstehen ein Nichtverstehen – Anagnorisis5. Ich begreife, das und was so gar nicht ‚geht‘; ich finde keinen Ausweg, und finde auch keinen Grund zur Anklage. Denn es geht um Schwäche, sogar um Liebe und Fürsorge, um Einfühlung und Beschützen-Wollen – und doch erfahren wir genau dies alles als auch zutiefst problematisch, den anderen (das Kind) als Person verstellend und verbergend.“ (Lehmann 2010: 27)

Die brisante Problematisierung des Generationsverhältnisses, das nicht das Kind, sondern den Erwachsenen als unwissend, sinnsuchend und fragend erscheinen lässt, sowie eine andere als die gewohnte Sicht auf das Kind, die seine Fremdheit annimmt, machen solche experimentellen und performativen Theaterpraxen mit Kindern auch für die pädagogische Forschung interessant (vgl. Westphal 2009, 2012; Vaßen 2010; Stang 2012). Was geschieht in der performativen ästhetischen Praxis und welcher Stellenwert kann ihr aus der pädagogischen Warte heraus zugemessen werden? Was bedeutet es für den Erziehungs- und Bildungsprozess, wenn Kinder zu künstlerischen Partnern ermächtigt und als Fachkräfte autorisiert werden? Geht das denn überhaupt? Und, nicht zuletzt: Lässt sich eine Annäherung zum ‚unbekannten‘ Kind überhaupt gestalten? Und wenn ja, wie?

4

Projekte wie Bauen nach Katastrophen von Eva Meyer-Keller und Sybille Müller (2009) oder That Night Follows Day von Tim Etchells (vgl. Westphal 2009: 171) sind dafür Beispiele.

5

Der Begriff „Anagnorisis“ stammt von Aristoteles und meint „Wiedererkennung“; Lehmann (2010: 22 ff.) stellt ihn als Alternative zum Katharsis-Begriff für das Theater, in dem die Kommunikation mit dem Publikum im Vordergrund steht.

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Mit diesen Fragen im Hintergrund wird ein Theaterprojekt skizziert, das vom Berliner Performance-Kollektiv andcompany&Co mit dem Titel Fatzer für Kinder initiiert, durchgeführt und im Rahmen der Ersten Fatzer-Tage 2011 am Freien Theater Ringlokschuppen in Mühlheim an der Ruhr präsentiert wurde. Interessant an dem Projekt erscheinen einer pädagogisch reflektierenden Betrachtung drei Momente. Einmal die außergewöhnliche Projektidee, einem selbst der Theatertheorie als „sperrig“ und „radikal“ geltenden Stoff von Bertolt Brecht mit Kindern zu begegnen, was bereits eine unkonventionelle Haltung von Erwachsenen gegenüber Kindern vermuten lässt. Weiterhin die Projektführung, die an Stelle der Vermittlung kultureller Repräsentanten das freie, erkundende und improvisierende Spiel mit ihnen als Alternative zur Belehrung setzt. Zum Dritten die Ästhetik der Aufführung, die mit der Enge einer Hochkultur bricht und dadurch Kindern das Theater für Artikulation öffnet.

Ü BER DIE D REIECKSBEZIEHUNG B RECHT – ANDCOMPANY &C O . – R INGLOKSCHUPPEN Wie schon der Name des von Alexander Karschnia, Nicola Nord und Sascha Sulimma 2003 gegründeten Künstlerkollektivs mit dem doppelten „and“ und dem Zusatz „Co.“ verdeutlichen, gehört die Zusammenarbeit mit anderen zur grundlegenden künstlerischen Strategie der Gruppe. Die „künstlerische Kollaboration“6, wie das Gründertrio diese strukturell angelegte und ästhetische Offenheit für die unterschiedlichen Kunstsparten und Perspektiven bezeichnet, zieht sich durch die gesamte Arbeit der Gruppe: „Wenn man mit uns zusammenarbeitet, wird man automatisch zur Ko-Autorin, KoRegisseurin… uns verbindet die Faszination für ein Thema, dazu wird dann geforscht, recherchiert, gegoogelt, daraus entstehen dann Texte, Musik […]“ (Boldt 2007)

So sind Performances, wie u. a. for urbanites – nach den großen Städten (2004), little red(play): herstory (2006) und FatzerBraz von Bertolt Brecht&Co. (2010) als Kooperationsprodukte mit Künstlern, wie der Autorin Bini Adamczak, bildenden Künstlern, wie Noah Fischer und Jan Brokof, sowie brasilianischen Per-

6

Auf der Internetseite der Gruppe, www.andco.de, sind ausführliche Informationen über die ästhetisch-philosophischen Ansichten und Projekte der Gruppe in den Rubriken „about“ und „manifesto“ zu finden. Darüber hinaus sind einige journalistische Reflexionen in der Rubrik „texts about“ zu lesen.

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formern entstanden, die neben dem Untergang politischer und kultureller Emanzipationsideen und Errungenschaften des 20. Jahrhunderts auch die theaterästhetischen Reformversuche von Bertolt Brecht in einer ironisch-kritischen, mit popkulturellen Zitaten durchsetzten und (sprach-)spielerischen Weise reflektieren. andcompany&Co. fühle sich zwar „in zeitgenössischer Weise Brechts Epischem Theater verbunden“ (Boldt 2007), aber, so Karschnia: „Wir halten sehr viel von der Idee, das Epische Theater als Bühnencomic zu betrachten.“ Kritische Auseinandersetzungen mit den konzeptionellen Überlegungen zum Theater von „Bert Old Brecht“7 führten andcompany&Co. auch zur Rezeption des umfangreichen, sich auf 500 Seiten erstreckenden, aber fragmentarisch gebliebenen und rätselhaften Lehrstücks Der Untergang des Egoisten Johann Fatzer (1926–1931). Mit den Lehrstücken verfolgte Brecht die Absicht, die (Laien-)Spieler durch das körperliche Einnehmen der Haltung von Figuren zu einer persönlichen, sozialen und politischen Reflexion zu bewegen, die schließlich in eine umfassende, politische und personale Emanzipation münden würde.8 Trotz des irreführenden Begriffs, der in der englischen Übertragung „learning play“ die Konnotation zur „Lehre“/„Belehrung“ verliert und den spielerischen und spielerbezogenen Dimensionen des Theaters hervorhebt, stellt Brechts Idee einen Übergang vom epischen (Schau-)Theater zur performativen (Selbst-)Spielart dar. Das Theater wird im Lehrstück als experimentelles „Laboratorium“ zur Herausbildung sozialkritischer Fähigkeiten und gesellschaftlicher Alternativen begriffen. Eine politische Gesinnung und ein methodisches Interesse, die auch andcompany&Co. nicht fern stehen, wenngleich ihre Parole „Nicht politisches Theater machen, sondern das Theater politisch machen!“9 eine Umwidmung zu der Brecht’schen Funktionalisierung ist. Das sogenannte „Fatzer-Fragment“ beinhaltet als Textkomplex neben Dialogen, Monologen und Chorpassagen auch theaterphilosophische und -pädagogische Bemerkungen und Anweisungen des Autors. Es bietet mit seiner inkohärenten, bruchhaften Fabel sowohl der experimentellen Theaterpraxis als auch der Theaterwissenschaft vielfältige Möglichkeiten für wissenschaftliche und ästheti-

7

Diese wortspielerische Neuzusammensetzung des Namens von Brecht ist ein typi-

8

Eine prägnante Darstellung der Lehrstücktheorie von Florian Vaßen findet man auf

9

Alexander Karschnia in Boldt (2007).

sches Beispiel für die sprachästhetische Spielweise von andcompany&Co. der Internetseite www.gesellschaftfuertheaterpaedagogik.net in der Rubrik „Lehrstück“.

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sche Erkundungen.10 Dieser „Jahrhunderttext“, wie Heiner Müller ihn nennt, behandelt das Dilemma zwischen Individuum und Sozietät anhand desertierender Soldaten, deren Anführer Johann Fatzer ist, während des Ersten Weltkrieges in Mühlheim an der Ruhr. Darüber hinaus wirft der Text weitere politische, philosophische und soziale Fragen, wie Revolution, Verrat, Sexualität, auf. Das macht das Fragment auch für sozialphilosophische und kulturtheoretische Fragestellungen interessant. Der Ringlokschuppen bietet seit 2011 ein jährliches Festival als Plattform für das Zusammentragen der künstlerischen und wissenschaftlichen Forschungsergebnisse über das „Fatzer-Fragment“ an und ermöglicht einen Austausch von Interessierten aus allen Kulturbereichen.11 Die Ersten Mühlheimer Fatzertage boten andcompany&Co. die Möglichkeit, dieses selbst Erwachsene thematisch wie strukturell herausfordernde – ursprünglich für die politische Bildung gedachte – Lehrstück Kindern vorzustellen. Außer theaterästhetischen Interessen an unterschiedlichen Rezeptionsmöglichkeiten des Fatzer-Textes gab es für das Kollektiv noch andere Beweggründe, wie Nicola Nord während einer Matinee auf dem Festival berichtete. Einerseits wollten die Performer das auch von Brecht als ästhetische Kategorie propagierte Prinzip der „Naivität“, dessen ‚Experten‘ möglicherweise Kinder sind, durch eine gemeinsame Tätigkeit überprüfen. Andererseits sollte das Projekt auch erfahren lassen, inwieweit Kinder sich als gleichberechtigte Dialogpartner in die Performancearbeit integrieren lassen bzw. auf welche Weise sie für welche performativen Vorgehensweisen offen sind. Aus dem Zusammenspiel dieser Hintergründe heraus und im Rekurs auf Brechts Hinweis, „[d]ie Erfahrung zeigte immer, dass Kinder das, was zu verstehen sich einigermaßen lohnt, ganz gut verstehen“12, begab sich andcompany&Co. mit zwölf Mühlheimer Kindern im Alter zwischen sieben und zwölf Jahren daran, „ein Lehrstück der ganz eigenen Art“13 zu erarbeiten, in dem Freude an Spiel, Experiment und Übung sowie forschender Neugier, die eigene Wahrnehmung und das Reflexionsvermögen im Vordergrund stehen und bedient werden sollen.

10 Zur Bedeutung des Textes für die Theaterwissenschaft siehe u. a. Wilke (1998), Lehmann (2002) und Karschnia/Wehren (2012). 11 Informationen über das Festival Mühlheimer Fatzer-Tage gibt es auf der Internetseite www.ringlokschuppen.de unter „Produktionen“.

12 Zitat entnommen aus der Ankündigung der Aufführung. 13 Ebd.

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„In Laboratorien, sogenannten &Co.LABs, erarbeitet andcompany&Co. kleine, schnelle Projekte mit wechselnden Partnern, initiiert als Versuchsanordnung für eine gemeinsame künstlerische Zukunft“ (Boldt o. J.).

Bei Fatzer für Kinder stellten die Performer an elf Tagen der Osterferien, während denen das fünftägige Festival auch stattfand, in den Probenräumen des Ringlokschuppens Labore bereit, die für eine sich gegenseitig inspirierende gemeinsame Forschung mit ästhetischen Mitteln und für die Suche nach Assoziationen und Ausdrucksformen der Kinder genutzt wurden.14 Als weitere Kooperationspartner zog das Trio den Leipziger bildenden Künstler Jan Brokof sowie die Theaterpädagogin Anna Koch in diesen Prozess mit ein, sodass die Kinder zwischen mehreren, unterschiedlich ausgerichteten Ateliers nach Lust oder Bedarf rotieren konnten. Es gab Werkstätten unter Anleitung der Künstler für Körperund Sprechübungen, Spiel mit Masken, Kostüme und Requisiten, Musik und Klänge (mit bereit gestellten oder mitgebrachten Instrumenten) und Malen und Bauen. Nach einer gemeinsamen Lektüre der von Nord verfassten Version der Fatzer-Fabel, die eine Mixtur aus Originalpassagen und ergänzenden Erklärungen und Kommentaren der Verfasserin darstellt15, formulierten die Kinder mithilfe von fokussierten und strukturierenden Fragen wie „Wer ist der Fatzer?“, „Wie klingt sein Name?“, „Wo wohnt der Fatzer?“ und „Wie sieht der Fatzer aus?“ ihre Vorstellungen, Assoziationen und Gedanken. Oft gab es Diskussionen unter den Kindern über die Charakteristik der Fatzer-Figur oder das Für und Wider von egoistischem Verhalten. Mit den Ergebnissen gingen anschließend die Kinder in die verschiedenen „CoLABs“, um mit Klängen, Kulissen und Ausdrucksformen zu experimentieren und zu spielen. Die kindlichen Ideen wurden von den Künstlern beobachtet, gesammelt und anschließend zu einer performativen Narration16 zusammengefügt, die dann der Präsentation diente.

14 Zum Erarbeitungsprozess von Fatzer für Kinder vgl. den Projektbericht von Nicola Nord in Karschnia/Wehren (2012) sowie den Trailer auf der Webseite des Ringlokschuppens. Beide Quellen bieten eher kurze Einblicke als eine systematische Darstellung der Projektführung. 15 Abgedruckt in Karschnia/Wehren (2012: 142 ff.). 16 Mit „performativen Narrationen“ sind Erzählungen der Performances und performanceähnliche Aufführungen gemeint, die durch Selbstreflexivität und Fragmentie-

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Bei der Befragung zum Ablauf dieses Arbeitsprozesses erzählt die 12-jährige Teilnehmerin Flora17: „Jeder war mal Fatzer, jeder hat sich ein Instrument ausgesucht und ein Junge hat sogar die Melodie von ‚Star Wars‘ auf seinem Glockenspiel eingeübt. Wir haben uns geeinigt, dass Fatzer ein Astronaut ist, und deshalb haben wir mit Jan eine rollende Rakete gebaut, die für uns der ‚Fatzer-Panzer‘ war.“

Im weiteren Verlauf des Gesprächs schildert Flora, wie sie Gänge und Haltung auf der Bühne geübt, Stimm- und Artikulationsübungen durchgeführt, einzelne Szenen, wie die „Würfelszene“, geprobt und Originaltexte gelernt haben. Auf weiteres Insistieren, dass sich dies doch mehr nach „harter Arbeit“ als nach „Spaß“ anhöre, antwortet sie: „Auswendiglernen kann doch jeder. Schwierig ist, wenn man eine Figur ausführen und nicht sich selbst spielen darf. Spaß hat uns gemacht, dass die Geschichte für die Aufführung nicht von vorne herein fest stand, sondern wir sie zusammen, auch mit den Kleinen, entwickeln konnten. Wir durften die Rollen und die Szenen, die wir spielen wollten, selbst aussuchen, und auch den Text, der dann gelernt wurde. Das hat Spaß gemacht.“

AUFFÜHRUNG : „ BEINAH EIN S CHABERNACK

DER

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Ganz im Sinne der Lehrstückgedanken von Brecht sowie der experimentellen Ausrichtung der „CoLABs“ war für andcompany&Co. eine Aufführung nicht etwas von vorne herein fest Geplantes, sondern eine Möglichkeit, die nach dem Bedürfnis und Wunsch der Beteiligten am Projektende erfolgen könne. Die abschließende Performance machte die knapp zweiwöchige Beschäftigung der Kinder mit dem „Fatzer-Fragment“ auf ästhetische Weise sichtbar. Im kleinen Bühnenraum des Ringlokschuppens, in dem die illusionistische ‚Guckkasten‘-

rung ausgezeichnet, auf leiblichen, medialen und räumlichen Wegen verdeutlicht und mit dem Publikum während der Aufführungssituation verhandelt werden (vgl. Stang 2012). 17 Das Gespräch mit Flora Frense fand am 01.05.2011 am Anschluss der Aufführung statt. 18 Die Metapher stammt von Walter Benjamin (1969: 81) und wurde in dessen Programm eines proletarischen Kindertheaters (1928) verwendet.

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Situation des Theaters ohnehin schon durch Verwischung der Bühnentrennung vom Zuschauerraum und durch Offenlegung des technischen Know-hows aufgeweicht ist, bekam das Publikum eine Performance zu sehen, bei der zwar der ‚ästhetische Fingerabdruck‘ von andcompany&Co. unverkennbar war, die aber die Kinder als selbstständig agierende Performer ins (Bühnen-)Licht brachte; ein selbst im experimentellen Theater nicht alltägliches Ereignis. Der von den Kindern mithilfe von Jan Brokof gestaltete Aufführungsraum wirkte wie ein chaotischer Kulissen-Kosmos. Bereits bei „Fatzer-Braz“ entwarf der Künstler ein ähnlich mobiles, an den Konstruktivismus erinnerndes Bühnenbild aus bemalter Pappe, Kartons, Holzplatten, das von den Akteuren leicht zu verschieben war. In Mühlheim erwartete das Publikum ein Haufen ungeordnet herumliegender, in- und übereinander gesteckter Papptürme, mit Tierfiguren bemalter Kisten und galaktischer Sternen-Mobiles. Dem Betrachter wurde die Entscheidung darüber überlassen, welches Universum dieses Durcheinander nun darstellt: das der Galaxien, das der Stadt Mühlheim nach dem Krieg, das der neoliberalen Bankenwelt, das der Rumpelkammer oder das eines unaufgeräumten Kinderzimmers. Eine derartige Mehrdeutigkeit und Vielfalt der assoziativen Interpretationsmöglichkeiten zog sich auch durch die narrative Ausgestaltung der Aufführung. Wie bei anderen Produktionen des Künstlerkollektivs war auch hier bei „Fatzer für Kinder“ der ‚Remix‘ als ästhetisches Prinzip dominant: ein künstlerisches Verfahren aus der DJ-Technik, in dem einzelne Teile des Originals herausgehoben und mit anderen, teils aus der eigenen Produktion stammenden Sequenzen verbunden und dadurch in eine neue und eigenartige Zusammensetzung gebracht werden. Die Kinder „tauchten“ als Auftakt aus ihren Verstecken hinter und aus den Kulissen auf und begannen zwischen den herumliegenden Bühnenobjekten rezitierend kreuz und quer zu gehen. Es wurde abwechselnd in ein Mikrofon gesprochen, es wurden Fragen formuliert, mal vor sich hin redend, mal synchron gesprochen oder auch mal ans Publikum gerichtet: „Wer oder was ist ein Fatzer?“, „Wann kommt der Fatzer?“, „Was macht der Fatzer?“, „Bist du ein Fatzer?“. Ein Vortrag über den Mond wurde von einem kleinen Jungen gehalten; kleine, immer wieder durch Musik, Klangteppiche, Kulissenverschiebungen oder monologisches Reden unterbrochene szenische Spielsequenzen eingeschoben; gemeinsames Singen und clip dance präsentiert; STAR WARS, Heidi Klum und riesige Tierkopf-Masken erschienen und verschwanden wieder, begleitet und kommentiert mit einem ‚Text-Salat‘ aus Brecht-Originalen und kindlichen Textentwürfen: ein am Publikum vorbeiziehendes Kauderwelsch, von dessen logischrationaler Entschlüsselung Hans-Thies Lehmann schon bei der Rezeption von Fatzer-Braz abriet: „Daher wird sich der Kommentator dieser Aufführung hüten,

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den gedanklichen Hintergrund der Arbeit zu sehr zum Protagonisten zu machen.“ (Lehmann 2012: 69) Vielmehr wurde hier eine Rezeptionshaltung verlangt, die sich auf das Wahrnehmen und (Mit-)Erleben, das Vergnügen und (Be-)Staunen, das Lachen und den Spaß konzentriert, denn „andcompany&Co besteht darauf“, so Lehmann weiter, „dass Theater Spiel bleibt, Spiel aber der politischen Erinnerung, der Assoziation und Ideen, die nicht nur von ihnen selbst, sondern auch von den Zuschauern mitgebracht werden“ (ebd.). Ein derartiger Ansatz der theatralen Ästhetik und Rezeptionsweise wurde bereits in der historischen Avantgarde, am deutlichsten durch die Dadaisten, entwickelt, und hinterließ Spuren auch in den kunstphilosophischen und kulturtheoretischen Überlegungen der Moderne. Wenn sich Walter Benjamin (1969: 81) eine Theateraufführung der Kinder als fast aus Versehen, nebenbei zustande kommend, „beinahe als ein Schabernack der Kinder“ wünscht, dann verdeutlicht diese Metapher nicht nur ein methodisches Prinzip, sondern stellt auch eine Aufwertung der auf Nonsens, Naivität und ziellosem Spiel beruhenden Ästhetik, wie sie auch der karnevalistischen Darstellung zugeschrieben wird, dar. Die Erhöhung dieser ästhetischen Vorgehensweise, die das Monopol der Sinnhaftigkeit, der Aussage und der Verkündung entrückt und diese durch Handlungen, originelle Einfälle, unkonventionelle Assoziationen, Sprachspiel und Spaß am Sprechen ersetzt – von andcompany&Co. auch in dieser Kinderaufführung konsequent und selbstbewusst umgesetzt –, wurde von Benjamin mit einer sozialen Bedeutung versehen: „Die Aufführung ist die große, schöpferische Pause im Erziehungswerk. Sie ist im Reiche der Kinder, was der Karneval in alten Kulturen gewesen ist. Das Oberste wird zuunterst gekehrt und wie in Rom an den Saturnalien der Herr den Sklaven bediente, so stehen während der Aufführung Kinder auf der Bühne und belehren und erziehen die aufmerksamen Erzieher.“ (Benjamin 1969: 85)

Auch Fatzer für Kinder ,belehrt‘, wobei wir das unliebsame Verb hier ersetzen: es ermöglicht dem Zuschauer nichts Geringeres als ein Einlassen – d. h. eine emotionale, geistige und ethische Öffnung des Erwachsenen – auf die spezifischen, eigenartigen und oft auch skurrilen Wahrnehmungen und Reflexionen der Kinder über die vorgefundene und von Erwachsenen geformte Welt. Indem das (kindliche) Spiel, das dem Erwachsenen oft als Un-Sinn oder Unfug vorkommt, eine ästhetische Erhöhung erfährt und auf die Bühne gebracht wird, wird der Erwachsene zum Rezipienten, und zwar nicht nur speziell einer Performance,

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sondern allgemein der kindlichen Geste als Ausdruck dessen Wahrnehmung, Haltung und Gedanken. Er ‚empfängt‘ nicht alleine ein besonderes ästhetisches Erlebnis in Form einer ‚Kinderperformance‘, vielmehr bekommt er durch sie Anstöße, eigene, vielleicht festgefahrene und verallgemeinernde Sichtweisen, Haltungen und Handlungen zu hinterfragen.

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ALS KÜNSTLERISCHE

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Im Anschluss an diese Beschreibung drängt sich die Frage auf, welche Impulse in einem solchen ‚flüchtigen‘ ästhetischen Projekt mit Kindern für das anfangs aufgeworfene Dilemma über hierarchische Generationsgestaltung und festgefahrene Kindheitskonstruktion stecken. Was kann das zeitgenössische (Performance-) Theater für eine kulturell relevante pädagogische Debatte leisten, die sich an kritischen Analysen bestehender Verhältnisse versucht, wenngleich weder die Vorgehensweisen noch die Aufführungsform konzeptionell wie organisatorisch neu noch unbekannt sind? Bereits in den 1920er-Jahren entwickelte Asja Lacis, die lettische Theaterpädagogin und politische Aktivistin, das Format eines auf künstlerischexperimentellen Ateliers – sie nannte diese „Sektionen“ – und einer performativen Aufführungsform beruhenden, projektorientierten Theaters mit Kindern, das durch Walter Benjamin bekannt wurde. Sie ließ sich dabei durch die folgende Überzeugung leiten19: „Sobald man ein vorgegebenes Stück mit Kindern probt, arbeitet von Anfang alles auf ein festes Ziel hin – die Premiere. Die Kinder spüren unablässig einen fremden Willen, der sie leitet und zwingt – den Willen des Regisseurs. […] Ich wollte die Kinder dazu bringen, dass ihr Auge besser sieht, ihr Ohr feiner hört, ihre Hände aus dem ungeformten Material nützliche Sachen gestalten. Doch bedarf dieses System von Beobachtungen, um die ästhetische Entwicklung fortzuführen, einer Vermittlung: der Improvisation. Sie erst beansprucht die Phantasie der Kinder und überführt das Beobachtete in darstellende Tätigkeit.“ (Lacis 1969: 74)

Lacis praktizierte eine zweckfreie, auf Improvisation und Sinneswahrnehmung beruhende ästhetische Praxis mit Kindern, die einer selbstbestimmten kindlichen Bildung dienen soll. Sie thematisierte die lähmende Auswirkung der Fremdbe-

19 Eine Berichterstattung von Asja Lacis selbst erfolgte einmalig 1968 und wurde 1969 erneut veröffentlicht.

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stimmung für den Lernprozess und experimentierte mit Möglichkeiten der pädagogischen Leitung im Sinne von Begleitung. Diese methodische Vorgehensweise zur Erarbeitung von Aufführungsinhalten findet sich in den „künstlerischen CoLabs“ von andcompany&Co. wieder, wenngleich die „CoLabs“ keiner pädagogischen, sondern einer ästhetischen Intention folgen. Für andcompany&Co. ist nicht die Bildung der teilnehmenden Kinder das ausschlaggebende Leitmotiv – dieses Thema taucht auch in keiner Weise im Projekt auf –, sondern der ästhetische Erkenntnisgewinn durch Zusammenwirken mit Kindern, das Gewinnen neuer Erfahrungen. Dennoch bieten solche Theaterformen mit Kindern der Pädagogik nach wie vor innovative Anstöße für ein methodologisches Weiterdenken – für Bildungsprozesse, in deren Zentrum Fragen nach der Selbstbildung stehen. Darüber hinaus eröffnet dieses Theater als gemeinsamer „Raum des sinnlichen Denkens“ (Lehmann, 2012: 69) Möglichkeiten, mit einer zugunsten des Kindes veränderten Generationsbeziehung zu experimentieren, indem Kinder die Gelegenheiten bekommen, zu ernst zu nehmenden ,Experten‘ oder ,Forschern‘ in Erkenntnisprozessen zu werden, sich in diesen Zuschreibungen zu erproben und zu erfahren, ohne dabei einer biederen Kinder-Tümelei zu verfallen. Es ermöglicht ihnen, kulturelle Räume zu betreten, die für sie nicht ohne weiteres zugänglich sind, wie die Bühne des ‚echten‘ Theaters. Dort als ‚Performer‘ aufzutreten – das heißt, das Eigene auf die Bühne zu bringen, sich in dieser Rolle zu zeigen, in eine direkte Kommunikation und in ein Spiel mit dem (erwachsenen) Publikum zu kommen, weist aber auch noch auf eine weitere Bedeutungsebene hin. Die Aufführung als gemeinsame Ko-Produktion von Erwachsenen und Kindern stellt jene Doppelbödigkeit – im wahrsten Sinne des Wortes – ins Licht, von der die Erziehungswissenschaftlerin Kristin Westphal (2009: 182) spricht20: das Ineinandergreifen und die Korrespondenz von erwachsener Weltdeutung und kindlicher Geste. Die Vergegenwärtigung dieses Zusammenspiels im Theater öffne „einen Spalt zwischen der Welt der Kinder und der Welt der Erwachsenen“, durch den ein Einblick in den zwischen den Generationen liegenden Raum möglich werde, ohne ihre Differenzen zu ignorieren. Die pädagogische Relevanz einer solchen Theaterarbeit liegt Westphal zufolge gerade darin, dass die generationalen Abweichungen thematisiert und dadurch weder verschwiegen, noch verdeckt, noch überwunden, sondern einfach „wach gehalten“ (ebd.) werden. Schließlich bedeutet diese Einschätzung nichts anderes als das Postulat von Walter Benjamin zur „Lehre“ des Kindertheaters für den „aufmerksamen Erzieher“:

20 Zur Performance That Night Follows Day von Tim Etchells.

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„Neue Kräfte, neue Innervationen21 treten auf, von denen oft der Leiter unter der Arbeit nichts ahnte. Erst in dieser wilden Entbindung der kindlichen Phantasie lernt er sie kennen.“ (Benjamin 1969: 69)

Performances wie Fatzer für Kinder lassen die Zuschauer in diesen „Räumen der Unterbrechung“ (Westphal 2012) an einer Erfahrung teilhaben, die über ein bloßes Beiwohnen an einer temporären Umkehrung bestehender hierarchischer Verhältnisse hinausgeht. Nicht das Kennen des Kindes, sondern das – womöglich gegenseitige – Kennen-Lernen stellt jenen dynamischen, stets wiederkehrenden und offenen Prozess dar, der für eine Pädagogik, die sich von Herabsetzung, Bevormundung und Belehrung des Kindes verabschiedet und sich dem Dialog, der ,Partnerschaft‘ mit ihm zuwenden möchte, angemessener erscheint. Oder wie es der Philosoph Jacques Derrida (2004: 10) treffend ausdrückt: „Lernen, mit den Gespenstern zu leben, in der Unterhaltung, der Begleitung oder der gemeinsamen Wanderschaft, im umgangslosen Umgang mit den Gespenstern.“

L ITERATUR Benjamin, Walter (1969): Über Kinder, Jugend und Erziehung, Frankfurt a. M.: Suhrkamp (darin: „Spielzeug und Spielen“, S. 66-72, und „Programm eines proletarischen Kindertheaters“, S. 79-86). Boldt, Esther (2007): „Sputnikschock im deutschen Theater. Das Performancekollektiv andcompany&Co.“, in: Nachtkritik vom 24.09.2007, online unter www.nachtkritik.de/index.php?option=com_content&task=view&id=462&It emid =61 (Stand: 11.11.2013). Boldt, Esther (o. J.): andcompany&Co.: Porträt, online unter www.goethe.de/ kue/the/pur/and/deindex.htm (Stand: 11.11.2013). Derrida, Jacques (2004/1993): Marx’ Gespenster. Der verschuldete Staat, die Trauerarbeit und die neue Internationale, Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Karschnia, Alexander/Wehren, Michael (Hg.) (2012): Kommando Johann Fatzer. Mühlheimer Fatzerbücher 1, Ringlokschuppen Mühlheim an der Ruhr, Berlin: Neofelis.

21 Mit dem Begriff „Innervation“ meinte Benjamin (ebd.) den künstlerischen Schöpfungsvorgang, der nicht alleine auf die besondere, künstlerische Sichtweise, sondern auf die „Übersetzung“ dieser Sichtweise in künstlerische Tätigkeiten, beruhe. Nach Benjamin ist im Theater diese „Übersetzung“ die Improvisation.

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Kleist, Heinrich von (2013): „Allerneuster Erziehungsplan“, in: Ders., Ästhetische, philosophische und politische Schriften. Berliner Ausgabe, North Charleston: CreateSpace.com, S. 41-46. Lacis, Asja (1969): „Erinnerungen an das Kindertheater in Orel“, in: Dies, Walter Benjamin – Eine kommunistische Pädagogik – Anleitung für eine revolutionäre Erziehung, Berlin: Zentralrat der sozialistischen Kinderläden WestBerlin, S. 73-77. Lehmann, Hans-Thies (2002): Das politische Schreiben, Berlin: Theater der Zeit. Lehmann, Hans-Thies (2010): „Kinder, Theater, Nichtverstehen“, in: Florian Vaßen (Hg.), Korrespondenzen. Theater – Ästhetik – Pädagogik, Uckerland: Schibri, S. 19-29. Lehmann, Hans-Thies (2012): „Anmerkungen zu FatzerBraz von andcompany&Co.“, in: Karschnia/Wehren, Kommando Johann Fatzer, S. 62-74. Meyer-Keller, Eva/Müller, Sybille (2009): „Bauen nach Katastrophen. Eine Performance von Kindern für Erwachsene“, in: Westphal/Liebert, Gegenwärtigkeit und Fremdheit, S. 193-202. Scholz, Gerold (1994): Die Konstruktion des Kindes. Über Kinder und Kindheit, Opladen: Westdeutscher Verlag. Stang, Katalin (2012): „Performatives Erzählen für Kinder und mit Kindern“, in: Zeitschrift für Theaterpädagogik 28, S. 24-28. Vaßen, Florian (2010): Korrespondenzen. Theater – Ästhetik – Pädagogik. Uckerland: Schibri. Westphal, Kristin (2009): „Zur Aktualität der Künste im Morgen. An einem Beispiel von Theater mit Kindern für Erwachsene“, in: Dies./Liebert, Gegenwärtigkeit und Fremdheit, S. 171-184. Westphal, Kristin (Hg.) (2012): Räume der Unterbrechung. Theater, Performance, Pädagogik, Oberhausen: Athena. Westphal, Kristin/Wolf-Andreas Liebert (Hg.) (2009), Gegenwärtigkeit und Fremdheit. Wissenschaft und Künste im Dialog über Bildung, Weinheim: Juventa. Wilke, Judith (1998): Brecht’s „Fatzer-Fragment“ – Lektüren zum Verhältnis von Dokument und Kommentar, Bielefeld: Aisthesis.

Ungewöhnliche Symptome der Jugend Samir Akika/Unusual Symptoms auf Augenhöhe mit jungen Akteuren A NNA K. B ECKER Hello, can you hear me? Hello? I mean, I don’t know about all this, you all seem to have these big events in your life, these important moments that you’ll always remember, and I’ve really been searching for one of those and actually I couldn’t even find one: and at first this made me a bit thinking that maybe I had a boring live or that I am not interesting enough. But actually that’s just stupid because I like the things that I do in my live and I’m happy, so why shouldn’t that be enough? I mean I shouldn’t think about the past or the future or even about the present. […] They put such a pressure on us to be special and original and to come up with new ideas, and sometimes that’s really good because it gets the best out of yourself. But other people really can’t handle that, they dramatize the things that happened to get more attention or they change the way they are because they think their own personality is not interesting enough. There are people who act completely different when you’re alone with them then when they are in a group. But this is just wrong because we shouldn’t be afraid to be normal. JOKE DEPREITERE IN „YOUNG & FURIOUS“

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Junge Menschen auf dem Theater haben grundsätzlich erfrischende Nebenwirkungen: Sie können ‚echt‘ und ‚unverbraucht‘ den Zeitgeist der ‚heutigen Jugend‘ oder der ‚Erwachsenen von Morgen‘ auf die Bühne bringen. Meistens treten sie als Gruppe auf: Als spezielle Altersgruppe, mit besonderem Hintergrund, Nation, Talent, Interessen... Das Theaterpublikum kann sich dann, mit entsprechendem Sicherheitsabstand, einer Welt annähern, die ihm im Lebensalltag nicht unbedingt zugänglich ist oder nicht interessant erscheint, oder die für gewöhnlich auf dem Theater keine Rolle spielt. So unterschiedlich die Schwerpunkte in Inszenierungen mit jungen Menschen gesetzt werden, zwischen Virtuosität der Darbietung, Authentizitätswirkung der jungen Performer, didaktischem Lehrgehalt oder Kuriositätscharakter; so entsprechen die Aufführungen in ihrer Form-Sprache fast immer den ästhetischen Standards eines ‚normalen‘ zeitgenössischen Theaterabends. Damit beschränkt sich das ‚Echtheits-Erlebnis‘ für die Zuschauenden meistens auf die in den Stücken verhandelten Inhalte. Wenn auch den formal-ästhetischen Wünschen der jungen Darsteller nachgekommen wird, bedeutet das meistens eine Herausforderung für die Zuschauenden: es bedeutet, ‚schlechten Geschmack‘, Kitsch, Ungefiltertes, Fremdscham-Momente und Längen, Längen, Längen auszuhalten. Und genau dazu fordern Samir Akika/Unusual Symptoms auf. Ihre Theaterabende mit Jugendlichen kreieren ein ganzheitlicheres Erlebnis von ‚Echtheit‘, indem sie allerhand szenisches Material zulassen, das nicht auf eine Funktion der Theatersprache reduziert, auf eine Pointe verknappt worden ist. Bei Welle:Asphaltkultur präsentiert sich eine Gruppe Tänzer der HipHop Academy Hamburg in ihrer Vielschichtigkeit: Virtuose Momente stehen neben unreflektiert Melodramatischem, sinnfreien Anekdoten und MTV-VideoÄsthetik ohne ironisches Schutzschild. Manche Klischees über Jugend und Hip Hop werden bedient, andere unterlaufen. Diese Jugendlichen zeigen, was sie interessiert, in ihrer eigenen Formsprache, in all ihren Ambivalenzen, und werden nicht auf eine Funktion reduziert. Als Zuschauende bekommt man eben das volle Paket: Wer diese jungen Leute kennenlernen will, der muss auch ihre Formsprache kennenlernen – eigentlich ein fairer Deal. Bei Young & Furious sehen wir junge deutsche und belgische Performer, die sich weigern, Zuschauererwartungen zu bedienen. Sie wollen sich nicht über die Differenzen zwischen den beiden Ländern definieren und erst recht nicht über den der Jugend anhaftenden Dunst von Leichtsinn oder Optimismus gegenüber der Zukunft. Sie wollen überhaupt keine Gruppe repräsentieren – es ist ja schon unmöglich, sich als Individuum selbst zu präsentieren. Sie tauschen deswegen

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andauernd untereinander die biographischen Rollen, reden lieber über ihre Vergangenheit anstatt über die Zukunft und wirken in ihrem düsteren Bühnenbild geradezu desillusioniert, wobei sie (selbst-)kritisch bis ironisch ihre Aufgabe auf der Theaterbühne thematisieren. Da Akikas Stücke auf Augenhöhe mit den Performern entstehen, sind sie auch nicht viel ‚schlauer‘ als diese. Sie sind nicht überheblich. Obwohl das Regieteam natürlich klare eigene ästhetische Vorstellungen und Fragen an Theaterabende mitbringt, werden diese den Performern nicht übergestülpt. Der kulturelle Horizont der Jugendlichen wird herausgefordert, ihre Selbsteinschätzung geschärft, aber als Experten ihrer eigenen Welten werden ihre bestehenden Vorstellungen und Ideen ernst genommen und finden ihren Platz in den Inszenierungen. Akikas Autorität begründet sich dabei nicht allein auf seine Professionalität als Choreograph, sondern in das Vertrauen der Jugendlichen in ihn und das Projekt, das immer wieder im Laufe des Probenprozesses durch wirkliches Interesse an jedem Einzelnen hergestellt wird. Die allgemeine Arbeitsweise funktioniert vor allem über Fragen, Fragen und nochmals Fragen: zu Selbstwahrnehmung, Geschmack, Zukunftsvisionen, Träumen, Ängsten. Etliche Aufgaben werden gestellt: Texte zu generieren, tasks für Tanzsequenzen auszudenken, Posen, Musikwünsche. Die Ergebnisse werden anschließend einander vorgestellt und gemeinsam besprochen: Was hat wem warum gefallen? Themen und Szenen werden gesammelt, Spiele werden etabliert, Spielregeln für Diskussionsrunden etc. So entstehen Bühnenabende, die mehrere Ästhetiken aufeinandertreffen lassen und verschiedene Ebenen des Sehens ermöglichen. Keine der Welten bleibt verschont: Die Jugendlichen müssen sich mit dem Geschmack Akikas auseinandersetzen und umgekehrt. Dieses Aufeinandertreffen lässt die Zuschauenden ihre Position immer mit reflektieren: ihre eigene Schaulust, ihre Erwartungen, ihre Vorurteile.

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Z UKUNFT ... W ELLE :A SPHALTKULTUR

Die Bühne ist dunkel, kaum etwas zu sehen, man hört, wie verschiedene junge Menschen in ein Mikrofon sprechen: Wie bei Romeo und Julia soll es sein, sagt eine Stimme. Zuhause im Bett, im Kreise der Familie, eine andere. Bei einem ekstatischen Tanz zum Lieblingssong. Durch einen vergifteten Apfel. Nachdem man 100 Gramm Gras geraucht hat. Ein Kichern geht durch die Runde... Beim Orgasmus im Alter von 100 Jahren. Es wird noch mehr gekichert. Die eigenen

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Eltern sollen dabei sein, sagt eine sehr junge Stimme. Eine weitere schließt die Statement-Runde, indem sie sagt, sie könne es sich einfach nicht vorstellen, wie es sein wird, zu sterben, das sei noch so weit weg. Realistisch gesprochen vermutlich allein im Krankenhaus an Krebs oder im Altersheim. Diese ernüchternden Worte sind, wie alles davor gesagte, Antworten auf die Frage: Wie möchtest/wirst du sterben? Aber jetzt wird erst mal angefangen: Der Saal wird erleuchtet und die Gruppe junger Menschen wird sichtbar, die im Kreis im hinteren Bühnenteil auf dem Boden saß. Während eine Art Zebrastreifen aus weißen Pappbrettern ausgelegt wird, beginnen die Jugendlichen, sich in einer Art Catwalk einzeln vorzustellen, mit für sie selbst typischen Bewegungen. Die Zuschauer sehen mal ironische, mal naive, mal geglückte, mal missratene Posen der Coolness oder Langeweile. Die Darsteller von Welle:Asphaltkultur sind zwischen zwölf und Anfang 20 Jahren, sie kennen einander über die HipHop Academy Hamburg: Sie tanzen Breakdance oder Nu Style, sind in der Graffiti oder Rap-Gruppe und kennen die Arbeit mit Gastdozenten. Sie sind es gewohnt, sich in Auswahlverfahren beweisen zu müssen. Sie besuchen gerne Konzerte, gehen auf battles oder ins Kino – nicht unbedingt ins Theater. In einem nackten Raum, mit Blick auf die Brandmauern, gibt es nur technisches Equipment; einen DJ-Tisch, ein paar Podeste und eine weiße Wand, die im Laufe des Stückes für Tags und schriftliche Statements genutzt wird, wie man sie an öffentlichen Toilettentüren findet. Sprüche, Witze und hauptsächlich „I WAS HERE“. Eine Art Mobile aus Pappkarton, das über den Köpfen der Tänzer schwebt, wie eine Wolke aus Überwachungskameras, ist das einzige Bühnenbildelement, das nicht rein funktional ist. Ansonsten dominieren Praktizismus und Offenlegung der Mittel, wie die aushängenden Ablaufpläne für den Abend zeigen: Eine Abfolge von Spielen, Diskussionen, kleinen Lecture-Einheiten, RapSongs und natürlich sehr vielen Tanz-Sequenzen. Wer gerade nicht eingebunden ist, chillt am Bühnenrand oder wärmt sich für den nächste Auftritt auf. Es gibt kein ‚off‘, dafür aber umso mehr ein ‚on‘, denn die nu-style-Choreographien, die auf Mainstream-R&B-Musik getanzt werden, erscheinen als reines Posieren: Gefühle wie Schmerz oder Freude können gar nicht deutlich genug gezeigt werden, wirken stilisiert, künstlich, oberflächlich und leer, zumindest für den Theatergänger, der ganz andere Repräsentationsverabredungen gewohnt ist. Aber hier geht es nun einmal um den Geschmack der Tänzer, und der ist manchmal eben Seifenopernherzschmerz und MTV-Videoclip. Auch in den ‚Entweder/Oder‘Diskussionen, die zwischendurch geführt werden, gewinnt meistens die Oberfläche: „Nike oder Puma?“ – „Familie gründen oder Welterfolg haben?“ – „Wehr-

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dienst oder Zivildienst?“ – die Antworten erinnern meist an eine TalkshowPersiflage, zuweilen aber schlägt sich zwischen Witz und Ironie auch eine ehrliche Antwort durch. Das Leben wird als Computerspiel beschrieben, unklar ist jedoch, wer die Regeln gemacht hat. Es wird erklärt, wo das Beatboxen herkommt, es gibt eine Stand-up-Comedy über die eigene Generation, die ignorant und faul ist, und abgestumpft nach Erlebnissen wie dem 11. September oder – noch schlimmer – dem Tod von Michael Jackson. Die Zukunft entwerfen die Jugendlichen entweder als apokalyptische Zombie-Szenarien oder als eine Welt voller perfekter Klone. Gerahmt werden diese Zukunftsvisionen von roboterhaften Gruppentänzen im Stroboskop zu Elektroklängen. „Stehen die Pyramiden noch? Gibt es Handys? Die Playstation? Ist Jamba endlich pleite gegangen? Gibt es den Nord- und den Südpol noch? Welche Musik hört man? Gibt es Hip-Hop noch? Wie hoch sind die Benzinpreise? Muss man Studiengebühren bezahlen?“

Das Vorführen reiner ‚Showszenen‘, wie es für andere Hip-Hop-Veranstaltungen üblich ist, wird durchwirkt mit Szenen der Selbstdarstellung des eigenen KunstGenres, der eigenen Generation, dem individuellen Blick auf die Zukunft. Die Ansichten dieser Gruppe junger Menschen kommen in einer ehrlichen Mischung aus Oberflächlichkeit und tiefstem Gefühl zum Ausdruck. „Welle:Asphaltkultur“

Foto: © Jan Rasmus Lippels

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V ERGANGENHEIT ... Y OUNG & F URIOUS

Wer erwartet, in dieser Arbeit das Porträt einer Generation gezeichnet zu bekommen, oder auf eine ‚Gegenüberstellung‘ belgischer und deutscher Jugendlicher zwischen 16 und 21 Jahren hofft, wird enttäuscht. Im dunklen Raum erscheint eine Art ‚Disclaimer‘: Per Videobeamer eingeblendete Texttafeln klären die Zuschauer auf, es werde anders als erwartet, anders als im Programmheft steht und vor allem sehr, sehr lang. Wer schon früher gehen wolle, möge das leise tun, alle anderen dürften gespannt sein auf das spezielle Ende, das dann kommen werde. Aber jetzt finge es ja erst mal an. Erklärtes Ziel des Abends sei eine Mischung aus „live art theorie und performative sexiness“... Na dann mal los. Eine Gruppe von acht jungen Menschen teilt sich eine Bühne, die einer Laterna Magica gleicht: düstere Scherenschnitte, Schatten von stilisierten Bäumen, Pflanzen, ein weißlackierter Ast, an dem Prismen hängen. Eine Art Gruselmärchen-Wald. Düster ist es, teils melancholisch, schaurig, meist geht es um bereits Vergangenes, Erinnerungen, Reenactments. Wer bunte Teenie-Klischees erwartet, kann lange warten. Einzelne Performer stellen scheinbar ‚sich‘ vor, schnell wird aber klar, dass sie ein anderes Mitglied der Gruppe repräsentieren. In kleinen Porträts werden alle vorgestellt, jedoch ohne offensichtliche Vergleiche, Gegenüberstellungen oder Konsenssuche zwischen einander. Mal geht es um Dolly, das Schaf, mal wird der Einsatz von Uranium seitens der US-Force während des zweiten Golfkrieges in einer Art Reenactment-Spiel dargestellt und in seinen verheerenden Auswirkungen ansichtig gemacht. Es wird ein Märchen von einem Scheidungskind erzählt („Es war einmal“), über die eigenen Narben philosophiert („My body shows scars that I don’t remember, also I remember scars that my body does not show“), Vampir-Witze vorgetragen, Songs angestimmt. All diese versatzstückartigen Szenen haben nur eines gemeinsam: die Geste des Zurückblickens, des Wiederholens, des Wieder-Heraufbeschwörens von bereits Vergangenem. „When I was young“ heißt es und „We all wanted to be so special“. Hier wird keine unbedarfte Jugend zelebriert, sondern knallhart reflektiert, wo man bereits enttäuscht wurde, selbst Erwartungen nicht erfüllt hat oder zur Originalität gezwungen wurde. „You all seem to have these big events in your life, these important moments that you’ll always remember, and I’ve really been searching for one of those and actually I couldn’t even find one…“

Berichtet wird in ständigem ‚Switchen‘ zwischen flämisch, deutsch und englisch, durchzogen von Tanzsequenzen und körperlichen Tasks, die auch alles an-

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dere als unbeschwert daherkommen: Posen, Grimassen, Spiegelbilder. Trotzdem strotzt der Abend vor Energie, Witz, Leichtigkeit und vor allem Authentizität. Dieser Effekt ist der Entstehungsweise des Theaterabends geschuldet, einer intensiven und persönliche Zusammenarbeit zwischen den jungen Performern und dem Regieteam um Samir Akika – inklusive Zusammenwohnen, gemeinsam verbrachter Freizeit und allabendlichen Impro-Sessions. Die Jugendlichen sollten sich als Autoren des Abends begreifen und in dieser Aufgabe ernst genommen fühlen. Das bedeutete viel eigenverantwortliches Arbeiten an Szenen und Solos, die größtenteils eins zu eins ins Stück eingeflossen sind. Und das bedeutete Diskussionen und Erklärungen, das gemeinsame Anpassen des Konzeptes an neu entstandene Interessen und Fragen der Darsteller; den gemeinsamen Umgang mit Diskrepanzen zwischen verschiedenen ästhetischen Erwartungen und Horizonten. Entstanden ist ein sehr introspektiver Abend mit loser, episodischer Erzählstruktur und ohne stringente Story, mit dem sich die Darsteller merklich identifizieren. „Young & Furious“

Foto: © Luc Depreitere

Welle:Asphaltkultur und Young & Furious sind zwei typische Akika-Abende, deren Handschrift sich vor allem in Neugier und Respekt vor den Performern begründet und die mutig genug sind, den Vorstellungen zu folgen, die die Darstellenden mitbringen.

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Sei dies eine Entscheidung für bunte Farben, Gruppen-Posen und Leichtigkeit, seien es Unsicherheiten und Verweigerungen, denen endlich einmal stattgegeben werden darf, oder andere ungewöhnliche Symptome, die man als junger Mensch so haben kann. Dank an Gregor Runge.

Hell on Earth Ein paar Notizen über die Arbeit mit Constanza Macras/Dorky Park C ARMEN M EHNERT

Angefangen hat alles mit den Kids aus Neukölln und Constanza Macras, als diese 2002 mit der Rollenden Roadshow der Volksbühne Berlin unterwegs war, die Kinder in Neukölln traf und mit ihnen arbeitete. Aus dieser Begegnung entstand der Wunsch einer weiteren Zusammenarbeit. Möglich machte es Matthias Lilienthal, der in 2003 das Stück Scratch Neukölln als Auftakt seiner HAUIntendanz initiierte. Zusammen mit Tänzern ihrer Kompanie Dorky Park und den Kindern aus Neukölln, unter ihnen einige Breakdancer, entwarf Constanza ein Stück mit viel Hip-Hop, Geschichten und Gesang über das Leben in der Fremde. Immer wieder bei Null anfangen – to start from scratch. Themen waren ihre Anpassungswünsche, Träume und all die kleinen Versuche, dem Alltag zu entfliehen. Bei der Arbeit und den Proben stand die Idee des sich Neudefinierens, des Überschreibens, im Mittelpunkt. Die Kids als Überbringer ihrer Musik und Bewegungen, die als Raubkopien von Raubkopien im Fernsehen, Radio und bei YouTube weitergereicht werden. Mehrmals kopiert und immer wieder neu überschrieben. Neukölln betrachteten wir dabei als Sinnbild eines Ortes, an dem man sich immer wieder neu definiert, immer wieder jemand anderes wird. Als Anregung diente folgende Geschichte: „Errol Morris interviewte einen Mann, der als Teenager eine grauenhafte Schulzeit hatte: Er war der dürre und picklige Streber aus der Vorstadt. Sein IQ ist außergewöhnlich hoch, dennoch hat er nach seinem sehr guten Schulabschluss nur einen einzigen Wunsch: seine Schulzeit zu wiederholen. Er bricht in seine ehemalige Schule ein, stiehlt seine Akten, ändert seinen Namen. Er tut all dies, um wieder zur Schule gehen zu können und es diesmal

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‚richtig zu machen, der coole Typ sein und nicht der Klugscheißer‘. Er schreibt sich an einer anderen Schule ein und wiederholt die Oberstufe. Er geht zur Schule, bis er 27 Jahre alt ist; er rasiert sich drei Mal täglich, damit er jünger aussieht. Er durchlebt diese Jahre wie eine Zeitreise, deren einzige Landschaft sein eigenes Ich ist.“

Des Weiteren beschäftigten wir uns mit Fragen nach dem Einnehmen eines bestimmten Raumes, der Überschneidung von privatem und öffentlichem Raum, der Raumaufteilung zwischen Erwachsenen und Kindern. Welcher Raum wird Kindern von Erwachsenen zugeschrieben und wie müssen sie sich diesen erobern? Es ging immer wieder darum, Störungen aufzuzeigen und zu erzeugen, um dieses zu thematisieren. Die Tänzer mussten damit rechnen, dass Kinder ihre Choreographien stören könnten, mussten darauf reagieren und mit Einschränkungen umgehen. Das Entwickeln einer gegenseitigen Wahrnehmung zwischen Tänzern und Kindern war dabei von größerer Wichtigkeit als die perfekte Choreographie. Es entstanden viele Duette zwischen beiden Gruppen. Und manchmal entstanden auch Duelle. 2008 und fünf Jahre später arbeitet Constanza wieder mit den gleichen Kids und Tänzern ihrer Kompanie. Es entsteht Hell on Earth. Das Bühnenbild spiegelt viele der Themen des Stückes wieder: Verführung (ein mit roten Äpfeln behängtes Bäumchen), Ängste (eine Dusche, Videoausschnitte von Filmen wie Alien oder Carrie, die projiziert werden) und Unschuld. Die Bühne sieht aus wie ein Freibad. Mit einem Sprungbrett und einem leuchtenden Sonnenschirm auf einem der Podeste. Was kann schon harmloser scheinen als ein Freibad im Sommer? Denn, ganz im Sinne Freuds, gerade im Vertrauten lauert das Unheimliche. Pubertät ist das Thema des Stückes. Aus den niedlichen Kindern sind hormongesteuerte Pubertierende geworden. Diesmal erzählen die Jugendlichen aus der Perspektive junger Erwachsener von den Hoffnungen und Schwierigkeiten des Erwachsenwerdens, von Diskriminierung, vom Wunsch nach Anpassung, von ihren Träumen. Fatma El-Moustapha möchte immer noch Rechtsanwältin werden, ist immer noch ein selbstbewusstes Mädchen, das mittlerweile aus Überzeugung ein Kopftuch trägt und dieses mit entschlossenem Feminismus kombiniert. „Ich will Rechtsanwältin werden. Familienrecht oder Kriminalrecht. Aber Familie ist besser. In der 3. oder 4. Klasse wollte ich schon Rechtsanwältin werden. Ich habe es auch oft gespielt. Mit meinen Brüdern. Wir nehmen einen Täter und ich bin die Rechtsanwältin. Mit Assem, Ahmed und meiner besten Freundin.“ (Fatma El-Moustapha)

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Wir fragten uns, wie Jugendliche mit Migrationshintergrund während ihrer Pubertät mit dem vielschichtigen Gefühl von Fremdheit umgehen. Das Thema des Fremdseins zieht sich auch hier wie ein roter Faden durch das Stück, da er das Gefühl der Adoleszenz verkörpert. Der pubertierende Körper ist zu einem Fremdkörper geworden, ein Alien. Plötzlich ist der Stimmbruch da. Es wachsen Brüste und Haare, der ganze Körper gerät außer Kontrolle. In einer Szene stellt die Schauspielerin Tatiana Saphir die schlimmsten Teenager-Albträume dar: ihre großen Brüste verwandeln sich in eine Kampfmaschine, die alle auf der Bühne herumstehenden Jungs umnieten. Horror und Hormone, Anpassung und Aufbegehren. Es geht um verrücktspielende Hormone, um Schüchternheit und Sehnsucht, aber auch um die ganz praktischen Dinge des Lebens. Etwa darum, welche Schule man demnächst besuchen und welchen Beruf man ergreifen will. Constanza lässt die Jugendlichen immer sich selbst spielen. Sie erzählen von der Schule, von ihrer Ausbildung, ihren Problemen zu Hause, ihrer Lustlosigkeit, ihren Ängsten, ihren Zuständen, ihren Wünschen und Träumen. Zusammen entwickeln wir die Texte, immer von ihrem Material, ihren Geschichten und Erzählungen, ausgehend. Diese entstehen bei Improvisationen und Gesprächen. „Ich war heute, wie jeden Tag, in der Ausbildung, hab mich gelangweilt, musste ein Auto reparieren: ‘ne Beule rausdellen, neuen Motor einbauen, der Motor war ganz kaputt, neue Sitze, die Sitze waren ganz kaputt, neue Achsen einbauen, von unten. Mein Chef hat mich immer zugetextet, wenn ich was falsch gemacht habe, und ich hab immer gesagt: ‚Ich bin neu, ich kann das noch nicht, ich muss es erst lernen‘.“ (Muhammed El-Moustapha) „Heute, nach der Schule, bin ich nach Hause gegangen, hab ein bisschen geduscht, bisschen Fernsehen geguckt, dann Filme, Jackie Chan, geguckt, geguckt. Irgendwann wurde mir langweilig, bin ich essen gegangen, habe Red Bull getrunken, habe ein bisschen meine Mutter geärgert, meinen Bruder geschlagen, bisschen Karten gespielt, noch ein Red Bull getrunken, mit meinem Bruder gekämpft, meine Schwester geschlagen, meine andere Schwester geschlagen. Dann auf einmal haben mich alle angegriffen, einfach so. Da habe ich Flügel gekriegt und bin davon geflogen.“ (Maradonna Akkouche)

Es ist kein Arbeitsprozess à la Rhythm is it, diese Kids hören nicht Strawinsky, sondern Popmusik. Sie schreien, sie singen, sie hängen durch. Wenn sie „Pimkie“ hören, drehen sie durch, denn das ist eine Marke, die sie alle unmöglich finden. Während die Jungs sich Breakdance-Battles geben und sich so verausgaben, hört man von den Mädchen an vielen Tagen, sie hätten keinen Bock auf gar nichts. Constanza fordert sie auf, einen Song daraus zu machen, bei dem

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sie von den Musikern unterstützt werden. Es entsteht eine Art Generationshymne: „Ich hab kein’ Bock auf euch / Ich würd’ viel lieber zu Hause sein / Als meine Zeit mit euch zu verschwenden / Ihr strapaziert meine Nerven so krass / Lasst mich doch einfach in Ruh’ / Ich hab kein’ Bock auf Jungs / Dank dir, du Missgeburt / Versprachst mir die ganze Welt / Doch wolltest nur mit meiner Freundin ins Bett / Du bist ein Arsch, doch warst mein Held / Ich hab kein’ Bock auf euch / Mein Vater ist Alkoholiker / Und meine Mama frisst zu viel / Sie liegt im Krankenhaus und hat ein Baby / Das stresst und schreit und sieht aus wie ich / Ich hab kein’ Bock auf mich / Mein Bauch ist so schwabbelig / Wenn du ihn anschaust, erblindest du / Hoffentlich zeigt ihr mich nicht an wegen Körperverletzung.“

„Hell on Earth“

Foto: © Thomas Aurin

Manchmal stehen sie zu zweit auf der Bühne herum und singen zu Musik aus ihren Handys. So wie alle Jugendlichen auf der Welt. Es sind stille und berührende Momente, in denen sie friedlich zusammen sein können, verbunden durch ihre Musik. Ihre Handys erzeugen ein Gemeinschaftsgefühl, egal ob es sich um Jungs oder Mädchen handelt. Oder sie singen ein Medley aller Popsongs, die sie gerne hören, von Rehab über Barbie Girl zu Habibi. Überhaupt spielt Musik eine große Rolle.

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Sie benutzen Klischees, um über Religion, Sex und Rassismus zu erzählen, reproduzieren dämliche Stereotype, um sie dann auseinander zu nehmen. In einer Szene schlüpfen die arabischen und palästinensischen Jungs kurz in die Frauenrolle, verhüllen sich grinsend und kichernd mit Schleier und orientalischen Gewändern und lassen derbe Frauensprüche los. Anfangs noch etwas verunsichert, wurde diese Szene im Laufe der Arbeit zu einem der Lieblingsmomente der Jungs, die sie mit großem Spaß spielten. „Die Männer sind alle sexistisch. Die gucken nur auf den Arsch. Das ist unverschämt. Die wollen immer nur det eine. Ohne Kondom. Auf der Motorhaube oder im Keller. Oder auf der Waschmaschine, wenn sie läuft. Ohne Gnade. Den ganzen Tag.“

Oder Ahmad El-Moustapha, der Kleinste, sieht sich in einer Szene, in der er dem Tänzer Tonahtiu Diaz als seinem erwachsenen Ich begegnet, in seine Zukunft versetzt, die er aber so nicht annehmen will: „Tonahtiu: Ich bin du Ahmad: Du bist nicht ich. Ich sehe nicht so aus. Hab keine hässlichen fetten Schuhe, kein Piercing, keinen Schnurrbart, keine Glatze. Tonahtiu: Ich weiß, aber ich muss dir etwas sagen... du hast eine Frau und drei Kinder. Ahmad: Was? Was denn für Kinder? Tonahtiu: Du hast drei kleine Mädchen. Ahmad: Ich habe also drei Kinder und so hässliche fette Schuhe? Wann geht’s weg? Tonahtiu: Das weiß ich nicht. Erst wenn du stirbst. Ahmad: Ich bin das nicht. Ich will von hier weg. Das ist nicht meine Zukunft. Ich wäre lieber dieses kleine Arschloch da (zeigt auf Maradonna).“

All diese Geschichten, die Songs und Tänze sind geradezu subversiv mit den Aktionen der fünf professionellen Tänzer verflochten. Auch diese spiegeln ihre heimlichen Wunschträume wieder. Etwa, wenn Hyun-Jung Wang auf roten High Heels ein Solo mit Bewegungsmaterial von Hip-Hop und zeitgenössischem Tanz macht, das gleichzeitig verführerisch, machohaft und feminin ist, auf jeden Fall sehr außergewöhnlich für Breakdance aufgrund der Schuhe (ein Vorschlag von Constanza). Oder aber eine Tänzerin referiert über die reinen und unreinen Seiten des Körpers: „The separation of the body into pure and impure zones, means that the body generates a repulsive impulse within a person. That person becomes alienated from their own body.“ Oder Tatiana erklärt, dass wir mittlerweile in einer No-Age-Gesellschaft leben und aus der Pubertät gar nicht mehr heraus kommen würden. Das ist ver-

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bunden mit Konsumkritik: Jungsein definiert sich dadurch, dass man die auf die jugendliche Zielgruppe zugeschnittenen Waren konsumiert. „Adolescence is a time of crisis. This idea, this thesis, is just legitimising the possibility of a social control. For instance, in places like Samoa, there is no such thing as an ‚adolescence crisis‘. Very early on, they start to get responsibility in the community. From childhood to adulthood non-stop. Nowadays, we are stuck in a no-age-land. One of the only clear social functions we serve is consuming the products made for our ages. But what age? Adolescence lasts longer and longer and ends who knows when. As soon as we consume the youth culture products, we feel safe.“

„Hell on Earth“

Foto: © Thomas Aurin

Für die Schlussszene benutzten wir einige Sätze aus FIGHT CLUB, die von den Jugendlichen einzeln und zusammen gesprochen werden, um sowohl das Milieu, dem sie größtenteils entstammen, mit seinen klassischen Berufsperspektiven (Koch, Putzfrau, Mechaniker etc.) zu umschreiben sowie ihr Gefühl der Stärke, wenn sie als Gruppe auftreten: „We do your laundry. And clean your houses. We cook your food and serve your dinner. We make your bed.

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We guard you while you sleep. We fix your cars. We direct your calls. We are cooks. And taxi drivers. And we know everything about you. We control every part of your life. So don’t fuck with us.“

In beiden Stücken mit Kindern und Jugendlichen, Scratch Neukölln und Hell on Earth, zeigt sich die Fähigkeit einer Constanza Macras, gefundene Geschichten, Milieuskizzen und biographische Schnipsel auf spielerische Art und Weise zusammen zu bringen. Ihre Stilmittel sind ein Mix aus Popkultur, TheorieEinsprengseln, choreographierten Szenen und Momenten echten Gefühls. Dieser Mix entspricht den Akteuren auf der Bühne, deren Selbstverständnis sich aus den unterschiedlichsten Kulturen ganz selbstverständlich zusammensetzt. Bleibt abzuwarten, wie es mit ihnen weiter geht.

Mit Kindern arbeiten S ANDRA S TRUNZ

Proben, und zwar nicht in einem Probenraum, sondern draußen in der Natur – auf einer Wiese, im Wald, auf Wegen, in Büschen, auf einem toten Baum, im Geäst! Das Bühnenbild verändert sich durch Temperatur und Jahreszeiten, der Bauer mäht die Wiese, ein Kieshügel wird aufgeschüttet, eine Pfütze entsteht und vertrocknet, gefällte Bäume versperren das Bild und somit die Probebühne. Dies zwingt uns, neue Möglichkeiten zu suchen, neue Räume zu entdecken. Keine vordefinierten Requisiten helfen bei der Entwicklung oder Deutung des Dargestellten, aber die vielschichtige Bedeutung und Verwendbarkeit eines Tannenzapfens wird entdeckt. Es gibt in keinem Moment einen gebauten Bühnenraum. Der Wald als Bühne, der Wald als Spielort, ein Ort, der Phantasien vorantreibt und aufblühen lässt. Der Wald als widerborstiges, nasses, kaltes, windiges, dann wieder überhitztes und vermücktes Gegenüber. Eine Schule in Zürich, die nach dem alten Dorfschulprinzip funktioniert: Die Schüler sind unterschiedlichen Alters (zwischen sieben und 13 Jahren) und werden gemeinsam in einem Klassenraum unterrichtet. Die Gesamtzahl der Schüler beläuft sich auf nur 15 Kinder. Einen Tag in der Woche verbringt die „Schule am Wald“ im Wald. Und innerhalb eines Quartals findet an diesen Waldtagen eine Theaterarbeit statt. Der erste Tag beginnt damit, dass das Buch, die jeweilige Geschichte, die wir im Laufe der nächsten Monate erspielen werden, vorgelesen wird. Es ist April, am Morgen ist es noch recht kühl im Wald. Nach etwa 20 Minuten beginnen wir über das Gelesene, das Gehörte zu sprechen. Wenn Fragen auftauchen, erklären die Größeren den Kleineren komplexere Zusammenhänge, Details werden erörtert, das Liebgewonnene aus dem Text wird benannt und gepriesen. Worum geht es? Gut und Böse, Angst und Mut, Macht und Ohnmacht. Im Gespräch gilt es

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herauszufinden, wo das Interesse der Kinder an dieser Geschichte liegt: wo berührt es sie, wo trifft es eigene Nöte, Ängste, Träume und Sehnsüchte? Anschließend müssen sich die leicht angefrorenen Körper bewegen dürfen, es folgen Theaterübungen, Bewegung, Spiele, Atemübungen etc. Dies und das aus dem klassischen Repertoire der Theaterpädagogik. Wenn alle einmal durchgelockert, wach und bereit sind, bilden sich nach Gutdünken der Kinder kleine Arbeits- respektive Spielgruppen. Das „Wer will mit wem?“ regelt sich meist von alleine. Wenn sich die Teams in ihrer Zusammensetzung zu wiederholen beginnen, was aber selten vorkommt, durchmische ich die Gruppen nach verschiedenen Parametern wie Alter, Geschlecht, Stärken der Beteiligten etc. Ich gebe den Kindern etwa 20 Minuten Zeit und lasse sie selbstständig, ganz ohne mich, eine Szene aus dem vorgelesenen Text entwickeln. Einige Wochen nach Arbeitsbeginn, wenn wir schon weiter fortgeschritten sind, können sie auch eine beliebige Szene aus dem Buch nachspielen oder Szenen erfinden, die nur von dem Buch inspiriert sind, aber einen weiteren Aspekt der Geschichte darstellen, der vielleicht gar nicht in der literarischen Vorlage erwähnt ist. Es geht in diesem Zeitraum um die spielerische Annäherung an die Geschichte, die Figuren, die Situation, die Spannungen. Und es geht um die Frage: Welchen Platz findet jedes Kind in dieser fiktiven Welt? Wie machen sich die Beteiligten den Stoff zu eigen, führen ihn an sich heran, suchen Abstand und Identifikation? Die Vorgaben, die für diese ungefähr 20-minütige eigenverantwortliche Probenarbeit bestehen, können sehr divergieren: Manchmal gibt es gar keine, ein anderes Mal dürfen die Kinder nur eine Phantasiesprache benutzen, manchmal eigene Texte, und wieder ein anders Mal soll es wortlos sein. Hin und wieder müssen sie die Figuren einander vorstellen, körperlich oder verbal, dabei kann dann der „Tanz der Zwerge“, eine „Kampfszene“ oder auch eine Art „Castingshow“ herauskommen. Viele Aspekte, Facetten der Vorlage sollen so herausgefunden, erforscht und erspielt werden. Die Proben verlaufen in dieser Phase wirklich selbstständig, meist ganz ohne Anleitung und Intervention. Ich greife eigentlich nur ein, wenn es Konflikte gibt, was selten auftaucht, oder wenn es Blockaden gibt und eine Gruppe nicht weiterkommt. Die Ergebnisse sind sehr unterschiedlich: Manchmal erarbeiten die Kinder sehr komplexe Abläufe und Handlungen, dann wieder sind es ausgeschmückte Nebenstränge der Geschichte. Zu Beginn einer solchen eigenverantwortlichen Probensequenz müssen sich die Kinder besprechen: Was wollen wir proben, was wollen wir zeigen, welchen Ausschnitt wählen wir, wer spielt wen, ist jemand Erzähler, wer muss mehrere

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Rollen übernehmen? Alles Fragen, die sie im Gespräch selbstständig klären müssen und die zu einer hohen Identifikation mit ihrer Arbeit führt. Was ist, wenn in der Gruppe nur Jungen sind, sie aber die Sequenz ausprobieren wollen, in der Ronja Räubertochter (aus dem gleichnamigen Buch von Astrid Lindgren) ihre Mutter trifft? Welcher Junge spielt dann Ronja? Wer spielt Lovis, Ronjas Mutter? Nach meinen Erfahrungen sind diese Fragen nicht wirklich konflikthaft. Innerhalb des Spiels, in Verschmelzung mit einer Figur scheinen diese geschlechtsspezifischen Fragen weniger relevant zu sein. Manchmal verschwindet diese Thematik vollends und immer wieder beobachte ich, wie sich auch die Jungen im Verlauf der Proben darauf einlassen können, manchmal sogar großen Spaß und Selbstverständlichkeit daran entwickeln können, ein Mädchen dazustellen. Wir haben auch schon Szenen geprobt, in denen alle Jungen Mädchen und alle Mädchen Jungen spielen mussten, mit großer Freude. Ich halte diesen eigenständigen Prozess des Sich-Einigens – was spielen wir wie? – für sehr zentral in meiner Arbeit. Es ist ein maximaler Freiraum für die Kinder zur Entwicklung eigener Kreativität und Phantasie. Wenn dann alle Gruppen (je zwei bis fünf Spieler) einen bestimmten vorzeigbaren Status ihrer Arbeit erreicht haben, kommen wir wieder zusammen und jede Gruppe spielt den anderen ihre erprobte Szene vor. Anschließend wird über das Gesehene und Gehörte gesprochen. Dafür haben sich folgende Regeln als gut erwiesen. Es wird grundsätzlich erst einmal beschrieben: Was habe ich erkannt, gesehen, was wurde gespielt? Danach benennen die Kinder, was ihnen besonders gut gefallen hat, und beschreiben, was sie eventuell anders machen würden oder welche Empfehlungen sie für eine Weiterarbeit geben können. Die Kinder haben schnell gelernt, auf sehr hohem Niveau über die Darstellungen zu sprechen, sehr genau zu beschreiben und weder zu entwerten noch zu verletzen. Im Laufe des Prozesses schult sich die Wahrnehmung der Kinder, sie beginnen differenzierter zu betrachten. Neue und andere Auseinandersetzungen beginnen. Warum interessiert mich das Dargestellte, welche Mittel wurden gewählt, was ist Humor, wie transportiert sich eine Geschichte, wie wird eine Figur lebendig? Was ist ausdrucksstark? Was ist eine Figur? Wie habe ich mir die Figur vorgestellt, wie stellt sie der andere da? Nach den Vorführungen und Gesprächen haben die Kinder oft noch Zeit, ihre Szenen zu überarbeiten und noch einmal zu zeigen. Wenn es nicht viel zu verändern gibt, wir schon lange an der einen Sache gearbeitet haben oder Ungeduld sich breit macht, beginnen wir auch mit neuen Szenen, Aufgaben, Konstellationen.

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Den Ablauf entscheide ich immer spontan und intuitiv aus der Situation heraus. Was wäre jetzt gut? Weiter an konkreten Szene zu arbeiten oder Bewegungsabläufe, Choreographien, Atmosphären, Spiele etc. zu suchen? Auch Choreographien erarbeite ich weitestgehend nach diesem Prinzip. Eine Gruppe von Kinder denkt sich etwas aus, wir besprechen es, verbessern es und dann bringen es die Gruppenmitglieder den anderen bei. Über mehrere Wochen ist das der Arbeitsprozess. Es ist nur eine Annäherung an den Stoff, und doch wird dabei sehr viel Material generiert. Rund zwei Wochen vor der Aufführung kommt der Punkt, an dem auf Basis der Probenresultate eine Spielfassung aus dem Buch erstellt wird. Das heißt, dass aus der literarischen Vorlage und den Improvisationsergebnissen der Kinder ein Text erstellt wird. Texte aus dem Buch und Texte aus den praktischen Übungen der Kinder werden zu einer verbindlichen Vorlage zusammen geschrieben. Gleichzeitig werden die definitiven Orte festgelegt, an denen die Szenen spielen. Bis dahin spielten die Szenen an unterschiedlichen Orten, abhängig von der Konstellation der Beteiligten, der Wetterlage bzw. welchen Platz im Wald wir zum Proben aufgesucht haben. Nun finden wir für jede Szene einen bestimmten Platz. Je nach Atmosphäre und szenisch-spezifischen Bedürfnisse kann das zum Beispiel eine Lichtung, ein Kieshügel oder ein toter Baum sein. Ziel ist es, eine ein bis zwei Kilometer lange Route zu finden, auf der an verschiedenen Orten ein Teil des Stückes (eine Szene) gezeigt werden kann. Das gleiche Probenprinzip, welches ich vorher auf das Buch angewandt habe, nutze ich nun für das Skript: Wir lesen die Szenen und die Kinder spielen sie nach, ohne aber den Text gelernt zu haben. Durch die konkreten Szenen sind sie gezwungen, fokussierter zu arbeiten, und die Handlungen werden vorangetrieben. Die Rollenverteilung geschieht erst im letzten Schritt. In den vorausgegangenen Entwicklungsphasen hat sich heraus kristallisiert, wer welche Rolle gerne spielen würde, und auch, wer was gut spielen kann. Ich wäge dann ab, für wen es wichtig wäre, zu diesem Zeitpunkt eine Hauptrolle zu spielen, und wer gerade in seiner Entwicklung wo steht (hierbei bespreche ich mich auch mit den beiden Schulleiterinnen). Aber natürlich gibt es auch Überlegungen zum Stück, klassische Besetzungsmotivationen, das „Wie kann es besonders gut werden?“. Nach der Besetzung werden die Texte gelernt und meine gestalterische Tätigkeit beginnt. Ich fange an, die Proben stärker zu leiten, die Szenen auf bestimmte inhaltliche und künstlerische Punkte hin zu führen. Die Grundlage bleibt aber das, was die Kinder in den letzten Wochen erarbeitet haben. Die Hauptrollen werden grundsätzlich mehrfach besetzt, damit die Unterschiede zwischen großen und kleinen Rollen nicht so stark dimensioniert sind.

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Wenn die Rollenverteilung feststeht und der Text gelernt wird, befinden wir uns im Grunde schon in den Endproben und kurz vor den Aufführungen. Die eigentlichen Szenen in der Besetzung, wie sie dann zur Aufführung kommen, werden gar nicht so oft geprobt, da sie in ihrem Wesen schon lange erarbeitet und erfasst wurden. Stärker durch mich geleitet wird die Montage, also das Aneinanderhängen der Szenen, die Übergänge, der Verlauf, die Gestaltung einer komplexen Vorstellung – im Gegensatz zum Erarbeiten der Szenen, dem Erfinden der Charaktere, dem Bestimmen des Bühnen-/Waldraumes, was hauptsächlich in den Händen der Kinder liegt. Bislang sind die Aufführungen immer mit einer Art Wanderung verbunden gewesen. Die Szenen spielen an verschiedenen Orten, einer vorwärts laufenden Drehbühne sozusagen. Wir arbeiten ohne ein von uns erstelltes Bühnenbild, aber integrieren im Wald stehende Weidenhütten oder umgestürzte Bäume, die Orte definieren und Atmosphären gestalten. Dass die Proben und die Aufführungen in der Natur stattfinden, hat sich daraus ergeben, dass ich keine Lust hatte, mit den Kindern in geschlossenen Räumen zu arbeiten. Ich stellte mir dies beengt und laut vor und verbringe außerdem als Regisseurin schon genug Zeit in dunklen Räumen. Meine Entscheidung bewährte sich: Die Konzentrationspanne der Kinder ist hoch in der Natur und die Möglichkeiten des Rückzugs und auch des Pausenspiels erleichtern und bereichern die Arbeit sehr. Ich kann mit der einen Gruppe arbeiten, während die andere gleichzeitig im Gebüsch eine Szene probt und die dritte im nächsten Winkel spielt. Wie sehr dieses „draußen Proben“ das Arbeits- und das künstlerische Prinzip bestimmen würde, hat sich erst im Nachhinein herausgestellt. Es sind fast inszenierte Wanderungen, die am Ende dabei heraus kommen: Aus allen Winkeln des Waldes können plötzlich Kinder hervor kommen und eine Szene nimmt ihren Lauf. Wenn ich früher gebeten wurde, meine Arbeit mit Schauspielern zu beschreiben, habe ich das oft mit dem Beobachten von Kindern auf einem Spielplatz verglichen. Im Sinne eines Versuchs, die Spieler in einen Zustand zu bringen, in dem es eine Art selbstverlorenes Spiel gibt, eine Vertiefung, eine Selbstvergessenheit, in der andere, unkontrollierbare Arten der Kreativität freigesetzt werden. Proben als Spielwiese. Und so arbeite ich auch mit den Kindern. Es geht eigentlich darum, sie in ihrer Spielwelt möglichst wenig zu stören, d. h. zu lenken oder zu

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formen. Ziel ist es, durch einen Text ihre eigene Spielfreude zu inspirieren, auf bestimmte Inhalte zu fokussieren und diesen dann ein Plateau zu geben. Der Kaiser nach dem Ende der Schlacht und Tengilritter aus „Die Brüder Löwenherz“

Fotos: © Luca de Lusi

Ich glaube, das Wesentliche an dieser Arbeitsweise ist, dass die Kinder aus sich selbst heraus so viele Welten erfinden können, da wir nicht mit einem Stück, nicht mit Texten und nicht mit festgelegten Rollen beginnen. Im Gegenteil kommt all das gerade erst ganz zum Schluss. Es ist das Versinken in der Geschichte, die sie auf so vielen Ebenen davonträgt, weit weg von der Idee einer fertigen Szene, eines Ablaufes oder gar einer Aufführung. Die Kinder entwikkeln so viel Kreativität, so viel Phantasie, dass viel Lebendiges entstehen kann und sie nicht am Ende wie kleine Roboter ferngesteuert ihren Text aufsagen. Die Geschichte dient zur Inspiration, das Eigene zu entdecken, um sich in das Eigene zu vertiefen. Der Wald als Mitspieler bietet nochmals viel: Requisiten, Objekte - ein Baum als Thron, als Versteck, als Wand, Äste als Schwerter, Baumrinde als Tablett, Rinde als Nahrung, Baumstämme als Liegen und Sitze, als Mauern und als Gräber. Aber es gibt auch zahlreiche Geräusche, die wiederum die Quelle neuer Ideen sind. Und es gibt Auftritts- und Abtrittsmöglichkeiten, zahlreiche Verstecke und geheime Orte, sodass der Raum selber zu einer starken Inspirationsquelle und erzählerischen Kraft wird.

In (Re-)Aktion – Vermitteln Eine Untersuchung kritischer Praxen der Kunstvermittlung S ARA O STERTAG Wir sind nicht gut, aber wir sind hier. CHRISTOF SCHLINGENSIEF

Der Begriff „Vermittlung“ fliegt als geflügeltes Wort seit einigen Jahren vermehrt durch die Kunst- und Kulturlandschaft. Vermittelt wird heute im Museum, im Theater, in der Schule, im Gemeinschaftszentrum, im Konzert und so weiter. Unter dem inflationär gebrauchten Begriff scheinen oft sehr unterschiedliche und widersprüchliche Konzepte, Modelle, Methoden und Zielsetzungen zusammengefasst zu werden. Aus meiner Perspektive gibt es ein wachsendes Bedürfnis nach Klärung grundlegender Begrifflichkeiten und, in weiterer Folge, nach der Evaluation von Methoden und Formatentwicklung. Unterschiedliche Vermittlungskonzepte wie Ateliers, Akademien, Workshops, offene Proben, work in progress, labs etc. werden in den unterschiedlichsten Kontexten praktiziert. Gleichzeitig wird auch ein Streben nach theoretischer Auseinandersetzung und der Formulierung künstlerischer Forschungsbegriffe hörbar und sichtbar. Was man jedoch genau unter (Kunst-)Vermittlung versteht, was ‚gelungene‘ Vermittlung ausmacht und was Qualität bzw. Nachhaltigkeit in der Vermittlung bedeuten können, bleibt oft vage und widersprüchlich. Was meinen wir also, wenn wir über Vermittlung sprechen? Ich intendiere an dieser Stelle, kollektives Denken über ästhetische – und methodische – Begrifflichkeiten und Prozessstrukturen, Werkbegriffe, Institutionen sowie die daran beteiligten Akteure anzustiften. Mir geht es um die Schaffung einer begrifflichen Basis zum Zweck des kollektiven Denkens, Sprechens und Handelns. Ich formu-

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liere im folgenden Text keine abgeschlossenen Ideen oder Dogmen, sondern Gedanken, die dazu einladen, weiter gedacht zu werden. Da dieser Text kurz bleiben soll, bilden meine Inputs nur Anstöße, die im Sinne Deleuzes (vgl. Sturm 2011) das erste Glied einer Kette oder Strukturbildung sein sollen, wobei stets Lücken des Nichtverstehens und des Störens innerhalb dieser Systeme offen gehalten werden sollen, anstatt sie zu verschließen. Ich möchte dazu im Speziellen auf die Kunstvermittlerin Carmen Mörsch und ihren Ansatz, Kunstvermittlung als kritische, situierte Praxis zu denken und zu praktizieren, eingehen. Außerdem beziehe ich mich auf den französischen Philosophen Jacques Rancière und seine Definition des Begriffs „Teilhabe“.

K LÄRUNGSVERSUCH 1 Kunstvermittlung als kritische Praxis Ein Definitionsversuch wäre es, Kunstvermittlung in erster Linie als ‚Kommunikationstool‘ zu bezeichnen. Als kulturpädagogisches und künstlerisches Praxisfeld schafft sie somit Bezüge zwischen Kunst, Musik, Performance und Rezipienten. Kunstvermittler agieren dabei meist als eine Art Bindeglied. Im besten Fall wird nach Strategien gesucht, die – abseits von gängigen pädagogischen Erläuterungsstrategien – den Prozess und auch das diesem Prozess inhärente Scheitern als produktives Material verstehen. Die Arbeit wird also nicht werkästhetisch – mit Blick auf das abgeschlossene Werk – begriffen, sondern von den Praktiken und Strategien der künstlerischen Produktion her. Der Prozess der Entstehung, die Phase der Untersuchung und die Fragen an das Tun an sich rücken hier ins Zentrum. Aber was passiert dann? Was entsteht aus dem Tun und darüber hinaus, und wovon ausgehend tun wir überhaupt? Sind Kunstvermittler tatsächlich ‚nur‘ Bindeglieder – Kommunikatoren zwischen etwas und etwas? Warum nicht über die Funktion der Kunstvermittlung als der Kunst zuarbeitendes Werkzeug hinausdenken? Warum nicht Vermittlungskunst anstatt Kunstvermittlung? Die Kunstvermittlerin Carmen Mörsch schafft mit ihrem Begriff der „kritischen Kunstvermittlung“ ein theoretisches Fundament für das Vorhaben, Vermittlungskunst zu praktizieren. Die Praxis der kritischen Kunstvermittlung bei Carmen Mörsch (2009: 9) basiert auf der Annahme, „Dritte einzuladen, um Kunst und ihre Institutionen für Bildungsprozesse zu nutzen: sie zu analysieren und zu befragen, zu dekonstruieren und gegebenenfalls zu verändern“. Mörschs Ansätze zu einer kritischen Kunstvermittlung in Praxis- und Theoriebildung sind in den

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letzten 30 Jahren unter unterschiedlichen Einflüssen wie kritischer Pädagogik, konstruktivistischer Lerntheorie, Psychoanalyse, Performativitätstheorie, Dekonstruktion, Poststrukturalismus, Cultural Studies, postkolonialer, feministischer und queer-Theorie gewachsen (vgl. ebd.: 20).1 Mörsch beschreibt vier gegenwärtige Diskurse der Kunstvermittlung aus institutioneller Perspektive: den affirmativen, den reproduktiven, den dekonstruktiven und den transformativen Diskurs. Die Rolle der Institution übernimmt in ihren Ausführungen das Museum (die Begrifflichkeiten sind jedoch sehr gut auf Institutionen wie Theater, Schulen, Konzertsäle und andere kulturelle Einrichtungen zu übertragen). Die vier Diskurse seien weder hierarchisch noch streng chronologisch gereiht, in der gegenwärtigen Vermittlungspraxis seien meist mehrere gleichzeitig in Anwendung. Laut Mörsch werden jedoch meistens affirmative und reproduktive Vermittlungspraxen praktiziert. Im affirmativen und reproduktiven Diskurs ist die Position von Lehrenden und Lernenden statisch. Es gibt klare vordefinierte Ziele, was in welchem Rahmen gelernt werden soll. Es wird nicht von einem selbstreflexiven Bildungsbegriff ausgegangen, sondern vornehmlich sogenannte „Hochkultur“ vermittelt und reproduziert, ohne diese dabei zu befragen. Außerdem geht es darum, das „Publikum von morgen“ heran zu bilden, ohne dabei die vermittelten Inhalte oder die Strategien der Bildungspraxis zur Diskussion zu stellen. Der dekonstruktive und der transformative Diskurs verfolgen einen selbstreflexiven Bildungsbegriff. Dies bedeutet, dass Bildung als solche sowie die beteiligten Institutionen verhandelbar werden.

K LÄRUNGSVERSUCH 2 Kunstvermittlung als Fortsetzung von Kunst Dieser Ansatz beschreibt den Versuch, sich methodisch und strukturell an dem Gegenstand der Vermittlung, ‚der Kunst‘ selbst, auszurichten. Zum Beispiel skizziert die Kunstvermittlerin Eva Sturm (2011) in der Publikation Von Kunst aus ein Modell der Kunstvermittlung, das mit dem theoretischen Werkzeug von Giles Deleuze arbeitet: „Bildungsprozesse, die kunstnah agieren [...], die sich politisch verstehen im Sinne einer dekonstruktiven Herangehensweise an Wirklichkeit, die den Widerstreit hochhalten und

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Auf den detaillierten gesellschaftspolitischen und kunsttheoretischen Entwicklungsprozess des Begriffes kann in diesem Text jedoch nicht näher eingegangen werden.

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die bei all dem die Einsicht in die eigene Bedingtheit und die Begrenztheit, in die eigene ‚Konstruiertheit‘ vermitteln“ (Sturm 2011: Klappentext).

Mörsch zeichnet kritische Kunstvermittlungspraxen als eine selbstreflexive und situierte Praxis, die darauf abzielt, Machtverhältnisse zu erkennen, zu benennen und bestenfalls zu transformieren. Es gilt, Werkzeuge zu entwickeln, um gemeinsam mit den teilhabenden Subjekten Gegenerzählungen zu formulieren, um dominante Narrative zu unterbrechen und zu stören. Momente des Störens und Unterbrechens von Narrativen – wie zum Beispiel einer Ausstellung – werden als elementare Momente beschrieben. Im Sinne einer Kunst des Handelns (vgl. de Certeau 1988) kann somit Bestehendes umcodiert werden. Innerhalb der Praxis werden die Institutionen mit deren Außen, ihren lokalen und geopolitischen Kontexten verknüpft. Die Erwartungshaltung dieser Praxis an ihre kontext- und situationsbedingten Adressaten und Akteure ist der Wille und die Offenheit für Teilhabe an einer kritischen Aneignung von und Arbeit mit Kunst und ihren Institutionen. Die diesem Diskurs inhärente Bildungsabsicht ist Förderung von kritik- und handlungsorientierter Selbstermächtigung. Das methodische Instrumentarium orientiert sich dabei an Methoden künstlerischer Verfahrensweisen und Strategien des Aktivismus. Essenziell dabei ist, dass die Vermittlungsarbeit in diesem Kontext als solche zu einer künstlerischen Intervention werden kann (vgl. Mörsch 2009: 9 ff.): Kunst in (Re-)Aktion auf Kunst. „Die Praxis der kritischen Kunstvermittlung begreift die Institution oder institutionelle Anordnung selbst nicht als statisch. Sie interessiert sich für die Arbeit mit eben diesen Lücken und Leerstellen, Zwischenräumen und Widersprüchen, welche die Räume und Displays der Institutionen – zum Beispiel Ausstellungsräume, Galerien, Theater – produzieren.“ (Mörsch 2009: 13 ff.)

K LÄRUNGSVERSUCH 3 Kreative Teilhabe – Hilfe zur Selbsthilfe „Im Sinne Jacques Rancières können Handlungsweisen, jenseits von agitatorischen oder pädagogisch aufklärerischen Absichten, dann als politisch angesehen werden, wenn sie von einer etablierten Ordnung der ‚Aufteilung des Sinnlichen‘ ausgehen – einer Aufteilung von Orten, Zugangsberechtigungen, Festlegungen von Exklusionen und Inklusionen – und diese in Frage stellen, deregulieren und ihr Neuverteilungen entgegensetzen.“ (Hentschel 2010: 12)

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Rancière beschreibt die Aufgabe einer kritischen Kunst als eine Auseinandersetzung mit den bestehenden Verhältnissen. Im Prozess künstlerischer Teilhabe sollen Verhältnisse erkannt und sichtbar gemacht, nicht jedoch reproduziert werden. Das Verhältnis zwischen Lehrenden und Lernenden wird als gleichberechtigt verstanden. Es geht nicht um einen Wissenstransfer von Wissenden zu Unwissenden und eine (Re-)Produktion von mess- und überprüfbarem Wissen, sondern um die Begegnung zweier Intelligenzen auf gleicher Ebene, wodurch soziale Hierarchien und Machtverhältnisse von Grund auf gegenstandslos werden können. Die sozialen Verhältnisse sollen daher nicht repräsentiert und vorgeführt werden, sondern in einem, durch künstlerische Strategien geformtem, Gegenentwurf dekonstruiert oder transformiert werden. Gegenerzählungen zu eben diesen bestehenden Narrativen werden durch die Umverteilung künstlerischen Kapitals (im Sinne Bourdieus) zu Gunsten marginalisierter Minderheiten produziert. Teilhabe an den Verteilungsprozessen des Sinnlichen, an den Hierarchien der sozialen Ordnung, an der Zuordnung von Plätzen, Räumen und Lebensrhythmen, ist der erste Schritt zu Gleichheit im Sinne Rancières (2006). Gleichheit bedeutet bei ihm, dass alle an der Konstruktion eines Systems teilhabenden Subjekte auf sozialer, politischer und kultureller Ebene in gleichem Maße sichtbar sind und gehört werden. Weitergefragt – Bei Vermittlungsprojekten, sei es im Bereich der Bildenden Kunst, der Musik oder des Theaters, muss es daher immer auch um den Entwurf und die Definition von Bildungsbegriffen gehen. Wie können Bildungsbegriffe vor dem Hintergrund von Mörsch und Rancière konstruiert werden? Wer sind in diesen Bildungsprozessen die Lehrenden und wer die Lernenden? Was für Subjekte sollen aus diesen Bildungspraxen hervorgehen und mit was für einem Handlungsbegriff sollen sie ausgestattet werden? Carmen Mörsch fragt in der Publikation Urbanes Lernen: „Sollen es tatsächlich Subjekte sein, die über eine gestalterische Selbstverwirklichung hinaus die beschriebenen Geschehnisse zu analysieren und sich gegebenenfalls kritisch dazu positionieren in der Lage sind? Die möglicherweise sogar Lust darauf haben, ihnen mit widerständigen Praktiken zu begegnen?“ (Mörsch 2010: 12)

Relevant dabei ist, dass alle Akteure am Lernen beteiligt sind. Es werden Methoden und Strategien entwickelt, das Herausgefundene und Gelernte für sie

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selbst nützlich zu machen, was auch immer das für jeden und jede Einzelne heißt. Künstler, Vermittler und Pädagogen dürfen sich jedoch in diesem Prozess nicht als paternalistische Sprecher sehen, sondern sollen sich auf Augenhöhe begegnen. Diese Art, Bildung zu denken, bedeutet, emanzipierte Intelligenz jenseits der Reproduktion von Wissen zu schaffen. Es wird die Möglichkeit eröffnet, Reproduktionsprozesse gegebener Machtstrukturen zu unterbrechen, zu dekonstruieren und davon ausgehend Gegenerzählungen zu starten (vgl. Mörsch 2009: 13 ff.). In meiner eigenen künstlerischen Praxis sind es diese Momente der Gestaltung von Prozessen, die mich oft stolpern lassen und ins Stottern bringen. Dieses Stolpern und Stottern empfinde ich als die produktivsten Momente in meiner Arbeit – Lücken, in denen nicht Wissen, sondern Fragen entstehen.

K LÄRUNGSVERSUCH 4 Kunstvermittlung als widerständige Bildungspraxis Gemeinsam haben die von Mörsch und Rancière eröffneten Diskurse, dass sie danach streben, emanzipierte Subjekte zu bilden, die in der Lage sind, die eigene Position innerhalb der gesellschaftsbildenden Machtverhältnisse zu erkennen, zu befragen und, im besten Falle, durch eigenes Handeln zu transformieren. Rancière und Mörsch zielen darauf ab, Handlungs- und Denkstrategien für bildende, widerständige Praxen zu konstruieren. Beide beschreiben Teilhabe als Basis der Prozesse sozialer, differenzieller Raumproduktion, die im Sinne Rancières eine Strategie zur Neuerteilung des Sinnlichen sein kann. Es geht in den von Carmen Mörsch und Jacques Rancière eröffneten Diskursen um kritische Gesellschaftsbildung. Beide fordern in diesem Kontext ein, dass dem Prozess kritischer Gesellschaftsbildung die Formulierung eines Bildungsbegriffes immanent sein muss. Entsprechend der Gedanken Rancières gilt es, Räume zu schaffen, in denen Gleichheit herrscht, Macht transferiert wird und neue dynamische Verhältnisse geschaffen werden. Dieses Herstellen von Räumen und somit das Eröffnen eines Handlungs-Spielraumes kann die Aufgabe von Kunstvermittlern sein. Sie werden zu Partnern, die ihre Vorerfahrungen produktiv nutzbar machen, die Methoden und Themen vorschlagen, Kontexte schaffen, Fragen stellen und Strategien entwickeln. Mit Mörsch gedacht, zielen diese kritisch-künstlerischen Vermittlungsstrategien im Sinne einer Kunst des Handelns auf Emanzipation des Subjekts und Hilfe zur Selbsthilfe ab.

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Es werden Prozesse angestiftet, die nicht auf ein vordefiniertes Ziel hin gedacht sind, sondern den Prozess als solches vor das Produkt stellen. Es geht um ein InBeziehung-Setzen von Dingen und Individuen, um das Weiterspinnen von Ideen, das Wahrnehmen von Zusammenhängen, das Vernetzen, Dekonstruieren und Neu-Denken. Der Wunsch wäre die Förderung eines ‚Denkens ohne Schranken‘ und – davon ausgehend – die Entwicklung von Praxis, die dem Imaginären und Utopischen in der Kunst keine Grenzen setzt.

P RAXISVERSUCH Überführung in die eigene Praxis Im folgenden Abschnitt gehe ich auf die Entwicklung eines eigenen Projektes mit der Gruppe makemake produktionen und dem neu entstandenen Haus für Community-Art, „Der Hundsturm“ in Wien im fünften Gemeindebezirk, ein. In der Verbindung von Theorie und Praxis als methodischer Versuchsanordnung des Spielens gräbt die freie Theatergruppe makemake produktionen Theaterräume und Stadtraum um. „Wir sehen das Urbane als eine vollkommen andere Kategorie, eine Praxis und eine Art zu denken, im Gegensatz zum Politischen, dem Staat, und nicht identisch mit dem Demokratischen, und auch im Gegensatz zur einheitlichen künstlerischen Vision. Die Stadt ist eine Akkumulation von Unterschieden, und das Unerwartete lauert hinter jeder Ecke. Einfach ausgedrückt, eine Stadt, in der zu leben es sich lohnt, ist ein Ort der Widersprüche, die nebeneinander leben, sich auftürmen und potentiell endlos weiter wachsen.“ (Schäfer 2004)

Vermittlung spielt eine zentrale Rolle in der Arbeit von makemake und ist integraler Bestandteil unseres Tuns. makemake produktionen ist ein Langzeitprojekt von unterschiedlichen Künstlern, 2009 in Wien als eine Plattform für performatives Zusammenarbeiten gegründet und zusammengesetzt aus einem festen Kern von Künstlern, die gemeinsam an einer spartenübergreifenden, kritisch künstlerischen Praxis arbeiten. Inspiriert von unserem kollektiven und interdisziplinären Schaffen bewegt sich auch unsere Vermittlungsarbeit zwischen verschiedensten Formaten, Kunstsparten und Kontexten. Wir lassen unterschiedliche Methoden und Ansätze ineinanderfließen und kreieren daraus neue Strategien und Modelle, die uns in Anbetracht aktueller sozialer, gesellschaftlicher und stadtpolitischer Entwicklungen sinnvoll erscheinen.

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Wir befragen dazu gegenwärtige Diskurse der Vermittlung und überprüfen sie ob ihrer Relevanz. Theorie und Praxis beeinflussen sich und stehen dabei in ständiger Wechselwirkung, um daraus neue Versuchsanordnungen und Strategien entstehen zu lassen, die sich selbst als künstlerische Interventionen verstehen. makemake agiert dabei als Schnittstelle zwischen Kunstproduktion und Vermittlungsarbeit und spricht damit Menschen unterschiedlichsten Alters an, wobei unser Schwerpunkt auf der Entwicklung von Vermittlungsformaten für Kinder und Jugendlichen liegt. „Der Hundsturm bellt!“ (2013)

Foto: © makemake produktionen

Was also tun? Das Projekt Der Hundsturm bellt! von makemake produktionen ist ein spartenübergreifendes Stadtforschungsprojekt, das an der Schnittstelle von Wissenschaft und Kunst agiert und im Februar und März 2013 stattfand. Es ist in drei Phasen gegliedert: ein Atelierformat für Kinder und Jugendliche von zehn bis 18 Jahren, eine Veranstaltungsreihe zum Thema Stadtforschung und ein abschließendes Showing. Das Atelierformat ist ein Forschungs-Labor, in dem Kinder und Jugendliche auf Wissenschaftler und Künstler treffen, um gleichberechtigt Stadtforschung zu betreiben. In fünf Ateliers wird die Stadt aus unterschiedlichen Perspektiven untersucht; es wird überlegt, was verändert werden soll, was gebraucht wird, was

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fehlt. Ziel ist, dass in den Ateliers Visionen, Baupläne und Ideen zur Veränderung der Stadt und im speziellen des fünften Wiener Gemeindebezirkes, wo sich „Der Hundsturm“ befindet, entstehen. Die entstandenen Visionen und Vorhaben werden im Anschluss von einer Gruppe Jugendlicher und Künstler einen Monat lang in die Realität umgesetzt. Es geht dabei darum, den Jugendlichen zu assistieren, eigene Ideen und Entwürfe vom ersten Gedanken bis zur fertigen Umsetzung ‚durchzuziehen‘. Diese Umsetzungsphase im März ist flankiert von unterschiedlichen öffentlichen Veranstaltungen zum Thema Stadtforschung. Ziel ist es, ein möglichst diverses Publikum für diese Veranstaltungen zu generieren und Interesse für die Projekte der Jugendlichen zu wecken. Anrainer und Interessierte sollen – wenn möglich – in die Entstehung der Projekte involviert werden. Am Ende des Monats gibt es eine öffentliche dreitägige Begehung und Bespielung der umgesetzten Projekte. In Form von Stadttouren werden die Projekte vorgestellt. Akteure und Spielfeld urbaner Praxis – Warum mit Jugendlichen Stadt umgraben? Die Stadt ist ein Raum, in dem sich unzählige gesellschaftspolitische Konflikte und Diskurse manifestieren – sie stellt für uns die Basis für künstlerisches Denken, Fragen und Handeln dar. In der Stadt spiegelt sich der Jetzt-Zustand einer Gesellschaft wider. Stadtraum ist ein Netz alltäglicher Weg-, Handlungs- und Wahrnehmungsweisen sowie sozialer, kultureller Gegeben- und Gewordenheiten. Ein dynamischer Raum, in den Geschichten eingeschrieben werden und umgekehrt. Stadt ist eine Folie, auf der Kunstschaffende Ideen und Fragen generieren können. Stadt ist ein Spielfeld, das sich durch sehr klare und gleichzeitig vollkommen undurchschaubare Regelwerke konstruiert. Wer darf in der Stadt sichtbar sein, wer nicht? Wer darf sprechen, wer nicht? Wer bekommt Raum, wem wird dieser genommen? Wer sind die Akteure und warum? Welche Spielregeln herrschen und wer darf spielen? Wie verweben sich diese Netzwerke aus der Sicht von jungen Menschen? Die Stadt ist eine Kartographie sozialer Zustände. Jugendliche befinden sich in ständiger De- und Rekonstruktion fremder und eigener Räume, weshalb es interessant ist, diese (un-)sichtbaren Vernetzungen in einer kollektiv konstruierten, urbanen Praxis sichtbar und erfahrbar zu machen. Das gewonnene Wissen soll dabei für alle zugänglich gemacht werden, um Stadtraum als Bildungsraum zu gewinnen.

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„Katt und Fredda“ (2012)

Foto: © makemake produktionen

Jugendliche halten sich im Entwerfen ihrer Ideen weniger an die Möglichkeiten der Umsetzbarkeit und Realisierbarkeit. Jugendliche entdecken Möglichkeiten und phantasieren Optionen, die ergebnis- und produktorientierten Erwachsenen in ihrem Umsetzbarkeitsstreben eventuell gar nicht erst in den Sinn gekommen wären oder deren Entstehung bereits im gedanklichen Keim erstickt worden wäre. Jugendliche artikulieren Möglichkeiten, die Raum nehmen. Dazu müssen ihnen Räume überantwortet werden. Ein weiterer relevanter Punkt bei der Entscheidung, mit Jugendlichen zu arbeiten, ist, dass die Bevölkerungsgruppe der sogenannten ‚Jugendlichen‘ im politischen Diskurs ein spannungsgeladenes Thema darstellt. Einerseits wird ein Zielgruppenbegriff etabliert bezüglich ‚der Kaufkraft, des Publikums und der Wähler von morgen‘, andererseits werden Jugendliche als politisches und soziales Problemfeld im Kontext von Ausbildungsplätzen und Arbeitslosigkeit diskutiert. Fakt ist, dass Jugendliche so gut wie nie in realpolitische Entscheidungsprozesse oder Planungsstrategien mit einbezogen werden, schreibt Steffen Schuhmann (zit. n. Mellier et al. 2010). Im Stadtraum stellen Jugendliche einen marginalisierten Teil der Öffentlichkeit dar, der ‚nirgendwo so wirklich sein darf‘, außer in der Schule oder an Konsumorten. Die Theoretikerin Marion Thuswald (2010) beschreibt als Herausgeberin des gleichnamigen Sammelbandes den Begriff des „Urbanen Lernens“. Urbanes

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Lernen beschäftigt sich mit öffentlichem Raum als Lernraum sowie mit Kunstvermittlung im öffentlichen Raum. Das Verständnis von öffentlichem Raum sowie die Bedingungen im öffentlichen Raum sind ständig in Bewegung. Davon ausgehend ergeben sich Fragen wie die folgenden: Wie nutzen junge Menschen im Prozess des Erwachsenwerdens öffentlichen Raum? Was und wie wird in diesem Raum gelernt? Welche Praxen entwickeln Jugendliche unterschiedlicher Communitys im öffentlichen Raum? Wie interveniert Kunst in den öffentlichen Raum und wie wird Kunst im öffentlichen Raum vermittelt? Thuswald weist in diesem Kontext auf die Notwendigkeit hin, die Mehrdeutigkeit künstlerischer Vorhaben sowie die Gefahr ihrer ökonomischen und politischen Instrumentalisierung kritisch zu analysieren. Am Ende dieses Ausfluges steht für mich die Zusammenführung generierter Gedanken, Erkenntnisse und Fragen. Diese Akkumulation von Wissen ist für mich das Eigene. Das Eigene ist auch das Fortsetzen von Wissen durch das Anstiften von Prozessen. Die Schaffung von etwas Eigenem ist auch immer das Produzieren, Formulieren und Umsetzen von Wünschen. Das Eigene ist das Besetzen und Schaffen von Raum mit Visionen und Utopien durch das Mobilisieren von Kräften, und Potenzialen. Und das gilt es zu tun.

L ITERATUR de Certeau, Michel (1988): Die Kunst des Handelns, Berlin: Merve. Hentschel, Ulrike (2010): Theaterspielen als ästhetische Bildung: Über einen Beitrag produktiven künstlerischen Gestaltens zur Selbstbildung. 3. Auflage, Milow: Schibri. Mellier, Anne-Laure/Blösl, Markus/Schuhmann, Steffen/Dobberstein, Tore/Achternkamp, Ursula/Hartwig, Brigitte/Kremer, Elisabeth/Veihelmann, Tina (2010): Fifty ways to change a city. Ein Resümee über zwei Wochen Sommerwerkstatt in Dessau, online unter www.bauhaus-dessau.de/Fifty-ways-tochange-a-city.html (Stand: 08.01.2014). Mörsch, Carmen (2009): „Am Kreuzungspunkt von vier Diskursen. Die documenta 12. Vermittlung zwischen Affirmation, Reproduktion, Dekonstruktion und Transformation“, in: Dies. (Hg.), Kunstvermittlung 2. Zwischen kritischer Praxis und Dienstleistung auf der documenta 12. Ergebnisse eines Forschungsprojekts, Zürich/Berlin: Diaphanes, S. 9-33. Mörsch, Carmen (2010): „Vorwort“, in: Thuswald, Urbanes Lernen, S. 10 ff.

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Rancière, Jacques (2006): Die Aufteilung des Sinnlichen. Die Politik der Kunst und ihre Paradoxien. Herausgegeben von Maria Muhle, Berlin: b_books/ Polipen. Titel der Originalausgabe 2000: „Le partage du sensible. Esthétique et politique“, Paris: La Fabrique Éditions. Schäfer, Christoph (2004): „Die Stadt ist ungeschrieben. Urbane Erfahrungen und Gedanken, durch Park Fiction gesehen“, in: Ralph Lindner/Christiane Mennicke/Silke Wagler/DresdenPostplatz (Hg.), Kunst im Stadtraum – Hegemonie und Öffentlichkeit, Berlin: b_books. Titel der Originalausgabe 2004: „The City is Unwritten. Urban Experiences and Thoughts seen through Park Fiction“, in: Brett Bloom/Ava Bromberg (Hg.), Making Their Own Plans, Chicago: White Walls, online unter www.park-fiction.net/the-city-isunwritten-urban-experiences-and-thoughts-seen-through-park-fiction/ (Stand: 08.01.2014). Sturm, Eva (2011): Von Kunst aus. Kunstvermittlung mit Gilles Deleuze, Wien/Berlin: Turia+Kant. Thuswald, Marion (Hg.) (2010): Urbanes Lernen. Bildung und Intervention im öffentlichen Raum (= Arts & Culture & Education, Band 4), Wien: Löcker.

Jugendliche als Kollaborationspartner G UDRUN L ANGE MIT C ARINA B ORGARDS UND A NNA E ITZEROTH

Das grundlegende Prinzip meiner Arbeit ist Kollaboration. Jeder Produktionsprozess lebt vom Verständnis, dem Austausch und der Meinung der involvierten Personen. Dadurch wird die Perspektive multipler, vollständiger und interessanter. So habe ich auch hier zwei meiner Kollaborationspartnerinnen eingeladen, diesen Text mit mir gemeinsam zu schreiben. Carina Borgards tanzte in den zwei Jugendproduktionen Emerging Merce und Josephine Superstar. Anna Eitzeroth begleitete als Dramaturgin für Kinder- und Jugendtheater des Forums Freies Theater (FFT) Düsseldorf diese Prozesse. Ich selbst arbeite als Choreographin und Tänzerin und entwickle seit 2004 Tanzperformances sowohl mit professionellen Künstlern als auch mit Jugendlichen.

„K UNST

MACHEN “ UND Gudrun Lange

„K UNST

GUCKEN “

Ausgangspunkt jedes Konzeptes ist eine Fragestellung, zu der ich etwas von den Jugendlichen erfahren möchte. Häufig gibt es darin schon einen formulierten Gegensatz. Das Stück affected by von 2009 basiert zum Beispiel auf meiner Beobachtung, dass viele junge Menschen coole Gesten inkorporiert haben. Was passiert also, wenn diese sich cool bewegenden Menschen mit einem uncoolen Medium wie dem Ausdruckstanz umgehen? Zwischen diesen beiden Polen entsteht dann im Prozess eine riesige Bandbreite, die im Stück sichtbar wird. Dafür erarbeite ich mit den Jugendlichen in den Proben eine Struktur, die allen Stimmen einen Raum gibt. Mir geht es darum, von den jungen Menschen zu er-

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fahren, wie sich etwas für sie anfühlt, wie sie etwas mit ihrem Körper artikulieren und wie sie über etwas denken, immer in Konfrontation mit meiner eigenen Position. Wichtig ist mir dabei, sie nicht von einer bestimmten Sichtweise oder Ästhetik zu überzeugen. In zwei Produktionen hat dieser Ansatz gut funktioniert. In affected by haben wir uns mit der Choreographie Affectos Humanos von Dore Hoyer beschäftigt, in der sie fünf Leidenschaften tanzt: Eitelkeit, Begierde, Hass, Angst, Liebe. Zu jedem Affekt entwickelte ich zusammen mit dem künstlerischen Team eine Choreographie, die sich mit dem Bewegungsmaterial von Hoyer in Bezug auf die jungen, sich cool bewegenden Körper beschäftigte und eine Szene, in der die jungen Leute selber einen Ausdruck für die Emotion gesucht haben. In der Produktion Emerging Merce arbeiteten wir über Merce Cunningham und untersuchten den Zufall als Kompositionsprinzip. Dabei sind sehr unterschiedliche Formen entstanden. In der Mitte des Stückes tauschte das künstlerische Team mit den Jugendlichen die Rollen und performte eine von den Tänzern für uns choreographierte Szene zum Zufall. Eine Sekunde aus „Emerging Merce“

Foto: © Oliver Paul

Häufig sind die Vorstellungen des künstlerischen Teams und der Jugendlichen, was Kunst und was Tanz ist, sehr unterschiedlich. Aus diesem Grund bin ich dazu übergegangen, die Probe in „Kunst machen“ und „Kunst gucken“ aufzuteilen. Das beruht primär nicht auf pädagogischen Absichten, sondern darauf, eine

L ANGE/B ORGARDS/E ITZEROTH : J UGENDLICHE ALS K OOPERATIONSPARTNER

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Grundlage für Gespräche und Reflexion über Tanz und Kunst und unsere gemeinsamen Proben zu schaffen. Dieses Prinzip funktioniert auf unterschiedlichen Ebenen sehr gut. Die Bühnenhaltung aller Beteiligten verändert sich durch das Gucken und Reflektieren. Die Gespräche bekommen eine andere Dimension, weil man nicht mehr nur über Geschmack redet. Die Gruppe formt sich durch die gemeinsamen Unternehmungen. Und die Jugendliche berichten von kleinen Kreativitätsschüben, indem sie selbst auch außerhalb der Proben künstlerisch aktiv werden. Auf der anderen Seite steigen an diesem Punkt (leider) auch immer wieder einige aus, deren Vorstellung von künstlerischer Arbeit diese Art der Auseinandersetzung nicht mit einbezieht. Mein Dank gilt dem FFT Düsseldorf, das mich in den vergangenen Jahren dazu eingeladen hat, diese Arbeitsschritte zu entwickeln.

T HEATER

ALS S PIEGEL DER Carina Borgards

W ELT

Bisher nahm ich an zwei Projekten von Gudrun Lange teil. Das erste Stück, das wir erarbeitet haben, war Josephine Superstar. Ich tanze und singe schon von klein auf, aber Josephine war das erste Theaterstück für mich. Die Arbeit an diesem Projekt begann mit einem einwöchigen Casting, welches weniger die Casting-Aspekte verkörperte, die man aus den üblichen TVSendungen kennt. Es gestaltete sich mehr als ein großes Kennenlernen untereinander und der Materie des Stückes. Von Anfang waren Aufwärm-, Lockerungsund kreative Übungen Bestandteil der Proben, die mich zu meinen eigenen Bewegungen geführt haben. Ich konnte bei allen Teilnehmern beobachten, wie wir zunächst selbstbewusster und mutiger in unserem Bewegen, und schließlich auch in unserem Denken vorbehaltlos wurden. Bestimmte Aufgabenstellungen, sich wie Honig oder das Wort „Fussel“ zu bewegen, haben nicht nur verdammt viel Spaß gemacht, sondern auch meine Denkweise erweitert. In der Probenphase beider Stücke beschäftigten wir uns durch Besuche von Theaterstücken und Museen, aber auch durch das gemeinsame Anschauen von Filmen, Slapstick oder Auftritten einer Josephine Baker, viel mit den Inhalten der Stücke. Vor allem der Gedankenaustausch untereinander, das gemeinsame tägliche Essen und Philosophieren über Produktionsthemen, bleibt für mich mit großer Bedeutung in Erinnerung.

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Zu der Erarbeitungsphase von Josephine Superstar gehörte auch die Auseinandersetzung mit Josephine Baker und die Entwicklung eigener Choreographien und Texte, welche sowohl einen Zusammenhang mit der Künstlerin als auch mit uns selbst herstellten. In diesem Tanz-Theaterstück hat jede von uns ein Stück von sich selbst gezeigt, sei es durch das Malen riesiger Bilder auf der Bühne, einen ganz besonderen stillen oder energischen Moment, die eigene SoloChoreographie oder das Singen. Eine Sekunde aus „Josephine Superstar“

Foto: © Oliver Paul

In der Probenzeit für Emerging Merce befanden wir uns besonders häufig außerhalb unserer gewohnten Blackbox und schauten uns nicht nur viel Kunst an, sondern sammelten auch Bewegungen und Geräusche auf den Straßen, aus denen wir später Szenen bauten. Ich erinnere mich daran, dass ich zu Beginn bestimmte Facetten der Szenen und Bewegungen nicht verstehen konnte. Doch in vielen der minimalistischen Bewegungen steckten wir jedes Mal mehr Gefühl, Assoziationen und Erlebtes hinein, sodass ich zum Schluss etwas ganz Besonderes in vielen Bewegungen sah und das Gefühl hatte, wir hätten dort etwas Eigenes und Einzigartiges geschaffen. Die Arbeit an diesem Stück war etwas sehr Besonderes für mich. Ich habe in dieser Zeit viel nachgedacht und bin toleranter gegenüber vielen und verschiedenen Kunstformen geworden. Ich lernte dadurch eine andere Art von Schönheit kennen, die ich vermutlich vorher abgelehnt hätte.

L ANGE/B ORGARDS/E ITZEROTH : J UGENDLICHE ALS K OOPERATIONSPARTNER

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Die Aufteilung zwischen dem gemeinsamen Entdecken unserer Möglichkeiten und unseres Körpers und die eigene Erarbeitung von Szenen innerhalb eines uns dargebotenem Rahmens brachte uns so viel Spaß und Ideen. Das Theater ist seit dieser Projekte Bestandteil meines Lebens und für mich zum kleinen Spiegel der Welt geworden. Darüber bin ich sehr froh.

AUSEINANDERSETZUNG : „W ANN MACHEN WIR JETZT

EIGENTLICH DAS

S TÜCK ?“

Anna Eitzeroth In den letzten drei Produktionen mit jugendlichen Akteuren hat sich Gudrun Lange mit Persönlichkeiten der Tanzgeschichte beschäftigt: mit der Ausdruckstänzerin Dore Hoyer, dem Weltstar Josephine Baker und dem Choreographen Merce Cunningham. Thema der Arbeiten war nicht Lebenswerk oder Biographie des jeweiligen Künstlers, sondern das Spannungsfeld zwischen den Jugendlichen mit ihren kulturellen und biographischen Prägungen und der Arbeitsweise eines Künstlers. In diesem Spannungsfeld wird die Choreographin Gudrun Lange zum persönlichen Bindeglied, da sie an beiden Seiten ein künstlerisches und professionelles Interesse hat, die entsprechenden Schnittmengen findet und gemeinsam mit den Jugendlichen bearbeitet. Die fünf Leidenschaften Eitelkeit, Begierde, Hass, Angst und Liebe, mit denen sich Dore Hoyer in Affectos Humanos auseinandersetzt, bilden so eine Schnittmenge zwischen der Alltagswelt der Jugendlichen und der Welt des Ausdruckstanzes. In der Produktion affected by war zu beobachten, dass sich die Jugendlichen einzelne Bewegungen, Gesten und Haltungen von Dore Hoyer zu Eigen gemacht haben, um damit etwas Neues zu entwickeln. Als ich während der Probenphasen der vergangenen Projekte in den Probenraum kam, spürte ich dort häufig eine starke Gruppendynamik und eine große Verbundenheit der Jugendlichen untereinander und mit den Künstlern. Oft wurde in kleinen Gruppen etwas ausprobiert, reflektiert und dabei viel gelacht. Gudrun Lange ist dabei meist die Fragende: Warum denkst Du das? Was hat sich verändert? Was ist daran seltsam? Das Schaffen eines geschützten Raumes, in dem die jungen Akteure ebenso wichtig sind wie die beteiligten Künstler, ist eine wesentliche Basis für Gudrun Langes Arbeit mit Jugendlichen. In den Projekten werden die Jugendlichen immer wieder gefordert, sich persönlich mit etwas teilweise sehr Fremden auseinander zu setzen und eigene Ausdrücke – sowohl verbal als auch in der körperli-

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chen Arbeit – zu finden. Diese Suche ist für mich ein Kern der künstlerischen Arbeit von Gudrun Lange: Die Jugendlichen setzen sich mit einem Thema auseinander und suchen jenseits der Zeichensysteme ihres Alltags nach Möglichkeiten, sich dazu in Bezug zu setzen. Gudrun Lange gibt Impulse, beobachtet, beschreibt und reflektiert mit ihnen, und bestärkt sie in ihren Eigenheiten, statt allgemeingültige Bewertungsmaßstäbe zu setzen. Diese Eigenheiten werden im Anschluss auch in der Bühnenproduktion sichtbar: Jede Teilnehmerin erreicht eine eigene Qualität in ihrer Bewegungssprache und Bühnenhaltung. Diese eigene Haltung zu entwickeln bedeutet im Prozess immer wieder, Selbst- und Fremdbewertung außen vor zu lassen. Es geht nicht darum, ob die Bewegung jetzt schön, cool oder unsexy ist, sondern vielmehr darum, das zu hinterfragen. Dass das die Projektteilnehmer immer wieder schaffen, finde ich beeindruckend, gerade weil die Jugendlichen in einer Lebensphase sind, in der sie wahrscheinlich ständig bewertet werden, sei es in ihren schulischen Leistungen, in ihrem Aussehen oder ihrem Musikgeschmack. Auch in Krisensituationen geht es oft um Bewertung: Was machen wir hier eigentlich? Werden meine Eltern und Freunde das gut finden? Wird es ihren Erwartungen entsprechen? Wann machen wir jetzt eigentlich das Stück? Der Gedanke, dass die Auseinandersetzung zu einem klaren Ergebnis, vielleicht sogar einem gemeinsamen Statement führen soll, das dann dem Publikum präsentiert wird, ist nahe liegend. Die Inszenierung ist aber meist weniger ein einstimmiges Statement, sondern vielmehr ein Sichtbarmachen der Auseinandersetzung in ihrer Vielstimmigkeit, in der Künstler und Jugendliche die tragende Rolle spielen und gleichermaßen sichtbar sind. In der Produktionsphase zu Emerging Merce haben Jugendliche und Künstler angefangen, neben den praktischen Proben auch regelmäßig Ausstellungen, Aufführungen, Konzerte und Filme anzuschauen. Dadurch ist neben der Auseinandersetzung mit einem Thema, einem Team und sich selbst auch die Auseinandersetzung mit Kunst aus der Rezipienten-Perspektive hinzugekommen. Auch hier entstehen neue Fragen; subjektive Eindrücke werden beschrieben, geschmackliche Bewertungen werden hinterfragt und differenziert. Dadurch, dass die Jugendlichen selbst in einem künstlerischen Prozess sind, wird das „Kunst gucken“ immer wieder auf diesen bezogen, die Perspektive des Rezipienten immer wieder ein Stück weit mit der des Künstlers getauscht. Dass Gudrun Lange „Kunst gucken“ als festen Bestandteil des Produktionsprozesses einplant, sehe ich deshalb auch als eine Einladung an die jugendlichen Akteure zum konzeptionellen (Mit-)Denken.

Zwischen Live-Art und Lebensraum A NNA E ITZEROTH , A NKE P LATON UND K ATHRIN T IEDEMANN

I NTERDISZIPLINÄRE A RBEITEN VON I NGO T OBEN MIT JUGENDLICHEN D ARSTELLERN AM FFT Anna Eitzeroth und Kathrin Tiedemann Jugendliche sind als Zielgruppe aktueller Theaterarbeit gleichermaßen begehrt wie gefürchtet. Wie kann es gelingen, sie für zeitgenössische Formen zu begeistern, anstatt ihnen Theater als lästige Fortsetzung des schulischen Literaturunterrichts zu verleiden? Wofür interessieren sich junge Menschen im Alter zwischen 14 und 20 Jahren, deren Alltagskommunikation von einem selbstverständlichen Umgang mit digitalen Medien geprägt ist, die mit Theater vielleicht eher den Traum vom schnellen Ruhm in einer Castingshow verbinden als kollektive künstlerische Prozesse? Seit über zehn Jahren entwickelt das Forum Freies Theater (FFT) in Düsseldorf regelmäßig Projekte mit jugendlichen Darstellern, in denen es darum geht, Jugendliche als gleichberechtigte Partner an Stückentwicklungen in den Bereichen Tanz, Theater und Performance teilhaben zu lassen. Künstler wie Hoffmann&Lindholm, Lukas Matthaei, Monika Gintersdorfer und Gudrun Herrbold haben mit ihren ganz unterschiedlichen Arbeitsansätzen diese Projektarbeit geprägt. Die vielleicht wichtigste Inspiration war die spezifische künstlerische Praxis der Kopergietery in Gent (Belgien) und die Zusammenarbeit mit dem ursprünglich dort beheimateten Choreographen Ives Thuwis. Seine Inszenierung mit Düsseldorfer Jugendlichen zum Thema Tod, adieu (2004), ist eine der erfolgreichsten Produktionen in der Geschichte des FFT. Da es sich im Laufe der Jahre als sinnvoll erwies, den Jugendlichen ein regelmäßiges Angebot und eine Kontinuität in der künstlerischen Leitung zu bieten, übertrugen wir die Projektarbeit schließlich zwei Künstlern vor Ort. Da-

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durch erhalten die Jugendlichen die Möglichkeit, die in den Projekten gemachten Erfahrungen zu vertiefen und die Möglichkeitsräume, die das Theater bietet, nicht nur sporadisch kennen zu lernen, sondern auch selbstständig mitzugestalten. Seit einigen Jahren arbeiten wir daher im Bereich Tanz mit der Choreographin Gudrun Lange zusammen, im Bereich Theater mit Ingo Toben. Das Besondere an den Arbeiten des Regisseurs Ingo Toben und seinem interdisziplinär besetzten Team1 ist, dass es sich an Jugendliche ohne jegliche Theatervorbildung richtet. Vielmehr entscheiden sich die Jugendlichen je nach Interessenlage für die Bereiche Musik, Gesang, Film oder bildende Kunst. Im Zusammenwirken dieser einzelnen Künste entstehen so immer wieder neue, experimentelle Live-Formate, die zwischen Installation, Performance, expended cinema, storytelling und Konzert changieren. Die Arbeiten entziehen sich der GenreZuordnung in einer Weise, dass die Produktionen bei Einladungen zum Theatertreffen der Jugend etwa immer wieder heftige Debatten auslösten. Inwieweit handelte es sich bei den Aufführungen überhaupt um Theater? Da die Jugendlichen jedoch auf allen Ebenen der Produktion vom dargestellten Inhalt über selbst gebaute Musikinstrumente bis hin zur Bedienung von Bühnentechnik und elektronischem Equipment stets über eine große Souveränität im Umgang mit ihrem Material verfügen, sind sie auch in der Lage, ihre Eigenkreationen jenseits vom Referenzsystem der dramatischen Literatur und deren Inszenierungspraxis bzw. von schauspielerischen Vorgängen zu beschreiben, zu reflektieren und letztlich auch gegenüber Kritikern selbstbewusst zu vertreten. Um eine intensive Zusammenarbeit zwischen dem Künstlerteam um Ingo Toben und den Jugendlichen zu ermöglichen, hat sich eine Arbeitsweise in zwei Phasen bewährt: In den Sommerferien findet die Sommerakademie Close up mit bis zu 60 Teilnehmern statt, im Herbst wird eine Bühnenproduktion mit einer Auswahl von zehn bis 20 Jugendlichen erarbeitet. In den ersten zwei Wochen der Sommerferien findet seit 2008 die vom FFT initiierte Sommerakademie Close up statt, in der Labore in den Bereichen bildende Kunst, Film und Musik angeboten werden, in denen die Künstler mit Düsseldorfer Schülern zu einem gemeinsamen Thema arbeiten. Close up 2012 widmete sich zum Beispiel dem Thema Bildung, 2011 ging es um Arbeit und Demokratie und 2010 um Krieg. Der Laborcharakter macht das Thema zu einer Forschungs-

1

Film: Kamila Kurczewski und zeitweilig Iskender Kökçe; Dramaturgie: Anke Platon; Musik: Christoph Grothaus; Bildende Kunst: Joachim Brodin; zeitweilig für Choreographie: Martin Nachbar.

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frage, die Künstler und Jugendliche gleichermaßen suchend und je nach Kunstform konkret oder weniger konkret bearbeiten und am Ende der zweiwöchigen Laborphase der Öffentlichkeit präsentieren. Im Vorfeld von Close up finden Schulbesuche an Haupt-, Gesamt-, Realund 2012 erstmals auch an Förderschulen statt, in deren Rahmen das Projekt vorgestellt wird und Schüler sich direkt anmelden können. Die Auswahl der Schulformen ist darin begründet, dass insbesondere Jugendliche mit Bildungsbenachteiligung oder mangelnder gesellschaftlicher Teilhabe angesprochen werden sollen, die vielleicht noch keine Möglichkeit hatten, ihre künstlerischen Potenziale auszuprobieren. Die direkte Ansprache in der Schule führt dazu, dass auch Schüler, die bisher keinen Kontakt zu Kulturinstitutionen und Künstlern hatten, auf das Projekt aufmerksam werden, einen persönlichen Eindruck von den Künstlern und Mitarbeitern des Projektes bekommen und so Interesse entwikkeln. Die rund 200 angemeldeten Schüler werden zu einem workshopartigen Casting eingeladen, in dem ihre künstlerischen Begabungen für das jeweilige Labor mithilfe von Aufgabenstellungen erprobt werden. In Kleingruppen improvisieren sie zum Beispiel vor der Kamera zum vorgegebenen Thema, erzeugen Sounds und Musik mit Materialien und Alltagsgegenständen und entwickeln daraus Rhythmen und Töne oder entwerfen und bauen Objekte aus bereitgestellten einfachen Materialien mit nur einer Vorgabe – beispielsweise, dass man auf dem Objekt sitzen kann, wenn es fertig ist. In den Sommerferien arbeiten Künstler und Jugendliche dann auf dem Gelände einer Düsseldorfer Hauptschule, deren Leitung das Projekt von Beginn an unterstützt hat. Auf dem Schulgelände herrscht – im Gegensatz zum Schulalltag – weder Leistungsdruck noch Langweile, sondern eine Atmosphäre entspannter Produktivität: Überall wird gebaut, gesägt, konstruiert, gesungen, Sound erzeugt und mit Aufnahmegeräten, Mischpults und Loop-Stationen gearbeitet. Künstler und Jugendliche arbeiten partnerschaftlich zusammen: Die Jugendlichen geben eigene Ideen vor, die Künstler unterstützen sie bei der Umsetzung, fragen nach, geben Tipps und Impulse und beraten hinsichtlich der Realisierbarkeit der Ideen. Je nach Arbeitsweise ist die Projektpräsentation als Aufführung oder begehbare Installation in einem oder mehreren Räumen angelegt. Die entstandenen Filme sind dabei oft am konkretesten auf das Thema bezogen: In Interviews, improvisierten Szenen oder assoziativen Bildern wird zum Beispiel die Perspektive der Teilnehmer auf Schule und Bildung reflektiert. In der Musikgruppe geht es hingegen bei der Erfindung von Soundrobotern und Instrumenten darum, Wege für eine praktische Umsetzung des Geplanten zu suchen und auszuprobieren.

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Auch in der bildenden Kunst wird das Thema eher praktisch erprobt als theoretisch hinterfragt. Im Jahr 2012 wurden zum Beispiel interaktive Skulpturen und Installationen aus Teilen von Fahrrädern gebaut. So wurde die Bewegung eines Fahrradreifens als Antrieb für ein Licht genutzt, das die Zuschauer zum Leuchten bringen konnten, oder die visuellen Effekte des Drehens wurden so genutzt, dass darin Bilder und Bewegungen gesehen werden konnten – ähnlich wie beim Daumenkino. Auch in der musikalischen Arbeit sind Geräte und Instrumente entstanden, die von den Zuschauern bespielt werden konnten, beispielsweise ein Fahrrad, das durch elektronische Kontakte Sounds erzeugt, wenn man es lenkt, eine kettenbetriebene Trommel oder ein elektronisches Instrument, das Töne erzeugt, wenn die Kontakte mit Haut oder Wasser in Berührung kommen. Auch bei den Zuschauern der Präsentation fand ein spielerischer Lernprozess statt – sie waren auf dem Parcours durch die Installationen mit unbekannten Objekten konfrontiert, die sie oft erkunden und ausprobieren mussten, um zu begreifen, welche visuellen oder musikalischen Effekte man damit erzeugen kann. Im Herbst desselben Jahres wird dann, aufbauend auf die Arbeit im Rahmen von Close up, eine Produktion erarbeitet, die die verschiedenen Kunstformen miteinander verbindet: Im Falle der Produktion Gesellschaft für gefährliche Gedanken (Oktober 2012) zum Thema Bildung entwickelte die Gruppe der bildenden Kunst eine für die Zuschauer begehbare Rauminstallation, die gleichzeitig auch als Projektionsfläche für den Film diente. Der Film bildete das sprachlichnarrative Gerüst der Aufführung, während die Performer der Musikgruppe auf der Bühne Klänge und Musikstücke live produzierten. Die Arbeit mit Schülern aus Haupt- und Gesamtschulen, die nach den Maßstäben unseres herrschenden Bildungssystems häufig als bildungsbenachteiligt eingestuft werden, fördert dabei immer wieder erstaunliche Begabungen zutage: So sind es nicht zuletzt die Jugendlichen aus Familien mit einer Zuwanderungsbiographie, mit Herkunft aus afrikanischen Ländern, dem ehemaligen Jugoslawien, Rumänien, der Ukraine oder Weißrussland, die über besondere musikalische, stimmliche und performative Fähigkeiten verfügen. Die Arbeitsweise in diesen Produktionen setzt konsequent auf die Möglichkeiten von ‚Self-Education‘ und das kollektive Entwickeln von narrativen, textlichen, musikalischen oder visuellen Inhalten. Die Rolle des künstlerischen Teams lässt sich vielleicht am besten als ‚Werkstattleitung‘ beschreiben, es organisiert den Rahmen, in dem sich die künstlerischen Prozesse der Jugendlichen entwickeln können, es sammelt die Ideen und das Material in den unterschiedlichen Arbeitsgruppen und entwickelt

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eine Gesamtdramaturgie für die abschließende Aufführung. Eine Regie im Sinne traditioneller Theaterarbeit gibt es dabei nicht, die Aufgabe des Leitungsteams um den Regisseur Ingo Toben besteht vor allem darin, aus der Fülle des Materials auszuwählen und es so zu montieren, dass die Themen und Storys der Jugendlichen ihren Adressaten, das Publikum, direkt erreichen. Für ein Produktionshaus ohne eigenes Ensemble haben die Projekte mit Jugendlichen nicht zuletzt durch den im Unterschied zu anderen Produktionen erhöhten Grad der Beteiligung für das gesamte Team des FFT einen hohen Identifikationswert. Die Jugendlichen besetzen die Theaterräume und machen sie zu ihrem temporären Lebensraum. Der hohe Stellenwert, den diese Produktionen für das Programm des FFT haben, begründet sich darin, dass sich hier in gewissem Sinne vieles, wofür das FFT eintritt, in besonderem Maße realisiert: Ein hohes künstlerisches Risiko und die Suche nach neuen Formen verbindet sich mit aktuellen gesellschaftlichen Fragestellungen. Letztere werden durch die Lebensrealität der Jugendlichen quasi zwangsläufig zum Gegenstand der Auseinandersetzung. Theater erweist sich so als Ort, an dem existenzielle Fragen verhandelt werden. „Gesellschaft für gefährliche Gedanken“ (2012)

Foto: © Iskender Kökçe

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C OLLAGEN , E LLIPSEN UND P ARTIZIPATION Produktionsdramaturgin Anke Platon über Probenprozesse und Arbeitslinien Ausgangspunkt unserer künstlerischen Arbeit mit Jugendlichen ist das Interesse an Themen wie Gewalt, Liebe, Arbeit oder Bildung, die wir aus Sicht der Jugendlichen entfalten. Wir versuchen die Lebenswelt der Jugendlichen nicht in rein dokumentarischer Form einzufangen, sondern Fragmente der Realität zu fiktionalisieren oder, wie in früheren Arbeiten, zum Beispiel 2008 in Der Geschmack der Kirsche nach Abbas Kiarostami, Fiktionen in Form von Filmvorlagen mit jugendlicher Gedankenwelt zu kombinieren. Typisch für unsere Projekte ist das hohe Maß an Beteiligung der Jugendlichen auch als Autoren ihrer Texte und Sounds, die elliptische Form des Erzählens und die interdisziplinäre Arbeitsweise. Film, Livemusik und Installationen verbinden wir zu Performances, die den Zuschauer auffordern, Leerstellen in der Erzählung mit eigenen Gedanken zu füllen und aus der Fülle der gleichzeitigen Bilder und Sounds ein eigenes Stück zusammenzusetzen. Uns interessiert nicht Perfektion, sondern wir wollen das Leben in seinen Widersprüchen und Ungereimtheiten zeigen und das auch formal spürbar machen. In unseren Stücken bleibt auch während der Aufführungen Raum für Improvisationen. Die Videosequenzen in Unter der Haut (2009) wurden zum Beispiel live aus einem digitalen Bildarchiv abgemischt und die Sounds von den jugendlichen Musikern jeden Abend neu auf der Bühne aufgenommen und zu Elektrobeats gesampelt. Auch in der Phase der Stückentwicklung ist Improvisation ein wesentliches Mittel. Die Jugendlichen erfinden vor der Kamera in vorgegebenen Situationen ihre Texte und erarbeiten in musikalischen Improvisationen Sound-Collagen, die während der Aufführung variiert werden können. Unsere Probenprozesse laufen in den Bereichen Film, Musik und Bildende Kunst zunächst getrennt ab. Wir versuchen für das gesetzte Thema unterschiedliche Ausdrucksformen zu finden. Unsere Produktion Gesellschaft für gefährliche Gedanken (2012) war ein inklusives Projekt, in dem Jugendliche von Regelund Förderschulen gemeinsam Möglichkeiten und Unmöglichkeiten von selbst bestimmtem Lernen ohne Lehrer und inhaltliche Vorgaben durchspielten. Wir entwickeln im Vorfeld bestimmte Fragestellungen und ein formales Grundgerüst. Die eigentliche Gestalt der Performance entwickelt sich erst im Probenprozess. Die Jugendlichen sind aktiv am Kreationsprozess beteiligt. Sie selbst sind Forscher und Forschungsobjekt zugleich. Die filmische Arbeit beginnt mit der Suche geeigneter Drehorte durch den Produktionsleiter Iskender Kökçe. Wir drehen zum einen an Orten, die mit dem

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Leben der Jugendlichen eng verbunden sind und viel über sie erzählen. So haben wir bei Kleine Brüder (2007) und bei The Magic of Believing (2011) zum Teil in den Wohnungen oder Elternhäusern der Jugendlichen gedreht. Andererseits interessiert uns der Kontrast der Location zum eigentlichen Umfeld der Darsteller. Dazu zählen Aufnahmen in der Natur und in leer stehenden Häusern, die einen Abstraktionsgrad bieten und so mit unseren Inhalten aufgeladen werden können. Das Motiv der Reise, des Unterwegsseins, der Suche ist für uns ein zentrales Symbol für die Jugendzeit und den künstlerischen Prozess gleichermaßen. Die Darsteller im Film brechen meist auf zu einer Fahrt durch die Stadt, zu einem Ausflug in die Natur, suchen Antworten auf Fragen, erzählen, schweigen und betrachten die Welt, die sie umgibt. Sind die wichtigsten Drehorte gefunden, beginnt für die Jugendlichen die Stückentwicklung. Zusammen mit dem Regisseur Ingo Toben und der Kommunikationsdesignerin und Kamerafrau Kamila Kurczewski erforschen die Jugendlichen in Interviewsituationen zunächst ihre persönliche Sicht auf das jeweilige Thema. In der Produktion Gesellschaft für gefährliche Gedanken bedeutete das eine Auseinandersetzung mit Bildungsfragen. Was weiß und kann ich? Was will ich wissen und können? Gibt es demokratischere Formen des Lernens als im heutigen Schulsystem? Wie kann selbst bestimmtes Lernen aussehen? Braucht man dafür Lehrer? Was für ein Potenzial liegt im Nichtwissen und Nichtkönnen? Die Filmaufnahmen werden regelmäßig mit mir gesichtet, ausgewertet und ausgewählt. Kristallisieren sich aus der Vielstimmigkeit der Beiträge zentrale Aussagen, wird nach Möglichkeiten einer Fiktionalisierung gesucht. Ideen werden in Improvisationen ausprobiert, verworfen, neu geplant, präzisiert und zugespitzt. Sukzessive entsteht eine filmische Szenensammlung, die vom Film-Team im Endschnitt zu einer Filmerzählung verdichtet wird. Die musikalischen Proben werden vom Musiker und Komponisten Christoph Grothaus geleitet. Seit 2011 wird er vom Fachmann für Klanginteraktion Tom Orr unterstützt. Sie schaffen für die Jugendlichen einen Raum für Improvisation und musikalisches Experimentieren. Die Jugendlichen gründeten zum Beispiel für Liberation is a Journey (2010) eine Vokal-Band und arbeiteten nur mit ihrem stimmlichen Ausdruck, mit Tönen und Melodien. In Unter der Haut und The Magic of Believing haben sie mit Einsatz von technischen Equipment wie LoopStation, Effektgeräten, Tonabnehmern, Kinect und Wii elektronische Musik zum Teil live aufgenommen und abgemischt. Auf den Einsatz klassischer Instrumente wird weitgehend verzichtet. In Der Geschmack der Kirsche haben die Jugendlichen auf selbst erfundenen und gebauten Instrumenten die Musik zum Roadmovie live gespielt. Auch in Gesellschaft für gefährliche Gedanken konstruierten sie aus Alltagsgegenständen, Fundstücken, Metall und Holz eigene Instrumente,

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die in Kombination mit technischen Geräten die Basis für außergewöhnliche Klangexperimente bildeten. So wurde zum Beispiel ein Müllsack über einen laufenden Ventilator geklebt und mit einem Tonabnehmer versehen, eine volle Plastikflasche gelöchert und zur Tropfenmaschine umfunktioniert oder ein sich drehendes Rad mit bunten Farbstreifen beklebt, die in einem Musikprogramm unterschiedliche Sounds auslösten. Herkömmliche Instrumente wie eine Melodica wurden so umgebaut, dass sie nicht mehr allein, sondern nur noch in der Gruppe gespielt werden konnten: im Verbund mit Fußpumpe, Effektgerät, Mischpult und Loop-Station wurde das Instrument demokratisiert. Der norwegische Künstler und Physiker Joachim Brodin erarbeitet mit den Jugendlichen die Bühneninstallationen. Er entwirft im Vorfeld eine vorläufige Bauskizze. Die einzelnen Elemente der Installation werden in Zusammenarbeit mit den Jugendlichen erfunden und gebaut. In Gesellschaft für gefährliche Gedanken geschah das auch in Zusammenarbeit mit den Musikern. Für die Produktion wurden alte Fahrräder zu einer begehbaren Installation mit Bildern, Licht und Klängen umgebaut. Alltagsgegenständen wurde ihr eigentlicher Zweck entzogen und sie erhielten eine neue künstlerische Bedeutungsebene. „Liberation is a Journey“ (2010)

Foto: © Iskender Kökçe

Während der gesamten Probenzeit stehen die einzelnen Künstler und Jugendliche im engen Austausch miteinander. In den Endproben werden dann die Ergebnisse aus den Bereichen Film, Musik und Bildende Kunst zu einer Performance

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verbunden. Es entstehen gewollte Disharmonien und ungeplante Assoziationslinien. Die Zuschauer können an der Welt der Jugendlichen teilhaben und wie in Gesellschaft für gefährliche Gedanken den Instrumenten- und Installationskosmos aktiv betreten und ausprobieren. Die oft unbekannten Positionen der Jugendlichen werden dem öffentlichen Diskurs zugeführt und gehen alle etwas an. Sie repräsentieren Zukunft.

Institutionen

Die Winterakademie am Theater an der Parkaue Berlin als Feldversuch künstlerischer Forschung mit Kindern und Jugendlichen K AROLA M ARSCH

Die Welt bleibt eine Herausforderung. Heute 8- bis 18-Jährige übernehmen ein Gebirge an Sackgassen, Aufgaben und zu bewältigenden Problemen, vor denen unser Planet steht. Welche Werkzeuge erhalten sie, die zukünftigen Entscheidungsträger und Handelnden, um dem gerecht zu werden? Wer hat ein Interesse daran, sie mündige Entscheidungen treffen zu lassen? Kinder und Jugendliche sind begeisterungsfähig und manipulierbar. Noch ist ihr Spielraum für gesellschaftliches Handeln eingeschränkt. Noch stehen sie weitestgehend außerhalb gesetzlicher Rahmen und Normen. Sie probieren sich im ‚Was-wäre-wenn‘, im ‚Als-ob‘, im Spiel, im konsequenzfreien Tun, sind in der permanenten Vorbereitung auf das Leben als Erwachsener und damit Handelnder und Verantwortung Tragender. Welch besseren Ort könnte es für die Freiheit des Probierens geben als das Theater? Hier treffen, im besten Fall, alle Bedingungen zusammen: Hier findet die Durchdringung und Auseinandersetzung mit gesellschaftlich relevanten Themen statt, hier ist ein Hort konsequenzfreien Handelns in Laborsituationen gegeben, die gesellschaftliche Realitäten und menschliche Abgründe auf Schärfste wie unterm Brennglas sezieren und zu eigensinnigen Darstellungen, Analysen und Ausformungen finden. Und: Eine ganze Theaterapparatur steht den Kindern und Jugendlichen zur Verfügung: ein Theater mit drei Bühnen, diversen Nebenräumen, allen Gewerken, Ton-, Video-, Lichttechnik – der gesamte Denkhorizont eines Hauses, das sich inhaltlich, künstlerisch und ästhetisch im 21. Jahrhundert zu Hause sieht.

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D IE E RFINDUNG EINES F ORMATS –

DIE

W INTERAKADEMIE

Von Beginn unserer künstlerischen Leitung am Theater an der Parkaue an verdeutlichte die Winterakademie unsere Idee und unser Verständnis von Theaterpädagogik. Als erstes Staatstheater für Kinder und Jugendliche, das in seinem Repertoire Inszenierungen aus Schauspiel, Performance Art, Tanz und dokumentarischem Theater programmatisch und gleichberechtigt nebeneinander verankerte, ging es auch in der Theaterpädagogik darum, eigene Wege zu gehen, Neues auszuprobieren bzw. bereits Vorhandenes zu bündeln und für Kinder und Jugendliche schöpferisch zugänglich zu machen. Die Betrachtung des Theaters für Kinder und Jugendliche aus der Perspektive der Kunst eröffnete vielfältige Räume für Spielweisen und künstlerische Handschriften auf den Bühnen. Der Versuch, die zeitgenössischen Kunstdiskurse mit ihren diversen Formen und Formaten Kindern und Jugendlichen anzubieten und ihnen damit den Horizont und die Spielarten der darstellenden Künste zu Beginn des 21. Jahrhunderts anzutragen und sie darin zu autonomen Zuschauern werden zu lassen, führten neben klassischen Schauspielproduktionen zu Projekten und Inszenierungen, die sich an die Performancekunst, die Bildende Kunst und die Grenzbereiche der darstellenden Künste anlehnten. Mit dem Wissen um Hannah Hurtzigs Schwarzmarktprojekte überlegten wir ein eigenständiges Format, in dem Kinder und Jugendliche diese künstlerischen Arbeitsweisen für sich schöpferisch vereinnahmen könnten. Wie könnte sich ereignen, dass Kinder und Jugendliche nicht zum künstlerischen Werkzeug und Material von erwachsenen Theatermachern werden, sondern unbedingt und selbstbewusst in den gesamten künstlerischen Prozess einbezogen sind, ihn gestalten von der Konzeption bis hin zur abschließenden Präsentation? Von Anfang an faszinierte uns die Idee des Labors, des künstlerischen Labors, eingebettet in eine künstlerische Akademie. In vorangegangenen Publikationen und Interviews von mir ist nachzulesen, dass es der Theaterpädagogik am Theater an der Parkaue um eine „Alphabetisierung in den Künsten und ihren Mittel“ geht. Es bedeutet nichts anderes, als jungen Menschen ein Handwerkszeug in die Hände zu geben, das sie befähigt eigene künstlerische Experimente zu beginnen: die Kamera, das Papier, den Stift, das Mikrofon, den Arbeitsanzug, den Hammer, die Stimme, den Cutter, das Lichtpult, den Laptop, den Körper. Eingesetzt als künstlerische Mittel werden diese Dinge und Organismen aus ihrem lebenspraktischen Alltag der Kinder und Jugendlichen herausgelöst und in eine andere Realität transformiert. Sie erhalten eine neue Zuschreibung, werden zum Medium für Gedanken, Ideen, Visionen.

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Kunst ist kein gesperrtes Terrain für Auserwählte. Mit den Mitteln der Kunst kannst du deinen Lebensraum gestalten, anders machen, neu erfinden und definieren, dich zu ihm ins Verhältnis setzen. Vielgestaltige Spielwiesen und Projekte sind aus diesem Ansatz immer wieder entstanden und entstehen neu. Diesem Ansatz von Theaterpädagogik geht es darum, sich als Kunstvermittlung künstlerischer Praxis zu verstehen. Indem sie mit denselben Mitteln arbeitet wie die Produktionen auf den drei Bühnen des Hauses, ist sie per se eine vermittelnde Instanz der künstlerischen Praxis des Theaters. Die sich eben selbst als künstlerisch versteht. Welche Arbeitsweise das nach sich zieht, welche Arbeitsbedingungen dies braucht, wird im Folgenden ausgeführt. Inzwischen lassen sich vielerorts und mit großer Selbstverständlichkeit die Worte „Akademie“, „Labor“ oder „performatives“, „prozesshaftes“, „künstlerisches“ Arbeiten ausmachen, wenn von Projekten mit Kindern und Jugendlichen die Rede ist. Viele Theater, Künstler, Theaterwissenschaftlicher, Theaterpädagogen, Institutionen und Vereine haben in der Vergangenheit mit Offenheit und Neugier, aber auch Skepsis, unser Konzept der Winterakademie kennen gelernt und sind selbst in das künstlerische Forschen mit Kindern, Jugendlichen und anderen nicht-professionellen Darstellern hineingeraten. Manche haben es sogar institutionalisiert in ihren Einrichtungen. Und das ist gut so. Labor 10

Foto: © Christian Brachwitz

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E INE G EMEINSCHAFT

AUF

Z EIT

Die Idee der Akademie als einer Gemeinschaft auf Zeit, die sich Wissen aneignet, Experten und Spezialisten aus Wissenschaft, Kunst und Politik einlädt, die forscht und experimentiert, die in Laborsituationen Feldversuche unternimmt, die das gleichberechtigte, partnerschaftliche Verhältnis sowohl zwischen den Teilnehmern als auch zwischen Künstlern, Dramaturgen und Kindern und Jugendlichen sucht, die Übersetzung in künstlerische Formate, die wiederum mit den generierten Inhalten und Methoden spielen, all das spiegelt unsere Auffassung von Bildung, Wissensaneignung und kreativer Schöpfung am Beginn des 21. Jahrhundert wieder in einer Welt, die sich hochkomplex und spezialisiert zeigt, und reiht sich ein in die jahrhundertealte Tradition, wie sie bereits von Platon bekannt ist. Dabei sind die Begriffe „Experiment“, „Labor“, „Feldversuch“ weder neu noch revolutionär. An allen Ecken und Ende herrscht das Projekt, übertreffen sich Innovationen, werden Marktlücken gefüllt und geschaffen. Die Überflutungsmaschinerie der Konsumgesellschaft greift den Menschen an einer empfindlichen Stelle: Sei schnell, sei dabei, sei wunderbar und außergewöhnlich! Nur – wie kann man sich selbst überrennen, überholen? Das hat noch keiner geschafft. Die aktuellen Verwertungslogiken greifen nahezu alle kreativen Ideen ab und verwandeln sie in konsumerable Produkte in der bunten Warenwelt. Wie schafft es ein Projekt zwischen Künstlern, Kindern und Jugendlichen sich dieser Verwertungsideologie zu entziehen, arbeitet es doch selbst auf eine Präsentation hin, also auf eine Verwertung? Vielfach sind wir mit dieser Frage von außenstehenden Beobachtern konfrontiert worden und haben sie uns im selben Atemzug selbst gestellt. Wenn der Gedanke des prozesshaften Arbeitens und Entwickelns und dem damit einhergehenden Verwerfens, in Sackgassen Laufens und Umwege Einschlagens im Zentrum steht, welche Formen von Präsentation lassen sich finden, die den Weg des Prozesses nicht abschneiden, sondern ihn in sich, in ihrer Form tragen? Die inzwischen sieben stattgefundenen Akademien haben ganz eigene Antworten und Wege gefunden. Der Verwertungslogik entgegen steht das Konzept der Akademie. Jährlich steht die Winterakademie unter einem speziellen Thema. Augenfällig ist, dass diese Themen mit der Klimawandel-Akademie Sagen wir Berlin liegt am Meer im Jahr 2011 aus kulturwissenschaftlichen und soziologischen Diskursen hinaus in gesellschaftliche herüber gezogen wurden. Die nach der Themenfindung einsetzende Kuration der Künstler erfolgt bereits mit Blick auf die speziellen Arbeitsweisen der Akademie. Nicht der klassische Theaterregisseur oder der klassische

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Spielanleiter werden angesprochen, sondern Künstler, die im forschenden Suchen unterwegs sind, meist mehrere künstlerische Disziplinen in ihren Projekten vereinen, an bzw. in den Grenzbereichen zwischen darstellenden, bildenden und performativen Grenzen arbeiten und oft vom Teamgedanken ausgehen. Es sind Arbeitsweisen, die des Partners, des Gegenübers bedürfen, ihn nicht instrumentalisieren wollen, ihn nicht als Verpackungsmaterial eigener Ideen und Konzepte verstehen. So findet sich eine bunte Ansammlung interessanter Köpfe, vom Architekten zum Performer, Fotographen, Bildhauer, Musiker, Grafiker, Videokünstler, Bastler, Filmregisseur, Hörspielregisseur, Theaterregisseur, Bildenden Künstler, Choreographen, Autor, Designer, Installateur, Stadtraumentwickler, Dokumentarkünstler, Szenographen, Aussteller. Bereits die Vorbereitungsphase ereignet sich im akademischen Rahmen, in der Gemeinschaft. In mindestens zwei Vorbereitungstreffen findet eine kollektive Annäherung an das aktuelle Thema statt. Experten und Spezialisten referieren zu diversen Aspekten des Themas und stehen zu Gespräch und Diskurs zur Verfügung. So lichten sich einige inhaltliche Schleier, während neue vorgeschoben werden. Was passiert, ist, dass sich ein Team im übergreifenden Sinne herausbildet. Zu diesem Zeitpunkt wird von Seiten des Theaters kein Konzept für das stattfindende künstlerische Labor in der Akademiewoche selbst eingefordert. Natürlich geschieht mit der Anfrage als Laborleiter für ein künstlerisches Labor während einer Winterakademie an einen Künstler, dass dessen Kreativitätsmaschine angeworfen wird und er darüber nachdenkt, welcher Aspekt des Themas für ihn in Frage käme. Das ist sein Antrieb zuzusagen und mit diesem Ausgangsgedanken kommt er in das erste Vorbereitungstreffen. Doch dann erlebt er, dass er als Künstler Teil von etwas Größerem ist, sich im Zusammentreffen mit anderen in einem Denkraum befindet, aus dem heraus sich die unterschiedlichen künstlerischen Ideen entwickeln werden. Der Auftakt ist ein gemeinsamer und wohin die dort stattfindenden Inputs münden, in welche Laboridee und Laborkonzeption sie sich hin konkretisieren werden, ist zu diesem Zeitpunkt völlig offen. Möglich, dass nur der Zipfel eines Gedankens eine Rolle spielen wird, eine winzige Information, die eine Assoziation, eine Intuition, eine Inspiration hervorrufen, die verfolgt werden muss. Das bleibt künstlerisches Geheimnis eines Jeden. Was damit einhergeht, ist, dass sich die beteiligten Künstler nicht als Einzelkämpfer verstehen, die kommen, eigens ihr Projekt zu realisieren. Gegenseitiger Austausch, Kommunikation über die Laborideen und Konzepte finden statt, gegenseitiges Hinterfragen dieser Arbeitsstände ebenso. Nicht immer leicht für jeden Künstler, wenn er es gewöhnt

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sind, solitär zu arbeiten. Es ist ein Mikrokosmos von Gesellschaft, in dem gemeinsam Visionen und Varianten eines Hier und Jetzt verhandelt werden. Die die Labore begleitenden Dramaturgen und Theaterpädagogen agieren, wie auch sonst bei uns am Haus, in Personalunion in beiden Berufsfeldern. Sie nehmen gleichermaßen an den Vorbereitungstreffen mit ihren Inputs und Diskursen teil. Als Partner des Labors begleiten sie die Fortentwicklung der Laboridee im Vorfeld ebenso wie die tägliche Reflexion während der Akademiewoche: Wo stehen wir, was haben wir gemacht, in welcher Richtung gehen wir weiter? Es sind diese künstlerisch-dramaturgischen Tandems, die die Projekte des Hauses so wertvoll machen und interessante Formate und Präsentationen hervorbringen. Die Spezialisierungen eines jeden Partners bringen wichtige Impulse in den künstlerischen Prozess mit den Kindern. Die Dramaturgen und Theaterpädagogen wissen durch langjährige Erfahrung, dass der Arbeitsprozess im Labor wirklich offen gestaltet werden kann, dass es möglich ist, vom vorgefassten Konzept abzuweichen, es zu verlassen, um eine gemeinsame Laborsituation herstellen zu können, wie wenig Hierarchie und kurzatmige Aufgabenvorgabe Kinder und Jugendliche benötigen, um selbstbewusst und selbstgestaltend im Labor zu agieren. Gleichzeitig wissen sie, wie das Zurücknehmen von pädagogischen Forderungen zugunsten von künstlerischen Unternehmungen praktisch werden kann, wie die Nerven nicht zu verlieren sind, wenn es darum geht, irgendwann an die Präsentation zu denken und dann doch einmal schnell das prozesshafte Arbeiten über Bord geworfen werden will. Wir haben es in der Winterakademie oft mit Künstlern zu tun, die zum ersten Mal mit Kindern und Jugendlichen arbeiten. Und natürlich stellt sich immer wieder die Frage danach, wie viel eigenes kreatives Arbeiten, Denken und Experimentieren Kindern zugemutet werden kann. Die Antwort ist klar: sehr viel. Es ist eben nicht diese Frage, die es zu beantworten gilt, sondern: Wo ist ihr Raum für ihre Entdeckungen, ihre Forschungen, wo ist die Lücke, in die sie hineingeraten, in die sie mit sich und ihren Ansichten und ihrem Können verwickelt werden können? Wenn eine zu untersuchende Frage für die Laborarbeit vorab von den erwachsenen Künstlern und Beteiligten von ihnen selbst beantwortet kann, braucht dieses Labor nicht zu beginnen. Es will dann nicht mehr wissen, als das Konzept bereits selbst beantwortet. Es braucht die Kinder und Jugendlichen nicht. Sie aber sind es, die alle Vorbereitungen über den Haufen werfen können. Schnell zeigt sich, welche Rolle ihnen ein Laborleiter zugedacht hat: Suchen sie schlichtweg nur die Antworten auf bereits gestellte Fragen, sind sie also nur Rechercheure? Was ist ihr Anteil am Labor, diese Frage muss sich ein Laborleiter vorab stellen. Daran wird er ermessen können, wie offen oder wie geschlossen

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sein Konzept, wie schmal der Grat von Durchlässigkeit ist. Denn spannend ist es, die Lücke zu ertragen, das Unausgefüllte, die Leerstelle, die die teilnehmenden Kinder und Jugendlichen sich einverleiben können und damit das Labor und sein Konzept zu ihrem machen. In diesem Sich-Einverleiben spiegelt sich das Verhältnis der Teilnehmenden zur konkreten Laboridee, zum Thema der Akademie. Hier erleben wir, was die zur Präsentation kommenden erwachsenen Zuschauer so oft so sehr überrascht: ihre Autonomie des Denkens und Begreifens unserer Welt. Da sind sie plötzlich ziemlich ihren Kinderschuhen entwachsen, in denen sie manche Eltern doch lieber belassen würden. Weitaus schwieriger verhält es sich in der Tat mit den künstlerischen Entscheidungen für das Format der Präsentation. Hier die Kinder und Jugendlichen entscheiden zu lassen, kann künstlerische Beliebigkeit hervorbringen. Und es ist nicht Teil der Verabredung. Denn der Spezialist für die künstlerische Übersetzung ist selbstverständlich der Künstler. Einfach ist es, wenn das Format, in dem präsentiert wird, von vornherein feststeht. Eingeladen ist ein Dokumentarfilmregisseur – natürlich wird er mit den Teilnehmern Dokumentarfilme produzieren. Eingeladen ist ein Hörspielregisseur – natürlich wird ein Hörspiel entstehen. Und das ist richtig. Denn was die Teilnehmer eben (meist) nicht haben, sind künstlerische Erfahrungen bzw. konkrete künstlerische Mittel im Sinne eines Handwerks. Hier also benötigen sie den Künstler. In der Transformation all ihrer Experimente, Feldversuche, Recherchen, Untersuchungen, Interviews in künstlerische Formate. In diesem Stadium des Prozesses findet die künstlerische Bildung, die Herausbildung einer künstlerischen Autonomie statt. Die Laborarbeit im Sinne von Experimenten, Recherchen etc. kann im Grunde genommen auch ohne den Künstler stattfinden. Die Übersetzung in eine künstlerische Präsentation hingegen nicht. Nun hängt es vom jeweiligen Künstler ab, wie sehr er es vermag, diesen Teil des Prozesses mit den teilnehmenden Kindern und Jugendlichen gemeinsam zu gestalten und sich dabei trotzdem nicht ins künstlerische Aus eines Spielnachmittags zu begeben oder zu beginnen, die Teilnehmer zu inszenieren. Arbeitsweisen, die bereits während der Laborarbeit performative, also präsentationsfähige Module integriert hatten, die den Status des Experiments, der Versuchsanordnung, des Prozesses bis in die Präsentation hinein erhalten, haben sich als besonders geeignet herauskristallisiert. Diese Formate, wie die begehbare Installation oder der Parcours, spielen mit dem Zuschauer als neuem Element, der das bisher Stattgefundene bereichert oder unterläuft, ohne den die gesamte Präsentation nicht stattfinden könnte und zwar über den Aspekt des Zuschauens hinaus. Er, der Zuschauer, muss mitmachen in irgendeiner Form, ist nicht nur durch das Sehen beteiligt sondern auch

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durch seine körperliche Präsenz und seine Bewegung. Obwohl wir uns damit an den Grenzen des klassischen Theaters befinden, spiegelt eben das die theatrale Situation zwischen Bühne und Zuschauerraum umso deutlicher wieder: Kein Zuschauer – kein Theater; kein ‚Mitmacher‘ – keine begehbare Installation. Es sind diese Formate, die während einer Winterakademie-Präsentation oft die besonderen und eindrücklichen Momente ausmachen. Und es wiederholt sich eine Erfahrung aus den Laboren: Es braucht die Lücke, in die jeder Beteiligte mit sich und seinen Erfahrungen und Auffassungen hineinkann, das Unausgefüllte, das Nichtfertige, das Loch, die Pause. Diese Arbeitsweise lässt sich auf die diversen Projekte übertragen, welchen Namen sie auch tragen, in welchem Kontext sie auch stattfinden. Man sieht es den Projekten jedoch immer an, wenn sie auf diese Art und Weise entstanden sind. Es sind in der Tat Formen von partnerschaftlichem Arbeiten, in dem jeder seinen Platz hat und der leer bliebe, wäre er nicht besetzt. Die künstlerische Zusammenarbeit von Tandems, in dem jeder aus seiner besonderen Profession heraus im gemeinsamen Prozess arbeitet, hat sich als überaus fruchtbar an unserem Hause erwiesen. Winterakademie 2012

Foto: © Christian Brachwitz

Mit Beginn der Winterakademie steht der künstlerische Rahmen eines jeden künstlerischen Labors in Verbindung mit einer zu untersuchenden Forschungsfrage, die zum Beispiel in Form einer These formuliert ist: Brot und Geld sind

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beides Waren, die hergestellt werden können und sich in einem Kreislauf zueinander verhalten, so die Bildenden Künstler Nicolas Galeazzi und Joël Verwimp in der Winterakademie 7 Sagen wir wir haben Geld. Ihre künstlerischen Werkzeuge waren diverse technische Geräte wie ein Backofen, ein Drucker, ein Laptop und eine Spüle, des Weiteren diverse Küchenutensilien und Büromaterialien. Daraus entwickelten sie an jedem Labortag eine neue installative Situation, die den Geldkreislauf in seinen diversen Erscheinungsformen sinnlich werden ließ. Die Präsentation war eine durational performance über vier Stunden, in denen Situationen mit und ohne Zuschauer/Mitspieler einander abwechselten. Das künstlerische Labor versteht sich als Experimentierfeld. Ob als alchimistische Wunderkammer oder wissenschaftliche Versuchsanordnung verstanden, die Neugier unentdecktes Land zu betreten und zu erkunden, das Gefühl, am Beginn einer Startbahn zu stehen, sind seine Koordinaten. Ausgerüstet wie zu einer Expedition, deren Ende offen ist, hält es eine Fülle von Überraschungen bereit, über deren Wendungen die Entscheidungen spontan und im Augenblick zu treffen sind. Es liegt ein wesentlicher Teil der Arbeit durch die künstlerische Leitung in der Vorbereitungsphase darin, eben an dieser Offenheit, an diesem Wagen, Umrissenen, am Gedanken des Experiments, das jederzeit auch scheitern kann, zu arbeiten. Deswegen bestehen wir so beharrlich darauf, den Begriff des Labors zu benutzen und nicht den des Workshops. Ebenso beharrlich, wie wir an der Ausfertigung an einer Laborkonzeption, also einem Plan, arbeiten, versuchen wir eine gedankliche Öffnung für eine wirkliche Laborsituation, in der der vorgefertigte Plan jederzeit zur Disposition stehen kann, zu erwirken. Utopisch gesprochen ist das künstlerische Labor ein Arbeiten über dem Abgrund, allerdings fraglos auf hohem Niveau, was Ausstattung und Grad der Organisation angeht. Dieser Ansatz korrespondiert mit Aspekten der Spieltheorie ebenso wie mit einem philosophischen Denken im Nichtabgesicherten, im Unwägbaren, dessen Bewegung im Fließen begründet liegt. Das mündete in vergangenen Laboren da hinein, dass Laborleitern ihr eigenes Ausgangskonzept am dritten Tag als zu sicher und absehbar erschien und sie selbst eine Verunsicherung konstruieren mussten bzw. wollten, um das Labor als Herausforderung, als lebenden Organismus erleben zu können. Es geht also ebenso um den Erlebnisbegriff, den Künstler wie Kinder und Jugendliche in der Winterakademiewoche gleichermaßen neu erfahren. Ein Erlebnisbegriff, der den Prozess im Labor körperlich werden lässt.

Das Schultheater der Länder (SDL) Historische Entwicklung und strukturelle Aspekte T ANJA K LEPACKI

Das Schultheater der Länder (SDL) ist europaweit eines der größten Festivals im Bereich des Theaters in der Schule. Es ist ein Arbeitstreffen für und mit Schultheatergruppen aus ganz Deutschland, das im jährlichen Wechsel in einem anderen Bundesland stattfindet und sich in jedem Jahr einem anderen Themenschwerpunkt widmet. Begleitet wird das SDL stets von einem auf das jeweilige Thema bezogenen Rahmenprogramm mit Aufführungsgesprächen, Werkstätten und Festivalberichten. Im Mittelpunkt steht hier eine wissenschaftlich hochkarätig besetzte Fachtagung, deren Ergebnisse in Form von theatertheoretischen, didaktischen und methodischen Leitartikeln neben exemplarischen Stückbesprechungen und praktischen Spielvorlagen Eingang in die ausführliche, schriftliche Dokumentation des Festivals finden. Ziel des SDL ist die differenzierte Weiterentwicklung des Faches Theater in Theorie und Praxis sowie dessen Verankerung in allen allgemeinbildenden Schulen der Bundesrepublik. Damit unterstreicht das SDL nicht nur die Bedeutung des Theaters für die Kulturelle Bildung, sondern setzt auch entscheidende Impulse zur Stärkung der Position und Qualität der ästhetisch-kreativen Fächer im Allgemeinen.

H ISTORISCHE E NTWICKLUNG Die inzwischen fast 30-jährige Geschichte des SDL (vgl. van Kaick 2000; Reiss 2000) geht zurück auf eine Initiative der Bundesarbeitsgemeinschaft für das Darstellende Spiel in der Schule e.V. – dem heutigen Bundesverband Theater in Schulen e.V. (BV TS). Im Jahr 1984 wurde von Seiten des Verbandes die Idee

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eines bundesweiten Schultheaterfestivals an die im Theaterbereich engagierte Körber-Stiftung in Hamburg herangetragen. Nachdem die Stiftung ihr Interesse an diesem Projekt bekundet hatte, wurde mit sachkundiger Unterstützung des Hamburger Amtes für Schule noch im selben Jahr ein Norddeutsches Schultheatertreffen am Rande der Hamburger Schulspieltage organisiert, dessen inhaltliche und organisatorische Struktur zuvor im gemeinsamen Dialog der beteiligten Partner entwickelt worden war. Dank der guten Zusammenarbeit aller Projektpartner konnte bereits im September des darauf folgenden Jahres das erste ‚wirkliche‘ Schultheater der Länder mit Beteiligung aller (damals elf) Bundesländer unter dem Titel Schultheater und freies Theater auf Kampnagel in Hamburg stattfinden. Neben den Aufführungen der eingeladenen Gruppen bildeten bereits damals Fachgespräche und Werkstätten einen wichtigen Bestandteil der neu entstehenden Festivalstruktur, die in den folgenden Jahren weiter ausgebaut wurde. Im Jahr 1991 konnte beispielsweise erstmals eine Gruppe aus den neuen Bundesländern auf dem SDL begrüßt werden. Seit 1994 sind alle fünf neuen Bundesländer fester Bestandteil des Festivals. Ein Zuwachs, der trotz aller Freude über die deutsch-deutsche Wiedervereinigung zunächst einmal mit erheblichen finanziellen und organisatorischen Problemen verbunden war. Letztlich ist das SDL aus dieser durchaus schwierigen Phase dank vieler produktiver Diskussionen um Formen, Inhalte und Trägerschaften jedoch gestärkt hervorgegangen. In den folgenden Jahren entwickelte sich das von einer kleinen Initiative der BAG initiierte und an die Körber-Stiftung herangetragene Schultheaterfestival zu einem sehr erfolgreichen Gemeinschaftsprojekt, für das die Kultusministerien der Länder, die gastgebenden Städte sowie die in den verschiedenen Landesarbeitsgemeinschaften und dem BV TS engagierten Theaterlehrer bis heute Hand in Hand zusammenarbeiten.

S TRUKTURELLE ASPEKTE Aktuell nehmen in jedem Jahr etwa 370 Jugendliche und deren Spielleiter sowie durchschnittlich 200 Fachtagungsteilnehmer am SDL teil, dessen Förderung inzwischen – nach dem im Jahr 2011 angekündigten Rückzug der KörberStiftung – dankenswerter Weise von der Stiftung Mercator übernommen wurde. Strukturell ruht das Festival heute auf insgesamt neun konzeptionellen Säulen (vgl. Hübner/Bundesverband Theater in Schulen e.V. 2010; Schlünzen 2000), die im Folgenden näher vorgestellt werden sollen:

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Säule I: Thematische Schwerpunktsetzungen Das SDL steht in jedem Jahr unter einem bestimmten, für das Theater in der Schule relevanten Thema. Dieser jeweilige thematische Schwerpunkt bildet den Rahmen für sämtliche Programmpunkte des Festivals. So werden beispielsweise die am SDL gezeigten Produktionen u. a. auch im Hinblick auf das jeweilige Schwerpunktthema ausgewählt. Während die in der Festivalstruktur fest verankerte Fachtagung das Thema in theoretischer Hinsicht beleuchtet, wird der thematische Schwerpunkt in Fachforen, Schülernachgesprächen und Werkstätten eher praxisorientiert reflektiert. Säule II: Aufführungen Im Zentrum des Schultheaterfestivals steht stets die gemeinsame Rezeption exemplarischer Aufführungen. 16 Gruppen – aus jedem Bundesland eine –, die aus unterschiedlichsten Arbeits- und Schulkontexten (Grund-, Haupt-, Mittel- und Realschulen, Gymnasien, Kollegs, Förderzentren, Projektwochen, Theaterklassen, Arbeitsgemeinschaften, Seminare, Kurse usw.) stammen, erhalten die Gelegenheit, ihre Produktionen auf dem SDL zu präsentieren. Wer aus welchem Bundesland teilnehmen darf, entscheidet eine fachkundige Jury, die die Produktionen so auswählt, dass sie einen Querschnitt durch das formale und inhaltliche Spektrum des Schultheaters bzw. dessen momentanen Stand widerspiegeln. Darüber hinaus sollten die ausgewählten Inszenierungen einen wesentlichen bzw. impulsgebenden Beitrag zum jeweiligen Festivalthema leisten, da sie in der Regel den Ausgangspunkt für die reflektierende Auseinandersetzung mit dem aktuellen thematischen Schwerpunkt darstellen. Säule III: Begegnung und Austausch Neben dem Zuschauerlebnis bietet das SDL ein vielgestaltiges Angebot von Diskussions- und Praxisforen für alle teilnehmenden Gruppen. Im Mittelpunkt dieser Programmpunkte stehen vor allem die Begegnung, das Kennenlernen sowie der Austausch der Festivalteilnehmer untereinander. In den sogenannten „Schülernachgesprächen“ erhalten die Kinder und Jugendlichen beispielsweise die Gelegenheit, persönlich mit den Akteuren der unterschiedlichen Produktionen ins Gespräch zu kommen, sich intensiv mit der Entwicklung und dem Ergebnis der Inszenierungen unter thematischen und formalen Gesichtspunkten auseinanderzusetzen und dabei das eigene Theaterverständnis immer wieder neu auf den Prüfstand zu stellen. In ganztägigen Werkstätten, die sich ebenfalls rund um das jeweilige Festivalthema drehen und die von erfahrenen Theaterlehrern, Theaterpädagogen und professionellen Theatermachern geleitet werden, können sich die teilnehmenden

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Schülergruppen darüber hinaus auf ganz unterschiedlichen Wegen mit dem Festivalthema auf praktische Art und Weise auseinandersetzen. Nicht zuletzt erhält das SDL darüber hinaus eine theatrale und kommunikative Einbettung durch ein vielgestaltiges Rahmenprogramm in Form der Eröffnungs- und Abschlussveranstaltung sowie der allabendlichen Feste, die das gesellige Beisammensein zusätzlich befördern. „Die Verwandlung“ (Schultheater der Länder 2013)

Foto: © Günter Frenzel, Oberschleißheim

Säule IV: Fachdiskurs In der mit dem SDL verbundenen Fachtagung wird der jeweilige thematische Schwerpunkt vor dem Hintergrund aktueller theoretischer theaterwissenschaftlicher und (theater-)pädagogischer Diskurse sowie der Festivalerlebnisse und der eigenen Schultheaterpraxis der Beteiligten entfaltet. Der Fokus liegt dabei zunächst auf allgemeinen Fragestellungen, die dann im Hinblick auf Aspekte der Entwicklung von Schultheater und des Faches Theater diskutiert werden. Vor diesem Hintergrund bietet die Fachtagung ein Fort- und Weiterbildungsforum für Lehrer, Wissenschaftler und Theaterpädagogen aus dem ganzen Bundesgebiet und leistet damit einen entscheidenden Beitrag zur Qualitätsentwicklung, Qualifizierung und Professionalisierung des gesamten Bereichs des Schultheaters in allen Bundesländern. Ergänzt wird der wissenschaftliche Input durch einen Sachdiskurs im Rahmen sogenannter „Fachforen“, in denen die inhaltlichen Gegenstände der Vor-

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träge auf die gesehenen Aufführungen angewendet werden. Darüber hinaus können die Teilnehmer der Fachtagung praktische Erfahrungen in professionell geleiteten Werkstätten sammeln, die sich thematisch am Schwerpunktthema des Festivals ausrichten. Säule V: Einbindung der Bundesländer Das Schultheater ist Ländersache. In jedem Jahr zeichnet ein anderer Landesverband für die Organisation des SDL verantwortlich und nutzt diese Verantwortung dabei für die stärkere Implementierung des Schultheaters im Bewusstsein der jeweiligen Landespolitik sowie der Öffentlichkeit. Zu diesem Zweck werden beispielsweise immer wieder Vertreter der Kultusministerien zu einem Fachgespräch auf das SDL eingeladen. Durch den jährlichen Wechsel des an der Planung und Durchführung beteiligten Landesverbandes erhält das SDL darüber hinaus eine regionale Komponente, die das Festival zusätzlich in formaler und inhaltlicher Hinsicht bereichert. Säule VI: Kooperation und Förderung Aufgrund der kontinuierlichen Förderung – zunächst durch die Körber-Stiftung, seit Neuestem durch die Stiftung Mercator und deren außergewöhnliches Engagement – wurde und wird das Aktions- und Wirkungsfeld des SDL kontinuierlich erweitert. Diese Partnerschaft setzt vielfältige inhaltliche Impulse und befördert so nicht nur das SDL, sondern das Schultheater im Allgemeinen. Säule VII: Der Außenblick Im Zentrum des SDL sollen zwar stets die fachlichen Bedürfnisse des Schultheaters besondere Beachtung finden, dennoch legen die Veranstalter immer auch großen Wert auf die Öffnung des Festivals durch Gastspiele, durch die Einbindung vieler Professionen in die Fachtagung und durch inhaltliche Schwerpunktsetzungen. Darüber hinaus ist das SDL seit jeher ins Netzwerk der verschiedenen Kinder- und Jugendtheaterfestivals (Theatertreffen der Jugend, Treffen der Jugendclubs an Theatern, Deutsches Kinder-Theater-Fest etc.) eingebunden. Als künstlerischer Wettbewerb ist es außerdem Mitglied in der Arbeitsgemeinschaft der bundesweiten Schülerwettbewerbe. Säule VIII: Dokumentation und Publikationen Seine länderübergreifende Wirksamkeit erhöht das SDL u. a. auch durch eine jährlich erscheinende Dokumentation, die sich ebenfalls am thematischen

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Schwerpunkt des Festivals orientiert. Die ursprüngliche Publikation in Form einer Handreichung wurde im Jahr 2001 durch die Fachpublikation „Fokus Schultheater“ abgelöst, die zunächst im Verlag der Körber-Stiftung (editionKörber) erschien und seit 2014 im Friedrich-Verlag erscheint. Diese vereint eine Mischung theoretischer und didaktischer Impulse, methodischer Anregungen, beispielgebender Aufführungsanalysen sowie direkt für den Unterricht nutzbarer Materialen und Spielvorlagen. Neben dieser Fachpublikation werden die in den Schülernachgesprächen und Werkstätten erzielten Ergebnisse und angestoßenen Diskussionen zudem in einer von Schülern verantworteten Festivalzeitung dokumentiert. „HH Haarmann, Hannover“ (Schultheater der Länder, 2013)

Foto: © Günter Frenzel, Oberschleißheim

Säule IX: Kontinuität und Flexibilität In seiner nahezu 30-jährigen Geschichte hat das SDL seine Grundstruktur auf den ersten Blick bis heute kaum verändert. Dennoch unterliegt das Arbeitstreffen einem ständigen Wandel, der es den jeweils aktuellen Anforderungen gewachsen macht. Die jährlich wechselnden Gruppen, Themen, Veranstalter, Orte und Rahmenbedingungen erfordern stets neue Ideen sowie eine Balance zwischen Kontinuität, Flexibilität und Veränderung. Regelmäßig stehen daher die Zusammensetzung der Fachtagungsreferenten und Workshopleiter, die inhaltliche Ausrichtung des Festivals sowie der Fachtagung, die Qualität der gezeigten Produktionen, die Wertigkeit der einzelnen tragenden Säulen, die Zielorientierung so-

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wie der Eventcharakter des SDL auf dem Prüfstand. Vor diesem Hintergrund und gestärkt durch die fachkundige Unterstützung der Stiftung Mercator wird das Schultheater der Länder auch zukünftig kontinuierlich weiterentwickelt und mit Blick auf die anstehenden Erfordernisse modernisiert werden, sodass es auch weiterhin maßgebliche Impulse für das Theater in der Schule setzen kann.

L ITERATUR Hübner, Kerstin/Bundesverband Theater in Schulen e.V. (2010): Geschichte und Struktur des Schultheaters der Länder, online unter www.bvts.org/beta/ wp-content/uploads/SdL_Geschichte_Struktur.pdf (Stand: 15.10.2012). Körber-Stiftung/Bundesarbeitsgemeinschaft Darstellendes Spiel e.V. (Hg.) (2000): Theater in der Schule, Hamburg: Edition Körber. Reiss, Joachim (2000): „Vorwort“, in: Körber-Stiftung/Bundesarbeitsgemeinschaft Darstellendes Spiel e.V., Theater in der Schule, S. 12-18. Schlünzen, Wulf (2000): „Ein Arbeitstreffen“, in: Körber-Stiftung/Bundesarbeitsgemeinschaft Darstellendes Spiel e.V., Theater in der Schule, S. 19-21. van Kaick, Barbara (2000): „Vorwort“, in: Körber-Stiftung/Bundesarbeitsgemeinschaft Darstellendes Spiel e.V., Theater in der Schule, S. 9-11.

Partnerschaft zwischen Jugendlichen und Künstlern unart – Jugendwettbewerb der BHF-BANK-Stiftung S IGRID S CHERER

Minutenlang stürzen die Türme – viel länger, als man das von den Fernsehbildern vom 11. September kennt. Drei junge Performerinnen aus Hamburg konfrontieren die Zuschauer mit ihren Erinnerungen. Ein Mädchen mit Kopftuch berichtet, wie ihre Familie den Tag als Fest erlebt habe. „Und, habt ihr mir geglaubt?“, fragt sie anschließend das Publikum. Bei jeder Aufführung fallen die Reaktionen anders aus. Manche glauben ihr. Andere nicht. „Ich habe den 11. September nicht anders erlebt als ihr“, löst sie das unangenehme Gefühl schließlich auf. Die Idee der drei Hamburger Performerinnen für den Jugendwettbewerb für multimediale Performances unart 2011/2012 sorgt nach den Aufführungen im Thalia Theater noch für lange Diskussionen. Einige der anderen Jugendgruppen, die an dem Abend kurz zuvor auch auf der Bühne standen, verstehen nicht, worin die Kraft der Auseinandersetzung der drei Mädchen mit dem Thema Islam und Integration liegt. Sie vermissen ausgefeilte Tanzschritte oder anderes künstlerisches Handwerk, wie man es von Talentwettbewerben kennt. Doch gerade das ist bei unart nicht unbedingt vonnöten. „Eine echte Performerhaltung“, würdigt die Experten-Jury die Arbeit der jungen Frauen, die bald darauf zusammen mit sieben anderen Performances auf einer Gastspielreise in den vier unart-Partner-Theatern (Schauspiel Frankfurt, Thalia Theater Hamburg, Maxim Gorki Theater Berlin und Staatsschauspiel Dresden) zu sehen ist. „Das Spiel mit der Angst“ habe gewonnen, so beschreibt einige Tage später eine Kri-

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tikerin in der Wochenzeitung Die Zeit den Effekt der Performance. „Ein neues, eigenständiges Werk“, so heißt das in den unart-Regularien. Und es deutet an, worum es bei dem Jugendwettbewerb, den die BHF-BANKStiftung 2007/2008 initiiert hat, geht. Das zugrunde liegende Verständnis von Bildung ist eines von ‚Sich-selbst-bilden‘. Ein Schöpfen aus der eigenen Lebenswelt, performativ untersucht und in eine neue Erfahrung in einem theatralen ‚Hier und Jetzt‘ verwandelt. „Man hat so viel in sich, so viele Ideen, was man noch rausholen kann, und wenn man erst mal anfängt, steigert sich die Power“, beschreibt eine Teilnehmerin aus Frankfurt 2014 ihre Erlebnisse. Es geht weniger um die Aneignung von spezifischen Kenntnissen oder Inhalten bzw. das Vorführen von Kenntnissen und Talenten als vielmehr um das Erleben und Gestalten eines künstlerischen Prozesses mit ungewissem Ausgang. Bildung ist hier nicht das Ergebnis eines pädagogischen Vorgangs, bei dem etwas Konkretes vermittelt wird, sondern ein Vorgang der Selbstbildung, ein nur eingeschränkt steuerbarer Prozess der Auseinandersetzung mit selbst gewählten Themen aus der eigenen Lebenswelt. Ausgeschrieben wird unart alle zwei Jahre im Rhein-Main-Gebiet, in Hamburg, Berlin und der Region Dresden. Die Teilnehmer bewerben sich mit ersten Ideen und werden von Experten-Jurys ausgewählt. Die Gruppen werden im Prozess von künstlerischen Coaches begleitet. Diese von den Theatern für die Aufgabe ausgewählten Performance-Künstler, Schauspieler, Musiker, Regisseure, Tänzer, Choreographen etc. begleiten die Gruppen. Sie unterstützen mit Ideen und Feedback, übernehmen aber nicht die Regie-Verantwortung, sondern zeigen den Jugendlichen Techniken und Strategien, die ihre Ideen weiterbringen, oder hinterfragen auch die Motivationen bestimmter Wünsche und Vorstellungen. Bei den Finalrunden werden in jeder Stadt jeweils zwei Gruppen von einer zweiten Experten-Jury für das best of unart nominiert. Innerhalb des gesamten Prozesses können sich die Teilnehmer jenseits der für sie gewohnten (Verhaltens-)Muster erleben. Das beginnt schon bei der (für viele Gruppen) oftmals schwierigen Themensuche. Eine Aufgabe, die ihnen mehr Eigenständigkeit abverlangt, als der schulische Alltag das oftmals tut, und deswegen herausfordert. Der Prozess setzt sich fort während der Proben, für die sich die Gruppen ohne Anweisungen und Zwang zusammenfinden sollten, und findet seinen Höhepunkt während des Festivals: beim Kennenlernen und Beobachten anderer Gruppen und ihrer Projekte.

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Bei der mehrmonatigen, künstlerischen Arbeit gibt es viele Gelegenheiten für Bildungserlebnisse. Oftmals haben die entscheidenden Momente dabei etwas Informelles, sprich: finden dann statt, wenn man sie am wenigsten erwartet. Es haftet ihnen etwas Zufälliges an. Oftmals ereignen sie sich auch gar nicht beim künstlerischen Tun, sondern zwischendurch oder zum Beispiel beim Abschlussfest, wenn die vielen Jugendlichen aus verschiedenen Regionen Deutschlands mit unterschiedlichsten sozialen Hintergründen zusammenkommen und das Gesehene diskutieren oder gemeinsam feiern. Dann, wenn alle gemeinsam tanzen oder neugierig die gerade erstmals gesehene Gebärdenpoesie üben. Die Erfahrung der vergangenen Projektdurchläufe zeigt, dass die (Bildungs-) Erlebnisse der Jugendlichen dann besonders nachhaltig sind, wenn sie aus eigenem Antrieb handeln, eine gute Beziehung zu ihrem Coach entstanden ist, ihre individuellen Themen Beachtung finden und die Jugendlichen sich in der Gruppe gegenseitig motivieren. unart 2008, Maxim Gorki Theater Berlin

Foto: © Jürgen Keiper

2007, als mit unart die erste und bislang umfangreichste Initiative der BHFBANK-Stiftung zur ästhetischen Bildung von Jugendlichen startete, war eines der wichtigsten Ziele des Wettbewerbs die Förderung der Eigeninitiative von Jugendlichen. Jenseits von pädagogischen Vorgaben und anders als in konventionelleren Formaten sollten sie ernst genommen werden und aktiv eigene Ideen entwickeln und umsetzen. Jugendliche sollten den Freiraum erhalten, sich selbst

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anders und in neuen Rollen zu erleben und dabei ihre Potenziale, ihre Persönlichkeiten zu entfalten: Sich in der Sprache der Künste formulieren, Stellung beziehen zum eigenen Alltag, vielleicht zu gesellschaftlichen Entwicklungen Bezüge herstellen – all das waren Chancen, die das ungewöhnliche Format eines Performance-Wettbewerbs bieten sollte, bei dem Jugendliche im Sinne von Rimini Protokoll ‚Experten‘ ihrer Wirklichkeit, ihres Alltags werden. Für die Stiftung, die gemäß ihrer Statuten unter anderem der Förderung der zeitgenössischen Künste dient und das Uraufführungsfestival Frankfurter Positionen initiiert hat, bei dem ebenfalls immer wieder neue Theaterformen auf dem Programm stehen (etwa mit der Produktion von Chris Kondek Even the dead are not safe from the living oder einer Arbeit von Tobias Rausch im Festival 2013; beide Künstler waren auch schon bei unart beteiligt), war der Vorschlag nahe liegend, dass durch sie auch jugendliche Laien die Mittel postdramatischen Theaters und andere frei gewählte Mittel erproben und einsetzen. In dieser Hinsicht ist das Projekt nicht exklusiv, sondern gerade aus auf zeitgenössische Ausdrucksformen der jungen Generation. Das besondere Potenzial der Beschäftigung mit performativen Mitteln und der eigenen Lebenswelt liegt in der offenen Form, in der Arbeit ohne Textgrundlage, die viel Phantasie freisetzt, die Teilnehmer über eigene Themen und Anliegen nachdenken lässt und die Lebenswelt zum Material der entstehenden Arbeit macht. Potenzial liegt auch in der Auflösung von in der Schule eingeübten Rollen: Es gibt keine Umwege über erwachsene Vorstellungen, von dem, was Jugendliche interessieren ‚könnte/müsste/sollte‘. Durch den professionellen Kontext, in dem das Projekt abläuft, erfahren die Teilnehmer besondere Wertschätzung. Die mitwirkenden Künstler und die Jugendlichen erleben sich als Partner in einem ernsthaften Prozess (bei dem durchaus auch Impulse und Inspirationen durch die Jugendlichen von den Künstlern aufgenommen werden; der also in beide Richtungen offen ist). Darüber hinaus knüpfen sich für die BHF-BANK-Stiftung, die gemäß ihrer Satzung auch Wissenschaft und Soziales fördert, an solch einen Ansatz auch weitere Gesichtspunkte: Etwa der Wunsch nach anderen, neuen Bildungsformen, zum Beispiel für die Gestaltung der neu entstehenden Ganztagsschulen; oder in anderen sozialen Feldern durch Angebote zur ästhetischen Bildung, die sich auch an Jugendliche ohne umfängliche Vorerfahrungen richten. Dass dieses Projekt zur „ästhetischen Bildung im sozialen Feld“ auch im Sozialen eine beträchtliche Wirkung hat, zeigte sich schon beim ersten Durchlauf. Der

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Wettbewerb bringt – aufgrund seiner besonderen Struktur – Jugendliche unterschiedlichster Hintergründe zusammen und motiviert sie dazu, sich mit den anderen konstruktiv auseinanderzusetzen. Diese Chance auf soziales Lernen und darauf, die eigene Wahrnehmung zu hinterfragen und Ressentiments abzubauen, bietet das strukturell selektive deutsche Schulsystem ansonsten eher selten. Auf neuem Terrain entsteht ein offener Bildungsraum. Das bewirkt sehr gute Erfahrungen im Hinblick auf Kooperation, Wertschätzung und auch Selbsteinschätzung und Selbsterkenntnis sowie ferner den Abbau von Intoleranz und Vorurteilen. Da alle Teilnehmer mit einer für sie oftmals neuen, ungewöhnlichen und sehr offen formulierten Aufgabe konfrontiert sind – eine individuelle Performance zu entwickeln –, die möglicherweise andere Talente fordert und auch zutage fördert, verschieben sich die Wahrnehmungs- und Bewertungskriterien. Wo die künstlerische Aufgabe also einerseits im Hinblick auf die gewählten Formen (gewissermaßen aus sich heraus) und im Hinblick auf die künstlerischen Entscheidungen der anderen Teilnehmer neue Bewertungsmaßstäbe schafft, verändert sich auch der Blick auf den anderen als Person. So konnten bei den Projekten immer wieder erstaunliche Szenen des Austauschs zwischen behinderten und nichtbehinderten Teilnehmern, zwischen Jugendlichen aus sogenannten Problembezirken und Gymnasiasten aus begüterten Elternhäusern, zwischen Älteren und Jüngeren, zwischen solchen mit und ohne Migrationshintergrund beobachtet werden. Zugleich erweist sich der explizit performative Umgang mit den eigenen Themen und Lebenswelten auch als hochschwellig. Vielen Jugendlichen ist die Form zunächst unbekannt, ihre Theatervorstellungen weisen in andere Richtungen. Bei guter Vermittlung im Projekt, etwa durch die Coaches oder die Koordinatoren in den Städten, zeigt sich die Kraft, die die performative Herangehensweise für Jugendliche in der Auseinandersetzung mit ihren eigenen Anliegen, ihrem Alltag und ihrer individuellen Suche nach künstlerischem Ausdruck hat. Die Bedeutung der Arbeit der künstlerischen Coaches in dem Projekt ist also nicht zu unterschätzen: Wie gelingt es, dabei zu helfen, die Gruppe zu ‚entfalten‘, ihren Selbstausdruck zu befördern, sie zu befähigen, ihren eigenen Weg zu finden? Diese ambivalente Aufgabe wird im Projekt immer wieder diskutiert und weiterentwickelt. Sie ist so etwas wie der Kern von unart; sie ist hochindividuell, konturiert sich erst zwischen Gruppe und Coach. So haben sich Austauschrunden zwischen den Coaches über ihren Erfahrungen und ihre Vorgehensweise als guter Umgang mit der Herausforderung erwiesen. Der künstlerische Coach hilft, Ideen in Formen zu übersetzen, und begleitet das Treffen künstlerischer Entscheidungen aus der Perspektive seiner Erfahrun-

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gen. Er ist so etwas wie ein ‚Geburtshelfer‘ für die Umsetzung der Ideen der Jugendlichen. „Ein guter Coach sein, das hat etwas mit guter Beobachtung zu tun“, sagt Tanja Krone, die 2011/2012 in Dresden eine unart-Gruppe gecoacht hat, „erst einmal herausfinden, wie die Jugendlichen drauf sind, wer sie überhaupt sind und was das gewählte Thema mit ihnen zu tun hat. Wichtig ist es auch, eine persönliche Bindung herzustellen und Vertrauen zu schaffen“. Das ist „Stop Teaching“ oder „No Education“ im Sinne von Ausbildung oder Vermittlung spezifischer Inhalte und Kenntnisse, bei denen es ein ‚richtig‘ oder ein ‚falsch‘ geben könnte. Das ist aber dennoch Pädagogik im Sinne der Eröffnung eines Feldes von Möglichkeiten, Denkweisen, Techniken und der Hilfe bei der Übernahme von Verantwortung für eine Gruppe und ihre künstlerische Entscheidungen. unart 2012, Staatsschauspiel Dresden

Foto: © Staatsschauspiel Dresden

Ein wesentliches Moment des Einsatzes ‚neuer Theaterformen‘ in einem Projekt wie unart liegt wie angedeutet in dem nicht-hierarchischen Gruppenverständnis. Es gibt eine Gruppendynamik, die von allen gestaltet wird. Dabei profitieren nicht nur die Jugendlichen, sondern umgekehrt auch die Coaches. Sie erleben die Jugendlichen als ‚Experten‘ ihrer Lebenswelt, zum Beispiel als Kenner oder Vertreter bestimmter Formen von Jugendkultur. Dieses Wissen kann in künstlerische Projekte der Coaches einfließen oder, wie die Vergangenheit gezeigt hat, in neue gemeinsame Projekte der Jugendlichen und ihrer Coaches.

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So vielfältig die Vorstellungen und Ideen der Gruppen und die Arbeitsweisen der Coaches sind, so groß ist auch die Bandbreite der Ausprägungen der Kunstform Performance, die bei unart auf die Bühne kommen: Die Programme der Finalrunden zeichnen sich regelmäßig durch sehr unterschiedlich eingesetzte Mittel der neuen Theaterformen oder auch Formate zeitgenössischen Tanzes aus. „Ich würde mir wünschen“, sagt die Regisseurin und Theaterpädagogin Katja Heiser, die 2011/2012 in Dresden eine unart-Gruppe gecoacht hat, „dass es möglich wäre, das klassische Verständnis von Theater noch weiter aufzubrechen“. Das eröffnet den Jugendlichen bei ihrer eigenen Arbeit die Chance, selbst gewählte Formen und sich selbst neu zu erleben. „Ich finde es für mich persönlich sehr schön, dass man selbst versuchen kann, zu bestimmen, wie es läuft, aber man auch auf andere achten muss“, sagt Damian Ludig, ein Teilnehmer in Frankfurt beim Durchlauf 2013/2014. Beim Festival dann bieten sich allen Teilnehmern als Zuschauern der anderen Gruppen verschiedenste Seherfahrungen – und zwar mit Projekten, die sie zu ihren eigenen Performances und ihren Formen und ihrer Arbeit an der selbst gestellten Aufgabe in Beziehung setzen können.

Kultur verändert Schulkultur Das „KulturTagJahr“ der ALTANA-Kulturstiftung K RISTINE P REUSS UND F RIEDERIKE S CHÖNHUTH Die Schule der Kunst lehrt uns, dass man nicht alles lehren und auch nicht immer und zuverlässig alles lernen kann. JOHANNES BILSTEIN1

Schüler erkunden ein Schuljahr lang gemeinsam mit Künstlern die Natur. Nach einem Konzept der ALTANA-Kulturstiftung bekommen Schulen über mindestens ein Jahr hinweg die Möglichkeit, ein KulturTagJahr durchzuführen und mit Künstlern zusammen zu arbeiten. An einem wöchentlich festgelegten Tag steht für einen gesamten Jahrgang als selbstverständlicher Teil des Unterrichts die künstlerische Forschung im Mittelpunkt. Die Auseinandersetzung mit Bildender Kunst, Musik, Literatur/Schauspiel und Tanz beeinflusst über mehrere Jahre das künstlerische Verständnis einer gesamten Schule. Mit ihrem Programm der kulturellen Bildung verändert die ALTANA-Kulturstiftung Schulkultur. Durch die konsequente Verzahnung der Künste und die Vermittlung durch professionelle Künstler verfolgt das KulturTagJahr einen innovativen Ansatz in der ästhetischen Bildung. Das Konzept der ALTANA-Kulturstiftung versteht Kultur als einen dauerhaften Prozess, der nur über die notwendige Zeit und Ernsthaftigkeit langfristig und umfassend in die Schulkultur vermittelt werden kann.

1

Zitat aus Bilstein 2009: 74.

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Das interdisziplinäre Kulturformat ist eine künstlerische Entdeckungsreise in die Natur, die eine gesamte Jahrgangsstufe ein Jahr lang gemeinsam unternimmt. Während des KulturTagJahres werden Schüler von professionellen Künstlern in die kulturellen Disziplinen Bildende Kunst, Literatur/Schauspiel, Musik und Tanz eingeführt und zu eigenen kreativen Prozessen angeregt. Einmal wöchentlich bearbeitet ein Jahrgang der Stufen vier (Grundschule), sechs (Förderschule), sieben (Integrierte Gesamtschule) oder acht (Gymnasium) – je nach Schulform – an einem festen Schultag seine Naturwahrnehmungen in Workshops gemeinsam mit professionellen Künstlern. Durch den Aufbruch des Klassenverbandes und des Stundensystems wird der KulturTag zu einem Gemeinschaftserlebnis von Schülern, Lehrern und Künstlern. Im Schaffensprozess entdecken die Schüler das eigene schöpferische Potenzial. In der Auseinandersetzung mit ihren eigenen Werken finden sie zu einer neuen Selbsteinschätzung, die ihr Selbstvertrauen stärkt. Somit stellt das KulturTagJahr einen intensiven, nachhaltigen Beitrag zur ästhetischen Erziehung und zur Persönlichkeitsentfaltung der Schüler dar. Das Konzept der ALTANA-Kulturstiftung zeigt, dass auch ein Großprojekt ganzheitlicher kultureller Bildung im laufenden Schulbetrieb erfolgreich umgesetzt werden kann: Am Ende des KulturTagJahres steht eine gemeinsame Gesamtkunstwerk-Aufführung aller Schüler des beteiligten Jahrgangs. Das KulturTagJahr ist ein Kooperationsprojekt zwischen der ALTANA-Kulturstiftung, der Stiftung Polytechnische Gesellschaft und dem Hessischen Kultusministerium. Partnerinstitutionen im Kulturbereich sind das Ensemble Modern, The Forsythe Company, das Schauspiel Frankfurt und das English Theatre.

Z EIT

FÜR DIE

K ÜNSTE

Eine der wichtigsten Voraussetzungen für künstlerische Prozesse ist Zeit. Über ein Jahr lang bekommen die Schüler deshalb im KulturTagJahr Zeit, die Künste kennen zu lernen, sie zu erproben, zu hinterfragen, bei der Umsetzung ihrer eigenen Ideen zu scheitern, sich weiterzuentwickeln, sich zu spezialisieren und sich schließlich mit den eigenen Ergebnissen der Öffentlichkeit zu präsentieren. Die künstlerische Auseinandersetzung jedes einzelnen Schülers steht im Mittelpunkt. Die Kinder und Jugendlichen lernen die Künste und sich selbst durch die einjährige Zusammenkunft mit den professionellen Künstlern kennen. Eine Aufführung am Ende des KulturTagJahres verzahnt Teilresultate der einzelnen Disziplinen zu einem Gesamtkunstwerk. Wenn die Schüler aus dem geschützten Raum des Ausprobierens und Entwickelns an die Öffentlichkeit treten, ist einer der sensibelsten Punkte erreicht. Gleichzeitig ist dies der unmittel-

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VERÄNDERT

S CHULKULTUR

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barste Moment, wenn die Jugendlichen mit ihrer neu gewonnenen künstlerischen Haltung die Bühne betreten, gestärkt durch ein intensives Jahr voller Erfahrungen. Sie positionieren und fokussieren sich. Die Aufführung wird zum energetischen Fixpunkt, der dem zuvor offenen Prozess eine entscheidende Wendung verleiht: „It shouldn’t be underestimated, in my view, how a completely different process comes into play once the prospect of performance is in view.“ (Stephen Plaice)2

AUSSERSCHULISCHE L ERNORTE ,

FREIE

Z EITEINTEILUNG

Das künstlerische Arbeiten an außerschulischen Lernorten ist ein wichtiger Bestandteil des KulturTagJahres: Dank des zusammenhängenden Zeitblocks von vier Stunden können auch von der Schule weiter entfernt gelegene Orte und Kulturinstitutionen besucht werden. Das Konzept der ALTANA-Kulturstiftung macht es Schülern, Lehrern und Künstlern unabhängig von den räumlichen und zeitlichen Gegebenheiten der Schule möglich, frei zu arbeiten. Eine der notwendigen Voraussetzungen für das Durchführen eines KulturTagJahres ist deshalb auch das Aufbrechen der gewohnten Zeitstruktur: Die Schule ist herausgefordert, fünf Schulstunden, zumeist in den Fächern Kunst, Musik, Deutsch und Sport, auf einen Tag zu legen. „Das ist einfach wirklich gut, dass die Kontinuität da ist, an einem Thema bleiben zu können. Und zwar an einem Tag. Kontinuität haben wir bei uns auch, aber es ist gestückelt, weil die ganze Woche dazwischen liegt. Dass sie so dranbleiben können, gefällt mir sehr gut, und den Kindern auch.“ (Lehrer einer am KulturTagJahr beteiligten Schule)3

Dadurch begünstigt der KulturTag das kreative Arbeiten. Künstler, Lehrer und Schüler teilen Arbeitsphasen und Pausen entsprechend des Bedarfs und unabhängig von den vorgegebenen Zeitstrukturen der Schule ein, um den künstlerischen Prozess nicht zu unterbrechen. „Wir arbeiten ohne Pausen, beziehungsweise bestimmen selbst, wann wir gemeinsam eine Pause machen wollen. So geht kreatives Arbeiten.“ (Schülerin, 7. Jahrgang)

2

Aus einem Statement des Workshop-Leiters während der Fortbildung der am Kultur-

3

Alle folgenden Zitate stammen aus der Zusammenarbeit mit Schülern, Künstlern und

TagJahr beteiligten Künstler und Partner der ALTANA-Kulturstiftung. Lehrern im Alltag.

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Aufführung KulturTagJahr im Frankfurt LAB

Foto: © Michael Habes, Frankfurt a. M.

F REIHEIT , K ÜNSTLER , L EHRER „Es geht nicht um Vermitteln, es geht um Entstehen.“ (Künstler des KulturTagJahres 2010/11)

Die Schüler lernen zeitgenössische Künste durch ihre Urheber, die Künstler, kennen und agieren wie sie: künstlerisch, schöpferisch. Sie erfahren, was es heißt, gemeinsamen Erfolg zu haben. „Frei denken, keine Arbeiten schreiben, kein Druck, keine Noten bekommen, selber entscheiden.“ (Schüler, 7. Jahrgang) Die Schüler setzen sich ohne Notendruck übergreifend mit den Künsten auseinander und entwickeln eigene kreative Strategien. In den Künstlern sehen sie beeindruckende Persönlichkeiten, die ihnen als Experten zur Seite stehen. Sie leben den Schülern ein freiheitliches Arbeiten vor, zeigen Möglichkeiten für das Entwickeln und Realisieren eigener Ideen auf, gehen auf die Ideen der Kinder und Jugendlichen ein und versuchen sie in ihren Interessen künstlerisch zu unterstützen und zu fördern ohne dabei an Disziplin, Konzentration und Präzision einzubüßen. Diese professionelle Herangehensweise ermöglicht den Schülern, die eigenen Ideen zu einem Resultat zu verfeinern, das mit den Mitteln zeitgenössischer Kunstproduktion entstanden ist. Der niveauvolle Zugang lässt sie in der Folge

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ernsthaft, professionell und reflektiert mit den eigenen Werken und Aussagen umgehen. Die Lehrer beobachten bei den Schülern, dass diese – anders als im regulären Unterricht – inhaltlich gut sein möchten, obwohl die Resultate nicht mit richtig oder falsch bewertet werden können. Die Teams aus Künstlern und Lehrern bereichern und ergänzen sich durch ihren professionellen Zugang. Alle Lehrer erhalten im Vorfeld Workshops von den Künstlern, die sie in die verschiedenen Kunstdisziplinen einführen und zur aktiven Partizipation anregen. Unter Anleitung der Künstler probieren Schüler Neues aus und lernen sich von einer anderen Seite kennen. Die Künstler fordern bewusst künstlerische Freiheit, was zur Folge hat, dass die Jugendlichen selbst entscheiden müssen, was und wie sie ein Thema bearbeiten möchten. Die Lehrer lernen ihrerseits ihre Schüler während des KulturTagJahres von einer neuen Seite kennen. „Es macht mir Spaß, mit Gruppen umzugehen, mit Situationen umzugehen, die ich nicht kenne. Nicht zu wissen, wo es hingeht, mit Schülern gemeinsam an einem Projekt zu basteln, zu sehen, was sie produzieren, mich darüber zu freuen, was sie können.“ (Lehrer einer am KulturTagJahr beteiligten Schule)

Durch die Auseinandersetzung mit zeitgenössischer Kunst partizipieren die Schüler am gesellschaftlichen Leben und bekommen die Möglichkeit zu intensiven Diskussion.

N ATUR , E RFORSCHUNG Künstler und Lehrer begleiten die Schüler gemeinsam auf ihrer künstlerischen Forschungsreise durch die Natur. Ausgehend von der zeitgenössischen Kunstsammlung der ALTANA-Kulturstiftung mit dem thematischen Schwerpunkt „Natur“ erarbeiten sich die Jugendlichen eigene künstlerische, tänzerische, musikalische und literarische Zugänge zu ihrer Umwelt. Das Arbeiten in und mit der Natur ist ein grundlegender, wöchentlich wiederkehrender Bestandteil des KulturTagJahres. Die Jugendlichen erkunden Natur, erproben Naturmaterialien und verlassen dazu regelmäßig das Schulgebäude. Außerschulische Lernorte (Park, Wald, Zoo, Museen, ...) wecken nicht nur das Interesse der Schüler und verändern die eingeschliffenen sozialen Gewohnheiten der Klassenverbände, sondern bieten den Schülern vor allem auch den Gegenstand (Materialien und Stoffe) für ihre künstlerische Forschung.

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Aufführung KulturTagJahr in der Schlosskirche Bad Homburg

Foto: © Jörg Baumann, Frankfurt a. M.

K ONTINUITÄT , S CHEITERN , D URCHHALTEVERMÖGEN Die Schüler werden durch das kulturell intensive Schuljahr in ihrem Durchhaltevermögen herausgefordert. Sie beschäftigen sich im Gegensatz zum regulären Unterricht über einen ganzen Schultag hinweg mit einer Thematik, probieren Unbekanntes aus, erforschen ihre Umwelt und lernen über die kontinuierliche Auseinandersetzung mit den eigenen Ideen, was es bedeutet, mit dem Scheitern umzugehen. Sie holen sich in krisenhaften Situationen Rat bei den Künstlern, die sie in ihren Unternehmungen ernst nehmen, ihnen abverlangen weiter zu machen, Form oder Inhalt zu modifizieren, nicht aufzugeben und die eigene Idee letztlich zu realisieren. Dabei provozieren die Künstler die Schüler im positiven Sinne und fordern sie heraus, bieten Reibungsfläche und Möglichkeiten zur ehrlichen Auseinandersetzung. Die Schüler erlangen dadurch einen ernsthaften und reflektierten Umgang in der Beurteilung und Selbsteinschätzung der eigenen Arbeitsresultate. Dies ermöglicht ihnen, am Ende des Jahres mit einer sicheren, künstlerischen Haltung und Arbeiten von hohem Niveau vor die Öffentlichkeit zu treten. Erst nachdem die Schüler alle künstlerischen Disziplinen ausführlich kennen gelernt haben, spezialisieren sie sich im letzten Viertel des Jahres durch Auswahl einer der vier Disziplinen, um intensiv auf die Abschlusspräsentation hin zu ar-

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beiten. „Von Anfang an habe ich gesagt, dass ich in Musik will. Aber jetzt, wo wir alles gemacht haben… eigentlich fand ich Kunst am besten.“ (Schüler, 7. Jahrgang)

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Das Konzept der ALTANA-Kulturstiftung setzt auf Langfristigkeit in der kulturellen Bildung. Schulen, die sich auf das umfassende und herausfordernde Abenteuer eines KulturTagJahres einlassen, entscheiden sich dazu perspektivisch für mehrere Jahre, wodurch im besten Fall alle Schüler-Jahrgänge und zahlreiche Lehrer einer Schule erreicht werden. Alle in das Programm involvierten Personen – ob Schüler, Künstler oder Lehrer – transportieren die Idee des künstlerischen Zusammenarbeitens in die Schule – eine Sogwirkung, die Kultur im Schulleben fest verankert. Die Jugendlichen bekommen dank der Interdisziplinarität des KulturTagJahres, die vier Kunstsparten gleichwertig berücksichtigt, ein Bewusstsein für das Andere, mitunter Fremde, wodurch Toleranz gefördert wird. Die Künstler werden als Bereicherung des Schullebens wahrgenommen, die Sehgewohnheiten aufbrechen und einen freiheitlichen und individuellen Ansatz des Lehrens und Lernens verkörpern. Gemeinschaftliche Erfahrungen, ein neues Verständnis und ein anderer Umgang mit den Künsten vereinnahmen im positiven Sinne die Institution und bewirken, dass sich die Schulkultur langfristig verändert.

L ITERATUR Bilstein, Johannes (2009): „Die Schule der Kunst“, in: Eckart Liebau/Jörg Zirfas (Hg.), Die Kunst der Schule. Über die Kultivierung der Schule durch die Künste, Bielefeld: transcript, S. 69-90.

Abbildungsverzeichnis

Abb. 1:

„Moeder en Kind“ (1995), © Phile Deprez | 34

Abb. 2:

„Moeder en Kind“ (1995), © Phile Deprez | 35

Abb. 3:

„Moeder en Kind“ (1995), © Phile Deprez | 36

Abb. 4:

„Bernadetje“ (1996), © Phile Deprez | 37

Abb. 5:

„Bernadetje“ (1996), © Phile Deprez | 38

Abb. 6:

„Allemaal Indiaans“ (1999), © Kurt van der Elst | 39

Abb. 7:

„Allemaal Indiaans“ (1999), © Kurt van der Elst | 40

Abb. 8:

„Teenage Riot“, © Mirjam Devriendt | 62

Abb. 9:

„Teenage Riot“, © Mirjam Devriendt | 63

Abb. 10: „Ente, Tod und Tulpe“ (2009), © Markus Lieberenz | 82 Abb. 11: „Enfant“ (2011), © Borris Brussey | 86 Abb. 12: „Shape Place Face. Eine Räumaktion“ (Klub_21, 2013), © Jörg Baumann | 114 Abb. 13: Klub_21, © Jörg Baumann | 119 Abb. 14: Klub_21 im Probenraum, © Margo Schuster | 122 Abb. 15: „üBung“ (2001), © Phile Deprez | 160 Abb. 16: „üBung“ (2001), © Phile Deprez | 161 Abb. 17: „That Night Follows Day“ (2007), © Phile Deprez | 166 Abb. 18: „That Night Follows Day“ (2007), © Phile Deprez | 167 Abb. 19: „That Night Follows Day“ (2007), © Phile Deprez | 168 Abb. 20: „That Night Follows Day“ (2007), © Phile Deprez | 170

322 | STOP T EACHING! N EUE T HEATERFORMEN MIT KINDERN UND J UGENDLICHEN

Abb. 21: „Before Your Very Eyes“ (2011), © Phile Deprez | 175 Abb. 22: „Before Your Very Eyes“ (2011), © Phile Deprez | 176 Abb. 23: „Before Your Very Eyes“ (2011), © Phile Deprez | 177 Abb. 24: „Next Day“ (2014), © Martin Argylogro | 181 Abb. 25: „Next Day“ (2014), © Martin Argylogro | 182 Abb. 26: Der Dammbruch, © Lucas Fester | 187 Abb. 27: Proben zu dem Katastrophenmodell Blitzeis, © Lucas Fester | 189 Abb. 28: „Bauen nach Katastrophen“ (2009), © Lucas Fester | 197 Abb. 29: „Bauen nach Katastrophen“ (2009), © Lucas Fester | 199 Abb. 30: „Perspektive Hamburg – Eine Intervention“, © Moritz Schmidt | 208 Abb. 31: „Perspektive Hamburg – Eine Intervention“, © Moritz Schmidt | 218 Abb. 32: „Welle:Asphaltkultur“, © Jan Rasmus Lippels | 239 Abb. 33: „Young & Furious“, © Luc Depreitere | 241 Abb. 34: „Hell on Earth“, © Thomas Aurin | 246 Abb. 35: „Hell on Earth“, © Thomas Aurin | 248 Abb. 36: Der Kaiser nach dem Ende der Schlacht und Tengilritter aus „Die Brüder Löwenherz“, © Luca de Lusi | 256 Abb. 37:

„Der Hundsturm bellt!“ (2013), © makemake produktionen | 264

Abb. 38: „Katt und Fredda“ (2012), © makemake produktionen | 266 Abb. 39: Eine Sekunde aus „Emerging Merce“, © Oliver Paul | 270 Abb. 40: Eine Sekunde aus „Josephine Superstar“, © Oliver Paul | 272 Abb. 41: „Gesellschaft für gefährliche Gedanken“ (2012), © Iskender Kökçe | 279 Abb. 42: „Liberation is a Journey“ (2010), © Iskender Kökçe | 282 Abb. 43: Labor 10, © Christian Brachwitz | 289 Abb. 44: Winterakademie 2012, © Christian Brachwitz | 294 Abb. 45: „Die Verwandlung“ (Schultheater der Länder 2013), © Günter Frenzel, Oberschleißheim | 300

A BBILDUNGSVERZEICHNIS

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Abb. 46: „HH Haarmann, Hannover“ (Schultheater der Länder, 2013), © Günter Frenzel, Oberschleißheim | 302 Abb. 47: unart 2008, Maxim Gorki Theater Berlin, © Jürgen Keiper | 307 Abb. 48: unart 2012, Staatsschauspiel Dresden, © Staatsschauspiel Dresden | 310 Abb. 49: Aufführung KulturTagJahr im Frankfurt LAB, © Michael Habes, Frankfurt a. M. | 316 Abb. 50: Aufführung KulturTagJahr in der Schlosskirche Bad Homburg, © Jörg Baumann, Frankfurt a. M. | 318

Autorinnen und Autoren

Becker, Anna K., studierte Angewandte Theaterwissenschaft in Gießen und arbeitet als freie Regisseurin und Dramaturgin in Deutschland und der Schweiz. Seit 2004 bildet sie mit Katharina Bischoff das Regieteam bigNOTWENDIGKEIT (www.bignotwendigkeit.com). Daneben war sie 2005 bis 2008 als Regieund Tourassistentin mit Stefan Kaegi (Rimini Protokoll) unterwegs. Seit 2007 arbeitet sie auch kontinuierlich als Dramaturgin, u. a. mit dem Choreographen Samir Akika/Unusual Symptoms, mit Beatrice Fleischlin und Martin Schick. Mit ihrer Zwillingsschwester Esther arbeitet sie seit 2008 als becker/becker zusammen. Sie initiierten u. a. das Projekt that enemy within, das im Mai 2010 am HAU unter der Regie von Lola Arias Premiere hatte. Die Arbeiten von bigNOTWENDIGKEIT waren bisher u. a. im Rahmen der RuhrTriennale 2005 zu sehen sowie an der Kaserne Basel, den Sophiensælen Berlin, dem Theater im Pumpenhaus Münster, am Theaterdiscounter Berlin, am Theater Aachen, am Theaterhaus Gessnerallee Zürich und im Roten Salon der Volksbühne Berlin. Borgards, Carina, Jahrgang 1993, nahm im Januar 2011 nach einigen Tanz-und Chorprojekten an ihrem ersten Theaterprojekt Josephine Superstar unter der Leitung von Gudrun Lange im FFT Düsseldorf teil. Ebenfalls am FFT folgte eine experimentelle Arbeit an Langes Stück Emerging Merce. Daneben wirkte sie als Tänzerin, Sängerin und Schauspielerin in Kleist oder die Kunst des Stolperns, einem Stück der Theater-AG des Düsseldorfer Goethe-Gymnasiums, mit. Durch die Arbeit mit Gudrun Lange lernte sie Melika Ramiü kennen und gestaltete mit ihr Choreographie und Tanztraining für das Kindertheaterstück Schwestern am jungen Schauspielhaus in Düsseldorf. 2012 assistierte sie bei Unhappy Girl: Marilyn mit Nermina Kukic unter der Regie von Hans Dreher. 2013 spielte sie die Marie in Krankheit der Jugend von Ferdinand Bruckner (Regie: Ariane Kareev) sowie die Gail in Trainspotting (Regie: Michael Schlothane) und war Teil des Senats und Chors in Hans Drehers Inszenierung von Caesar im ROTTSTR5-

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Theater. Außerdem wirkte sie in verschiedenen Tanzperformances mit, u. a. im Rahmen des „CHEZ ICKE“-Impulstheaters von Gesine Danckwart. Nachdem sie Ende 2013 bei Das Dschungelbuch unter der Leitung von Tanja Grix assistiert hatte, wurde sie im Januar 2014 zur Assistenz der Leitung im ROTTSTR5Theater. Zuletzt präsentierte sie dort beim Vorsprechabend Und Bitte die Mariedl aus Antiklimax von Werner Schwab, die Frau aus Girlsnightout von Gesine Danckwart und die Julia aus Shakespeares Romeo und Julia. Deck, Jan, M.A., studierte in Mainz, Bonn und Frankfurt a. M. Politikwissenschaften, Geschichte und Germanistik und arbeitet als freier Dramaturg, Regisseur, Kurator und Autor an unterschiedlichen Orten und in verschiedenen Konstellationen. Mit seinem Ensemble Profi Kollektion, das er seit 2008 mit Katja Kämmerer leitet, entstanden seitdem verschiedene Produktionen an der Schnittstelle von Performance und anderen Medien und Genres, zudem arbeitet er als Dramaturg u. a. regelmäßig mit der Gruppe theaterperipherie. Er ist außerdem Geschäftsführer von laPROF, dem Landesverband Professionelle Freie Darstellende Künste Hessen, Vorstandsmitglied des Bundesverbandes freier Theater und Mitglied verschiedener Jurys, Beiräte und Arbeitsgruppen. Er kuratiert Tagungen, Festivals, Diskursveranstaltungen und Workshops. Mit Natalie Driemeyer leitet er seit 2008 das Forum Diskurs Dramaturgie, eine AG der Dramaturgischen Gesellschaft. Als Herausgeber hat er Ich schau Dir in die Augen, gesellschaftlicher Verblendungszusammenhang! Texte zu Subjektkonstitution und Ideologieproduktion (2001, mit Sarah Dellmann, Daniel Loick und Johanna Müller), Paradoxien des Zuschauens: Die Rolle des Publikums im zeitgenössischen Theater (2008, mit Angelika Sieburg) und Politisch Theater machen. Neue Artikulationsformen des Politischen in den Darstellenden Künsten (2011, mit Angelika Sieburg) publiziert. Dröge, Wiebke, entwickelt Tanzperformances mit professionellen Künstlern und mit Jugendlichen. Sie ist als freischaffende Tänzerin, Choreographin, Dozentin und Autorin tätig unter ihrem eigenen Label www.ohnepunkt.info. Ausgebildet in Zeitgenössischem Tanz, Sportwissenschaften und Theaterpädagogik, hat sie von 2001 bis 2006 in Vollzeit an der Goethe-Universität Frankfurt a. M. Zeitgenössischen Tanz und Körperarbeit in Theorie und Praxis gelehrt. Eitzeroth, Anna, studierte Szenische Künste mit den Schwerpunkten Theater, Performance und Medien an der Universität Hildesheim. 2008 bis 2013 war sie Dramaturgin für den Kinder- und Jugendbereich am FFT Düsseldorf, wo sie für die Planung und Betreuung des Programms für junge Zuschauer verantwortlich

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zeichnete, Produktionen mit jugendlichen Darstellern begleitete, Vermittlungsformate entwickelte und durchführte sowie u. a. in der Jury des NRW-Festivals Spielarten und der künstlerischen Leitung von Maulhelden, dem LandesSchülertheatertreffen NRW, mitwirkte. Seit März 2013 arbeitet Eitzeroth als Fachmitarbeiterin beim Kinder- und Jugendtheaterzentrum in der Bundesrepublik Deutschland mit dem Schwerpunkt Theater in der Kulturellen Bildung und ist Projektleiterin für das Förderprogramm Wege ins Theater!, das die ASSITEJ e. V. im Rahmen des Bundesprogramms Kultur macht stark! Bündnisse für Bildung durchführt. Hammer, Martin, Jahrgang 1981, studierte Theater und Literaturwissenschaft an der FU Berlin, der Theaterakademie Hamburg und der HMT Felix Mendelssohn Bartholdy Leipzig. Er arbeitet kontinuierlich mit den Regisseurinnen Julia Hölscher (u. a. Match Factory Girl, ausgezeichnet mit dem Preis des Körberstudios für Junge Regie 2006) und Alice Buddeberg zusammen. Mit Maria Magdalena Ludewig entwickelt er regelmäßig theatrale Projekte auf Kampnagel in Hamburg (Dem Weggehen zugewandt, 2013). Als freier Dramaturg führten ihn seine Engagements u. a. ans Thalia-Theater Hamburg, ans Düsseldorfer Schauspielhaus, auf Kampnagel Hamburg, an die Staatsschauspiele Dresden und Braunschweig, ans Theater Freiburg und ans Staatstheater Oldenburg. Eingeladen vom Goethe-Institut, inszenierte Martin Hammer zudem mit Julia Hölscher als Co-Regisseur am Jungen Theater Taschkent in Usbekistan. Hentschel, Ingrid, Prof. Dr., ist Professorin für Theater, Kultur und Medien an der Fachhochschule Bielefeld und lebt in Hannover. Nach Studium und Promotion an der Universität Hannover war sie zunächst als Dramaturgin, Schauspielerin und Autorin tätig (Dramatikerpreis des Bundes der Theatergemeinden für Ça ira. Es war einmal eine Revolution, zusammen mit Wolfram Hänel im GustavKiepenheuer Bühnenvertrieb), dann an verschiedenen Hochschulen mit den Lehrgebieten Literatur- und Theaterwissenschaft. Sie forscht und veröffentlicht kontinuierlich zu Entwicklungen des Gegenwartstheaters, zur Theorie und Ästhetik des Kinder- und Jugendtheaters sowie zu Theater, Ritual und Religion. Außerdem ist sie Herausgeberin der Reihe Resonanzen. Theater. Kunst. Performance im LIT-Verlag sowie – zusammen mit Klaus Hoffmann – der Reihe Scena – Beiträge zu Theater und Religion. Zuletzt erschienen: Im Modus der Gabe – Theater, Kunst, Performance in der Gegenwart (herausgegeben mit Una H. Moehrke und Klaus Hoffmann, Bielefeld/Leipzig/Berlin 2011).

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Klepacki, Tanja, M.A., ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Pädagogik II der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg. Hier leitet sie seit November 2009 die Geschäftsstelle der Akademie für Schultheater und Theaterpädagogik. Seit August 2011 ist sie darüber hinaus mit der Verwaltung der Geschäftsstelle des Bundesverbandes Theater in Schulen e.V. betraut. Lange, Gudrun, Jahrgang 1975, studierte modernen Tanz in Rotterdam und New York. Ihre künstlerische Arbeit als freie Choreographin und Performerin ist von drei Schwerpunkten geprägt: Produktionen in Kollaboration mit anderen professionellen Künstlern, Soloarbeiten und Produktionen mit Jugendlichen. Den Körper als Verbindung zwischen Kunst und Alltag nutzend, schafft sie Arbeiten mit konzeptueller Strenge, die doch zugänglich und lesbar bleiben. Bisherige Produktionen sind u. a. Fernsehabend, Pimp Your Dance (Koproduktion: FFT Düsseldorf), skillz/no skillz (Koproduktion: FFT Düsseldorf, LOFFT Leipzig), Die schnittige Menge (Koproduktion: FFT Düsseldorf, Residenz an K3 – Zentrum für Choreographie/Tanzplan Hamburg/Kampnagel), Cheeeese! (Koproduktion FFT Düsseldorf, Ringlokschuppen Mülheim), And on the seventh day in Zusammenarbeit mit kainkollektiv (Koproduktion: FFT Düsseldorf, Ringlokschuppen Mülheim), Erschöpfung/Einschöpfung (Eigenproduktion) und Wirtschaftsdepression – Dieser Begriff ist kein Zufall (Koproduktion: FFT Düsseldorf). Die regelmäßig im FFT Düsseldorf entwickelten Projekte mit Jugendlichen sind beweggründe (2005), affected by (2009), Josephine Superstar (2011) und Emerging Merce (2012) sowie ich geschichtet (2013). Gudrun Lange war auch an der erfolgreichen Jugendproduktion ádieu von Ives Thuwis beteiligt, mit der sie u. a. zu Theaterzwang und Impulse sowie zur Tanzplattform 2006 eingeladen wurde. 2010 konnte sie am KKL Luzern mit 22 Schülern eine Tanzperformance zu Strauss’ Wiener Blut entwickeln und gemeinsam mit den Luzerner Sinfonikern aufführen. 2008 erhielt sie den Förderpreis des Künstlerinnenpreises NRW und das Choreographen-Stipendium der Kunststiftung NRW. 2010 war sie Teil des europäischen Fortbildungsprojektes Tour d’Europe des choregraphes. 2012 bis 2014 erhält Gudrun Lange die Spitzenförderung Tanz des Landes NRW. Ludewig, Maria Magdalena, Jahrgang 1982, studierte Philosophie in Hamburg und Berlin sowie Schauspielregie an der Berliner HfS Ernst Busch. Seit 2003 arbeitet sie als Regisseurin u. a. am Hamburger Schauspielhaus, an den Sophiensælen und am Radialsystem V (Berlin), am Festspielhaus Hellerau (Dresden), am Theater Heilbronn und Thalia Halle und seit 2007 regelmäßig auf Kampnagel (Hamburg). Ihre Produktionen waren zu zahlreichen Gastspielen und Festivals in Frankfurt, Magdeburg, Berlin und New York eingeladen. Ludewigs

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Projekte basieren meist auf Recherchen, die in unterschiedlicher Form verarbeitet werden. Gemeinsam mit dem Produktionsteam Union Universal entstehen textbasierte Inszenierungen mit Schauspielern (Exilkonsummesse, 2004; Die Flut, 2005; Dreamdolls, 2009; Dem Weggehen zugewandt, 2013), Installationen im öffentlichen Raum (Machina Recordatio, 2013), chorische Arbeiten mit einer großen Anzahl Laien (Perspektive Hamburg, 2008), fiktiv-dokumentarische Videoarbeiten (Mutterglück, 2010) und Interventionen im städtischen Raum (Exilkonsummesse, 2004). Für Dem Weggehen zugewandt arbeitete Maria Magdalena Ludewig zum ersten Mal mit dem Solistenensemble Kaleidoskop und der Komponistin Manuela Kerer an einer großen musikalischen Inszenierungsform. 2009/2010 war sie Stipendiatin von Format – Neue Wege in der Kultur, einem Stipendienprogramm des Thalia-Theaters Halle und der Deutsche-Bank-Stiftung. Neben ihrer Arbeit als Regisseurin schreibt sie journalistische Texte, arbeitet am Romanmanuskript Agalma, als freie Mitarbeiterin beim Bayrischen Rundfunk und als Produzentin für interdisziplinäre Projekte, u. a. Neither (Radialsystem V, Hellerau) und Hunger for Trade (Schauspielhaus Hamburg 2013/14). Marsch, Karola, Jahrgang 1968, studierte Germanistik und Slavistik in Magdeburg und arbeitete als Theaterpädagogin an den Freien Kammerspielen Magdeburg, am Schauspiel Leipzig und am Landestheater Linz/Oberösterreich. Als Dramaturgin war sie am Theater im Marienbad Freiburg sowie am Mainfranken Theater Würzburg tätig, hier war sie auch Leiterin des Kinder- und Jugendtheaters. 2001 war sie Mitglied der Auswahlkommission für das 6. Deutsche Kinderund Jugendtheatertreffen Augenblick mal! in Berlin, 2002 im künstlerischen Leitungsteam für das 3. Internationale Kinder- und Jugendtheaterfestival Schöne Aussicht in Stuttgart und 2004 in der Jury für den Baden-Württembergischen Jugendtheaterpreis. Im Februar 2006 wurde sie von der Bundesministerin für Familie, Senioren, Frauen und Jugend in das Kuratorium des Kinder- und Jugendtheaterzentrums in der Bundesrepublik Deutschland berufen. Seit der Spielzeit 2005/2006 ist Karola Marsch Leitende Dramaturgin/Theaterpädagogin am Theater an der Parkaue in Berlin. Unter ihrer Leitung wurde dort das Konzept „Kunstvermittlung als künstlerische Praxis“ entwickelt, das u. a. zu Formaten wie der Winterakademie, der Familien-Uni, den Ferienwerken oder dem Theaterpädagogischen Salon führte. Mehnert, Carmen, wurde in Lima (Peru) geboren und beendete ihr Studium der Angewandten Theaterwissenschaft an der Universität Gießen mit einem Diplom. 1994 bis 1999 war sie Organisationsleiterin beim Internationalen Sommertheater-Festival Hamburg und 1999 bis 2000 Organisationsleiterin und Programm-

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leiterin beim Festival Theaterformen der Expo 2000 in Hannover. Seit 2001 hat sie als freiberufliche Tanzdramaturgin u. a. mit Sam Louwyck, Lisi Estaras, Einat Tuchman (Les Ballets C. de la B.), Angela Guerreiro, Rasmus Ölme, Sara Gebran, Cristina Moura, In-Jung Jun, Elio Gervasi, Oded Graf & Jossi Berg und Akram Khan gearbeitet. Seit 2003 arbeitet sie als Dramaturgin eng mit Constanza Macras zusammen: in den Stücken Back to the Present, Scratch Neukölln, Big in Bombay, No Wonder, I am not the Only One, Part 1 & 2, Brickland, Hell on Earth, Oedipus Rex, Megalopolis, Here/After, Berlin Elsewhere und Open for everything. 2006 bis 2008 war Carmen Mehnert Tanzdramaturgin am Staatstheater Kassel unter der Leitung von Johannes Wieland. Seit März 2009 ist sie Programmleiterin Performing Arts in Hellerau (Europäisches Zentrum der Künste) in Dresden und übt eine Lehrtätigkeit im Masterstudiengang „Kultur und Management“ an der Dresden International University aus. Meyer-Keller, Eva, Jahrgang 1972, studierte Tanz und Choreografie an der School for New Dance Develpoment in Amderdam sowie Fotografie und Bildende Kunst in Berlin (HdK) und London (Centrail Saint Martins, Kings College). Arbeiten und Kollaborationen mit Baktruppen, Jérôme Bel, Kate McIntosh, Sybille Müller, Christine de Smedt (Les Ballets C. de la B.) und anderen. Eigene Performancearbeiten: Death is Certain (2002), Good Hands (2004), Schattenspiele (2008). Eigene Videoarbeiten: DEATH IS CERTAIN (2003), HANDMADE (2007), VON MENSCHEN GEMACHT (2010). Publikationen: In einer Hinsicht niemals anders und in anderer Hinsicht niemals gleich. Einige Gedanken zu Eva Meyer-Kellers komischer Tragödie ‚Death is Certain‘ von Tim Etchells (in Joachim Gerstmeier/Nikolaus Müller-Schöll (Hg.), Politik der Vorstellung, Recherchen 36, Berlin: Theater der Zeit); Bauen nach Katastrophen. Eine Performance von Kindern für Erwachsene (2009, in: Kristin Westphal/WolfAndreas Liebert (Hg.), Gegenwärtigkeit und Fremdheit. Wissenschaft und Künste im Dialog über Bildung, München/Weinheim: Juventa). Müller, Hanna Sybille, Jahrgang 1976, studierte Tanzpädagogik mit den Schwerpunkten Moderner Tanz und Improvisation in Rotterdam sowie Gesellschafts- und Wirtschaftskommunikation in Berlin. Arbeiten und Kollaborationen mit deufert&plischke, Isabelle Schad, Martin Nachbar, Eva Meyer-Keller und anderen. Eigene Arbeiten: über setzen auf (2006); Unheimlichkeiten (2006); 124 umdrehungen (2005); unstable (2008, zusammen mit Florian Bach). Eigene Videoarbeiten: VON MENSCHEN GEMACHT (2010). Publikationen: Ich glotz TV (2007, zusammen mit Frederik Lang in Recherche, Film und Fernsehen, Nr. 2/2007). Bauen nach Katastrophen. Eine Performance von Kindern für Er-

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wachsene (2009, in: Kristin Westphal/Wolf-Andreas Liebert (Hg.), Gegenwärtigkeit und Fremdheit. Wissenschaft und Künste im Dialog über Bildung, München/Weinheim: Juventa). Ostertag, Sara, Jahrgang 1985, arbeitet als Regisseurin und Theaterpädagogin in Österreich und Deutschland. In ihrer Arbeit setzt sie den Fokus auf musiktheatrale Formate und Theater für junges Publikum sowie auf die Entwicklung unterschiedlicher performativer Vermittlungsformate. 2011 schloss Ostertag ihren Master in Theaterregie und Scenic Arts Practice an der Zürcher Hochschule der Künste und der School for New Dance Development Amsterdam ab. Im selben Jahr gründete sie mit unterschiedlichen Künstern aus Wien das Kollektiv makemake produktionen, mit dem ein Großteil ihrer letzten Arbeiten entstand. Ihre Produktionen sind am Dschungel Wien – Theaterhaus für junges Publikum, am Oldenburgischen Staatstheater sowie an der Philharmonie Luxemburg und am Festspielhaus St. Pölten zu sehen. Mit der Musiktheaterproduktion Das Kind der Seehundfrau für das Festival Wien Modern 2012 war Sara Ostertag mit makemake produktionen unter anderem für den Yeah-Award und den YammaAward nominiert und wurde mit dem Preis STELLA – Darstellender.Kunst.Preis für junges Publikum ausgezeichnet. Ab 2015 wird sie u. a. im Team der künstlerischen Leitung am Staatstheater Mainz tätig sein. Platon, Anke, studierte Philosophie, Literatur und Kunstgeschichte in Düsseldorf. 2003 bis 2006 war sie Dramaturgieassistentin und Schauspieldramaturgin am Staatstheater Mainz. Seit 2006 ist sie freie Dramaturgin mit dem Schwerpunkt Stückentwicklungen. Sie arbeitet seit mehreren Jahren mit dem Regisseur Ingo Toben zusammen, hat für die Produktionen Love Streams und Kleine Brüder am FFT Düsseldorf die Textbücher geschrieben und für die nachfolgenden filmischen und interdisziplinären Arbeiten mit Jugendlichen Inhalte und Erzählweisen mitgestaltet. Die Produktionen wurden zu mehreren Festivals eingeladen, unter anderem zum 29. und 32. Theatertreffen der Jugend nach Berlin (Kleine Brüder, Liberation is a Journey) und zu Favoriten 2010 (Unter der Haut). Anke Platon realisiert Projekte mit Kindern und Jugendlichen im Bereich experimentelles Schreiben und Theater. Preuß, Kristine, Jahrgang 1981, studierte Kunstpädagogik, Komparatistik und Kunstgeschichte in Gießen und Paris. Nach der Mitarbeit in der Abteilung „Bildung und Kommunikation“ des Städelmuseums Frankfurt und bei einer Fotographie-Ausstellung des MONUM in Paris absolvierte sie von 2007 bis 2009 ein Volontariat in der Sammlung Würth, Künzelsau. Seit 2009 ist sie Referentin im

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Bildungsprogramm der ALTANA-Kulturstiftung gGmbH und dort seit 2013 verantwortlich für die Kunstvermittlung im Museum „Sinclair-Haus“ in Bad Homburg. Primavesi, Patrick, Prof. Dr., ist Professor für Theaterwissenschaft an der Universität Leipzig und Direktor des Tanzarchivs Leipzig. Nach dem Studium von Theaterwissenschaft und Germanistik in Berlin, Gießen und Frankfurt a. M. war er von 1998 bis 2000 Postdoktorand am Graduiertenkolleg „Zeiterfahrung und ästhetische Wahrnehmung“ der Frankfurter Goethe-Universität und von 2000 bis 2008 Wissenschaftlicher Assistent am dortigen Institut für Theater-, Film- und Medienwissenschaft, wo er mit Hans-Thies Lehmann einen Masterstudiengang Dramaturgie eingerichtet hat. Die Dissertation Kommentar, Übersetzung, Theater in Walter Benjamins frühen Schriften erschien 1998; die Habilitationsschrift 2009 unter dem Titel Das andere Fest. Theater und Öffentlichkeit um 1800. Weitere Publikationen u. a.: Heiner Müller Handbuch (Hg., mit Hans-Thies Lehmann, 2003), Aufbrüche. Theaterarbeit zwischen Text und Situation (Hg., mit Olaf A. Schmitt, 2004), Geteilte Zeit. Zur Kritik des Rhythmus in den Künsten (Hg., mit Simone Mahrenholz, 2005), Lücken sehen … Beiträge zu Theater, Literatur und Performance (Hg., mit Martina Groß, 2010). Aktuelle Forschungsschwerpunkte sind u. a. Körperpolitik und Tanz-Institutionen in der DDR, Interventionen im urbanen Raum. Scherer, Sigrid, Jahrgang 1970, hat Literaturwissenschaft und Journalismus studiert. Fast zehn Jahre lang arbeitete sie als freie Journalistin, schrieb über kulturelle und soziale Themen und machte Öffentlichkeitsarbeit für Kulturinstitutionen. Seit 2005 ist sie Referentin bei der BHF-BANK-Stiftung in Frankfurt a. M. und kümmert sich um die Entwicklung und Steuerung von Projekten in den Feldern Bildung, Künste, Soziales und Wissenschaft. Außerdem beschäftigt sie sich wissenschaftlich mit Fragen des Dritten Sektors und sozialen Innovationen. Seit 2012 arbeitet sie im Vorstand des Deutschen Kinderschutzbunds in Frankfurt a. M. mit. Schönhuth, Friederike, Jahrgang 1973, studierte Kunstgeschichte und Soziologie in Frankfurt a. M.. Seit 2010 leitet sie das Bildungsprogramm der ALTANAKulturstiftung gGmbH in Bad Homburg. Von 2005 bis 2010 war sie Referentin für Bildende Kunst im Kulturkreis der deutschen Wirtschaft im BDI e.V. und Kuratorin des ars viva-Preises in Berlin. Zuvor arbeitete sie in Frankfurt a. M. u. a. für das Museum für Moderne Kunst, die Schirn-Kunsthalle und die Dresdner-Bank-Kunstsammlung.

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Schubert, Inge, Dr. phil., ist Soziologin, Gruppenanalytikerin, Gastwissenschaftlerin am Sigmund-Freud-Institut Frankfurt a. M. und wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Goethe-Universität Frankfurt a. M. im Bereich Soziologie mit den Schwerpunkten Familie und Jugend sowie Analytische Sozialpsychologie. Ihre Themenschwerpunkte sind Kindheitsforschung, Adoleszenzforschung, Generationenverhältnisse sowie Schule und Gesellschaft. Stang, Katalin, Jahrgang 1967, ist Diplom-Pädagogin und seit 2000 freischaffende Theaterpädagogin. Ihr Schwerpunkt liegt auf experimentellen und performativen Theaterprojekten mit Kindern. Dabei erforscht sie die Bildungsrelevanz von performativen Zugängen in der (frühen) ästhetischen Bildung. Sie hat Lehraufträge am Institut für Grundschulpädagogik der Universität Koblenz-Landau, u. a. über Neue Theaterformen mit Kindern oder Performatives Erzählen. Außerdem lehrt sie in den Fächern Sozialpädagogische Grundlagen und Spiel an der Fachschule für Sozialpädagogik Berta-Jourdan in Frankfurt a. M.. Strunz, Sandra, Jahrgang 1968, absolvierte ein Regiestudium an der Hamburger Hochschule der Künste und inszenierte u. a. auf Kampnagel in Hamburg, in der Gessnerallee Zürich, am Staatstheater Stuttgart, am Schauspiel Frankfurt, am Schauspiel Hannover, am Schauspielhaus Zürich, am Staatsschauspiel Dresden und am Deutschen Schauspielhaus Hamburg. Sie arbeitet als Dozentin für Regie an der Hochschule für Musik und Theater Hamburg und seit 2012 an der ADK Ludwigsburg, wo sie seit 2013 Mentorin und leitende Dozentin des Studiengangs Regie ist. Sandra Strunz lebt in Zürich. Tiedemann, Kathrin, Theaterwissenschaftlerin und Dramaturgin, arbeitet seit 2004 als künstlerische Leiterin und Geschäftsführerin des FFT Düsseldorf, einem deutschlandweit und international agierenden Produktionshaus für Theater und Performing Arts mit einem Schwerpunkt in der Arbeit mit jugendlichen Darstellern. Zuvor war sie Dramaturgin auf Kampnagel in Hamburg sowie Mitbegründerin und Kuratorin des Festivals reich & berühmt in Berlin und arbeitete als Redakteurin und Autorin u. a. für die Wochenzeitung Der Freitag (Redakteurin für Theater, Film, Medien) und die Monatszeitschrift Theater der Zeit. Zusammen mit Frank Raddatz betätigte sie sich u. a. als Herausgeberin der Veröffentlichungen Reality strikes back. Tage vor dem Bildersturm. Eine Debatte zum Einbruch der Wirklichkeit in den Bühnenraum (Theater der Zeit, Recherchen 47, Berlin 2007) und Reality strikes back II. Tod der Repräsentation. Die Zukunft der Vorstellungskraft in einer globalisierten Welt (Theater der Zeit, Recherchen 70, Berlin 2010).

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Vaßen, Florian, Prof. Dr., studierte Germanistik, Romanistik, Philosophie und Geschichte in Frankfurt a. M., Aix-en-Provence und Marburg. Er promovierte 1970, war Assistent an der Justus-Liebig-Universität Gießen und lehrte von 1982 bis 2009 als Professor für Neuere Deutsche Literatur am Deutschen Seminar der Leibniz Universität Hannover. Er war Leiter der Arbeitsstelle Theater – Theaterpädagogik sowie des Studiengangs Darstellendes Spiel und ist Mitbegründer und Mitherausgeber der Zeitschrift für Theaterpädagogik. Korrespondenzen (seit 1980). Arbeits- und Forschungsgebiete: Drama und Theater, Theatralität, Theaterpädagogik in Theorie und Praxis; Schrift und Bild; Literatur und Experiment; Bertolt Brecht, Heiner Müller; Literatur des Vormärz; Lachtheorie, Satire und Karikatur. Buchpublikationen der letzten Jahre: Theaterverhältnisse im Vormärz (2002); Romantik und Vormärz (2003), Theatre Work in Social Fields (2004), Training Manual for Theatre Work in Social Fields (2005), Europäische Karikaturen im Vor- und Nachmärz (2005), Der kartographische Blick (2006); „Können uns und euch und niemand helfen“. Die Mahagonnysierung der Welt (2006); Der nahe Spiegel. Vormärz und Aufklärung (2008); Politik, Porträt, Physiologie. Facetten der europäischen Karikatur im Vor- und Nachmärz (2009); Korrespondenzen. Theater – Ästhetik – Pädagogik (2010); Collective Creativity. Collaboration Work in Sciences, Literature and Arts (2011); Bibliographie Heiner Müller (2013). Westphal, Kristin, Prof. Dr. phil. habil., Jahrgang 1953, ist Professorin im Fachbereich Bildungswissenschaften an der Universität Koblenz-Landau, Campus Koblenz. Schwerpunkte: Pädagogische Anthropologie und Phänomenologie, Theorie der medialen Erfahrung mit dem Fokus auf Raum, Stimme und Medien; Ästhetik und Bildung: Studien zur Wahrnehmung und Aufmerksamkeit von Theater, Tanz und Performance; Forschung zur kulturellen und ästhetischen Bildung. Letzte Veröffentlichungen: Räume der Unterbrechung. Theater. Performance. Pädagogik (Oberhausen 2012); zusammen mit Benjamin Jörissen: Vom Straßenkind zum Medienkind (Weinheim 2013); in Vorbereitung zusammen mit Wolf-Andreas Liebert: Performances der Selbstermächtigung (Oberhausen 2014).

Theater Nina Birkner, Andrea Geier, Urte Helduser (Hg.) Spielräume des Anderen Geschlecht und Alterität im postdramatischen Theater Juni 2014, 244 Seiten, kart., 29,99 €, ISBN 978-3-8376-1839-6

Natalie Driemeyer, Jan Deck (Hg.) »Odyssee: Heimat« Identität, Migration und Globalisierung im Blick der Darstellenden Künste Januar 2015, ca. 202 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 26,80 €, ISBN 978-3-8376-2012-2

Andreas Englhart Das Theater des Anderen Theorie und Mediengeschichte einer existenziellen Gestalt von 1800 bis heute Dezember 2014, ca. 420 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 35,80 €, ISBN 978-3-8376-2400-7

Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de

Theater Melanie Hinz Das Theater der Prostitution Über die Ökonomie des Begehrens im Theater um 1900 und der Gegenwart April 2014, 264 Seiten, kart., 32,99 €, ISBN 978-3-8376-2467-0

Annemarie Matzke, Ulf Otto, Jens Roselt (Hg.) Auftritte Strategien des In-Erscheinung-Tretens in Künsten und Medien Januar 2015, ca. 270 Seiten, kart., ca. 32,80 €, ISBN 978-3-8376-2392-5

Wolfgang Schneider (Hg.) Theater entwickeln und planen Kulturpolitische Konzeptionen zur Reform der Darstellenden Künste 2013, 320 Seiten, kart., 24,99 €, ISBN 978-3-8376-2572-1

Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de

Theater Daniele Daude Oper als Aufführung Neue Perspektiven auf Opernanalyse Juli 2014, 286 Seiten, kart., 29,99 €, ISBN 978-3-8376-2493-9

Andreas Englhart, Artur Pelka (Hg.) Junge Stücke Theatertexte junger Autorinnen und Autoren im Gegenwartstheater Juni 2014, 416 Seiten, kart., 35,99 €, ISBN 978-3-8376-1734-4

Denis Hänzi Die Ordnung des Theaters Eine Soziologie der Regie 2013, 454 Seiten, kart., 32,80 €, ISBN 978-3-8376-2342-0

Stefanie Husel Grenzwerte im Spiel Die Aufführungspraxis der britischen Kompanie »Forced Entertainment«. Eine Ethnografie August 2014, 352 Seiten, kart., zahlr. Abb., 39,99 €, ISBN 978-3-8376-2745-9

Joy Kristin Kalu Ästhetik der Wiederholung Die US-amerikanische Neo-Avantgarde und ihre Performances 2013, 298 Seiten, kart., zahlr. Abb., 33,80 €, ISBN 978-3-8376-2288-1

Denis Leifeld Performances zur Sprache bringen Zur Aufführungsanalyse von Performern in Theater und Kunst

Eckhard Mittelstädt, Alexander Pinto (Hg.) Die Freien Darstellenden Künste in Deutschland Diskurse – Entwicklungen – Perspektiven 2013, 234 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1853-2

Ulf Otto Internetauftritte Eine Theatergeschichte der neuen Medien 2013, 324 Seiten, kart., zahlr. Abb., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-2013-9

Camilla Schlie, Sascha Willenbacher (Hg.) »Eure Zwecke sind nicht unsre Zwecke.« Zur Kooperationspraxis zwischen Theater und Schule im Berliner Modellprojekt »JUMP & RUN« Dezember 2014, ca. 250 Seiten, kart., zahlr. farb. Abb., ca. 29,99 €, ISBN 978-3-8376-2738-1

Beatrice Schuchardt, Urs Urban (Hg.) Handel, Handlung, Verhandlung Theater und Ökonomie in der Frühen Neuzeit in Spanien Juli 2014, 314 Seiten, kart., 39,99 €, ISBN 978-3-8376-2840-1

Nina Tecklenburg Performing Stories Erzählen in Theater und Performance April 2014, 348 Seiten, kart., zahlr. Abb., 34,99 €, ISBN 978-3-8376-2431-1

Januar 2015, ca. 300 Seiten, kart., ca. 34,99 €, ISBN 978-3-8376-2805-0

Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de

Zeitschrif t für Kultur wissenschaf ten Gudrun Rath(Hg.)

Zombies Zeitschrift für Kulturwissenschaften, Heft 1/2014

Mai 2014, 120 Seiten, kart., 14,99 €, ISBN 978-3-8376-2689-6 Der Befund zu aktuellen Konzepten kulturwissenschaftlicher Analyse und Synthese ist ambivalent. Die Zeitschrift für Kulturwissenschaften bietet eine Plattform für Diskussion und Kontroverse über »Kultur« und die Kulturwissenschaften – die Gegenwart braucht mehr denn je reflektierte Kultur sowie historisch situiertes und sozial verantwortetes Wissen. Aus den Einzelwissenschaften heraus wird mit interdisziplinären Forschungsansätzen diskutiert. Insbesondere jüngere Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen kommen dabei zu Wort. Wenn die Toten zum Leben erwachen: Die Figur des Zombie ist nach wie vor populär. Aber was genau ist ein Zombie und woher rührt seine Faszinationskraft? Das aktuelle Heft der ZfK geht dem auf den Grund. Lust auf mehr? Die ZfK erscheint zweimal jährlich in Themenheften. Bisher liegen 15 Ausgaben vor. Die ZfK kann auch im Jahresabonnement für den Preis von 25,00 € (international 30,00 €) bezogen werden. Bestellung per E-Mail unter: [email protected]

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