Ästhetik in Krisenzeiten 9783787343485, 9783787342723

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Ästhetik in Krisenzeiten
 9783787343485, 9783787342723

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Ästhetik in Krisenzeiten Gregory Fuller

Meiner

Gregory Fuller

Ästhetik in Krisenzeiten

Meiner

Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie ; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über ‹http://portal.dnb.de› abrufbar. ISBN 978-3-7873-4272-3 ISBN eBook  978-3-7873-4348-5

© Felix Meiner Verlag Hamburg 2023. Alle Rechte vorbehalten. Dies gilt auch für Vervielfältigungen, Übertragungen, Mikroverfilmungen und die Einspei­cherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen, ­soweit es nicht §§ 53, 54 UrhG ausdrücklich gestatten. Satz: mittelstadt 21, Vogtsburg-Burkheim. Druck und Bindung: Stückle, Ettenheim. Gedruckt auf alterungsbeständigem Werk­druck­papier, hergestellt aus 100 % chlorfrei ­gebleichtem Zellstoff.  Printed in Germany.

INHALT

Einleitung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 Vorrede: Von den Krisen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11 Keine ästhetische Krise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25 Empirische Ästhetik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 57 Götterdämmerung des ästhetischen Urteils . . . . . . . . . . . . . . . . 89 Die Rückkehr der Schönheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 117 Ästhetische Erfahrung I: Alltagsästhetik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 153 Ästhetische Erfahrung II: Die Natur als Gewesene . . . . . . . . . . . 187 Ästhetische Erfahrung III: Emotionen in der Literaturrezeption . 227

Abbildungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 276 Anmerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 277 Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 317

EINLEIT UNG Unter »Ästhetik« verstehe ich nicht die traditionelle Lehre vom Schönen. Die Moderne des 20. Jahrhunderts lehrte uns, dass ästhe­ tische Erfahrungen keineswegs »schön« sein müssen, um bedeutsam zu sein. Unter Ästhetik verstehe ich, auf Alexander Baumgartens Aesthetica von 1750 zurückgreifend, eine sinnliche bzw. kognitive Erfahrung von Gegenständen, seien es Kunstprodukte, die Natur oder einfache Alltagsgegenstände. Etwas ästhetisch erfahren heißt, zunächst eine Perzeptionserfahrung zu machen. Dabei kommt es auf das Wie an: Wird der Gegenstand »ästhetisch« erfahren oder nur als Perzeptions- und Kognitionsreiz? Das Kapitel über empirische Ästhetik gibt darüber einige Auskunft. Wozu soll man, nicht in dürftiger, sondern zumindest in ästhetisch übervoller Zeit, überhaupt Ästhetik betreiben? Aus drei Gründen. Zum einen tobt um uns herum eine Moderne – keine »Spätmoderne«, keine »Postmoderne«, keine »zweite Moderne« –, die die Perzeptionswelt dergestalt verwandelt, dass ich sie mit dem Begriff der Digitalen Moderne auf den Begriff bringen möchte. Sie verändert die ästhetischen Erfahrungen auf eine nie gekannte, ­rasante Weise. Zum anderen lohnt es sich, die Möglichkeiten der zeitgenössischen Ästhetik, die sich im Umbruch befindet, nicht jedoch in der Krise, zu erkunden und zu diskutieren. Ich bemühe mich in diesem Versuch (buchstäblich essai) um die Beantwortung einer Reihe von Fragen im Hinblick auf eine zeitgemäße, grundlegende ästhetische Theorie. Es gibt noch einen dritten Grund, heute Ästhetik zu betreiben. Die Makrokrise der sich anbahnenden ökologischen Zerstörung, ja der Weltkatastrophe, konfrontiert uns mit der Frage, ob wir weiterhin die Umweltzerstörung fortsetzen wollen, und wenn nicht, welche harten Konsequenzen wir hinzunehmen bereit sind. Sollte man überhaupt die Ruhe finden wollen, sich mit Ästhetik abzugeben, wo es drängt und an allen Ecken knirscht? Ich meine ja, denn 7

die Auslöser ästhetischen Empfindens gehören zum Großartigsten, das die Welt hervorbringt. Dazu gehören auch Kunstprodukte. Sie bestätigen das Menschsein gerade in Zeiten der ökologischen Verwandlung der Welt zum Negativen. Aber Vorsicht: Kunstwerke im weitesten Sinn sind keine Lösung, sie sind ebenso wenig Heilsbringer wie ihre Hervorbringer, die Künstlerinnen und Künstler. Kunstprodukte mögen großartig sein, sie dürfen jedoch keine Erhabenheit für sich beanspruchen, wie zu beweisen sein wird. Ihr Wirkungskreis bleibt sehr klein; aber besser klein als gar nicht vorhanden. Eine weitere Warnung: Man sollte nicht versuchen, die Ästhetik dazu hinzubiegen, außerästhetische Probleme ästhetisch zu lösen. Die engen Grenzen einer engagierten Naturästhetik bespreche ich im sechsten Kapitel, Ästhetische Erfahrung II: Die ­Natur als Gewesene. In jedem der sieben Kapitel diskutiere ich Grundlegendes: In einem Rückblick hole ich im ersten Kapitel, Keine ästhetische Krise, weit aus, vielleicht allzu weit, um theoriekritisch von den 1960er Jahren zu einer hochaktuellen Bestandsaufnahme in den 2020er Jahren zu gelangen. In diesem ersten Kapitel sortiere ich vieles Althergebrachte aus der zeitgenössischen Ästhetik aus. Im zweiten Kapitel, Empirische Ästhetik, frage ich, inwieweit ein naturwissenschaftlich basiertes Herangehen dazu beitragen kann, ästhetische Fragestellungen mit zu beantworten. Im dritten Kapitel, Götterdämmerung des ästhetischen Urteils, kritisiere ich die über zweihundert Jahre alte, vor allem von Hume und Kant begründete Urteilsästhetik. Ist sie noch zeitgemäß? Das bezweifle ich und schlage Alternativen vor. Im vierten Kapitel, Die Rückkehr der Schönheit, beobachte ich die Relevanz der Schönheitsempfindung heute und kritisiere die Digitalwelt. Schließlich gehe ich in den letzten Kapiteln fünf, sechs und sieben in die Tiefe der drei ästhetischen Erfahrungsbereiche, nämlich Ästhetische Erfahrung I: Alltagsästhetik, Ästhetische Erfahrung II: Die Natur als Gewesene und Ästhetische Erfahrung III: Emotionen in der Literaturrezeption. In diesen drei Kapiteln untersuche ich die unterschiedlichen Erfahrungsbereiche der Ästhetik. Wie ist die jeweilige ästhetische Erfahrung möglich? Was sind ihre Parameter und was können wir von ihr erwarten? In dieser Ästhetik bemühe ich mich um einen vernünftigen Weg und versuche, sinnvolle, konsensfähige Lösungen anzubieten. Das 8 | Einleitung

Vorgehen will pragmatisch sein. Pragmatisch bedeutet zweierlei: Semiotisch gesehen hat Pragmatik mit dem Verhältnis von Zeichen und Interpret zu tun. Diesen Pragmatik-Begriff weite ich auf das perzipierende Subjekt aus, das Kunstprodukte erfährt mit all ihren ästhetischen Genüssen. Daher befasst sich diese Untersuchung nicht mit der Produktionsästhetik. Ich konzentriere mich ganz auf das interpretierende, erfahrende Subjekt der Rezeptionsästhetik. Diese Ästhetik untersucht die Subjektivität der vielfältigen ästhetischen Erfahrungen; was aber keineswegs die Ästhetik subjektiv mystifizieren soll. Gerade alle reduktionistischen, monokausalen oder monothematischen Begriffe und Theorien kritisiere ich. Es gilt, aufgeblasenen Begriffen durch beherztes Anstechen des Ballons ein Ende mit einem Knall zu bereiten. Ich bemühe mich, die Ästhetik einzuschränken, um ihr eine neue Perspektive zu ermöglichen, um der zeitgenössischen und zukünftigen Ästhetik neue Felder zu erschließen: der urteils- und normfreien Ästhetik, der empirischen Ästhetik, der Globalästhetik, der Alltagsästhetik, der neuen Naturästhetik unter dem Damoklesschwert der Vernichtung. Die Verabschiedung der veralteten Urteilsästhetik macht den Weg frei für viele Rekonfigurationen, zum Beispiel vom hedonischen Wert. Die Verschlankung der Ästhetik impliziert außerdem die Befreiung von alten philosophischen Kategorien wie Schein, Mimesis, Werkbegriff, Essentialismus und Wahrheitstheorien aller Art, um nur ein paar zu nennen. In gut kantischer Manier gilt es, alles einer Prüfung zu unterziehen und stets die ästhetischen Grenzen, zum Beispiel des Erhabenheitsbegriffs, mitzureflektieren. Wer vermutet, ein Paradigmenwechsel der ästhetischen Theorie stehe notwendigerweise an, der muss radikalkritisch denken. Insofern muss ich selbstkritisch anmerken: Vielleicht bin ich, wenigstens gelegentlich, über das Ziel hinausgeschossen. Am wenigsten steht es einer Ästhetik, die Neuland betritt, zu, Wahrheit für sich zu beanspruchen und diese im Überschwang der Entdeckerfahrt für sich zu pachten. In der dynamischen Ästhetik ist nichts »wahr«, nicht einmal der problematische Begriff. Que sais-je? Daraus folgt: In der zeitgenössischen Ästhetik dürfen keine großen Ideen allgemeiner Art, keine philosophischen Prinzipien vorherrschen, aus denen Ästhetisches abzuleiten wäre, was eine Einleitung | 9

Ästhetik perspektivierte, somit präjudizierte. Ich biete kein ästhetisches Prinzip an. Ich leite nichts her. Ich suche nach Einzellösungen und stelle lediglich Zusammenhänge her. Alltag, Natur und Kunst sind dynamische, subjektive Erfahrungen, die unser emotionales Gehirn interessiert erfährt. Nicht nur in diesem Kontext von Kants ästhetischer Interesselosigkeit erlaube ich mir, bei aller Hochachtung vor dem großen Königsberger, ja bei aller Zuneigung zum Aufklärer Kant, kreativ mit seiner Kritik der Urteilskraft umzugehen. Seine überaus bedeutsame Theorie des »interesselosen Wohlgefallens« ist so kompliziert und scheint auf den ersten Blick durchaus überzeugend, sodass ich in dieser kleinen Schrift mehrere Anläufe benötige, um zu einem ausgewogenen Urteil darüber zu gelangen. In dieser verschlankten Ästhetik eröffnen sich neue Felder. Ins­ besondere die heutzutage schon allein aus Respekt vor anderen Kulturen absolut gebotene Globalästhetik beziehe ich in diese Überlegungen so weit wie möglich mit ein. Mein Ansatz der Glob­al­ ästhetik in dieser Schrift erhebt keinesfalls Anspruch auf Vollständigkeit. Ich setze lediglich globalästhetische Zeichen, die zukunftsweisend sein könnten. Hier wäre noch viel zu leisten, von mir und in jeder zukünftigen Ästhetik, die die Zeichen der Zeit freudig und angstfrei erkennt. Eine Welt wäre zu gewinnen.

10 | Einleitung

VORREDE: VON DEN K RISEN Die Ästhetik darf sich der Welt nicht verschließen. Eine ästhetische Studie, die die Krisen ihrer Zeit ausklammerte, würde ihre Weltfremdheit nicht abschütteln. Diese Ästhetik hingegen verpflichtet sich einer möglichen selbst begründeten esthétique engagée (sofern man überhaupt davon sprechen kann), denn die globalen Krisen pochen auch an ihre Türe. Inwieweit sich der Gedanke einer engagierten Ästhetik allerdings realisieren lässt, wird sich hier im Naturkapitel Ästhetische Erfahrung II ergeben. Da der ästhetische Zugang zu den Künsten auf der Metaebene stattfindet, vermag die Ästhetik selbst natürlich keine Lösungen für die globalen Probleme anzubieten. Sie hat jedoch etwas zu diesen Problemen zu sagen, und insofern versuche ich, sinnvolle Konsequenzen aus den Weltkrisen zu ziehen, wie sie sich in diesem ästhetischen Zugang offenbaren. Die zu ziehenden Konsequenzen ergeben sich im Lauf der Kapitel, insbesondere beim Kapitel über die Naturästhetik. Das Engagement erstreckt sich auch auf mein Bemühen, eine allgemeinverständliche, vernünftige und humane Ästhetik in die Welt zu setzen. Sie soll ihre Leserinnen und Leser darin unterstützen, großen ästhetischen Genuss und, falls nötig, Trost in den Künsten zu erfahren. Das impliziert eine kleine Auseinandersetzung mit der Vergeblichkeit, der Kassandratochter der Vergänglichkeit. Letztere wird sichtbar im späten grafischen Werk von Leonardo da Vinci, worin Megastürme alles Irdische hinwegzufegen drohen; womit Leonardos Werk tragischerweise Aktualität beweist. Denn die Welt, wie wir sie kennen, beginnt sich vor unseren Augen aufzulösen und in Stürmen, Wassermassen, Hitze, Waldbränden und in entwaldeten Wüsten zu vergehen. Damit spreche ich die einzige, aber gigantische Makrokrise der Ökologie an. Sie überwölbt alles in ihrer dräuenden Bedeutsamkeit und beginnt, alle Lebensbereiche mit ihrer Wirkungskraft zu durchdringen. Ich diskutiere zwei wesentliche gegenwärtige Ausprägungen von Krisen: die einzige Makrokrise der Ökologie (die eben nicht nur 11

mit dem Klimawandel zu tun hat, sondern auch etwa mit dem katastrophalen Artensterben). Danach greife ich eine grundlegende Mikrokrise heraus, die Mikrokrise des gesellschaftlichen Zusammenhalts. Mikrokrisen halte ich prinzipiell für lösbar, die Makrokrise der Ökologie jedoch nicht mehr. Die fortgeschrittene Zerstörung der Mitwelt verneint, was Kant in der Kritik der Urteilskraft prädarwinistisch als »objektive Zweckmäßigkeit der Natur« bezeichnete.1 Die natürliche Entfaltung der Natur und das ungehinderte Wirken ihrer Interdependenzen geraten zusehends durcheinander. Der Klimawandel ist bereits hier, schrieb David Wallace-Wells, und »… es wird kein Normal mehr geben«.2 Im Jahr 2018 warnten 42 Wissenschaftler aus aller Welt, dass kein Ökosystem der Erde sicher wäre, wenn wir so weitermachten wie gegenwärtig.3 Andere Kritiker sprechen davon, dass diese »hegemoniale Zivilisation des globalisierten Kapitalismus«, das sie »Empire« nennen, vollkommen gescheitert sei. 4 Die Umweltpro­ bleme, schrieb Ulrich Beck, sind »grundsätzlich in ihrer Verursachung und in den erwartbaren Konsequenzen nicht-linear geworden, diskontinuierlich sowohl im Raum als auch in der Zeit, was sie ihrer Natur nach unvorhersehbar, kaum begreifbar macht«. 5 Heute bestehe ein »Verantwortungs- und Zurechnungsdefizit«. 6 Die Welt wurde unvorhersehbar, ja, die Unvorhersehbarkeit kann man nun als Konstante bezeichnen. Da ich an anderer Stelle 7 ausführlich auf das ökologische Pro­ blem (um es freundlich zu formulieren) der Menschheit eingegangen bin, fasse ich nur einige Punkte zusammen, die uns in den Abgrund führen. Die Problemfelder können als bekannt vorausgesetzt werden; eine gute Zusammenfassung liefert auch David Wallace-Wells. 8 Dass der Planet der extremen Aufheizung noch in diesem Jahrhundert entgegengeht, darf als absolut gesichert gelten. Aufgrund des gegenwärtigen Kohlendioxidausstoßes wird sich die Aufheizung nicht auf +2 °C bis zum Jahr 2100 eingrenzen lassen. Da CO2 bis zu 120 Jahren in der Atmosphäre verbleibt, würde sich selbst bei sofortigem (utopischem) Stopp aller CO2-Immissionen der Treibhauseffekt weiterhin massiv verstärken. Weil die übersäuerten und mit Plastikabfällen befallenen Weltmeere und die schwindenden 12 | Vorrede: Von den Krisen

Waldflächen immer weniger CO2 aufnehmen können, potenziert sich der Treibhauseffekt. Ein paar Beispiele: Die fünf heißesten Sommer seit dem Jahr 1500 fanden nach 2002 statt. Laut dem Weltklimarat der UN lagen die arktischen Oberflächentemperaturen 2016–18 bereits 6 °C über dem Durchschnitt der Jahre 1981–2010.9 Schon bei einer planetarischen Aufheizung um 5 °C wäre ein Überleben für weite Teile der Weltbevölkerung unmöglich. Bei einer Erderwärmung von 7 °C würden Menschen in der Äquatorialzone zu Tode gekocht.10 Ganz abgesehen von Ernährungsproblemen, vom Süßwassermangel, von Hitzesommern und extremen Wetterausprägungen ungeahnten Ausmaßes, bedingt die planetarische, menschengemachte Aufheizung mehrere Rückkopplungen: Jedes Jahr erfährt jetzt auch der reiche Westen eine Sommerdürre und einen Waldbrand nach dem anderen, was wiederum den Treibhauseffekt verstärkt. Der Aufheizeffekt trifft die polaren Eisschilde mehrfach, d. h. sie schmelzen rapider als vor 20 Jahren angenommen, und zwar in allen Monaten im Jahr, »unprecedented in at least 1000 years«, wie der Weltklimarat feststellt.11 Das Schmelzen des Polareises wird nicht nur die Meeresströmungen verändern, sondern durch das Fehlen des Polareises wird weniger Sonne ins All zurückstrahlen können, was wiederum den Treibhauseffekt verstärkt und den Meeresspiegel um Dutzende von Metern ansteigen lassen wird. Am meisten Sorge macht mir der auftauende sibirische und kanadische Permafrost. Der Kipppunkt könnte schon jetzt erreicht sein. Im Permafrost sind 30–60 Milliarden Tonnen Methan gebunden, die mindestens fünfundzwanzigmal (kurzfristig bis zu achtzigmal) so stark zum Treibhauseffekt wie CO2 beitragen.12 Da Methan (bisher) nur bis zu 18 % zum Treibhauseffekt beiträgt, muss man ab jetzt bei Methan mit einem prozentualen Anstieg in der Gesamtmasse des Treibhauseffekts rechnen; was wiederum die Welttemperatur ansteigen lassen wird. Mit anderen Worten: Schlägt erst einmal die Permafrost-Entfrostung zu, wird sich die Aufheizung des Planeten potenzieren mit einer Potenz, die man noch gar nicht abzuschätzen vermag. Die Frage ist nicht, ob, sondern wann der Kipppunkt der Aufheizung von Tundra, der Kipppunkt der übersäuerten Meere und der Kipppunkt der Polareisschmelze erreicht sein wird. Zu den Vorrede: Von den Krisen | 13

Weltmeeren sei noch angemerkt, dass es jetzt schon mehr als 400 große maritime »Todeszonen« gibt, hervorgerufen durch Meeres­ erwärmung, Meeresübersäuerung und Meeresverschmutzung.13 Die Aufheizung des Planeten mit den immensen Ernährungsund Desertifikationsproblemen, die sie nach sich zieht, wird mindestens ein Dreifaches für die Weltbevölkerung bedeuten: anwachsende Migrationsströme, Hunger und Klimaauseinandersetzungen bis hin zu Klimakriegen.14 Das ZDF berichtete von 80 Millionen Flüchtlingen weltweit im Jahr 2019, Tendenz steigend.15 Das fürchterliche und unumkehrbare Artensterben in diesem Anthropozän möchte ich nur kurz ansprechen: Es nimmt exponentiell zu und hat nun auch die Insekten erfasst. Mindestens 150  Arten sterben pro Tag aus. Man vermag nicht einmal abzuschätzen, wie viele pro Jahr vergehen. Eine Schätzung reicht bis zu 58.000 Arten.16 Ganz gleich, ob diese Zahl zu hoch gegriffen sein mag: die unumkehrbare Tendenz zählt. Der Klimawandel ist natürlich nicht die einzige Ursache für das Artensterben. Eingeengte Lebensräume der Wildtiere durch Überbevölkerung, Wilderei, Abholzung der Urwälder, Austrocknung und Desertifikation, Intensivlandwirtschaft mit Insektiziden, Pestiziden und Monokulturen tragen ebenso dazu bei. Kurz: Alles, was wir tun, bringt sich ein in den Verlust der Biodiversität und in den sich anbahnenden Klimakollaps. Wie Jonathan Franzen schreibt: An einer Lösung des Klimawandelproblems sind wir gescheitert.17 Read und Alexander gehen noch weiter: Die industrielle Wachstumsgesellschaft sei gescheitert, bei der der Wachstumswahn einen zentralen Bestandteil bildet.18 Diese Kerntendenz von Ressourcenausbeutung, Nutzung und Übernutzung der Natur, diese Verdichtung der Herrschaft über die Natur nannte ich 1993, in Anlehnung an Thomas S.  Kuhns Theorie der wissenschaftlichen Paradigmen, das Super-Paradigma der Menschheit.19 Mit jeder industriell-technologischen Revolution seit 1750 wächst die Naturbeherrschung und somit die Naturzerstörung. Im Jahr 2017 war ich gezwungen, mich zu korrigieren: Ein allzu rasantes Tempo hatte die Mitweltzerstörung inzwischen angenommen. Ich spreche nun von einem »beschleunigten SuperParadigma«.20 Oder wie Franzen schreibt: »Das Erschreckendste am Klimawandel ist die Geschwindigkeit, mit der er voranschrei14 | Vorrede: Von den Krisen

tet  …«21 Der globalisierte Kapitalismus, von unserer Hybris gegenüber der Natur begleitet, potenziert die erweiterte Mitweltzerstörung, indem er beschleunigend wirkt. Die Fridays-for-Future-Bewegung und viele andere Umweltgruppen und -bewegungen halten dem System den Spiegel vor: Ihr raubt uns die Zukunft. Die kritischen Teenager weisen mehr ökologische Einsicht auf als die egoistische Erwachsenenwelt. Parallel zum berechtigten Aufbegehren, das sich in eine weltweite Bewegung verwandelte, begann seit Anfang 2020 die sogenannte »Klima-Angst« oder »Klima-Trauer« um sich zu greifen. Um den Rest der Menschheit ökologisch aufzuwecken, hoffen Read und Alexander auf ein »ökologisches Pearl Harbor«.22 Aber – davon hatten wir bereits mehrere, nämlich Tschernobyl, Bhopal, Seveso, Fukushima sowie jährliche Extremwetterlagen und jährliche Waldbrände. Eine eindämmende Reaktion kommt zu spät, worauf uns schon allein der unumkehrbare Treibhauseffekt hinweist.23 In diesem Kontext: Die weltumspannende Makrokrise des Ökozids muss jetzt als prinzipiell unlösbar gelten; zu punktuell, zu zaghaft und vor allem zu spät tröpfeln die kleinen Reformen halbherzig und unaufrichtig auf die brandheiße Oberfläche des Geschehens; und verdampfen zischend. Wenn systemische Kipppunkte einmal erreicht werden, geht der Kollaps ganz schnell vonstatten. Zu unwillig, zu arrogant, zu systemverhaftet und im Prinzip: zu gleichgültig der Mitwelt gegenüber agiert die Politik das beschleunigte Super-Paradigma aus, bis zum letzten Süßwassertropfen. Geradezu erholsam mag es erscheinen, sich von der unlösbaren ökologischen Makrokrise den prinzipiell lösbaren Mikrokrisen zuzuwenden. Ganz abgesehen vom ökologischen Wandel durchleben wir eine Zeit mehrerer Gesellschaftskrisen. Die erste gesellschaftspolitische Mikrokrise ist der soziale Strukturwandel der letzten Jahrzehnte, der einhergeht mit einer Partizipationskrise. Heutzutage, schreibt Mishra, durchleben wir eine universelle politische Krise: von Rechtsregierungen, Despotie, einer vergifteten politischen Atmosphäre in sehr vielen Ländern und von Terrorismus.24 Nach dem Ende des Kalten Kriegs 1989/1990 gab es große Erwartungen, und die Nichteinlösung vieler Versprechen führte zur Desillusionierung vieler Menschen. Diese »große Erzählung des gesellschaftlichen Fortschritts« in wirtschaftlicher, politischer, Vorrede: Von den Krisen | 15

sozialer, kultureller und technischer Hinsicht, die »liberale Fortschrittserzählung«, wie Reckwitz schreibt, sei brüchig geworden.25 Heute machten sich Gefühle der Ausweglosigkeit und der Nostalgie breit, verbunden mit einer Sehnsucht nach den Fortschritten der 1950er Jahre, nach den Trentes Glorieuses von 1946–1975.26 Die Krise dringt tiefer als eine Nostalgiestimmung. Tatsächlich haben wir es mit einer Vertrauenskrise zu tun, nicht nur in der Poli­tik, sondern dem Leben gegenüber. Da die prinzipiell unlösbare ökologische Makrokrise nun ins allgemeine Bewusstsein gedrungen ist, verwundert das nicht: Als Resultat entsteht eine allgemeine Vertrauenskrise. »Wohin wir sehen, ist das Vertrauen in die Kon­ trol­lierbarkeit unserer Welt ins Wanken geraten. Der Klimawandel erschüttert unser Vertrauen in den Kapitalismus, der uns bisher doch so zuverlässig mit Wohlstand versorgte. Der Populismus erschüttert unser Vertrauen in den Kompromiss, der Terrorismus erschüttert unser Vertrauen in die öffentliche Sicherheit, Fake-News erschüttert unser Vertrauen darauf, dass es überhaupt so etwas wie Wahrheit gibt, auf die wir uns einigen können«, heißt es in der ZEIT.27 Es geht um den Verlust des Gefühls, dass das Alltagsleben sich so, wie man es gewohnt war, fortsetzen wird. Hierin drückt sich eine Kontinuitätskrise aus: Nach allem, was man weiß, kann und wird es so nicht weitergehen. Das westliche Geschäftsmodell, Wachstum durch Ausbeutung, ist bankrott.28 Und dennoch sind die Zustimmungswerte zur Demokratie hoch, wie Umfragen ergeben. Eine europäische Erhebung von 2012 über die Wichtigkeit, in einem demokratisch regierten Land zu leben, mit einer Skala von 0–10, zeigte eine breite Zustimmung der eigenen Bevölkerung: Skandinavien 9.2, übriges Westeuropa 8.5, Südeuropa 8.6, Zentral-/ Osteuropa 8.1, hybride Demokratien 7.3, alle: 8.4.29 Dennoch fühlen sich viele Menschen mit der Repräsentation ihrer selbst im politischen Geschehen nicht zufrieden. Diese Partizipationskrise im Verhältnis zu hohen Zustimmungswerten für die Demokratie nennen die Autoren/innen Allmendinger et alii das »demokratische Paradox«, was mit den Erwartungen der Bürger im Parteiensystem zusammenhänge. 30 Das betrifft im Wesentlichen die gut funktionierenden Demokratien des Westens. Weltweit gesehen, in Ländern, deren autokratische Herrscher nach 1945 modernisierten, herrschte ein ganz anderes Problem 16 | Vorrede: Von den Krisen

vor. Denn den Herrschern gelang es nicht – der Iran des Shahs ist dafür typisch –, die Mehrheit ihrer Schutzbefohlenen in die moderne Welt zu führen. »Ihre gescheiterten Revolutionen von oben bereiteten den Weg für radikale Revolten von unten, auf die wiederum Anarchie folgte …«, wie Mishra schreibt.31 Ein verheerender Identitäts- und Sinnverlust wurde durch die »mimetische Aneignung« des Westens herbeigeführt. Diese Aneignung nennt sich »Mimesis-Problem«.32 Die Nutznießer der Verwestlichung nannte V. S.  Naipaul »mimic men«. 33 Im Westen selbst gab es eine mimetische Aneignung von Lebensweisen von unten nach oben, indem das Bürgertum die Lebensformen des Adels nachäffte. Dank der breiten Demokratisierung der westlichen Gesellschaften gilt dieses jahrhundertelang gültige Schema nicht länger. Die Spätmoderne, heißt es bei Reckwitz, sei eine widersprüchliche Gesellschaftsformation von sozialem Abstieg und Aufstieg, von kultureller Aufwertung, Entwertung und Polarisierung. 34 Seit ungefähr 1990 haben sich in den westlichen Gesellschaften die Sozialstrukturen und Lebensformen grundsätzlich transformiert. 35 Die nivellierende Mittelschichtsgesellschaft mit i­hren Aufstiegsmöglichkeiten existiert nicht mehr.36 Aus der alten Mittelschicht stieg eine neue Mittelschicht von hochqualifizierten Akademikern auf, deren Wohlstand, Lebensausrichtung und Kultur sich grundlegend von der alten Mittelschicht unterscheidet. Die alte Mittelklasse (ich nenne die Sache beim Namen) steigt in der sozialen Hierarchie und in ihren alten Werten ab. Sie steht für Sesshaftigkeit und für Ordnung und orientiert sich kulturell defensiv. 37 Die Qualität und Quantität des realen und kulturellen Kapitals prägt die neue, urbane Mittelklasse. Wissensökonomie ballt sich in ihr, ebenso wie individuelle Selbstentfaltung. Danach strebt die neue, kosmopolitische Mittelklasse. Sie trachtet nach Lebensqualität, während die alte Mittelklasse auf die Erfüllung von Normen pocht. Die neue Mittelklasse besitzt ein »erweitertes Kulturverständnis«. 38 Aufgrund des Aufstiegs der neuen Mittelklasse droht die alte kulturell, medial und politisch unsichtbar zu werden. Sie besteht aus Personen in mittleren beruflichen Positionen, meist mit mittleren Bildungsabschlüssen, die sich vor allem in Klein- und Mittelstädten sowie im ländlichen Raum ballen. Selbstdisziplin, Arbeitsethos und Regional- und Familienzentrierung Vorrede: Von den Krisen | 17

kennzeichnen sie. Ihre Lebens­prinzi­pien haben ihre vormalige gesellschaftliche Hegemonie verloren, ihre Lebenswelten verlagerten sich vom Zentrum an die Peripherie. 39 Die alte Mittelklasse wurde räumlich und kulturell deklassiert, während die neue Mittelklasse in den Metropolen lebt und von der Kultur dort zehrt.40 Ein beträchtliches Segment der Bevölkerung ist aus der einst nivellierenden Mittelstandsgesellschaft nach unten herausgebrochen, die prekäre Klasse oder die Unterklasse.41 Diese Klasse lässt sich in den deindustrialisierten, strukturschwachen Regionen in Nordfrankreich, im mittleren Westen der USA, im Ruhrgebiet und in Teilen Ostdeutschlands verorten. Viele Menschen gehören zum »Dienstleistungsproletariat« bzw. der »service class«. Ihre Einkommen sind generell unterdurchschnittlich. Eine gesellschaftlich attraktive Arbeit erfüllt sich für die prekäre Klasse nicht. Ihre oft körperliche Arbeit wird deutlich weniger angesehen als die Wissens- und Kommunikationsarbeit. Die Kluft zwischen der prekären Klasse und der Oberklasse, deren Vermögen seit 1980 exorbitant anstieg, ist immens. Je genauer man hinschaut, desto klarer wird die interne Heterogenität der vier Klassen. Die neue Mittelklasse lässt sich vierfach ausdifferenzieren: das liberal-intellektuelle Milieu mit Bildung und Hochkultur; das postmaterialistische, sozial-ökologische Milieu; das Performermilieu mit Erlebniskonsum und Unternehmertum; das expeditive Milieu der urbanen Kreativen einer jüngeren Generation.42 Die relativ harte Klassentrennung von Oberklasse oder Klasse der Superreichen (nur ein Prozent der Bevölkerung) von neuer Mittelklasse, alter Mittelklasse und Unterklasse schafft Hegemoniekonflikte insbesondere zwischen alter und neuer Mittelklasse. Ebenso unterscheiden sich die Werte der alten und neuen Mittelklasse. Auch ein Wertekonflikt findet statt. Die Aufteilung der Gesellschaft in vier unterschiedliche Klassen weist darauf hin, dass man es nicht länger mit einer Gesellschaft der Gleichen zu tun hat. Seit den 1990er Jahren wurde die vor allem von der neuen Mittelklasse ausgehende Selbstverwirklichung zur »neuen Norm spätmoderner Subjektivität …«43 Der radikalisierte Individualismus treibt den modernistischen Individualismus auf die Spitze. Alles Eigene muss ganz besonders, ganz unvergleichlich, 18 | Vorrede: Von den Krisen

muss ein Superlativ sein. Reckwitz nennt das »Singularisierung« des Lebens. 44 Man bemüht sich, vorgeblich Authentisches anzustreben, um auf diese Weise das eigene Leben unaustauschbar zu gestalten. Der Durchschnitt genügt nicht mehr, denn die Singularisierung des eigenen Sozialen verspricht Befriedigung, Prestige und Identifikation: die Transformation von der Gesellschaft der Gleichen zur Gesellschaft der Singularitäten. Das Nicht-Singuläre wird abgewertet; eine »äußerst ambitionierte Gesellschaftsform«, … die »ein systematisch begründetes hohes Enttäuschungspotenzial« enthält.45 Die Singularitätskultur ist auch eine emotionalisierte Kultur, eine gelebte Emotionalität. In den Generationen von 1920–60 war Coolness gefragt, Emotionen waren ein Zeichen von Schwäche. Zunehmend nach den 1970er Jahren entwickelte sich eine neue Subjektkultur, die dem Modell der Selbstverwirklichung folgte. Sie verkörpert zweierlei: die eigene Selbstverwirklichung und das Selbst, das sich auf einem hohen sozialen Status durch eine gelungene Selbstdarstellung ausrichtet.46 Reckwitz spricht von einer »performativen Selbstverwirklichung«, das nach innen virtuos verschiedene Kapitalsorten mobilisiert, um Befriedigung und Selbstverwirklichung zu finden. Nach außen macht das Selbstverwirklichungssubjekt seine Interessen und die Singularität seines Lebens gut sichtbar. 47 Auch Mishra schreibt von einem »übersteigerten Individualismus«.48 Der Effekt des singulären Lebens – abgesehen vom hohen Grad einer möglichen Realisierungsenttäuschung – liegt in der partiellen Aufhebung des Gemeinschaftsgefühls; wie weitreichend, hängt von vielen Faktoren ab. Das Individuum setzt sich selbst gegen andere. Man etabliert sich selbst nicht nur als wünschenswertes Absolutum, man wertet sich in höchste Höhen hinauf. Die anderen erfahren Abwertungen. Das Konfliktpotenzial findet sich daher nicht nur zwischen neuer und alter Mittelklasse, deren Personen als durchschnittlich, langweilig, emotionslos und im Grunde wertlos gewertet werden. Der Konflikt findet auch statt zwischen den Individuen derselben Klasse: nicht real und ausgetragen, sondern emotionalisiert. Doch damit der sozialen Konflikte nicht genug, die sich zur Mikrokrise ballen. Es entstand eine Krise des sozialen Zusammenhalts. Vorrede: Von den Krisen | 19

Es geht nicht um einen von Huntington schlecht auf den Begriff gebrachten, hypothetischen Kampf der Kulturen. Vielmehr zeigt sich in fast allen Gesellschaften weltweit ein Konflikt um die Kultur, ein Konflikt um die Deutung von Kultur. Das kosmopolitische Kulturverständnis der neuen Mittelklasse nennt Reckwitz »Hyperkultur«. Dem gegenüber steht ein rückwärtsgewandtes Modell homogener Gesellschaften als imaginierte Gemeinschaft, der »Kulturessentialismus«.49 Mit Kultur ist nicht die Hochkultur gemeint, sondern der Ausdruck bezieht sich auf die Pluralität kultureller Güter, aus denen die neue Mittelklasse nach Bedarf schöpfen kann, in der jedoch nicht alles gleichermaßen von Wert ist.50 Denn die Individuen der neuen Mittelklasse eignen sich die kulturellen Elemente in ihrer Einzigartigkeit an und in ihrer eigenen Zusammenstellung, die als einzigartig gewertet wird. Alles gilt als Bereicherung für die Selbstentfaltung mit ihrem Singularitätsprestige. Das prägt den kosmopolitischen Lebensstil. Bestehende lokale Kulturen werden für diesen dienstbar gemacht. Die Leerstelle der Hyperkultur liegt in ihrem übersteigerten Individualismus, der auf der grenzenlosen Dynamik des Kulturellen aufbaut. Im Extrem kennt diese Kultur nichts Gemeinsames und Geteiltes mehr, das über die Grenze des Individuums hinaus Geltung beanspruchen könnte. Verbindlich Wertvolles vermag die Hyperkultur nicht anzubieten.51 Vielleicht aber gibt es im Fluss der Kultur nichts Verbindliches, gar Normatives, das zu etablieren just eine kosmopolitische Kultur, die sich der Toleranz verschreibt, einlösen müsste. Im Prinzip kann man die kosmopolitische Kultur, die demokratisch, tolerant und aufgeschlossen ist, bejahen. Problematisch wird sie nur in der Extremsteigerung der Singularisierung, mit der man sich sozialperformativ schmückt. Auf diese Weise kann die Hyperkultur gerade die Authentizität, die sie für sich reklamiert, nicht greifen. Die berechtigte Kritik trifft auf die Instrumentalisierung der Hyperkultur zu, was Schein-Authentizität, nicht errungene Authentizität bedeutet. Diese stellt einen Eigenwert dar, meilenweit entfernt von der kapitalistischen Kultur des Für-sich-Grapschens der neuesten Waren im sozialperformativen Prestigewettkampf. Die Gegenfront zur Hyperkultur bildet der Kulturessentialis20 | Vorrede: Von den Krisen

mus. Trotz der unterschiedlichen Spielarten weltweit gehen diese Bewegungen von einem einzigen Ausgangspunkt aus: dem Kollektiv. Auch er wird als singulär aufgefasst. Der Kulturessentialismus baut strikte Grenzen auf zwischen der eigenen Gruppierung und den anderen, zwischen Ingroup und Outgroup. Dem Innen der eigenen Kultur wird ein stabiler und scheinbar unverbrüchlicher Wert zugeschrieben, die Höchstwertung einer »imagined community«. 52 Diese »Neogemeinschaften« definieren und stabilisieren sich meist durch den Traum einer idealen, imaginierten und wiederzubelebenden Vergangenheit. Die »Retrotopie« 53 soll kulturelle Identität und Souveränität stiften. Im Gegensatz zur oft stark individualisierten, aber friedlichen Hyperkultur neigen kulturessentialistische Gruppierungen zur Abgrenzung der eigenen Kultur gegen die kosmopolitischen Eliten, gegen Migranten, gegen Gegenentwürfe zu ihren eigenen Homogenitätsvorstellungen bis hin zum Vernichtungswillen. Der Rückgriff auf die idealisierte Vergangenheit, die als homogen imaginiert wird (aber mit der Geschichte wenig zu tun hat), wird als ein Absolutum gesetzt. Beim Kulturessentialismus werden die Peripherien mobilisiert gegen das Zentrum: kein Klassenkampf, sondern ein gravierender Identitätskonflikt, 54 der als Riss durch viele Gesellschaften geht und als Kampf um die Deutungshoheit der Zukunft interpretiert werden kann. Im Weltmaßstab bildet das Zentrum ein realer oder negativ imaginierter Westen, wie beim Islamismus, wie in Russland, der Türkei, Ungarn, China oder Indien, um nur einige zu nennen. In den 1980er Jahren erfuhren die meisten lokalen Kulturessentialisten die liberale, kosmopolitische Hyperkultur, die noch nicht ausgeprägt war, als nicht bedrohlich für ihre eigene Identität. Sobald beide Ausprägungen einander als konträre Umgangsweisen mit der Kultur wahrzunehmen begannen – was sie ja sind –, fühlten sich die Kulturessentialisten in ihrer Identität bedroht. Die Rekrutierung des Rechtspopulismus aus der neuen Unterklasse und der alten Mittelklasse wird zusehends nach 2010 zum Sammelbecken der real oder imaginiert Deklassierten, der Entwerteten und Gekränkten. Der Populismus wurde geboren. Während die Hyperkultur die Populisten mit Verachtung strafte und straft, reagieren die Populisten mit Aggression. Über die Jahre steigerte sich der populistische Aggressionsstau, je mehr die populistische Vorrede: Von den Krisen | 21

Unsicherheit um Identität wuchs, je mehr Verachtung diese Bewegung von oben erntete, je mehr die eigene Radikalisierung voranschritt bis hin zum Vernichtungswillen gegen die sie (imaginär) Bedrohenden: Linke, Kommunisten, Migranten, Homosexuelle, Intellektuelle, aber auch gegen aufrechte Demokraten, die sich für Minderheiten oder andere soziale Belange einsetzten, wie der Mord im Jahr 2019 an Walter Lübcke beweist. DIE ZEIT hat recherchiert, dass zwischen 1990, dem Einigungsjahr, und Anfang 2020 182 Personen in Deutschland Opfer des Neonazi-Terrorismus wurden; eine höhere Zahl als die offizielle.55 Zum Vergleich: Im selben Zeitraum starben hierzulande drei Menschen als Folge linker  /  anarchistischer Gewalt und 14 Personen durch militant-islamistische Terroranschläge. Auch wenn man die Neonazi-Terroristen nicht zum Populismus rechnet, entstammen sie beide jedoch der oben beschriebenen, identitären und zutiefst verunsicherten Quelle. Die sozialpolitische Gefahr, die von den Identitären ausgeht, kann für den gesellschaftlichen Zusammenhalt nicht hoch genug veranschlagt werden. In manchen Ländern wie den USA, Frankreich, Italien, der Türkei, Brasilien, Ungarn und Polen, um nur einige zu nennen, trägt der Populismus zur extremen Spaltung der Gesellschaft bei. Die von den Populisten herbeigesehnte Homogenisierung der Gesellschaft gemäß der eigenen Kulturvorstellung trägt just nicht zur Homogenisierung bei, sondern löst in der anderen Hälfte der Bevölkerung Widerspruch und Ablehnung aus. Der Kulturessentialismus bis hin zum militanten Islamismus ist für die eigenen Anhänger attraktiv, »weil in ihm das Ressentiment der in der hyperkulturellen Spätmoderne Zukurzgekommenen eine effektive Waffe erhält«. 56 Die Erschöpfung der Hyperkultur im Konsumismus beantworten die Kulturessenzialisten mit der für sie wünschbaren Re-Etablierung kultureller Gemeinschaften, was das normative Vakuum der Hyperkultur »unter Rückgriff auf alte Muster eines homogenen Kollektivs« wieder füllen soll.57 So viel zur Mikrokrise des gesellschaftlichen Zusammenhalts, innerhalb einzelner Gesellschaften und im globalen Maßstab. Diese Krise halte ich für prinzipiell lösbar, auch wenn sich ernsthafte Lösungen im Augenblick nicht anbieten. Auch die Krise, die die europäische Friedensordnung seit 77  Jahren zutiefst bedroht, halte ich für prinzipiell lösbar – aber 22 | Vorrede: Von den Krisen

langanhaltend. Es musste nur im Februar 2022 ein Hobbyhistoriker, Paranoiker und Diktator für sich und sein rückständiges Land ex nihilo eine neuartige Zivilisierungsmission entdecken, die sich als Vernichtung eines Nachbarstaates entpuppte und zum Ziel hat, den imaginierten Glanz des alten Sowjetreiches mit Gewalt wiederherzustellen. Putins völkerrechtswidriger, brutaler und alle Züge eines faschistischen Überfalls tragender Angriffskrieg auf die Ukraine riss die dünne Friedensfirnis eines Kontinents auf. Zum Vorschein kamen die eigenen naiven und verdutzten Gesichter der Europäer. Bei der ebenso völkerrechtswidrigen, gewaltsamen Besetzung der Halbinsel Krim im Jahr 2014 hätte man wissen müssen, mit wem man es zu tun hat. Europa steckte den Kopf in den Sand und wollte aufgrund der Energieabhängigkeit Europas von Russland nicht wissen, was sich da zusammenbraute. Überhaupt hätte man das Narrativ einer friedlichen Welt nach 1945 hinterfragen müssen. Die vielen internationalen Kriege und Bürgerkriege seit dem Koreakrieg relativieren nachdrücklich die pinkfarbene Selbsttäuschung; um nur zwei zu nennen: die Zerfallskriege Jugoslawiens und der serbische Völkermord von Srebrenica sowie der Völkermord in Ruanda. Nach dem existentiellen Krieg gegen die friedliche Ukraine und der folgenreichen, globalen Instabilität der Jahre nach 2022 fällt es schwer, den Blick wieder auf das Individuum zu richten, zu trivial scheinen Bemerkungen über den Sinn des Lebens. Und doch gibt es ihn, den ephemeren Sinn. Er lässt sich im eigenen Leben konstruieren, indem man den Menschen im eigenen Umkreis und sich selber Gutes tut. Sinn lässt sich im humanistischen Handeln und im eigenen Umfeld also realisieren. Doch der Sinn der Spezies Homo sapiens sapiens steht auf einem ganz anderen Blatt, oder genauer: Er löst sich in Luft auf, in der kriegerischen und aufgeheizten. Die ökologische Endzeit, in der wir im permanenten Krisenmodus bereits leben, kann man als monströs bezeichnen. Gegen die durchchemisierte Plantage Erde, gegen die wunderbaren Erfindungen, die die Aufheizung des Planeten nach sich zogen und nach sich ziehen, stehen auf schwächlichen Beinchen die Kunstprodukte der Menschheit, steht der ästhetische Genuss. Am Ende der Welt, wie wir sie noch kennen, verwandelt sich die Kunst in das Gegen-Bild: das Gegenbild gegen die fortgeschrittene Zerstörung. Dem zarten Vorrede: Von den Krisen | 23

Pflänzchen der freien Fantasie kommt – ohne dass Künstlerinnen und Literaten und Komponistinnen dies je intendiert haben müssen – kurzlebige Bedeutung-für-uns zu. Ein kleiner Damm gegen die große Zerstörung. Bevor sie in den Fluten verschwindet oder in den Neo-Wüsten verglüht, trotzt die Kunst als bedeutsamstes Produkt der Menschheit der zermalmenden Vergeblichkeit. Die Lebendigkeit und Bedeutung der Kunst freudig zu bestätigen und diese im Angesicht der Weltzerstörung hochzuhalten und zu genießen, heißt ein trotziges und zugleich freudig-schönes Zeichen zu setzen: Freude, schöner Götterfunken. Mithilfe großartiger Kunstprodukte bekräftigt man das Menschsein. Die krisenbezogene Ästhetik als bescheidenste Eule der Minerva reflektiert die neue Stellung der Künste, indem sie in der Abenddämmerung ­ihren unsicheren Flug beginnt, hinein in den Gazenebel des Ästhetischen.

24 | Vorrede: Von den Krisen

K EINE ÄSTHE TISCHE K RISE Ein erfreulicher Anfang: Nach den Weltkrisen sehe ich nicht, weshalb die Ästhetik in einer Krise stecken sollte. Schon allein wegen der anstehenden Globalästhetik steht die ästhetische Theorie aber im Umbruch. Die Theorie wird in Zukunft Probleme wie etwa das des ästhetischen Urteils zu lösen versuchen, Herausforderungen wie etwa der Neuroästhetik begegnen und Gefahren wie die digitale Konkurrenz umschiffen. Das Minenfeld an schlecht begründeten Meinungen, an anmaßenden ästhetischen Urteilen und an Scheinlösungen muss sie dezidiert entschärfen. Das vermag die ästhetische Theorie, wenn sie als ästhetische Reflexionswissenschaft sich und ihre Grenzen stets mit reflektiert und indem sie sich auf eine Kernkompetenz des Ästhetischen besinnt. Diese Kernkompetenz ist die ästhetische Erfahrung. All das berechtigt jedoch nicht, von einer Krise der Ästhetik zu sprechen. In einer krisengeschüttelten Welt sollte die Ästhetik aber noch viel mehr leisten. In der Folge wird die Theorie alte Zöpfe abschneiden, um sich neu zu konstituieren im Bemühen, eine verschlankte Ästhetik anzubieten. Dabei werde ich Kernbegriffe wie »das Schöne«, das Problem von Kunst und Moral, das ästhetische Urteil hinterfragen und entweder bestätigen oder beiseite räumen und in letzterem Fall neu und dynamisch begründen. Um es hart zu formulieren: Fast alle ästhetischen Begriffe seit Platon und Aristoteles sind heute unbrauchbar, denn die heutige Weltsituation lässt sich mit Hilfe der veralteten Begriffe und Theorien nicht zum Ausdruck bringen. Kendall Walton verneint, dass die Ästhetik eine »Grand Basic Question« habe, im Gegensatz zur Ethik, die fragt, wie man (moralisch) leben soll.1 Ästhetik besitze kein »unified field of inquiry«.2 Ästhetik kann jedoch, fährt Walton fort, allerlei Formen der Kunstproduktion und Kunstrezeption reflektieren, sie klarmachen und in ein offenes ästhetisches Gerüst als Ästhetikfür-uns überführen.3

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Ich stimme Walton zu, meine aber, dass eine reflektierende ästhetische Theorie in Krisenzeiten auch anderes leisten müsste. Sie muss außerdem auf die Krisen reagieren, natürlich ohne Lösungen anzubieten. Je nachdem, wie die Theorie reagiert, wird sie in das dynamische Weltgeschehen eingebunden. Hier zur Einschränkung: Es genügt vollauf, wenn die ästhetische Theorie auf die einzige Makrokrise der Menschheit reagiert, auf die sich abzeichnende ökologische Katastrophe. Dass diese Reaktion in Grenzen möglich ist, werde ich im Lauf der Untersuchung in der Naturästhetik nachweisen, indem ich Vorschläge mache, wie man den ästhetischen Erfahrungsbegriff entgrenzt. Im Gegensatz zu ihrer »Mutter«, der Philosophie, braucht die Ästhetik keine Begründungskrise zu befürchten. Denn ihr Erfahrungsgegenstand, die Künste, sind zweifellos gegeben: vom Tattoo bis Tizian, von Popmusik bis Beethoven, vom Krimi bis zur Recherche von Proust. Die Reflexion auf die ästhetischen Gegenstände legitimiert sie bereits und bedarf keiner weiteren Rechtfertigung. Seit Duchamps Readymades verschwimmen die Grenzen des Ästhetischen. Das gilt es zu akzeptieren, und nicht nur: Das gilt es produktiv in die Ästhetik einzubinden, um zu einem besseren Verständnis des Kunsterlebens beizutragen. Die ästhetische Theorie betritt, da sie keine Grand Basic Question beantworten und keine Begründungskrise befürchten muss, furchtlos Nietzsches Raum der freien Geister.

Kritik der proskriptiven Ästhetik In der Folge werde ich kritisch diskutieren, welche Herangehensweisen die Ästhetik behinderten, also: wo ich mit meinem begrenzten Wissen keine Probleme mehr sehe. Das bezeichne ich als ein kritisches Abschiednehmen von alten Theorien und Problemen oder Scheinproblemen. Nach dieser Radikalkur und am Ende scheinbar ohne Halt werde ich zu konstruktiven Annäherungen übergehen und Baustein um Baustein aufeinanderschichten, in diesem Kapitel wie in allen weiteren Kapiteln. Was ist, erstens, mit einem »ästhetischen Hindernis« gemeint und welche Wege sollte die Ästhetik nach Möglichkeit heute nicht mehr gehen? 26 | Keine ästhetische Krise

Alle proskriptiven Ästhetik-Theorien widersprechen prinzipiell der ästhetischen Offenheit und den verschiedenen Deutungen unterschiedlichster Rezipienten. Proskriptive Ästhetik möchte dasjenige festlegen, was sich dynamisch wandelt: Kunst habe das Schöne darzustellen (die gesamte idealistische Ästhetik bis zur Moderne)4 , Kunst habe die Wirklichkeit abzubilden (alle Abbildtheorien bis zur Widerspiegelungstheorie des Marxismus)5 , Kunst habe zur Katharsis, zur moralischen Reinigung des Publikums beizutra­ gen6 , Kunst soll Belehrung mit Vergnügen koppeln7. Kunst soll den ­Humor, das angewandte Endliche, befördern8 . Es wäre müßig, all diese proskriptiven älteren Theorien einer Kritik zu unterziehen, würde die Proskription nicht immer wieder in neuer Form auftauchen. Noch 2017 hält sich Santiago Zabala an Heidegger: Nur die Kunst könne uns heute »from the lack of sense of emergency (Heidegger)« retten.9 Um zum Notfall zurückgeführt zu werden, habe die Kunst engagiert ökologisch und sozial zu sein, sie dürfe jedoch nicht zu viel Freude manifestieren. »The problem with these enjoyable things is that they conceal Being  …«10 Dass der ökologische und somit existenzielle Notfall nun eintritt, trifft durchaus zu. Allein, von der Kunst die Rettung durch ihr absolutes Engagement zu erhoffen, rückt diese in die unbequeme und aussichtslose Position einer hilflosen, nur scheinbaren Weltretterin; dazu unten mehr. Der Autor pickt einzelne Künstler/innen als Musterbeispiele heraus, die Vorbildfunktion für die Zukunft zu erfüllen haben, ohne zu merken, dass er selbst, als Theoretiker, der Kunst die Regel vorschreibt. Das widerspricht nicht nur der ästhetischen Offenheit, sondern instrumentalisiert die Kunst auf unzulässige Weise. Mit anderen Worten, die Theorie erhebt sich auf anmaßende Weise über die zeitgenössische Kunstproduktion. Sie negiert die ästhetische Offenheit und widerspricht den inzwischen elementaren Erkenntnissen Umberto Ecos vom Kunstwerk als semiotisch offenem Gebilde.11 Zabala stülpt der Kunst eine proskriptive Schablone über, worin sie sich nicht mehr zu rühren vermag – was für alle proskriptiven Theorien gilt: die Missachtung der Autonomie der Künstler/innen. Im Gegensatz zur Annahme von Stanley Fish, Theorie habe keine Konsequenzen (»theory has no consequences«)12 , sei daher ungefährlich, muss man sich nur vor Augen führen, welche Macht dominante Theorien etwa in DiktatuKeine ästhetische Krise | 27

ren erhalten, womit sie dem freien Spiel der Fantasien ein Ende setzten und setzen. Seit Platon treibt die ästhetische Proskription ihr Unwesen. Ein Extrembeispiel: Noch heute kann man etwa in Nordkorea Kunstwerke von absoluter ästhetischer Schlichtheit und mit eindeutigen ideologischen Botschaften bestaunen, die die ästhetische Komplexität konterkarieren: pure Kaisers-Geburtstags-Kunst mit Kotau vor den gnadenlos wohlwollenden Kim-Diktatoren. Jede ästhetische Proskription bedeutet potenziell den Tod der ästhetischen Vielfalt und den Tod der freien künstlerischen Fantasie.

Kritik ästhetischer Wahrheitstheorien Eng verwandt mit den proskriptiven ästhetischen Theorien sind alle untereinander vielfältigen ästhetischen Wahrheits- und Wesenstheorien. Nach Hegel setzte sich ästhetische Wahrheit als Problem durch. Die Verlagerung der Wahrheit von der Philosophie, der man den vollgültigen Besitz der Reflexion nicht länger zutraute13 , in den ästhetischen Bereich war folgenschwer: Wahrheit sollte sich in der Kunst manifestieren. Späte Nachfahren der Wahrheitstheoretiker sind etwa R. G. Collingwood, für den Kunst im Wesentlichen die »pursuit of truth« sei14 , jedoch eine des Individuums (»Art is knowledge; knowledge of the individual«15), und Helmut Kuhn, der das Wesen des Kunstwerks entziffert haben will16 . Den herausragenden Platz in den Wahrheitstheorien nimmt Heideggers ästhetische Theorie ein. Das Kunstwerk habe sowohl die Wahrheit zu verstecken als auch zu »entbergen«, denn Kunst sei das Sich-ins-Werk-Setzen der Wahrheit. Die Aufgabe der Kunst sei es, das Sein zu entbergen17. Wahrheit und Sein werden gekoppelt. Längst wurden die ästhetischen Wahrheitstheorien grundlegend kritisiert. Wahres und Falsches, schrieb John Hospers 1946, sind nur von Aussagen prädizierbar (»Dies ist ein Tisch.«)18 . Käte Hamburger unterzog den ästhetischen Wahrheitsbegriff 1979 einer genauen Untersuchung. Wahrheit sei eine Kategorie der Realität19. Wahrheit drücke sich aus als wertabsoluter Begriff und treffe gerade nicht auf die Relativität von Kunst und Literatur zu, die der Zeitbedingtheit unterworfen seien. Die Wertungen wandelten sich, ganz im Gegensatz zur Setzung einer unwandelbaren »Wahrheit«20 . 28 | Keine ästhetische Krise

Der Begriff der Wahrheit widerspreche dem der Interpretation, der Auslegung, der Deutung, bei dem die Faktizität irrelevant sei 21. Im ästhetischen Bereich verliere Wahrheit den Bedeutungsgehalt, der sie konstituiert: identisch zu sein mit dem, was der Fall sei 22 . Wir wissen heute, argumentierte Donnell-Kofrozo, dass die Realitätsfakten nicht absolut sind und es keine reine Ansicht oder Zugang zur Wirklichkeit gibt. Sehen heißt interpretieren, und ein neutraler Naturalismus existiert nicht 23 . Was für die Erkenntnistheorie gilt, besitzt erst recht für die Ästhetik Gültigkeit, denn alles an ihr ist vermittelt. »Wahrheit«, was immer sie auch sei, ist mit anderen Worten eine außerästhetische Kategorie, die in der Ästhetik nichts zu suchen hat. Wahrheitstheorien instrumentalisieren die Kunst, wie Rüdiger Bubner kritisierte24 . Der Zweck – gerade bei Heidegger –, weshalb der Freiburger Philosoph die Kunst instrumentalisiert, könnte nicht offensichtlicher sein: Sie hat als Entbergerin der Wahrheit seinem System zu dienen, dem System der rückwärtsgewandten Neo-Ontologisierung der Welt, der das ephemere »Sein« abhandenkam. Wie bei Hegel wird die Kunst vollkommen in ein ihr äußeres philosophisches System eingezwängt. Oder noch deutlicher: Hegel und Heidegger und andere Wahrheitsphilosophen missachten etwas Elementares in der Ästhetik, nämlich die ästhetische Eigenart. Ein Wahrheitsbegriff gleich welcher Art wird der Offenheit des Kunstwerks, der Dynamik von Produktion und der individuellen Deutung, nicht gerecht. Das gilt auch für hermeneutische Wahrheitstheorien25. Für eine praktische Ästhetik des ästhetischen Genusses sind rein akademische Theorien wie die Hermeneutik mit einem Fragezeichen zu versehen. Denn wie man ein Werk deutet, bleibt dem Individuum überlassen, das sich mit einer derartigen Metatheorie nicht befassen muss. Diese unsere Theorie wird sich verbieten, Interpretationsmodi irgendwelcher Art den Kunstproduzenten oder den Kunstrezipienten vorzuschreiben. Das wäre ein Rückfall in eine proskriptive Theorie, der ich gerade Adieu sagte. Der Kunst mit ihrem Kunsterleben möge sich vielmehr der gesamte Freiraum eröffnen. Weder kann man »Wahrheit« auf die Kunst applizieren noch existiert ihr »Wesen«, denn die Kunst lebt von ihrer eigenen Dynamik. Und überhaupt: Wer erkühnt sich mit welchem Recht festzulegen, was denn »wahr« sei? Keine ästhetische Krise | 29

In den Kontext der Wahrheitstheorien gehören alle wie auch immer gearteten Abbildtheorien des Ästhetischen. Kunst hat nicht »abzubilden«. Dieses uralte Mimesis-Problem der Ästhetik seit Platon und Aristoteles löst sich von zwei Seiten auf: Die Semiotik begründet zum einen die Kunst als ein ikonisches, offenes Zeichen und nicht als »Abbild«. Die Semiotik macht alle mimetischen Theorien prinzipiell überflüssig. Zum anderen definiert sich Kunst als Sinn- bzw. Bedeutungskonstitution, als Schaffung einer neuen ästhetischen Wirklichkeit. Das widerspricht der Kunst-als-Mimesis grundlegend. Ob bewusst oder unbewusst, alle mimetischen Theorien setzten ein Reflexverhältnis einer wie auch immer verstandenen »Wirklichkeit« (und ich möchte nicht versuchen, diese näher zu bestimmen), die durch die ästhetische, irgendwie geartete Anschauung der/des Kunstproduzentin / Kunstproduzenten abgebildet worden sei oder, noch falscher, diese/r abzubilden hat – eine ideologische und proskriptive Setzung und darum ein wenig hilfreicher theoretischer Ansatz. Natürlich kann die Kunst sich an der sozialen »Wirklichkeit« orientieren und diese problematisieren, denkt man etwa an Balzacs comédie humaine. Aber das Kunstprodukt, zum Beispiel Balzacs Les illusions perdues, steht nicht in einem Abbildungsverhältnis zur Gesellschaft des 19. Jahrhunderts, sondern in einem semiotischen. Darüber hinaus schuf Balzac sein ganz eigenes, offenes und literarisches Bedeutungsganzes.

Kritik reduktionistischer Theorien Verwandt den ästhetischen Wahrheitstheorien sind Theorien, die die Kunst monokausal zu erklären versuchen 26 . Schon vor hundert Jahren läutete Max Dessoir die Totenglocken für reduktionistische Ästhetik-Theorien, seiner Zeit weit voraus: »Mit einer Formel ist dem Ästhetischen nicht beizukommen, auch nicht mit der scheinbar umfassendsten«27. Kunst, sekundierte Morris Weitz 1956, sei nicht definierbar, sie habe keine »necessary and sufficient proper­ ties«28 . Man frage nicht: »Was ist Kunst?«, sondern »Was ist der Begriff von ›Kunst‹«?29 Der Kunstbegriff wird stets ein offener sein30 . Trotz der bisher positiven Erwähnung der Semiotik für die Ästhetik wäre es wiederum reduktionistisch zu schreiben, alle 30 | Keine ästhetische Krise

Kunst sei Semiotik. Kunst als offenes ikonisches Zeichen sagt nur etwas Grundlegendes über die Zeichenhaftigkeit aus, insbesondere darüber, wie es ein Objekt denotiert 31. Die Semiotik vermag nur sehr begrenzt etwas über Kunst auszusagen. In seiner Kritik an Mukařovskýs Zeichentheorie stellt Koppe zu Recht fest, dass diese Semiotik auch für nicht-ästhetische Zeichen gelte32 . Es wäre reduktionistisch zu glauben, mit der Semiotik wäre alles über die Ästhetik ausgesagt. Das geringe Aussagepotenzial der ästhetischen Semiotik eliminiert zwar immerhin (und das ist nicht wenig) die Abbildtheorien; doch viel mehr auch nicht. Über die Spezifikation des Kunstprodukts wird damit nichts ausgesagt. Es gilt also hier zum ersten Mal, eine Grenzziehung auszusprechen, um eine sehr restriktive Geltung der Semiotik für die Ästhetik zuzulassen. Daher wird hier keine semiotische Analyse des ästhetischen Gegenstands stattfinden. Die nicht unerhebliche Rolle einer ästhetischen Grundstruktur, einer Grundbedingung des Ästhetischen, muss der Semiotik genügen. Andere Theorien, die reduktionistischer Natur sind, erweisen sich hingegen prinzipiell als Restbestände der jahrhundertelangen ästhetischen Diskussion. Die Kunst sei weder »Form« noch »Inhalt«. Im ikonisch-semiotischen Kontext sind diese uralten Setzungen unangebracht. Um zu präzisieren: Natürlich gibt es die Form von Epos, Roman, Gedicht etc. und vom Epos der Ilias lässt sich eine Inhaltsangabe erstellen. Mir geht es um die wenig hilfreiche Gegenüberstellung von Form und Inhalt, um ein Kunstwerk grundsätzlich zu charakterisieren. Mit »Form« und »Inhalt« wird ästhetisch praktisch nichts ausgesagt. Der Begriff »Stil« jedoch ist ein spezifischer, kein allgemeiner, und kann in einem spezifischen, meist einzelwissenschaftlichen Kontext diskutiert werden. Das Widerspiegelungsprinzip verknotet sich eng mit dem Wahrheitsbegriff, eine hoch ideologische, reduktionistische Theorie, die auf Marx und Engels zurückgeht und bei Georg Lukács ihren Höhepunkt erreichte33. Lukács blieb auf dem Boden der Erkenntnistheorie mit dem Widerspiegelungsverhältnis Sein – Bewusstsein, insbesondere in der Kunstoffenbarung des Typischen. Franz Koppe wies auf das Dilemma von Lukács hin: Wenn der Kunst allein die Offenbarungsrolle des Typischen zukommt, dann ist die Kunst wahrer als die gesellschaftliche Wirklichkeit – also keine Keine ästhetische Krise | 31

Widerspiegelung34 . Und, fährt Koppe fort, weil sich für Lukács in der Kunst die ökonomischen Gesetzmäßigkeiten manifestieren, begreift er wiederum die ästhetische Eigenart nicht 35. Lukács’ Realismus wird bestimmt von einem ideologisch-ethischen, nicht einem ästhetischen Wert 36 . Ebenso absolut kontraproduktiv für eine ästhetische Theorie, die zum Verständnis der Kunst beitragen möchte, sind die ästhetischen Scheintheorien, nämlich Kunst-als-Schein. Schein impliziert, die Wirklichkeit habe woanders stattzufinden. Das jedoch widerspricht der ästhetischen Autonomie und streut der Theorie Sand in die Augen: Was genau bedeutet dieser (schöne) Schein? Der Begriff wirkt unpräzise, fast geheimnisvoll. Er erleuchtet nicht, er vernebelt ästhetische Zusammenhänge, auf dass nichts klar werde. Alle Scheintheorien sind außerdem bestenfalls einer überholten Ontologie geschuldet, die vom Bezugsverhältnis Realität zu Schein kündet. Schlimmstenfalls entspringen die Kunst-als-Scheintheorien der extrem reduktionistischen Widerspiegelungstheorie, wie Koppe an Ernst Blochs Theorie des ästhetischen Vorscheins kritisiert, dem Vorschein einer besseren Welt 37. Bloch bindet die Ästhetik restriktiv in seine Theorie des Noch-Nicht-Seins ein und negiert die ästhetische Eigenart. Der Tübinger Philosoph leistete außerdem keine ästhetische Grenzziehung. Die Scheintheorien gehören allesamt in den Kontext der ästhetischen Wahrheitstheorien vom Bezugsverhältnis »Sein« und »Schein«38 . Zimmerli spricht sich für eine Verallgemeinerung des Scheins als Prinzip entgrenzter Ästhetik aus39. Wenn aber alles in der Kunst Schein ist, ist nichts Schein: eine prinzipielle Nichtunterscheidbarkeit im Ästhetischen, die keine Prädikation ermöglicht, um Gegenbeispiele liefern zu können, wie Koppe kritisiert40 . Die ästhetische Entgrenzung kann man besser mit anderen Begriffen umreißen: Verweisungscharakter, offenes Zeichen, Globalästhetik, Negation aller ästhetischen Normen, offene ästhetische Erfahrungshorizonte. Der Schein­begriff hat ausgedient. Begriffe oder Bereiche, die im ästhetischen Kontext ohne Grenzziehung diskutiert werden, können als suspekt gelten. Der allgemeine Einsatz der Psychoanalyse im Ästhetischen wäre ein solcher Kandidat. Kunst, von der Psychoanalyse her entschlüsselt, wäre ein wahrgewordener Traum des Analytikers 41. Aber wo liegt 32 | Keine ästhetische Krise

die Grenze der Applikation? Wie viel sagt die psychoanalytische Dechiffrierung aus über den ästhetischen Wert eines Kunstprodukts? Ich vermute, sehr wenig, womit wieder die Frage nach der Anerkennung der ästhetischen Eigenart gestellt wird. Und welcher psychoanalytischen Richtung gebührt der Vorrang der Interpretation? Auch Theorien, die gerade vorgeben, die ästhetische Eigenart zu begreifen, ja besser als andere Theorien zu verstehen, begegne man mit Vorsicht. In den 1950er Jahren grassierte die Theorie der Kunst-als-Ausdruck (expression) im Kontext von Jackson Pollocks drip-painting-Aktionismus. Nahm kritisierte schon 1955 die Allgemeingültigkeit der Ausdruckstheorie: Sie dürfe wenn überhaupt nur in einem spezifischen Kontext Gültigkeit beanspruchen42 . Reduktionistische Theorien erblicken nicht nur in der älteren Ästhetik das Tageslicht. Christoph Menke zentriert im Jahr 2013 seine ästhetische Theorie monothematisch um einen einzigen Begriff herum, den der »Kraft« der Kunst. Seine Kernthese lautet, »dass der menschliche Geist im Widerstreit von ästhetischer Kraft und vernünftigem Vermögen besteht«43. Der Zusammenhang von Kunst liege in der Kraftübertragung, »die Kraft der Begeisterung, der Entrückung auf den Künstler, Zuschauer und Kritiker …«44 . Dabei sei Kunst keine soziale Praxis, denn die freien Kräfte der Kunst seien Spiel, ohne Ziel und Maß 45. »In der Kraft der Kunst geht es um unsere Freiheit, … die Freiheit vom Sozialen im Sozialen«46 . Menke charakterisiert die Ästhetik monothematisch. Doch genau das bleibt reduktionistisch und somit ein vereinfachtes ästhetisches Herangehen, mit dem man die gesamte Ästhetik nicht wird entwirren können. Mit seiner Gegenüberstellung von der mysteriösen »Kraft« der Kunst und dem vernünftigen Vermögen beruft er sich auf die alte philosophische Gegenüberstellung von Wille und Vernunft – eine Neuauflage Schopenhauers. Was ist denn diese mysteriöse Kraft? Begeisterung und Entrückung? Eine Wiederauflage der deutschen Romantik. Die Ästhetik eines Kernbegriffs muss notwendigerweise aus vielen Gründen scheitern: am Reduktionismus, an der mangelnden Präzision, an einer für die neue ästhetische Theorie nicht konstruktiven Mystik des Kernbegriffs. Indem Menke versucht, Kunst vom Sozialen zu trennen, strebt er nach einer Wiederauflage des uralten Künstlermythos, den Kris Keine ästhetische Krise | 33

und Kurz schon in den 1930er Jahren treffend charakterisierten und kritisierten47: der Mythos von den Künstler/innen, die ganz aus sich selbst entrückt das Kraftpotenzial ihrer Kunst anzapfen und die etwas hervorbringen, »über das sie schon hinaus sind«48 . Menke verquickt den Künstlermythos mit Schillers Spieltheorie. Vermutlich ohne es zu wollen, heroisiert Menke den Künstler, ein Topos der Künstlerlegenden seit Giotto, sogar seit der Antike. Einseitige und mystifizierende, reduktionistische Theorien dieser Art49, die einen großen Begriff entdeckt haben wollen, gehen außerdem an den zeitgenössischen ästhetischen Problemen vollkommen vorbei: etwa am Gefahrenpotenzial der digitalen Welt, an der Herausforderung einer Globalästhetik und an der Herausforderung der empirischen Ästhetik, um nur drei zu nennen. Stattdessen stellt Menke wie gehabt ästhetische Kategorien auf, die auf unklare Weise mit seinem Kraftbegriff zusammenhängen: Schönheit, das Urteil, das Experiment. Er reflektiert dabei nicht, ob die Aufstellung ästhetischer Kategorien überhaupt noch zeitgemäß ist. Das bezweifle ich. Dem Fluidum des Ästhetischen werden Kategorien, die ästhetische Momente festzurren wollen, nicht gerecht. Während Menke die Ästhetik mit einem einzigen, einengenden Kernbegriff unterfordert, überfordern andere Theorien die Ästhetik.

Kritik ästhetischer Überforderungen Zwei Theorien sollen als Beispiel dafür dienen, was ich ästhetische Mystifikation nenne. Bei Kandinsky heißt es: »Auf eine geheimnisvolle, rätselhafte, mystische Weise entsteht das wahre Kunstwerk ›aus dem Künstler‹«50 . Denn die Kunst »muss der Entwicklung und Verfeinerung der menschlichen Seele dienen«51. Wir stünden am Beginn »eines neuen geistigen Reiches, … der Epoche des großen Geistigen«52 . Gumbrecht ging vor wenigen Jahren vom ästhetischen Erleben aus: Im Kunstwerk kann man Bedeutungs- und Präsenzeffekte simultan erleben53. Dieses Oszillieren nennt er »Epiphanie«54 , das im regulären Sprachgebrauch »Erscheinen einer Gottheit« bedeutet, womit Gumbrecht den ästhetischen Erfahrungsakt mystifiziert, 34 | Keine ästhetische Krise

im Extrem heiligt. Kandinskys »großes Geistige« und Gumbrechts »Epiphanie«-Theorie ein Jahrhundert später tragen zur Mystifikation und vielleicht, ohne es zu wollen, in letzter Instanz zur Theologisierung der Ästhetik bei und sind daher fraglich. Sie überfordern die ästhetische Erfahrung und missachten die ästhetische Eigenart, die einer quasi-theologischen Aufladung nicht bedarf. Bazon Brock bemerkte schon 1977, dass die Autonomie der Kunst für das bürgerliche Publikum die Rolle einer innerweltlichen Heilsbringerin nach sich zog55. Rüdiger Bubner benannte die lebensversöhnende Rolle der neueren Kunst genauer: Der Künstler als der vollkommene Mensch, als alter deus, hat die Problemverlagerung des Menschen nachzuvollziehen56 . Der Künstler fungiert so als Wiedergänger der Künstlerlegende, die wie bemerkt Kris und Kurz der Kritik unterzogen: von Giotto bis Beuys eine einzige, große Legende. Beuys mit seinem selbstgebastelten, autobiografischen Künstlermythos erfüllte diese Rolle perfekt – der Künstler als Moralist, der sich vom klassischen Verdacht der Immoralität reingewaschen habe und nun aufträte als »höchste Instanz gesellschaftlichen Gewissens«57. Bubner kritisiert die Überladung der Kunst mit Moral, was »auf eine offenkundige Kategorienverwirrung« zurückgehe58 . Wieder eine Negation der ästhetischen Eigenart. Harold Bloom und Richard Rorty wollen in die großen bürgerlichen Romane eine rezeptionsästhetische Erlösung aus der Selbstbezogenheit hineininterpretieren 59. Im Roman soll die Leserin /  der Leser eine éducation morale erfahren. Romane zeigen uns, wie Menschen sich sehen, die anders sind als wir, und wie sie ihrem Leben Sinn schenken60 . Der Roman erzieht uns zur Empathie. »Der Roman ist … die Gattung, die uns am meisten dazu verhilft, die Vielfalt des menschlichen Lebens und die Kontingenz unseres eigenen moralischen Begriffsrepertoires zu begreifen« 61. Der Roman erhöht unsere Toleranz und reduziert auf diese Weise unsere Selbstbezogenheit. Marcel Proust und Henry James hätten dazu beigetragen, uns zu den Menschen zu machen, die wir sind62 . Rorty nennt Prousts A la recherche du temps perdu und James’ Romane sogar »heilig«63. Nach Schillers Idealisierung der Künste als Veredler der Menschheit tappen Bloom und Rorty in dieselbe Falle: die Kunst als säkulare Menschheitserlöserin. Aus der éducation Keine ästhetische Krise | 35

morale des bürgerlichen Mediums par excellence entsteht, quasi neu geboren, der veredelte Mensch. Wieder wird die Ästhetik mit Außerästhetischem, der historisch vermittelten Moral, überfordert und fehlgeleitet. Natürlich kann Literatur all das, was Rorty an ihr feststellt, nämlich die Haltung der Leserin /  des Lesers zum Besseren verändern; sie kann es aber auch nicht – in keinem von beiden liegt die Aufgabe der Literatur. Wenn man schon mit größtem Vorbehalt von einer solchen Aufgabe sprechen möchte, liegt sie darin, literarisch zu sein und über dasjenige, das sie darstellt, hinaus zu verweisen, semiotisch: die neu geschaffene Kunstwirklichkeit überzeugend und symbolisch vorzulegen und für verschiedene Deutungen offen zu sein. Der Kunst obliegt es nicht, unbescheiden als Menschheitsretterin, als Heilsbringerin, als moralische Instanz und mit hehrem Auftrag aufzutreten. Den Veredelungsauftrag schreiben ihr die Theoretiker zu. Die Ästhetik sollte vielmehr analysieren, was Literatur bedeutet und wie man ästhetische Erlebnisse erfährt. In diesem Sinn sollte eine zeitgemäße Ästhetik »non-elitist« sein64 , sich gerade vom angeblich hehren Auftrag abwenden, um die eigent­ lichen, ganz alltäglichen ästhetischen Erlebnisse zu verstehen. Nanay geht sogar so weit zu fordern, dass eine zeitgemäße Ästhetik »non-judgemental«65 sein sollte, worauf ich im übernächsten Kapitel eingehen werde. Selbstverständlich ergeben sich oftmals Schwierigkeiten, Ästhetisches von Außerästhetischem zu trennen, wie Nanay schreibt 66 . Umso mehr wird die ästhetische Theorie die Begriffe befragen und hinterfragen, wozu ich nun übergehe. Unsaubere und mystifizierende Begriffe wie »Kraft« (aus der Physik entlehnt und schon deshalb fragwürdig) oder die theologische »Epiphanie« und erst recht das große erkenntnistheoretische Fragezeichen »Wahrheit« sind ohne Wenn und Aber ästhetisch abzulehnen. Ein schneller, sauberer Scherenschnitt, und dieser alte Zopf fällt zu Boden. Den Theoretikern dieser Theorien möchte man Montaignes Diktum entgegenschleudern: »So viel Worte allein um der Worte wil­len!«67 Über zwei Jahrtausende geisterte der Begriff des »Schönen« (das Schöne) in der Ästhetik umher, jahrhundertelang die Begriffe »Genie«, »Geschmack« und eine Gattungs- bzw. Genrehierarchie in den Künsten. Man würde glauben, dass all diese Begriffe sowie 36 | Keine ästhetische Krise

ästhetische Normen, zum Beispiel wie das Schöne auszusehen habe, nun endlich mausetot seien. Ein frommer Wunsch. Zum »Schönen«: Im Kapitel Die Rückkehr der Schönheit gehe ich ausführlich darauf ein, für so wichtig halte ich das Thema für die Ästhetik, obwohl es seit der Moderne kein absolutes Merkmal der Kunst darstellt. Zum »Genie«: Es mag unglaublich begabte Künstler, Designer, Literaten und Musiker geben, wenn man zum Beispiel an den vielleicht bedeutendsten Künstler der Gegenwart denkt, Gerhard Richter. Aber ein Genie? Man lasse die Kirche im Dorf. Der Geniebegriff des 18. Jahrhunderts kam als Emanzipationsbegriff des Bürgertums gegen den Adel auf mit dem angeblichen Genie als später Nachfahre der Künstlerlegenden. Mit dem Geniebegriff etablierte sich die bürgerliche, hoch begabte Individualität gegen die ästhetischen Normen des Adels. Das Genie sprengte kraft seiner alles überragenden Fähigkeiten alle bisherigen, normierten Grenzen. Versteht man den sozialpolitischen Grund für die Entdeckung des Geniebegriffs, versteht man ihre Zeitbedingtheit, erweist sie ihre zukünftige Unhaltbarkeit. Zum »Geschmack«: Auch wenn man den Begriff nicht mehr benutzt, wäre de gustibus disputandum. Doch auch diese Diskussion gehört der Vergangenheit an, da man bei der Geschmacksdiskussion nicht um normative Werte herumkommt. Gerade aber ästhetische Normen, wie die Kunst oder, im Fall des Geschmacks, die Kunstrezeption zu sein hat, gehören der Vergangenheit an. Über die Subjektivität der ästhetischen Präferenzen wird noch einiges zu sagen sein. Zur Gattungs- und Genrehierarchie: Längst ad acta gelegt und nicht sinnvoll, da sie Normen der Perfektion willkürlich festsetzt – würde man meinen. Blooms und Rortys Bevorzugung der großen Romane von Proust und von James führt die Genrenorm zur Hintertüre wieder ein. Die beiden Theoretiker instrumentalisieren die Romanform für ihre Theorie der kritischen Selbsterkenntnis als die ideale Form, um dies zu vermitteln, und genau darin liegt die prinzipielle Schwäche ihrer Theorie. Der Roman als Verwandler der lesenden Menschheit: ein modernes Märchen.

Keine ästhetische Krise | 37

Kritik der Definitionsästhetik Im 20. Jahrhundert wurde seit Duchamps Readymades, seit dem Dadaismus und insbesondere mit der Pop-Art die Frage gestellt: Was ist Kunst? Oder: Ist das Kunst? Darauf gibt es drei Antworten, die institutionelle, die ontologische und die Irrelevanzantwort. George Dickie stellte in den frühen 1970er Jahren angesichts der Pop-Art die Frage nach dem gesellschaftlich-kulturellen Status des Kunstprodukts. In seiner Theorie konstituiert die artworld ein Kunstprodukt, wenn es vier Bedingungen erfüllt: Erstens muss ein Kunstwerk »on behalf of an institution« agieren; zweitens muss die artworld den Status eines Kunstobjekts verleihen; drittens muss das Kunstwerk ein Kandidat sein; und viertens muss das Objekt Wertschätzung erfahren68 . Die Institution der Kunstwelt verleiht den Objekten den Status »Kunst«: »… art is a conferred status«69. Die Institutional Art Theory krankt an mehreren Krankheiten: Wer genau gehört zur artworld und wer bestimmt, wer dazugehört? Konzentriert sich Dickie nicht zu sehr auf die Kunststatusfrage und kaum auf die Bedeutungsebene? Verändert sich die Kunstwelt nicht ständig mit der Geschichte, das heißt ändert sich die Statusverleihung »Kunst oder Nichtkunst« nicht ständig? Und wie steht es mit Fälschungen? Waren etwa van Meegerens VermeerFälschungen Kunst oder nur Objekte eines Kriminalfalls? Arthur Danto kritisierte Dickies institutionelle Theorie: Man dürfe nicht sagen, was ein Gedicht sei, aber in der Folge auslassen, was es bedeuten könne70 . Unser Respons auf Kunstprodukte im Gegensatz zu Nichtkunst-Objekten sei verschieden, argumentiert Danto, aber das sei kein institutionell bedingter Respons, sondern ein ontologischer. Denn nichts kann für sich beanspruchen, ein Kunstwerk zu sein, das nicht eine Deutung oder mehrere besitze, die es konstituieren71. Kunstwerke sind, weil sie interpretiert werden72 . Sie sind Transfigurationen der Alltagsgegenstände kraft i­ hres metaphorischen Gehalts73. Mit Dantos Theorie kommt man der Antwort, was Kunst sei, durchaus näher; aber nur näher. Denn seine Antwort auf die Frage nach Kunst  /  Nichtkunst kann stets nur einschließend oder ausschließend beantwortet werden: Das ist Kunst, weil …, aber das ist keine Kunst, weil … Tatsächlich könnte man Dantos ontologischer 38 | Keine ästhetische Krise

Antwort zustimmen. Nur ist das Herangehen heute inadäquat. Man muss die Frage eher inkludierend stellen, nicht wertend und exkludierend. Weder Dickie noch Danto stellen sich die Wertfrage: Was ist es uns wert, wenn etwas als Kunstprodukt gilt? Vor allen Dingen: Warum stellen wir uns diese Frage überhaupt? Geht man nämlich vom ästhetischen Erleben und nicht von Definitionen aus, erübrigt sich die Frage. Sie erweist sich als irrelevant. Was man genießt, das rückt in den Fokuspunkt. Was man ästhetisch genießt und was für das rezipierende Individuum Bedeutung gewinnt, vom Design, vom Schmuck, vom Tattoo bis zur Beethoven-Sonate – darauf konzentriert sich die ästhetische Theorie heute. Eine aktuelle ästhetische Theorie wird inklusiv, ausweitend gedacht werden. Eine neue, zeitgemäße Ästhetik wird sich nicht durch unzeitgemäße Definitionen einengen lassen. Alle Ist-Prädikationen des Ästhetischen sind abzulehnen. Nicht nur, weil sie schlichtweg falsch sein mögen, sondern weil sie den ästhetischen Schwerpunkt verlagern. Fragt man immer nur danach, was denn Kunst ausmache, wird man schwerlich zum Primat des ästhetischen Erlebens, des ästhetischen Genusses gelangen. Die Frage: Was ist Kunst? werde ich in dieser Ästhetik nicht stellen. Sie lenkt ab von dem, was heute ansteht. Wie bei vielen ästhetischen Phänomenen hat sich die Frage nach der Kunstdefinition durch den Fortgang der Diskussion überholt. Die Definitionsfrage wurde ir­rele­vant. Man fragt nun nach dem Wert-für-uns, nach der Bedeutung der Bedeutung, nach einer neuen globalen Ästhetik, nach ästhetischem Erleben und dem ästhetischen Genuss, und vielem mehr.

Vorüberlegungen zu einer zukünftigen Ästhetik Nach diesen kritischen, sogar destruktiven Seiten gehe ich jetzt dazu über, konstruktive Annäherungen oder theoretische und programmatische Vorüberlegungen zu einer aktuellen Ästhetik zu diskutieren. Im Lauf der nachfolgenden Kapitel werde ich diese Annäherungen ganz praktisch konkretisieren. Zuerst eine Reaktion auf die Krisen dieser Welt. Ich konzen­ triere mich dabei auf die alles überwölbende, alles durchdringende ökologische Makrokrise. Auf die Krise des gesellschaftlichen ZuKeine ästhetische Krise | 39

sammenhalts, auf den grassierenden Populismus kann die ästhetische Theorie freilich nicht reagieren; aber die aktuelle Kunst kann es, wenn sich Künstler/innen und Schriftsteller/innen dazu äußern möchten. Hier interessiert die Frage, was die ästhetische Theorie selbst unternehmen kann. Denn weder die Künste noch, in ihrem Gefolge, die ästhetische Theorie sind der Ort der Nachahmung, »sondern vielmehr der Ort der Konstitution von Wirklichkeit«74 . Was also vermag eine neue ästhetische Theorie als neue ästhetische Wirklichkeit zu konstituieren? Mehrere Reaktionen sind möglich, wobei sie simultan und nicht alternativ gedacht werden. Die erste Reaktion: Wenn die größte moderne Herausforderung für die gesamte Menschheit darin liegt, der Naturzerstörung Einhalt zu gebieten, dann muss die Menschheit ihr Verhältnis zur Natur radikal und neu durchdenken. Im Gefolge dessen könnte auch die ästhetische Theorie ein neues Verhältnis zur Natur entwickeln, basierend auf Würdigung, Wertschätzung und Respekt. Das impliziert naheliegend, dass die alte Trennung von »Kunstästhetik« und »Naturästhetik« aufzuheben und nur noch dort aufrechtzuerhalten wäre, wo äußere Gründe eine Rolle spielen, etwa im intentionalen Bereich: Künstler/innen intendieren etwas mit einem Kunstwerk, die Natur intendiert nichts. Eine Klammer um die Kunst- und Naturästhetik bildet der ästhetische Genuss. Die zweite Reaktion: Eine zeitgenössische Ästhetik wird den katastrophalen Naturzustand schonungslos und schmerzhaft erkennen müssen. Sie wird sich um die Erhaltung der Restnatur bemühen, sich für die Natur einsetzen und Stellung beziehen; wie erwähnt, eine esthétique engagée. Die kritische Natur der ästhetischen Theorie wird sie davor bewahren, sich eine realitätsferne Ideologie überzustülpen und zu glauben, die vielbeschworene Einheit Subjekt-Objekt bestünde tatsächlich noch. Die fortgeschrittene Naturzerstörung wird den Blick auf die vom Menschen vernichtete Natur nicht verschleiern. Insofern kann sogar die ästhetische Theo­rie zur Selbsterkenntnis unserer Zerstörungsspezies beitragen. Die dritte Reaktion: Im Kapitel Ästhetische Erfahrung II: Die Natur als Gewesene werde ich mich nicht nur um ein theoretisches Fundament im naturästhetischen Umgang bemühen. Ebenso werde ich versuchen, ein brauchbares, und falls es mir gelingt: neu kontextualisiertes Vokabular anzuwenden. 40 | Keine ästhetische Krise

Die vierte Reaktion: Im Kontext einer neuen Globalästhetik werde ich vor allem die japanische Naturästhetik bei diesem Sujet zurate ziehen, weil die japanische Ästhetik von Respekt und Demut gegenüber der Natur geprägt wird. Die fünfte, bereits angesprochene Reaktion: eine übergreifende Antwort auf alle Krisen, insbesondere die ökologische von Seiten der schwächlichen Ästhetik: Sie sei der Gegenentwurf zur zerstörerischen Welt mit ihrer paradoxen Hochschätzung der Kunstprodukte und ihrer Geringschätzung der Natur. Ein kleiner Gegenentwurf einer besseren Welt, indem ich theoretisch den guten Wert der Kunstprodukte betone im Angesicht der Zerstörung. Ein Gegenentwurf der Würdigung großer Kunstprodukte und der großen Natur, nun im Übergang zur Vernichtung. Der Gegenentwurf einer besseren Kunstwelt mit einer ästhetischen Würdigung der besten Produkte der Menschheit, aber ohne in falsche Entrückung wie etwa bei den Nazarenern zu verfallen. Eine rückwärtsgewandte Ideologie dient weder den Künsten noch der Ästhetik. Das Heil liegt nicht in der Vergangenheit; es liegt, genau genommen, nirgends. Weder die Künste noch die Ästhetik können irgendwelche Lösungen anbieten. Die Ästhetik reagiert nur. Sie löst nichts. Diese Ästhetik kann man auch als Gegenentwurfsästhetik lesen, Aug’ in Aug’ mit dem Zyklon, der alles Bedeutende hinwegzufegen droht. Abgesehen von der überaus realen, drohenden, außerästheti­ schen Gefahr der Weltvernichtung sehe ich zwei Gefahren im Bereich der Ästhetik. Die erste, die Digitalisierung, werde ich im Kapitel Die Rückkehr der Schönheit behandeln. Gerade im Schönheitskontext manifestiert die digitale Welt ihr Gefahrenpotenzial, denn die digitalen Auftraggeber möchten alles »glatt« einebnen. Außerdem ist die digitale Welt eine sehr schnelle, oberflächliche, ortlose Pseudowelt, die der ästhetischen Stille entgegenwirkt. Um Kunstwerke und die Natur zu würdigen, braucht es Ruhe, braucht es ernsthafte Beschäftigung mit dem ästhetischen Gegenstand. Die zweite Gefahr, die teilweise mit der Digitalisierung der Lebensbereiche zusammenhängt, liegt in der gegenwärtigen Über­ ästhe­tisierung der Wirklichkeit. Seit einigen Jahrzehnten vertieft sich ihre Wirkung, indem sie sich auf vielen Gebieten ausbreitet: in der Werbung, in der Kosmetik, im Design, in den Alltagsprodukten, Keine ästhetische Krise | 41

in den Einkaufszentren, im Dekor, in den Ideologien, die der Konsumentin /  dem Konsumenten etwas ganz besonderes versprechen. Das neueste Versprechen, das jetzt, in den frühen 2020er Jahren, ex nihilo auftaucht, heißt »Hygge«, eine dänische Gemütlichkeit. Je unwirtlicher die Welt wird, desto mehr Gemütlichkeit, nun im dänischen Hygge-Gewand, lügt die Werbung herbei. Auch in die Sprache dringt die Überästhetisierung ein in Form von hübschen Ausdrücken, die chic sein wollen. Das Problem liegt darin: Wenn alles »ästhetisch« ist, was bedeutet Ästhetik denn noch? Die Habitualisierung der unausweichlichen Überästhetisierung, die uns täglich umgibt, kann die ästhetische Aufmerksamkeit abstumpfen lassen und schließlich abtöten75. Diese braucht es aber zu einem ästhetischen Genuss. Eine Abstumpfung der Aufmerksamkeit wirkt kontraproduktiv gegenüber dem ästhetischen Erleben. Die Kunst, schreibt Nanay, hat sich zu sehr dem Leben angenähert. Das ist auf der einen Seite erfreulich, denn seit Duchamps Readymades, seit dem Dada-Spott, seit Pop-Art und Fluxus geht die Kunst des 20. und 21. Jahrhunderts immer mehr in Richtung Aufhebung des Elitären, was auch für die Ästhetik gilt. Auf der anderen Seite entgehen uns durch die Ästhetisierung des Alltags neue Sichtweisen auf die Welt. Für diese Tendenz existiert keine Lösung. Die ästhetische Theorie vermag nur darauf hinzuweisen. Die Überästhetisierung der Welt geschieht nicht im leeren Raum. Ihre Urheber bezwecken etwas, auch wenn sich die Tendenz inzwischen verselbstständigt hat. Ich spreche vom ästhetischen Problem der Marktunterwerfung der Kunst. Dies ist ein sehr altes Problem in der Ästhetik, seitdem es Auftraggeber für die Kunst gibt. Jan van Eycks Kunst wäre ohne Auftraggeber undenkbar gewesen. Nun haben wir es mit der modernen Ausformung des finanziellen Problems zu tun, der des freien Markts, dem alle Kunstprodukte unterworfen werden. Der Marktwert besitzt unmittelbaren Einfluss auf die Ästhetik. Ein Beispiel: die gegenwärtige Bevorzugung des Romans gegenüber anderen Genres. Wer Kurzgeschichten oder Lyrik schreibt, wird über kurz oder lang Konkurs anmelden müssen. Die Romanbevorzugung schlug sich wie erwähnt zum Beispiel im Blooms und Rortys Einschätzung des aufklärerischen Charakters dieses Genres nieder, einem Topos seit dem 18. Jahrhundert: dem Bildungsroman. 42 | Keine ästhetische Krise

Tatsächlich hängen Überästhetisierung und Marktgängigkeit zusammen. Reckwitz bringt das problematische Phänomen auf den Begriff. Im entwickelten Kapitalismus müssen Produkte, um erfolgreich zu sein, über ihre Funktion hinaus einen symbolischen Wert innehaben, zu einem »kulturellen Gut« werden. Reckwitz nennt das Phänomen den »kulturellen Kapitalismus«76 . Wie in der Neuen Mittelklasse frönt der kulturelle Kapitalismus dem Singularitätsprinzip77. Mediale Güter wie etwa Netflix-Serien nutzen die ganze Welt in all ihren Segmenten als kulturelle Ressource. Wichtige Akteure sind die kurzfristige Mode und die langfristige Reputation78 . Alle »creative industries« wurden darin eingebunden: Medien, Internet, Design, Architektur, Publizistik, Spiele, Musik, Kunst und Marketing, Tourismus, Sport und natürlich Mode79. Aber kognitive Güter sind riskante Güter. Sie zu entwickeln kostet viel Zeit und manchmal viel Geld. Ihr Gelingen hängt oft vom Zufall ab: high chance, high risk 80 . Der springende Punkt liegt nicht im energetischen Einsatz, sondern in der Innovation, die der kulturelle Kapitalismus durch Überästhetisierung, durch geschicktes Marketing und durch Singularisierung zu steuern versucht. Bei den Kunstwerken geht es nicht um die Nutzerfunktion, sondern um den kulturellen Wert. Die paradigmatischen Singularitätsgüter müssen im Auge des Konsumenten einzigartig sein. Im Vordergrund steht die Originalität 81. Kunstwerke bewegen sich auf »Attraktivitätsmärkten«, die zugleich Singularitätsmärkte sind: Die Konsumentin /  der Konsument entscheidet aufgrund ihrer / seiner kulturellen und emotionalen Kriterien sowie aufgrund der Attraktivitätssuggestion, welchen Film, welche Bilder und welche Musikstücke sie/er als faszinierend wertet – und welche als reizlos und somit als wertlos im Wertewettbewerb ausgeschieden werden82 . Die Kulturalisierung und die Ästhetisierung dehnen sich heute sogar auf einst funktionale Güter aus, wie Wohnungen »in den besten Lagen«. Sie erlangen eine symbolische, ästhetische und narrative Qualität sowie ein Sozialprestige, »das sich an diesen kulturellen Wert anschließt«83. Die ästhetische Theorie steht diesem vertieften Problem der singulären Überästhetisierung machtlos gegenüber. Man kann nur darauf hinweisen und klarmachen, in welcher Entwicklung zum Negativen wir stecken. Das Problem noch eingehender zu unterKeine ästhetische Krise | 43

suchen würde den Rahmen dieser Ästhetik sprengen. Ich weise lediglich auf dieses Problem hin. Das Verständnis für ästhetische Erfahrungen und insbesondere für den ästhetischen Genuss, die diese Theorie wecken und behandeln wird, kann zur Sensibilisierung des Problems beitragen.

Globalästhetik: Forderung an eine zukünftige Ästhetik Vom Problem der Marktunterwerfung mache ich einen Sprung zur einzigen Forderung an eine jede zukünftige Ästhetik. Ich fordere von dieser ästhetischen Theorie und von allen anderen die weitestmögliche Einlösung einer neuen globalen Ästhetik. Auf den ersten Blick mag eine Forderung an die Ästhetik gerade in einer anti-normativen Theorie wie dieser unangebracht erscheinen. Die Forderung nach einer Globalästhetik lässt sich jedoch wohlbegründen. Lange blieb die westliche Ästhetik in der Illusion gefangen, ihre Ästhetik sei die Ästhetik per se, während »globale Ästhetik« ein peripheres Gebiet sei84 . Spätestens jetzt, in Zeiten der Globalisierung, zerplatzte diese Illusion. Es werde Zeit, schreibt Nanay, das Ungleichgewicht zwischen westlicher und nicht-westlicher Ästhetik zu korrigieren85. Die westliche Dominanz auch in der Ästhetik geht zu Ende. Schon im Jahr 2007 gab das Journal of Aesthetics and Art Criticism eine Sondernummer zur Globalästhetik heraus 86 . Im Westen wird diese Neuausrichtung der Ästhetik fast übereinstimmend bejaht, doch in praxi entstanden noch zu wenige globale Ansätze. Susan Feagin spricht sich für eine globale Ästhetik als potenziell bereichernd aus. Notwendig sei »a more friendly atuned ontology of various kinds and practices … to understand many of the artistic and cultural traditions …«87. Globalästhetik könne auch die eigene Perspektive verändern und den Charakter der eigenen ästhetischen Erfahrung verwandeln, weil die globale Perspektive den Wandel aller Ästhetik-Perspektiven betont, »rather than a single, best experience«88 . Überhaupt vermögen ganz andersgeartete ästhetische Haltungen die westlichen ästhetischen Gegebenheiten zu relativieren, zum Beispiel, wie noch bei Kant, die Urteilsästhetik. Sie und jede andere Setzung gilt es nun radikal zu hinterfragen. Die Hinterfragung von einer Fremdperspektive aus kongruiert nun 44 | Keine ästhetische Krise

mit Neuansätzen in der westlichen Ästhetik, nämlich der Abkehr von der Urteilsästhetik hin zum ästhetischen Erleben ohne Wertung. Zwar ist seit Jahrhunderten die Globalisierung ein ongoingProzess, aber etwas Neues entwickelt sich gerade – eine integrierte, verbundene, transnationale Kunstwelt 89. Die neue Ästhetik wird dieser Entwicklung folgen. Es führt kein Weg daran vorbei. Doch sogleich eine Warnung: François Jullien ging in Die Affenbrücke auf das Verhältnis von indigenen Kulturen zur westlichen Kulturdominanz ein. Er misstraut dem »faulen Realismus«, der jede Kultur in ihrem vermeintlich einzigartigen »Wesen« erschließt, ebenso wie dem vereinfachenden westlichen Universalismus, der sein Weltbild auf den Rest der Welt projiziert90 . Anstatt sich auf das vermeintliche Wesen einer Kultur zu konzentrieren, sollte man die Schöpferkraft (fécondité) ins schützenswerte Zentrum jeder Kultur stellen. Jullien möchte indigene Ressourcen schützen ebenso wie die Ressourcen jeder Kultur, auch der westlichen, vor der »Dampfwalze der globalen Standardisierung«91. Ressourcen sind kumulativ, Werte werden rasch exklusiv92 . Es braucht eine neue Politik, die die kulturelle Diversität respektiert 93 . Es gilt, auch in der Ästhetik umzudenken. Denn für den europäisch-nordamerikanischen Universalismus gibt es »keine echte, ernstzunehmende kulturelle Diversität, und noch viel weniger eine, die seine Gewissheiten im Mindesten bedrohen könnte«94 . Im kulturellen Gegenüber »entdeckt sich selbst das Konzept des Universellen als Produkt einer einzigartigen Kulturgeschichte und damit als Gegenteil dessen, was es behauptet«95. Man schwöre dem Universalismus des Westens ab und, in einer Doppelvolte, man befreie sich auch vom essentialistischen Vorurteil über die eigene und über die fremde Kultur. Denn Essentialismus führt im Extrem in die Sackgasse des Identitären96 . Das Problem besteht in der richtigen Verbindung meiner Kultur, die ich verwandle, mit den anderen Kulturen97. Es braucht eine verständigende Interpretation, um die Klippe der Homogenisierung oder der Versüßung von Werten zu umschiffen98 . Eine »Synthese der Kulturen« wäre eine Verflachung. Jullien ruft zu einer »Ethik der Aufrechterhaltung« (entretien) fremder Kulturen auf, um ihrer Dekulturation zu begegnen99. Julliens Herangehen deckt sich mit Michael Rings’ ästhetischer Theorie. Für den ehrlichen Kosmopoliten genüge es nicht, ein inKeine ästhetische Krise | 45

terkulturelles Engagement zu betreiben. Wie der Dialog vonstattengeht, sei genauso wichtig100 . Rings schlägt ein »conversational model of appreciation« vor, das von Respekt und Hinterfragung der eigenen Position und der eigenen Werte gekennzeichnet wird, unter Absehung von einer »Exotisierung«. Kathleen Higgins schlägt vor, bei der theoretischen Aneignung einer Kultur die lokale Kontextualisierung mit einzubeziehen, und listet mehrere Elemente ­eines möglichen Herangehens auf: autobiografische Annäherungen nicht ausschließen; Eigenhumor nicht vernachlässigen; Projekte der interkulturellen Zusammenarbeit angehen; die Instabilität eigener Ansichten akzeptieren; neue Theorien anstreben101. Im Grunde variieren die Herangehensweisen lediglich, decken sich jedoch im Prinzipiellen: Respekt vor anderen Kulturen, sie nicht exotisieren, sondern ihre Ressourcen einbeziehen; die fremden Kulturen stets kontextualisieren und sie zur Erneuerung oder gar Neubegründung eigener Perspektiven heranziehen, ohne ihren Eigenwert zu vereinnahmen. Zwei Beispiele, die für eine neue Ästhetik fruchtbar sein könnten: die Rasa-Ästhetik und ästhetische Theorien, die den Wandel betonen, also per se Perspektivänderungen nach sich ziehen. Rasa, ein Zentralbegriff der Sanskrit-Ästhetik, verbreitete sich in Indien, Indonesien und in Teilen Ostafrikas102 . Der Rasa-Begriff findet sich zuerst in Bharatas (zugeschrieben) Natyasastra (200–500 nach unserer Zeitrechnung), einem Kompendium der darstellenden Künste103. Nicht unähnlich der aristotelischen Katharsis in der Tragödie, beschreibt Rasa »aesthetically transformed emotional states experienced with enjoyment by the audience members«104 . Rasas, die man nicht allein auf die Ästhetik anwendet, werden verschieden übersetzt, so zum Beispiel als »the savoring of the emotional flavour of our experience«105 oder als »Gefühl«, »emotionale Tongebung« oder »Geschmack« oder »Saft«, gustatorisch gedacht106 . Nur gewisse emotionale »Geschmäcker« werden zu den Rasas gezählt: erotische, komische, pathetische, wütende, heroische, schreckliche, hassenswerte und wunderbare107. In der javanesischen Ästhetik verbindet Rasa die drei Komponenten des religiösen Lebens: mystische Praxis, Kunst und Etikette108 . Trotz Einschränkungen bei den emotionalen »Geschmäckern« mutet uns die Rasa-Ästhetik aus zwei Gründen modern an: zum einen, weil Rasa das ästhetische 46 | Keine ästhetische Krise

Erleben ins Zentrum stellt, weil sie eine alte-neue Theorie des (auch ästhetischen) Erlebens darstellt, wovon die Post-Dewey-Ästhetik heute ausgeht. Zum anderen, weil der Begriff große Sinnlichkeit aufweist und den emotionalen Zugang zur Ästhetik betont. Rasa sucht sinnliche Erlebnisse zu beschreiben, und zwar mit allen Sinnen. Diesen Vorgang mit dem Schmecken zu verbinden kennt die westliche Ästhetik nicht. Vielleicht hat die westliche Ästhetik ­etwas im ästhetischen Erleben nicht berücksichtigt. Westliche »Erkenntnis« oder das Ästhetische als Ort von Erkenntnis spielt im Rasa-Erleben keine Rolle. Die Frage drängt sich sofort auf: Wenn wir Rasa auf ein ästhetisches Phänomen anwenden, haben wir die Sanskrittheorie wirklich begriffen und löst man Rasa nicht aus seinem kulturellen Kontext? Das gebe ich nur zu bedenken. Es lohnt sich, Rasa eingehender zu untersuchen. Das zweite Beispiel sind ästhetische Zugänge oder Theorien, die den Wandel zum Thema machen. In der balinesischen Ästhetik bezieht sich der Zentralbegriff taksu auf die spirituelle Inspiration und Energie hinter der Maske des Darstellers, bei Puppen oder bei zeremoniellen Waffen. Es bezieht sich auch auf die charismatische Kraft eines bedeutenden Darstellers. Taksu ist ein Zustand, den die Darsteller einer Zeremonie anstreben109. Taksu wird auch in der Malerei angewandt und bei Aktivitäten wie dem Kochen. Ähnlich wie in der westlichen Ästhetik streben die Darsteller durch Taksu danach, das Publikum zu bewegen110 . Alles bleibt in Bewegung. Da die Balinesen die Leere ablehnen, muss diese mit stetiger Bewegung und Ornamentierung gefüllt werden. Wenn sich Puppen oder Darsteller nicht mit dem Gesamtkörper bewegen, bewegen sie unaufhörlich die Finger (jeriring)111. Das Gamelan-Spiel, das die Darstellung musikalisch begleitet, symbolisiert die kosmologische und soziale Ordnung, was impliziert, dass die Musik nie von religiöser Bedeutung frei bleibt112 . Im Gegenteil: Die balinesische Kunst ist eine religiöse Kunst und daher für die westliche Ästhetik mit einem großen Fragezeichen zu versehen. Man kann sie auch als mystisch bezeichnen, und an einer Mystifikation der Ästhetik kann einer modernen Theorie nicht gelegen sein. Für die balinesische Kultur hingegen bleibt ihre kulturelle Ausprägung genuin und sollte vom Westen nicht kritisiert, sondern in ihrer Eigenart stets respektiert werden. Keine ästhetische Krise | 47

Die islamische Ästhetik verkündet, ganz im Gegensatz zum westlichen Vorurteil, keine Gewissheiten. Sie weist vielmehr darauf hin, dass das Verhältnis Mensch-Welt und die menschlichen Perzeptionen nicht festgelegt sind und von der Sprache mit ihren Allgemeinbegriffen nicht erfasst werden können113. Hier liegt eine Grunddifferenz zwischen Orient und Okzident begraben, denn der Okzident strebt seit Descartes nach Gewissheiten. Die islamische Ästhetik erwartet keinen definitiven Zustand eines Kunstwerks. Auch die Architektur wird als wandelbar interpretiert, je nach Lichteinfall und Funktion. Die Wandelbarkeit des Raums und der Gegenstände, erst recht der ästhetischen, wird als Wert hochgeschätzt114 . In der islamisch-ästhetischen Weltsicht wird nichts als statisch oder festgefügt betrachtet. Die drei grundlegenden Prinzipien des Glaubens begründen diese Weltsicht: das Prinzip der permanenten Veränderung innerhalb der Permanenz; das Prinzip der Unsicherheit aller menschlichen Sinne und der Kognition; das Prinzip der Liebe oder das des Verstehens mit dem Herzen115. Was der Westen als reine Dekoration in der islamischen Kunst missversteht, »is actually an expression of the constant flux of the world and of how all creation is interrelated. Various visual arrays are designed to reflect the constant movement of the world«116 . Dazu gehören insbesondere Spiegel und Spiegeleinsätze in Mosaiken, Widerspiegelungen, durchsichtige Trennwände und Schleier117. Die permanente Transformation der Welt drücken auch die (festgelegten) Symbole wie etwa der Kreis aus, der die spirituelle Welt symbolisiert, oder die bedeutungsschwere Spirale, die das innere Sein der äußeren Welt symbolisiert118 . In der Sufi-Tradition beginnt der Erkenntnisakt Gottes durch Stimulierung der fünf Sinne, auch wenn Gott und seine 99 Namen nie gewusst werden können. Das dritte grundlegende Prinzip, das der Liebe, kann über die ästhetische Schönheit zur Erkenntnis führen. In diesem Sinn zielt die islamische Ästhetik auf Erkenntnis, auf die Erkenntnis Allahs ab. Für die westliche Ästhetik ist jede Form von Kunst-als-Erkenntnis hoch problematisch. Erst vor ein paar Jahrzehnten emanzipierte sich die westliche Ästhetik gerade von jeder Erkenntnis- und Wahrheitstheorie. In der Aufklärung befreite sich der westliche Mensch von der religiösen Bevormundung und erklärte den Glauben zur Privatsache. Dahinter darf man nicht zurückfallen. Trotz 48 | Keine ästhetische Krise

der Dialektik der Aufklärung bleibt sie eine Errungenschaft. Ich sehe daher keine Synthesemöglichkeit der westlichen Ästhetik mit der islamischen; vielleicht gelingt dies einem kenntnisreichen türkischen oder arabischen Gelehrten. Die islamische Betonung des Transitorischen der (ästhetischen und nicht-ästhetischen) Welt böte hingegen möglicherweise einen Ansatzpunkt. Dies dürfte keine Umarmung der islamischen durch die westliche Ästhetik sein, sondern eine wünschenswerte Begegnung auf Augenhöhe. Das Gespräch auf Augenhöhe hat der Westen sträflich vernachlässigt. Insofern könnte eine fruchtbare, respektvolle Annäherung vom Westen ausgehen, der seine Bringschuld endlich einlöst. Bei der traditionellen konfuzianisch-chinesischen Ästhetik sehe ich hingegen keine Berührungspunkte mit einer modernen Ästhetik. Konfuzius’ Lehre geht auf die von ihm geschätzte, man kann sagen: idealisierte Zhou-Kultur der Zhou-Dynastie (1045–771 vor unserer Zeitrechnung) zurück. Es kommt für den Künstler darauf an, in den Riten und in den Künsten li zu praktizieren. Das Ziel liegt in der Erreichung von Harmonie. Wird das li richtig angewandt, dann ist diese korrekt, was Künstler erst einmal durch fleißiges, jahrelanges Kopieren von Meistern erreichen können, aber nicht durch blindes Kopieren119. Die Künste sind wesentlich für die menschliche Selbsterziehung und für die eigene Einbettung in Tradition und Kultur. Dazu zählt zentral die Pflege der Kalligraphie120 . Die traditionelle konfuzianische Ästhetik gründet vornehmlich in der Ethik. Setzt man für die Künste als Endziel die Erreichbarkeit der Harmonie, impliziert dieses Ziel eine normative Ästhetik. Sie dient letzten Endes als Vehikel für ein ethisches Ideal. Eine moderne Ästhetik darf nicht normativ vorgehen und Ideale gleich welcher Art einfach setzen. Normative ästhetische Ethiksysteme zeichnen sich zwangsläufig durch Intoleranz aus. Gerade um Toleranz geht es jedoch in einer modernen Ästhetik: um die Toleranz gegenüber fremden ästhetischen Ausprägungen, eine Minimalforderung an eine moderne, offene Ästhetik. Das konfuzianische System, das vom Kernbegriff, vom Fernideal des li ausgeht, eignet sich dafür nicht. Es widerspricht außerdem den transitorischen Ästhetik-Theorien. Moderne chinesische Künstlerinnen und Künstler hingegen wie Ai Weiwei und Yue Minjun, Schriftstellerinnen und Schriftsteller wie Shan Sa, Yang Lian und François Keine ästhetische Krise | 49

Cheng, Musiker und Musikerinnen wie etwa Yuja Wang und Lang Lang, die sich nicht an die traditionelle konfuzianische Moralästhetik halten, sondern sie sprengen, sind schon seit Jahrzehnten zu Recht international anerkannt und legitime Kunstproduzenten in der kosmopolitischen Kunstwelt. Von einer normativen Ästhetik, wie sie die herrschende KP Chinas vorschreibt, haben sie Abschied genommen. Diese großartigen Kulturschaffenden bilden die Basis für eine moderne (und internationale) chinesische Ästhetik, nicht eine Neuauflage des Konfuzianismus und nicht das digital überwachte Zwangsverhalten, das die KP Chinas vorschreibt. Kein Zufall, dass die drei genannten Schriftsteller/innen im Ausland leben – müssen. Eine weitere Einschränkung bei der Ablehnung der traditionellen konfuzianischen Ästhetik: Auch wenn ich diese Theorie in einem ganz engen Sinn für eine moderne Ästhetik verworfen habe, bedeutet das nicht, dass ich den traditionellen chinesischen Umgang mit der Natur für eine zeitgenössische Ästhetik ausschließe. Ein Beispiel: Die traditionelle chinesische Auffassung des SichErgehens in der Natur als Ort der stillen Kontemplation. In diesem Sinn wäre es reizvoll, die chinesische – und vielleicht sogar die koreanische – Auffassung der Natur mit der japanischen und schließlich mit der westlichen Ästhetik zu synthetisieren. Im Westen wird die japanische Wabi-Sabi-Ästhetik gern diskutiert. Wabi bedeutet Schlichtheit, das Nichtperfekte, Sabi Einsamkeit und Ländlichkeit in einem rustikalen Sinn. Tatsächlich weist die japanische Ästhetik weitaus komplexere Gedankengänge auf als Wabi-Sabi. Gegenüber allen Gegenständen in der Natur wird eine ästhetische und sympathetische Sensibilität angewandt (mono no aware), eine rein japanische Ästhetik121. Die Einfühlung in die Gegenstände und in die Natur impliziert ästhetische Wertschätzung und Respekt dem Objekt gegenüber, mit dem man buchstäblich eng zusammenarbeitet, um die Eigenart des jeweiligen Objekts sanft zu lenken, zugleich aber zu bewahren, wie etwa bei Ikebana. Das Ziel liegt darin, die Blume leben zu lassen (ikasu)122 ebenso wie bei den Bonsai-Bäumchen. Hier soll das Zurückschneiden dasjenige, was im Bäumchen angelegt ist, herausbringen. Der Respekt für das Objekt reicht von Lackarbeiten über die ländliche Töpferei bis zu Holz- und Metallarbeiten und wird von Meistern, die fest 50 | Keine ästhetische Krise

in der Tradition verankert sind, in ihrem fähigen Werken realisiert. Eine Verwandtschaft besteht zur britischen Arts and CraftsBewegung (John Ruskin, William Morris), die eine Ehrlichkeit des Materials (honesty) anstrebten. Die japanische Geisteshaltung des Respekts, eine weltweit einzigartige Haltung, wird oft über ästhetische Mittel realisiert und bezieht sich auf Objekte aller Art, auf die Natur und auf den Menschen. Seit dem frühen 13. Jahrhundert unserer Zeitrechnung zutiefst vom Zenbuddhismus beeinflusst (aber auch von der Hofkultur der Heian-Periode, 794–1185 unserer Zeitrechnung), geht es darum, das Ich zu überwinden und die allzu menschlichen Kategorisierungen und Wertungen hinter sich zu lassen. Der Respekt »is not only an aesthetic strategy, but also a moral virtue that characterizes enlightenment«123. Zum moralischen Respekt gehört auch die Suche nach Demut gegenüber dem anderen in seinem Eigenwert, was wiederum die ästhetischen Sensibilitäten schärft124 . Es liegt auf der Hand, dass diese (säkulare) japanische Perspektive unmittelbar für eine westliche Ästhetik Relevanz aufweist, wenn man sie auf eine neue Naturästhetik anwendet. Man braucht nicht weiter zu suchen als mono no aware: Respekt und Demut vor der Natur. Die Mono-no-aware-Ästhetik lässt sich auch auf japanische Gärten, auf die Teezeremonie und auf die Malerei anwenden. In den japanischen Gärten lenkt die Platzierung der Trittsteine und der Brücken die Bewegungen der Besucher. Die Trittsteine werden oft irregulär platziert, damit man entschleunigt wird und man mit den Fußsohlen jede Charakteristik des Steins erfühlt. Bei den kleinen Brücken werden die Trittsteine oft gestuft, damit man in der Mitte anhält und den Garten kontempliert. Die Strategie des miegakure – »jetzt siehst du es, jetzt siehst du es nicht« – bedeutet, dass Felsen und Sträucher platziert werden, um die Weitsicht teilweise zu verstecken. Miegakure schenkt den Besuchern Hinweise darauf, was kommen wird125. Ein Garten in Bewegung. Die Chado-Teezeremonie seit Sen no Rikyū (1522–1591), bekannt als wabicha, gilt genau genommen als Teil der Wabi-Sabi-Tradition. Alles wird ästhetisch ausgeführt: das Teezimmer selbst in seiner Gartenumgebung, die Sitzanordnung, die stilisierten Bewegungen insbesondere der ausführenden Person, die Blumenarrangements im tokonoma (Alkoven) und das passende Tokonoma-Rollbild hinKeine ästhetische Krise | 51

ter dem Blumenarrangement126 . Jede Zeremonie verläuft ein wenig anders, alles ändert sich. Was in Japan mit »Einsamkeit« ausgedrückt wird (Sabi), würde man im Westen mit »Reduziertheit« gemäß Zen-Einfluss ausdrücken. Das trifft auf das Haiku-Gedicht (drei Zeilen, 5 – 7 – 5 Silben jeweils) ebenso wie auf die Malerei zu. Die Kanō-Schule drückt den dargestellten Gegenstand einigermaßen realistisch aus, die TosaSchule eher poetisch127. Oft genügen ein oder mehrere Striche, um etwas zielsicher anzudeuten. Mit Ausnahme der wildwuchernden, hässlichen modernen Städte ästhetisieren Japanerinnen und Japaner ihr Leben, sogar die sorgfältige Verpackung von Geschenken, sogar die Speisendarbietung auf dem Tablett. Wo sich Hässliches zeigt wie in den Städten, praktizieren die Japaner den selektiven Blick. Mit ukiyo-e schließlich wird die fließende (Vergnügungs-) Welt bezeichnet. Überhaupt betont die japanische Ästhetik den Wandel der Dinge; das Ikebana des Lebens, das rasch vergeht. Die reduzierte japanische Ästhetik, von Respekt geleitet, und die javanesische und islamische Ästhetik führen die Ästhetik hinweg in eine »andere Rationalität«128 , wobei der Begriff »Ratio­ nalität« nicht zutrifft. Es geht um teilweise durchaus spirituelle Geisteshaltungen, die dem westlichen Herrschaftsdenken konträr entgegenstehen129. Die Ästhetik-Haltungen des Transitorischen mit ihrem dem Westen fremden Wertschätzungskomplex könnten dazu beitragen, das westliche Wertungs- und Urteilsproblem zu lösen, und zwar in vielfacher Hinsicht. In der westlichen Wertung steckt ein oft hartes, kompromissloses Be-werten, also im Endeffekt ein ästhetisches Urteil. Für Kant bestand das Ziel der Ästhetik letzten Endes im ästhetischen Urteil. Aber das Urteil wirkt sich kontraproduktiv aus, wenn man permanent wertet. Man genießt nicht, man wertet – und entwertet. Die drei transitorischen Ästhetik-Haltungen weisen deutlich darauf hin, dass nichts Bestand hat und dass insbesondere Urteile, die kartesisch clare et distincte und wohlbegründet erscheinen, keinen Bestand haben. Man tritt niemals in denselben Fluss. Die Betonung der Wandelbarkeit der Dinge relativiert die Eitel­ keit des Urteilens. Das Transitorische weist außerdem auf die Gleichwertigkeit andersartiger oder indigener Kulturen hin, was 52 | Keine ästhetische Krise

das angeblich objektive westliche Wertungsproblem in den rein subjektiven Bereich verschiebt. Ohne es direkt auszusprechen, weisen die dem Westen fremden ästhetischen Haltungen auf die westliche Arroganz gegenüber den anderen Kulturen hin, die der Westen erst beginnt zu verstehen. Schon allein als Wiedergutmachung müssten die westlichen Theoretiker sich ernsthaft um andersartige ästhetische Haltungen bemühen. Sie tragen in sich die noch geschlossene Blüte der Befruchtung, der Bereicherung für die neue Welt-Ästhetik. Eine weitere Bereicherung: Rasa zum Beispiel kommentiert implizit die ästhetische Überintellektualität der westlichen Ästhetik. Ihr gilt es zu entkommen. Es gilt stattdessen, die ästhetische Erfahrung zu vertiefen. Zu viel Rasa kann die Ästhetik mystifizieren und sie ins Unbegreifbare entrücken. Dieses Problem erzwingt die permanente Reflexion auf die Grenzen der Aneignung: Wo ist sie sinnvoll und wie, wo nicht? Auch ein anderes Problem tut sich auf bei der Synthese der Ästhetik-Haltungen von Ost und West, das Problem der Dekontextualisierung des indigenen oder fremden ästhetischen Kontexts. Wie weit kann eine sinnvolle Ästhetik gelingen, wenn man im Gefolge von Julliens Warnung vor der Zerstörung einer uns fremden Kultur eine Synthese anstrebt? Ich habe (noch) keine Lösung für das Dilemma gefunden, außer wohlfeile, aber selbstkritische Hoffnungsworte auszusprechen. Und doch sehe ich Licht am Ende des Tunnels. Skizze einer Globalästhetik

Die theoretischen Vorüberlegungen zu einer sinnvollen Global­ ästhetik kommen an ihr Ende. Eine Forderung will eingelöst werden. Die Einlösung muss per definitionem praktisch erfolgen, und die praktische Probe aufs Exempel hat zuerst diese Ästhetik zu leisten. Praktisch bedeutet stets pragmatisch. In der Folge dieser Ästhetik werde ich mich bemühen, die obigen Anregungen direkt, je nach Thema, umzusetzen: 1. Ich werde die transitorischen Ästhetik-Haltungen im Kapitel Götterdämmerung des ästhetischen Urteils diskutieren und in die Überlegungen integrieren. In allen Kapiteln wird es um das EinstKeine ästhetische Krise | 53

weilige, Fließende der Ästhetik gehen; und um den Abschied vom westlich geprägten ästhetischen Urteil. 2. Im Kapitel Die Rückkehr der Schönheit werde ich auf andere, fremde Schönheitsbegriffe hinweisen. 3. Im Kapitel Ästhetische Erfahrung I: Alltagsästhetik beziehe ich in der Baumgarten-Nachfolge ästhetische Erlebnisse mit den ganz gewöhnlichen Alltagsgegenständen mit in das Thema ein, geleitet von der japanischen Ästhetik-Haltung. 4. Im Kapitel Ästhetische Erfahrung II: Die Natur als Gewesene behandle ich die japanische Mono-no-aware-Geisteshaltung, die Haltung von Respekt und Demut im Verhältnis zur Natur, sowie alles Relevante in der einzigartigen japanischen Ästhetik. Auch anderweitige traditionelle Haltungen zur Natur wie die chinesische werde ich zu Rate ziehen. 5. Im Kapitel Ästhetische Erfahrung III: Emotionen in der Lite­ raturrezeption werde ich die Rasa-Ästhetik einbeziehen und versuchen, den Genuss ästhetischer Objekte besser zu verstehen. Abschließend werde ich auf die Probleme der Globalästhetik hinweisen. Bei all diesen Synthesebemühungen werde ich selbstkritisch die Dekontextualisierung nichtwestlicher Ästhetik-Haltungen mit reflektieren. Stets soll es außerdem um die Grenzen des Angewandten gehen.

Neuroästhetik Nach der Forderung einer Globalästhetik möchte ich eine ästhetische Herausforderung ansprechen, der seit ungefähr dem Jahr 2000 bedeutsamen empirischen, naturwissenschaftlich begründeten Ästhetik. Der Einfachheit halber nenne ich sie Neuroästhetik. Der Begriff, den Semir Zeki prägte, hat sich eingebürgert. Jede neue Ästhetik muss das Bemühen der Kognitionsforschung, der Ästhetik naturwissenschaftlich beizukommen, ernst nehmen. Es geht dabei nicht um den ästhetischen Zugang der analytischen Philosophie. Deren Grenzen wurden längst sichtbar: die Grenzen eines logischen Zugangs bei einem Fach, das sich der Logik entzieht. Die Kognitionsforschung hingegen vermag die Gehirnfunktionen beim ästhe54 | Keine ästhetische Krise

tischen Erleben zu beleuchten. Die experimentelle Ästhetik kann einiges zu den ästhetischen Präferenzen aussagen. Schon allein deshalb werde ich im nächsten Kapitel die empirische Ästhetik in einem gesonderten Kapitel untersuchen, Widersprüche (falls vorhanden) aufdecken, ihre Anwendungsbereiche (soweit möglich) auf den Begriff bringen und ihre Grenzen (soweit möglich) abstecken.

Ansätze einer pragmatischen Ästhetik Aus den bisherigen Überlegungen, den kritischen Argumenten und den konstruktiven Annäherungen, ergeben sich Ansätze einer pragmatischen Ästhetik. Eine pragmatische Ästhetik will ästhetische Lösungen anbieten und sich weitmöglichst auf außerästhetische Realitäten beziehen. Das beugt der art pour l’art vor, dem Über-den-Dingen-Schwebenden, der toten Theorie, die nur ein reizvolles philosophisches Gedankenspiel in wolkige Worte fasst. Eine pragmatische Ästhetik wird auf jeden Fall synthetisch vorgehen. Das synthetisch-vereinheitlichte Feld wurde schon vor Jahrzehnten von Walter Abell gefordert130 . Sartre hat eine von ihm sogenannte »totalisierende« Theorie am Beispiel von Flauberts Schaffen versucht in die Welt zu setzen, die alle Lebensbereiche des 19. Jahrhunderts mit einbezieht131. Das Problem der Totalisierung liegt darin, dass sie voraussetzt, die Totalität würde rein objektiv ohne Dazutun des Subjekts existieren und man könne sie überhaupt erkennen und analysieren, um zu einem abschließenden Ergebnis zu gelangen. Eine naive Vorstellung, denn in der Ästhetik gibt es keinen Abschluss, sind keine endgültigen Aussagen machbar, auch wenn diese Theorie »Lösungen« immer in Anführungszeichen setzt. Im Gegensatz zu Sartre erstrebe ich eine Synthese, die um ihren einstweiligen Charakter weiß und die auf dem neuesten Stand der Diskussion das Beste anbietet, was sie thematisch und argumentativ aufzubringen vermag; und die weiß, dass ihr Ansatz den zukünftigen Generationen (so es sie geben wird) nicht genügen wird. Der Universalziegel zur Erbauung der Ästhetik zerbröselt. Monobegriffliche Theorien wie die ästhetische »Kraft« oder »Atmosphäre« gehören der Vergangenheit an. Im Gegensatz zu diesen Keine ästhetische Krise | 55

ästhetischen Verengungen darf die Gesamtsynthese wiederum nicht ausarten und im Prinzip nichts mehr aussagen. Die praktische Ästhetik bemüht sich daher, die Bodenhaftung nicht zu verlieren und sinnvolle, vernünftige Synthesen als vorläufige Ergebnisse anzubieten, die die Diskussion voranbringen. Das wäre eine Gesamtsynthese aus vernünftigen (immer ein Problem!), nachvollziehbaren Positionen der ästhetischen Gegenwart, aus einer neuen Natur­ästhetik, aus Globalästhetik, aus Neuroästhetik, aus einer Ästhetik, die Hochkunst und Alltagsgegenstände undogmatisch vereinigt. Nicht eine einheitliche Perspektivierung vermag diese Bereiche zu vereinigen, sondern die Sinnhaftigkeit der kombinierten Herangehensweisen. Diese scheinen vereinzelt dazustehen, tun es aber nicht, wenn die ästhetische Sinnhaftigkeit sie vereinigt zu einem offenen, dynamischen Ganzen. Die ästhetische Vergeblichkeit, die sich darin ausdrückt, zu keinen abschließenden Ergebnissen zu gelangen, möchte ich in etwas Konstruktives umwandeln: Aus der Vergeblichkeit entspringe die gut kantische Grenzziehung der ästhetischen Theorie und ihrer Teilbereiche. Was können wir ästhetisch wirklich aussagen? Wo verletzt der Flug der kleinsten Eule der Minerva, der Ästhetik, ihre Jagdgebietsgrenzen? Indem die Theorie sinnvolle Synthesen anstrebt, bemüht sie sich um konkrete Antworten: beim ästhetischen Erleben von Alltagsgegenständen, bei einer neuen Naturästhetik, beim Verweisungscharakter der Kunst, bei einer neuen Globalästhetik, beim Schönheitsempfinden und nicht beim nichtexistenten »Schönen«, nicht zuletzt beim ästhetischen Genuss. Gelingt es dieser Theorie auch nur annähernd, all diese Fragen einigermaßen sinnvoll zu beantworten, entstünde eine gesamtästhetische Sinnhaftigkeit, die außer­dem einen hoffnungsfernen Gegenentwurf zur gegenwärtigen, ökologisch sich abzeichnenden Katastrophe anbietet. Das wäre ein unbedeutender, stiller, aber trotziger ästhetischer Sinn in Krisenzeiten.

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EMPIRISCHE ÄSTHE TIK Seit Jahrhunderten tritt die Philosophie den langsamen, stetigen Rückzug an vor den Erkenntnissen der Naturwissenschaften. Der zeitgenössischen Philosophie verbleiben nur zwei Reaktionen auf diese missliche Situation: Sie kann sich in ihrem Kokon vor der Wirklichkeit einigeln oder die naturwissenschaftlichen Erkenntnisse in ihre Reflexionen und Theorien integrieren. Die Ästhetik wird natürlich den zweiten Weg wählen, muss sie doch wie erwähnt keine Begründungskrise befürchten wie die Philosophie im Allgemeinen und wie die Theologie überhaupt. Daher ist es geradezu zwangsläufig und zurückhaltend positiv zu werten, wenn die Naturwissenschaften seit einigen Jahrzehnten sich zunehmend darum bemühen, aus den subjektiven Setzungen der Ästhetik eine objektive Wissenschaft zu gestalten. Diese Herausforderung an die ästhetische Theorie vermag die Ästhetik nur dann spielend zu meistern, wenn sie wie hier in der Folge dabei Widersprüche und Probleme aufdeckt sowie Applikationsbereiche und die Grenzen der naturwissenschaftlichen Anwendungsmöglichkeiten auf das ästhetische Feld grundlegend reflektiert. Ein Grundproblem dieser Reflexion: Wie kann aus einem so subjektiven Gegenstand wie der Ästhetik Objektivität erwachsen? Immerhin wird die Ästhetik, ganz nebenbei, eine Überbrückungsfunktion innehaben, wenn sie die beiden Kulturen, Geisteswissenschaften und Kulturen im engeren Sinn auf der einen Seite und Naturwissenschaften auf der anderen Seite weitmöglichst integriert. Bullot, Seeley und Davies wandten sich 2017 gegen die Theorie der Zwei Kulturen: Zu sehr hätten in der Geschichte künstlerische Innovationen und Strömungen die naturwissenschaftlichen Erkenntnisse und umgekehrt – vor allem umgekehrt – befruchtet und bedingt. Man denke dabei etwa an die Entdeckung der Zentralperspektive in der Renaissance, an den von Fibonacci und Kepler untersuchten Goldenen Schnitt, an all die technischen Neuerungen wie die Leinwand, das billige Papier bis hin zum ar57

beitsschonenden PC, man denke an Staffeleien und Farbtuben, an all die Musikinstrumente, schon allein an die Entwicklung des Klaviers vom Cembalo bis zum Hammerklavier.1 Bedenkt man die vielen, von Bullot et alii angesprochenen Interdependenzen, gegenseitigen Durchdringungen und Befruchtungen, wäre es ausgesprochen töricht, die naturwissenschaftlichen Erkenntnisse in die gesamtästhetische Theorie nicht einzubinden. Die Naturwissenschaften könnten zu einer integrativen Ästhetik beitragen; ab ovo weiß man das nicht, das muss man untersuchen. Die positive Hinwendung zur Kooperation mit den Naturwissenschaften wird die ästhetische Theorie als eine philosophische Disziplin weder blenden noch ihre Kritikfähigkeit ausschalten. Um eine positiv gestimmte Kritik an den naturwissenschaftlichen Ansätzen soll es hier gehen. Ich beginne mit dem größten Problem, dem der neodarwinistischen Ästhetik.

Kritik der neodarwinistischen Ästhetik Die an Darwin orientierten Evolutionsbiologen gingen in den letzten drei Jahrzehnten von den beiden grundlegenden Evolutionstheorien aus: von der natürlichen Selektion, die auf der Notwendigkeit für Sicherheit, Überleben und Ordnung fokussiert, und von der sexuellen Selektion, die sich auf der anderen Seite auf Fitness und Paarungswert konzentriert.2 Duttons Theorie der natürlichen Selektion betont den von ihm hypostasierten »art instinct« im Kontext von Landschaftspräferenzen mit weitem Blick, 3 der sogenannten Savannenhypothese, die in der Diskussion immer wieder auftaucht. Die Theorie der sexuellen Selektion bei der Kunst geht auf Geoffrey Miller und Steven Pinker zurück. 4 Für Miller sind das menschliche Gehirn und dessen künstlerischer Ausdruck Produkte der sexuellen Selektion. Für Pinker ist Kunst ein Nebenprodukt (by-product) von anderen kognitiven Funktionen, die ihrerseits adaptiv sind.5 Høgh-Olesen kritisierte die Savannenhypothese: Was die Savannenlandschaft genau ausmache, sei nie präzise definiert worden. Verschiedene Studien würden daher nicht dieselbe Sache messen. 6 Høgh-Olesen selbst geht vom Fitnesspostulat der sexu58 | Empirische Ästhetik

ellen Selektion und von der Pfauen-Ornamentierungs-Hypothese aus: Jede Art von Ornamentierung sei ein Fitness- und Gesundheitsindikator, sei »personal advertising«.7 Unzufrieden mit den bisherigen natürlichen und sexuellen Theorien als Annahmen über die Entstehung der Kunst, versucht der Evolutionsbiologe Chatterjee einen dritten Weg zu gehen, den der Schönheit. Kunst sei zwar instinktgetrieben, aber wir seien auch schönheitsorientiert, und zwar insbesondere durch »captivating faces«, die symmetrisch sein müssten, durch die Symmetrie im Allgemeinen und somit durch die perfekten Proportionen des menschlichen Körpers, schließlich durch »sexual dimorphism«, was uns erlaubt, bestimmte Ausprägungen des menschlichen Körpers positiv zu werten. 8 Catherine Wilson machte 2016 auf Alfred Russel Wallace’ evolutionäre Gegentheorie zu Darwin aufmerksam9: Sexuelle Displays, vor allem beim Männchen, entstünden oft nach der Paarbindung, könnten also kein sexuell adaptives Kriterium darstellen. Die überschüssige Kraft des Männchens erklärt seine Ornamentierung hinreichend. Auch verfügen die Weibchen oft genug nicht über die Wahrnehmungsfähigkeit, das richtige Männchen aufgrund von winzigen Bewerberunterschieden von Form, Farbe und Fell oder von Federmustern zu unterscheiden. Daher kann man die Partnerwahl als arbiträr bezeichnen.10 Wallace folgend, fasst Wilson zusammen: Viele »schöne« Ausprägungen in der Natur besitzen keine evolutionäre Bedeutung, zum Beispiel die Schönheit der Schneeflockensymmetrie, der Sonnenuntergänge, der Wasserfälle sowie der Formen von Kristallen und Viren.11 Der prominenteste Theoretiker der sexuellen Selektion, Richard Plum, umgeht das ganze Problem, indem er alle nicht-menschlichen, natürlichen Displays als »Kunst« bezeichnet.12 Das Problem dabei sticht sofort ins Auge: Was erlebt das Tier für eine ästhetische Erfahrung? Bei Darwin heißt es, »… birds appear to be the most aesthetic of all animals, excepting of course man, and they have nearly the same taste for the beautiful as we have.« Ein gewagter Schluss. Überhaupt sind Darwins Analogien mehr als gewagt, indem er von »lower animals« und ihren sexuellen Charakteristiken und ihren »mental powers« auf den modernen Menschen schließt.13 Natürlich sei Darwin zugestanden, dass er die Einheit der natürlichen Welt und des Tierreichs (wozu Empirische Ästhetik | 59

er den Homo sapiens zählte) hervorheben wollte, was für seine Zeit absolut fortschrittlich und bedeutend war; seine epochale Leistung verdient größten Respekt. Aber seine Analogien bedürfen der Korrektur. Er selbst drückt das Problem des ethnologischen Vergleichs mit aller Klarheit aus: »In civilised life man is largely, but by no means exclusively, influenced in the choice of his wife by external appearance; but we are chiefly concerned with primeval times, and our only means of forming a judgement on this subject is to study the habits of existing semi-civilised and savage nations.«14 Wir wissen heute, dass man den ethnologischen Vergleich zur Hypothesenbildung zulassen kann, nicht jedoch als Beweis. Das bedeutet für den ästhetischen Kontext: Einen Beweis für den evolutionären Entstehungsgrund der Kunst besitzen wir schlichtweg nicht. Der ethnologische Vergleich geht als Beweis fehl. Man kann intelligente Hypothesen bilden. Mehr aber nicht. Das evolutionäre Modell der Kunst wird daher seit Jahren einer grundlegenden Kritik unterzogen. Die Kritik umfasst die besonderen Aspekte der Theorie sowie die allgemeinsten. Zuerst zu den Einzelaspekten. Im Gegensatz zum Menschen besitzen die hochornamentierten Vögel in der Regel kein ausgeprägtes Sozialleben, wie Menninghaus kritisiert.15 Je spektakulärer die Ornamentierung, desto größer die Wahrscheinlichkeit der Polygamie als Fortpflanzungssystem – was für die Weibchen nicht attraktiv sein kann.16 Beim Menschen sind die Praktiken der Selbstverschönerung gerade nicht auf die Phase der sexuellen Werbung beschränkt. Soziale Funktionsträger wie Schamanen oder kirchliche Würdenträger legen noch bis ins hohe Alter elaborierte Ornamente an.17 Überhaupt wohnt dem Vergleich von invarianter Tierornamentik zur varianten menschlichen Ornamentik, die stark von der Mode abhängt, ein Grundfehler inne: ein Fehler, den man den Invarianz-Varianzfehler nennen könnte. Auch geht es bei Menschen um statusdifferenzierende Signale, wie ich sie, Reckwitz folgend, in der Vorrede ausgeführt habe. Die psychologischen Singularitätsmerkmale der verschiedenen Klassen haben mit der sexuellen Selektion nichts gemein. Selektionstheorien tangieren sie überhaupt nicht. Dasselbe gilt bei der Kunst-als-Fitness-Theorie mit ihrer Betonung von Symmetrie bei Gesichtern oder der perfekten WaistHip-Ratio. Muster wie Symmetrien oder angeblich universale 60 | Empirische Ästhetik

Schönheitsproportionen reichen nicht aus, um begründete ästhetische Aussagen zu treffen.18 Außerdem ist Schönheit mit vielen verschiedenen Proportionen vereinbar.19 Würde man perfekte Proportionen (welche?) gar den Kunstwerken zugrunde legen, landete die Ästhetik in einem neonormativen Neo-Neoklassizismus. Die Costly-signal-Theorie als Zeichen von Fitness bei Menschen und als Evidenz guter Gene krankt an den menschlichen Besitzverhältnissen: Werden Statusobjekte nicht selbst erarbeitet, sondern sind geerbt oder gestohlen oder das Resultat schmutziger Geschäfte, wie können sie dann noch genetische Fitnessindikatoren für sich beanspruchen? Die Trennung von Produzent und Profiteur der Künste eröffnet immense Spielräume für Täuschungsstrategien, was, wie Menninghaus folgert, das kostspielige Signal gerade infrage stellt.20 Und sind die Fitnesssignale körperzentriert, geht es heute nicht mehr um tüchtige Reproduktionsfähigkeit, sondern um maximale Schönheit bei Minimierung der Nachkommen.21 Die superschlanken Models »transportieren alles andere als die Botschaft, dass sie besonders vorzüglich zum Kinderkriegen geeignet sind. Ihrer ästhetischen Hochschätzung tut dies keinen Abbruch.«22 Sehr viele menschliche Äußerungen haben nichts mit der sexuellen Selektion zu tun. Die Sexual-display-theory »is grossly implausible and has little explanatory power«.23 Menninghaus nennt die Kontextschaffung zwischen sexuellen Effekten und den menschlichen Künsten einen »kruden Kurzschluss«.24 Denn die menschliche Kultur äußert sich extrem variationsreich, extrem komplex, extrem elaboriert und somit symbolisch, extrem dynamisch. Der Kurzschluss liegt darin, schreibt die Hirnforscherin Gabrielle Starr, das ästhetische Erleben mit seinen komplexen Emotionen auf das Niveau der adaptiven Triebe zu reduzieren.25 Die neodarwinistische Ästhetik perspektiviert die menschliche Kultur in eine einzige Richtung. Die evolutionäre Psychologie begreift die Bedeutung der Kultur nicht.26 Diese ist wirkmächtig und wenigstens teilautonom in der menschlichen Evolution. Kultur wird nicht verstanden als Ausprägung, die wiederum selbst unseren evolutionären Werdegang zu beeinflussen vermag.27 Die Macht der selbstgeschaffenen Kultur vernachlässigt der neodarwinistische Ansatz völlig, da das Spektrum der menschlichen ästhetischen Präferenzen grundsätzlich arbiträr bleibt. Heute ersetzt Empirische Ästhetik | 61

die Mode jede evolutionäre Urkraft des Ästhetischen, falls es sie je gab; wovon wir nichts wissen können. Nur die Gegenwart und die historische Gewordenheit (also seit Erfindung der Schrift, und das auch nur bedingt) offenbaren sich uns, in Grenzen.28 Die Vergangenheitsorientierung der neodarwinistischen Ästhetik entpuppt sich als einer ihrer großen Stolpersteine: »We humans are creatures of the past«, schreibt der Evolutionsbiologe Chatterjee.29 Ein fataler Fehler, gehören wir doch auch der Gegenwart und der Zukunft – eine Binsenweisheit. Die Gleichsetzung ästhetischer Präferenzen mit »ancestral cues of evolutionary function« manifestiert eine perspektivierende Vergangenheitsfixierung.30 Sie macht blind für die Gegenwart. Der neodarwinistischen Ästhetik fehlt es an Empirie, an einer »sufficient body of empirical research that thoroughly scrutinizes the existing hypotheses …«31 Ihre Theoretiker sind nicht gewillt oder nicht in der Lage, Hypothese im Hypothesenstatus zu belassen. Sie fragen sich nicht, welchen Status ein eventueller evolutionstheoretischer Beitrag zur Ästhetik der Gegenwart innehaben könnte. Sie fragen nicht nach den Grenzen ihrer Theorien. Sie fragen sich nicht, welche Relevanz historisch weithergeholte evolutionäre Theorien für die Gegenwart besitzen dürften. Die neodarwinistischen Theorien möchten empirisch begründet sein, aber da es in ihren Theorien stets um die Ursprünge der Kunst gehen muss, betreten sie sofort das Reich der Spekulation. Sie bedienen sich dabei der unzulässigen Analogie von Tier und Mensch und von rezenten Jäger-/Sammlervölkern zu modernen Menschen. Gelänge sogar ein zweifelsfreier Beweis der ursprünglichen Kunstfunktion(en) – außer der Banalität »kultischer Kon­ text« –, würde sich daraus für die heutige ausdifferenzierte Kultur keine Aussage generieren. Schon gleich vermag die neodarwinistische Ästhetik keinen Kommentar zur metaphorischen und künstlerischen Ebene der Kunst abzugeben. Auch die Kunstsoziologie operiert in einem begrenzten ästhetischen Radius. Kunstsoziologie und neodarwinistische Ästhetik rühren nicht am metaphorischen Kern der Kunst. Sicherlich verlangte das zu viel vom Neodarwinismus; aber eine Selbstbegrenzung hätten diese Theoretiker gerade bei solch gewagten Spekulationen leisten müssen. 62 | Empirische Ästhetik

Die evolutionäre Erklärung der Künste »taugt von sich aus nicht dazu, in direkte Konkurrenz mit evolutionären Erklärungen zu treten«.32 So gut wie alle künstlerischen Praktiken lassen sich nicht im Sinne der Evolutionstheorie beschreiben. 33 Darwins epochale Leistung erstreckt sich nicht auf das Gebiet der Ästhetik. Sein Konstrukt eines weit zurückliegenden, sexuell werbenden Singens bei unseren Vorfahren wird durch nichts bewiesen.34 Die fehlerhafte Speziesanalogie verbietet sich als Beweis. Aufgrund dieses Verbots der Interspeziesvergleiche, zumindest in Bezug auf die Kunst, im Verein mit der grauen Nebelwand der frühen Evolution tappen wir mehr denn je im Dunkeln, was die Urfunktion der Kunst betrifft – trotz erstaunlicher archäologischer und paläoanthropologischer Funde. Sie erlauben gerade noch Plattitüden wie »kultischer Kontext« (frankokantabrischer Kunstkreis) oder »mythologischer Kontext« (bei der Uraborigine-Parietalkunst Australiens). Doch selbst diese Feststellungen sind mit größter Vorsicht zu genießen, schließen sie doch andere Bedeutungen wie etwa Ornamentierung oder Stammeszugehörigkeit aus. Diese Kunstausprägungen sind keine Adaptionen, sondern symbolische Elaborationen der Menschheit, deren Bedeutung uns entgeht: Kohäsionsstiftung? Kommunikation über weite Distanzen? Geisterkommunikation? Bildererzählungen von Mythen? Umso mehr verbietet sich eine neodarwinistische Ästhetik, eine stark reduzierte Ästhetik. Sie perspektiviert das unglaublich weite ästhetische Spektrum künstlerischen Schaffens, wenn sie diese auf eine Ableitung reduziert. Eine reduzierte, perspektivierende Ästhetik vereinfacht die immense Elaboration der menschlichen Kultur. Sie funktionalisiert die Kunst und somit die Ästhetik und negiert daher in letzter Instanz das freie Spiel der Kunstproduktion sowie die Freiheit vielfältiger Deutungen von Kunst. Und da die neodarwinistischen Hypothesen empirisch unbeweisbar sind, hat sie sich als Scheinwissenschaft konstituiert. Wir wissen, abgesehen von der Ornamentik (aber zu welchem Behuf?), nichts über die Entstehungsabsicht der Künste – und ob sie überhaupt eine, wie wir es heute nennen würden, »Absicht« besaßen außer dem ästhetischen Vergnügen. Man frage sich abschließend: Welchen Beitrag leistete die reduktive neodarwinistische Ästhetik zur modernen Ästhetik? Sie Empirische Ästhetik | 63

möchte über die Ursprungsmotivation zur Kunstentstehung beitragen. Doch ihre grundlegenden Defizite sind dermaßen gravierend, dass die Antwort lauten muss: Sie leistet keinen Beitrag, da sie eine monokausale Theorie ist, eine ästhetische Theorie der Vereinfachung, des Holzhammers; ein Maulwurf im zartduftenden Rosenbeet der Ästhetik. Und was hat die neodarwinistische Theorie über den metaphorischen Gehalt der Ästhetik und über das ästhetische Erlebnis auszusagen? Mit einem Wort: nichts. Eine monokausale Theorie hat einem ausdifferenzierten Elaborat der menschlichen Kultur nichts zu sagen. Sie lässt sich schlichtweg nicht darauf anwenden, was den Darwinismus insgesamt nicht im Geringsten schmälert.

Neuroästhetik Die eigentlich experimentelle Ästhetik begann mit Fechners Vorschule der Ästhetik, 1876. Fechner prägte die für die Hirnforschung wesentlichen Bottom-up- (von äußeren, sinnlichen Stimuli geleitet) und Top-down-Begriffe (kognitiv geleitet). Im 20. Jahrhundert ging der Fortschritt der empirischen Ästhetik schleppend voran. Erst nach Überwindung des Behaviorismus in den 1970er Jahren erlebte die experimentelle Ästhetik mit Berlynes »biological arousal approach« eine Wiederauferstehung.35 Denn in den 1960er und 1970er Jahren ereignete sich eine kognitive Revolution. Das Sehsystem bildete einen Ausgangspunkt der kognitiven Naturwissenschaft. Bald aber geriet auch das Top-down-Erleben immer stärker in den Fokus der Forschung. Heute kann man von einer »Neurokultur« sprechen: Neurophilosophie, Neuroerziehungswissenschaft, Neurotheologie und nicht zuletzt Neuroästhetik. Die Neurowissenschaft erstrebt nichts Geringeres als eine »unified theory of knowledge«, denn in der menschlichen Welt existiert nichts, das nicht durch das Gehirn gefiltert wurde.36 Ich werde auf die Gehirnfunktionen eingehen, insofern es in dieser Ästhetik um Kunstrezeption geht. Die Kunstproduktion ist wesentlich komplizierter und weniger erforscht als die Kunsterfahrung, zumal die Kreativität nirgendwo im Besonderen im Gehirn verortet wird. 37 Die verständlichste und umfassendste 64 | Empirische Ästhetik

Darstellung der Gehirnfunktionen habe ich bei Eric Kandel gefunden, auf die ich mich weitgehend stütze.38 Das Rückenmark geht nach oben in das Hinterhirn über. Darüber liegen Mittelhirn und Vorderhirn. Das Vorderhirn besteht aus zwei Teilen, der linken und der rechten Hirnhälfte oder Hemisphäre. Die Hirnhälften werden von der Großhirnrinde oder dem Cortex cerebri umschlossen. Er enthält ca. 10 Milliarden Nervenzellen oder Neuronen. Die Windungen des Cortex bestehen aus Faltungen, den Gyri (Singular Gyrus), und schmalen Schluchten, den Sulci (Singular Sulcus), die die Falten voneinander trennen.39 Jede Seite des Cortex unterteilt sich in vier verschiedene Teile, die man »Lappen« nannte (engl. lobes), die nach den über ihnen liegenden Schädelknochen benannt werden: Frontal-, Parietal-, Temporal- und Okzipitallappen, der ganz hinten liegt. Die Hauptaufgabe der Frontallappen (stets in beiden Hemisphären) liegt in den ausführenden Funktionen, den moralischen und anderen Überlegungen, das Steuern von Emotionen, im Planen zukünftiger Handlungen und in der Kontrolle von Bewegungen. Dazu gehört der hochwichtige präfrontale Cortex. Die beiden Parietallappen grenzen an die Frontallappen und werden vom Frontallappen durch den zentralen Sulcus getrennt. Die Parietallappen sind zuständig für Berührungswahrnehmungen, Eigenwahrnehmung des Körpers, der Koordination von Körper mit der Außenwelt sowie für die Aufmerksamkeit. 40 Die darunterliegenden Temporallappen verarbeiten visuelle, auditive und sprachliche Informationen. Die Temporallappen sind an bewussten Gedächtnisleistungen und dem Gefühls- und Erinnerungserleben beteiligt. Der ganz hinten gelegene Okzipitallappen beherbergt das Sehzentrum, das ich im Kapitel Die Rückkehr der Schönheit beschreiben werde.41 Der Temporallappen, der unter dem Parietallappen und dem Frontallappen im mittleren Hirn liegt, ist mit fünf wichtigen Gebieten oder Arealen verbunden, die tief im Vorderhirn liegen, den kleinen, aber hochbedeutsamen Arealen: dem Hippocampus, der Amygdala (Mandelkern), dem Striatum, dem Thalamus und dem Hypothalamus. Im Hippocampus werden Erinnerungen des Kurzzeitgedächtnisses verschlüsselt und abgerufen. Die Amygdala sei »die Konzertmeisterin unseres Gefühlslebens«, schreibt Kandel. 42 Sie koordiEmpirische Ästhetik | 65

niert die emotionalen Zustände mit vegetativen und hormonellen Reaktionen. Sie kooperiert unter anderem mit dem präfrontalen Cortex und übermittelt emotionale Einflüsse auf kognitive Prozesse, was auch für bewusste Gefühle gilt. Die Amygdala koordiniert auch negative Gefühle. In der Mitte beider Hemisphären liegt der Thalamus, das Tor für alle sensorischen Informationen außer den Gerüchen. Unter dem Thalamus liegt der Hypothalamus, der lebenswichtige Körperfunktionen wie Puls und Blutdruck, über die Regulierung des vegetativen Nervensystems, steuert. Der Hypo­t halamus reguliert auch die Freisetzung von Hormonen aus der Hirnanhangdrüse (Hypophyse). Direkt neben dem Thalamus liegen die Basalganglien, die die erlernten Bewegungen mitsteuern und kognitiv daran beteiligt sind. Bei den Basalganglien bildet das Striatum den äußersten Bereich, das mit konstitutiv ist bei Belohnungen und Erwartungen.43 Alle sinnlichen Informationen, die das Gehirn erreichen, werden in neuronale Codes umgewandelt, in Muster von Aktionspotenzialen. Alles, was wir erleben, bildet im Gehirn Muster unterschiedlichster Art, worin in verschiedenen Kombinationen die neuronalen Schaltkreise im Gehirn »feuern«, also aktiv werden.44 Größere Neuronen werden Axone genannt. Die ventrale tegmentale Zone des Mittelhirns enthält die Neuronen, die Dopamin freisetzen, der Substanz, die an der Aufmerksamkeitssteuerung und der Vorhersage von Belohnungen beteiligt ist.45 Die Hälfte der Sinnesreize sind visueller Natur: Sehen heißt Informationsverarbeitung, zunächst von den Sehzentren V 1–V 5 im Okzipitallappen. Die Bottom-up-Prozesse der Informationsverarbeitung werden mit den Top-down-Prozessen der höheren Hirnbereiche zusammengeführt, wobei die visuellen Reize im seitlichen präfrontalen Cortex kategorisiert werden. Keine Wahrnehmung ohne Kategorisierung; sie wäre sonst bedeutungslos.46 Was wir lernen und woran wir uns erinnern, macht uns zu dem, was wir sind. Stets beteiligt am kognitiven Prozess ist der präfrontale Cortex (PFC), den man in vier Regionen unterteilt: die beiden sogenannten ventralen Regionen (ventrolaterale oder orbitofrontale und ventromediale Region), in die dorsolaterale und in die mediale Region. Sie besitzen verschiedene Funktionen. Die ventrolaterale oder obitofrontale Region verbindet sich am stärksten mit der 66 | Empirische Ästhetik

Amygdala und besitzt eine zentrale Rolle bei der Beurteilung von Schönheit (auch in der Kunst), der Freude und anderer positiver Werte. Die ventromediale Region des PFC koordiniert zielgerichtetes Verhalten und positive emotionale Erfahrungen mit Sozialverhalten und moralischen Urteilen, wozu sie die Amygdala hemmt. Denn deren Reaktion auf emotionale Reize könnten der Kognition widersprechen. Die dorsolaterale Funktion des PFC steuert das Arbeitsgedächtnis und kognitive Funktionen wie das Planen und Organisieren von Verhalten. Dazu nützt sie Informationen aus der ventrolateralen Region. Gemeinsam sorgen diese beiden PFC-Regionen dafür, dass unsere Handlungen auf eine effektive Bedürfniserfüllung abzielen. Die vierte PFC-Region, die mediale Region, birgt den vorderen cingulären Cortex (Gyrus cinguli), der ventral für die Belohnung von Emotion und Motivation sowie für den Blutdruck und anderen vegetativen Funktionen zuständig ist. Die dorsale Region der medialen Region spielt eine zentrale Rolle nicht nur bei der Top-down-Steuerung von kognitiven Funktionen, sondern auch bei der Vorhersage von Belohnungen, bei Entscheidungsfindung und der Empathie.47 Im Kapitel Die Rückkehr der Schönheit beschreibe ich einen Besuch in der Londoner National Gallery. In diesem Kapitel kann man neurowissenschaftlich erfahren, was bei einem solchen Besuch im Gehirn abläuft. Aufgrund meiner Kenntnis der National Gallery kann ich eine meiner vielen »Belohnungen« dort vorhersagen, mithilfe der PFC-dorsalen Funktion der medialen Region. Tatsächlich sind die Reaktionen hochkomplex und nicht so einfach zu beschreiben: Mein Gedächtnis sagt mir Caravaggios Londoner Emmausmahl voraus (Hippocampus und Langzeitgedächtnis im Temporallappen), ein Bild, das ich wie gewohnt genießen werde (PFC: orbitofrontale Region: Schönheit), aber unter Hemmung der Amygdala. Noch komplexer: Die Insula, zuständig für bewusstes Empfinden, erlaubt mir, den ästhetischen Genuss bewusst wahrzunehmen, was die Dopaminausschüttung vergrößert, während das Sehzentrum im Okzipitallappen seine Wahrnehmungs- und Informationsverarbeitung kontinuierlich vornimmt: ein Bottomup- und Top-down-Prozess, bei dem ich mein Wissen über Caravaggios Helldunkelmalerei nebenbei anzapfe, also mein Langzeitgedächtnis im Temporallappen. Die dorsomediale Region des PFC Empirische Ästhetik | 67

steuert mein Arbeitsgedächtnis und hilft mir, Caravaggios wüstes, gewalttätiges Leben mit diesem herrlichen Bild zu kontrastieren. All diese Funktionen geschehen in der Zeit, bevor man einen Lidschlag denken kann. Die Aufzählung geht weiter: Indem ich das Bild genieße, beeinflussen meine Emotionen die Wahrnehmung, denn mehr Areale als bisher erwähnt werden im ästhetischen Genuss aktiviert: der orbitofrontale Cortex, der vordere und hintere Cingulate, die Insula. Das Langzeitgedächtnis im Temporallappen muss man differenzieren: Das implizite Gedächtnis beansprucht die Amygdala, das Striatum und, auf der untersten Ebene, die Reflexbahnen. Es ist von zentraler Bedeutung für die Abstufungen von Emotionen und deren Reaktionen. Das explizite Gedächtnis für Personen und Objekte hilft mir bei der Einordnung von diesem Bild in Caravaggios Gesamtwerk. Mein Bildgedächtnis im Temporallappen hilft mir, die Londoner Emmaus-Version mit Caravaggios Mailänder Emmausmahl in der Brera zu vergleichen. Dass ich vor dem Londoner Bild nicht in wilde, unkontrollierte Entzückungsrufe ausbreche und mich die anderen Museumsbesucher befremdet anschauen, dafür sorgt mein zensierender präfrontaler Cortex. Die emotionale und kognitive Wertung des Bildes habe ich dabei noch gar nicht erwähnt. Obwohl ich nicht an die Auferstehungserzählung und an die christlichen Legenden im Geringsten glaube, bewundere ich das Bild, weil Caravaggio die Sekunde, in der die Jünger den Christus erkennen, unglaublich eindringlich darstellt. Auch habe ich die Bedeutung des Striatum, ein Haupt­ areal der Gefühle, noch nicht eingehend gewürdigt. Und wie reagiere ich? Geistig (PFC) und emotional mithilfe des Striatum und mithilfe der Insula, die unsere Gefühle repräsentiert, bewusst und unbewusst, indem mein Pulsschlag sich leicht erhöht. Doch damit sind nur einige der Areale und Transmitter wie Dopamin angesprochen. Das erste Bottom-up-Regulierungssystem, das eingehend erforscht wurde, war das dopaminerge System. Die dopaminergen Neuronen, die an der Übermittlung von Belohnungen beteiligt werden, sind in unserem Gehirn am zahlreichsten – etwa 450.000 in beiden Hemisphären. Sie finden sich in zwei Regionen des Mittelhirns, in der Substantia nigra und im ventralen tegmentalen Areal. Die Axone dieser Zellen reichen bis in die Basalganglien. Im ventralen Tegmentum befinden sich allerdings weniger 68 | Empirische Ästhetik

Abb. 1:  Michelangelo Merisi da Caravaggio, Das Emmaus-Mahl, 1601

Neuronen; ihre Axone reichen in den Hippocampus, in die Amygdala und in den PFC. Die Axone der dopaminergen Neuronen sind also weit gefächert und regulieren mehrere Hirnsysteme.48 Es gibt noch andere Systeme, die die Empathie und die Emotionen steuern: das Endorphinsystem, das Wohlbefinden auslöst und Schmerzen hemmt; das Oxytocin-Vasopressinsystem, das die Entwicklung sozialer Bindungen und das Vertrauen beeinflusst, und das noradrenerge System, das den Zusammenhang von Aufmerksamkeit und Neuerungssucht herstellt, verbunden mit bestimmten Angstformen. Das serotonerge System spielt bei einer Vielzahl von Gefühlen mit, zum Beispiel bei Glück und Trauer. Schließlich reguliert das cholinerge System (auch) den Einfluss von Aufmerksamkeit sowie die Speicherung von Erinnerungen.49 In der Kunst und überhaupt bei der Neubewertung von Situationen zeigt sich eine höhere Aktivität des PFC und des Hypothalamus, was mit verminderter Aktivität der Amygdala einhergeht. An welchem Punkt der Gefühlsskala wir uns beim Betrachten eines Kunstprodukts befinden, hängt auch von der Amygdala, dem Striatum und überhaupt vom PFC ab.50 Aber natürlich nicht nur. Die Gefühle sind komplex. Woher weiß man all das? Indem die kognitive Revolution sich mit der digitalen Revolution sozusagen paarte. Oft wird die Magnetenzephalogie (MRI) eingesetzt, die hoch empfindliche Magnetfelder misst, ausgelöst durch elektrische Ströme der Nervenzellen im Gehirn. Meist nimmt man die funktionelle Magnetresonanz (fMRI), ein Bildgebungsverfahren, mit dem durch die Anwendung des Magnetfelds die Durchblutung in einzelnen Kernen des Gehirns erfasst wird. Man misst das Hämoglobin der roten Blutkörperchen in Abhängigkeit des Sauerstoffgehalts und somit die deutlich sichtbare, verstärkte Durchblutung einzelner Hirnareale.51 Seit einigen Jahren wird ein Kontrastmittel injiziert, das eine Stimulation des Dopamingehalts erkennt und damit noch über Veränderungen der Durchblutung hinaus spezielle Gehirnfunktionen erfasst.52 Viele Areale außer dem Striatum und der Insula sind für verschiedene Wahrnehmungen wichtig, zum Beispiel die Amygdala für eher unangenehme Wahrnehmungen. Auch der Hippocampus und der Nucleus caeruleus sind in die Emotionen eingebunden. 70 | Empirische Ästhetik

Ängstliche Personen wiesen beim Betrachten von Bildern mit verstümmelten Gliedmaßen eine stärkere Reaktion in der Amygdala auf als emotional stabile Personen. 53 Stimmungen können Perzeptionen verändern, ebenso wie Fluktuationen bei den Arbeitsneurotransmittern Serotonin, Dopamin und Oxytocin. 54 Gasper und Clore bewiesen, dass das Glücksgefühl glücklichen Menschen eine holistischere Informationsverarbeitung bescherte als weniger glücklichen Menschen.55 Phelps et alii zeigten, dass ängstliche Gesichtsausdrücke die Aufmerksamkeit verschärften.56 In diesen und vielen anderen Versuchen offenbarte sich eine Emotionsdominanz in einem von der Kognition dominierten Gehirn. Oder wie Bos et alii schrieben: »…  t here cannot be cognition without emotion.«57 Der wissenschaftliche Konsensus der Hirnforschung ist im Entstehen begriffen, schreibt Starr, dass Emotionen die Beziehungen, die uns etwas bedeuten, definieren und ihnen eine subjektive Gestalt verleihen.58 Es gibt zwei Grunddimensionen der Emotionen: der hedonische Wert (von negativ bis positiv) und der Erregungswert (von hoch bis niedrig).59 Den hedonischen Wert bedient der mediale orbitofrontale Cortex. Zugleich aktiviert sich der PFC. Anhedonische Menschen können zum Beispiel Kunstwerke weniger als andere Menschen erleben, da ihnen die Emotionen dafür fehlen.60 Bei beiden Hemisphären zeigte sich, dass positive Emotionen bei starker Aktivierung eher in der linken Hemisphäre beheimatet sind (Basalganglien und orbitofrontaler Cortex), negative rechts der Mitte.61 Platon begriff die emotionale Macht der Dichtung: Er hätte die Poeten aus seinem Idealstaat verbannt, weil sie Emotionen verkauften. Indem die Künste in der Tat die menschliche Fähigkeit ansprechen, affektive Zustände miteinander zu teilen, entsteht ein Phänomen, das man »emotionale Ansteckung« nennt (emotional contagion). 62 Gemeinsame Kunsterlebnisse etwa in einem Auditorium schaffen eine Spiegelungsatmosphäre im Zuschauerraum. Jeder Zuschauer / jede Zuschauerin spiegelt die andere /  den anderen. Beim kollektiven Erleben konvergieren die Gefühle. 63 Auch in der Literatur konvergieren die Gefühle, aber nicht mit einem fiktiven Publikum (das man beim Lesen ja selbst ist), sondern mit den als fiktiv verstandenen Roman- oder Story-Charakteren. Unsere angeborene Empathie ermöglicht uns ein imaginatives Empirische Ästhetik | 71

Rollenspiel, worin wir uns in eine Figur oder mehrere Figuren hineinfühlen, von der oder denen wir wissen, dass sie fiktiver Natur ist oder sind. In der Hirnforschung werden die (nicht unumstrittenen) »Spiegelneuronen« (mirror neurons) diskutiert. 64 Sie ermöglichen es uns, uns mit einer Einfühlungssimulation in die Gefühle und Gedanken anderer hinein zu versetzen. Ob es nun die Spiegelneuronen gibt oder nicht: An der oft extremen Empathie bei der Lektüre besteht kein Zweifel. Als ich Stendhals Le rouge et le noir las, konnte ich das Buch kaum unterbrechen, weil ich so mit dem zum Scheitern verurteilten Julien, dem Protagonisten, mitfieberte, obwohl er mir mit seinem Opportunismus zuwider war. Eine typische Reaktion, wenngleich ich natürlich wusste, dass alle Romanfiguren fiktiv waren. Ich vermute, dass viele Menschen sehr stark mit manchen Romanfiguren mitleiden und vor Spannung und großer Empathie das Buch nicht hinlegen können, weil sie mit den Figuren mit-leiden. Auch und gerade in der Musik offenbart sich der emotionale Gehalt, zu dem Zuhörer/innen fähig sind. Thompson und Quinto sprechen am Beispiel hindustanischer Ragas vom »emotionalen Code« der Musik. 65 Nur bezweifle ich, dass die Entzifferung dieses Codes beim Hören im Vordergrund steht, denn Musik wirkt unmittelbar, ohne Entzifferung, ohne Analyse. Diese können die ästhetische Freude vergrößern, aber die unmittelbare Musikwirkung auf die Emotionen lässt sich nicht umgehen: Die Musikerfahrung gilt als emotionalste Kunstform. Auch visuelle Kunstwerke sind emotional besetzte Objekte: Der emotionale Reiz wird zuerst einer Bottom-up-Verarbeitung unterzogen, dann erst einer Top-down-Verarbeitung, wobei das Gefühl des Gefallens nahtlos in eine erweiterte Analyse übergeht. Die Insula wird aktiv, wenn wir unsere Reize bewusst bewerten. 66 Aber natürlich nicht nur. Auch die Substantia nigra, das Striatum und der obere Frontalgyrus feuern bei positiven Emotionen. 67 Die Emotionsaktivierungen variieren deutlich, je nach persönlichem Erleben.68 Ein biologisch festgelegter Respons existiert nicht.69 Für die Yoruba in Westafrika zum Beispiel steht der Glanz eines Objekts an oberster ästhetischer Stelle.70 Für die Japaner/innen spielt die gelungene Reduktion beim Kunstwerk eine wesentliche Rolle, im westlich-barocken Weltbild hingegen die Prachtentfal72 | Empirische Ästhetik

tung mit reichlicher und symmetrischer Ornamentierung. Architekten stellen ihren Kunden elegante Entwürfe mit reduzierten Linien und Flächen vor, die ihre Kunden mit ganz anderen Ideen gleich zuschanden machen. Im Alltagsleben und im ästhetischen Kontext belohnen sich die Akteure mithilfe ihrer Belohnungszentren im Gehirn. Mit dem Belohnungssystem, einem Kernkonzept der kognitiven Psychologie, drücken sich unsere Motivationen darin aus, das Engagement mit der Welt zu suchen. Die Verbindungen zu den Emotionszentren sind eng. Ihre neuronalen Komponenten bleiben miteinander verbunden. Die Belohnungsverarbeitung drückt Sehnsucht und Befriedigung aus – das Sehnen nach einem potenziell belohnenswerten Objekt, einer Handlung oder einem Kunstgenuss, und der Befriedigung dieses Wunsches.71 Zusätzlich zu den Neurotransmittern Oxytocin und Vasopressin (die Liebes- und Harmoniegefühle erzeugen) spielt der Neurotransmitter Dopamin eine zentrale Rolle. Die Axone, die Dopamin freisetzen, sind beheimatet in den dopaminhaltigen Neuronen, nämlich im ventralen tegmentalen Areal (VTA), in der Amygdala und im rückseitigen (dorsalen) Striatum. Auch die sehr kleine Substantia nigra und der Nucleus accumbens werden involviert.72 Der VTA-Kreislauf verknüpft eine Reihe kortikaler Funktionen miteinander.73 Die Sub­ stantia nigra produziert Dopamin und der vordere mediale PFC gewichtet die Bottom-up-Perzeptionen, die im Gehirn relevant sind, während die Basalganglien (inklusive Striatum und Caudate) das Zentrum der Belohnungsverarbeitung darstellen.74 Das Dopamin schließlich ist chemisch verwandt dem Adrenalin, das außerhalb des Gehirns die Herzfrequenz und den Blutdruck regelt.75 Um die Belohnungssysteme zu präzisieren: Zu den zentralen Bottom-up-Regulierungssystemen gehört das dopaminerge System, der Vorhersage lernbezogener Belohnungen oder dem Vermerken überraschender, auffälliger Ereignisse. Dazu gehört auch das Endorphinsystem, das Wohlbefinden hervorruft und Schmerzen hemmt; das Oxytocin-Vasopressinsystem, das die Entwicklung von engen Bindungen, der sozialen Aktion und das Vertrauen beeinflusst; das serotonerge System, das eine Vielzahl emotionaler Zustände wie Sicherheit, Glück oder Trauer beeinflusst; und schließlich das cholinerge System, das die Aufmerksamkeit beeinEmpirische Ästhetik | 73

flusst sowie die Speicherung von Erinnerungen.76 Die Neurowissenschaft des Vergnügens kann man also ohne Übertreibung als extrem komplex bezeichnen, und diese Wissenschaft entsteht noch, was bedeutet: Man hüte sich vor Verallgemeinerungen.77 Das gilt auch und gerade für das Kunsterleben. Man muss die Denkprozesse, auch die Erfahrungsprozesse von Kunst, in der Breite des Gehirns betrachten. Die Areale des frontalen Cortex sind auch in emotionalen Prozessen involviert, die subkortikale Region im Belohnungssystem.78 Zeki betont den synthetischen Charakter des Gehirns. Die gebildeten Konzepte sind in einer sich permanent verändernden Welt synthetisch und beruhen auf Lebenserfahrungen.79 Während die Hirnkonzepte angeboren und unwandelbar sind, ist das synthetische Konzept nicht unwandelbar. In dem Maße, in dem das Gehirn neue Bottom-upErfahrungen macht, unterliegt das synthetische Konzept ständigen Veränderungen. 80 Das gilt auch für den dynamischen Charakter des Belohnungssystems: »We are hungry for comparisons and pleasures.«81 Der orbitofrontale Cortex spielt bei der sensorischen Verarbeitung eine prominente Rolle und verknüpft sich mit verschiedenen Gehirnarealen wie etwa dem ventralen Striatum, dem Caudate nucleus, dem ventralen tegmentalen Areal und dem entorhinalen Cortex und schafft einen Weg, damit die Belohnungsinformation den Hippocampus erreicht. 82 Ein synthetisches, dynamisches Gehirn. Zekis Annahme, dass der Frontalcortex stets bei der Kunstbetrachtung feuert, wird von etlichen Neurowissenschaftlern bestritten. »There is a growing consensus that the brain’s responses to art are diverse and widely distributed.«83 Ein Zentrum für ästhetische Erfahrungen existiert nicht. 84 Vielmehr wird die Kunstrezeption im Gehirn weit gestreut. Die Alltagsperzeptionen und die Kunstperzeptionen sind zwar identisch, aber die kategoriale Einteilung, die wir einem Kunstwerk verleihen, differiert. Es geht um das Wie, wie wir Kunst erfahren. 85 Kurz: Die kategoriale Einteilung von Kunst und Alltag unterscheiden sich. Diese Kategorien mussten mit der Moderne des 20. Jahrhunderts zwar nicht neu erlernt, jedoch justiert werden. Gerade deshalb war es seit Duchamp, seit der Pop-Art anfänglich so schwer, die wirklichen Alltagsgegenstände

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wie ein Fahrradrad oder eine Brillo-Box von den Kunst-Alltagsgegenständen kategorial zu unterscheiden und vor allem zu bewerten. »Art excites, surprises and humors us by creating an imaginary world filled with ideas and feeling. In this manner, aesthetic experiences arouse our perceptions, memories, and emotions without any reason other than to evoke pleasure«, schreibt Shimamura. Er nennt Kunst »thinking with feeling«. 86 Jesse Prinz bezeichnet Kunst als »seeing with feeling«. 87 Kunst erweckt auf machtvolle Art Emotionen, und zwar auf prinzipiell zweierlei Art: zum einen durch den evokativen Appell wie in Picassos Guernica (der uns das Fürchten lehrt) oder durch Goyas Desastres de la guerra (das uns abstößt) oder, umgekehrt, wie bei Vermeers Ansicht von Delft durch Schönheit. Zum anderen durch ästhetische Einschätzung, durch Anlagen, die unseren kritischen Geist anregen, zum Beispiel das komplexe Zusammenspiel der Elemente 88 wie in Velázquez’ Die Übergabe von Breda (genannt Las lanzas) im Prado, der die militärische Übergabe der Stadt Breda im niederländischen Befreiungskrieg gegen Spanien durch die menschliche Geste des spanischen Siegers Spínola in eine humane Begegnung verwandelt. Die ästhetisch getriebenen Emotionen arbeiten darauf hin, uns anzutreiben, einen neuen Wert zu finden für das, was wir sehen und fühlen. 89 Mit der ästhetischen Erfahrung rekonfigurieren wir permanent dasjenige, was wir für wertvoll erachten, indem wir neue Vergleiche, neue Interpretationen, neue Metaphern, neue Perzeptions- und neue Auffassungsweisen erfahren. Das Unerwartete auf der neuronalen Ebene entwickelt neue Belohnungen,90 wenn wir einen Kunstgegenstand neu erleben oder Neues in einem bekannten Kunstprodukt entdecken. Diese offene ästhetische Erfahrung bedeutet nicht nur Ambiguität des Kunstwerks selbst (das ohnehin), sondern »die Möglichkeiten vielfältiger Interpretation, die das Gehirn auf das Gemälde projiziert«.91 In diesem Kontext betont Zeki gerade das Unvollendete, das Skizzierte in der Kunst Leonardos, Michelangelos und Cézannes.92 Während das Gehirn im Alltag Eindeutigkeit anstrebt – und diese Eindeutigkeit Reaktionssicherheit gewährleistet –, kann das Gehirn gerade die Uneindeutigkeit des Kunstprodukts goutieren, wovon im Folgekapitel mehr.

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Leistungsfähigkeit der Neuroästhetik Was kann die Neuroästhetik leisten, was nicht? Es sei wenig wahrscheinlich, schreibt Armstrong, dass die Neurowissenschaft uns neue literarische Interpretationen liefern wird oder uns erklärt, warum wir die eine Lesart und nicht die andere bevorzugen. Aber die Neurowissenschaft kann die Variabilität ästhetischer Reaktionsweisen erklären, die im dynamischen Gehirn gründen.93 Die im Entstehen begriffene Disziplin der kulturellen Neurowissenschaften könnte das Wechselspiel zwischen Kultur und dem Gehirn untersuchen und verstehen lernen, dass Kultur ein Amalgam von Werten, Bedeutungen, Konventionen und Artefakten darstellt.94 In diesem Sinn könnte die Neurowissenschaft zu einer einheitlichen Theorie der Kulturen beitragen.95 Wie Schellekens einschränkt: Die Neurowissenschaft und die empirische Ästhetik werden wohl nicht den Schlüssel dazu bereithalten, weshalb wir uns mit Ästhetik beschäftigen; sie können jedoch erklären helfen, was uns an der ästhetischen Erfahrung reizt – zum Beispiel die Belohnung.96 Die Neurowissenschaft zeigt die Wichtigkeit kognitiver Kategorisierungsprozesse auf. Zumindest in einigen Fällen kann sie auf diese Weise dazu beitragen, Kunsterfahrung besser zu begreifen.97 Insofern könnte die Neurowissenschaft in potentia neue Verknüpfungen zwischen Neurowissenschaft, Ästhetik und den motivationalen Bereichen der Emotion herstellen.98 Das aber sind ungelegte Eier. Was hat die Neurowissenschaft bisher in der Ästhetik unzweifelhaft geleistet? Die empirisch, das heißt kognitiv wohlbegründeten und untersuchten ästhetischen Prozesse neutralisieren das ästhetische Schwärmen, entmystifizieren auch die intensive ästhetische Erfahrung, indem sie den kognitiv-emotionalen Ablauf bei der Kunstrezeption recht gut darstellen. Begriffe wie »Epiphanie«, im vorigen Kapitel kritisiert, erübrigen sich nun für die Ästhetik. Die Neurowissenschaft löste außerdem das alte Problem der Entgegensetzung »ästhetisches Erleben – kognitiv oder emotional?« Eine fehlerhafte Entgegensetzung, wie man nun weiß. Kognitiv evaluierend, analysierend, nüchtern einschätzend plus ein beträchtliches emotionales Engagement: das kennzeichnet die ästhetische Erfahrung. 76 | Empirische Ästhetik

Das Problem von Kants »interesselosem Wohlgefallen« löst sich nun auf. Das Wohlgefallen kann niemals interesselos sein, immer sind zugleich mit unserer kognitiven Einschätzung unsere Emotionen und unsere Selbstbelohnungen mit im Spiel. Das »Wohlgefallen« bleibt stets interessiert. Wir erfahren Kunst mit unserem emotionalen Gehirn. Auch die Subjektivität der Wertschätzung bestätigt sich, wie überhaupt die sehr individuelle Subjektivität der ästhetischen Erlebnisse. Die Neurowissenschaft betont die Variabilität der ästhetischen Prozesse und Erfahrungen, weil das Gehirn sich prinzipiell variabel und dynamisch verhält. Im Gehirn sind unendlich viele ästhetische Erlebnismöglichkeiten angelegt; oder wie Emily Dickinson prophetisch schrieb: »The Brain – is wider than the Sky – …« Mehrere Aspekte der Neurowissenschaft boten Kritikern in den letzten Jahren Gelegenheit, auf die Schwächen der Neuroästhetik hinzuweisen. So schreibt McManus, es sei kaum überraschend, wenn Kunstkontemplation Gehirnaktivitäten hervorruft.99 Agnati et alii kritisierten, bisher fokussierte sich die Neuroästhetik nur auf einige ausgewählte Aspekte des neuroimaging; das Panorama dessen, was zum Kunstgenuss beitrage, komme nicht in den Fokus.100 Armstrong bemängelt, die fMRI-Untersuchungsmethode sei zu grob (»too crude«), um präzise Ergebnisse zu erlauben.101 – Den Kritikpunkten kann man begegnen: Die Neuroästhetik gibt es erst seit ca. 30 Jahren, Verfeinerungen an Methoden und Apparaten werden mit Sicherheit zu erwarten sein. Das methodische Herangehen kritisiert ebenso und interessanterweise der Evolutionsbiologe und Neodarwinist Chatterjee.102 Er warnt vor der Gefahr der Quantifizierung des ästhetischen Erlebens.103 Tatsächlich gehört dies als ein grundlegendes Problem zu allen experimentellen Naturwissenschaften: Qualität ist so gut wie unmessbar, Quantität ist messbar. Wenn Qualität nicht in Quantität umschlägt, sprich: eine qualifizierte Äußerung über den Gegenstand erlaubt, dann erübrigt sich diese Aussage. Allerdings gelang es der Neuroästhetik wie oben dargelegt, etliche ästhetische Prozesse zu erklären und auch einige schlüssige Lösungen für ästhetische Probleme anzubieten. Der prinzipiellen Gefahr der naturwissenschaftlichen Quantifizierung eingedenk, wurde damit Empirische Ästhetik | 77

bewiesen, dass die Neuroästhetik qualifizierte Ergebnisse liefern konnte. Hamker kritisiert, die Neuroästhetik sage wenig über die Ästhetik an sich aus, der klar definierte theoretische Rahmen fehle.104 Ein gewichtiger Einwand, der aber nicht das Ende der Neuroästhetik bedeutet. Viele ästhetische Themen kommen mir in den Sinn, über die die Neuroästhetik (bisher? für immer?) nichts aussagt: nichts über das ästhetische Urteil, nichts zur Intentionalitätsproblematik, nichts zum Verweisungscharakter der Kunst, nichts über die Ontologie der Kunst (Was ist Kunst?); aber doch einiges zum interesselosen Wohlgefallen und, wie sich zeigen wird, Etliches zum Schönheitsempfinden und überhaupt zu den kortikal-emotionalen Strukturen der ästhetischen Erfahrung. Dass der klar definierte theoretische Rahmen fehle, hängt eng mit der unklaren Grenzsetzung der Neuroästhetik zusammen. Man würde sich wünschen, dass die Neurowissenschaftler/innen sich mehr Gedanken machen würden, was ihre Wissenschaft zu leisten vermag und wo die Neurogrenzen liegen könnten. Ich schreibe »könnten«, denn in einem sich rasch entwickelnden naturwissenschaftlichen Feld sollte man nicht im Voraus die Grenzen definieren, um die Forschung nicht dogmatisch auszubremsen. Das Grenzsetzungsproblem bleibt somit ein prinzipielles, unlösbares Dilemma. Hier wäre ein Ansatz: Schellekens kritisierte, die experimentelle Ästhetik verstehe die Ästhetik »in terms of material properties«, was die Ausprägungen der ästhetischen Erfahrung auf nicht-ästhetische Eigenschaften reduziere.105 Eine Reflexion der Neurowissenschaftler/innen muss daher von der Ästhetik gefordert werden. Oder wie Armstrong betont: Die Neurowissenschaftler/innen benötigen die Einsichten der traditionellen Ästhetik.106 Sie sind fachfremd und können über ein Gebiet, das sie nur mangelhaft kennen, keine grundlegenden Aussagen treffen. Damit hängt zusammen, was Armstrong ein »explanatory gap« nennt, zwischen den neuronalen Korrelaten des Bewusstseins und wie diese in Bezug stehen zum Bewusstsein (consciousness).107 Das wäre in einem Hin und Her zwischen Neurowissenschaft und Ästhetik zu klären: ein weiteres, noch ungelöstes Problem. Frigg und Howard kommen zu einem noch radikaleren Ergebnis für die Neuroästhetik: Sie sei ein »dead end«, eine Sack78 | Empirische Ästhetik

gasse, weil sie die historischen Quellen außer Acht lässt; weil die Ergebnisse nur in der kontrollierten, künstlichen Laborumgebung entstünden.108 Auch das ein prinzipielles Problem des naturwissenschaftlichen Zugangs. Man muss von den Neurowissenschaftlern fordern, den künstlichen Laborkontext zu reflektieren. Dass die Neuroästhetik jedoch den historischen Kontext und dessen Quellen nicht mit einbezögen – dies gehört zum Aufgabenfeld der Kunstwissenschaft, der Literatur- und Musikwissenschaft. Man fordert das zu Unrecht von der Neurowissenschaft. In diesem Sinn wäre einer guten Kooperation zwischen traditioneller Ästhetik und Neurowissenschaft das Wort geredet. Nie sollte man von der Neurowissenschaft auch nur erwarten, dass sie »alles« Ästhetische klärt. Sie ist dazu nicht in der Lage und kein Neurowissenschaftler hat dies jemals beansprucht. Zieht man das Fazit, überwiegen die Positiva bei der Neurowissenschaft im Verhältnis zur Ästhetik. Zwar bleiben einige Grundprobleme wie die Künstlichkeit des Labors, das (notwendigerweise) quantifizierende Vorgehen, die (noch) fehlende neurowissenschaftliche Reflexion der Möglichkeiten und Grenzen der Neuroästhetik, doch lässt sich zumindest ein Ansatz zum Qualifizierungsproblem folgendermaßen ausdrücken: Wo Quantität in Qualität umschlägt, macht die Neurowissenschaft sinnvolle Aussagen für die Ästhetik. Der fehlenden (und vielleicht unmöglich zu setzenden) Grenze der Neuroästhetik eingedenk habe ich für diese Ästhetik einen Schluss gezogen: Man gehe pragmatisch an die Ergebnisse der Neuroästhetik heran. Wo die Ergebnisse einen sinnvollen Beitrag zur Ästhetik liefern, sollte man diese Ergebnisse in das ästhetische Gesamtbild pragmatisch mit einbeziehen. Wo die Neuroästhetik keine sinnvollen, zukunftsweisenden Ergebnisse vorlegt, missachte man diese. Wie man in dieser Kürze bereits gesehen hat, werden ein paar ästhetische Probleme mithilfe der Neuroästhetik gelöst. Die kortikal-emotionalen Grundstrukturen bei der ästhetischen Erfahrung konnten im Groben aufgedeckt werden, was zum Verständnis ästhetischer Erfahrungen beiträgt. Nota bene: Die Neuro­ ästhetik trägt bei, mehr nicht. Niemals wird es der Naturwissenschaft gelingen, aus einem so subjektiv dominierten Feld wie der Ästhetik eine objektive, nachprüfbare Wissenschaft zu gestalten. Das, immerhin, bleibt die absolute, unüberwindbare Grenze der Empirische Ästhetik | 79

Neurowissenschaft. Um vorzugreifen: Auch beim ästhetischen Schönheitserleben vermag die Neuroästhetik einen Beitrag zu leisten; absolut nicht jedoch: alles zu erklären. Keineswegs kann man die Neuroästhetik als »dead end« bezeichnen. Wohin die Neuroästhetik bei verfeinerten Methoden und bei einer guten Portion kritischer Selbstreflexion der Neurowissenschaftler/innen führen wird, erschließt sich nicht im Voraus. Vor uns öffnet sich ein neuroästhetisches »open end«.

Experimentelle Ästhetik Wo es sich nicht nur um Bottom-up-Prozesse handelt, sondern um Top-down-Prozesse, deckt sich die Neurowissenschaft teilweise mit der experimentellen Ästhetik. Das Ziel der experimentellen Ästhetik im engeren Sinn sollte es sein, den menschlichen Antrieb zu verstehen, ästhetische Objekte zu erschaffen und uns mit ihnen zu umgeben, also mit Objekten jenseits der Gebrauchsfunktion.109 Seit den 1970er Jahren bemüht sich die experimentelle Ästhetik darum. Hervorzuheben sind Berlynes Experimente der 1970er Jahre, die ein Grundproblem aufweisen: Die sorgfältig ausgewählten Stimuli ignorieren den Kontext der Kunsterfahrung.110 In der neueren empirischen Forschung bemüht man sich, die frühen Fehler zu vermeiden. Von den vielen Versuchen seien hier nur einige wenige der besonders interessanten herausgegriffen. Studien bewiesen, dass zusätzliche Informationen zu einem Kunstwerk positiv zum Verständnis und zum Genuss von Kunstwerken beitrugen. Das gilt insbesondere bei abstrakten Bildern  / Objekten, denn auf dem neuronalen Niveau wiesen diese Kunstwerke ohne zusätzliche Betrachterinformation eine geringere Aktivierung in den linken frontalen und parietalen Arealen auf.111 Hintergrundinformationen beeinflussen daher das ästhetische Erleben signifikant.112 Je mehr man über die Kunstproduzenten/innen, die Kunstrichtung und das betreffende Kunstwerk weiß, desto mehr kann man das Kunstprodukt umfassend genießen. Kunstlaien konzentrieren sich dabei mehr auf die Bildinhalte, Kunstexperten mehr auf die Struktur- und Kompositionsmerkmale.113 Im Ver80 | Empirische Ästhetik

gleich zu Laien gefielen Experten negativ besetzte, eher unangenehme Kunstprodukte besser.114 Wie Berlyne schon 1970 bemerkte, steigt der hedonische Wert von komplexen Stimuli (das heißt von Kunstprodukten) eher, wenn sie vertrauter werden, während das Gegenteil bei einfachen Stimuli (das heißt im Alltag) zutrifft.115 Kunstprodukte müssen nicht neu sein, um immer wieder zu gefallen. Zwar erlebt man in neuen, überwältigenden ästhetischen Erlebnissen besonders intensiv, aber der ästhetische Genuss erlischt nicht, wenn das spezifische ästhetische Erlebnis wiederholt wird116 – wie ich am Beispiel eines alten Freundes, Caravaggios Londoner Emmausmahl, exemplarisch aufzeigte. In der Musik allerdings waren starke Musikerlebnisse verknüpft mit der sofortigen Musikfaszination, wie das Frankfurter Max-Planck-Institut für empirische Ästhetik nachwies.117 Da unsere visuelle Erfahrung zur wesentlichsten Sinneserfahrung gehört, gab es viele Versuche über Augenbewegungen (eyetracking). Das okular-motorische System ist das gebräuchlichste Perzeptionssystem bei Primaten. Von den diskontinuierlichen Augenbewegungen, den Sakkaden, werden pro Tag und pro Person ungefähr 200.000 durchgeführt. Studien wiesen nach, dass Gemälde ein Interessenszentrum besitzen, das eine höhere Fixierungsdichte der Augen hervorruft.118 Das Max-Planck-Institut hat außerdem bei Gedichten komplexes Eyetracking insbesondere bei ästhetisch ansprechenden Zeilen beobachtet. Die fokale Aufmerksamkeit war in der Dichtungsgruppe der Probanden/innen höher als bei Vergleichsgruppen, die sich nicht mit Lyrik beschäftigten.119 Bei Gedichten bestimmten die Tonlagenhöhen und Tonlagenmodulationen darüber, wie melodiös die Teilnehmer/innen ein Gedicht wahrnahmen.120 Weiterhin beeinflusst die Einstellung zur Kategorie, wie wir etwas ästhetisch erfahren, wie uns etwas gefällt. Jede neue Kunstform lebt davon, wie wir sie im Kopf kategorisieren, damit wir einen Anknüpfungspunkt haben.121 Wie Versuche belegten: Da, wo wir im Westen keine Kategorien besitzen, um etwas aufzunehmen, wie etwa bei der traditionellen chinesischen Musik, neigen wir dazu, die Musik oder Kunstform zunächst als verstörend abzulehnen.122 Studien haben nachgewiesen, dass negative Emotionen einen wichtigen Faktor bei der ästhetischen Erfahrung darstellen. Dem Empirische Ästhetik | 81

Max-Planck-Institut gelang es, 75 emotionale Antworten auf Kunst zu differenzieren, wozu auch negative Emotionen wie »macht mich traurig«, »erschreckt mich«, »stößt mich ab«, »finde ich hässlich« gehören.123 Bei den negativen Emotionen sehe ich eine große Zukunft für die empirische Forschung. Das Max-Planck-Institut hat außerdem begonnen, globale ästhetische Kulturen weitmöglichst in die Forschung einzubeziehen. Denn das relativiert die ästhetische Gültigkeit der westlichen Ästhetik, wozu auch diese Theorie beitragen möchte. Hier gilt die Forderung an die empirische Ästhetik, globalästhetisch vorzugehen, also die Anstrengungen bei der Globalästhetik zu erhöhen. Prinzipiell werte ich die empirische Ästhetik positiv, wo sie zum besseren Verständnis der ästhetischen Erfahrung einen Beitrag leistet, wie oben exemplarisch dargelegt. Es gibt aber auch kritische Stimmen. Das Max-Planck-Institut schränkt selbstkritisch ein: Viele Interaktionsprozesse mit der Welt werden noch unzureichend verstanden.124 Genau das aber mag Ansporn sein, derartige Prozesse besser zu begreifen, was ich für prinzipiell machbar halte. Das gilt auch für Globalkulturen, womit ein grundsätzliches Problem der empirischen Ästhetik angesprochen wird: Sie will universelle Merkmale des Ästhetischen aufdecken, was aber im Widerspruch zur kulturellen Spezifik steht.125 Das muss zwangsläufig die Ergebnisse der empirischen Ästhetik relativieren. Zwei weitere Phänomene werden diesen allgemeinen Anspruch außerdem relativieren. Was wir als Geschmack oder Gefallen bezeichnen, mag im Moment des Versuchs Gültigkeit beanspruchen. Geschmäcker von Einzelpersonen jedoch oder Kunstnormen von ganzen Kulturen ändern sich mit den Jahren oft radikal, oft kaum, oft gar nicht. Ein Beispiel: Für uns heute unverständlich, wurde der dänische Architekt des Opernhauses in Sydney, Jørn Utzon, aus dem Land gescheucht, weil seine modernistische Neukonzeption dieses Opernhauses einen Skandal in Australien hervorrief. Heute bewertet man das kühne Opernhaus von Sydney, das an Schiffssegel erinnert, als ein architektonisches Meisterwerk. Was uns verunsichert, lehnen wir routinemäßig ab, können es aber später lieben wie heute das grandiose australische Opernhaus. Vanderbilt nennt den Geschmack ein Perpetuum mobile, ein stetes Hin und her zwischen Neuem und Vertrautem, zwischen Hunger und Übersättigung.126 82 | Empirische Ästhetik

Beim klassischen Laborversuch werden weitere Merkmale des Kunsterlebens, die es mitbestimmen, außer Acht gelassen: die Klassenzugehörigkeit, auf die Bourdieu zuerst hinwies, bis hin zu Reckwitz’ Bestimmung der Neuen und Alten Mittelklassen.127 Es fehlen die Hinweise auf die Primär- und Sekundärsozialisation – vermutlich ein Ding der Unmöglichkeit, denn auch die Individualpsyche der Probandin /  des Probanden müsste mit einbezogen werden. Das setzte den Anspruch einer Universaltheorie der ästhetischen Erfahrung voraus, den die experimentelle Ästhetik niemals wird leisten können: Zu vereinzelt, zu unvollständig im obigen Sinn müssen ihre Ergebnisse ausfallen. Eine weitere Einschränkung: Ästhetische Übereinstimmungen bei Probanden/innen sind mit Vorsicht zu genießen. Oft legen sie ästhetisch ziemlich irrelevante Ergebnisse wie etwa bei Symme­ trien oder Proportionen vor; oder die Experimente finden kaum erstaunliche Übereinstimmungen, zum Beispiel beim like-Faktor des beliebten Impressionismus, der in hundert Jahren vielleicht nicht mehr zutreffen könnte. Das als Konsens präsentierte Ergebnis unterliegt einem sozialen und temporalen Generalverdacht. Dennoch plädiere ich dafür, die experimentelle Ästhetik als Beiträger zum ästhetischen Verständnis heranzuziehen, eingedenk der prinzipiellen Probleme. Die obigen, besonders interessanten Beispiele scheinen mir mehr oder weniger plausibel. Noch mehr als bei der Neuroästhetik kennzeichnet subkutan die Quantifizierungsproblematik die experimentelle Ästhetik. Die meisten ästhetischen Merkmale »are not open to measurement«.128 Die Aussagen der experimentellen Ästhetik sind jedoch direkter als bei der Neuroästhetik, bei der es allein um Gehirnfunktionen geht. Gerade die direkten Antworten auf bestimmte Fragestellungen lassen die Frage aufkommen: Gelingt der experimentellen Ästhetik immer die Verknüpfung zwischen nicht-ästhetischen und ästhetischen Merkmalen? Denn viele ästhetische Prinzipien wie der Verweisungscharakter von Kunst können von der experimentellen Ästhetik nicht beantwortet werden.129 Insofern trifft die experimentelle Ästhetik die gleiche Kritik wie bei der Neuroästhetik, nämlich der beschränkten Aussagekraft. Euphorie ist bei beiden empirischen Gebieten nicht angebracht. Dennoch plädiere ich für ein pragmatisches Herangehen auch bei der experimentellen Ästhetik. Sie Empirische Ästhetik | 83

sei heranzuziehen, wenn es geraten erscheint, oder sei umgekehrt nicht einbezogen, wenn es unangebracht erscheint; wobei Klarheit über das, was »unangebracht« ist, näher zu bestimmen wäre und ein ästhetisches Deutungsproblem ausdrückt. Vielleicht hat just die experimentelle Ästhetik das größere Wachstumspotential noch vor sich: Den (in Zukunft: verfeinerten) Experimenten gehört eine – begrenzte – ästhetische Zukunft. Die Frage nach dem Wert eines Experiments muss von der ästhetischen Theorie in jedem konkreten Fall diskutiert werden. Jedes einzelne Experiment muss hinterfragt werden. Was wird wirklich von den ad nauseam getesteten ästhetischen »Präferenzen« ausgesagt? Wohlfühlgesichter und hübsche präferierte Landschaften à la Barbizon oder Impressionismus besitzen für eine ernsthafte ästhetische Theorie keine Aussagekraft. Es gilt also, sich von den »Präferenzen« zu lösen und bei der Ästhetik zu eruieren, welche Versuche zum Verständnis der Ästhetik beitragen könnten und welche nicht. Darin sehe ich ein experimentelles Potenzial, das noch lange nicht ausgeschöpft wurde.

Ästhetik der Skalierung Seit den 2010er Jahren entwickelt sich eine neue empirische Ästhetik-Richtung, die Skalierung. Geoffrey West gilt als ihr Begrün­ der.130 Die fach- und systemübergreifende Skalierungstheorie möchte die fundamentale Frage beantworten, wie ein System auf Veränderungen seiner Größe reagiert.131 Die Skalierung sei eine »fundamentale Repräsentationskategorie« bei »allgemeinen und grundlegenden medientheoretischen Problemen …«132 Spoerhase konstatiert in vielen Disziplinen eine gegenwärtige Tendenz zur Hochskalierung: in der »global history«, in der Verschiebung der Literaturwissenschaft zu einer globalen Literatur.133 In dieser Ästhetik fordere nicht nur ich eine deutliche Bewegung weg von der rein westlichen Ästhetik hin zur globalen Ästhetik. In der Literaturwissenschaft konzentrierte man sich bei Studien über das 19. Jahrhundert auf ca. 200 Romane jener Zeit. Ca.  40.000 weitere wurden nicht zur Kenntnis genommen. Die Skalierungsamplifikation geht einher mit größerem Interesse für 84 | Empirische Ästhetik

das Kleine, Vernachlässigte. Skalierung will somit nicht die Größe oder Menge quantifizieren, sondern neue Wege der Erschließung von Unbekanntem sollen so ermöglicht werden.134 Skalierung vermag auch innerhalb eines Romans etwas über Begriffshäufigkeit, Umfang und Erzählakt auszusagen, denn jeder Erzählakt ist ein Reskalierungsakt.135 Kleine literarische Formen wurden allzu oft mit »einfachen« Formen gleichgesetzt, was eine Wertverringerung darstellte.136 Einige Beispiele: Große Umfangsambitionen wie in Joyce’ Ulysses oder Prousts A la recherche du temps perdu hängen eng mit dem experimentellen Charakter dieser Romane zusammen: Das Experiment der Moderne benötigt Umfang, um den Experimentcharakter des Romans zu entfalten.137 Vom Great American Novel der Gegenwart wie Pynchons Gravity’s Rainbow oder David Foster Wallaces Infinite Jest wird schlichtweg ein großer, ambitionierter Umfang erwartet. Der Umfang steigert den Attraktivitätswert.138 Bei der Ausrufung der literaturwissenschaftlichen Lektüren sollen zum close reading und distant reading nun das stufenlose scalable reading hinzukommen.139 In der gegenwärtigen bildenden Kunst reklamieren Fotografien durch die Hochskalierung eine visuelle Beherrschung der raumzeitlichen Beziehung für sich.140 Bei Jeff Walls großformatigen Leuchtkästen gehört Hochskalierung zum Kern seiner ästhetischkritischen Strategie. Die künstlerische Fotografie hat sich als Gegenstand hochkultureller Rezeptionsweisen durchgesetzt.141 Im ideologisch-ästhetischen Kontext wirken Jenny Holzers übermächtige, XXL-Enormprojektionen, Billboards und LEDs aufdringlich auf die urbanen Räume. Mit ihren Truisms (Binsenweisheiten) unter­gräbt die Künstlerin für selbstverständlich gehaltene Wahrheiten.142 Katharina Grosses raum- und wandfüllende Farbkompositionen wirken nicht, wenn sie in kleinem Bildformat ausgeführt würden. Zur Farbexplosion gehört die immense Hochskalierung. Aber auch die traditionelle Kunstgeschichte lädt zu Skalierungsanwendungen ein. Ein Beispiel im Serienvergleich: Jacques Callots Les Misères et les Malheurs de la Guerre (Les Grandes Misères de la guerre), 18 Kupferstiche von 1633, auf denen relativ kleine, herab­ skalierte Figuren etwa in »Die Plünderung auf einem Bauernhof« Empirische Ästhetik | 85

mit ca. zwölf Szenen in einem Bild ein Panorama der Kriegsgewalt an Zivilisten anbietet. Vergleicht man Callots kleinteilige Kupferstiche mit Goyas 82 Radierungen Desastres de la guerra (1810–20 erschaffen, zum ersten Mal 1863 veröffentlicht), fällt die Hochskalierung der grausigen Ereignisse zuerst auf. Goya konzentriert sich jeweils pro Radierung auf eine einzige Szene mit großen, leidenden Figuren und spärlichem Hintergrund, im Gegensatz zu Callots Mehrfachszenen in einem Bild. Goya bringt die fürchterlichen, paradigmatischen Szenen des spanischen Befreiungskriegs gegen die napoleonische Besetzung Spaniens in die unmittelbare Nähe der Betrachterin /  des Betrachters. Goyas Botschaft der Abscheulichkeit des Krieges für die Zivilbevölkerung wird ad hominem vorgeführt, während bei Callots Kupferstichen durch die niedrigskalierte Personenvielzahl pro Bild viel von der offensichtlichen Botschaft Callots verloren geht. Goyas hochskalierte Einzelszenen, eine pro Bild, manchmal mit der Restriktion auf zwei Personen, entfalten eine direktere Bildwirkung. Fasst man das Gesagte über die vielfältige Skalierung zusammen, vermag Skalierung zur ästhetischen Theorie durchaus einen Beitrag zu leisten. Wie bei der Neuroästhetik und der experimentellen Ästhetik aber darf sie nicht den Anspruch erheben, eine allgemeine Theorie mit allgemeinen ästhetischen Lösungen darzustellen. Bei der Skalierung, die in vielem in spezifischen Untersuchungen anwendbar ist, kann ich mir vorstellen, dass sie in den Einzeldisziplinen noch mehr beitragen kann als zur Ästhetik, der Metatheorie. In vielen, ja den meisten Kunstprodukten spielt Skalierung überhaupt keine Rolle; eine allgemeine Anwendbarkeit ist nicht gegeben. Aber in der Kunstwissenschaft, der Literaturwissenschaft, in der Architekturtheorie kann die Skalierung einen hier nicht näher bestimmbaren Beitrag zum Fachwissen leisten.

Ergebnisse aller empirischen Herangehensweisen Fasst man die Ergebnisse aller vier Untersuchungen zusammen, ergibt sich: Die neodarwinistische Theorie lässt sich nicht in die Ästhetik einbringen, dazu sind ihre nicht-empirischen Schwächen allzu dominant. Das Problem des Ursprungs der Kunst wird sich 86 | Empirische Ästhetik

nicht mithilfe einer darübergestülpten Theorie lösen, sondern wenn überhaupt fachwissenschaftlich: paläoanthropologisch, ethnologisch und archäologisch. Neuroästhetik und experimentelle Ästhetik sind in ihrem Anspruch deutlich zu begrenzen. Sie vermögen jedoch zum Verständnis der ästhetischen Erfahrung beizutragen. Manche Probleme lassen sich mit ihrer Hilfe schlüssig lösen, etwa Kants »interesseloses Wohlgefallen« oder die noch in jüngster Zeit bezweifelte Einheit von Emotion und Kognition im ästhetischen Erfahrungsprozess. Auch die Skalierung vermag es, einen ästhetischen Beitrag zu leisten, wobei ich bei ihr das Hauptgewicht auf die fachwissenschaftliche Neuperspektivierung legen würde. Mit Ausnahme der neodarwinistischen Ästhetik stellen die empirisch basierten, ästhetischen Herangehensweisen eine Bereicherung für die Ästhetik dar, wobei das Problem ihres Anspruchs nach wie vor offenbleibt. Man kann auch sagen: Das Problem ihrer Grenzfindungen kann als ungelöst gelten. Ich vermute, dass wir es bei der ästhetisch-empirischen Grenzsetzung mit einer Hegel’schen »schlechten Unendlichkeit« zu tun haben, will sagen: mit einer offenen Grenzsituation. Möglicherweise wird die in der Ästhetik stark dominante Subjektivität der Erfahrung allen empirischen Ansätzen ohne große Theorie, durch ihr einfaches Sein, eine Grenze (oder viele Grenzen) setzen. In diesem Fall wäre es müßig, krampfhaft über Grenzsetzungen nachzudenken. Der ästhetischen Probleme kein Ende.

Empirische Ästhetik | 87

G ÖT TERDÄMMERUNG DES ÄSTHE TISCHEN UR TEIL S Ästhetische Werte hängen eng mit dem ästhetischen Urteil zusammen. Was wir als ästhetisch wertvoll erachten, versehen wir, oft unbewusst, oft implizit, mit einem ästhetischen Urteilsprädikat. Gut begründete Wertschätzungen und Urteile können also konvergieren. Sie können aber auch ganz verschiedener Natur sein. Denn wenn man von ästhetischen Werten spricht, die sich an den ästhetischen Eigenschaften orientieren wie Eleganz, Schönheit, harmonischer oder disharmonischer Ausdruck, Werkseinheit etc., haben wir noch kein Urteil gefällt. Je mehr Werte wir bei einem Kunstprodukt zusammentragen, desto eher ergibt sich als Resultat ein stimmiges ästhetisches Urteil. Ein stimmiges, objektives Urteil? Gerade darin liegt der Fehler: in der Annahme, Werte trügen in der Summe zu einem klaren Urteil bei. Der zweite Fehler, der zu beweisen sein wird, liegt darin, dieses Urteil überhaupt anzustreben und zu glauben, man habe etwas ästhetisch Wünschenswertes damit ausgesagt. Und der dritte Fehler: zu glauben, in einem so subjektiven Feld wie der Ästhetik wäre Objektivität überhaupt möglich. Aufgrund des Zusammenhangs von Wert und Urteil werde ich den Wert nur in den Punkten behandeln, die ich in diesem Kontext für sinnvoll und vor allem für zukunftsweisend interpretiere. Ein paar Beispiele: der Kontext von Wert und Emotion, die Interaktion von verschiedenen Werten, der Werterelativismus des Ästhetischen. Die gegenwärtige Wertdebatte gestaltet sich außerordentlich komplex und wäre das Thema für ein dickes, gelehrtes, staubtrockenes Buch. Auch werde ich mich nicht, wie es heute üblich sein mag, mit Wertespitzfindigkeiten auseinandersetzen wie etwa: Ist der ästhetische Wert ein finaler Wert? Diese Diskussionen sind nicht zukunftsweisend. Rein theoretischen Abhandlungen zum ästhetischen Wert bescheinige ich einen, mutatis mutandis, begrenzten Wert. Den Großteil der Wertedebatte verlagere ich in diesem kleinen Buch und im globalen Kontext ins rein Praktische: 89

in die Erfahrungsbereiche Schönheit, Alltagsästhetik, Naturästhetik und Kunst. Die Behandlung der Werte am Ort möge einer theoretischen Überdeterminierung, wie sie in vielen gegenwärtigen Wertebeiträgen stattfindet, entgegenwirken. Erst recht lehne ich Werte ab, die von außen kommend an die Ästhetik herangetragen werden, wie etwa eine künstlerische Wahrheitsverpflichtung. Nichts könnte für die Ästhetik schädlicher sein als eine proskriptive Normierung, wie hier im ersten Kapitel dargelegt. Wovon reden wir, wenn wir ästhetische Werte meinen?

Ästhetische Werte Kendall Walton schrieb, es gebe verschiedene Gründe, etwas ästhetisch wertvoll zu nennen: einige Werke trösten, stimulieren, sie sind verstörend provokativ oder sie bestürzen oder sie bieten geistige Freuden oder emotionale Erlebnisse oder Katharsis an.1 Wieder andere würde man schlichtweg als schön bezeichnen. Um einen Gewinn aus einem Werk zu ziehen, schätzt man es wert (appreciation, Wertschätzung). Im Gegensatz zu einem Spaziergang oder einer heißen Dusche, die man genießen kann, ohne sie wertzuschätzen, schätzt man ein Kunstwerk auf eine bestimmte Weise.2 Man kann diese spezifische Wertschätzung als pleasure of admiration bezeichnen, was für eine heiße Dusche nicht zutrifft. Sogar noch mehr als eine gewisse Bewunderung liegt die ästhetische Wertschätzung »in its getting me to admire it«.3 Zur ästhetischen Wertschätzung gehört auch die ästhetische Einstellung (attitude) gegenüber einem Objekt. 4 So genüsslich eine heiße Dusche sein mag – die Einstellung dazu ist nichtästhetischer Art und liegt nicht im Kontext einer Bewunderung. Auch gehört zum ästhetischen Wert zunächst eine Wahrnehmungseigenschaft wie taktil, gustatorisch, olfaktorisch, visuell, auditiv5 sowie eine komplexe, abstrahierende Cortex-Verarbeitung, wie im letzten Kapitel vorgestellt, wenn man Literatur liest. Der Genuss, den ein Kunstprodukt uns schenkt, muss keineswegs posi­tive Freude darstellen, wie dies bei Picassos Guernica nicht geschieht. 6 Darüber besteht in der ästhetischen Theorie seit Burkes Negativwerten Einigkeit. 90 | Götterdämmerung des ästhetischen Urteils

Es gibt außerdem verschiedenartige ästhetische Wertsetzungen: Manche sind glaubens-ähnliche Werte oder Wertsetzungen, andere sind betont perzeptuelle oder affektive Zustände, wieder andere werden stillschweigend gefällt – oft genug, ohne dass man ahnt, dass man diese Wertungen vorgenommen hat. Täglich fällen wir dutzendfach, wenn nicht hundertfach ästhetische Wert­urteile.7 Dem liegt die Unterscheidung von instrumentellen und nicht-instrumentellen Werten zugrunde. Geld oder eine Schmerztablette sind instrumentell von Wert. Dieser Wert wird oft auch als extrinsischer Wert bezeichnet, weil der Wert attributiv zu einer Einheit (Geldschein, Kleingeld, eine Tablette) gewertet wird wegen etwas anderem (Kaufkraft, Schmerzbefreiung). Ein intrinsischer Wert ist nicht ableitbar, nicht-instrumentell. Er steht nicht in Bezug zu etwas außerhalb seiner selbst (keine Kaufkraft, keine Schmerzbefreiung), sondern bezieht sich auf den Genusskontext eines oder mehrerer Individuen. 8 Matthen unterscheidet zwei Herangehensweisen an die Werte eines Kunstwerks. Zum einen werden die ästhetischen Qualitäten oder intensiven Eigenschaften eines Kunstwerks betont, wie etwa Schönheit, Grazie, Komplexität.9 Zum anderen ein responsbasiertes Herangehen: »… artistically valuable objects are those that elicit a certain kind of intensive response (that is, a response that can be stronger or weaker).«10 Bharata (9. Jahrhundert) hielt diesen Respons für Rasa oder einen emotionalen Ausdruck, Hume nannte ihn Gefühl, vom Geschmack (taste) geleitet. Vor mehreren Jahrzehnten definierte Roman Ingarden dieses ästhetische Erleben als eine »Wertantwort«11, im Unterschied zum reinen Gefühl. Die Wertantwort »erwächst aus der Kontemplation eines unmittelbar gegebenen Wertes.«12 Dieser Erfahrungswert eines Kunstprodukts manifestiert sich, wie Goldman betont, indem man selbst den Wert erfährt,13 der auch im selben Kunstprodukt von Rezipient/in zu Rezipient/in variieren kann.14 Man kann etwa Melvilles Moby-Dick, or The White Whale als Kampf zwischen Mensch und Natur interpretieren, bei der die Natur obsiegt; oder das unglückselige Schiff als Mikrokosmos der Gesellschaft, bei der ein starkes Individuum die ihm hörigen Menschen ins Verderben stürzt; oder als ein zum Scheitern verurteilter Endkampf des Menschen mit Gott, dieser symbolisiert durch den weißen Pottwal; oder das Schiff als NarrenGötterdämmerung des ästhetischen Urteils | 91

schiff, das dem Untergang geweiht ist wie die Besatzungsmitglieder, Symbole für die Menschheit. Alle Menschen gehen, buchstäblich, unter, außer dem verlorenen Stamm Israels, dem Stamm Ismaels, dem einzigen Überlebenden – eine alttestamentarische Interpretation. Die verschiedenen Lesarten drücken verschiedene Wertsetzungen aus: Altes Testament oder Kapitän Ahab als moderner Renaissancemensch? Psychologische Wertschätzung als Erklärung von Ahabs zerstörerischem Narzissmus? Und viele weitere Interpretationen. Wie Wolfgang Iser betont, existiert die Interpretation nicht.15 Er untersuchte die Relativität der ästhetischen Wertungen zweifach: zum einen historisch, in der weltweiten Bewegung von der Autorität des religiösen Kanons hin zum offenen literarischen Kanon in der Neuzeit.16 Er spricht von »incessant revaluation« und macht das an Dr. Johnsons Shakespeare-Interpretation im 18. Jahrhundert paradigmatisch fest. Shakespeare wird im Licht von Johnsons eigenen, eigenwilligen Kriterien interpretiert, vor allem unter dem Gesichtspunkt der »instruction«: Shakespeare als der Über-Lehrer der Menschheit.17 Zum anderen macht Iser die permanente revaluation am hermeneutischen Kreis seit Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher im frühen 19. Jahrhundert fest.18 Schleiermacher richtete sein Augenmerk auf die Lücke zwischen Text und Rezipienten  /  Rezipientin. Erst bei Schleiermacher wird die Interpretation selbstreflexiv. Ihre Legitimität bezieht die Interpretation von nun an bewusst durch Textanalyse und durch Selbstreflexion bei der Analyse, indem die Interpretationsprozeduren ›gereinigt‹ werden. Das impliziert, dass der Bedeutung die sichere Basis der Textpartizipation entzogen wird. Der Text »poses the problem of how it is to be taken«.19 Ohne näher auf die für die Textinterpretation grundlegende Hermeneutik einzugehen, halte ich hier nur fest, dass Hermeneutik eine permanente Evaluation bedeutet. Und das bedeutet eine dynamische Wertewelt des Literarischen. Matthen betont in seinem wichtigen Aufsatz zur ästhetischen Diversität, dass der »pleasure response« in den Künsten auf der Form des kulturellen Lernens basiert.20 Kunst, schreibt Matthen, wird geschaffen, um dem Publikum Freude zu bereiten. Wie Künstler/innen und Zuschauer/innen konvergieren, hänge von der spezifischen Art der kulturell basierten Koordination ab. »There are mul92 | Götterdämmerung des ästhetischen Urteils

tiple culturally learned manners of appreciation«.21 Er bezeichnet den Genuss-Respons als »assembled routines«, die erlernt werden.22 Der Wert der Kunstprodukte oder der Aktionen (Tanz) »depends on how successfully they are able to generate pleasure that facilitates the cognitive focus of an audience«.23 Matthen argumentiert für eine Wertekonvergenz Publikum-Kunstprodukt, aber im offenen Rahmen von wechselnden, dynamischen Werten unterschiedlich von Kultur zu Kultur. Nichts anderes bildete das Thema im letzten Kapitel über empirische Ästhetik: Die Gehirnstrukturen aller Menschen sind gleich, die kulturellen und individuellen Unterschiede sind weltweit radikal verschieden; womit das Problem der ästhetischen Universalien mit einem dynamischen Ergebnis gelöst wäre. Die Wandlungstheorien, die ich im ersten Kapitel erwähnte, unterstützen die These des dynamisch-temporalen, kulturell unterschiedlichen Werterelativismus, nämlich die balinesische TaksuÄsthetik, die islamische Bewegungsästhetik und die japanische Ukiyo-e-Welt (die fließende Welt) sowie die japanisch-ästhetische Betonung der Vergänglichkeit, um nur drei Beispiele zu nennen. Obwohl die »Meisterwerke« in der Kunst eine große Breitenzustimmung erfahren, ist die Aufwertung zum Status eines Meisterwerks relativ, wie man etwa an der Wiederentdeckung Vermeers im 19. Jahrhundert erfahren kann. In der Kunst-, Literatur- und Musikgeschichte wird permanent auf- und abgewertet; die Werte verschieben sich unaufhörlich. Humes »true judges« lösen das Problem des Werterelativismus in der Ästhetik nicht. Wer bestimmt denn, wer »wahrer Richter« wird und wer nicht? Und warum, fragt McIver Lopes, soll ich den »true judges« folgen, wenn mir die DieHard-Filme (Stirb langsam) mit Bruce Willis besser gefallen als die Meisterwerke?24 Worauf ich in diesem Kapitel noch eingehen werde: Kants Forderung nach einem ästhetisch universalen Konsens in seiner Verkörperung des ästhetischen Urteils (das auf Wertsetzungen basiert), missachtet den Relativismus der vielfältigen ästhetischen Erfahrungen. Dieselben Werke ermöglichen ganz verschiedene Erfahrungen.25 Es gibt kaum Zweifler am Werterelativismus in der Ästhetik, was sie von der Ethik grundlegend unterscheidet. Wenn wir sagen, dass die Menschenrechte nicht verhandelbar sind, etwa im UmGötterdämmerung des ästhetischen Urteils | 93

gang mit Diktaturen wie in China und Russland und autoritären Regierungen wie in der Türkei, etablieren wir Verhaltensnormen in Form von menschlichem, zwischenmenschlichem Zusammenleben, das sich an Gerechtigkeit orientiert. Deshalb gelten in der Ethik Normen. In der Ästhetik hingegen herrscht Wertrelativismus als ein Positivum vor. Kritisch dazu meint Evers, der Relativismus der ästhetischen Werte »requires the existence of irreducible evaluative states of affairs«.26 Das bezweifle ich: Die ästhetischen, relativen Wertsetzungen müssen nicht begründet werden und sie müssen erst recht keine ästhetischen Werthierarchien etablieren. Relativismus der ästhetischen Werte führe, schreibt Evers, zu einer error theory: »evaluative propositions are about evaluative states of affairs that do not exist«.27 Ich sehe nicht, weshalb relative ästhetische Werte relativ gegenüber anderen Werten sein sollen. Auch entdecke ich keine error theory – es sei denn, man interpretiert die Ästhetik als Wahrheitstheorie und geht so völlig an der Ästhetik als relative Erfahrungstheorie vorbei. Denn um nichts anderes geht es in dieser Theorie: darum, in der Dewey-Nachfolge die Ästhetik als Erfahrungstheorie vielfältigster, antinormativer Art zu beschreiben. Man fürchte sich nicht vor dem ästhetischen Wertrelativismus. Erst er ermöglicht ein freies, nicht von Normen beherrschtes ästhetisches Erleben.

Emotionstheorie Evers machte die Rechnung außerdem ohne den Wirt, nämlich ohne die immense emotionale Komponente der ästhetischen Erfahrung. Wie im letzten Kapitel bewiesen, muss man kognitionswissenschaftlich von unserem emotionalen Gehirn sprechen. Die Evaluierungen, die unser emotionales Gehirn vornimmt, sind affektive Prozesse.28 Es bestehen außerordentlich enge Verquickungen zwischen Emotionen und Werten: »Emotions, whatever their limitations, are an indespensible source of evaluative thought and experience«, schreiben die Emotionsforscher Roeser und Todd.29 Auch andere Emotionsforscher kommen zum selben Ergebnis wie etwa Deonna und Teroni: Die Verbindung von Emotionen und Werten sei eng.30 Slaby und Wüschner betonen die aktive, mit der 94 | Götterdämmerung des ästhetischen Urteils

Welt engagierten Rolle der Emotionen, insbesondere durch die expressiven Qualitäten eines Kunstprodukts: »… we are made to feel, acted upon from without, in and through our affectivity.«31 Kognitionswissenschaftlich wird die emotionale Werttheorie gestützt: Insbesondere der ventromediale präfrontale Cortex wird bei der emotionalisierten Kunstwertschätzung mit einbezogen, weil dieses Areal stark involviert ist im Belohnungszentrum, das Dopamin ausschüttet.32 Das hängt aber davon ab, ob die wertenden Emotionen im Kunstwerk durch irgendwie geartete positive Emotionen genug Aufmerksamkeit auf das Werk fokussieren. Negative Emotionen engen den Aufmerksamkeitsfokus ein, positive weiten ihn aus. 33 Brady nennt den Vorgang »emotional fixing«. 34 Davon hängt die Wertschätzung ab, denn fehlt die emotionale Aufmerksamkeit, kehrt man dem Kunstprodukt gleichgültig den Rücken. Die Aufmerksamkeit hängt wiederum von verschiedenen dynamischen Varianten ab, zum Beispiel der Stimmung, dem Wahrnehmungskontext, der Tagesform, der Bereitschaft zur Aufmerksamkeitsöffnung. Glückliche Stimmungen erschaffen eine positive Valenz dem Leben und dem Kunstprodukt gegenüber. Man nimmt Welt und Kunst als inklusiv und kohärent auf. In einer Wahlsituation wählt das Subjekt wiederum in einem hermeneutischen Kreis Kunstwerke oder ästhetische Qualitäten wie Einheit, positives Weltbild, ausbalancierte Kompositionen aus, die seiner augenblicklichen Stimmung angeglichen sind. Je mehr der Aufmerksamkeitsfokus positiv gewertet wird, desto weiter gefasst wird er in einer Selbstverstärkung werden. 35 Mit anderen Worten: Die positive Wertung eines Kunstprodukts unterliegt verschiedenen, leicht veränderbaren Variablen, die von Person zu Person und von Minute zu Minute der Veränderung unterworfen werden. Ein kleines Beispiel: Als ich zum ersten Mal Thomas Manns Zauberberg las, war ich begeistert. Als ich Jahrzehnte später, voller Elan, mit einer erneuten Lektüre begann, ödeten mich die ewigen Diskussionen auf dem Berg dermaßen an, dass ich ganz anders als beim ersten Mal fühlte: ein allzu angestrengtes, dröges Buch, mit dem man bald die Geduld verliert. Der hedonische Wert des Romans tendierte für mich gegen Null, ganz im Gegensatz zu meiner zweiten Lektüre von Joseph und seine Brüder, dieser Mann’schen Mythoskritik und diesem sprachlichen Meisterwerk. Götterdämmerung des ästhetischen Urteils | 95

Weitere Faktoren relativieren die Wertsetzungen. Experimente haben nachgewiesen, dass die positive Wertung eines Kunstprodukts tatsächlich oft vom hohen Marktwert abhängt; man glaubt es kaum.36 Auch hängt die positive Wertung davon ab, wie weit der entorhinale Cortex bei der Erinnerung, die Kontext schafft, involviert wird.37 Ein Fazit: Die Emotionen, die eine ästhetische Wertung ausdrücken, sind keineswegs statisch. Ihre Intensität und ihre Dauer wechseln ständig. 38 Der Wertsetzungsakt ist parteilich und per­ spek­tivierend.39 Was wir leichtfertig für absolute ästhetische Werte halten, erweist sich als »continual reconfiguration of what we find valuable, to spur us to seek new comparisons, new interpretations, new metaphors, new modes of understanding and perceiving«.40 Keine Emotion und darum kein Wert kann für sich behaupten, im Grunde auch nur kurzzeitige Gültigkeit zu beanspruchen. Und da die emotionsdurchwirkten ästhetischen Werte mit einem gewaltigen, überdimensionierten Fragezeichen zu versehen sind, gilt dies ebenso für das Ziel der Wertung, das ästhetische Urteil. Unversehens sind wir beim ersten und grundlegenden Kritikpunkt des ästhetischen Urteils angelangt. Kombiniert mit den bisherigen Ausführungen wie etwa der kulturellen Verschiedenheit der Kunstprodukte und dem grundsätzlichen Temporalverdacht schwankt das ästhetische Urteil in seiner Gültigkeit bereits kräftig. Es sei ja auch unklar, wie Döring schreibt, genau wie die Rolle der Emotionen beim Werten zu verstehen ist.41 Der Werttheorie entgleitet die Basis. Es genügt also nicht, mit der Emotionstheorie die zentrale Bedeutung der Emotionen beim (ästhetischen) Werten zu betonen; darüber herrscht in der Wissenschaft Einigkeit. Das Wie bleibt (noch) im Dunkeln. Ein ästhetisches Urteil, das eng mit emotionalen Werten zusammenhängt, darf, um Gültigkeit zu beanspruchen, sich nicht aus dem Dunkeln speisen. Komplizierter wird die Wertdebatte, wenn man von sich überkreuzenden Werten spricht. Kontexte existieren, wo zum Beispiel ästhetische Werte sich mit ethischen Werten überkreuzen wie in der Naturästhetik.42 Es sei in der ästhetischen Theorie ein Fehler, schreibt Stecker, zu glauben, man müsse nur den ästhetischen Wert verstehen. 43 Werte können koexistieren, interagieren oder mit­ einan­der in Konflikt geraten. Die ästhetische Erfahrung ist nicht 96 | Götterdämmerung des ästhetischen Urteils

die einzige Funktion, die die Kunst erfüllt. Bezogen auf die jung­ paläo­lithi­sche Parietalkunst heißt es bei Stecker: »It is the aesthetic properties that enable art to fulfill other functions, e. g. religious, but by vivid nature of representation, the way it organizes the eye in focusing on crucial aspects of the scene, evoking feelings«. 44 Wir Nachgeborenen bewerten die jungpaläolithische Höhlenmalerei wegen ihrer ästhetischen Qualitäten hoch, wir haben jedoch aufgrund der uns verschlossenen Bedeutung dieser Werke keine Ahnung, wie die Menschen des Gravettien und Magdalénien diese »Kunstwerke« werteten. Nur eines lässt sich definitiv sagen: Sie erfüllten emotionale Bedürfnisse. Hier konvergiert ein weltanschaulicher Wert mit dem ästhetischen Wert. Im Mittelalter dominierte ein religiöser Wert. In Concept Art konvergieren kognitive Werte, im Realismus des 19. Jahrhunderts epistemische Werte. Auch in der Naturästhetik kann ein epistemischer Wert sich mit dem ästhetischen kreuzen, nicht aber konvergieren, wie noch zu zeigen sein wird. Einige Theoretiker betonen, um die Natur richtig zu verstehen, müsse ein epistemischer Wert – also ein naturwissenschaftliches Naturverständnis – herangezogen werden, um Naturästhetik adäquat zu betreiben. Kontrovers bleibt dabei, wie die epistemischen Werte mit dem ästhetischen Naturwert interagieren.45 Aufgrund des umfassenden globalen Zerstörungszustands der Natur wird man um ethische Normen beim ästhetischen Umgang mit der Natur nicht herumkommen. Diese fortgeschrittene Zerstörung erzwingt eine Rekonfiguration des hedonischen Werts bei der Natur. Die Komplexität der ästhetischen und nichtästhetischen Werte gilt es beim ästhetischen Urteil zu bedenken, was dieses selbst enorm verkompliziert, wenn nicht gar ausschließt.

Argumente für das ästhetische Urteil Bevor ich mit der grundlegenden Kritik der ästhetischen Urteilskraft beginne, eine Frage: Was spricht für das ästhetische Urteil? Indem wir versuchen, gemeinsame (positive, negative, differenzierte) Urteile über Kunst zu fällen, bemühen wir uns nicht nur um sinnvolle Werturteile über die Kunst, um die Spreu vom Weizen Götterdämmerung des ästhetischen Urteils | 97

zu trennen. Darüber hinaus arbeiten wir in der Artworld mit Kant gesprochen daran, den sensus communis zu stärken. Wenn ich etwas Gutes in einem Kunstwerk entdecke, möchte ich das mitteilen, damit auch andere daran teilhaben. Kunsturteile können also gemeinschaftsstiftend wirken. Kunst drückt unsere gemeinsame Menschlichkeit über alle Kulturen hinweg aus. Kunst verbindet. Im ästhetischen Urteil bemüht man sich ernsthaft, Qualitäts­ urteile zu fällen, die, wohlbegründet, uns in der Kunst, somit in der Lebenswelt Orientierung schenken. Ein ästhetisches Urteil ist ein Güteurteil. Indem man einer als besonders gewerteten Kunst ein Gütesiegel aufdrückt, hebt man diese Kunst als Qualitätsverkörperung gegenüber anderer Kunst hervor. Wir differenzieren gezielt und begründet. Durch ein Urteil glauben wir, mehr über die Kunst zu wissen. Wenn wir dieses Wissen sozusagen in ein Urteil einpacken und verschnüren, rechtfertigen wir die Mühe des Urteils: Vermeer ist ein bedeutenderer Künstler als Metsu. »There is widespread agree­ment that aesthetic judgements are meaningful and have half-truths.«46 In der westlichen Kunst drückte sich seit Hume und Kant die Ästhetik als Urteilsästhetik aus. Ästhetik betreiben hieß noch im 19. Jahrhundert, die Urteilsästhetik ins Zentrum der Untersuchungen zu stellen. Doch seit Beginn der kulturellen Moderne um 1900, die alle ästhetischen Kriterien über den Haufen warf, verlor die Ur­teils­ästhetik immer mehr an Boden. Daher frage ich nun: Was spricht gegen die Urteilsästhetik? Zunächst muss man unterscheiden. In der heutigen ÄsthetikDebatte wird zwischen rein persönlichen Präferenzen (»Ich mag die heftigen Songs von Noga Erez«), zwischen dem, was im 18. Jahrhundert Geschmacksurteil hieß (verdict mit ›dünnen‹ ästhetischen Eigenschaften wie großartig, armselig, mittelmäßig, schön, wie in: »Monets Landschaften sind alle sehr schön«) und schließlich zwischen substantiellen ästhetischen Urteilen differenziert (substantive aesthetic judgements mit ›dicken‹ ästhetischen Eigenschaften wie ausgewogen, heiter, dynamisch, grazil, lebendig, tragisch, leblos, schwerfällig, banal).47 Ein Beispiel dafür wäre Caravaggios Kreuzigung Petri, die, als gekreuzte Diagonalkomposition, die Kreuzigung symbolisiert und die dynamischer und tragischer Natur ist. – Die ersten beiden »Urteile« sind mit persönlichen Wert98 | Götterdämmerung des ästhetischen Urteils

setzungen und somit mit Emotionen gefällt. Übermorgen könnte man etwas anderes fühlen und wertschätzen. Daran lässt sich in der Ästhetik nichts aussetzen: Jedem ästhetisch genießenden Menschen steht es zu, sich auf jegliche Weise über das ästhetische Objekt auszudrücken. Um die ersten beiden Urteilsarten soll es hier nicht gehen. Sie sind legitim und wir treffen sie täglich und beiläufig. Hier soll es um die substantiellen ästhetischen Urteile gehen. Auch sie sind legitim und werden in ästhetischen und fachwissenschaftlichen Diskussionen pausenlos gefällt. Die Frage am Anfang des 21. Jahrhunderts lautet: Möchten wir noch eine Ästhetik betreiben, die letzten Endes auf eine Urteilsästhetik hinausläuft? Denn wenn ästhetische Urteile selbstverständlich jederzeit möglich sind, bedeutet das nicht, dass sie wünschenswert und zukunftsweisend sein mögen. In der Folge möchte ich einige Argumente aufführen, die gegen die Fortsetzung einer Urteilsästhetik sprechen. Diese Aufzählung will weder ikonoklastisch noch hyper-innovativ auftreten, sondern die Vorstufe zu einigen Alternativen darstellen, die ich im Anschluss an die Kritik skizziere. Ein paar Kritikpunkte klangen bereits an.

Kritik des ästhetischen Urteils Erstens. Jedes ästhetische Urteil muss man prinzipiell einem Temporalverdacht unterwerfen, und zwar aus mehreren Gründen: Die Emotionstheorie lehrt die Dynamik des emotional wertenden Subjekts. Das emotional fixing, die ästhetische Aufmerksamkeit, hängt von vielen dynamischen Faktoren ab, etwa der momentanen Stimmung oder sogar dem Preis eines Kunstwerks, worin sich allgemeine, auch wieder dynamische Wertschätzungen ausdrücken. Die Variablenabhängigkeit von emotionalen Werten erzwingt geradezu die Akzeptanz der permanenten ästhetischen Rekonfigurationen. So viel zum Subjekt. Auch die objektive Wertschätzung, zweitens, worin sich substantielle ästhetische Urteile ausdrücken, ist dem Wandel unterworfen. Permanente Auf- und Abwertungen kennzeichnen die einzelnen Fächer und somit die allgemeinen Urteile: der lange Zeit vergessene Jan Vermeer, im 19. Jahrhundert wiederentdeckt. Götterdämmerung des ästhetischen Urteils | 99

Die ein Jahrhundert lang kaum beachtete Emily Dickinson, zu meiner Lebzeit deutlich aufgewertet und nun hochgeschätzt. Der missachtete, arme Van Gogh, im 19. Jahrhundert ein Verlorener wie Herman Melville, beide Entdeckungen des 20. Jahrhunderts. Der von den Zeitgenossen unverstandene späte Rembrandt, heute in den höchsten Tönen gelobt. Die Liste der ästhetischen Urteilswandlungen ließe sich fast ad infinitum fortsetzen. Die Auflistung lehrt, wie wandelbar ästhetische Urteile sind; und wie wenig wir uns auf sie in letzter Instanz verlassen können. Drittens bringt uns auch der hermeneutische Kreis in der Literatur eine harte Lektion bei, der Lektion von der permanenten selbstreflexiven Revaluation des Ästhetischen. Die sichere Basis der Bedeutung entpuppt sich als Chimäre. Schließlich und viertens betonen die Wandlungstheorien von Japan, von Bali und vom Islam nicht zufällig die Wandelbarkeit der Welt, die allem Ästhetischen unterliegt; als wüssten wir es nicht, dieses kleine Geheimnis, das angesichts angeblich objektiver und somit angeblich zeitloser Urteile gerade seine nagende Zeitlichkeit beweist. Um die Marschallin am Ende des ersten Aufzugs vom Rosen­kavalier zu zitieren: »Die Zeit, die ist ein sonderbar Ding, Wenn man so hinlebt, ist sie rein gar Nichts. Aber dann auf einmal, da spürt man nichts als sie.«

In diesem Kontext: In alten vergangenen und hinfälligen ästhetischen Urteilen sollt ihr die Zeitlichkeit spüren. Zweitens. Zuerst Zeit und nun Raum: Die ästhetischen Urteile des Westens sind dem Kulturverdacht zu unterwerfen. Die transitorischen Ästhetik-Theorien von Rasa, vom Islam mit den raum- und lichtbewegten Kunstformen, die japanische Mono-no-aware-Ästhetik-Haltung verweisen nicht nur auf die Zeitlichkeit aller ästhetischen Urteile. Sie verweisen überdeutlich auf eine neue globale Ästhetik, die heute ansteht und die die Diskussion bereichern wird. Mit westlichen ästhetischen Urteilen wird man der balinesischen Taksu-Ästhetik nicht gerecht. Ein ästhetisches Urteil aus westlicher Perspektive verbietet sich geradezu, denn es wird dem von Jullien im ersten Kapitel angesprochenen Respekt vor der jeweiligen 100 | Götterdämmerung des ästhetischen Urteils

kulturellen Eigenart nicht gerecht. Die westliche Urteilsästhetik bleibt im Endeffekt eurozentrisch, westlich, anmaßend. Sie trägt nicht zu einer offenen, interkulturellen, nichtnormativen Ästhetik bei. Freilich vermag man, man möchte beinahe schreiben: ad nauseam, frohgemut ästhetische Urteile über unsere westliche, »große« Kunst zu fällen; allein, einer neuen globalen Ästhetik kann dieses Herangehen nimmermehr adäquat sein und werden. Im Grunde beantwortet das die anfangs gestellte Frage bereits: Ist ein ästhetisches Urteil im 21. Jahrhundert wünschenswert, auch wenn das Urteil möglich sein mag? Keineswegs, denn das ästhetische Urteil entspringt den vergangenen Zeiten des eurozentrischen Hochmuts gegenüber der restlichen Welt, die, vielleicht, die Hauptwelt darstellt. Genau genommen war das ästhetische Urteil nie transkulturell angelegt. Es bezog sich immer nur auf die westliche Kunst-, Tanz-, Literatur-, Architektur- und Musiktradition. Auch wehre ich mich dagegen, das ästhetische Urteil aufzuhübschen, zu modernisieren, um urteilend die große weite Kulturwelt zu durchschreiten wie ein wohlwollender Neo-Neoimperialist. Die Ehrlichkeit eines Neuanfangs in der Ästhetik durch ein Adieu dem alten ästhetischen Urteil westlicher Prägung verlangen die nicht­euro­päisch-nordamerikanischen Kulturen von uns. Hören wir nicht auf diesen globalen kulturellen Weckruf, verlieren wir das ästhetische Spiel. In diesem Sinn war das ästhetische Urteil schon immer ein anmaßendes Urteil, nicht nur gegenüber anderen Kulturen mit ganz anderen ästhetischen Kunstformen und daher Wertsetzungen, sondern auch, um die ästhetisch Ahnungslosen von den Wissenden zu scheiden oder um die Unwissenden von oben herab zu belehren, was denn wahre Kunst sei. Anmaßung darf in der Ästhetik keinen Diskursraum beanspruchen. Man kann es noch genauer fassen: Die Abkehr von der Urteilsästhetik bildet die Vorbedingung zu einer neuen Globalästhetik. Drittens. Eine Urteilsästhetik perspektiviert die Ästhetik nicht nur hinsichtlich der Eurozentrik. Die Ästhetik auf die Urteilsperspektive zu fokussieren, einzuengen, verneint die offene Richtung einer zeitgemäßen Ästhetik hin zu einer globalen Ästhetik des gegenseitigen Respekts. Außerdem erschwert die Urteilsperspektive die Fokussierung auf das Feld der vielfältigen ästhetischen ErfahrunGötterdämmerung des ästhetischen Urteils | 101

gen von Alltagsästhetik, Naturästhetik und Kunsterleben. Mit der Urteilsästhetik können neuere Tendenzen, die in der traditionellen Ästhetik nicht auftauchen, gar nicht begriffen werden: Design, Events, der Alltag als Quelle ästhetischen Erlebens, die ästhetisch sorgende Auseinandersetzung mit der Restnatur, um nur ein paar zu nennen. Ein Abschied von der traditionellen Vorstellung eines irgendwie gearteten objektiven ästhetischen Urteils gibt den Raum frei, damit neue Kulturen in den internationalen Diskurs einziehen mögen. Diese müssen nicht, sollen nicht dem Urteil unterworfen werden. Das Diskussionsziel des ästhetischen Urteils perspektiviert das ästhetische Herangehen auf unzulässige Weise. Viertens. Ästhetische Urteile des Westens und in der kartesischen Tradition des (angeblichen) Wissens sind, wie Cavedon-Taylor vorsichtig formuliert, »maybe epistemically over-determined«.48 Er benennt ein Grundproblem des ästhetischen Urteils, nämlich zugleich reasoned (als abwägendes Urteil) und unreasoned zu sein, da die psychologische Unmittelbarkeit ebenso eine Rolle dabei spielt.49 Nichts anderes drückt diese Theorie mit der emotionalen Urteilsunbeständigkeit aus, die ebenso und meist unbemerkt in das Urteil mit einfließt. Doch das Urteil gibt sich den Anschein der soliden, epistemischen Grundlage und hört nicht auf die emotionalen Komponenten, die es konterkarieren können. So ergibt sich das Resultat einer scheinbaren epistemischen Überdeterminierung, die sich selbst jedoch ungenügend hermeneutisch reflektiert. Wider Willen der Theorie erweist sich das Urteil als ein Kompositum unseres emotionalen Gehirns, das dem Fluidum der ästhetischen Erfahrungen nicht gerecht wird. Fünftens. Damit hängt die Scheinobjektivität des ästhetischen Urteils zusammen. Aus dem bisher Gesagten ergibt sich, dass die reine Objektivität, die man im ästhetischen Urteil anstrebt, stark von (subjektiven) Emotionen und Wertsetzungen beeinflusst wird. Man erstrebt Objektivität in der Form von Intersubjektivität. Selbst bei gut begründeten Urteilen wird mein Urteil oft genug ein anderes Subjekt nicht überzeugen und diese Person nicht dazu bringen, das eigene Urteil zu revidieren. Das liegt daran, dass meine ästhetische Erfahrung und meine persönlichen Parameter von denen 102 | Götterdämmerung des ästhetischen Urteils

einer anderen Person differieren. Im ästhetischen Urteilen kann es keine reine Übereinstimmung geben, die intersubjektiver Natur sein möchte. Im großen Problem der Scheinobjektivität verbergen sich noch zwei weitere Probleme. Denn die Urteile beruhen auf Kriterien, die entpersönlicht und somit objektiv gegeben sein sollen, zum Beispiel zusammenwirkende kompositorische Elemente, Gesamtstimmigkeit, Ausgewogenheit, Eleganz, Tragik, Vielschichtigkeit, Aussagekraft und die ephemere Bedeutung. Ich nehme jetzt die Rolle des advocatus diaboli ein und hinterfrage diese Kriterien: Woher kommen sie? Man gibt mir eine unbewusst verräterische Antwort: Nun, aus unserer langen Tradition der Künste. Somit sind wir unversehens wieder beim Eurozentrismus gelandet. Die Kriterien entstanden doch, würde man mir sagen, aus der westlichen Tradition und könnten daher für sich beanspruchen, überzeitlich zu sein. Überzeitlich? Warum interpretierte Dr. Johnson im 18. Jahrhundert Shakespeare ganz anders als wir im 21. Jahrhundert, nämlich als pädagogischen Lehrer der Menschheit? Johnsons Kriterium für Shakespeare war edukativ, was uns heute befremdet. Man liest Shakespeare heute nicht mehr, um belehrt zu werden. Oder schauen wir uns ein paar der oben aufgezählten Kriterien an. Was genau ist »Eleganz«? Die Mode der 1930er Jahre könnte man als elegant bezeichnen – aber Kunstwerke? Oder »Ausgewogenheit«. Als advocatus diaboli behaupte ich, dass Ausgewogenheit ein eher klassisches, fast klassizistisches Kriterium darstellt. »Ausgewogenheit« wird der Moderne keineswegs gerecht. Oder »Bedeutung«: Was genau bedeutet Bedeutung und gilt sie nur im semantischen Kontext? Ogden und Richards untersuchten in ihrer bahnbrechenden Studie von 1923 die Bedeutung der Bedeutung;50 die Diskussion dauert noch an. Kurz: Die Kriterien, die wir für nichthinterfragbar halten, sind sehr wohl zu hinterfragen. Ihre Gültigkeit als sicheres Fundament für ein substantielles Urteil muss man zumindest mit einem Fragezeichen versehen. Bedenkt man, dass die Kriterien oder Prinzipien kulturell bedingter Natur sind, addiert sich ein zweites Fragezeichen. Aber, wirft man mir vor, die Kriterien wurden von Experten erarbeitet. Wieder unversehens landen wir bei einem Problem, dem zweiten Problem der Objektivität. Nachdem Hume bekanntlich die Götterdämmerung des ästhetischen Urteils | 103

Subjektivität der ästhetischen Erfahrung festgestellt hat, machte er eine Volte und führte die true judges zur Hintertüre ein, die Kriterien auf der Basis einer idealisierten Altgriechenland-Vorstellung festlegten und die daher begründete ästhetische Urteile abzugeben befähigt sein sollten. In der gegenwärtigen Diskussion tauchen diese Kriterien als Kopfgeburten von Experten oder von ideal observers auf. Damit betreten wir erneut ein ästhetisches Minenfeld. Denn wer bestimmt, wer als wahrer Richter zu gelten hat und wer nicht? Wer bestimmt, welche Kriterien sie ihrem Urteil zugrunde legen und welche nicht? Und da die Richter Menschen mit ihren Emotionen und ihren vielen und wechselnden Variablen waren: Wie kann man unbedingt auf ihre Urteile vertrauen? Bestenfalls sehr, sehr bedingt – was wiederum den Sinn ihrer Aussagen infrage stellt. Emotionen und vor allem der Werterelativismus im Ästhetischen machen Humes wahre Richter als Atlanten der Kriterien den Garaus. Sie sind reale Menschen mit all ihren menschlichen Schwächen. Der ideal observer gehört zu den ästhetischen Fiktionen. Die true judges führen uns zum nächsten Problem des ästhetischen Urteils. Sechstens. Theoretiker versuchten, dem Urteilsproblem mit einer Konsensantwort zu begegnen. Warum, fragt Peter Kivy, diskutieren wir über Urteile? Wir möchten andere Menschen von unserem Geschmack überzeugen, »we are implicitly assuming that we are fortified with a ground common to all«. 51 Wir nehmen, ohne es zu hinterfragen, Kants sensus communis an. A. J. Ayer meint, wir kommunizierten eine Emotion, wenn wir versuchen, ästhetische Übereinstimmung, also Intersubjektivität, zu erzielen. 52 Kivy verneint dies mit dem Argument, Ästhetik setze im Gegensatz zur Ethik keine Folgeaktionen in Gang.53 Kivys Argument trifft nicht zu, denn man kann sehr wohl Emotionen kommunizieren, ohne dass Folgehandlungen entstünden: Die Aufforderung, etwas zu teilen, bedeutet nicht, zu Handlungen aufgefordert zu werden. Was wir für ästhetisch wahr halten, schreibt Kivy, liege in der von uns angenommenen Wahrheit: »… our objective in aesthetic dispute is solely convincing someone of the truth.«54 Ein Urteil, das mit einer irgendwie gearteten, willkürlichen Wahrheit begründet wird, vermag nichts anderes als ein Fehlurteil darzustellen. 104 | Götterdämmerung des ästhetischen Urteils

Eingebracht in das Urteil werden Emotionen und Werte: Ich schätze dieses Bild, weil … Der Glaube an die Rationalität der Dispute, die zu einem Urteil führen, nennt Kivy convergence argument. 55 Hier treffen sich die Argumente, kreuzen einander, stimmen überein. Wo genau? »The canon, the consensus exists.«56 Der Kanon, meint Kivy, lebt, weil er »the test of time« überlebte.57 Auch wenn es oft Dissens zwischen Humes wahren Richtern, zwischen den heutigen Experten gibt – der Kanon, den die ästhetischen Richter übrigens selbst etabliert haben, wird sie stets eines Besseren belehren, sollte zufälligerweise einmal einer der Richter zu e­ inem abweichenden Ergebnis gelangen. Im Kanon konvergieren die Urteile der Menschheit zu einem großen, unantastbaren Bildungs­ gebilde. Der Menschheit? Unantastbar? Alles, aber auch alles in der Ästhetik bleibt antastbar. Zum hoch problematischen Kanon-Argument gibt es verschiedene Positionen. Crowther möchte der Menschheit in Krisenzeiten mit dem Kanon Sicherheit schenken. Für ihn gehört der Kanon in den Bereich der normativen Bedeutung: Kunst besitze normative Bedeutung für die Menschheit.58 Goldman nimmt eine bescheidenere, nichtnormative mittlere Position ein und schreibt von e­ inem, nicht dem Konsens in der Ästhetik. 59 Aber welcher Konsens soll das sein, begründet mit welchen Kriterien? Wo findet sich das »ein«? Eine sozusagen linksliberale Position in der Kanondebatte nimmt Jan Roß ein. Er möchte, von der griechischen Antike ausgehend, eine Bildungsanleitung mithilfe der Meisterwerke und der abendländischen Meisterdenker als Kanon etablieren. 60 Wer das kritisiert, meint Roß, muss eine Alternative haben;61 ein Totschlagargument, wären mir nicht zwei Gegenargumente eingefallen: Zum einen muss man keine Alternative in petto haben, um eine Position zu kritisieren. Zum anderen: Ich habe eine konkrete Alternative – nämlich die gute Kultur des Abendlandes und der Welt mit all ihren wunderbaren Traditionen. »Wissen ist besser als Ignoranz und Schönheit ein Grundbedürfnis des Menschen.«62 Wer würde dem widersprechen? Ich argumentiere allerdings mit einer globalen, offenen Perspektive, nicht mit einer engen Bildungsnorm, die auf Winckelmanns einst mächtigen Schultern gestützt sich an den alten Griechen orientiert. Schillers ästhetische Bildung des Menschen öffne sich für die ganze Welt, enge sich Götterdämmerung des ästhetischen Urteils | 105

nicht selbst ein auf ein eurozentrisches Bildungsprogramm, das die bildungshungrigen Europäerinnen und Europäer abzuarbeiten hätten im Bildungsschweiß ihres angespannten Angesichts. Den bürgerlichen Bildungsweg des Wertens gilt es natürlich nicht zu missachten, sondern auszuweiten, kreativ zu öffnen, um neue Welten ästhetisch zu erschließen. Mit einem Kanon als Richtschnur landet man in letzter Instanz bei den normierten Meisterwerken. Sie gilt es nolens volens und gnadenlos zu rezipieren, will man kein Banause sein. Die Meisterwerke wurden von erfahrenen true judges über die Jahrhunderte in Gold gegossen. »Lebensbegleitung« – ja; Kanon – nein. Roß kritisiert zu Recht, man müsse »die vernachlässigte Haltung des Bewunderns wieder zu Ehren … bringen.«63 Der Kanon als ästhetische Norm lehrt Bescheidenheit, allzu große Bescheidenheit. Ich habe in diesem Buch mehrmals etwa Caravaggios Bilder herangezogen, aber nicht, weil sie zu einem bildungsbürgerlichen Kanon gehören, sondern weil ich Caravaggios dramatische HelldunkelBilder für überzeugend und schlichtweg großartig halte. Ich denke nicht daran, meine Präferenz weiter zu qualifizieren. Der eurozentrische Kanon oder das Konvergenzargument lösen das Urteilsproblem also nicht, im Gegenteil. Sie schaffen andere Probleme. Ein Kanon gebiert unwillkürlich eine ästhetische Norm, von der ich mich in diesem Buch just verabschiede. Normen lösen die anstehenden ästhetischen Probleme gerade nicht. Sie widersprechen eklatant der ästhetischen Dynamik, der heute sinnvollen, vollkommen offenen, kaum begründeten Globalästhetik. Der Kanon oder die mildere Form, die Konvergenztheorie, stehen der ästhetischen Offenheit auch ohne eine Globalästhetik gerade entgegen. Sie errichten Mauern der Unüberwindbarkeit und treiben mit ihrer normativen Setzung das ästhetische Urteil in die Enge oder in das Aus, wirken also kontraproduktiv im Sinne der Urteilsjünger. Es steht dem Westen nicht zu, ästhetische und festgefügte Urteile erst recht in der normierten Form des Kanons zu etablieren. Den Kanon kann man als Anmaßung werten. Somit sind die Urteile, die den Kanon bilden, ebenfalls anmaßend. Siebtens. Und nicht nur anmaßend. Urteile schließen anderes aus. Sie können daher auch abwertend gegenüber anderem sein. 106 | Götterdämmerung des ästhetischen Urteils

Prinzipiell begrüße ich Kritik, denn ein ästhetisches Urteil sei immer ein kritisches Urteil. In den drei Kapiteln zur ästhetischen Erfahrung, um vorzugreifen, widerspricht das ästhetische Urteil der emotionalen und werthaften Gleichheit aller anderen Erfahrungen mit Alltagsgegenständen und mit der Natur. Die ästhetisch Urteilenden jedoch erheben sich über diese beiden wichtigen ästhetischen Erfahrungsfelder, weil sie die Kunst und somit die westlichen Meisterwerke über alles erheben. Wo das ästhetische Urteil wie im fruchtlosen Streit des 17. Jahrhunderts in Frankreich zwischen den anciens und den modernes sich für die modernes entscheidet, um sich von der Dominanz der ästhetischen Antike zu befreien (eine gute Idee) und die Künste am Hof von Louis le Grand über alles zu bejauchzen (keine gute Idee), führt sich das Urteil ad absurdum. Achtens. Damit stelle ich die wichtige Frage: Was nützt ein ästhetisches Urteil wirklich? Was nützt es mir, wenn geurteilt wird, Mozart sei ein größerer Komponist als Stamitz, und Beethoven bedeutender als Diabelli? Vergrößert das ästhetische Urteil den Kunstgenuss? Ich höre zum Beispiel Hummels Klavierkonzerte op. 85 und op. 89 sehr gerne; was nützt es diesem Genuss, wenn ich weiß, dass Chopin Bedeutenderes komponierte als Hummel? Wenn man das harte Urteil der Musikgeschichte zugrunde legt, sagt mir das Urteil, dass mein Genuss von Hummels beiden Piano Concerti weniger wert sei als mein Genuss von Chopins beiden Klavierkonzerten. Nimmt man das Urteil ernst, kann es dem Genuss abträglich sein – abträglich der gesamten populären Musik, den Alltagserfahrungen mit der gebauten Umgebung, den Wohngegenständen und schließlich auch der Naturerfahrung. Ich sage nicht: Die historisch gewachsenen Urteile sind prinzipiell falsch. Ich frage: Welchen Sinnwert besitzen ästhetische Urteile, wenn man die ästhetische Erfahrung ins Zentrum des Ästhetischen platziert? Ich stelle mit Nachdruck die Sinnfrage jetzt innerästhetisch, nicht nur im Angesicht der zutiefst relativen Globalästhetik; das ohnehin. Betont man als ästhetisches Desiderat nämlich die Erfahrung wie hier in den drei Erfahrungskapiteln, erübrigt sich das kompromisslose ästhetische Urteil.

Götterdämmerung des ästhetischen Urteils | 107

Neuntens. Ich reflektiere die Grenzen des ästhetischen Urteils. Das ästhetische Urteil gab sich nie anders als objektorientiert, nie partizipatorisch. Nur die Kunstgegenstände rücken in das Blickfeld des Urteilens. Das ästhetische Urteil vermag den weiten Bereich der Alltagsästhetik überhaupt nicht zu würdigen, denn den Alltag erfahren wir unmittelbar, rein subjektiv. Ein ästhetisches Urteil vermag die Gegenstände, die uns umgeben, überhaupt nicht zu erfahren und darum auch nicht in ein Urteil zu münzen. Es sind nicht die »richtigen« Objekte, da ihnen die metaphorische Ebene weitgehend »fehlt« – fehlt in Anführungszeichen. Von der Warte des hohen Urteils aus missmutig betrachtet gelangen die Alltagserfahrungen gar nicht ins Blickfeld des ästhetischen Urteils. Das ästhetische Urteil geht von bestimmten, möglichst kontemplativen Voraussetzungen aus, mit denen die Betrachter/innen, Hörer/innen, Leserinnen und Leser das Kunstprodukt zu würdigen haben. Sonst entfällt das ästhetische Urteil. Dieses ist unfähig, ästhetische, aber alltägliche Tätigkeiten zu bewerten, weil sie aus dem Betrachtungsschema des Urteilsvorgangs herausfallen. Das Urteil lässt sich nicht auf die Alltagsästhetik anwenden. Ein reiches ästhetisches Erfahrungsfeld, das ich im Kapitel Ästhetische Erfahrung I: Alltagsästhetik skizzieren werde, wartet darauf, beschrieben und gewürdigt zu werden. Es wartet nicht auf ein dafür irrelevantes ästhetisches Urteil. Die alten, nur auf Kunstprodukte bezogenen Kriterien der Urteilsfindung haben sich überlebt. Das alte Urteil leidet an der Normativität und sieht sich selbst dem Verdacht ausgesetzt, dieses »sonderbar Ding«, die Zeit, aus den Augen verloren zu haben. Den alten Zopf der Urteilsästhetik gilt es mit schnellem Schnitt abzutrennen. Zehntens. Gerade in Krisenzeiten wie heute in der beginnenden ökologischen Makrokrise empfiehlt es sich, vom ästhetischen Urteil abzusehen, dem Paradigma der intellektualisierten und realitätsfernen Ästhetik. Man nähere sich der ästhetischen Erfahrung an und darin eingeschlossen: dem ästhetischen Genuss. Eine grüne Ästhetik steht an. Im Kapitel Ästhetische Erfahrung II: Die Natur als Gewesene werde ich mich darum bemühen. Rein innerästhetische Urteile, bei denen es nur um die Beurteilung von Kunstwerken geht, stehen in keinem Bezug zur Naturbewertung. Aufgrund 108 | Götterdämmerung des ästhetischen Urteils

des fortgeschrittenen Zerstörungszustands der Restnatur wird es unumgänglich sein, nicht nur ästhetische Betrachtungs- und Erlebnisweisen, sondern auch ethische Normen auf das Geschehen gegen die Natur anzuwenden. In diesem komplexen Interaktionsprozess von ästhetischen und ethischen Werten hat sich das ästhetische Urteil erübrigt. Es gilt, neue ästhetische Saiten anzuschlagen.

Alternativen zum ästhetischen Urteil Doch pace: Ich verlasse das in die Jahre gekommene ästhetische Urteil nicht, ohne in der Folge ein paar Alternativen oder neue Strategien anzusprechen. Sie mögen die schonungslose Kritik am ästhetischen Urteil, hoffe ich, ein wenig abmildern. Erste Alternative

Das ästhetische Urteil, ein Qualitätsurteil über künstlerische Güte, setzt voraus, dass die oder der Urteilende wissen will, was gute oder beste Kunst darstellt. Wer wissen will, alles wissen will, denkt und fühlt innerhalb des kartesischen Paradigmas der wissenschaftlichen Vernunft. In der Ästhetik folgt man unreflektiert diesem Paradigma. Ein anderes Paradigma ist aber möglich und sollte nicht ab ovo ausgeschlossen werden: Montaignes skeptisches Paradigma. Verhält man sich offen, wie man es von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern erwarten würde, also vorurteilsfrei, und lässt man dieses Paradigma für die Ästhetik gelten, bedeutet das die Akzeptanz des relativen Nichtwissens in der Ästhetik bzw. in den Künsten. Denn in ihnen geht es nicht um Epistemisches, sondern um die ästhetische Erfahrung. In der Kunst gehört ein gewisses Schweben, ein Changieren zwischen Ausdruck und Bedeutung dazu, eine Unbestimmtheit, die in den vielfach möglichen Interpretationen gründet. Auch die Subjektivität des ästhetisch Erfahrbaren lässt weite Spielräume zu, lässt gerade nicht festgelegte Erlebnisse zu, die sich der Normativität sperren. Wahrheitsaussagen treffen bei der Ästhetik nicht zu. Sie gehen am Kern des Ästhetischen vorbei; und versuchten die analytischen Philosophinnen Götterdämmerung des ästhetischen Urteils | 109

und Philosophen noch so viele logische Argumente für dies und gegen jenes anzubringen: Sie haben nicht akzeptiert, dass ihre Argumentationsweisen mithilfe der formalen Logik am Ganzen des Ästhetischen nichts auszurichten vermögen. Man muss ein gewisses Unwissen in der Ästhetik akzeptieren: von Harmonie und Disharmonie, von vielfältigen Bedeutungen und vielfältigen, subjektiv radikal verschiedenen Erlebnisarten. Damit rede ich keineswegs einer ästhetischen Mystifikation das Wort, wie im ersten Kapitel besprochen. Natürlich stößt die Akzeptanz an ihre Grenzen, wo es etwa in der Naturästhetik um die Degradation der Natur geht, aber das sind ethische Grenzen. Rein ästhetisch hingegen muss ich niemanden von meinen Präferenzen überzeugen. Ich akzeptiere die Subjektivität der/des anderen, anders als ich zu präferieren, ein anderes verdict auszusprechen, Beyoncés Songs den Liedern Schuberts vorzuziehen oder Ragas statt Brahms. Ein derartiger Vergleich wäre Äpfel mit Birnen verglichen. Sie schmecken beide gut. Dieser Respekt vor anderen ästhetischen Erfahrungen, Erlebnissen, Begeisterungen und Ablehnungen drückt sich durch Akzeptanz aus. Sie ist identisch mit ästhetischer Tole­ ranz – eine Voraussetzung für transkulturelle Ästhetik. Denn andere, nichteuropäische Kulturen werden nicht vom kartesischen Paradigma getrieben. Sie akzeptieren das Anderssein leichter als die kartesisch dominierten, westlichen Menschen. Es wird Zeit, auch in der Ästhetik die zurückhaltende, aber grundlegende Lektion von der ästhetischen Akzeptanz – zu akzeptieren. Zweite Alternative

Wie kann man ästhetische Wertungen qualifizieren, ohne andere Wertungen mit Urteilen abzuqualifizieren oder sich über andersartige ästhetische Erfahrungen zu erheben? Der Ersatzbegriff als Richtschnur müsste neutraler Natur sein. Auch müsste er auf östliche Kulturen anwendbar sein, ohne deren Eigenart zu verletzen. Er müsste etwas wertfrei aussagen, wobei diese Aussage jedoch von Respekt getragen sein müsste. Nach langem Nachdenken bin ich auf einen Begriff gestoßen, der all diese Minimalkriterien erfüllt: die ästhetische Komplexität. 110 | Götterdämmerung des ästhetischen Urteils

Das ästhetische Urteil beurteilt rigoros, entwertet somit andere Kunstprodukte und will überzeitliche Gültigkeit besitzen. Bestenfalls kann es dem ästhetischen Erleben nur punktuell nützen. Der Begriff der ästhetischen Komplexität – weder auf Alltagsgegenstände noch auf die Natur applikabel –, eine sehr relative Qualifizierung, drückt das Fluidum der Kunstprodukte besser aus als ein Urteil. Dieser neutrale Begriff will vage sein und macht eine nicht genau bestimmbare Aussage über ein Kunstwerk aus. Die Hindustani Ragas, das indonesische Puppenspiel mit Gamelan-Musikbegleitung, die traditionelle chinesische Oper, die japanisch-schlichte Koto- und Shaminsen-Musik sowie westliche Symphonien sind musikalische Ausdrücke von ästhetischer Komplexität – komplexer als das im 19. Jahrhundert beliebteste Klavierstück in Deutschland, das Gebet einer Jungfrau. Die ästhetische Komplexität sagt wie das Urteil nichts über das ästhetische Erleben aus, weil es nicht wertet. Es stellt lediglich fest. Vermeers Das Milchmädchen besitzt nicht die ästhetische Komplexität von Vermeers Die Malkunst mit ihren vielfältigen reizvollen Bezügen; aber die Küchenmagd mit dem Thema der schlichten Würde der Küchenarbeit gefällt mir weitaus besser, ich werte es für mich höher als Vermeers wesentlich komplexeres Bild seines Ateliers mit der Allegorie der Historie. »­Ästhetische Komplexität« erlaubt eine wertfreie Minimalqualifizierung. Während bekanntlich das ästhetische Urteil Allgemeingültigkeit für sich beanspruchte, schränkt sich der neutrale Begriff der ästhetischen Komplexität von selbst ein: Er gilt bedingt, nicht unbedingt, ist extrem eingeschränkt in seiner Aussagekraft und genau genommen kontingent in der Ästhetik, nicht-notwendig, um Kunst zu verstehen und nichts als eine fundamentale Feststellung. Ein offener, nichtnormativer, jedoch demokratischer Begriff. »Ästhetische Komplexität« will gerade keine Werte verleihen. Ästhetisch komplexe Kunstprodukte sind anders als schön empfundene Alltagsgegenstände wie eine Vase, anders als die Natur. Nicht besser. Westliche Werttheoretiker gehen, ganz traditionell, von einer hoch gewerteten Werterfahrung mit Kunstwerken aus. Es gibt jedoch Milliarden von Werterfahrungen, die alle verschieden sein können. Alltagserfahrung ist eine reine Kontexterfahrung mit Werten-für-mich, ebenso die Naturerfahrung. Götterdämmerung des ästhetischen Urteils | 111

Abb. 2:  Johannes Vermeer, Das Milchmädchen (auch: Die Küchenmagd), ca. 1660

Abb. 3:  Johannes Vermeer, Die Malkunst (auch: Das Atelier des Künstlers), 1666/1668

Die neutrale Feststellung der ästhetischen Komplexität genügt allein nicht, um Kunstprodukte zu charakterisieren. Es wird nur ein Minimum und dazu nur über intentionale Werke, also Kunstprodukte, etwas ausgesagt. Daher schlage ich eine dritte, diese ergänzende Alternative vor. Dritte Alternative

Ich gehe realistischer- und pragmatischerweise davon aus, dass die nach mir kommenden Ästhetiktheoretiker das altvertraute Urteilen, eines ihrer schwergewichtigen Instrumente, schlichtweg nicht lassen können. Daher greife ich Robert Steckers Unterscheidung von ästhetischem Wert (aesthetic value) und künstlerischem Wert (artistic value) auf. Ein ästhetischer Wert wäre ein Wert erster Ordnung, der nicht von anderen Werten konstituiert wird, während der künstlerische Wert ein Wert zweiter Ordnung wäre, der durch andere Werte bestimmt wird. 64 Den ästhetischen Wert suchen wir permanent in den Kunstprodukten. Der ästhetische Wert ist in sich wertvoll. Er findet sich in Kunstwerken, in Alltagsgegenständen und in der Natur. Den ästhetischen Wert erfahren wir, die Rezipientinnen und die Rezipienten, nicht nur perzeptuell, sondern auch durch die Erfahrung des Lesens. Den künstlerischen Wert kann man erfahren und beurteilen, wenn man die einzelnen Werte eines Kunstprodukts analysiert: die Gesamtkomposition, die Farbwahl, die Einbettung in die eine bestimmte Tradition oder den Traditionsbruch, die Innovation, den ikonografischen Kontext, den Stil und die Ausführung etc. Der ästhetische Wert konzentriert sich also auf Formen, Qualitäten und Bedeutungen, 65 während künstlerische Werte bild-, werk- oder traditionsimmanenter Natur sind, die wir daher spezifisch, von Fall zu Fall, mit einem künstlerischen Werturteil beurteilen können. Mithin gehe ich über Stecker hinaus und siedle den künstlerischen Wert und somit das künstlerische Urteil im fachspezifischen Bereich der Musikbewertung, der Kunst- und Literaturbewertung, bei der Kunst- und Literaturwissenschaft an. Künstlerische Urteile sind fachspezifische Urteile, wogegen ich keine Einwände erhebe. Allerdings sind, wie auch Stecker betont, die Grenzen zwischen 114 | Götterdämmerung des ästhetischen Urteils

ästhetischen Wertsetzungen und künstlerischen Urteilen fließend. Diese prinzipielle Unterscheidung von ästhetischen Werten und künstlerischen Werten, die zu einem künstlerischen Urteil führen können, vermag vielleicht hilfreich sein, um vom ästhetischen Urteil abzusehen. Das künstlerische Urteil als ein spezifisches, nachvollziehbares Urteil würde das ästhetische Urteil im Prinzip überflüssig machen. Der ästhetische Wert wäre in der ästhetischen Erfahrung beheimatet. Vierte Alternative

Die Entscheidungstheorie (Choice Theory) weist einen interessanten Weg, wie man sich in einem Lern- und Genussprojekt ästhetische Kompetenz aneignet, ohne Urteile zu fällen. Ästhetische Entscheidungen sind »small choices« mit niedrigen Einsätzen. 66 Den Entscheidungen heutzutage, in unserer »stream­ ing culture«, fehlen klare Zielvorgaben, fehlen Hierarchien, wobei die schnell wechselnden Emotionen und die Schwäche gegenüber »framing effects« (wie ein Museum) die Entscheidungen beeinflussen. 67 Geordnete Entscheidungen sind heute selten, sie sind, wie Bettman herausfand, »disorderly«, 68 in Bettmans Worten »contingent«. Melchionne betont: Konsumentenentscheidungen ähneln von der Struktur her ästhetischen Entscheidungen. Rahmen, in dem ästhetische Entscheidungen fallen, spielten eine entscheidende Rolle, zum Beispiel in Museen oder in angesagten Kunstausstellungen. 69 In diesem ästhetischen, mentalen und emotionalen Chaos fand Ullmann-Margalit Entscheidungsformen heraus, die grundlegend seien: opting (optieren für), picking (aussuchen) und choosing (auswählen). Optieren denotiert größere ästhetische Entscheidungen, die oft irreversibel sind wie ein Tattoo; picking sei oft eine momentane Entscheidung und völlig arbiträr; und schließlich auswählen, ein Vorgang zwischen diesen beiden Polen. Jede Auswahl könne zu zukünftigen Entscheidungen führen, die Bestand hätten.70 Melchionne nennt dieses zukunftsweisende ästhetische Projekt drift, was man mit Tendenz oder Richtung übersetzen könnte. Indem wir in der Tendenz ästhetisch auswählen und immer mehr Götterdämmerung des ästhetischen Urteils | 115

auswählen, sammeln wir in einem Lernprozess Kompetenz(en). Kleine Entscheidungen, die aus unserer ästhetischen Autonomie heraus vielfach gefällt werden, können sich mit der Zeit kumulativ und wertend zu einem Kompetenzprojekt heranwachsen.71 Melchionne nennt diese Ganzheit Plan oder Projekt. Er schlägt vor, Listen anzufertigen, was mir ein wenig gewollt erscheint; aber das sei jedem überlassen. »Through plans, choices can lead to acuity of discernment in one area or another. Our interests and satisfactions grow into competency and discrimination in genres, movements, and artists.«72 Einzeln bleiben ästhetische Entscheidungen unbedeutend, gebündelt und mit immer tiefergehenden Reflexionen vermag diese »Tendenz« Früchte zu tragen, die wiederum persönlichkeitsfördernd sind. Melchionne spricht von einem lebenslangen Lernprozess, der aus vielen Einzelprozessen bestehen mag, ein Prozess der Kompetenzerweiterung. Dieser Prozess kommt ganz ohne starre Urteile aus. Denn im Kontext eines Kompetenzprozesses erübrigen sich Urteile. Sie hätten ohnehin keinen Bestand. Das drift-Projekt der Entscheidungstheorie könnte eine sinnvolle Alternative zur Urteilsästhetik darstellen. Die Entscheidungen drücken sich aus als persönliche Wertschätzungen, die sich über einen Zeitraum in ästhetische Werte verwandeln können. Fasse ich die Ergebnisse dieses Kapitels zusammen, lautet das Fazit: Ästhetische Urteile sind möglich, aber sie stehen aus verschiedenen Gründen auf wackeligen Füßchen. Ästhetische Urteile, obwohl möglich, sind nicht länger wünschenswert, schon allein aus globalästhetischer Perspektive. Mehrere Alternativen zum ästhetischen Urteil wurden angeboten. Gerade in Krisenzeiten möge man das Augenmerk vom alten ästhetischen Urteil auf anderes richten. An erster Stelle steht die ästhetische Erfahrung: dessen, was Alltag, Natur und Kunst uns in krisenhaften Zeiten ästhetisch und subjektiv schenken können.

116 | Götterdämmerung des ästhetischen Urteils

DIE RÜ CK K EHR DER SCHÖNHEIT Die Schönheit ist eine Falle. Man nähere sich ihr vorsichtig, dieser Vielgesichtigen mit ihrer Fallgrube aus Oberflächenblendung, aus Gedankenlosigkeit, aus allzu großen Worten und somit allzu großen Erwartungen, aus ins Unmäßige gesteigerten Attributen; und natürlich aus Heilserwartungen und schließlich aus Erhabenheitsattributen.

Schönheitsfallen Im Lauf der Schönheitsuntersuchung werde ich all diese Themen behandeln. Mit drei Fallen, in die man unvermittelt stolpern kann, möchte ich sogleich aufräumen. Die erste, eine essentialistische: Ich rede von »Schönheit« und nicht von dem Schönen, denn »das Schöne« suggeriert ein »Wesen« der Kunst, das nicht existiert, wie im ersten Kapitel dargelegt. Ein »Wesen« impliziert ein quasi-platonisches Ideal der Kunst, nach dem man nur tüchtig suchen müsse, um es zu finden. Kunst besitzt kein Heidegger’sches »Wesen«. Der Schönheit inhäriert keinerlei »Wesen«. Damit zusammenhängend die zweite Sofort-Falle: Schönheit ist ein ästhetisches Thema unter vielen. Die Ästhetik ist nicht identisch mit dem Schönheitsthema. Dazu später mehr. Die dritte unmittelbare Falle: Das traditionelle Dreigestirn des Schönen-Wahren-Guten, also die platonisch-ideelle Einheit von Schönheit (Kunst) und Erkenntnis und Moral hat nichts in einer zeitgemäßen Ästhetik zu suchen. Die ideelle Setzung einer falschen Dreieinigkeit zerstört die ästhetische Eigenart, indem sie die Kunst (Schönheit) ideell perspektiviert, zu Höherem beruft, emporhebt und somit mystifiziert. Um ästhetische Mystifikationen soll es hier aber nicht gehen. Dennoch kommt man um die Schönheit nicht herum, wenn man sich mit ästhetischen Problemen auseinandersetzt. Denn die Erfahrung von dem, was man als Schönheit empfindet – und 117

nichts anderes ist hier mit dem ungenauen Begriff »Schönheit« gemeint – gehört zu den Grundbedürfnissen des Menschen. In einem Interview gefragt, ob Schönheit Luxus sei, antwortete Semir Zeki: »Nein. Schönheit ist lebensnotwendig. Wann immer Sie Schönheit empfinden, betrifft diese Erfahrung einen großen Teil ihres emotionalen Gehirns.«1 In der durch Abraham Maslow 1970 erweiterten Bedürfnispyramide bilden die ästhetischen Bedürfnisse die dritthöchste Stufe. Küster fügt hinzu: »Diese Stufe ist auch durch das Streben nach Schönheit geprägt.«2 Arthur Danto und viele andere Ästhetiker gelangen zum gleichen Ergebnis: Kein Menschsein ohne die Erfahrung, die wir als Schönheit empfinden. 3 Sie bleibt für uns konstitutiv, und nicht nur, weil sie ein kleines Feuerwerk im limbischen System verursachen – kann. Schönheit vermag uns ein Leben lang zu begleiten und uns immer wieder wunderbare ästhetische Genüsse zu bereiten, wie bei Howard Carters erstem Blick auf die Grabbeigaben Tutanchamons: »Ich sehe wunderbare Dinge.« Schönheit kann wie in diesem Fall überraschen oder sich erst nach einer Weile der vertieften Erfahrung einstellen, wie etwa bei Strawinskys Sacre du printemps. Mir hat der Sacre auf Anhieb nicht gefallen. Erst später lernte ich die eigenartige Schönheit dieser Komposition lieben. Wie der Evolutionsbiologe Chatterjee betont: Kunstwerke, die wir als schön empfinden, sprechen ein anderes Emotionsniveau im Beobachter an als die schlichte Wahrnehmung eines Objekts.4 Schönheit kann, muss aber keineswegs ein wenig überwältigen. Ich schreibe: ein wenig, denn dem Schwärmerischen möchte ich ab ovo vorbeugen. Mit Ekstasen dient man der ästhetischen Theorie nicht. Schönheit kann blenden, gewiss; sie kann Armut, Elend und ökologische Zerstörung übertünchen. Doch sie kann auch als Widerstand gegen die Zersiedelung der Landschaft, gegen die Hässlichkeit einer hochtechnologischen Gesellschaft, gegen die Plastikvermüllung der Landschaften und der Meere gelesen werden; eine schwächliche Gegenkraft gegen die Weltzerstörung und die durchchemisierte Plantage Erde. Gleich also eine Warnung: Man erwarte nicht zu viel vom Schönheitserleben.

118 | Die Rückkehr der Schönheit

Das Verschwinden der Schönheit Die Schönheit verschwand sogar fast einhundert Jahre, bis in die Gegenwart, aus der ästhetischen Diskussion. Man kann allmählich, seit den 1990er Jahren, vor allen Dingen in den USA, von einer Rückkehr der Schönheit in die Theorie sprechen. Elaine Scarrys On Beauty and Being Just5 von 1999 gilt als Meilenstein. Charles Mar­ tin­dale nannte 2005 als Erster lateinische Gedichte »beautiful«. 6 Der Kunstkritiker Dave Hickley berichtet von regelrechten Anfeindungen in den späten 1980er Jahren, als er sich zur Schönheit bekannte.7 Denis Donoghue zählt 2003 in Speaking of Beauty die damaligen Gegner der Schönheit auf. 8 Wie kam es zu dieser ein Jahrhundert währenden Feindschaft gegen die Schönheit? Dazu muss man weit zurückgehen und den Schönheitsbegriff historisieren, um die vorsätzliche Abkehr von der Schönheit zu verstehen. Die Schönheit geht theoretisch auf Platon zurück. Tatsächlich muss sie schon lange vorher implizit, als selbstverständlich zur Kunst gehörig angesehen worden sein, denn der platonische Dia­ log Hippias maior endet ergebnislos mit dem sokratischen Zitat ­eines griechischen Sprichworts: »Das Schöne ist schwer.«9 In der Tat. Im Gastmahl wird Platons Theorie des Schönen explizit mit dem Körperlich-Erotischen verbunden.10 Wie Konstan ausführt: Es gibt zwei altgriechische Schönheitsbegriffe. Kalós meint Schönheit in einem besonderen Kontext oder im Sinn von »gut gemacht«. To kalón bedeutet schön in einem allgemeinen Sinn.11 Kállos jedoch bezieht sich auf körperliche Schönheit und ist ohne Begehren nicht denkbar, besitzt aber auch eine umfassendere Bedeutung.12 Das ästhetische Ideal der westlichen Welt blieb für fast zweieinhalbtausend Jahre to kalón. In der Renaissance feierte das neoplatonische und plotinische Kalón-Ideal einen weiteren Höhepunkt. Raffaels Kunst wäre ohne Ficinos neoplatonische Theorie undenkbar. Ohne hier ins Detail gehen zu können, blieb die enge Verzahnung von Kunst mit ihrem Zentralthema Schönheit bis hinein ins 19. Jahrhundert gültig. Diese Verknüpfung galt als implizit und wurde nicht hinterfragt. François Jullien legte offen, warum die Einheit von Kunsttheorie und Schönheit als gegeben vorausgesetzt wurde. Die einzigDie Rückkehr der Schönheit | 119

artige Stellung der Schönheit in der Kunst hing eng mit der euro­ päischen Metaphysik zusammen: Die Schönheit war notwendig, um im Dualismus, der die gesamte abendländische Philosophie bis hinein ins 20. Jahrhundert durchzog, zu vermitteln. Das Schöne (hier benutze ich den Begriff essentialistisch, weil er jahrhundertelang so verstanden wurde) war Werkzeug, um als sinnlich Wahrgenommenes der Metaphysik bei der Installierung des Idealen zu dienen.13 Typisch dafür Schiller: »Durch die Schönheit wird der sinnliche Mensch zur Form und zum Denken geleitet.« Und umgekehrt, »durch die Schönheit wird der geistige Mensch zur Materie zurückgeführt, und der Sinnenwelt wiedergegeben«.14 Überhaupt verlieh man dem Schönen eine Schlüsselstellung in der westlichen Kulturtradition seit Platon: Ihm wurde in vielen Theorien die Rolle als erkenntnistheoretische Vermittlerin zwischen Sinnlichkeit und Denken zugewiesen, zwischen der post-kartesianischen res extensa und der res cogitans. Bei Descartes besaß die Hypophyse im Gehirn noch diese Vermittlungsfunktion, schon um 1620 eine wenig überzeugende Erklärung. Die Vermittlungsinstanz des Schönen verleiht diesem also eine Funktion, die im Prinzip nichtästhetischer Natur ist. Die ästhetische Eigenart rückte damals noch nicht in den Fokus der Theorie. Die Form wurde der wie auch immer gearteten »Materie« gegenübergestellt. In Julliens Worten: »Vermittelst der Form geistert das Schöne durch die Welt, ohne sich in ihr zu kompromittieren – vielleicht sogar ohne sich in sie zu integrieren.«15 Hier liegt die Quelle von Kants interesselosem Wohlgefallen. Das Schöne besaß in Europa ein hohes Ansehen, nicht nur als erkenntnistheoretische Vermittlerin des Sinnlichkeit-Geist-Dualismus, sondern auch »deshalb, weil es als letzte Bühne für das glückliche Leben dient …«16 Die herausragende Stellung des Schönen in den Künsten und in der Theorie klappte spätestens im 20. Jahrhundert in sich zusammen. Die Moderne trat ihren Siegeszug an, präfiguriert durch die Vormoderne. Ich setze deren Beginn um 1850 an. Die britischen gothic novels und Poes ver-rückte Welten manifestieren die ersten Risse in der bürgerlichen Seinswahrnehmung, gefolgt vom ersten prämodernen Roman, Melvilles Moby-Dick, or The White Whale von 1851. Für die Fotografie, ab 1839, spielte Schönheit keine vordringliche Rolle mehr. Prämodern sind Bau120 | Die Rückkehr der Schönheit

delaire und Rimbaud zu nennen mit ihrer Ästhetik der Negativität, zeitgleich der Beginn des großen realistischen Romans mit Balzac, Stendhal, Flaubert und Zola. Für die Realisten ging es um Wahrhaftigkeit, nicht um Schönheit. Der Impressionismus löste die traditionelle Bildfläche auf in Lichteinheiten, selbst präfiguriert von Turner. Am weitesten ging Cézanne, der am Ende seines Lebens beinahe abstrakt malte und mit seinen kleinen Flächeneinheiten den Kubismus präfigurierte. Van Goghs ausdrucksstarke Bilder hingegen wiesen voraus auf den Expressionismus des 20. Jahrhunderts. Wagner entwickelte die traditionelle Funktionsharmonik weiter; fast sprengte er sie. Die Prämoderne soll nicht darüber hinwegtäuschen, dass das 19.  Jahrhundert von der Schönheit geradezu beseelt war und es Schriftstellern, Künstlern und Komponisten oblag, Schönes zu erzeugen, das ein dankbares bürgerliches Publikum aufsog. Kein Zufall, dass der Ausdruck les beaux arts aus dem 19. Jahrhundert stammt. Heftige Gefechte um die schönsten Kunstwerke wurden geliefert, für uns Heutige kaum noch nachvollziehbar. Ein Beispiel: Jahrzehntelang bekriegten sich die »Brahmsisten« und die »Wagnerianer«, mit dem Hauptvertreter der Programmmusik, Richard Wagner selbst. Nach 1900 setzte die Moderne ein mit einem Knall. Inner­ästhe­ tisch entstand sie zum einen aus den Auflösungsformen, die sich seit 1850 manifestierten. Zum anderen entwickelte sich die Moderne aus der Reaktion auf die Schnörkel der Ornamentik, auf die Schwere, auf den Historismus in Malerei, Architektur und Design und das ästhetisch unbefriedigende Wiederkäuen vergangener Kunstformen; auch als Reaktion auf die bürgerlich-gesättigte Besessenheit mit der Schönheit. Die dröge Schwere der bleiernen Tradition lastete um 1900 auf den jungen Kulturschaffenden. Dazu gehört unmittelbar das tonnenschwere Schönheitsideal. Außer­ ästhe­tisch entsprach die aufgestaute Moderne der neuen, dynamischen Industriegesellschaft, in der sich alle Lebensformen rasant verwandelten, wie Philipp Blom eindringlich beschrieb.17 Wie dargelegt entstand die Moderne nicht aus dem Nichts. Dennoch möchte ich von einem Mentalitätswandel um 1900 sprechen, der so vieles veränderte und der selbst vom gesellschaftlichen Wandel getrieben wurde. Um Voltaire zu paraphrasieren: Hätte es die Die Rückkehr der Schönheit | 121

Moderne nicht gegeben, man hätte sie erfinden müssen. Die Zeit war überreif für eine radikal neue Kunst. Die Moderne veränderte im Kontext dieses Kapitels auch das unhinterfragte, gesättigte Schönheitsempfinden des bürgerlichen 19. Jahrhunderts, das immer brüchiger geworden war und das 1914 in The Great War mündete. Jedes avantgardistische Manifest der Moderne schrie geradezu einen ästhetischen Neuanfang herbei: ein Abgesang auf die bürgerliche Harmonie und deren faulendes Schönheitsideal, aus der Sicht der Dadaisten, Futuristen, der Blauen Reiter und Kubisten und DeStijl-Jünger. Beispielhaft führe ich Marinettis futuristisches Manifest an, 1909 in Le Figaro veröffentlicht: »Except in struggle, there is no more beauty. No work without an aggressive character can be a masterpiece. Poetry must be conceived as a violent attack on unknown forces …«18 Die futuristische Lobpreisung von Geschwindigkeit, Kampf, Krieg, Militarismus und Frauenverachtung teilten die wenigsten. Dass aber die bürgerlichen Werte und somit deren Kunstprodukte der Negation ausgesetzt wurden, darin war man sich einig. Paradigmatisch die Worte des britischen Abstraktionskünstlers Percy Wyndham Lewis der Vortex-Gruppe von 1914: »Our Vortex is not afraid of the Past: it has forgotten its existence  … The Future is distant, like the Past, and therefore sentimental  … The new vortex plunges into the heart of the Present.«19 Zwei Jahre später, 1916, gründete sich in Zürich die Dadaismus-Bewegung als Stimme gegen den Krieg und gegen die bürgerlichen Werte; oder mit Tristan Tzaras Worten: »A work of art should not be beauty in itself for beauty is dead …«20 Streng genommen begann die Moderne schon vor 1900, mit dem Anti-Bürgerschreck Ubu Roi von Alfred Jarry und der ersten öffentlichen Premiere von 1896. Im Gefolge von Cézanne malte Picasso 1907 Les Demoiselles d’Avignon, das erste kubistische Bild, das ein neues Sehen forderte. Ein doppelter Affront: eine völlig neue Malerei und dazu noch Prostituierte aus der Pariser Rue d’Avignon, wo sie ihrem Gewerbe nachgingen. Marcel Duchamps Roue de bicyclette von 1913 gilt als das erste Beispiel von Concept Art. Für Schönheit hatte Duchamp nur Spott übrig. In seinem berühmten Aufsatz von 1948, The Sublime is Now, betont Barnett Newman, die amerikanischen Künstler, frei vom 122 | Die Rückkehr der Schönheit

Gewicht der europäischen Kultur, »are finding an answer, by completely denying that art has any concern with the problem of beauty and where to find it«.21 Da Schönheit dem absoluten Tabu anheimfiel, wertete Newman seine Kunst und die seiner zeitgenössischen Informellen als »sublime«, als erhaben. Das bürgerliche Publikum reagierte zuerst und viele Jahre lang mit Empörung auf die Moderne. Als Roger Fry seine großen Ausstellungen postimpressionistischer Kunst 1910 und 1912 in der Londoner Grafton Gallery organisierte, war das Publikum erzürnt nicht nur über den Mangel an mimetischer Ähnlichkeit mit der Realität, sondern auch über das offensichtliche Fehlen von Schönheit. Fry versuchte dem Publikum geduldig beizubringen, dass eine neue Schönheitserziehung notwendig sei, um neuartige Kunstwerke zu genießen.22 Genau genommen existiert die Moderne nicht, sie ist ein theoretisches Konstrukt post rem mit völlig divergierenden Bestrebungen. Die Moderne eint nur das Bestreben nach neuen Ausdrucksweisen, die Ablehnung vieler (verlogener), wenn nicht aller bürgerlichen Werte – und die Ablehnung von Schönheit. Diese sei überholt. Je genauer man hinschaut, desto schwieriger wird es, die Moderne adäquat zu erfassen. Zum Beispiel wird der appell à l’ordre der 1920er Jahre (man denke an Picassos »klassische« Periode) nicht von dieser meiner Einteilung erfasst, die nur bedingt die bildenden Künste beschreibt: 1900–1914  die Urmoderne oder Spirituelle Moderne; 1913/14–1939  die Experimentelle Moderne; 1945–1965  die Informelle Moderne; 1965–1990  die Pop-Moderne; seit ca. 1990  die Digitale Moderne. Zur Digitalen Moderne, in der wir uns jetzt befinden, wird noch einiges zu sagen sein. Ich halte hier nur fest: Ein noch schwammigerer Begriff für die Jetzt-Zeit wie »Postmoderne« besitzt kaum Aussagewert und ist darum abzulehnen. Die Künstler/innen, Schriftsteller/innen und Komponisten/ innen der Moderne konzentrierten sich auf ganz andere Themen und Formen als Schönheit. Die divergierende Moderne kennzeichnet: Anti-Mimesis (Kubismus, informelle Kunst), Ästhetik der Hässlichkeit, des Affronts und des Protests (Dada, Surrealismus), Die Rückkehr der Schönheit | 123

Kunstprodukt als Zufall (Bretons automatisches Schreiben, Readymades, Arte Povera), die serielle Produktion, präfiguriert in Monets Serienmalerei, Concept Art seit Duchamp und somit der neue ontologische Status von Kunst mit dem Höhepunkt von Warhols Pop-Art und der Ausweitung der Kunst in Alltagsbereiche. Einig war man sich in der Irrelevanz und Ablehnung von Schönheit. Doch diese schlug vielen Künstlern, Schriftstellern und Komponisten ein Schnippchen, denn nicht wenige modernistische Kunstwerke kann man heute als »schön« empfinden: die Formstrenge des Bauhauses, Matisses Landschaften und Interieurs, T. S. Eliots »schöne« Metaphern in Waste Land, 23 Prousts genaue und einzigartige Beschreibungen psychischer Zustände und die meditativen Farbfelder von Mark Rothko. Olga Viso24 führt etliche Beispiele aus der zeitgenössischen Kunst an. Als schön bezeichnet sie: Gerhard Richters Seestücke und Landschaften, die auf nüchterne Weise sich gegen die Verklärung unserer Naturauffassung richten. Seine Landschaften seien, sagt Richter in einem Interview, nicht nur schön, sondern auch verlogen, »und mit verlogen meine ich die Verklärung mit der wir die Natur ansehen«.25 Danto findet Jeanne-Claudes und Christos Running fence in Kalifornien »schön«. Viso diskutiert auch James Turrells Licht- und Natur­ installationen und Sugimoto Hiroshis kontemplative Meeresfotos. Überhaupt die modernistische Fotografie: Die Pariser Periode von André Kertész von 1925–1936 birgt eine Schatztruhe an schönen Fotografien. Zwei Beispiele: Hand und Brille von Paul Arma, 1928, oder die perfekte Komposition à la Mondrian Bei Mondrian, 1926. Im Gegensatz zum Neuen Sehen im deutschen Sprachraum, das sich extrem sozialkritisch orientierte, richteten sich die Fotografinnen und Fotografen der noch immer unterschätzten Nouvelle Vision (Paris 1920–1940) an einer neuartigen Darbietung von Schönheit aus: unter anderen Laure Albin Guillot, Ilse Bing, Dora Maar, Gisèle Freund, Berenice Abbott, Roger Parry, Marianne Breslauer, Annelise Kretschmer, Germaine Krull, Ergy Landau, Yvonne Chevalier, Pierre Boucher, Emmanuel Sougez, Florence Henri und die wunderbaren, stimmungsvollen Pariser Nachtaufnahmen von Brassaï und Gaston Paris. Von der Fotografie zum Film: Kann man sich schönere Filme vorstellen als Bergmans Wilde Erdbeeren oder Kubricks Barry Lyndon? Vom Film zur Installation: Dan Flavins 124 | Die Rückkehr der Schönheit

Neonröhreninstallationen empfinde ich als schön; und das sind nur einige wenige Beispiele aus der Moderne. Mit anderen Worten gelang es den Modernisten nicht, das schöne Kind ganz mit dem Bade auszuschütten, im Gegensatz zur Aussage von Howard Gardner.26 Doch gegen Ende des 20. Jahrhunderts steigerte sich die Ablehnung der Schönheit sogar zur Feindschaft. Noch im Kielwasser des Modernismus schwimmend, wurden in den USA ideologische Political-Correctness-Argumente gegen die Schönheit vorgebracht.

Die Rückkehr der Schönheit Elaine Scarry fasst diese Argumente zusammen und entkräftet sie.27 Das erste Argument lautet: Schönheit lenke ab von »wrong social arrangements«. Schönheit sei, mit anderen Worten, eine Blenderin, die ernste soziale Probleme verschleiere. Das zweite Argument: Wenn wir ein Objekt anstarren und es ästhetisch aufladen, zerstört unser Blickakt das Objekt. Scarry weist nach, dass die beiden Argumente einander widersprechen – und sie sind unsinnig, denn durch das Lesen oder Hören eines Textes oder durch das Anschauen einer Vase würden diese ästhetischen Objekte keineswegs zerstört. Und ob Schönheit von Sozialproblemen ablenke, liege am Individuum und nicht am ästhetischen Objekt, das als schön objektiv gar nicht existiert, sondern erst in der Wahrnehmung als schön empfunden wird. Außerdem muss Schönheit an einem Ort nicht davor blind machen, Armut und soziale Ungerechtigkeit woanders glasklar zu erkennen. Auch leugnen beide Argumente auf verschiedene Weise die ästhetische Eigenart, denn Kunst befasst sich nicht mit Moral. Sie kann damit involviert werden wie etwa bei den großen realistischen Romanen von Stendhal und Balzac, aber das Schöne (essentialistisch ausgedrückt) darf prinzipiell nicht mit dem Wahren und Guten als säkularisierte Trias in eins gesetzt werden. Immer mehr Theoretiker/innen 28 sprachen sich in den späten 1990er und frühen 2000er Jahren für die Wiedereinführung der Schönheit in die geisteswissenschaftliche und ästhetische Diskussion aus.29 Die bisherigen Ausführungen zur Schönheit waren weitgehend deskriptiv und blieben insofern an der Oberfläche des SchönheitsDie Rückkehr der Schönheit | 125

themas. Um zu verstehen, was Schönheit bedeutet, gehe ich in der Folge über zur Analyse der Schönheit.

Analyse der Schönheitsempfindens: Neurowissenschaftliche Basis Was kann uns helfen, Schönheit zu verstehen? Was können wir Grundlegendes über dieses luftige, ephemere Wesen »Schönheit« überhaupt aussagen? Und schließlich: Welche Grenzen besitzen diese Aussagen bzw. diese Theorien für das Schönheitsthema? Wie im Kapitel zur ästhetischen Krise dargelegt, gehe ich von der prinzipiellen Zeichenhaftigkeit der ästhetischen Beziehungen Produzent – Produkt und Rezipient – Objekt aus. Ein Kunstzeichen ist, ganz gleich, wie es beschaffen sein mag, nach Morris ein semiotisches Zeichen. 30 Es muss nicht etwas Bezeichnetes denotieren, wenn das Bezeichnete zum Beispiel einen Zentaur darstellt. Alle Zeichen bezeichnen, müssen aber nicht denotieren. 31 Aber was nützt es der Sache, dies zu wissen? Im Kontext des Schönheitsthemas gibt dieses semiotische Gerüst nur Prinzipielles vor. Im Gegensatz zur Aussage Mukařovskýs erklärt die semiotische Struktur das Ganze eben nicht.32 Die Grenze der Semiotik für unseren Gegenstand liegt in ihrem abstrakten Charakter des Prinzipiellen. Wesentlich konkreter erscheint mir die Neuroästhetik mit ihrem Verortungsergebnis des ästhetischen Erlebens, wie im Kapitel über die Neuroästhetik dargelegt. Vereinfacht gesagt: Nachdem die hauptsächlichen visuellen Zentren V 1 bis V 5 im Okzipitalcortex (hinten im Gehirn) die Lichtwellen eines Gegenstands aufgenommen haben, wandern die Eindrücke auf visuellem Pfad vor zum orbitofrontalen Cortex (direkt über den Augen) zur Schönheitsprüfung. Die Hauptaktivität findet in den parietalen, medialen und lateralen Frontalregionen statt. 33 Ebenso werden die Insula und die vordere Gürtelwindung aktiviert. Die Insula verbindet sich mit dem Hypothalamus, wobei beide die Hormone und das autonome Nervensystem regulieren.34 Das gesamte limbische System kann aktiviert werden. Das scheint sehr schematisch, doch es gibt nichts Logisches in dem, was wir als schön erleben, wie Chatterjee feststellt.35 Oder wie Zeki zusammenfasst: »Jeder Mensch stuft be126 | Die Rückkehr der Schönheit

stimmte Signale nach einem angeborenen Kernkonzept als schön ein, das ihm diktiert, bestimmte Signale so zu organisieren, wobei es von einem Individuum zum anderen variiert, was es als schön beurteilt.«36 Was ein Mensch begehrenswert findet, variiert aufgrund von Erziehung, Familie und kulturellen Einflüssen. 37 Zeki spricht vom synthetischen Konzept des Gehirns, das nicht unwandelbar ist, »sondern in dem Maße, wie das Gehirn neue Erfahrungen macht, ständigen Veränderungen unterliegt«. 38 Noch präziser: Die »Vergänglichkeit jeglicher Vollkommenheit und jeglicher Schönheit« hänge nicht nur vom Wechsel des betrachteten Gegenstands ab, »sondern auch von der Veränderung des synthetischen Konzepts im Gehirn …«39 Damit spreche ich die Individualität des jeweiligen Schönheitsempfindens an. Es genügt also nicht, eine erhöhte Aktivität des orbitofrontalen Cortex festzustellen, wenn wir »schöne« Kunstgegenstände betrachten. Man muss die Individualität der ästhetischen Erfahrung immer mitdenken, weshalb es schlichtweg falsch ist, von dem Schönen zu sprechen. Fast bewiesen ist der Ausspruch des 18. Jahrhunderts hingegen: »Beauty is in the eye of the beholder.« Schönheit liegt im Auge und im Gehirn des jeweiligen Betrachters / der Betrachterin. Trotzdem verhält es sich nicht ganz so einfach. Denn nun gilt es, das Belohnungssystem des Gehirns sozusagen einzuschalten. Es offeriert multiple Belohnungen und wird bei jedem Schönheitserleben aktiviert. Sowohl die dorsalen (rückseitigen) und ventralen (unteren) Bereiche des Striatum deuten darauf hin, dass Belohnungen verschieden verarbeitet werden. Außerdem werden ästhetische Belohnungen von unterschiedlich großen  /  ver­ schiedenen Hirnarealen aktiviert. Je weitgefächerter die ästhetischen Assoziationen, desto mehr Gehirnhorizonte werden beim ästhetischen Erleben einbezogen.40 Belohnungen sind für die Ästhetik wesentlich. Positive Emotionen (hier: bei der Schönheit) werden assoziiert mit der linken Hemisphäre und dort im basalen Vorgehirn und im obitofrontalen Cortex verortet, die negativen (hier: Hässliches) rechts der Mitte.41 In einem Experiment von Starr et alii waren bei positiven visuellen Erlebnissen die Substantia Nigra, das Striatum und der obere Frontalgyrus aktiviert, bei negativen der vordere mediale präfrontale Cortex und der untere Frontalgyrus.42 Die Rückkehr der Schönheit | 127

Wenn Belohnungen verschieden verarbeitet werden, bestätigt das die Subjektivität der Schönheitserfahrung. Denn wir erfahren die Schönheit als Belohnung, wenn wir sie fühlen. Die Klischees bei der vertieften Schönheitserfahrung treffen zu: das Herz scheint stehenzubleiben oder zu rasen, die Nackenhaare sträuben sich oder es läuft einem kalt den Rücken hinab. »Intense experiences of beauty affect very much the same autonomic systems as intense emotions.«43 Gesträubte Nackenhaare bei intensivem Schönheitserleben kann ich (viele Male) bestätigen; in einem besonders intensiven Fall bei der Ouvertüre zu Philip Glass’ Akhnaten in der Staatsoper Stuttgart: Ungefähr zehn Minuten in völliger Dunkelheit im Opernhaus mit einer eindringlichen, von mir empfundenen Schönheit der minimalistischen Musik, die sich langsam und immer intensiver steigerte. Wir sehen, hören, lesen, wie viele Experimente immer wieder belegen, mit Gefühl.44 Auch die momentane Stimmung hat Auswirkungen auf die Schönheitspräferenzen. Glückliche Menschen bevorzugen offene Landschaften, depressive schützende Landschaften mit Verstecken.45 Das Dopamin-Belohnungszentrum beinhaltet den Nucleus Accumbens, das untere tegmentale Areal und den frontalen Cortex (ACC = anterior cingulate cortex). Der präfrontale Cortex beaufsichtigt und kontrolliert die emotionalen Abläufe und als emotionaler Regulator fungiert der obitofrontale Cortex. Dieser wird besonders aktiv, wenn wir Schönheit bewerten. Auch sind andere Areale wie etwa das Striatum, die Substantia Nigra und der Nucleus Accumbens aktiv. Dieser Belohnungskreislauf stimuliert die Freilassung von Dopamin, den wesentlichen Stoff, um positive Gefühle zu empfinden. Dopamin ist chemisch mit Adrenalin verwandt, das außerhalb des Gehirns agiert, um den Herzschlag und den Blutdruck zu erhöhen. Wir »denken mit Gefühl«, wie es Schimamura ausdrückt.46 Viele Areale werden aktiviert, um die seltenen (Schönheits-)Erfahrungen zu erleben, die sogenannten »Wow experiences«: von der visuellen Wahrnehmung (Okzipitalcortex, ventrale und dorsale Wege) und den visuellen Zentren V 1 bis V 5 zu den Gedanken und Erinnerungen (präfrontaler Cortex, Hippocampus, hinterer Parietalcortex) und den Emotionen (Belohnungssystem, Amygdala, orbitofrontaler Cortex).47 Zweierlei scheint nun klar zu sein: Das Schönheitserleben ist 128 | Die Rückkehr der Schönheit

erstens eine hochemotionale, geistige und körperliche Erfahrung, die jeder Mensch mit neu gewonnener Erfahrung, aber auch selbst zu anderen Zeiten und ohnehin anders als andere Menschen erlebt. Das Schönheitserleben ist zutiefst individuell. Es kann nicht »interesselos« sein, also nicht nicht-emotional, da Schönheit über das Belohnungssystem erfahren wird und wir danach streben, das Belohnungssystem zu aktivieren, schon allein, um die Auswirkungen von unserem Dopamin und Adrenalin zu spüren. Wir sind auf Schönheit programmiert. Allerdings wirft die »Programmierung« auf Schönheit sogleich ein grundsätzliches Problem auf. Denn so richtig die Aussage sein mag, suggeriert sie doch, dass die ästhetische Erfahrung empirisch nachweisbar und in letzter Instanz quantifizierbar sein müsste – obwohl es in der Ästhetik um Qualität geht. Hiermit ist die Grundantinomie der experimentellen Ästhetik angesprochen. Sie lässt sich nur auflösen, indem man im spezifischen Fall die Grenzen der experimentellen Aussagen aufzeigt. Anknüpfend an die Ergebnisse des Kapitels Empirische Ästhetik wurde dort kritisch angemerkt, dass die evolutionsbiologische Theorie insgesamt und insbesondere beim Thema Schönheit lediglich ein Substrat darstellt: symmetrische Gesichtsformen, gut durchtrainierter Körper und reine Haut sagen im Grunde viel zu wenig über den ästhetischen Gegenstand. Der neodarwinistische Ansatz drückt etwas über sexuelle Präferenzen aus und mehr nicht. Über ein schönes Kunstprodukt wird nichts vermittelt; ansonsten wären die entindividualisierten Modelgesichter und -körper die bedeutendsten, schönsten Realkunstwerke der Welt. »… whether something is elegant, unified, beautiful, or a masterpiece, say, is not a measurable quantity …«, wie Dorsch schreibt.48 Den ästhetischen Wert vermag auch die Neuroästhetik nicht zu behandeln. 49 Sie zeigt, wie oben, die Mechanismen auf, wie ästhetische Prozesse im Gehirn ablaufen. Grenzt man die Schönheitsaussagen der Neuroästhetik ein, kann es daher nicht um den ästhetischen Wert gehen, sondern nur um die Hilfe, die die Neuro­ ästhetik für die Schönheitserfahrung und deren Erklärung leisten kann. Hier war deutlich geworden, dass sie die Subjektivität der Schönheitserfahrung belegen konnte. Auch wies sie nach, dass diese Subjektivität untrennbar bleibt vom Belohnungssystem des Die Rückkehr der Schönheit | 129

Gehirns: Je schöner die Erfahrung, desto größer die Aktivitäten der Belohnungszentren. Weiterhin wurde klar: Die Gefühle sind bei diesem Erleben unmittelbar involviert; was immerhin diese alte ästhetische Diskussion, ob wir es mit Überlegungen oder mit Gefühlen zu tun haben, beendet. Beides ist involviert. Die Diskussion, ob bestimmte Schönheitserfahrungen berechtigt sind oder nicht, werden somit ebenfalls hinfällig. Jede Schönheitserfahrung eines jeden Subjekts ist berechtigt. Eine unberechtigte Schönheitserfahrung existiert nicht. Man kann die Schönheitserfahrung freilich vertiefen und das experimentelle Ergebnis, diese Erfahrung wachse und vertiefe sich mit der Informationsmenge, die man über das Kunstprodukt und den Kunstproduzenten zur Verfügung hat, nützt der Diskussion.50 Schönheit an einem bestimmten Gegenstand kann sich mit der Zeit vertiefen – oder Schönheit kann auch überraschen. Viele ästhetische Entscheidungen geschehen in 750 Millisekunden.51 Die Neuroästhetik bewies außerdem, welche Areale und wie erstaunlich viele Areale im Kunstgenuss / Schönheitsgenuss involviert sind. Dass das Gehirn allerdings ästhetisch erlebt, überrascht nicht  – eine Banalität. Dass jedoch so viele verschiedene Areale aktiviert werden, mag überraschen. Auch ist es natürlich, dass zugleich mit den reflexiven Hirnarealen die Gefühle, fast automatisch, mit einbezogen werden. Wir fühlen Schönheit. Bei der Analyse des Schönheitserlebens muss man vieles stets mitdenken: die jeweilige Biografie, die Vorlieben und Abneigungen, das gesellschaftliche Umfeld und die eigene sowie die gesamtgesellschaftliche Mentalität, die geografische Verortung, die zu reflektierende historische Situation, in der man sich befindet, die gesellschaftlichen und ästhetischen Konventionen, das Interesse an ästhetischen Sujets und der Kenntnisstand des Individuums. Seit Jahrzehnten werden in der westlichen Welt Versuchsreihen durchgeführt. Sie kamen alle mehr oder weniger zum gleichen Ergebnis, das sich hiermit deckt, nämlich der Geschmack (hier in der Musik) sei »first and foremost a result of one’s socialization«.52 Bei den Kunstwerken – anders als Gesichter mit 0,6–1, Landschaften 0,5–0,8, Architektur mit 0,6–0,3, Innenarchitektur 0,5–0,2 – lagen die Übereinstimmungen der Wertungen am weitesten voneinander entfernt, nämlich 0,6–0.53 130 | Die Rückkehr der Schönheit

Das Schönheitserleben liegt im Subjekt – ist aber nicht »rein« In seiner Kritik der Urteilskraft unterscheidet Kant zwischen objektiven und subjektiven Empfindungen. Objektiv sei die »Wahrnehmung eines Gegenstandes des Sinnes«, zum Beispiel die grüne Farbe der Wiesen. Zur subjektiven Empfindung gehörig sei es, »wodurch kein Gegenstand vorgestellt wird, d. i. zum Gefühl, wodurch der Gegenstand als Objekt des Wohlgefallens … betrachtet wird.«54 In der Kritik der Urteilskraft geht es um das Gefühl des Wohlgefallens. Kant verortet das Wohlgefallen am Schönen im Subjekt. So weit stimmt seine Analyse mit den naturwissenschaftlichen Versuchsreihen überein und wird auch allgemein anerkannt. Die Geister scheiden sich regelmäßig an seinem problematischen Begriff des »uninteressierten Wohlgefallens im Geschmacksurteile«, denn »dasjenige Urteil über Schönheit, worin sich das mindeste Interesse mengt …«, sei »sehr parteilich und kein reines Geschmacksurteil«.55 Was meint Kant mit Interesse? »Alles Interesse setzt Bedürfnis voraus, oder bringt eines hervor; und als Bestimmungsgrund des Beifalls, lässt es das Urteil über den Gegenstand nicht mehr frei sein.«56 Denn ein Geschmacksurteil sei »kontemplativ«.57 Wenn man zum Beispiel Hunger hat und alles schmecke, was in Reichweite essbar sei, so befriedige man ein Bedürfnis, das daher unfrei sei. 58 Nun hat man aber oben gesehen, dass wir tatsächlich ein ästhetisches Bedürfnis besitzen, eine Lust auf Erlebnisse von Schönheit, womit unser Belohnungssystem in Gang gesetzt wird. Wenn das ästhetische Bedürfnis natürlich nicht auf der gleichen unmittelbaren Bedürfnisstufe mit dem Hunger steht, so bleibt das Bedürfnis nach Schönheit als ein Bedürfnis nach ästhetischem Erleben dennoch ein Bedürfnis. Kants Interesselosigkeit mag es wirtschaftlich geben – ich muss das Bild von Matisse nicht besitzen, ich will es nicht kaufen, um es zu genießen –, aber für alle anderen Belange bleibt die Interesselosigkeit eine idealistische Fiktion. Auch Hume verortet in seinem berühmten Essay On the Standard of Taste die Schönheit nicht im Objekt, sondern im fühlenden Subjekt: »Beauty is no quality in things themselves; it exists merely in the mind which contemplates them; and each mind perceives a different beauty.«59 Ein paar Seiten weiter in seiner Schrift Die Rückkehr der Schönheit | 131

machte er eine Kehrtvolte und schreibt, es gebe dennoch Formen oder Qualitäten in Kunstwerken (wie »delicacy of imagination«), die allgemein und übereinstimmend gefallen. Über die perfekte Schönheit heißt es, »there be an entire or considerable uniformity of sentiment among men …«60 Schon allein bei der Kunst der Moderne stimmt diese »uniformity of sentiment among men« (und »among women«, möchte man hinzufügen) nicht mehr. Die Übereinkunft, die Hume herbeizaubert, handelt wohl von den klassischen ästhetischen Vorstellungen seit Phidias und Praxiteles. Es erscheint mir sinnvoll, Gardner zu folgen und zwischen »traditional beauty« (mit den Höhepunkten im Altertum, in der Renaissance und im Klassizismus des 18./19. Jahrhunderts) und »individualized sense of beauty« zu unterscheiden. 61 Hume beruft sich bei seiner Kehrtwende auf nichts anderes als den bildungsbürgerlichen Kanon, wie er im 18. Jahrhundert vorherrschte. Dieser Kanon war normativ, eine Bildungskonvention, Ausdruck einer bestimmten Perspektivierung auf den menschlichen Körper und auf Proportionen. Diese Verbindlichkeitsnorm des Schönen wurde längst ad acta gelegt und sie erklärt, warum für uns heute, für uns Nachfahren der Moderne des 20. Jahrhunderts, die »traditional beauty« von geringem Interesse sein muss. Wir haben den Mentalitätswandel hin zum berechtigten Neuen mit der Moderne vollzogen und leben diese Mentalität. Im Gegensatz dazu ist die Aussage, die Schönheit liege im Auge des Betrachters (und des Gehirns mit seinen Gefühlen), nicht absolut richtig. Die »traditional beauty« weist darauf hin: Immer bleibt das Schönheitserleben zwar subjektiv, aber, mit Kant gesprochen, nicht »rein«. Wir erschaffen sozusagen Schönheit »in cooperation with the world«, wie Sartwell bemerkt. 62 Denn die Welt, die wir kennen, gibt uns Objekte vor, die wir als schön empfinden und somit werten können. Nehamas geht noch weiter. Für ihn ist das Schönheitsurteil »essentially social«, weder rein subjektiv noch öffentlich, weder rein subjektiv noch privat. 63 So weit würde ich nicht gehen: Man driftet ab in die Objektivität, die wir beim Schönheitsthema verlassen haben. Selbstverständlich existieren Gegenstände, bei denen es objektiv möglich erscheint, dass sie als schön empfunden werden, wie ein Bild von Monet. Orte wie eine Müllhalde wird man eher als hässlich empfinden. Doch diese Selbstver132 | Die Rückkehr der Schönheit

ständlichkeiten sind Extrembeispiele und nützen der ästhetischen Diskussion nicht. Tatsächlich gibt es gepresste Autowracks von César, die man als Vanitas-Symbole der automobilen Gesellschaft als »schön«, zumindest als anregend auffassen könnte. Doch in diesem Punkt stimme ich Nehamas zu: Kein Schönheitserleben ist »rein«, eine kantische Idealvorstellung. Immer bringt man wie erwähnt Biografisches (Primär- und Sekundärsozialisation), das gesellschaftliche Umfeld, unbewusste und bewusste Vorstellungen in die ästhetische Erfahrung mit ein. Das tut dem sinnlichen Erlebnis aber keinen Abbruch, sofern man sich bewusstwird, dass Intersubjektivität der Schönheit nicht oder nur bedingt (zum Beispiel auf oberflächliche Weise, etwa beim guten Aussehen von Filmstars) möglich ist. Hier und da mag es Übereinstimmungen geben, doch ästhetische Schönheits-Objektivität wird man vergebens suchen und nimmermehr finden. Die Kuratoren der Ausstellung von 2018/2019 »Beauty« im Hamburger Museum für Kunst und Gewerbe, Sagmeister und Walsh, gehen einen anderen Weg. 64 Sie glauben, Schönheit liege in der Sache selbst. Zum Beweis führen Sie eine internationale Umfrage auf Instagram an, ohne die Teilnehmer zu qualifizieren und ohne präzise Experimentbedingungen. Am Ende des Ausstellungskatalogs stellen sie ein »Schönheitsarchiv« von 72 Kunstwerken, Designobjekten, Plakaten, Fotos und Alltagsgegenständen vor, die sie als objektiv schön präsentieren. 65 Ich spielte das Spielchen mit. Von den 72 angeblich schönen Gegenständen empfand ich nur sechs als »schön«, zehn als »interessant, aber nicht schön« und 26 als »hässlich«; der Rest indifferent. So viel zur objektiven Schönheit. Nach den Überlegungen zur Subjektivität des Schönheitsempfindens scheint man am Ende dessen angekommen zu sein, was man über die Schönheit auszusagen vermag. Doch wie beim ephe­ meren Gegenstand Schönheit selbst trügt auch hier der Schein. Was können wir noch über die Schönheit ausführen, und welche Grenzen besitzen diese Aussagen? Ich beginne wieder am Anfang: Was ist schön?

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Was ist schön? In der Kritik der Urteilskraft definiert Kant Schönheit klar: »Schön ist das, was ohne Begriff allgemein gefällt.«66 Der Schein der Klarheit trügt. »Schön ist …« kennzeichnet einen objektiven Zustand, keinen subjektiven, aber gerade um das Subjektive muss es – laut Kant selbst – gehen. »Ohne Begriff …«, das zweite Pro­ blem. Schönheit kann mit oder ohne Begriff gefallen, das lässt sich nicht a priori festlegen. Hier merkt man, dass Kant keinen Begriff von ästhetischer Bedeutung besitzt, was im 18. Jahrhundert noch kein Ästhetik-Thema war. Und schließlich: »allgemein« und »gefällt«. Allgemein kann das Schönheitserleben nicht sein, denn es geht um die individuelle Erfahrung, die sich nur bedingt, wenn überhaupt, verallgemeinern lässt. »Gefällt« scheint mir eine allzu schwache Qualifizierung für ein Schönheitserleben zu sein, wobei es zu differenzieren gilt: Es gibt schwache, stärkere und sehr starke Schönheitserlebnisse. Kants Definition taugt also nicht. Roger Scrutons Definition trifft den Sachverhalt genauer: »… we call something beautiful when we gain pleasure from contemplating it as an individual object, for its own sake, and in its presented form.«67 Scrutons Definition umfasst die essentiellen Momente der Schönheitserfahrung: die Subjektivität (»we call something«), den Genuss, der vertieft sein kann oder nicht (»gain pleasure«), der semiotische Objektbezug (»individual object«), der ästhetische Eigen­wert (»for its own sake«) und die ästhetische Darbietung (»in its presented form«). Nur beim Verb »contemplate« bin ich mir unsicher: Allgemein gesehen trifft das Verb zu, man kontempliert ein Kunstwerk; aber das Gegenteil trifft ebenso zu: Man kann blitz­ artig von dem, was man als schön empfindet, sozusagen überfallen werden. Dann gilt »contemplate« nur bedingt. Aber abgesehen davon schließe ich mich Scruton an – er bietet die präziseste Definition, die ich bisher fand: Wir nennen etwas schön, wenn wir Freude daraus ziehen, es als individuelles Objekt in seinem ästhetischen Eigenwert und in seiner Darbietungsform zu erleben. Tatsächlich kommt es hier nicht auf Definitionen an, sondern auf das intensive ästhetische Erleben. Definitionen gerade im Ästhetischen, worin alles fließt, sind per se mit dem Makel der eigenen Vanitas behaftet. Definitionen im ästhetischen Bereich liefern 134 | Die Rückkehr der Schönheit

daher nur kleine, unbedeutende Anhaltspunkte. Man halte sich damit nicht auf. Die wunderbarste Beschreibung des gesteigerten Schönheits­ erlebens fand ich beim langjährigen Kunstkritiker des New Yorker, Peter Schjeldahl: Das Gehirn ist hyperwach, der Körper entspannt, die Stimmung überschlägt sich geradezu; Geist und Körper werden eins im Schönheitserleben, eine Kombination aus Stimulierung und Erschlaffung. 68 Schjeldahl werde, schreibt er, immer von Schönheit überrascht, stets umgebe Schönheit »a touch of strangeness, and novelty …«69 Das Neue, Überraschende, wie erwähnt das sozusagen Überfallartige trifft oft zu – aber oft auch nicht. Wenn ich zum Beispiel der Londoner National Gallery einen Besuch abstatte, freue ich mich wie bereits erwähnt im Voraus auf das mir wohl bekannte Schönheitserlebnis mit Caravaggios Londoner Emmausmahl. Oder die Vorfreude, bevor ich Beethovens »Mondscheinsonate« (op. 27 Nr. 2) höre oder sein Violinkonzert (op. 61): herrliche alte Freunde, längst nicht überraschend, aber bei jedem neuen Erleben als schön zu genießen. Es liegt an der Freude (»pleasure«), die uns zur Schönheit treibt, wie Chatterjee bemerkt.70 Ich verwende das mit Beethovens neunter Symphonie positiv vorbelastete Wort »Freude« absichtlich, denn darum geht es, um den »schönen Götterfunken«, also dasjenige, was uns, salopp ausgedrückt, als »göttlich schön« erscheinen kann. Wenn Schönheit erlebt wird, kann diese Erfahrung so stark sein, dass die eigene Bewegung gehemmt wird: Der Augenblick der sinnlichen Schönheitserfahrung,71 von dem wir wünschen, dass er lange währen möge: Verweile doch, du bist so schön. Eine Unmöglichkeit. Denn die Schönheitserlebnisse, wie Starr bemerkt, sind dynamischer Natur, und die Möglichkeit des Verlusts wohnt ihnen inne.72 Sogar manche Kunstwerke selbst thematisieren den Augenblick: die Sekunde, in der die Jünger erkennen, dass sie laut Legende Christus vor sich haben, in Caravaggios Londoner Emmausmahl. Oder Leonardos sfumato, was die Ungewissheit zum Thema macht; oder Monets Bilderserien, zum Beispiel die Westfassade der Kathedrale von Rouen bei wechselndem Licht – und in Musik, Tanz, Drama und in der Literatur überhaupt, ein Flickenteppich der Wirklichkeit, wie Cramer und Kaempfer schreiben, »die virtuell schon zu zerfallen droht«.73 Man kann dies als die Die Rückkehr der Schönheit | 135

kleine Tragik der Schönheit bezeichnen. Man kann dem aber auch entgegenarbeiten, indem man sich zum einen darauf ausrichtet, möglichst viele ästhetische Schönheitserlebnisse zu erfahren; und indem man zweitens Erlebnisse großer Schönheit wiederholt, aber nicht ad nauseam, wie oben beschrieben, das zur Abstumpfung führen könnte. Beethovens Violinkonzert höre ich nicht oft, aber wenn, dann erlebe ich große Freude. Was ich als kleine Tragik der Schönheit bezeichnete, verführte mindestens zwei Theoretiker, nicht von Schönheitsvollendung, sondern vom Versprechen der Schönheit zu schreiben. Nehamas macht das Versprechen zum Hauptthema seiner Schönheitsanalyse ebenso wie Menninghaus. Nehamas schreibt: Wenn wir etwas als schön empfinden, gehen wir sicher darin, dass es noch etwas von Wert hervorbringen wird. Wir setzen nun die Vorstellungsgabe ein, die sich als Antizipation der Freude ausdrückt.74 Menninghaus: »Die Macht der Schönheit ist wesentlich die Macht eines ihrer Wahrnehmung eingeschriebenen Versprechens.«75 Es mag zutreffen, dass dem Schönheitserleben ein Versprechen innewohnt; oder auch nicht, denn ein subjektives Schönheitserleben allein aus der Perspektive des Versprechens zu interpretieren, scheint mir zu einseitig. Man kann Schönheit nämlich so erleben, wie sich die Erfahrung gerade manifestiert, als vollkommen authentisch und abgeschlossen in sich. Und damit genug. Überhaupt scheint mir jede Festlegung auf eine einzige Perspektive – für die man viele Beispiele finden mag, allerdings auch Gegenbeispiele, wenn man ehrlich vorgeht – das ästhetische Erleben einzuengen. Im Kapitel Keine ästhetische Krise nannte ich solche Theorien monoperspektivisch. Der Offenheit der ästhetischen Erfahrung werden sie nicht gerecht. Sie widersprechen sogar der nicht weiter festlegbaren Offenheit des ästhetischen Erlebens, Ecos »offenem Kunstwerk«. Was Nehamas und Menninghaus ein wenig mystifizierend als »Versprechen« bezeichnen, gilt genau genommen für alle Kunstprodukte, aber in einem ganz anderen Sinn als von den beiden Auto­ ren intendiert, nämlich beim ästhetischen Verweisungscharak­ter. Dieser entbirgt sich meist nicht auf Anhieb. Man muss sich um ihn bemühen. Ein bedeutendes Kunstprodukt »verspricht« immer mehr; und dergestalt verstanden mutiert der Begriff des Versprechens zu einer nichtssagenden ästhetischen Phrase. 136 | Die Rückkehr der Schönheit

Zur Banalität verkümmern kann die Schönheitserfahrung auf eine ganz andere Weise. Hillman nennt das den »narkoleptischen Effekt« der Schönheit in der ästhetischen Diskussion,76 im Sinne von »Schönheit ist gut für dich«, »sie nützt dir« – eine naive Auffassung vom Schönheitserleben. Schönheit wird auf ein Wohlfühlmittel reduziert. Das liegt daran, dass sich, wie Böhme schreibt, das Schönheitsspektrum heute beträchtlich erweitert hat. Schönheit ist nicht länger ins Museum verbannt. »Schönheit suchen wir im Prinzip überall.«77 Was zähle, sei lediglich die »Anmutungsqualität«.78 Von der Moderne im Allgemeinen und vom Bauhaus im Besonderen sensibilisiert, kann man sehr wohl von schönem Design sprechen. Design und Formvollendung seien hier nicht gering­geschätzt. Aber ein perfekt designtes Produkt ist meist das, was es ist, ohne Verweisung auf ein anderes. Das unterscheidet lediglich das gute Designprodukt vom guten Kunstprodukt. Schönheit besitzt viele Felder und Facetten. Einer Verflachung der Schönheit wird damit das Wort nicht geredet. Die Verflachung findet auf anderem Gebiet statt, im Bereich der digitalen Massenmedien, wovon unten mehr. Allerdings vereinfacht unser Gehirn die Perzeptionsreize gern, um der Komplexität der Erfahrungen Herr zu werden. Diese »Vereinfachung« trifft auf Alltagserfahrungen sowie auf ästhetische Erfahrungen zu. Vanderbilt bringt es auf einen Nenner: »Uns gefällt besser, was wir in Schubladen stecken können. Weil unser Gehirn in Mustern denkt, sind wir darauf geeicht, die Welt durch die Brille der Kategorien zu sehen. Und offenbar gefallen uns Dinge besser, wenn sie so sind, wie sie unserer Vorstellung nach sein sollten.«79 Jede neue Kunstform lebt davon, wie man sie kategorisieren kann und somit für die Betrachtung einen Anknüpfungspunkt findet. 80 Das Gesicht einer Person, eine Baumanordnung, ein Kunstwerk von Turner und Gehrys berühmtes dekonstruktives GuggenheimMuseum in Bilbao kann man alle als schön empfinden, jedes auf seine Weise. Daher hat Levinson eine Kategorieneinteilung ersonnen, um die je eigene Schönheit adäquater zu genießen und zu verstehen: 81 »Abstrakte Schönheit« von Kunst, Subkategorie formale Schönheit, (ein Bild von Klee, Mondrian oder Rothko). Ich würde diese immense Kategorie eher »Kunstschönheit« nennen, die alles umfasst, was wir unter Kunst verstehen, das mittels Bedeutung auf etwas außerhalb seiner selbst verweist. Dazu zählt Die Rückkehr der Schönheit | 137

auch alles, dessen ontologischer Status lange umstritten war oder ist, zum Beispiel die Werke von Duchamp; allerdings würde ich seine für die Kunstentwicklung hoch wichtigen und bedeutsamen Werke nicht als schön empfinden, was Duchamp ja selbst ablehnt. 1. Physische Schönheit von Menschen, bei der äußerlich gesehen Symmetrie, Proportion und Anmutung eine große Rolle spielen. Subkategorie »innere Schönheit« oder »spirituelle Schönheit«. 2. Naturschönheit: Natur an sich und in ihrem Verhältnis zu Menschen. Subkategorie Tiere (und Menschen) auch in Bewegung. 3. Artefakt-Schönheit von Nicht-Kunstobjekten, die eine Zielgerichtetheit besitzen, also eine Funktion meist ohne Verweisungscharakter. Hier würde ich eine Subkategorie anlegen: Muster, wie im islamischen Design oder in Perserteppichen. Levinsons Subkategorie: Architektur, wobei der Übergang zwischen Architektur und Kunstwerk fließend ist, gerade in der modernistischen und nachmodernen Architektur. 4. Zufällige Schönheit: Hier spielt der Zufall eine wesentliche Rolle, wie etwa eine natürliche Anordnung von Sand und Steinen am Strand oder Dünen in der Wüste oder der neue Blick auf eine Stadt von oben. Bei der zufälligen Schönheit fehlt die künstlerische Intention vollkommen, bei der Naturschönheit kann sie fehlen (Natur an sich) oder eine Rolle spielen (alle Garten- und Parkformen). Die zufällige Schönheit nennt Levinson »idiosynkratisch« und unvorhersehbar, sie kann abhängen von der individuellen Schönheitserfahrung. Seine sechste Kategorie, die der moralischen Schönheit, lehne ich ab. Moral kann mit »Schönheit« nicht adäquat beschrieben werden mit der Ausnahme der »inneren Schönheit« bei Menschen. Prinzipiell aber gilt: Moral bildet keine ästhetische Kategorie. Man kann von Menschen nicht erwarten, wenn sie sich für eine Kategorie interessieren, dass sie alles in dieser jeweiligen Kategorie präferieren. Man kann Symphonieliebhaberin sein, aber Klaviersoli »nicht schön« finden; man kann sich für Lyrik begeistern, aber das Theater langweilig finden. Man kann viele Filme schön finden, nicht aber Skulpturen. Das Fazit, das Levinson zieht, lautet: »Beauty is not one.« 82 Und wie ich bereits erwähnte, jede Biografie verläuft anders und bleibt hochbedeutsam für den Schönheitsgenuss. Ein Beispiel: Aus einem bildungsbürgerlichen Haus stam138 | Die Rückkehr der Schönheit

mend, wurde ich als Kind mit Tschaikowsky überfüttert. Anstatt seine Musik zu lieben, wuchs meine Abneigung gegen den russischen Komponisten und hielt ein Leben lang. Tschaikowsky sollte mein Einstieg in die klassische Musik sein, doch das elterliche Experiment misslang. Beethoven entdeckte ich ein paar Jahre später selbst, und diese Liebe blieb bestehen. Weitere Kategorien für Literatur und Musik scheinen mir unnötig. Beim visuellen Wahrnehmen war es sinnvoll, auf die Komplexität dieses Erlebnisses in seiner kategorialen Vielfalt hinzuweisen. Bei der Literatur muss man kaum auf die Vielfalt der subjektiven Rezeptionen eingehen. Trotzdem stelle ich mir die Frage, was man in der Literatur und in der Musik als besonders schön empfinden könnte.  – Die schöne Sprache: treffende Metaphern, neuartige Umschreibungen, besonders evokative Beschreibungen u. v.  m. Beispiele gibt es viele: Shakespeares Königsdramen, Tragödien und Sonette, Hölderlins und Rilkes Gedichte, die Romane von Henry James, Joseph Conrad und Stefan Zweig.  – Der ruhige Fluss der Erzählung, wie ich das Phänomen nennen möchte: ein scheinbar mühelos geschriebenes Fließen ­eines Textes, das zutiefst menschlich (auch tragisch) sein kann, was aber einen unwiderstehlichen Duktus besitzt, der die Rezipientin /  den Rezipienten in das Geschehen hineinzieht. Beispiele: Goethes Wahlverwandtschaften, Tolstois Krieg und Frieden, Henry James’ The Portrait of a Lady, Thomas Manns Buddenbrooks, wie erwähnt Hemingways For Whom the Bell Tolls, Prousts A la recherche du temps perdu, Yasushi Inoues Das Jagdgewehr, de Saint-Exupérys Le petit prince, Richards Fords Wildlife, Javier Marías’ Morgen in der Schlacht denk an mich. Diese Romane könnte man als schön bezeichnen. Andere Romane könnte man sehr gut oder meisterhaft nennen, ohne dass sie schön seien, was keine Negativwertung bedeutet. Beispiele: Stendhals Le rouge et le noir oder Balzacs gesamte comédie humaine.  – In der Musik: Besonders harmonische, gelungene Meisterkompositionen verschiedener Genres seit dem gregorianischen Gesang, von denen man das Gefühl hat, sie seien schlichtweg, wie Kant schreibt, ohne Begriff schön, ja herrlich. Mehr als jede Die Rückkehr der Schönheit | 139

andere Kunstform evoziert Musik das Gefühl, das im Grunde unbeschreiblich sein muss, weil es den Menschen unmittelbar ergreift. Es darf eine allgemeine ästhetische Theorie nicht stören, wenn weitere Präzisierungen aufgrund der Gefühlsbetontheit der Musikwahrnehmung nicht möglich und nicht sinnvoll sind. Hier geht es nicht um Musikwissenschaft. Der Beispiele kein Ende (aber das sind nur meine subjektiven Beispiele): Beethovens dritte und neunte Symphonie, sein Violinkonzert, viele Schubert-Lieder und der erste Satz von Schuberts Streichquartett »Rosamunde« (D.  804) oder der zweite Satz seines Streichquintetts (D.  956), jeweils Chopins und Rachmaninows zweites Klavierkonzert, Brahms’ zweite Symphonie, Vorspiel und Liebestod von Wagners Tristan und Isolde und schließlich Richard Strauss’ Vier letzte Lieder. Und dabei habe ich all die herrlichen Opernarien von Mozart und Verdi noch gar nicht erwähnt. Einverstanden mit meiner subjektiven Auswahl? Nein? Gut so. Quod erat demonstrandum.   Diese eine Musikkategorie genügt im Ästhetik-Kontext (natürlich nicht in der Musikwissenschaft), weil sich der vorbegriffliche subjektive Eindruck von Musik nicht zergliedern lässt. Musik bildet eine Einheit: Entweder sie berührt einen Menschen oder nicht. Kein Mensch darf in diesem Sinn als unmusikalisch verurteilt werden; jeder besitzt Vorlieben, (heftige) Abneigungen und liebt Kompositionen, die für das eigene Gefühl zu den Höhepunkten der Musik gehören. Diese nenne ich subjektiv schön. Schönheit vermag man nicht nur kategorial besser zu verstehen, selbstverständlich nicht nur. Sartwell beschreibt einige ausgewählte Erscheinungen von so etwas wie Schönheit, wie sie andere Völker empfinden. 83 Im Hebräischen bezeichnet yapha eher Glanz oder Blüte. Schönheit in Sanskrit wird als sundara, also Heiligkeit, transzendent umschrieben. Im Japanischen bedeutet wabi-sabi Bescheidenheit, das Nichtperfekte – eine Ästhetik der Armut und der Vereinzelung, eine auf den Zen-Einfluss zurückzuführende Reduktion und der Melancholie. In Japan gehören die Kizaemon-Teeschalen zu dieser reduzierten, nicht perfekten Ästhetik. Sartwells Beispiel in der westlichen Kunst: Wolfgang Laibs reduzierte Arbei140 | Die Rückkehr der Schönheit

ten mit Pollen. Schließlich die Navaho: hozho impliziert Schönheit als Gesundheit und Harmonie, auf Menschen bezogen. Als Fazit: Schönheit ist weder eines noch lässt sie sich geografisch und geistig einzäunen.

Innere und bedeutungsschwere Schönheit Es wäre fehlerhaft und töricht, anderen Kulturen die westlichen Schönheitsbegriffe überzustülpen. Die westliche Schönheitsauffassung lässt sich keineswegs verallgemeinern. Sie geht auf Platons to kalón zurück, eine spezifische Tradition, aber kalón gehört zu den platonischen Ideen und kann daher als Schönheitsideal gewertet werden. Wir Zeitgenossen haben uns von Idealnormen in der Ästhetik befreit und sollten den Blick um den Globus weit schweifen lassen, um neue Schönheiten und neue Schönheitsauffassungen zu entdecken und zu würdigen. Nichts anderes tat Bruno Taut, ein Vertreter des Neuen Bauens, als er 1933 das schöne Gartenensemble der frühen Edozeit (Beginn des 17. Jahrhunderts), Katsura, am Stadtrand von Kyoto besuchte, dessen reduzierte Ästhetik ihn anregte. Oder man lässt den Blick sozusagen ins Innere der Schönheitsobjekte dringen, »where the beauty of the object is internal to the meaning of the work«. 84 Hier befinden wir uns im Kern der Schönheit und im Kern der Kunstprodukte überhaupt. Viele Studien haben ergeben, dass Bedeutung die wichtigste Determinante im ästhetischen Genuss darstellt. 85 Eine einfache Perzeption von Schönheit kann Genuss hervorrufen, aber je mehr Areale im Gehirn daran arbeiten, die innere Schönheit, die sich als Bedeutung ausdrückt, zu begreifen und ästhetisch mit einem Wert zu versehen, desto größer kann der Genuss ausfallen. Diese tiefe Schönheit leuchtet weniger als die Oberflächenschönheit, allein, sie ist für die Betrachterin /  den Betrachter befriedigender. Natürlich ist Bedeutung prinzipiell nicht an Schönheit geknüpft. Schön kann ein Objekt sein ohne eine absolut tiefe Bedeutung, wie ein schönes Bild von Pissarro oder Sisley. Bedeutsam kann ein Objekt sein, das sich auf den ersten oder auch auf den zweiten Blick nicht als schön erschließt. Dantos Lieblingsbeispiel: das Vietnam Veterans’ Die Rückkehr der Schönheit | 141

Memorial in Washington, eine reduzierte und düstere Ästhetik mit den Namen der über fünfzigtausend sinnlos Gefallenen, zugleich ein Mahnmal, 86 und wenn man die Bedeutung ausweitet: das Mahnmal gegen den Krieg und ein Menetekel für den Anfang des amerikanischen Niedergangs. In diesem Kontext könnte man das Berliner Denkmal für die ermordeten Juden Europas von Eisenman (2005) mit seinen tragisch-ondulierenden Beton-Stelen, die in Wellen konzipiert die sechs Millionen Ermordeten symbolisieren, als schön und zugleich als schrecklich und bizarr empfinden; und um ein paar Seiten vorzugreifen: eine Burke’sche Evokation des reinen und realen Horrors. Am Brandenburger Tor wird die Erinnerung an diesen singulären Genozid wachgehalten und von der Anordnung der 2711 Stelen zurückhaltend, aber bestimmt getragen. Design-Artefakte sind in der Regel nicht in der Lage, innere Schönheit auszudrücken, weil sie nur auf sich selbst verweisen und nicht auf ein anderes. Shakespeares Tragödien und Königsdramen sind nicht »schön«; die Sprache jedoch, die Bedeutung trägt, ist es wohl, insbesondere in King Lear und Hamlet, Prince of Denmark. Die Tragik im zweiten Satz von Beethovens Eroica besitzt eine fürchterliche Schönheit, die sich nicht sofort erschließt, ebenso wie Mozarts Requiem, dessen Bedeutung im Leid der Menschheit gipfelt, in der tragischen Sterblichkeit, deren wir uns bewusst sind. Innere und bedeutungsschwere Schönheit also weist weit über die Oberflächenschönheit hinaus. Sie kann aus ihr entspringen, muss es aber nicht. Sie kann, und das ist wahrscheinlicher, sich sozusagen versteckt halten. Erst die Bedeutung, die einem Kunstwerk innewohnt, kann innere Schönheit aufweisen. Bedeutung aber muss keinesfalls schön sein, ja, Bedeutung und Schönheit müssen keinesfalls konvergieren. Joyce’ Ulysses wird von Bedeutung getragen; doch schön nenne ich den epischen Roman nicht, diese Inkunabel der Moderne. Und so finden wir viele Werke der Moderne, die Bedeutung evozieren und in sich tragen; doch schön sind sie nicht, etwa Dos Passos’ U. S . A., die Mammutcollage eines dynamischen, erwachten Landes, oder Faulkners The Sound and the Fury, ein Roman des Familienniedergangs. Schön und bedeutend hingegen finde ich Hemingways A Farewell to Arms und das tragische Liebesepos des 20. Jahrhunderts, For Whom the Bell Tolls (wieder der Moderne ein Schönheitsschnippchen geschlagen). Schön finde 142 | Die Rückkehr der Schönheit

ich auch die einlullende, kreisend-wiederholende Sprache in Thomas Bernhards und Javier Marías’ Romanen. Man kann Schreckliches mit schöner, mit etwas archaischer katalanischer Sprache zum Ausdruck bringen wie in Hemingways Roman des Spanischen Bürgerkriegs. Oder wie bei Shakespeare die ironische Sprachverwendung: Oft sprechen die größten Schurken, wie Macbeth oder Richard III., die schönsten Zeilen. Kurz, Bedeutung kann verquickt oder ironisch verwendet werden oder getrennt sein von Schönheit. Wir bekunden der Bedeutung einen höchsten Wert. Auch bekunden wir der Schönheit einen hohen Wert, wenn wir sie genießen und emporheben; jedoch nicht zu den Wolken. Denn ich spreche stets vom persönlichen Erleben, vom kleinen Feuerwerk im Gehirn, nicht von transzendenten Phänomenen. Im Schönheitsgenuss suhlt und räkelt sich nichts Göttliches auf Samtpolstern, auch nichts Erhabenes. Schönheit kann Bedeutendes ausdrücken oder schlichtweg auf Anhieb schön sein – oder die Elfengleiche setzt sich die Maske der Täuschung auf und stellt der Betrachterin oder dem Betrachter die nächste Falle. Ein erstaunlich großer Teil des Gehirns, ca. 25 %, wird vom visuellen System dominiert. 87 »Das Sehvermögen ist nun einmal eines der effizientesten Wege, Erkenntnis zu erlangen.« 88 In Anlehnung an Rortys »Linguistic Turn«89 führte Mitchell den »Pictorial Turn« der Gegenwart in die Diskussion ein.90 Die Bildmacht besitze heute den Status dessen, was Thomas Kuhn ein Paradigma nannte, eine »Anomalie« in der Menschheitsgeschichte.91 Wir leben in Zeiten eines komplizierten Wechselspiels von Visualität, Apparat, Institutionen, Diskurs, Körpern und Figurativität.92

Das Glatte: Kritik der Digitalen Moderne Um diese Komplexität zu reduzieren und verständlich zu machen, haben sich die Kritiker nicht erst seit Baudrillard bemüht. Baudrillard konzentrierte sich auf eine charakteristische Ausprägung der Moderne: die Informationsüberladung, die medial sich als Simulacrum ausdrücke. Das Simulacrum der Medien werde zu einer eigen­ständigen Realität, zu etwas Hyperrealem.93 Seit Baudrillards Untersuchungen in den 1970er Jahren hat das Hyperreale neue GeDie Rückkehr der Schönheit | 143

stalten angenommen.94 Die erste massenmedial vermittelte und institutionalisierte Gestalt ist die Verwandlung der Öffentlichkeit. Mit der Digitalkultur entstand eine neue Ich-Struktur. Das Ich entscheidet nur noch oberflächlich mit »gefällt mir«, »gefällt mir nicht«. Das, was gefällt, wird entprivatisiert und in der digitalen Welt durch Sehen und Hören vergesellschaftet, entindividualisiert.95 Ästhetische Urteile werden, wenn überhaupt, höchst oberflächlich gefällt. Sie bedeuten nichts Ernstes mehr, der schnelle Klick der Maustaste bestimmt das Pseudourteil. Daraus hervorgehend lautet die zweite Gestalt des Hyperrealen in der digitalen Kultur: die Vergesellschaftung der Schönheit. »Noch nie war die Welt so schön wie heute«, schrieb Beat Wyss bereits 1995.96 Alles, was nicht dem Hässlichkeitsverdikt unterliegt, heißt »schön«. Die digital (re)produzierte Schönheit »hat mit dem Kunstschönen vergangener Zeiten nur noch den Namen gemein«.97 Die innere Korrespondenz Betrachter – Betrachtetes entfällt. Im Anschluss an Lacan spricht Gassner von einer »ich-internen bzw. ich-funktionellen Mythologie«, einer neuen Imago des Körpers.98 »Wir leben«, schreibt Wyss, »unter einem medial erzeugten Schönheitsschild diesseits einer Steppe von Armut und Übernutzung.«99 Die Schönheitsdominanz »lässt unsere Epoche als Zeitalter einer modernen Gegenreformation auftreten«: der Kapitalismus als Gegenreformation ohne Gegner.100 Die Ära der Globalisierung, visuell ausgedrückt durch die Digitalkultur, brach bereits in den 1990er Jahren an: der »unwiderstehliche Sensualismus von Medien, deren Bildstrategie nun global vorherrscht«.101 Die Entmystifizierung der Künste macht alles konsumierbar. Byung-Chul Han kritisiert die Digitalkultur als »glatt«, als glatte Oberfläche.102 Das Glatte vermittelt ein angenehmes Gefühl, »mit dem sich kein Sinn, kein Tiefsinn verbinden ließe«.103 Selbst die Schönheit sei heute geglättet, »indem ihr jede Negativität, jede Form von Erschütterung und Verletzung genommen wird«.104 Zum gleichen Ergebnis gelangt Gassner: Die Kunst werde mit der »glänzenden Oberfläche« identifiziert.105 Sie löst die emotionale Tiefe ästhetischer Schönheitserfahrung ab. Han führt symptomatisch für die digitale Glätte den »Meister der glatten Oberfläche« an, Jeff Koons. Seine Kunst »gibt nichts zu deuten, zu entziffern oder zu denken«.106 Koons übertreibt »ins Maßlose, Hyperkitschige, um 144 | Die Rückkehr der Schönheit

aus dem Zuviel ein Programm zu gestalten«, wie ich 1992 kritisierte.107 Der Oberflächen-Kitschmeister outet sich als nacktes DollarPhänomen; ein Signum dieser schnelllebigen Epoche, die sich immer mehr beschleunigt. Ein anderes Beispiel: die »Art Toys« von KAWS (bürgerlich Brian Donnelly aus New Jersey). Seine aufgeblasenen, riesigen, stets glatten Toys wollen Kunstwerke sein. KAWS’ Markenzeichen sind zwei Kreuze in X-Form anstatt der Augen auf Riesengebilden, die eine entfernte Ähnlichkeit mit Disney-Figuren aufweisen: das Glatte ins Überdimensionierte getrieben, heiße Luft unter der Aalglätte, Bedeutungslosigkeit im Super-XXL-Format. Die glatte Oberflächenkultur, die vorgibt, schön zu sein, kann gar nicht in den Kitsch kippen. Sie befindet sich schon mittendrin. Wie Han betont: Das digitale Medium sei ein »Affektmedium«. Affekte sind schneller als Gefühle oder Diskurse. Sie beschleunigen die Kommunikation. »Das affectum kennt keine Geduld zum studium … Das affectum schreit und erregt.«108 Sprachlose Erregung und Reize werden hervorgebracht, »die ein unmittelbares Gefallen auslösen.«109 Ein ästhetisches Schönheitserleben bietet die Digitalkultur nur zum Schein an – eine digitale Pseudo-Innerlichkeit, die medial längst zensiert wurde und die kein stilles Staunen ermöglicht.110 Denn das Geschrei herrscht vor und erlaubt kein tiefergehendes Schönheitserlebnis. Wozu sich auch die Mühe machen, der Schönheit auf den Grund zu gehen, wenn sich die leicht zu gewinnende Oberfläche anbietet? Das Glatte also kennzeichnet die dritte Gestalt der digitalen Kultur. Die Verkitschung die vierte. Süßliches statt Schönheit, das grinsende Zuckerangebot der glatten Oberfläche. Auf die fünfte Gestalt der Digitalkultur, die Beschleunigung, gehe ich nicht ein. Nichts könnte offensichtlicher sein.111 Wo in der globalisierten Kultur die Individualität des Kunstprodukts entweder fehlt oder zur Marke verkommt, muss man von einer Uniformierung ausgehen, der sechsten Gestalt der Digitalkultur. Man spricht von einer »McDonaldisierung« der Weltkultur. Der Verweis, der noch stattfindet, betrifft nur noch werberisch den Firmen- oder Produktnamen. Nicht Schönheit ist gefragt, sondern das Angenehme, Problemlose, eben das Glatte, das keinerlei Schwierigkeiten verspricht, denn man kennt das Produkt gut. Der individualisierte Schönheitssinn wurde überflüssig gemacht. Er fügt sich ja auch nirgends ein, da im ortlosen Internet nur die Firmenlogos als Die Rückkehr der Schönheit | 145

fixierte Zeichen operieren, ohne jeglichen Kontext.112 Das Kunstprodukt hingegen existiert als syntaktisches Zeichen, »it exists as an a posteriori condition of aesthetic receivership, not as an a priori mode of determination. Beauty cannot be predestined.«113 Was uns die Medien heutzutage anbieten, erschöpft sich nicht nur in Firmenlogos und der entsprechend verlogenen Werbung, sondern schlichtweg als Glamour. Sie kann als siebte Gestalt der Digitalkultur gelten: Nicht Schönheit wird feilgeboten, sondern der betörende Glanz. Glamour handelt vom äußerlichen Zeichen ohne die humanistische Syntax, die zur Schönheit konstitutiv gehört und die eigentlich selbstverständlich wäre. Doch nicht länger. Schönheit, schreibt Morgan, braucht Vorbereitung, Zeit und einen Fokus auf das Sujet.114 Das langsame Erlernen und Genießen der Schönheit existiert nicht mehr. Niemand vermag je, kritisiert Morgan, mit dem Glamour mitzuhalten – zu viel Geld steht auf dem Spiel.115 Getrieben von der aalglatten »Ästhetik« des Kommerzes, revolutioniert sich die Hui-Welt beständig. Langeweile darf nicht aufkommen. Nachdenken erst recht nicht. Digital natives sollen nicht reflektieren, sie sollen kaufen und sich blenden lassen. Sie sollen verwandelt bleiben in ihrer neuen Verpuppungs-Mentalität. Sie sollen sich chic und in fühlen, obwohl sie sich aus allen tiefergehenden ästhetischen Schönheitserfahrungen selbst herauskatapultierten. Auch dem Verweilen sollen sie entfliehen, das sie kaum noch  – oder gar nicht mehr – in ihrem beschleunigten Leben kennen. Das Konsumentenleben lebt von der zersplitterten Zeit. Dazu Han: »Die kontemplative Versenkung ins Schöne, in der das Wollen zurücktritt und das Selbst sich zurücknimmt, erzeugt einen Zustand, in dem die Zeit still-steht. Diese Stille unterscheidet die ästhetische Anschauung von der bloß sinnlichen Wahrnehmung. Angesichts des Schönen kommt das Sehen an. Es wird nicht mehr fortgetrieben, fortgerissen. Diese Ankunft ist wesentlich für das Schöne.«116 In der digitalen Pseudo-Schönheitswelt kommt nichts an. Man bewegt sich immerzu. Stets eilt man von Klick zu Klick, vom glatten Produkt zur glatten Mode und zurück. Und so offenbart sich die Digitalkultur als größte, ja immenseste Falle der Schönheit. Sie verführt, verleitet, schreit Schönheit heraus, obwohl sie Glamour meint. Es erweist sich nun, dass Verweilen den Schönheitsgenuss 146 | Die Rückkehr der Schönheit

konstituiert, das Streben nach Ankommen im Erlebnis, während die digitale Welt ein Ankommen im Produkt oder in der allerneuesten Mode oder virtuell beim Filmsternchen zuhause auf dem Sofa vorgaukelt. Die gigantische Falle der angeblichen digitalen Schönheit schnappte bereits in der Gegenwart zu, und noch schlimmer: Die digital natives der Zukunft wurden bereits gefangen und konditioniert, auf dass die digitale Mentalität das eigentliche Schönheitsempfinden weitgehend oder ganz verdrängt. Mehr als jede andere Gefahr für die Schönheit bedroht die Digitalkultur durch ihr Riesenangebot an Gefälligem und Käuflichem das Schönheitsempfinden. Die Rezipienten stumpfen ab, wollen aufgrund der konditionierten Passivhaltung die aktive Auseinandersetzung mit der Schönheit meiden. Das Gefällige im Internet und auf allen anderen Kanälen bietet sich als Bequemlichkeitsfalle so leicht, so willig an. Der Schönheitsfallen kein Ende. Geradezu unproblematisch im Gegensatz zur Digitalfalle muten die beiden »Irrtümer« bei der Schönheitsbewältigung an, die Scarry anführt. Der erste Irrtum besteht in einem geistigen Irrtum, wenn etwas, das früher für schön gehalten wurde, es nicht mehr ist. Das geliebte Objekt wird verloren. Das scheint mir aber kein großes Problem, denn mit der eigenen Entwicklung lernt man dazu und man merkt, dass man zu leicht geurteilt hat und dass anderes wesentlich schöner empfunden wird. Außerdem besitzt nichts einen Ewigkeitswert; die Dinge und somit auch die Schönheitsattribute vergehen. Scarry nennt diesen in meinen Augen lässlichen Irrtum »overcrediting«.117 Umgekehrt die plötzliche Reaktion auf einen ästhetischen Gegenstand, den man bisher nicht wertschätzte, der jedoch eigentlich als schön zu werten wäre: Scarry nennt diesen Irrtum »undercrediting«.118 Auch, finde ich, eine lässliche Sünde. Denn wie vieles übersieht man im Leben? In wie viele Kunstprodukte muss man sich erst »hineindenken« bzw. »hineinfühlen«, um sie zu würdigen? Ein erstes Kennenlernen bringt noch nicht den Durchbruch. Erst später im Leben weiß man schwierigere, aber »schöne« Kunstwerke zu würdigen, zum Beispiel die betörenden Brahms-Kompositionen, die Schubert-Lieder oder Kunstwerke von Giovanni Bellini, von Vermeer mit seinen subtilen Allegorien oder Georges de La Tours zarte Hell-Dunkelmalerei, die meditativen Bilder von Rothko, Katharina Die Rückkehr der Schönheit | 147

Grosses explosive Farbbomben und Sebastião Salgrados humane Fotografien und insbesondere sein humanes Genesis-Projekt. Man glaubt, Schönheit sei immer nur schön, sei nur mit positiven Emotionen verbunden: eine vorletzte Falle. In den letzten Jahren wurde es fast Mode, Edmund Burkes berühmten Essay von 1757 über das Erhabene in die Ästhetik-Diskussion mit einzubeziehen. Den Grund dafür vermute ich in Burkes für das 18. Jahrhundert erstaunlich feinfühligen und klarsichtigen Analysen negativer Emotionen, die in der (experimentellen) Ästhetik eine immer größere Rolle spielen.

Schönheit und Kritik des Erhabenen Unter Erhabenheit (sublimity) versteht Burke eine Vielzahl von Emotionen, die als Schmerz, Horror, Angst und Furcht, ja sogar auch als Terror vom Menschen Besitz ergreifen.119 Die Emotion, die die Erhabenheit hervorruft, »is Astonishment … and astonishment is that state of the soul, in which all its motions are suspended, with some degree of horror«.120 Man wird »so entirely filled with the object, that one cannot entertain any other«.121 Mithin gehören für Burke diese Emotionen zu den stärksten, die es gibt. Die negativen Emotionen werden durch Plötzlichkeit, durch Erschrecken, durch Licht, durch Dunkelheit und durch die Unendlichkeit hervorgerufen, sogar durch extrem laute Geräusche (»excessive loudness«), was die Seele mit »terror« erfülle.122 Das Erhabene sei eine Idee der Selbsterhaltung: »That it is therefore one of the most affecting we have. That its strongest emotion is an emotion of distress …«123 Das Erhabene gründet für Burke im Terror, ganz im Gegensatz zur Schönheit, die auf »pleasure« basiere.124 Burke trennt mit seinem Erhabenheitsbegriff die Schönheit von der Negativität.125 Daher interpretiert er die Erhabenheit nicht als Steigerung der Schönheit. Sie habe nichts mit ihr gemein. Aber – und hier geht es um Prinzipielles – Schönheit und negative Emotionen können nicht immer getrennt werden, wie das Frankfurter Max-Planck-Institut 2019 feststellte: Negative Emotionen seien besonders mächtig darin, Aufmerksamkeit, intensive Gefühle und eine hohe Merkfähigkeit hervorzurufen.126 Ein Beispiel: Ich habe 148 | Die Rückkehr der Schönheit

Hemingways For Whom the Bell Tolls wegen des ruhig fließenden Textes und wegen der anziehenden Umsetzung der altertümlichen katalanischen Sprache als »schön« bezeichnet. Tatsächlich jedoch wird diese Schönheit mit den schrecklichen Kriegsgeschehnissen des Spanischen Bürgerkriegs verquickt, nämlich Liebe trotz Verwicklung in den Krieg, aber ohne ein Happy End. Hemingway vereint Schönheit und Horror. Desgleichen Caravaggios hoch dramatische Geschehnisse, zum Beispiel seine Kreuzigung Petri oder die Konversion des Paulus. Was wir als schön empfinden, wird in den meisten Fällen positiv gefühlt, aber das muss nicht immer sein. Da Schönheit immer spezifisch erfahren wird, gelten keinerlei Regeln, die dem Gegenstand normativ aufzupfropfen wären. Ein zweiter Grund dafür, Erhabenheit in die Schönheitsdiskussion einzubringen, liegt in Barnett Newmans programmatischem Essay von 1948 The Sublime is now. In diesem Aufsatz kritisiert Newman wie erwähnt das Versagen der europäischen Kunst des 19. und 20. Jahrhunderts, die das Niveau der Erhabenheit nicht erreicht habe. Die europäische Kunst versagte, weil sie innerhalb der »reality of sensation« verblieben sei, in dem, was man ungenau als objektive Wirklichkeit bezeichnen könnte.127 Die amerikanischen zeitgenössischen Künstler hingegen, d. h. die Informellen seiner Generation, befreit vom Gewicht der europäischen Kultur, hätten in ihren Werken eine neue Erhabenheit gewonnen. Die neuen amerikanischen Künstler schufen Kathedralen »out of our own feelings«.128 Der immens hohe Anspruch, das Unsichtbare darzustellen, findet sich auch in der Utopischen Moderne von 1900–1914. Die theoretische Inkunabel dieser ersten Phase der Moderne, der Spirituellen oder Utopischen Moderne, stellt Kandinskys Schrift Über das Geistige in der Kunst von 1911/12 dar. »Auf eine geheimnisvolle, rätselhafte, mystische Weise entsteht das wahre Kunstwerk ›aus dem Künstler‹«.129 Die Kunst »muss der Entwicklung und Verfeinerung der menschlichen Seele dienen«.130 Wir stehen, schreibt Kandinsky, am Beginn »eines neuen geistigen Reiches …, da dieser Geist die Seele ist der Epoche des großen Geistigen«.131 Zwei Auffassungen von Erhabenheit und das große Geistige, das der Erhabenheit nahesteht. Wie löst man diesen Knoten auf? Indem man mehrere Lösungen findet. Die Rückkehr der Schönheit | 149

Die erste wäre, Burkes extrem eigenwilligen Begriff des Erha­ benen ad acta zu legen. Statt seines verwirrenden Begriffs des sublime gibt es genug andere, wie zum Beispiel awe, ehrfürchtige Scheu, Ehrfurcht oder den Begriff des Sich-Wunderns (wonder), die posi­tive oder negative (Furcht begleitete) Auswirkungen nach sich ziehen können. Burkes Begriff halte ich für nicht zielführend, zu positiv ist doch der Begriff Erhabenheit im regulären Sprachgebrauch konnotiert. Der in der Psychologie gängige Begriff »negative Emotionen« sagt genau das aus, was ausgedrückt werden soll. Dieser schlichte und präzise Begriff für bestimmte Emotionen im Alltag genauso wie im Kunsterleben wäre dem erklärungsbedürftigen Burke’schen Begriff vorzuziehen. Doch Burkes Idee, dass negative Emotionen sehr starke ästhetische Erlebnisse nach sich ziehen können, kann man nicht einfach beiseite wischen. Das Thema findet sich mittlerweile auch in der experimentellen Ästhetik.132 Man muss für das gesamte ästhetische Erleben und für das Schönheitsthema im Besonderen zulassen, dass negative Gefühle eine Rolle in der ästhetischen Wahrnehmung spielen können. Zwei weitere Beispiele: Tolstois Epos Krieg und Frieden, das auch die Schrecken des Krieges darstellt. Oder Dantos Lieblingsbeispiel, das Vietnam Veterans’ Memorial in Washington, bei dem die Hauptemotion Trauer wäre. Oft spielen die negativen Emotionen in starken, nicht jedoch in schönen Kunstwerken eine Rolle wie bei Goyas Desastres de la guerra mit dem Thema der Schrecken des Krieges oder in Goyas bizarren, avant la lettre surrealen Disparates oder seinen düsteren Schwarzen Gemälden (Las pinturas negras). Eine dritte Lösung des Erhabenheitsproblems (nach der Abschaffung des Burke’schen Begriffs der Erhabenheit und der Zulassung negativer Gefühle in der Kunsterfahrung) ergibt sich durch Kants Auffassung von Erhabenheit. »Erhaben nennen wir das, was schlechthin groß ist.«133 Oder präzisiert: »Erhaben ist das, mit welchem in Vergleichung alles andere klein ist.«134 Es übertrifft »jeden Maßstab der Sinne«.135 Beim Schönen wird »directe ein Gefühl der Beförderung des Lebens« bei sich geführt, beim Erhabenen ist die Lust »indirecte«, »nämlich so, dass sie durch das Gefühl einer augen­blicklichen Hemmung der Lebenskräfte … erzeugt wird …«136 Das Wohlgefallen am Erhabenen enthält Bewunderung 150 | Die Rückkehr der Schönheit

und Achtung, also – genau wie bei Burke – »negative Lust«.137 Hier und nur hier konvergieren die Theoretiker Kant und Burke. Mit einem großen Unterschied: Für Burke trafen die Gefühle der »Erhabenheit« im Alltag, in der Kunst und auf die Natur angewandt zu. Kant löst das Erhabenheitsgefühl ganz von der Kunst und bezieht Erhabenheit lediglich auf die Natur. Die Krux des Erhabenheits­ gefühls und -begriffs liegt im Bezug worauf. Da die Natur und die außerirdische Natur, also das Universum, unglaublich groß sind, appliziere ich den kantischen Erhabenheitsbegriff, wie es der Königsberger selbst tat, allein auf die Natur und befreie die Kunst von diesem übergroßen Wort – und von diesem übergroßen Wert. Als Erwiderung auf Barnett Newman und Kandinsky: Nur die Natur kann erhaben genannt werden: die Berge, die Auen, die Wüsten, die Meere, die Sonnenuntergänge und -aufgänge, die sogenannten Naturwunder wie der Grand Canyon; das All in seiner schönen und furchterregenden Dimension, was alle Sinne und das menschliche Gehirn überfordert. Dass Newman seine Kunst und die der zeitgenössischen Informellen »erhaben« nennt, hängt auch mit dem absoluten Tabu der Schönheit in der Theorie der Moderne im 20. Jahrhundert zusammen. Dennoch meine ich, in den ästhetischen Diskurs der Kunst, also der menschlichen Werke, darf Erhabenheit nicht verpflanzt werden. Nennt man menschliche Werke, und seien sie noch so grandios, »erhaben«, spiegelt diese Qualifizierung narzisstisch unsere angebliche Besonderheit. Erhabene Kunst, noch schöner als schön – ein selbstgefälliger Ausdruck unserer maßlosen Selbstüberschätzung. Natürlich kann man manche Kunstprodukte als »wunderbar«, »grandios«, »einzigartig«, »herausragend« oder als »wunderschön« bezeichnen wie etwa den Genter Altar der Gebrüder Van Eyck oder Rembrandts Nachtwache oder Vermeers Das Milchmädchen oder seine Ansicht von Delft oder Beethovens Neunte oder Prousts A la recherche du temps perdu. Ich wäre der Letzte, der ihren immensen Wert für die menschliche Kulturgeschichte nicht anerkennte. Allein, erhaben sind sie nicht. Dieser Begriff sei für die Natur reserviert; was die ästhetische Diskussion vereinfacht und die schwelgerischen Worte ein wenig eindämmt. Das »große Geistige« fand als Utopie Kandinskys in seinem Vorstellungsvermögen statt, nicht in der Realität, denn zwei Jahre nach Die Rückkehr der Schönheit | 151

Erscheinen von Kandinskys Schrift brach das große Schlachten aus. Die brutale Realität widerlegte Kandinskys Theorie. Um die Kreise noch weiter zu ziehen: Seit 1914, seit 1939 und seit der Shoah kann es als vermessen gelten, von menschlichen Werken als »erhaben« zu sprechen. Oder wie Montaigne schreibt: Die Anmaßung gehört zum Menschen dazu. Aber tolerieren, füge ich hinzu, muss man sie nicht. Hier im ästhetischen Diskurs haben wir die Möglichkeit, sie aus dem Gespräch über Kunstprodukte zu verbannen; nicht als Opfer einer Zensur, sondern aus bescheidener Einsicht.

Plädoyer für das Schönheitsempfinden Schönheit hingegen möge im Diskurs zugelassen werden. Dafür plädiere ich: Für die Anerkennung eines zutiefst menschlichen und unverzichtbaren ästhetischen Bedürfnisses. Daher muss das Schönheitsthema teilhaben an jeder gegenwärtigen und zukünftigen ästhetischen Theorie, jedoch mit etlichen Einschränkungen, die ich darzustellen versucht habe. Die längst überholte, traditionelle Rolle als Zentralbereich des Ästhetischen muss der Schönheit aberkannt werden. Nur so würdigt man ihre ästhetische Eigenart, ihre subjektive Vielfalt und noch wichtiger: Man erwartet von der Schönheit nicht zu viel. Jullien schreibt vom hohen Ansehen des »Schönen« in der westlichen Welt, »… deshalb, weil es als letzte Bühne für das glückliche Leben dient; weil es der letzte Messianismus ist, der uns bleibt …«138 Auch in der ökologischen Krise, in der wir uns befinden, weise man jeden Messianismus, jede Heilserwartung der Schönheit von sich. Schönheit existiert nicht, um als Religionsersatz missbraucht zu werden. Schönheit, meint Schjeldahl, könne die Welt nicht retten.139 Zu hohe Erwartungen ziehen unweigerlich Enttäuschung nach sich. Man rüste ab: bei überhöhten Heilserwartungen, bei schwelgerischen, gefühligen Begriffen, wie sie Kandinsky verwendete, beim Erhabenheitsattribut als unnötige Steigerung der Kunstschönheit. Gerade in Krisenzeiten schätze man Schönheit realistisch ein: als große Freude, die einem Menschen widerfahren kann, als tiefes ästhetisches Erlebnis, wenn Bedeutung und Schönheitsempfinden einander freundschaftlich begegnen. 152 | Die Rückkehr der Schönheit

ÄSTHE TISCHE ERFAHRUNG I: ALLTAGSÄSTHE TIK Gerade in Krisenzeiten besinne man sich auf die Alltagsästhetik. Sie, die naheliegendste ästhetische, sprich: unmittelbar sinnliche und allgegenwärtige Perzeptionserfahrung, kann dem Menschen täglich schenken, was ihm die Kunst eher ausnahmsweise geben kann: die sinnlich-ästhetische Freude im Angesicht der ökologischen Endzeit. Und so darf dieses Kapitel keineswegs in einer irgendwie gearteten Hegel’schen, pseudologischen Abfolge von den »niederen« Alltagserfahrungen über die »höhere« der Natur bis zur »höchsten«, der Kunst, fehlinterpretiert werden. Die Abfolge der ästhetischen Erfahrungskapitel I, II und III, die hiermit beginnt, will gerade keine Hegel’sche Hierarchisierung darstellen, keine Wertung. Der Alltag erlaubt meist andere ästhetische Erfahrungen als Natur und Kunst. Sie gering zu achten widerspräche dieser urteilsfreien Ästhetik, die sich von der Dominanz des ästhetischen Urteils befreite. Angesichts der ökologischen Zerstörung ermöglicht es uns die Wertschätzung des Alltäglichen, angeblich unterschiedslos Banalen, um eine neue, frische Perspektive auf das Leben wiederzugewinnen. In den drei ästhetischen Erfahrungs­ kapiteln dringe ich also vom Naheliegenden zum Entfernteren der Natur und zum Entferntesten, der Kunst, vor.

Die naheliegendste ästhetische Erfahrung Die Alltagsästhetik reiht sich ein, wie hier oft bemerkt, in die Tradition Alexander Baumgartens mit seiner Ästhetik von 1750. Baumgarten ging es um Ästhetik als sinnliche Erfahrung von Nichtkunst und Kunst im Sinne des altgriechischen aisthanomai – wahrnehmen, fühlen. »Ästhetik« heutzutage wird meist falsch in einem »honorific sense«1 verstanden, als schönes Erleben oder als Wertung künstlerischer Güte. Hier geht es nicht um eine positiv gewertete 153

Ästhetik, sondern schlichtweg um eine erst einmal neutrale sinnliche Perzeption à la Baumgarten. Seit ungefähr 25 Jahren herrscht in der westlichen und östlichen Ästhetik-Diskussion Einigkeit darüber, dass Alltagsästhetik als ästhetische Subgruppe zur allgemeinen ästhetischen Theorie dazugehört. Indem ich die Alltagsästhetik als naheliegendste sinnliche Erfahrung verstehe, impliziere ich, dass es nicht genügen kann, sie als Subgruppe zu werten. Alltagsästhetik ist, wie zu zeigen sein wird, eine vollwertige ästhetische Erfahrung und kann sogar als Basis für alle ästhetischen Erfahrungen gelten. Denn bevor wir Kunstwerke wahrnehmen, erfahren wir Stofftiere, Bälle, Glöckchen und Rasseln. Oder, wie Wittgenstein bemerkte: »Die für uns wichtigsten Aspekte der Dinge sind durch ihre Einfachheit und Alltäglichkeit verborgen. (Man kann es nicht bemerken – weil man es immer vor Augen hat.)«2 Man erfährt in der frühen Kindheit die umgebenden Menschen und Gegenstände vorbegrifflich, sinnlich, präsent. Immer mehr Theoretikerinnen und Theoretiker folgen der Baumgarten-Linie und werten die alltäglich-sinnliche Erfahrung hoch, wie etwa Katya Mandoki: »There is no aesthesis without life, no life without aesthesis.«3 Leddy zufolge gehört vieles dazu: persönliches Erscheinungsbild, Inneneinrichtung, Arbeitsplatzumfeld, sexuelle Erfahrung, Geräte- und Objektdesign, Kochen, Gärtnern, Hobbys und Spiel.4 Dabei ist der Begriff »Alltag« schwer fassbar und angreifbar, denn er variiert von Person zu Person und gemäß den Veränderungen des eigenen Lebens.5 Was wichtig sei, schreibt Saito, sei nicht eine Objektaufzählung der Umgebung, »but rather the mode of experience based upon an attitude we take towards them«. 6 Es ist Saitos Verdienst, nicht nur die umgebenden Objekte, sondern das Prozessurale, das Dynamische, die genuin ästhetische Erfahrung ins Zentrum der Alltagsästhetik gestellt zu haben. Das unterscheidet prinzipiell die objektbezogene Kunstästhetik von der Alltagsästhetik.

154 | Ästhetische Erfahrung I: Alltagsästhetik

Materielle Kultur als ästhetische Ordnung Wir erleben gerade, schreibt Berleant, »a vast expansion of the scope of aesthetic inquiry«.7 Dazu gehört auch die junge Wissenschaft der materiellen Kultur (Material Culture Studies). Daniel Millers Studie von 2008 mit 15 Porträts zufällig ausgewählter Menschen SüdLondons in einer einzigen Straße (die er fiktiv Stuart Street nennt) ohne gesellschaftliche Typenzuordnung kann als bahnbrechend gelten. 8 Die Vielfalt der Süd-Londoner Bewohnerinnen und Bewohner verblüfft. Sie denken nicht im Rahmen von Staat und Religion, sondern im Rahmen von Beziehungen zu anderen Menschen, bei der wiederum die Dingkultur für diese Beziehungen eine wichtige Rolle spielt. Eine aus dem exotischen Papua-Neuguinea heimgekehrte Ethnologie. Man interessiert sich für die europäische materielle Kultur, »weil die Gegenstände Schöpfer der Menschen sind, nicht umgekehrt. Die Ordnung, die den Beziehungen zu und zwischen den Objekten zugrunde liegt, formt im Wege der Sozialisation das Individuum, das wir dann in soziale Kategorien – Katalane oder Bengale, Arbeiter, männlich oder jung – einordnen.«9 Man erschafft sich eine materielle, moralische und ästhetische Ordnung, mit der man lebt.10 Diese Beziehungsnetze zu Menschen und Objekten zeichnen sich durch eine bestimmte Ästhetik aus, die künstlerischen Ansprüchen nicht genügen muss, »aber sie besteht stets aus wiederkehrenden Mustern …«.11 Schon in der Aufstellung etwa von Gegenständen auf einem Regal lässt sich eine bestimmte Ordnungsvorstellung ablesen, die in den Einrichtungsgegenständen, in den Beziehungsstrukturen und im emotionalen Repertoire der Bewohnerin oder des Bewohners wiederkehrt.12 An der Wohnungseinrichtung kann man die Gesamtheit der Beziehungen des Lebens ablesen, die in ein System integriert werden. Diese Ganzheit erzählt eine ganz persönliche Geschichte, die über die Bestandteile hinausweist.13 Eine solche kleine Kosmologie hat nichts mit spätmoderner Fragmentierung zu tun, »sie bleibt ein ganzheitlicher Entwurf, mit allen Brüchen und Widersprüchen«.14 Jeder Haushalt eine Gesellschaft in nuce. Als Alternative zur Gesellschaft folgt nicht das fragmentarische Individuum, »sondern es sind Menschen, die in Beziehungen zu Dingen und anderen Menschen stehen«.15 Miller bezeichnet dieses jeweilige OrdnungssysÄsthetische Erfahrung I: Alltagsästhetik | 155

tem als ästhetisch, das auf Werten, Emotionen und Erfahrungen beruht.16 Turkle nennt die emotional besetzten Objekte »evocative objects«, die nicht nur nützlich oder ästhetisch seien; sie können auch »companions to our emotional lives« sein »or as provocations to thought« uns wertvolle, wertvollste Dienste leisten.17 Jean Piaget folgend schreibt Turkle, dass Objekte uns in unseren frühesten Jahren helfen, Anzahl, Raum, Zeit, Kausalität und Lebenseinsichten zu formen.18 Das Lernen ist situativ, konkret und persönlich: »We invent and reinvent ourselves«.19 Kein Wunder, dass sich Millers fünfzehn Porträtierte radikal voneinander unterscheiden, beginnend mit »George«, dessen leere Wohnung (abgesehen von Möbeln und Teppichen) nichts Persönliches, kein Foto, keinen persönlichen Gegenstand enthält. Georges tyrannische Eltern erlaubten ihm keinerlei Selbstständigkeit, keinen Ausdruck seiner selbst, 20 im Gegensatz zur Fülle von »Mr and Mrs Clarkes« privatem Schatz, deren Leben mit vielen Beziehungen und Gegenständen geradezu überquillt.21 Oder »Stan«, der ehemalige Söldner, der Menschen getötet hat: ein leeres Leben, ein Kampf gegen die Gespenster, die ihn zu überwältigen drohen.22 Georges und Stans Leben bleiben entpersönlicht, unausgefüllt, tot, während das reichhaltige Leben von Mr and Mrs Clarke oder das Leben der Tätowierungsliebhaberin »Charlotte«23 ausgefüllt und freudig erlebt wird – und ästhetisch, da diese Personen mit Sinnlichem der eigenen Wahl ein blühendes, ästhetisches Ordnungssystem selbst ausformten. Die alltägliche Umgebungswelt kann, wenn man sie aufmerksam, sinnlich und somit ästhetisch erfährt, den Menschen unendlich bereichern. Eine geschärfte ästhetische Sensibilität vermag die Alltagserfahrungen zu maximieren.24 Die japanische Kultur nennt das den fokussierenden, selektiven Blick. Liu bezeichnet die inkludierende Alltagsästhetik als »Living Aesthetics«.25 Der Begriff trifft den prozessualen, existenziell erfahrbaren und nicht nur objekt­ gebundenen Sachverhalt präzise.

156 | Ästhetische Erfahrung I: Alltagsästhetik

Interaktionen Nimmt man es genau, stimmt Millers Aussage nicht ganz, nämlich dass die Gegenstände uns formen. Tatsächlich ergibt sich im Alltag und erst recht in der alltäglichen Ästhetik ein komplexes, interdependentes Geflecht von Individuum zu anderen Individuen und zur gegenständlichen Umgebung. Wir interagieren mit den Betten, Tischen, Sesseln, Sofas und der eigenen Kleidung, auch wenn wir das nicht bewusst wahrnehmen. Die Umgebungsobjekte »call us, sidle up to us«, wie Highmore schreibt.26 Nach unserer Wahl gemäß der im Urteilskapitel vorgeschlagenen Choice Theory agieren die Gegenstände auf uns: Sie beeinflussen uns, verlocken uns, begleiten uns, erweitern uns, helfen uns psychologisch und ästhetisch. Und wir agieren auf die Objekte: Wir machen sie oder wählen sie aus, bezahlen für sie, machen sie kaputt, wir verändern sie, wir schenken ihnen Bedeutung, arrangieren sie mit anderen Objekten zusammen und werfen sie weg oder verschenken sie prämortal oder post mortem. Es scheint, schreibt Highmore, eine symbolische Beziehung zwischen den Menschen und den Objekten zu geben.27 Die Gegenstände können uns ein Leben lang begleiten oder nur eine winzige Lebensspanne lang. Eine silberne Tabakdose meiner Großeltern, die ich als Kind auf einem ihrer Tische liegen sah und bald erbte und die nun auf meinem Schreibtisch liegt, gehört zu meinem Leben dazu, bis zum Exitus. D. W. Winnicott bezeichnete Kindheitströster als »transitional objects«.28 Gelingt es dem Kind nicht, diese Objekte später abzustoßen oder werden sie zu früh verloren, können die Gegenstände von einem Besitz ergreifen; sie werden zu ersehnten Objekten, zu Objekten der ungesättigten Begierde. Kanes Kindheitsschlitten in Orson Welles’ Citizen Kane (1941) entwickelt sich zu einem solchen Objekt der Sehnsucht nach einer heilen Kinderwelt, nachdem seine Mutter ihn als Kind verlassen hat. In der Filmgeschichte wurde der ganz gewöhnliche Schlitten mit der berühmten Aufschrift Rosebud zur Legende, ein Prozess der Kathexis, des Energietransfers von Person zu Person oder von Objekt und Ideen zu Person. Es sind »geladene« Objekte und Geschehnisse.29 Vorsicht also vor den Gegenständen. Sie sind mächtiger, als man glaubt; eine Warnung vor den Untiefen der Alltagsästhetik. Ästhetische Erfahrung I: Alltagsästhetik | 157

Abb. 4:  Die silberne Tabakdose, Oberseite

Abb. 5:  Die silberne Tabakdose, Unterseite

Die kleinen Dinge Man beginne damit, die kleinen Dinge der Umgebung zu schätzen. Abgesehen von der japanischen Ästhetik wurde im Westen eher punktuell und gelegentlich auf die kleinen Alltagsfreuden verwiesen. In seiner Reise um mein Zimmer unternahm Xavier de Maistre in den 1790er Jahren eine 42-tägige Expedition rund um sein Zimmer, worin er jedes Objekt betrachtete und seelisch verarbeitete. Erinnerungen wurden wach, Träume, Freud’ und Leid. 30 Kein Jahrhundert später dichtete Paul Heyse Auch kleine Dinge können uns entzücken, vertont in Hugo Wolfs Italienischem Liederbuch Nr.  1: »Auch kleine Dinge können uns entzücken / Auch kleine Dinge können teuer sein / Bedenkt, wie gern wir uns mit Perlen schmücken; / Sie werden schwer bezahlt und sind nur klein / Bedenkt, wie klein ist die Olivenfrucht / Und wird um ihrer Güte doch gesucht / Denkt an die Rose nur wie klein sie ist. / Und duftet doch so lieblich, wie ihr wißt.«

Hermann Hesse schrieb im Jahr 1899 in seinem kurzen Aufsatz Kleine Freuden von der Bedeutung des Kleinen, Alltäglichen, denn »unsere Art zu genießen, ist kaum weniger nervös und aufreibend als der Betrieb unserer Arbeit«.31 Die Mittel dagegen: Maß zu halten an den Genüssen, auf dass sich die Genussfähigkeit steigere; vor einem Meisterwerk verweilen und sich damit für diesen Tag begnügen, denn die schönsten Freuden seien die, die kein Geld kosten: der »Hauch der Morgenfrische«, ein Stück Himmel, ein Pferd, ein schöner Hund, eine Kindergruppe. 32 Jeden Tag erlebe man im Vertrauten so viele kleine Freuden wie möglich und die größeren, anstrengenderen verteile man »sparsam auf Ferientage und die guten Stunden …«. »Zur Erholung vor allem zur täglichen Erlösung und Entlastung sind uns die kleinen, nicht die großen Freuden gegeben.«33 Die großen Freuden wären in ästhetische Termini gefasst die »Erlebnisse«, die kleinen Freuden die »Erfahrungen«. Um Letztere soll es in diesem Kapitel gehen. Nachdem Hesse das Alltagsphänomen in nuce zusammengefasst hat, könnte man meinen, eigentlich sei alles über die Alltags­ ästhetik gesagt und das Kapitel wäre zu Ende, mit einer Verbeugung vor Hermann Hesse. Doch zu früh gefreut. Nichts offenbart sich in der Ästhetik auf einfache Weise. Die Anstrengung des Ästhetische Erfahrung I: Alltagsästhetik | 159

Begriffs will geleistet werden. Bevor ich auf die aufbauende japanische Alltags­ästhetik eingehe, werde ich fünf Probleme der Alltagsästhetik behandeln, um tiefer in das vielschichtige, weite Feld der Alltagsästhetik einzudringen und sie hoffentlich clare et distincte zu gestalten. Ich beginne daher mit dem Unklarsten, dem Verschwommenheits-Thema.

Problem 1: Das ästhetisch Diffuse Saito kritisiert zu Recht, die Ästhetik auf die Kunsterfahrung einzuengen führe zu einer ästhetischen Verarmung.34 Sie geht daher inkludiert vor. Alles müsse in die Alltagsästhetik einbezogen werden: Inneneinrichtung, den Tisch decken, Musik, Blumenarrangements, Essen und Trinken etc. Am herausforderndsten seien das Familiäre, die Routinen, das ganz Gewöhnliche.35 Sherri Irvin betont, »we should attend to the minor moments of experience that supply much of the texture of our lives. And we should acknowledge that most of life is, in fact, made up of minor moments.«36 Nichts darf als unbedeutend abgetan werden, denn das verringert oder negiert unsere Fähigkeiten, die Interaktionen zu genießen.37 Damit habe ich ein Grundproblem der Alltagsästhetik angesprochen: Wenn alles Ästhetik ist, ist nichts Ästhetik – der Panästhetizismus. Er führt in letzter Konsequenz dazu, dass die Ästhetik irrelevant wird, könnte man meinen. Mandoki weist auf die fehlerhafte Grundannahme einer solchen Position hin: Sie geht von einem ästhetischen Objektivismus aus, der manche Objekte in den Diskurs einbeziehen will, andere nicht. Mandoki schreibt: »The only aesthesis resides in the subject, not in things … Aesthesis is a condition of live beings. Moreover, it is not a ›condition‹ but ›the condition‹ of life. To live implies aesthesis (which does not mean everything in life is aesthesis).«38 In der Alltagsästhetik offenbart sich die subjektive Erfahrung des Ästhetischen, denn diese Erfahrung definiert das Subjekt selbst, außerhalb jeglicher Tradition und außerhalb aller ästhetischer Normen. Aus dieser subjektiven Grundlegung des Alltagsästhetischen heraus gelang es Irvin und Saito in den letzten Jahren, das bisher noch nicht Gedachte provokativ in die Alltagsästhetik einzubinden: Bei 160 | Ästhetische Erfahrung I: Alltagsästhetik

Irvin das Kratzen eines juckenden Körperteils, bei Saito die Ästhetik von Windrädern und die Ästhetik des Wäschewaschens und -aufhängens.39 Es kommt dabei auf die subjektive Wertung an, nicht auf das Objekt selbst. Wie viel Aufmerksamkeit will man e­ iner sinnlichen Erfahrung schenken? Kann und will man das Trinken einer Tasse Kaffee in eine »quietly exquisite and even strange foreign« Erfahrung ästhetischer Art verwandeln?40 Will man sich dabei langweilen oder ein auch noch so kleines, aber besonderes ästhetisches Erlebnis daraus machen? Nach jedem Mittagessen zu Hause freue ich mich auf das gustatorische, kleine ästhetische Erlebnis eines Espresso, den ich oft mit einer handgemalten RoyalWorcester-Mokkatasse mit winzigen Schlückchen in die Länge ziehe. Das ist angewandte Rasa, der buchstäbliche ›Geschmack‹ des Ästhetischen. Aus einer banalen Alltagserfahrung erschaffe ich mit ästhetischer Aufmerksamkeit eine herausgehobene kleine Handlung, die mich jedes Mal erfreut. Während Irvin, Saito, Melchionne und Berleant die Alltags­ offenheit verteidigen und auszuweiten suchen, gibt es von Carlson und Dowling Widerstand dagegen. Carlson fürchtet ein ästheti-

Abb. 6:  Die kannelierte Mokkatasse Ästhetische Erfahrung I: Alltagsästhetik | 161

sches »anything goes«: Es gebe in den Alltagsbeispielen nichts, was die ästhetische Erfahrung im Alltag lange aufrechterhält, denn die Motivation dazu existiere nicht.41 Aber Carlson geht von der Hochkunst-Perspektive der Kunstbetrachtung aus. Das ist in­adä­ quat für die Erfahrung der Alltagsästhetik. Die Motivation zu einer ästhetischen Alltagserfahrung kann geplant sein (die Tasse Espresso), kann sich zufällig ergeben oder auch nicht; sie hängt vom Subjekt und der Wertschätzung dieses Subjekts vielleicht nur in diesem Moment ab. Auch in der bildenden Kunst sind manche Erfahrungen oberflächlich, schnell und unbedeutend. Bei der Alltagsästhetik geht es oft um eine reale, unmittelbare, nicht eine betrachtend-kontemplative Interaktion. Natürlich können auch Alltagserfahrungen kontemplativ sein, wenn ich die erwähnte Silber-Tabatière vor mir genauer und genüsslich anschaue mit ihren schönen Verzierungen, wenn ich sie umdrehe und mich frage, was die Inschrift auf dem Boden außen, »Tilsit d. 7. Novbr. 1859«, bedeuten könnte. Ein Hochzeitsgeschenk für einen leidenschaftlich Tabak schnupfenden Mann? Ein Geburtstagsgeschenk? Ein Weihnachtsgeschenk? Was geschah an diesem Tag? Dowling fürchtet um ein Kernkonzept des Ästhetischen, nämlich die Trivialisierung des Ästhetischen, bei der keine Klarheit darüber herrsche, was zur Ästhetik zählt und was nicht. Er fürchtet um den »normative aspect that renders certain judgements of particular interest to others«.42 Aber – in der Alltagsästhetik geht es gar nicht um ästhetische Urteile. Melchionne antwortet auf Dowlings Sorge um das Ästhetische. In der Tat entfällt bei der Alltagsästhetik der Diskurs, für den, Dowling zufolge, das ästhetische Urteil Bedingung sei. Das mag ein Nachteil sein, jedoch keine Disqualifikation.43 Prinzipiell gilt das erst recht bei der Alltagsästhetik: Der kritische Diskurs bleibt ein absolutes Nebenprodukt der ästhetischen Erfahrung.44 Indem wir, oft genug, nonverbale ästhetische Innenschau in Worte zu fassen versuchen, wird unsere unmittelbare Erfahrung aufgebrochen, bestenfalls unterbrochen, schlimmstenfalls völlig unzureichend umrissen.45 Will ich meiner Frau und den Nachbarn das kleine Espressoerlebnis näher beschreiben? Ich will es nicht. In der Tat ist man bei der alltagsästhetischen Privaterfahrung oft »locked in a private world«46; das jedoch gehört zu den unmittelbaren Erfahrungen. Ich setzte unbewusst meist einen 162 | Ästhetische Erfahrung I: Alltagsästhetik

Wert-für-mich, keinen Wert-für-uns. Meist fehlt der Versuch ­einer ästhetischen Intersubjektivität. Das jedoch gehört konstitutiv zur Alltagserfahrung und sollte nicht abträglich gewertet werden. Akzeptiert man die Dominanz und die Berechtigung des Wertes-fürmich bei der Alltagserfahrung, löst sich das Problem des ästhetisch Diffusen in Wohlgefallen auf. Das interagierende Subjekt allein wählt den ästhetischen Gegenstand aus und die Interaktion muss keineswegs kommuniziert werden. Daher erübrigt sich eine Diskussion darüber, welche der fünf Sinne in der ästhetischen Alltagserfahrung eingebunden werden und welche nicht. Das Espresso-Beispiel lehrt uns: Alle Sinne werden potenziell eingebunden, denn die Sinne vermischen sich.47 Ich genieße das alte Mokkatässchen auch visuell, dessen Kannelierungen ich manchmal berühre und dessen handgemalte Blumen ich sinnlich wahrnehme, was mich erfreut. Erwartungsvoll höre ich, wie der Espresso durchläuft. Ich genieße den frischen Kaffeegeruch, bevor ich den Geschmack schmecke. Vier Sinne in einer Handlung, noch vor dem Schmecken. Yi-Fu Tuan geht ins Detail und beschreibt alle ästhetisch relevanten Sinne (es gibt keine irrelevanten). Alle fünf Sinne sind anwendbar, nicht nur die visuelle Wahrnehmung wie bei der kunsthistorischen Bildbetrachtung.48 Es bestehen keinerlei Gründe, einen Sinn auszuschließen.

Doppelproblem 2: Das Vergnügen und die Rahmenlosigkeit Jane Forsey weist auf die Gefahr hin, die besteht, wenn man in der Alltagsästhetik von den holistischen ästhetischen Erfahrungen ausgeht, denn Vergnügen (pleasure) und Ästhetik könnten dergestalt miteinander verschwimmen. Sie würden ununterscheidbar. Um das zu vermeiden, möchte Forsey einige lokale und partikulare Erfahrungen aus dem Ästhetischen ausschließen. 49 Das aber widerspricht einer offenen ästhetischen Theorie, oder wie Leddy schreibt: Die ästhetische Alltagserfahrung ist umfassend, durchdringend (pervasive) und kennt keine Grenzen.50 Allerdings löst diese Feststellung nicht das Problem des Verschwimmens von Alltagsästhetik mit dem Vergnügen. Ästhetische Erfahrung I: Alltagsästhetik | 163

Ein Glas Limonade zu trinken wertet Forsey als angenehm, das sei jedoch weder schön noch ästhetisch hochbedeutsam, noch überhaupt von Bedeutung geprägt. 51 Sie etabliert, wie Leddy kritisiert, eine Barriere zwischen dem hedonischen Wert und dem ästhetischen. 52 Genießt man ein Glas Limonade auch ästhetisch, können die Werte in eins fallen, wenn man diese Erfahrung als »improved experience« steuert und wertet. 53 Prousts berühmte Madelaine, die seine ganze Kindheit wiederauferstehen lässt, zieht sogar ein tiefes ästhetisches Erleben (im Unterschied zur Erfahrung) nach sich. 54 Ohne diesen hohen Anspruch zu besitzen, habe ich versucht, ein »improved experience« des schlichten Espressotrinkens darzustellen. Es gibt sehr wohl und prinzipiell einen Unterschied zwischen reiner sinnlicher Befriedigung und ästhetischem Vergnügen. Irvins Kratzen eines Juckreizes, wenn man es bewusst wahrnimmt, ja sogar kontempliert, kann sehr wohl auch zu einer ästhetischen Erfahrung werden. Das hängt unmittelbar mit einem weiteren Vorwurf zusammen, den Kritiker der Alltagsästhetik machen, dem der Rahmenlosigkeit der Erfahrung (framelessness) oder der Willkür der eigenen Einrahmung einer ästhetischen Erfahrung. Aber – wie sollte das anders möglich sein? Ich habe den täglichen Espresso­ genuss für mich »gerahmt«, zu etwas Besonderem gemacht, ein »improved experience« daraus gestaltet, um das Espressotrinken auch ästhetisch zu genießen. Wer sollte das sonst einrahmen? Bei einer Einladung zum Abendessen bei Freunden, bei einem harmonisch, feierlich und ästhetisch gedeckten Tisch nimmt mir die Gastgeberin oder der Gastgeber die Einrahmung ab. Die Frage, die ich jedoch stelle, lautet: Muss eine ästhetische Alltagserfahrung überhaupt »gerahmt« sein? Dewey zufolge könnten ungeformte (inchoate) ästhetische Erfahrungen nicht zu den ästhetisch Erlebbaren gezählt werden. Sie seien nicht gerundet. 55 Doch das sind feststehende Kriterien, die an die Alltagsästhetik herangetragen werden. Ihrem Fluidum werden sie nicht gerecht. Nicht jede ästhetische Alltagserfahrung muss etwas Besonderes sein; im Gegenteil. Oft geht es nur um momentane Erfahrungen wie der Sonnendurchbruch zwischen den Wolken, wie ein Amselgesang, wie eine ästhetisch ansprechend dargebotene Speise. Diese im Prinzip rahmenlosen und typischen Alltagsästhetik-Erfahrungen 164 | Ästhetische Erfahrung I: Alltagsästhetik

können an Oberflächen haften bzw. oberflächlich sein: ein sauberes Badezimmer, ein elegantes Auto, das vorbeifährt, ein zufällig sich ergebendes Zusammenspiel warmer Farben, ein Arrangement von Obst in einer Obstschale. Oft genug findet keine persönliche Rahmung statt; und doch sind auch die Zufälle, die momentanen Erfahrungen ästhetisch erfahrbar. Dewey, auch wenn er als der frühe Großvater der Alltagsästhetik bezeichnet wird, geht letzten Endes von Kriterien der Kunstbetrachtung aus. Gegen den unterschiedslosen Zusammenfall des Alltagsästhetischen mit dem Angenehmen spricht außerdem das Hässliche des Alltags. Doch was empfinden alle Menschen als hässlich? Vielleicht, aber nur vielleicht heruntergekommene, vernachlässigte Stadtviertel. Tuan beschreibt Sauberkeit als Wert, der zu den Shopping Malls und zu Disneyland konstitutiv gehört, ja solche Institutionen befördert 56 – obwohl andere Menschen, die sie nicht aufsuchen, sie als »hässlich« bezeichnen würden. Oder der Strip, die Zersiedlungsblocks, wenn man in eine amerikanische Ortschaft auf dem Highway einfährt. Die Atmosphäre ist grell mit monströsen, gigantischen Schildern und plumpen Befehlen, die dem/der Autofahrer/in entgegen gellen: EAT! DRINK! GAS!57 Für viele Menschen hässlich, für viele junge Amerikaner ein positives, vielfältiges, cooles ästhetisches Erlebnis.

Problem 3: Das ästhetische Urteil Keine Alltagsästhetik ohne populäre Musik. Man kann sie ausschalten, indem man nicht Radio hört und nur klassische Musik auflegt; für gewöhnlich aber gehört sie zur Alltagskultur dazu, und sei es nur, dass man mit ihr als Teenager/in aufwuchs: mit Elvis, den Beatles, mit ABBA, mit Punk, mit Beyoncé und vielen anderen. Unsere Musikpräferenzen sind besonders wichtig für den Sinn unserer selbst »because of its unique emotional intensity – we absorb songs into our own lives and rhythm into our bodies«, wie Frith schreibt.58 Die Musikidentität besitzt eine fantastische Seite – die Idealisierung des Selbst und der bewohnten Sozialwelt – und eine reale: die gelebte Welt der Aktivität.59 Musik machen und Musik hören werden direkt und körperlich erfahren. 60 Ästhetische Erfahrung I: Alltagsästhetik | 165

Friths körper- und sozialbetonte Interpretation der populären Musik widerspricht seiner anfänglichen Intention, nämlich die Bedeutung ästhetischer Werturteile in der Alltagsmusik hervorzuheben. Weshalb denn kühle ästhetische Urteile in einem populären, man kann sagen heißen Genre, das unmittelbar für jeden einen leichten Zugang erlaubt? Wie Frith selbst nachwies, findet der Zugang emotional statt, nicht durch einen kritisch abwägenden, ästhetische Kriterien herunterspulenden Verstand einer Vierzehnjäh­ rigen, die sich zu Recht keinen Deut um ästhetische Urteile schert. Die Emotionstheorie, die ich im Kapitel über das ästhetische Urteil heranzog, beweist klar, dass das ästhetische Urteil in der populären, hoch emotionalisierten Musik gerade unangebracht ist. Das gilt insgesamt für die Alltagsästhetik: Ästhetische Urteile sind hier unangebracht und nicht wünschenswert, könnten sie doch sogar das unmittelbare Genusserlebnis zerstören. Im Zeichen der neuen Globalästhetik habe ich das ästhetische Urteil abgelehnt, diese uralte, keine Milch mehr gebende heilige Kuh der westlichen Ästhetik. Wie soll ich thailändische oder indische Alltagsmusik beurteilen können? Worüber man nichts sagen kann, darüber muss man schweigen und den Alltagskulturen aller Völker mit Respekt begegnen. Bei der durchaus kommunizierbaren Einschätzung (nicht: Urteil) von alltagsästhetischen Erlebnissen wird es eher um low-key appraisals gehen. Ihre Basis kann man bestenfalls in künstlerischen Einschätzungen oder in subjektiv künstlerischen Einschätzungen von einfachem Gefallen oder Nichtgefallen suchen. Mehr bedarf es meist nicht für Alltagserlebnisse.

Problem 4: Eigenschaften und Kriterien Kriterien an die Alltagsästhetik-Erfahrungen heranzutragen, halte ich für wenig sinnvoll. Bei der Offenheit der vielfältigen Alltags­ aktionen wäre die Einführung von Kriterien ein kategoriales Herangehen an ganz gewöhnliche Erfahrungen, die auch noch bewusst zu reflektieren wären: ein bemühtes, unfreies und inadäquates Herangehen an das Fluidum des Alltags. Kriterien scheiden in der Alltagsästhetik aus. 166 | Ästhetische Erfahrung I: Alltagsästhetik

Anders verhält es sich bei den Eigenschaften der Alltagsästhetik. Aber bevor ich beginne, Eigenschaften aufzuzählen, stelle ich auch hier die Sinnfrage: Wie sinnvoll sind Eigenschaften bei der Alltagserfahrung? Denn Eigenschaften (properties) sind, wie Leddy feststellte, weder objektgebunden, also in den Objekten vorhanden, noch ganz subjektiv. Bevor man Eigenschaften wie ordentlich, schlampig, organisiert, aufgeräumt und die komplexen wie symmetrisch  /  asymmetrisch, proportioniert, ausgewogen, harmonisch etc. festlegt, muss man sich im Klaren werden, dass wir von Eigenschaften erfahrener Dinge reden. 61 Wir sprechen von schwer festzulegenden, dynamischen Eigenschaften. Trotzdem führt Leddy eine ganze Reihe posi­ tiver und negativer Eigenschaften auf, auch erweiterter wie »sieht gut aus«, »gut geplant«, »gut durchdacht«, »zu hoch«, »zu rot« etc. 62 Neben hübsch, schön, graziös, angenehm etc. sind die negativen besonders interessant: schmuddelig, hässlich, düster, langweilig, tragisch, schockierend, beängstigend, traurig, sentimental, wüst, deprimierend, dröge, unbequem. 63 Mandoki ergänzt diese Eigenschaften: the frumpy, the dowdy, the sleek, the creepy, the dull etc. 64 Nun gilt es zurückzutreten und die Sinnfrage erneut zu stellen. Melchionne bringt einen ganz neuen Aspekt der Alltagsästhetik in die Diskussion ein. Er empfiehlt, von den kleinen Scheibchen der Alltagserfahrungen erst einmal abzusehen und Bedeutung anderweitig zu suchen. Er schreibt, eher die Muster des Alltagslebens schenkten dem Subjekt Bedeutung. 65 »By focusing on discrete moments, we have mistaken the very ontology of everyday aesthetic life. What matters is the routine, habit, or practice, the cumulative rather than individual effect.«66 Melchionne verschiebt den Fokus der Alltagsästhetik weg von (nur) den kleinen Dingen, die Hermann Hesse so beredt beschrieb, zu den Routineabläufen des Alltags, deren Summe in vielem die Alltagsästhetik konstituiert. Das Kleine, Einmalige gehört dazu ebenso wie die Gewohnheiten, bei denen eine Einrahmung meist nicht geschieht. Mit den aufgezählten Eigenschaften vermag man durchaus ästhetische Alltagserfahrungen zu beschreiben. Sie erlauben jedoch eine eingeschränkte Sicht auf die Gesamtheit ästhetischer Alltagserfahrungen. Man konzentriere sich daher nicht nur auf die einzelnen Momente, auf das Kleine, auf die Einzelabläufe, sondern Ästhetische Erfahrung I: Alltagsästhetik | 167

versuche, größere ästhetische Erfahrungen für sich zu erschaffen, zum Beispiel beim Ensemble der Wohnungseinrichtung, um eine Gesamtstimmigkeit zu erreichen. Diesen wichtigen Punkt werde ich noch ausführlich bei der japanischen Alltagsästhetik aufgreifen, die das Kleine mit dem Großen harmonisch zu verbinden sucht.

Problem 5: Moral und die Instrumentalisierung des Alltagsästhetischen Im Westen wurde jahrhundertelang, seit der Antike, die Einheit des Schönen und Guten postuliert. Auch andere Kulturen verbanden das Ästhetische mit anderen Werten, wie in China mit der Lebenskraft und der Moral. Bei den Zuñi werden Ästhetisches und Moralisches vollkommen verquickt: Das Hässliche weist auf menschliche Schlampigkeit und Boshaftigkeit hin. Bei den Navahos konnotiert »hübsch« eine grüne und sommerliche Landschaft und wird mit den Lebenskräften assoziiert. 67 Insbesondere im angloamerikanischen Diskurs besteht ein berechtigter Widerstand gegen die Verbindung von ästhetischen Werten mit anderen Lebenswerten. 68 Es geht um die Eigenart des Ästhetischen. Auf der anderen Seite lässt sich die Ästhetik nicht vom Leben abkoppeln. Die reine Autonomie des Ästhetischen besitzt, wenn man diese Perspektive historisiert, eine Vorgeschichte. Sie reichte mindestens bis zum Bürgertum und der l’art pour l’artAuffassung des 19. Jahrhunderts zurück. Die Autonomie des Ästhetischen gehört zu den noch nicht ganz verarbeiteten Fiktionen eben dieser Theorie. Wie Stecker und nicht nur er bewiesen hat (im Kapitel über das ästhetische Urteil), konvergieren und überlappen einander viele Werte. Auch Saito spricht sich für ästhetische Verbindungen zu anderen Lebenswerten aus, da sie die jeweilige Erfahrung bereicherten, ohne in einen Wertdeterminismus zu verfallen. Saito und andere wiesen nach, dass Moral und Ästhetik zusammenhängen. Im 18. Jahrhundert liest man bei Kant, dass die steilen Gebirge als »schrecklich« interpretiert wurden, im 19. Jahrhundert als überwältigend schön. Oder die USA bei ihrer Besiedlung, von der Auffassung der Natur als gefährliche Wildnis bis zur positiven Erhabenheitsauffassung der Natur Ende des 19. Jahrhun168 | Ästhetische Erfahrung I: Alltagsästhetik

derts. 69 Diese moralisch-ästhetischen Wertungen und ästhetischen Paradigmenwechsel setzen sich bis heute in der Gesellschaft und in der ästhetischen Theorie fort. Das Umweltthema entdeckten und entdecken viele Künstlerinnen und Künstler – ein moralisch aufgeladenes Thema. Auch hier findet ein ästhetisch-moralischer Paradigmenwechsel statt, von der Ash-Can-School um 1900 in den USA bis zur auch ästhetischen Anklage gegen Verschandelung der Landschaft durch Tagebau und Müllhalden, gegen die Omnipräsenz des Straßennetzes und des Straßenbaus. Kurz, Saito meint, es sei nicht länger möglich, die Lebenswerte von den ästhetischen zu trennen.70 Ganz zu schweigen von der Verseuchung und Zuschüttung der Weltmeere mit Plastikmüll: auch eine ästhetische Beleidigung und der Tod vieler Meeresbewohner. Forsey kritisiert Saitos Position, weil sie befürchtet, dass ein moralisches Engagement die ästhetischen Erfahrungen bestimmen würde.71 Das ökologisch-moralische Engagement bliebe der ästhetischen Erfahrung äußerlich: Es fehle eine neue Normativität, um die ästhetischen Antworten von den moralischen zu scheiden.72 Obwohl ich mich immer für die Eigenart des Ästhetischen eingesetzt habe, sehe ich nicht, wie man a priori eine »reine«, sozusagen bereinigte Ästhetik etablieren kann, was Forsey fordert. Schaut man sich ganz praktisch den Einfluss an, den außerästhetische, lebensweltliche Phänomene auf die Ästhetik besitzen, muss man der Autonomiefiktion Adieu sagen und lebensweltliche Phänomene zusammen mit unserem ästhetisch-moralischen Respons zulassen. Im Schönheitskapitel bin ich auf die Gefahren der digitalbasierten Ästhetisierung der Mitwelt eingegangen. Gerade und besonders heute, in der Digitalen Moderne, kann die ästhetische Theorie es sich nicht leisten, sich von der Gesellschaft abzukoppeln. Man muss heute von einer hochgefährlichen Instrumentalisierung des Ästhetischen durch die Omnipräsenz der Werbung ausgehen, wie Berleant schreibt.73 Mit Mitteln der (mal plumpen, mal suggestiven) ästhetisierten Werbung wird in großem Stil kommerziell manipuliert. Die Ästhetik wird in den Dienst des moralisch Negativen gezwungen: eine komplexe Durchdringung von Ästhetik und Moral und ein Zentralproblem der ästhetischen Negativität.74 Diese brutale Instrumentalisierung des Ästhetischen verstärkt sich durch die Digitalisierung und wird auch im Internet allgeÄsthetische Erfahrung I: Alltagsästhetik | 169

genwärtig. Leddy kritisiert, »…  most everyday aetheticians encourage complex and sophisticated responses to everyday phenomena, not the shallow and quick responses that increase probability of purchase.«75 Die ästhetische Wirksamkeit verschwindet langsam angesichts des Ansturms der digitalen Geschwindigkeit und verwandelt so die Erfahrungsweise der Alltagsästhetik. Die Aufmerksamkeitsfrage droht auch in der Alltagsästhetik durch die mediale und kommerzielle Instrumentalisierung zusehends negativ beantwortet zu werden. Und das ist eine zutiefst moralisch-ästhetische Frage. Bedenkt man die Ressourcenfrage dieses unseres Planeten, können auch ästhetische choices helfen, moralisch Gutes zu tun. Sollte man das hübsche, billige T-Shirt aus einem Sweatshop in Bangladesch wirklich kaufen? Sollte man immer mehr neue Kleider aufhäufen, als man wirklich braucht, um auf diese Weise zum noch schnelleren Verbrauch der natürlichen Ressourcen beizutragen? Das schließt den Kreis von dem Singularitätsverhalten der Neuen Mittelklasse (in der Vorrede beschrieben) zum ästhetisierten Ressourcenverbrauch. Irvin schlägt vor, sich vom Immerneuen zu lösen, die ästhetische Aufmerksamkeit auf die ästhetischen Elemente, die bereits vorhanden sind, zu konzentrieren und das Alltagsverhalten zu intensivieren und nicht ad infinitum auszuweiten. Man suche Zufriedenheit im gegenwärtigen Vorhandenen und nicht im Kauf von Humvees, iPods oder Designerjeans.76 Auch dies eine zutiefst moralisch-ästhetische Frage. Im Schönheitskapitel kritisierte ich, Han folgend, die »Glätte« der digitalen, kommerziellen Oberfläche. Um den Lügenbaronen der Werbung und den Ressourcenräubern zu entkommen, kultiviere man eine kritische ästhetische Sensibilität auch und gerade im Alltag. Hier lauern im ästhetischen Gewand der Unschuld die moralisch verwerflichen Monstren der durchkommerzialisierten Welt. Sie animieren auf ästhetisch glatte Art und Weise dazu, noch mehr von den Ressourcen dieser endlichen Welt zu verbrauchen. Man mache sich in der Digitalen Moderne nichts vor: Wir sind von Negativästhetik im glatten Gewand der Scheinschönheit umgeben. Gerade die Alltagsästhetik, wenn sie ihr eigenes Verhalten hinterfragt, vermag zu einer Erstarkung der ästhetischen Positivität beizutragen. Man muss anhalten, nachdenken, hinterfragen, sich 170 | Ästhetische Erfahrung I: Alltagsästhetik

bescheiden und im Kleinen und in den Routinen nach ästhetischer Erfahrung suchen. Japanische Alltagsästhetik scheint mir von allen Ästhetik-Traditionen, die ich kenne, am geeignetsten zu sein, das ästhetisch-moralische Feld vorsichtig zu beackern. Dabei fasse ich die japanische Alltagsästhetik als ein sehr gutes Beispiel auf, keineswegs als Norm oder als Herabsetzung anderer globalästhetischer Theorien und Haltungen. Mit Glück wird es mir mithilfe der japanisch-ästhetischen Haltung am Ende dieses Kapitels gelingen, ein weiteres, sechstes Problem der Alltagsästhetik zumindest im Ansatz zu lösen, nämlich die philosophisch-ästhetische Grund­ legung der Alltagsästhetik.

Globalästhetik: Japanische Alltagsästhetik Saito charakterisiert die japanische Ästhetik treffend: In Japan wird die Einzigartigkeit des Objekts anerkannt und wertgeschätzt. Diese »ambiente-oriented aesthetics« treibt uns an, positive Werte in den schlichten Alltagsgegenständen und Alltagshandlungen zu suchen und zu finden.77 Die japanische Ästhetik schafft eine einheitliche Atmosphäre der ästhetischen Offenheit, ohne Schönheitsnormen festzulegen und einzusetzen. Man wertschätzt das Objekt für das, was es ist. Als Folge davon weitet sich die ästhetische Alltagserfahrung aus auf prinzipiell unendlich viele Erfahrungsobjekte und bereichert auf diese Weise, in der Fülle, das Subjekt. Der ästhetische Horizont erweitert sich enorm.78 Die japanische Alltagsästhetik entwickelt außerdem eine Hypersensibilität gegenüber den Details.79 Diese feinsinnige Ästhetik gibt allgemeine Begriffe vor, die nicht nur als Schichten übereinanderliegen oder über­einan­der­liegen können, sondern die sich miteinander kombinieren lassen, um den genauen Ausdruck und somit die genaue Erfahrung zu begreifen. Es gibt sogar einen Begriff dafür, miyabi, die Vermengung und verstärkte Wertschätzung der Dinge. Ein weiterer Begriff aus der Heian Periode (794–1185), fūryū, spricht die kombinierten Qualitäten der Verfeinerung an. 80 Die Verfeinerung der alltäglichen Wertschätzung kann man auch als Haltung der Aufmerksamkeit verstehen. 81 Dabei gibt die japanische Ästhetik keineswegs einen geradlinigen Pfad vor, wie man »richtig« vorgeht. Ästhetische Erfahrung I: Alltagsästhetik | 171

In Japan kann man sich ästhetisch nicht irren. Der Weg der alltäglichen Wertschätzung kann gemäß dem Prinzip des suji kaete, die Achse verändern, auch mäandern. 82 Wie erwähnt nennt Liu die Alltagsästhetik »Living Aesthetics«, Saito bezeichnet den Vorgang der alltagsästhetischen Erfahrung als »world-making«, die sich mit anderen Lebenswerten verbindet. 83 Wie oben bei Problem 5 besprochen, müssen wir unser ästhetisches Paradigma verändern und die negative Ästhetik bei Müllhalden, bei den vermüllten Weltmeeren, bei der Zersiedelung der Landschaft, bei der Ausbeutung der Ressourcen und der Menschen in den Sweatshops dieser Welt mit einbeziehen. 84 Dazu vermag eine verwandelte Alltagsästhetik auf der Basis des Respekts vor den Menschen und vor den Dingen einen wichtigen Beitrag zu leisten. Lebenswerte dürfen nicht von ästhetischen getrennt werden. Die Ästhetik des aufmerksamen Respekts geht auf den Zenbuddhismus in Japan zurück. In seiner »Liebe zum schlicht Natürlichen« möchte Zen in den Erscheinungen das geheimnisvolle Ganze erkennen. »Mit seinen schöpferischen Impulsen der Unmittelbarkeit und Intuition befruchtete Zen die ungewöhnliche ästhetische Sensibilität, die Japan seit jeher gekennzeichnet hat.« 85 Der Hang zum einfachen Leben gehört zur japanischen Ästhetik dazu.86 Er drückt sich stilistisch in der Reduktion des ästhetischen Gegenstands aus, wovon noch zu sprechen sein wird. Hinzu kommt der Einfluss der uralten japanischen Naturreligion Shintō mit ihrem Glauben an kami, Geister oder Wesen, die in jedem Gegenstand, auch den gemachten, wohnen und die es zu respektieren gilt. Der japanischen Mythologie zufolge legt man sich am besten nicht mit ihnen an. Man muss aber keineswegs Anhänger von Zen oder von Shintō sein (wie ich es nicht bin), um das ästhetische Potenzial der säkularisierten japanischen Haltung zum Alltagsumgang zu erkennen und selbst zu leben. Man muss nicht an die kami glauben, um die kleinen Dinge wertzuschätzen. Das japanische Prinzip der oben erwähnten Vermengung verschiedener Herangehensweisen drückt sich insbesondere in der seit ein paar Jahren auch im Westen beliebten Wabi-Sabi-Ästhetik aus. Dahinter steckt das ästhetische Prinzip der Schlichtheit, nicht des Elaborats. 87 Man kann Wabi-Sabi als Haltung bezeichnen, ohne eine Regelliste, aber mit sieben Zen-Prinzipien: fukinsen (Asym172 | Ästhetische Erfahrung I: Alltagsästhetik

metrie), kanso (Einfachheit), koko (Schmucklosigkeit, Strenge), shizen (Natürlichkeit), yugen (subtile Tiefe), datsuzoku (Freiheit von weltlichen Banden) und seijaku (Stille, Schweigen). 88 In der Betonung der Schlichtheit bedeutet Wabi-Sabi nie Schlampigkeit, Schäbigkeit oder Schmutziges. 89 Die Haltung des Wabi-Sabi erlaubt keine universale Definition, denn Wabi-Sabi liegt nicht in den Dingen, sondern in der Natur des Lebens selbst. »It’s about experiencing the world by truly being in it, rather than judging from the sidelines.«90 In Japan wird weniger rational gelernt, vielmehr eher intuitiv durch Erfahrung;91 daher die Schwierigkeit mit einer Definition. Wabi-Sabi kann man als Gefühl zweier verwandter Seiten interpretieren. Westliche ästhetische Urteile erweisen sich allein aus diesem Grund als irrelevant. Wabi impliziert Armut, Reduktion. Die Interpretation des Begriffsursprungs variiert: Wabi könnte von wa, das sich auf Frieden, Harmonie sowie Stille bezieht und Bescheidenheit und Einfachheit nach sich zieht,92 es könnte sich von wabiru (sich Sorgen machen) und dem verwandten Adjektiv wabishii (erbärmlich, einsam, arm) herleiten.93 In Wabi drückt sich die menschliche Sehnsucht nach »schlichter Einfachheit« aus.94 Wabi bedeutet eine Qualität, die nicht einem gegebenen Objekt anhaftet, sondern Wabi behandelt die Art, wie sich etwas gibt, und den Prozess und die Richtung der Schlichtheit.95 Des Teemeisters Rikyū schlichte Teezeremonie wurde als »Wabi Tee« bekannt.96 »Arm« will heißen: nicht im materiellen Sinn arm, sondern Ausdruck der ungekünstelten Schlichtheit. Sabi ergänzt Wabi mit der ihm eigenen Vergänglichkeit. Dabei ist Sabi nichts Menschengemachtes, vielmehr ein Zustand, den die Zeit schafft. Sabi leitet sich ab vom Verb sabiru (rosten, verwesen oder Zeichen des Alterns zeigen). Mit Sabi wird der Weg, wie Dinge vergehen, beschrieben, oft mit Trauer.97 »Sabi beauty reminds us of our own connection with the past, the natural cycle of life and of our very own mortality.«98 Was einst glänzte, verfärbt sich und altert. Sabi-Gegenstände tragen mit ihrer Patina die Last der Jahre mit Würde und Grazie.99 Als Kernkonzept dahinter nennt der Buddhismus das Gesetz der Veränderbarkeit, annica. Indem wir Menschen Sabi in den Objekten würdigen, anerkennen wir die Vergänglichkeit der Dinge, wenn sie rosten oder abgetragen werden.100 Ästhetische Erfahrung I: Alltagsästhetik | 173

Etwas Westliches, dessen Alterung künstlich herbeigeführt wird wie Shabby-Chic, widerspricht Sabi zutiefst. Wie der Zen-Meister Eihei Dōgen Zenji (1198–1253) den Gedanken formulierte: »Die Zeit vergeht wie im Flug; Leben-und-Tod sind von grundlegender Bedeutung.«101 Sabi erweiterte den buddhistischen Sinn für das Vergängliche ins Ästhetische.102 Mit Sabi verbinden sich mehrere Konzepte, die auch ästhetisch erlebt werden können. »The most precious thing in life is its uncertainty«, schrieb der Zen-Meister Kenkō (1283–1350) im 14. Jahrhundert.103 Ausgehend von der Unsicherheit des Lebens finden sich etliche ästhetische Ausprägungen: die Wertschätzung aller vergänglichen Blüten, insbesondere der Kirschblüte; die Wertschätzung der Patina an Gegenständen; überhaupt die Wertschätzung alter Dinge, die langsam und mit Würde vergehen; die Wertschätzung von schnell vergehenden Naturerscheinungen; der Zauber des Vergänglichen im ukiyo-e, der fließenden Welt des Vergnügens und der Prostitution insbesondere im Yoshiwara-Viertel, dem Vergnügungsviertel von Edo (später Tokio). Wie Kenkō schrieb: Die Wertschätzung nicht nur der Vergänglichkeit, sondern auch der Unsicherheit allen Lebens spielt eine Rolle. In diesem Kontext vermag man Tanizakis Lob des Schattens zu verstehen. Die »mittelbare, abgestufte Lichtwirkung«104 steht für Tanizaki im Zentrum seiner Kritik am Glanz. Nur die »Magie des Schattens«105 mit all seinen Nuancen verheißt für ihn ästhetische Erfüllung. Das Halbdunkel birgt den Schlüssel zur Stille, um verborgene Schönheit zu erkennen. Schönheit sei nicht in den Objekten zu suchen, »sondern im Helldunkel, im Schattenspiel, das sich zwischen den Objekten entfaltet«.106 Tanizakis ästhetische Theorie, auch wenn sie puristisch anmuten mag, realisiert auf originelle Weise das Sabi-Konzept der Unsicherheit und der Vergänglichkeit. Da die Schatten mit Lichteinfall schnell vergehen, spricht Tanizaki ein weiteres Merkmal von Sabi an: der Würdigung des Augenblicks. Suzuki schreibt, Schönheit sei »etwas Momentanes, immer Fließendes …«107 Er wehrt sich gegen die Interpretation, die japanische Neigung zum vorübergehenden Augenblick drücke Fatalismus aus, denn: »Jeder Augenblick pulst voller Leben, sowohl in der Kiefer wie in der Windenblüte.«108 Die Bedeutung des (ästhetischen) Augen­blicks liegt im Augenblick (und seinem Genuss) 174 | Ästhetische Erfahrung I: Alltagsästhetik

selber.109 Der Genuss des Augenblicks schreit einen nicht an wie die Oberflächenglätte der durchkommerzialisierten Welt in der Digitalen Moderne, vielmehr: »Beauty calls quietly.«110 Man halte inne, schaue und fühle mit Muße. Eine weitere Ausprägung von Sabi findet sich im Unvollendeten, Asymmetrischen, Nichtperfekten. Keineswegs strebt die japanische Sabi-Ästhetik Vollendung an, denn das Natürliche und somit Vergängliche kann niemals abgeschlossen, also vollendet sein. Auf den Alltag angewandt bedeutet diese Facette von Sabi, dass eine Wohnung oder ein Haus zwar sauber und aufgeräumt sein sollen, nicht aber die Kälte der Perfektion ausstrahlen dürfen. In der Wabi-Sabi-Tradition geht es um die von einem Menschen zum anderen sich unterscheidende Erfahrung, es geht um das nicht greifbare Gefühl im Umgang mit der Alltagswelt.111 Wabi-Sabi beschreibt nicht das Aussehen wie im Satz: ›Das ist eine Wabi-SabiSchüssel.‹ Vielmehr geht es um den Eindruck nach der Erfahrung mit Gegenständen oder einem Ambiente.112 Wabi-Sabi wird im Westen gern als Lifestyle missverstanden; es handelt sich jedoch darin um »a deep and intuitive way of experiencing the world«.113 Die Schlichtheit und Reduziertheit des Wabi lässt sich in der Formel zusammenfassen: weniger Zeugs (stuff ), mehr Seele; weniger Chaos, mehr Ruhe; weniger Massenkonsum, mehr einzigartige Schöpfung; weniger Kopf, mehr Herz; weniger Kontrolle, mehr Hingabe.114 Wabi-Sabi kann man als Lebensmoral verstehen, aber genauso gut als Alltagsästhetik, Naturästhetik und Kunstästhetik. Ich finde, dass sich Wabi-Sabi besonders gut auf die Alltagsästhetik anwenden lässt, weil diese Haltung vom Unmittelbaren ausgeht und gerade für das ganz alltägliche Unmittelbare einen unprätentiösen Umgang bereitstellt. Wabi-Sabi fordert wenig, gibt aber viel. Niemand muss alle Möbel wegwerfen, um in einer übertrieben kargen Schlichtheit ein reizloses Dasein zu fristen. Im Gegenteil: Wabi-Sabi will dazu anregen, die unmittelbare Umgebung besser und intensiver wahrzunehmen und neue Schönheit in alten Gegenständen ästhetisch zu genießen. Auch die Augenblicke eines Sonneneinfalls, eines Blickes, einer Bewegung, eines Wortes sollen intensiver genossen werden. Ich gehe jetzt japanisch vor und schreibe: Ergänzend zur WabiSabi-Ästhetik kann man die Ästhetik des Ikigai heranziehen. Iki Ästhetische Erfahrung I: Alltagsästhetik | 175

bedeutet Leben, gai bedeutet Sinn, frei übersetzt: »das, wofür es sich zu leben lohnt.«115 Ikigai ist mehr ein Lebensstil als Wabi-Sabi, indem man mit Ikigai die Freuden des Lebens besser als bisher zu schätzen lernt.116 Es geht um lebensweltliche Bedeutung. Ikigai ist eine permanente Motivation, unser Leben mit Appetit zu leben.117 Ikigai betont wie Wabi-Sabi die Aufmerksamkeit gegenüber allem Lebendigen und Unbelebten, ohne das westliche Bewertungssystem einzuschalten.118 Ikigai will dazu anregen, harmonisch mit den Mitmenschen zu leben und friedlich und achtsam mit der Natur umzugehen.119 Die flüchtige Bewegung (ichigo ichie) mit der Umgebung wie der Duft einer Rose oder die Kühle des Wassers gilt es bewusst wahrzunehmen und ästhetisch zu genießen. Mogi betont: »Wenn man die kleinen Dinge im Leben bemerkt, wiederholt sich nichts. Jede Gelegenheit ist besonders.«120 Seit über eintausend Jahren gehört der ästhetische Genuss der Alltagsdinge zur japanischen Kultur. Im berühmten Kopfkissenbuch der Dame Sei Shonagon, um das Jahr 1000 n.  u. Z. geschrieben, zählt die Verfasserin in einem Kapitelchen »Hübsche Dinge« auf, welche Vorkommnisse sie ästhetisch beeindruckten: »das Gesicht eines Kindes, das seine Zähne in eine Melone gräbt … Eine kleine Klosterschülerin, die den Kopf energisch nach hinten wirft, um den Blick (von der Frisur) freizubekommen. Die Haare waschen, sich schminken und ein nach köstlichem Räucherwerk duftendes Kleid anlegen. In welche wunderbare Stimmung versetzt das, selbst wenn niemand uns dann sieht. In der Nacht, wenn man jemanden erwartet, dem fallenden Regen lauschen und dem Nachtwind, der am Hause rüttelt. O wie beginnt unser Herz da plötzlich zu klopfen!«121 Sei Shonagon lebte Ikigai avant la lettre. Ihre Sensibilität allem gegenüber gehört zu den großen Erlebnissen der Weltliteratur. Und doch ist Sei Shonagons Aufmerksamkeit mithilfe von Ikigai heutzutage für jeden anwendbar, achtet man das Kleine nur. Aus Sicht der Japanerinnen und Japanern stabilisiert sich das Leben eher als ein Gleichgewicht aus vielen kleinen Dingen. Eine übergeordnete Doktrin bedeutete ein Diktat, das der Alltagsästhetik der Offenheit widerspräche.122 Bei allen Richtungen der japanischen Alltagsästhetik spielt Schönheitsempfinden eine wichtige Rolle. Der Gründer und Ent176 | Ästhetische Erfahrung I: Alltagsästhetik

decker der japanischen Volkskunstbewegung Mingei (Japan Crafts Movement), Sōetsu Yanagi (1889–1961), stellte die tiefergehende Schönheit ins Zentrum seiner Ästhetik. Für ihn verkörperten die Kizaemon-Ido-Teeschalen und insbesondere die koreanische hakeme-Keramik der langen Yi-Dynastie den Höhepunkt des alltagsorientierten Kunsthandwerks. Im Gegensatz zum »vollständigen«, perfekten Porzellan wiesen die hakeme-Schalen Unfertigkeit auf – im Sinne von Unabsichtlichkeit. Die hakeme-Keramik zählte zu den damals billigsten Alltagsgegenständen, die dennoch eine hohe Kunstfertigkeit offenbarten, die Yanagi shibusa nannte, den Geist der Armut. Shibusa bringe die Schönheit der Armut zum Ausdruck.123 Diese tiefergehende Schönheit muss das Subjekt erst aus dem Objekt herausschälen, indem es sich darin versenkt und zu verstehen lernt. Das Gegenteil von shibusa heißt hade, ein pejorativ gebrauchtes »laut«.124 Die einfache Schönheit wird auch karumi genannt – ein schnörkelloser Ausdruck einer tieferen Wahrheit; ein Begriff, der aus der Haiku-Ästhetik stammt. Eine zurückhaltende, fast versteckte Schönheit, die jeder Mensch befähigt ist zu entdecken. Das Schönheitsempfinden, das Yanagi vorbehaltlos propagiert, wirft zwei kleine Probleme auf. Zum einen ging die gegenwärtige Ästhetik-Diskussion längst dazu über, in Kunst, Natur und auch im Alltag negative ästhetische Phänomene wie Architektursünden, Verwahrlosung von Nachbarschaften, Vermüllung, Zubetonierung von Landschaften durch Straßen etc. mit einzubeziehen. Tragischerweise gehören diese Ausprägungen des Alltags zur Alltags­ ästhetik dazu. Hier nach Schönheit zu suchen wäre töricht, wobei die Grenzen fließend sind, wie ich beim allgegenwärtigen Strip am Anfang und am Ende der nordamerikanischen Ortschaften am Highway bemerkte. Zum anderen lässt man heute, Leddy und Saito folgend, andere Alltagsbegriffe und Alltagsphänomene zu, die weit über den Begriff der Schönheit hinausgehen: spaßig, hübsch, sauber, geordnet, aufgeräumt, auch elegant. Saito wendet sich gegen eine Hierarchie der Begriffe: Unsere Alltagserfahrungen erfolgen als Erwiderungen auf ganz verschiedene Qualitäten, nicht nur auf tiefergehende Erlebnisse mit der Schönheit.125 Man kann also Yanagi nur zustimmen, indem man seine Theorie einschränkt und andere Erlebnisweisen Ästhetische Erfahrung I: Alltagsästhetik | 177

im Alltag gleichrangig zulässt. Daher führte Saito eine Ästhetik der Windfarmen und des Wäschewaschens ein.126 Schönheit wäre hier fehl am Platz. Nichts liegt den Menschen örtlich näher als das Heim. Zwei Eigen­schaften des Heims scheinen es vom Ästhetischen zu trennen: der informelle Charakter der jeweiligen Ordnung und »the typically diffuse multisensory ambience«.127 Jedoch, fährt Tuan fort, sind ästhetische Erfahrungen im Heim an der Tagesordnung. Das Heim rangiert ganz oben in der westlichen Schönheitsbewertung.128 Je weiter wir uns vom Heim entfernen, desto bewusster scheint unser ästhetisches Engagement zu werden.129 Die japanisch-ästhetische, schlichte Schönheit vermag es, jedes Heim in e­ inen reizenden Ort zu verwandeln. Aber das Heim ist zum Wohnen, nicht, um immer perfekt aufgeräumt zu werden. Trotzdem sollte man sich überlegen, wie man ein vollgestopftes Heim vermeidet (clutter). Was will man wirklich behalten, was loslassen?130 Griggs Lawrence wählt einen geradlinigen Weg: Keine Kompromisse! ruft sie. Authentizität zuerst, nichts behalten, was einen Kompromiss signalisiert. Je mehr Kram einen umgibt, desto schwieriger wird es, ein wabibito zu werden, der/die Wabi ernst nimmt.131 Die Autorin erstrebt auch seijaku, die Stille.132 Sie selbst besitzt einen Raum nur für die Stille, frei vom Gedudel der Massenmedien. Marie Kondo wurde als große Aufräumerin international bekannt. »Ein freudvolles Zuhause ist ganz wie ein ganz persönliches Kunstmuseum.«133 Komono, der Kleinkram, muss aufgeräumt werden. Kondo beurteilt die Attraktivität eines Gegenstands gemäß drei Kriterien: der rein ästhetische Wert, wie »schön« sich etwas darstellt; der emotionale Wert; und drittens der historische Wert, »wie viel gelebte Geschichte oder welche Erfahrungen ihm anhaften«.134 Mit anderen Worten und wie ich im Schönheits­ kapitel darlegte: Was wir ästhetisch empfinden, wird von mehreren Faktoren determiniert. Das deckt sich mit den Ergebnissen der Material Culture Studies. Das jeweilige Individuum bestimmt auto­nom, was als ästhetisch und/oder emotional erlebt wird. Daher lassen sich Aussagen von Altmeistern wie Kenkō relativieren: »Possessions should look old, not overly elaborate; they need not cost much, but their quality should be good.«135 Das würde alle Besitztümer auf Sabi reduzieren – für die meisten Menschen ein 178 | Ästhetische Erfahrung I: Alltagsästhetik

Ding der Unmöglichkeit. Und das wäre auch nicht erwünscht. Nur wenige Menschen möchten allein von Antiquitäten umgeben sein. Aufgeräumtheit hingegen, wie sie Kondo sehr detailliert vertritt, vermag sehr wohl zur Heimästhetik zu gehören. Über Wabi hinaus umschreibt man diesen Zustand im Japanischen mit ga – ordentlich, unanstößig, sogar elegant, das Antonym von zoku, Vulgarität.136 Ga jedoch gehört zu den Allgemeinbegriffen. Noch präziser beschreiben die Material Culture Studies wie erwähnt das Phänomen als ein persönliches Ordnungssystem. Für Außenstehende muss das System nicht unbedingt durchschaubar sein. Diesen Spielraum sollte man der Alltagsästhetik lassen, die Milliarden von ästhetischen Ordnungssystemen erlaubt.

Problem 6: Die philosophisch-ästhetische Begründung der Alltagsästhetik Für die Menschen im Alltag stellt die Begründung der Alltags­ ästhe­tik kein Problem dar. Sie leben ihr Leben ganz frei von Begründung. Für die seit ca. 20 Jahren aufgekommene Alltagsästhetik hingegen gilt ihr Feld vielleicht noch immer als philosophisch unbegründet. Mithilfe der japanischen Ästhetik möchte ich einen weiteren Begründungsversuch unternehmen. Was begründet die Alltagsästhetik nicht? Haapala möchte die Alltagsästhetik mithilfe von Heideggers Seinskategorien philosophisch-existentiell beschreiben.137 Es ist der bisher ehrgeizigste Versuch, mit Heideggers Begriffen eine ästhetische Welt zu begreifen. Haapala geht vom heimatlichen Ort aus mit seiner »strangeness and familiarity«.138 Er untersucht im Alltag Heideggers »Jemeinigkeit«, seinen Heimatbegriff, »das Mit­ sein« und das »Zeugganzes«. Die Vertrautheit des Alltäglichen steht dabei im Zentrum, das von den existenziellen Strukturen geprägt werde.139 Dass Haapala die Alltagsästhetik existenziell begründet, halte ich für zukunftsweisend, siehe unten. Den Rückgriff auf Heidegger jedoch finde ich außerordentlich problematisch. Heideggers ontologischen Daseinskategorien haftet etwas Unwandelbares, Fixiertes, beinahe Zeitloses an. Heideggers Kategorien atmen Statik. Sie widersprechen gerade der Dynamik der Moderne und der von Ästhetische Erfahrung I: Alltagsästhetik | 179

mir zitierten Singularitätsdynamik der Neuen Mittelklasse. Man darf nicht hinter Adornos zutreffende Kritik an Heideggers Jargon der Eigentlichkeit zurückfallen. Heideggers Denkwelt mutet heute altertümlich an und kann sicherlich nicht zukunftsweisend für das Verständnis moderner ästhetischer Alltagsphänomene werden. Es braucht offene und dynamische Begriffe. Ebenso wenig zielführend kann es sein, das Alltagsleben zur Kunst zu erklären, wie von Simpson versucht. Das Leben-alsKunst könne »a meaningful and coherent synthesis of epistemology and aesthetics« darstellen.140 Ein idealisiertes Leben, um Bedeutung zu verwirklichen, »for a world traditionally reserved for the religious«.141 Simpson entlarvt sich selbst: Kunst als Platzhalter der Religion – ein überfrachteter Kunstbegriff, der im Alltag Sinn schenken möge in dürftiger Zeit. Mit einer romantischen Idealisierung des Alltags auf höchster Stufe kann man diese philosophisch-ästhetisch nicht begründen, just nicht: ein schönes Ideal à la Schiller gewiss, nicht aber realisierbar für die gesamte Menschheit. Einzelnen Menschen wie Baudelaire oder Wilde mag es gelungen sein, ihren Alltag zu ästhetisieren, doch selbst von deren Leben als Kunstwerk kann man nicht sprechen. Simpsons Kunstidee gibt das Stichwort vor für Versuche, den Alltag nicht als Alltag zu belassen, sondern Bereiche von ihm als Kunstwerke hochzustilisieren. Brozzo fragt, ob manche Parfums Kunstwerke seien, und bejaht ihre Frage selbst. Sie verweist auf »aesthetic properties« des Geruchssinns, der verschiedene Düfte komplex verströmt.142 Kunstprodukte sind jedoch intentionale Objekte (oder Interaktionen), aus dem Alltag gehoben, um Kunst zu sein. Parfums hingegen sind Alltagsgegenstände, geschaffen für den Verbrauch über den Geruchssinn. Brozzos Ansatz verstehe ich als Veredelungsversuch, als Heraufstilisierung eines Alltagsprodukts zu einem Kunstwerk. Man muss genau unterscheiden: zwischen ästhetisch-sinnlichen und sehr schönen Erfahrungen und vielleicht sogar Erlebnissen in der Baumgarten-Nachfolge – das trifft bei Parfums zu – und zwischen Kunstwerken. Beide ästhetische Erfahrungen sind natürlich legitim, beide wünschenswert. Parfum-Erfahrungen: ästhetisch ja, aber nicht als Kunstwerke. Der finale Wert eines Parfums liegt schlichtweg darin, sehr gut zu duften. 180 | Ästhetische Erfahrung I: Alltagsästhetik

Das gleiche Problem begegnet uns beim Sport. Welsch verweist auf die sinnlichen, körperbetonten und ästhetischen Eigenschaften des Hochleistungssports hin.143 Das oeuvre des Hochleistungssports nennt er performance,144 gibt aber zu, dass der finale Wert des Sports im Gewinnen liegt.145 Und genau darin liegt die Crux: Nicht Kunst ist die Intention des Hochleistungssports, sondern der finale Wert des Sports liegt im sportlichen Sieg. Noch eine Heraufstilisierung eines alltäglichen Ereignisses in die luftigen Höhen der Kunst. Auch hier muss man genau unterscheiden zwischen sinnlich schöner Erfahrung mit der Wahrnehmung der sportlichen Leistung und den intentionalen Werten der Kunst, mit ihrem finalen Wert, Kunst zu sein und auf diese Weise genossen zu werden, nämlich mit ästhetischer Aufmerksamkeit und Würdigung ihres Verweisungscharakters. Sport ist praktisch orientiert, Kunst nicht. Ebenso wenig vermag Essen Kunst zu sein. Food hätte, schreibt Kuehn, das Potenzial, Kunst zu sein, »because its production, presentation, and manner of appreciation (i. e. eating) necessarily involve one in an interactive engagement with the qualitative tensions that underline experience«.146 Aber Essen ist wesentlich zum Essen da, zur schlichten Nahrungsaufnahme, um nicht zu verhungern, ganz gleich, wie gut die Mahlzeit zubereitet wird und wie ästhetisch Tisch und Teller angerichtet werden. Der finale Wert liegt in der praktischen Nahrungsaufnahme. Die berechtigten Sorgen von Dowling und Carlson nehme ich ernst, die vor einer Ausweitung der Ästhetik ins Infinite warnen. Ästhetisch mag eine Mahlzeit angerichtet sein, festlich, glänzend und mit großer Kunstfertigkeit der Köchinnen und Köche zubereitet, also mit mehreren Sinnen erfahrbar, allein: Selbst die größten Köchinnen und Köche sind keine Künstler und Künstlerinnen. Sie sind mit Hochachtung vor ihrem Können – Köche. Natürlich gibt es auf dem Weg von Alltagsgegenständen zur Kunst in Grenzfällen fließende Übergänge. Das Tattoo, schreibt Sizer, spricht als körperbetonte Ausdrucksform eine Einladung aus, eine Person anzuschauen und ästhetisch wahrzunehmen, eine »embodied artform«.147 Bei den Maori spielt das Tattoo als tā moko eine große Rolle, Identität auszudrücken, also eine mit der menschlichen Würde kompatible Ausdrucksform.148 In vielen Kulturen setzt man das Tattoo zu religiösen, spirituellen oder rituellen Ästhetische Erfahrung I: Alltagsästhetik | 181

Zwecken ein, um Schutz anzurufen oder um den Status des Tätowierten oder dessen Taten zu markieren – bis hin zur Nazi-Entmenschlichung von KZ-Insassen durch tätowierte Nummerierung auf dem Unterarm, ein verwerflicher und inhumaner Gebrauch der Tätowierung.149 Im regulären, selbst gewählten Tattoo hingegen, das in indigenen Gesellschaften oft im rite de passage verankert wird, nimmt der Körper Teil am Kunstwerkverfertigen.150 Eines der besonderen Kennzeichen bei der sehr persönlichen Entscheidung zu einem unauslöschlichen Tattoo liegt in der Ununterscheidbarkeit zwischen Kunstbesitzer und Kunstwerk: beide gehören einer lebendigen Person an.151 Da Tattoos die meisten der zehn Eigenschaften Gauts für ein Kunstwerk erfüllen, finde ich es richtig, Tattoos als Körperkunst und damit – analog zum Übergangsbereich Street Art – als Kunst zu werten. Tattoos sind Körperschmuck mit Abbildungs- (und Fantasie-)charakter, wobei der persönliche Ausdruck eine wichtige, wenn nicht sogar wesentliche Rolle einnimmt. Doch bei vielen Kunstwerken, die wir kennen, trifft das auch zu, denkt man insbesondere an die »expressive« Kunst im weitesten Sinn vom späten Rembrandt, von van Gogh, von Pollock. Man spürt den Künstler durch Thema und durch den Pinselstrich (oder den Drip) hindurch. Beim Tattoo hingegen geben die ausdrucksstarken, meist symbolischen und oft komplexen Bilder Aufschluss über die Besitzerin oder den Besitzer, was sie besonders interessant macht; die buchstäblich verkörperte Kunst als ein wandelndes ästhetisches Ikon. Bei der philosophisch-ästhetischen Grundlegung jedoch nützen die obigen, meist negativen Beispiele (mit Ausnahme der Tätowierung) der Sache nicht. Sandrisser kritisierte, im Westen zögere man, die biologischen und agrarischen Wurzeln unserer Kultur zu akzeptieren.152 Indem wir Kultur nur als intellektuelles Training, als Verfeinerung des Gehirns interpretieren und die metaphorisch geprägte Errungenschaft feiern, verlören wir den »emotional delight«.153 Genau das jedoch soll die Alltagsästhetik bezwecken: die Freude am Einfachen, Unmittelbaren wiederzugewinnen und zu maximieren. In der Betonung der einfachen, aus dem agrarischen Leben kommenden Gegenstände, die respektvoll behandelt werden, vermag die japanische Ästhetik des Alltags eine Rückführung der ästhetischen Freude einzuleiten. Die Schlichtheit unser al182 | Ästhetische Erfahrung I: Alltagsästhetik

ler Herkunft und die Reduziertheit der Wabi- und der Ikigai-Ästhetik geben das Stichwort vor für die Begründung der Alltags­ästhetik. Diese Begründung könnte viel einfacher sein als gedacht. Da es um Alltagserfahrungen und Alltagsgegenstände geht, muss deren Einschätzung als existenzielle Erfahrung eine bedeutende Rolle spielen. Das Tun, die natürliche Interaktion im Alltag begründet die Philosophie des uns Umgebenden. Anders ausgedrückt: Die philosophische Begründung des Alltagsästhetischen liegt im Leben selbst. Lius Ausdruck von »Living Aesthetics« trifft sogar philosophisch-systematisch zu. Die ästhetisch-sinnliche Erfahrung beginnt im Babyalter latent und vertieft sich über die Jahrzehnte. Mit der Erfahrung und der Anregung durch Erwachsene schärfen sich alle Sinne zusehends und irgendwann, ganz unbemerkt, setzt die erste ästhetische Aufmerksamkeit ein; bei dem einen Menschen ausgeprägter als beim anderen. Ich kann das biografisch belegen. Meine Großmutter brachte mir den ästhetischen Wert einer eleganten Inneneinrichtung und später den Wert von Kunst bei; ich bin ihr heute noch dankbar dafür. Auf einfacher Stufe lässt sich, ohne Idealisierung, von einer Schiller’schen ästhetischen Erziehung sprechen, freilich ohne ästhetisch-moralische Heilsvorstellungen. Das ästhetische Lernen im Alltag besitzt eine lebensweltliche, psychologische Bedeutung für das Individuum. Dabei können nach dem miyabi-Prinzip die Werte vermengt werden, wenn zum Beispiel bei der japanisch-ästhetischen Haltung der (moralische) Respekt als Basis dient gegenüber den Alltagsdingen und den Menschen des alltäglichen Umgangs. Die japanische Haltung kann zur Begründung der Alltagsästhetik beitragen, wo sie die ästhetische Aufmerksamkeit betont und eine intensivere Wahrnehmung erzielen möchte. Sie stiftet dazu an, eine größere Sensibilität dem Alltag gegenüber zu entwickeln. Die Schlichtheit des Wabi regt dazu an, im Leben, wie es nun einmal ist, selbst die Schlichtheit zu suchen. Diese lebensweltliche Auffassung des ästhetischen Lebens begründet sich selbst – ohne Hei­deg­ gers starre Seinstermini, ohne phänomenologische Anwendung, ohne die französischen Mandarine zu Hilfe zu rufen, ohne eine sich selbst überschätzende, aufgeblasene Theorie. Die Schlichtheit des Lebens und der Alltagsästhetik weist in Richtung des Sabi, der Vergänglichkeit als ästhetisches Prinzip. Ästhetische Erfahrung I: Alltagsästhetik | 183

Sabi hebt die Unsicherheit des Lebens hervor und somit die aller Alltagsgegenstände und Beziehungen. Sabi betont das Unvollendete und die Würdigung des Augenblicks in ästhetischer Hinsicht. Ikigai verschreibt sich den kleinen, ästhetisch wahrnehmbaren Gegenständen und den flüchtigen Begegnungen, ichigo ichie. Und so geht es oft, aber nicht immer um karumi, die einfache Schönheit; wobei ich davon abweiche und auch in der Opulenz, zum Beispiel in den Räumen von Versailles, Schönheit einer ganz anderen Art entdecke. Allerdings gehört der Palast des Sonnenkönigs nicht mehr in den Alltagsbereich, sondern in den der Kunst. Ein besseres Beispiel: das Haus meiner Großeltern, dessen Inneneinrichtung reich an englischen Antiquitäten war, aber auf eine zurückhaltendelegante Weise durch die Abstimmung des Kleinen mit dem Großen. So summierten sich die im Einzelnen bescheidenen (und nicht teuren) Objekte zu einer bescheidenen Gesamteleganz im Alltag meiner Großeltern. Was mich als Kind am meisten dabei faszinierte, war die von meinen Großeltern gewählte und ausgelebte Eleganz, die für sie ganz, ganz wichtig war. Ihre ästhetische Welt gestaltete sich vollkommen anders als die dunkle Wohnung meiner Eltern, in der kein auf Alt produziertes Möbelstück zum anderen passen wollte. Ohne es zu ahnen, spürte ich als Kind, wie bei den Großeltern etwas fast Mysteriöses am Werk war: das System einer genuinen ästhetischen Ordnung. Ich begriff nichts, aber ich spürte etwas Wunderbares, das jedoch für meine Großeltern mit Selbstverständlichkeit gelebt wurde. Ohne es als Kind zu ahnen, hatte ich ein kleines ästhetisches Reich betreten, ein mit den Großeltern interagierendes und von ihnen über viele Jahre mit Sorgfalt konstruiertes ästhetisches Ordnungssystem. – Diese meine Pirouette nennt sich, völlig undogmatisch, suji kaete, die Achse (Perspektive) verändern. Die Achsendrehung hütet das alltagsästhetische Subjekt davor, in Purismus oder gar in Dogmatismus zu verfallen. Die schlichte, von unser aller agrarischen Herkunft abgeleitete shibusa, der Geist der Armut, bildet lediglich die Grundlage für viele spätere Elaborate der menschlichen Kultur. Die Schönheitsempfindung, das zeigte sich, offenbarte ihre Grenzen, denn man kann Dinge ästhetisch erfahren, ohne Schönheit darin zu entdecken. Suji ­kaete bedeutet auch, den ästhetischen, moralischen, emotionalen und historisch-gesellschaftlichen Werten breiten Raum zuzugestehen. 184 | Ästhetische Erfahrung I: Alltagsästhetik

Zusammengefasst: Die Begründung der Alltagsästhetik lässt sich nicht mit einem Wort ausdrücken. Vielmehr muss eine vereinheitlichende Kombination verschiedener Begriffe, Auffassungen, Haltungen und Werte nach dem miyabi-Prinzip gesucht werden. Zwei wesentliche Elemente der ästhetischen Alltagsbegründung bilden die kreative natürliche Interaktion mit der alltäglichen Umwelt sowie die biografisch sich über die Jahrzehnte vertiefende ästhetische Aufmerksamkeit. Mit ihrer Hypersensibilität vermag die japanische Alltagsästhetik erheblich zu einer sinnvollen zeitgenössischen Ästhetik beizutragen, zusammen mit der Theorie der materiellen Kultur, die die ästhetische, selbst geschaffene und sehr persönliche Ordnung untersucht.

Ästhetische Erfahrung I: Alltagsästhetik | 185

ÄSTHE TISCHE ERFAHRUNG II: DIE NAT UR AL S G E WESENE Theoretisch wäre die Natur ein sanfter Raum der Kontemplation, worin die kontemplative Wahrnehmung bei den Erscheinungen angenehm verweilt, wie Martin Seel vor Jahrzehnten postulierte.1 Im globalen Kapitalismus mit seiner Digitalen Moderne dominiert heute das Artifizielle. Die Natur geriet in Abhängigkeit zur Kultur.2 Die Natur hat, wie Hartmut Böhme schreibt, ihr utopisches Potenzial eingebüßt.3 Aufgrund der fortgeschrittenen Naturzerstörung kann das dynamische Abstraktum »Natur« immer weniger unmittelbar, sinnlich und freudig erfahren werden, sondern nur vermittelt als Kulturprodukt des Menschen und zugleich in jedem Augenblick als Vergangenheit, als Noch-Nicht-Seiende, übergehend ins Gewesene. Dieser Zerstörungszwang, der die Menschheit erfasst, offenbart seine tragische Natur als Tragödie der Natur selbst und somit als unsere Anthropozän-Tragödie; die melancholische Erfahrung par excellence. Was allen naturästhetischen Überlegungen vorangeht, ist die bereits einsetzende ökologische Katastrophe. Ein außer­ ästheti­sches Grundproblem unsagbaren Ausmaßes. Es wirkt auf die ästhetischen Überlegungen zurück und gestaltet diese. Dahinter verblassen die ästhetischen Probleme. Deswegen sehe ich mich gezwungen, das Realproblem zuerst anzusprechen, das ich an anderer Stelle ausführlich behandelt habe.4 Daraus ergibt sich, dass man nicht mit irgendwelchen Kriterien oder Normen an die Natur herantreten darf. Der Zustand der Naturzerstörung bestimmt die Theorie. Werte der Nachhaltigkeit und des Respekts vor der Natur hingegen sowie moralische Normen für den Umgang mit der Natur können nicht anders als relevant sein. Und das wiederum muss für die Naturästhetik Bedeutung erlangen. Mithilfe der japanischen Alltagsästhetik gelang es im letzten Kapitel dieser ästhetischen Theorie vielleicht, »Disharmonie« in »Harmonie« zu überführen. Das erweist sich in diesem Kapitel als 187

unmöglich, weil unser prinzipieller Umgang mit der Natur seit Beginn der Industrialisierung nur als disharmonisch begriffen werden kann. In einzelnen Augenblicken mag es Subjekten möglich sein, einen Anflug von Harmonie mit der Natur zu fühlen. Das Ganze aber manifestiert sich als Disharmonie, oder um Hegel und Adorno zu paraphrasieren: Das Ganze ist das Unwahre. Natur­ ästhe­tik heute, will sie sich kontemplativ geben, drückt nichts anderes aus als die dynamische Kontemplation des Desasters. Wir erleben die Krise in Reinkultur, hören den stummen Schrei der vernichteten Welt und fürchten das Aufbegehren der Restnatur. Neue naturästhetische Zugänge müssen gesucht werden, neue Begriffe und Konfigurationen auf allen Ebenen: auf der hohen Ebene der Reflexion, auf der ethischen Ebene, auf der Rekonfigurationsebene des hedonischen Zugangs zur Natur. In die zentrale Rolle der Ethik wird sich die Ästhetik einzufügen haben; nicht umgekehrt. Das Subjekt-Objekt-Problem sollte man neu durchdenken, zusammen mit dem Naturentfremdungskomplex. Den gefährlichsten Begleiter des Prozesses gilt es abzuwehren, die Sehnsucht nach heiler Natur. Wenn die Sehn-sucht zur romantischen Sucht mutiert, mündet sie in Weltflucht. Punktuell mag eine Vereinigung mit der Natur gelingen, liest man etwa die Beschreibungen vom Zusammenleben in der Natur von Thoreau am Walden Pond oder Aldo Leopolds Naturbetrachtungen; im Gesamtkontext des Naturumgangs jedoch kann sich die Mensch-Natur-Einheit nimmermehr einlösen. Julliens schöner Utopie der »connivance« mit der Natur muss man prinzipiell mit Skepsis begegnen.5 Selbst die zeitgenössische Umweltästhetik, Environ­mental Aesthetics, wirft Probleme auf.

Umweltästhetik Umweltästhetik heißt nicht Ästhetik der Natur. Umweltästhetik, der umfassendere Begriff, bezieht sich auf den ästhetischen Ort und auf Objekte außerhalb der natürlichen Welt wie Design, Ortschaften und Städte. 6 Natürliche Objekte oder Phänomene sollten wir in dem eigenen erweiterten Kontext anschauen, ob räumlich oder zeitlich.7 Umweltästhetik darf außerdem nicht mit Malerischem 188 | Ästhetische Erfahrung II: Die Natur als Gewesene

oder mit Schönem gleichgesetzt werden. In einem Ökosystem kann das, was wir dabei als schön empfinden könnten, jenseits unserer Wahrnehmungserfahrung liegen. 8 Umweltästhetik stellt eine Alternative dar zur landschaftlich-malerischen Perspektive, die die visuellen Qualitäten priorisiert, »thereby treating nature more like a flat, two-dimensional painting«.9 Man darf nicht ins 18. Jahrhundert zurückfallen und nur die »picturesque« Phänomene der Natur schätzen, Landschaft als Gemälde, eine heute völlig überholte, enge und verzerrende ästhetische Ansicht der Natur. Die weitgehende Verwandlung der Natur in eine Kulturlandschaft mit ihren vielen Degradierungen erzwingt seit einigen Jahrzehnten ein moralisches Herangehen an das, was ich Restnatur nenne. Dieses Herangehen reflektiert auch das unmoralische Verhalten des Menschen im Umgang mit der Natur, die Ursache für die Makrokrise der Natur und somit der Menschheit. Man erinnere sich: Ästhetisch heißt nicht »schön«. Ästhetik als Perzeption natürlicher (oder: meist pseudonatürlicher) Phänomene wird so gut wie immer auch ein moralischer Wert sein,10 auf den Normen und moralische Urteile anwendbar sind. Berleant betont den sozialen und historischen Charakter der Landschaften.11 Die Ästhetik bildet im integrierten Ganzen der Umwelt lediglich eine Dimension davon.12 Bei unserer Beschäftigung mit der Natur erleben wir diese intrinsisch, als Wert, den wir moralisch und ästhetisch setzen. Moral und Ästhetik bilden jedoch nicht immer eine Einheit, zum Beispiel wenn wir einen Baggersee als »schön« empfinden, wobei ein solch künstlicher See etwa das natürliche Vorkommen von Pflanzen­ arten in dieser Gegend für immer zerstört haben könnte. Hier spielt Nachhaltigkeit eine rein ökologische, nicht unbedingt ästhetische Rolle. Wenn wir eine Landschaft um ihrer selbst willen als erhaltenswert werten, treffen wir zunächst ein moralisches Urteil, zum Beispiel bei einer visuell nicht eben schönen Sumpf- oder Moorlandschaft. Der ästhetische Wert wird von dem moralisch-ökologischen überlagert. Halten wir jedoch eine Gebirgslandschaft aus visuell ansprechenden Gründen für »schön« und für ökologisch erhaltenswert, können eine Ästhetik des Schönheitsempfindens und eine ökologische, moralische Norm in eins fallen. Man kann jedoch eine umweltästhetische Erziehung erlernen. Man kann mit gutem Willen die Sumpflandschaft ästhetisch geÄsthetische Erfahrung II: Die Natur als Gewesene | 189

nießen lernen und sie als eine ökologisch sehr wertvolle Landschaft wertschätzen. Man kann ästhetisch und moralisch immer dazulernen. In seinen beeindruckenden Naturbeschreibungen durch das ganze Jahr hindurch zeigte Aldo Leopold in den 1930er und 1940er Jahren die enge Interdependenz von Flora und Fauna.13 Er schrieb vom »biotic right« aller Lebewesen.14 Das biotische Recht wird durch den naturmoralischen Wert zu einer Norm in der Umweltästhetik. Moral dominiert die Ästhetik: Das gilt es in Zeiten der ökologischen Makrokrise zu akzeptieren. Im Negativen, in der Kritik jedoch vermag die Ästhetik einen ökologischen Beitrag zu leisten. Beim landschaftszerstörenden Braunkohletagebau, bei einheitlichen, hohen Wohnbauten etwa kann eine Ästhetik des Hässlichen dem ökologisch-moralischen Herangehen beipflichten und kritisch Stellung beziehen.15 Berleant listet eine Reihe von Phänomenen auf, die ästhetisch negativ zu werten seien: Das Unvollendete (»the unfulfilled«): die Zerstörung der landwirtschaftlichen Harmonie durch Industrie- und Zersiedelungslandschaften, »a condemning witness to scarring misuse and lost possibilities.«16 Das Unpassende (»the inappropriate«): der unpassende Kontext eines neuen Gebäudes im Umgebungskontext andersartiger Gebäude.17 Das Trivialisierende (»the trivializing«): die ästhetische Wahrnehmung wird auf eine banale Ebene eingeengt, zum Beispiel ein Bauwerk, ein Hotel oder ein Restaurant, das früheres Design imitiert18 und die Vergangenheit trivialisiert wie etwa Neuschwanstein und Hohenschwangau. Das Täuschende (»the deceptive«): Plastikpaläste imitieren solide Materialien oder verschiedene, bunt zusammengewürfelte Stilmerk­ male.19

Es gibt viele Ausprägungen des ästhetischen Schadens – moralisch und auch sozial.20 Ästhetischer Schaden, schreibt Berleant, »… is the denial of sensory richness and perceptual fullness«.21 Und wir, die wir zum ästhetisch Negativen konditioniert worden sind, belügen uns selbst: Die hübschen, knuddeligen Säugetiere wie Rehe erscheinen uns wertvoller als die eher grotesken, schleimigen, unscheinbaren Tiere: das sogenannte »Bambi-Syndrom«.22 Wir schwärmen von großartigen Nationalparks wie Yellowstone oder 190 | Ästhetische Erfahrung II: Die Natur als Gewesene

dem Grand Canyon und fallen zurück in die szenische Wertung. Saito nennt die Nationalparks »Museumsstücke«.23 Wir glauben, dass gebaute Umgebungen wie Golfplätze »schön« sind, wir ziehen wertvolle Naturprodukte wie Mahagoni vor, die aus abgeholzten Urwäldern stammen. Sogar die UN belügt sich und die Welt, wenn sie die Palmölplantagen Indonesiens als »Wälder« einstuft. Unsere ästhetischen Erwartungen an die Landschaft überlagern die Informationen, die wir über die moderne Landwirtschaft bekommen, schreibt Sally Schauman.24 Die Landschaft manifestiert die Realität der Zerstörung vor unseren Augen. Wir sehen jedoch eine Pastorale als ästhetische Fantasielandschaft. Wir glauben in der Komfortzone, etwa des Gartens, ernsthaft Natur zu erleben.25 Auf dem Land selbst idealisieren wir die Landwirtschaft mit dem Idealikon des kleinen, gemütlichen Fachwerkstalls; in Nordamerika das »red barn icon«.26 Das Pastoral lebt eher in unserer Vorstellungswelt als in unseren ästhetischen Wahrnehmungen. Die Fiktion schlägt die Fakten, wie Marcia Muelder Eaton schreibt, entlehnen wir doch unsere Naturauffassungen aus der Literatur, der Kunst, sogar der lautmalerischen Musik wie in Beethovens Sechster oder in Debussys La mer.27 Wir nehmen die Natur oft wahr als Fiktion der Fiktion, etwa in Form von Caspar David Friedrichs idealischen, konstruierten, beseelten Landschaften. Wenn wir sagen, dieser Sonnenuntergang könnte von Turner oder Friedrich sein, betrachten wir die Natur unter der Kunstperspektive – unter genau der falschen Perspektive. Sie geht am Eigenwert der Natur vorbei.

Grenzen der esthétique engagée Mit dem Landschaftsschwindel hat man längst die Grenzen der Umweltästhetik überschritten. Respekt vor der Natur wird nur eingelöst, wenn wir die Eigenart der Natur mit ihrem biotischen Recht respektieren. Das impliziert Akzeptanz des intrinsischen Werts der Natur. Keineswegs, schreibt Carlson, erwächst automatisch aus der ästhetischen Wertschätzung eine moralische Norm. Wenn eine invasive Art alle anderen Pflanzenarten in einem Teich erstickt, kann man den Teich trotzdem als »schön« empfinden. Das moralische Gebot jedoch lautet anders: Schütze die einheimischen Ästhetische Erfahrung II: Die Natur als Gewesene | 191

Arten, zerstöre die Ökologie des Teiches mit seinen fein austarierten Interdependenzen nicht.28 Stewart und Johnson argumentieren, angesichts der massiven Umweltkrise heute sei ein ästhetisches Herangehen unzureichend. Denn die ästhetischen Gründe für den Umweltschutz sprechen den Naturkonsum nicht an. Ästhetik ist eine Qualität, aber nur ausreichende Qualitäten motivieren Verhalten und Handeln.29 Sich allein auf ästhetische Aussagen zu verlassen, heißt, die systemisch bedingten Zerstörungsfaktoren zu verschleiern. 30 Wenn man das Auseinanderbrechen großer arktischer Eislandschaften anschaut (zum Beispiel in James Balogs Film Chasing Ice), gibt man sich »disaster porn« hin. 31 Man darf sich nicht auf die (positiven oder negativen) Perzeptionsoberflächen des Ästhetischen allein konzentrieren, denn dann verliert man die Gründe für den Vernichtungskontext aus den Augen.32 Weder die ästhetische Wahrnehmungsoberfläche noch etwas, was man in der Natur als schön empfindet, genügen, um eine ökologische Ästhetik prinzipiell als ausreichend zu bezeichnen. Naturästhetik kann zu moralischen Aussagen und Urteilen beitragen; die Betonung liegt auf dem Kann. Eine erfolgversprechende esthétique engagée ergibt sich daraus nicht, weder von Berleant noch in dieser Schrift. Sie stößt überall an ihre engen Grenzen. Denn im Angesicht der ökologisch einsetzenden Katastrophe kann die Ästhetik nur beiherspielend fungieren, weil wir zuerst moralische Urteile aussprechen und aussprechen müssen. Im Zerstörungskontext dominiert die ökologische Nachhaltigkeitsmoral. Nathalie Blanc nennt sie »care«, wohlverstanden eine Ethik, nicht eine Ästhetik.33 Genaugenommen lässt sich aus einem engagierten Kann keine stets gültige Umweltästhetik begründen. Diese muss sich einschränken, um der Moral für die Mitwelt Platz zu machen. Ich sehe die Stärken der engagierten Umweltästhetik zum einen im Aufzeigen von ästhetischer Negativität, die nach Positivität schreit. Ich sehe Stärken außerdem im Bewahren von dem, was wir als schön empfinden. Da aber die ästhetischen Empfindungen und Vorlieben sehr subjektiv sind, wäre es schwierig, hier immer auf eine Nachhaltigkeitseinigung zu hoffen. Das geht nur mit einer Naturmoral, die dem Raubbau und der Zerstörung theoretisch die Grenzen aufzeigt. Hier stimme ich mit Berleant nicht ganz überein. Er setzt sich für eine »embodied experience« mit der Natur ein, denn die 192 | Ästhetische Erfahrung II: Die Natur als Gewesene

ästhetischen Werte seien nicht nur subjektiv, sondern sozial mit ihren kulturellen und historischen Ursachen.34 Das Problem dabei liegt in der komplexen Dynamik von ästhetischen Empfindungen: Sie könnten morgen ganz anders ausfallen, obwohl sich die historisch-sozialen Ursachen nicht geändert haben. Jede Festlegung ästhetischer Stimmigkeit über Kulturen hinweg ist ohnehin zum Scheitern verurteilt. Man kann lediglich auf ganz ungefähre Annäherungen bei ästhetischen Übereinstimmungen hoffen. Das aber genügt keinesfalls, um in der Grenzsituation des Ökologischen, in die wir unversehens und rapide hineinstolperten, eine esthétique engagée zu begründen. Die engagierte Ästhetik lässt sich auch nicht durch eine Aufhebung der traditionellen Trennung zwischen Subjekt und Objekt bewerkstelligen. Berleant möchte die Trennung zwischen Betrachter/in und Naturobjekt aufheben zugunsten einer »total absorption in environment«.35 Eine schöne, begrüßenswerte Utopie angesichts des globalen Zerstörungskontexts. Indem Berleant den hedonischen Wert des Naturgenusses an die Umweltmoral andockt, soll diese Neubewertung und Wiedervereinigung vonstattengehen. Natürlich lassen sich die Natur als menschengemachte und der Mensch selbst nicht mehr voneinander trennen, was die Subjekt-Objekt-Trennung auf fürchterliche Weise neu justiert: Wir sind die Vernichtung der äußeren Natur und unserer Spezies selbst. Aber mit dieser Negativität lässt sich die Utopie nicht realisieren; eine Welt als Dystopie. Berleant zeigt einen wundervollen Weg auf, doch konterkariert unser ganzes Konsum- und Zerstörungsparadigma eine jegliche positive Utopie. Dennoch muss man auf Nachhaltigkeit setzen, um das Allerschlimmste, mit Glück, zu verhüten. Das ist unser Realproblem der Gegenwart, kein ästhetisches Problem. Zu eng liegen die Grenzen der esthétique engagée, um eine Wandlung des Zerstörungsparadigmas auch nur im Allerentferntesten mit anzustoßen. Die engagierte Ästhetik muss sich selbst einschränken. Das gilt sowohl für den eigenen ehrbaren Wunsch der engagierten Ästhetik, den ich als moralisch durchzogenen Wunsch selbstkritisch erkenne, wie auch für Berleants ästhetisches Engagement. Parsons kritisiert an Berleants Ansatz das Engagement als Element in der Produktion von etwas anderem, dem Erlebnis der (gewünschten) Einheit von Mensch und Ästhetische Erfahrung II: Die Natur als Gewesene | 193

Natur.36 Das benütze die Natur als »a tool without regard for what it actually is«. 37 Außerdem: Bewerkstelligt eine engagierte Ästhetik ein genuin ästhetisches Erleben der Natur?38 Diese Frage lasse ich unbeantwortet, aber wie Parsons sehe ich bei Berleant die gute Intention und den Versuch, verbal und ästhetisch-begrifflich die Makrokrise im Ansatz zu lösen – das heißt, nicht real zu lösen, was die Ästhetik ohnehin weit überfordert.

Der naturwissenschaftliche Zugang? Vom Realproblem der ökologischen Makrokrise gehe ich über zu einem rein theoretischen Ästhetik-Problem, das in den letzten Jahren eifrig diskutiert wurde, insbesondere in den Nullerjahren. Ich stelle die kritische Frage analog zur Frage des zweiten Kapitels an die Neurowissenschaften: In welchem Ausmaß soll man naturwissenschaftliche Erkenntnisse in den naturästhetischen Prozess mit einbeziehen? Es wird nicht bestritten, dass es sehr viele Zugänge zur ästhetischen Würdigung der Natur gibt: oberflächenästhetisch visuelle und auditive und mit dem Körper direkt in der Natur, beim Waldbaden auch der Tastsinn bei der Berührung von Bäumen; historischer, sozialkultureller und eben auch naturwissenschaftlicher Input in das Erleben. Ein Beispiel für den historischen und sozialkulturellen Zugang: Der Wald, genannt der Schönbuch, vierzig Kilometer lang und breit zwischen den Fildern südlich von Stuttgart und zwischen Stuttgart und Tübingen gelegen. Am Beginn des Waldes finden sich die Reste einer keltischen »Schanze« (eher ein Multifunktionsort aus Kultstätte, Lagerhütten und Verschanzung bei Gefahr) sowie viele keltische Grabhügel vom 5.–1. Jahrhundert v. u. Z. Ich wuchs an diesem Waldrand auf. Diese Wald- und Baumwiesengegend wird »Federlesmahd« genannt. Im Mittelalter glaubte man, es spuke an den Grabhügeln, einer Wohnstatt des Teufels, der im mittelalterlichen lokalen Volksmund leicht war wie eine Feder, daher überallhin fliegen konnte, daher »Federle«. Muss man diesen eher amüsanten Volksglauben kennen, um den Schönbuch zu genießen? Man muss es nicht. Der historische und somit naturwissenschaftlich-archäologische Hintergrund der keltischen Grabhügel trägt jedoch dazu bei, sich die keltischen Grabhügel zu 194 | Ästhetische Erfahrung II: Die Natur als Gewesene

erklären, nachdem die ortsansässigen Kelten im ersten vorchristlichen Jahrhundert von den östlich der Elbe eingewanderten Suevi (in Cäsars De bello gallico erwähnt), den späteren Schwaben, vertrieben wurden. Ein besonderes, historisiertes Walderleben. Die Frage lautet also nicht, ob man überhaupt mit einem naturwissenschaftlichen Verständnis an die Natur herantreten darf, sondern ob dies unbedingt zu gelten habe. Das Absolute des naturwissenschaftlichen Zugangs wird von Glenn Parsons und Allen Carlson mit verschiedenen Gewichtungen vertreten. Die kognitiven Positionen eint der Gedanke, dass Wissen einen zentralen Platz einnimmt, um natürliche Vorgänge und Objekte zu verstehen. 39 Das Ziel dieses Zugangs liegt darin, den Naturgenuss mit dem Eigenwert der Natur zu vereinen. Die ernsthafte Wertschätzung der Natur gelänge nur, indem man die Forschung von Geologie, Biologie und alle Formen der Ökologie heranziehe.40 Dem gegenüber stehen verschiedene andere umweltästhetische Posi­tionen: das, wie gesehen, Ästhetik-Engagement-Modell Ber­ leants, »total immersion«. Das »arousal model« besagt, man könne die Natur wertschätzen, indem man sich der Natur emotional öffnet. Die Natur spreche die Sinne unmittelbar an.41 Das »mystery model« anerkennt die Trennung Mensch – Natur und lässt sich vom nicht erkennbaren Naturgeschehen, diesem Mysterium, inspirieren.42 Das »associative model«, was die metaphorischen und Vorstellungsmomente der Natur erfasst, vereint verschiedene Anlagen der Natur. Damit verbunden und als äußerster antinaturwissenschaftlicher Ansatz betont der metaphysische Ansatz die metaphysischen Einsichten, die uns die Natur vermittelt, zum Beispiel zur Bedeutung des Lebens oder zur condition humaine.43 Carlsons Desiderat impliziert die anzustrebende absolute Objektivität im Umgang mit der Natur. Das naturwissenschaftliche Modell spielt für Carlsen eine zentrale Rolle, um Natur wertzuschätzen. Sein Modell sei »not only relevant to the question of what to appreciate, but also to that of how to appreciate«.44 Alle anderen Zugänge seien subjektiv und inadäquat, um Natur zu verstehen und somit um die Natur ästhetisch zu genießen. Nur das kognitive Herangehen liefere »adequate foundations for objective judgements of the aesthetic value of nature«.45 Carlsons Objektivismus verführt ihn dazu, in der modernen Landwirtschaft eine expressive Schönheit zu erbliÄsthetische Erfahrung II: Die Natur als Gewesene | 195

cken: »… the landscapes of contemporary agriculture, rather than lacking aesthetic value, are of exceptional formal and expressive beauty.«46 Er bezieht sich auf eine Luftaufnahme gigantischer kanadischer Monokulturen bis zum Horizont, die an Hässlichkeit kaum zu überbieten sind. Ihre expressive Schönheit beruhe auf »their function, productivity, and sustainability«.47 Aber was haben landwirtschaftliche »Funktion« und »Produktivität« mit Schönheit zu tun? Gerade die Monokulturplantagen widersprechen der Nachhaltigkeit (»sustainability«). Eine Extremposition. Zwar vermeide der rein naturwissenschaftliche Zugang den Disput, ob dieses oder jenes wertzuschätzen sei, schreibt der ebenfalls kognitiv orientierte Parsons, aber manches sei eben nicht quantifizierbar.48 Er schränkt das naturwissenschaftliche Modell ein: »Clearly, most scientific work does not involve aesthetic appreciation of nature at all, and many, perhaps most scientists, have neither interest in such appreciation nor talent for it.«49 Dennoch wendet sich auch Parsons gegen das Modell, das er »robust pluralism« nennt, insbesondere gegen Saitos moralisches Argument, das sich nicht unbedingt auf die Naturwissenschaft berufe. Das moralische Argument schreibe der Naturwissenschaft keinen privilegierten Status in der Naturästhetik zu.50 Damit hängt eng das Problem des korrekten Zugangs zur Naturästhetik zusammen. Um das dogmatische Wort »correct« zu umgehen, taucht immer wieder der Begriff »appropriateness« oder »adequancy« in der kognitiven Diskussion auf: Was ist der »angemessene«, der »angebrachte« Zugang zum Naturgenuss?51 Dieser Kernbegriff in der kanadisch-amerikanischen Ästhetik zieht sich, ohne je hinterfragt worden zu sein, durch allzu viele Diskussionen hindurch. Hier muss die ideologische Jargonkritik beim Begriff der Eigentlichkeit einsetzen, bei der Arroganz. Das »Angemessene« suggeriert, Carlson oder Parsons wüssten, wie man richtig an die Natur herangeht. Der Begriff suggeriert, es gebe einen objektiv richtigen Standpunkt, den man einzunehmen habe, als wäre nur der naturwissenschaftlich Versierte imstande, den korrekten Zugang zur Natur zu finden. Der Begriff des Angemessenen schränkt ein, anstatt das ästhetische Erleben auszuweiten. Der Begriff suggeriert, es gebe das naturwissenschaftliche Wissen, in Stein gemeißelt – als erlägen die naturwissenschaftlichen Erkenntnisse keinem 196 | Ästhetische Erfahrung II: Die Natur als Gewesene

Prozess. »Appropriateness« negiert die naturwissenschaftliche Dynamik. »Appropriateness« drückt genau dasjenige aus, was die Ästhetik-Diskussion gerade nicht braucht, da die Verfechter des »Angemessenen« mit erhobenem Zeigefinger angeblich Richtiges von angeblich Falschem zu unterscheiden befähigt sind. Weitere grundlegende Probleme ergeben sich. Das Problem des Angemessenen führt direkt zum Objektivitätsproblem, denn die »objektive« Natur wurde ja erheblich vom Subjekt verändert, gar verwandelt, kann also bestenfalls als ein »Verwandelt-Objektives« sozusagen verzerrt objektiv wahrgenommen werden. In diesem Kontext wird, wie oben angedeutet, die einzige, allzeit gültige naturwissenschaftliche Aussage bestritten, etwa von Jennifer Welchman: »… there is no one right set of scientific concepts or theories to bring to bear on what lies around me.«52 Carlsons and Parsons’ Ansatz leugnet die Dynamik der naturwissenschaftlichen Erkenntnisse. Außerdem können die empirischen Daten oft zweideutig sein, bedürfen daher der Interpretation. Der kognitive Ansatz krankt daran, dass eine naturwissenschaftlich orientierte Naturerkenntnis zwar »richtig« sein mag, aber nicht notwendig zu einer ästhetischen Erfahrung führen muss. Ökologische Fakten bedingen ebenso wenig ein moralisch gebotenes Handeln mit der Natur. Carlson kritisiert an der chinesischen Umweltästhetik von Cheng Xiangzhan, er schlussfolgere nicht von Umweltfakten auf ethische Werte. 53 Die Kritik trifft den Urheber. Das heißt: Ökologische Erkenntnisse müssen nicht zwangsläufig in »korrektes« Handeln münden. Rolston schreibt dazu, die Naturwissenschaft »leaves us puzzled«, ob die Werte etwa im ökologischen Waldkreislauf intrinsisch oder instrumentell seien. 54 Die Naturwissenschaft schenkt uns unverzichtbare Erkenntnisse (die nicht in Stein gemeißelt sind), aber wir Menschen versehen die Erkenntnisse mit Werten, aus denen moralisches Handeln folgt. Aufgrund des Katastrophenzustands der Restnatur müssen wir geradezu, ja zwanghaft den Eigenwert der Natur anerkennen und danach handeln. »Perception … cannot be purchased with either learned degrees or dollars  …«, 55 schrieb Aldo Leopold. Brady kritisiert den kognitiven Ansatz prinzipiell: »For the cognitivist, we must get things right. The noncognitivist is more generous, recognizing that there may be a variety of ways we can Ästhetische Erfahrung II: Die Natur als Gewesene | 197

appreciate the same thing  …«56 Die Sorge der Kognitivisten »is that emotional or imaginative responses are unreliable or potentially distorting grounds for aesthetic judgement«. 57 Die Kritiker des rein naturwissenschaftlichen Ansatzes »argue that scientific cognitivism misses some fundamental ways we experience natural and semi-natural environments«.58 Die Alternativen zum rein naturwissenschaftlichen Ansatz zeichnen sich durch einen lebendigen Pluralismus aus. Dale Jamiesons Vorschlag, konträr zum naturwissenschaftlichen Ansatz, lautet: Liebe die Natur! Der Schritt von Vernunft zu moralischem Handeln, schreibt sie, sei unsicher. »The route that goes directly from concrete, emotion-charged images to actions is more reliable and immediate  …«59 Liebe zur Natur bedeutet, die Natur in ihrem Sosein anzuerkennen. Kein Gefühl sei so stark wie die Liebe, »and never has nature needed our protection more than now«. 60 Auch der intime Naturkenner und -liebhaber, der Ranger Aldo Leopold, sprach sich für Liebe zur Natur aus: »It is inconceivable to me that an ethical relation to land can exist without love, respect, and admiration for land, and a high regard for its value.«61 Cheryl Foster betont die Notwendigkeit, das Gefühl des NichtSelbst als Aufmerksamkeit zu entwickeln. Das intensiviert die Sensibilität für die Natur. Diese Sensibilität »cannot be exhausted in our attempts to define and confine it (gemeint ist die Natur), even as those attempts have become more codified and stable with the advent of scientific method.«62 Ihr geht es, mit einem Wort, um das innere Erlebnis mit der Natur. 63 Das funktioniert nicht mit einem wie auch immer gearteten »interesselosen Wohlgefallen« an der Natur, wie Brady an Carlson kritisiert: Gerade die Natur interessiert uns. 64 Gerade die Natur aktiviert visuell, olfaktorisch, auditiv und als Umgebung gesamtkörperlich unsere Emotionszentren im Gehirn. Brady spricht sich im Gegensatz zum rationalistischen Weltbild für die Vorstellungskraft aus, für »imagination«, die die Natur in uns zum Leben erwecken kann. Wahrnehmungsaufmerksamkeit in der Natur, führt sie aus, hängt unmittelbar mit unserer Vorstellungskraft zusammen, was einen vielfältigen Zugang zur Natur ermöglicht. 65 Marcia Muelder Eaton konzentriert sich auf die Macht der Fiktion im Naturumgang, in Kunst und Literatur. Sie veränderten die 198 | Ästhetische Erfahrung II: Die Natur als Gewesene

Einstellung zur Natur zum Besseren. Unsere Haltung zur Natur sei nun einmal »largely determined by the metaphors with which we conceptualize it; many of these have come to us from literature and the arts«. 66 Rolston schließlich spricht von der Aura der Wälder: »A forest always comes with an aura of ancient and lost origins.«67 Sie seien ein perennierendes Symbol »of the archetypal realm out of which we once came«. 68 Er warnt aber auch, die Naturwissenschaft nicht über Bord zu werfen, denn diese kann uns tiefe Einblicke in die Waldökologie schenken, die wir oberflächlich nicht wahrnehmen können: »One has to appreciate what is not evident, and here science helps.«69 Rolston gibt das Stichwort für das Fazit, das man aus den gegensätzlichen Positionen ziehen kann. Obwohl die rein naturwissenschaftliche Naturerfahrung große Schwächen und Lücken aufwarf, halte ich es für sinnvoll, die kognitiv basierte Erfahrung wann immer geboten und gewünscht, ohne Zwang, einzubeziehen. Zum Beispiel kann uns die Naturwissenschaft Grundinformationen schenken, die die Erfahrung der Natur bereichern können, wie das archäologisch-historische Wissen um die Kelten-Besiedlung im erwähnten Schönbuchwald mein Erleben dieses Waldes bereichert hat. Die Naturwissenschaft vermag über ökologische Zusammenhänge aufzuklären, zum Beispiel über die wenig attraktiven Feuchtgebiete, die ökologisch außerordentlich wertvoll sind. Das könnte dazu beitragen, den Blickwinkel zu verändern, die Achsendrehung des suji kaete im letzten Kapitel. Brady spricht sich für eine »integrierte Ästhetik« der Natur aus, die viele Möglichkeiten des Zugangs zur Natur offenhält: von Individuum zu Individuum und von Tageszeit zu Tageszeit verschiedenartige ästhetische Naturerlebnisse, Erlebnisse der individuellen Vorstellungswelt, der Emotion wie Liebe zur Natur, wie Furcht in einem heftigen Sturm und nicht zuletzt schlichtweg Wissen. Sie nennt das Herangehen »syncretism«.70 Diese multivalente Perspektive, die undogmatisch vereint und nicht ausschließt, will auch globalästhetisch tauglich sein, denn sie legt nicht ab ovo fest, wie Natur erlebt werden soll. Das synkretistische Vorgehen respektiert nicht nur die Natur, sondern auch alle Kulturen der Welt. Ihre Naturzugänge unterscheiden sich oft radikal voneinander; und keine ist »falsch«, nur verschieden von anderen. Ästhetische Erfahrung II: Die Natur als Gewesene | 199

Die Naturwissenschaft sei nur ein Element im Gemisch, schreibt Brady.71 Carlsons und Parsons’ Zugangsnormen zur Natur schließen außerdem indigene Kulturen völlig aus der Naturerfahrungswelt aus. Die Natur des rein naturwissenschaftlichen Weltbilds, ein Neo-discours de la méthode, würdigt indigene Naturzugänge herab. Dabei sind die Naturerfahrungen indigener Völker gerade bedeutend und verdienen den größten Respekt. Ihre Naturerfahrungen sind ohne Begriff nachhaltig und von Respekt für Flora und Fauna durchdrungen. Sie durch die moderne wissenschaftsorientierte Naturerfahrung auszuschließen, manifestiert eine unglaubliche Hybris, die uns mit unserer gedankenlosen Ressourcenausbeutung schlecht ankommt. Und wenn die Natur der Urvölker belebt und mythologisiert wurde? Er steht gerade den Sündern an der Mitwelt nicht zu, über Völker zu richten, deren Mythen wir nicht nachvollziehen können. Das heißt nicht, die Natur sei mit der Perspektive des Irrationalen zu erleben; es heißt nur, dass man andere Völker mit ihren ganz anderen Naturerlebnissen akzeptieren muss. Vielleicht können wir von ihnen viel lernen und nicht sie von uns. Wir können unseren Verstand und unser ökologisches Wissen einsetzen, um Respekt vor der Natur wieder zu erlernen, nachhaltig vorzugehen und ästhetisch so zu erleben, wie wir möchten. Oder wie es Leopold in den 1940er Jahren auf den Begriff brachte: »The evolution of a land ethic is an intellectual as well as emotional process.«72 Doch diese Ausführungen zum Zugang einer Mitweltästhetik haben uns einem ästhetischen Erleben der Natur nicht nähergebracht. Die japanische Perspektive auf die Natur könnte dazu erste Hinweise in Zeiten der ökologischen Makrokrise liefern.

Globalästhetik: Das japanische mono no aware (»die Empathie mit den Dingen«) In der japanischen Naturauffassung gehen Ethik und Ästhetik ineinander über. Sie bedingen einander. Die japanische Ethik will keine Theorie darstellen, will keine intellektuelle Metasuche sein, sondern einen Weg des Gehens oder Seins in der Welt erlebbar machen. Zu dieser Auffassung gehören die Menschen, die allesamt 200 | Ästhetische Erfahrung II: Die Natur als Gewesene

miteinander verbunden sind; sie gehören auch mittelbar zum gesamten Kosmos. Dieses Gefühl des Eins-Seins von Mensch und Natur bestimmt die japanische Naturauffassung.73 Der große Japankenner Donald Keene deduziert aus dem bereits zitierten Tsurezuregusa des Zen-Meisters Kenkō aus dem 14. Jahrhundert vier besonders wichtige ästhetische Prinzipien: 1. Die Suggestion: Nicht der Höhepunkt noch das Endprodukt einer Handlung sei bedeutsam, wie etwa beim Laocoön, sondern der Anfang und das Ende eines Vorgangs: die kaum geöffneten Blüten und die abgefallenen Blüten.74 Dazu Kenkō: »In all things, it is the beginnings and the end that are interesting.«75 2. Die Unregelmäßigkeit – etwa das Unvollendete in der gesamten Natur.76 3. Die Schlichtheit – die Wabi-Ästhetik der Armut und des Soseins der Natur, wie sie sich nun einmal gibt.77 4. Die Vergänglichkeit: Gemäß Kenkō sei die fehlende Permanenz ein Element der (Natur-)Schönheit, wie sie sich in nuce in der vergänglichen Kirschblüte manifestiert.78 Diese vier Prinzipien erklären zwar nicht die Gesamtheit der japanischen Kunst- und Naturästhetik, wie Keene einschränkt. Aber sie enthalten vieles, was die heutigen japanischen ästhetischen Präferenzen betrifft.79 Die Quellen der obigen Prinzipien liegen in der japanischen Naturreligion Shintō und im Buddhismus, insbesondere im japanischen Zenbuddhismus. Shintō sucht die Göttlichkeit in allen Naturerscheinungen. Wer mit der Natur arbeitet, muss sich im Einklang mit den Naturgöttern bzw. den Geistern, den Kami, bewegen, was bedeutet, dass der Umgang mit der Natur von Respekt, ja Demut gekennzeichnet sein muss. Außerdem bewegt sich der Mensch im Rahmen einer spirituellen Praxis von göttlicher Energie mit kontinuierlicher Erschaffung. 80 Ebenso bedeutsam für die Naturauffassung ist der Buddhismus, der sich bemüht, das Ich zu überwinden. Auf die Natur angewandt bedeutet das, die anthropozentrische Weltsicht insbesondere auf die Natur zu überwinden, in der westlichen, kartesischen Naturauffassung des Menschen als Eroberer. 81 Aus beiden Quellen und den vier Prinzipien leitet sich eine vielfältige, fließende Naturästhetik ab. Respekt vor der Natur und somit die Wertschätzung alles Natürlichen gehören dazu (auf den Respekt werde ich später eingehen, da er nicht ausschließlich japanisch ist). Damit hängt die Sorge um die Natur (»caring«) mit Ästhetische Erfahrung II: Die Natur als Gewesene | 201

ihrem moralisch-ästhetischen Wert zusammen. Das geht auf die Heian-Periode (794–1185) zurück, worin Aristokraten in ihren Gedichten sich darum sorgten, wie die Gedichte von anderen aufgenommen sein würden, was die Autorinnen und Autoren in die moralische Pflicht nahm. 82 Die Sorge drückte sich also ästhetisch aus. Ohne sorgende Umgebung kann leicht Demoralisation einsetzen. Daher muss die ästhetische Umgebung stimmig sein. 83 Respekt für die Natur und Sorge um sie werden komplettiert von Demut der Natur gegenüber, ein erstaunlich moderner Gedanke. Respekt, Sorge und Demut sind konstruktive Begriffe, Haltungen und ganz praktisch Aktionsanleitungen gegenüber der Natur. Sie zielen ab auf Nachhaltigkeit im Umgang mit der Natur. Sie widersprechen der reinen und modernen Zweckbestimmtheit, wie Suzuki betont. 84 Das vierte Prinzip, das der Vergänglichkeit oder der Zeitlichkeit, kann man vielleicht als das bedeutendste bezeichnen. Es durchdringt die Ästhetik Japans geradezu. Die Vergänglichkeit manifestiert sich in den Naturerscheinungen: in den saisonalen Veränderungen, den fallenden Blättern, deren Farbe sich verändert, insbesondere in den rasch dahinwelkenden Kirsch- und Pflaumenblüten. Obwohl von einer späteren Kriegerkultur überlagert, gehört die Zeitlichkeit zur ästhetisch fruchtbaren Heian-Periode. Saito weist darauf hin, dass uns die Erkenntnis des gemeinsamen Schicksals der lebendigen Welt, nämlich unser aller Vergänglichkeit, auch trösten kann. Die Ästhetisierung der Vergänglichkeit kann uns darin unterstützen, eine positivere Einstellung zu unserem eigenen Hinscheiden zu gewinnen;85 und zur Pracht des Lebens in jedem Augenblick, solange wir noch leben. »The changing of seasons is deeply moving in its every manifestation«, schrieb Kenkō im 14. Jahrhundert. 86 Bashō, dem großen Haiku-Meister des 17. Jahrhunderts, gelang es, die Vergänglichkeit der Natur mit der Unbeständigkeit und Eitelkeit der Samurai-Kultur zu verquicken: »Das Sommergras, ach, / Ist von den Kriegern nun noch / Der Rest der Träume.«87 In der japanischen Ästhetik pulsiert die Natur als schön empfundenes Memento mori, ein Memento-Motiv der Natur und zugleich eines für den Menschen. Die feinsinnige japanische Ästhetik wäre nicht das, was sie ist, hätte sie nicht eine Verfeinerung der nicht gerade originellen »Vergänglichkeit« anzubieten. 202 | Ästhetische Erfahrung II: Die Natur als Gewesene

Der Begriff mono no aware machte über die Jahrhunderte tiefgreifende Veränderungen durch. In den ältesten Schriften bedeutete aware einen Ausruf der Verwunderung, später »angenehm« oder »interessant«. Im 18. Jahrhundert nahm der Begriff zunehmend die Bedeutung für »Empfindsamkeit der Dinge« an. 88 Die spätere Bedeutung wird dem Literaturkritiker Norinaga Motoori (1730–1801) zugeschrieben – manche sagen: er erfand eine neue Bedeutung, um zu beweisen, dass die japanische Kultur der chinesischen überlegen sei. 89 Er charakterisierte das Genji monogatori (Die Geschichte des Prinzen Genji), geschrieben von Murasaki um 1000 n.  u. Z., als zarte Melancholie, als mono no aware.90 Carter versteht den Begriff als »sadness tinged with joy when viewing flowers blossoming«, was sich insgesamt über das flüchtige Chadō, die Teezeremonie, aussagen lässt.91 Obert übersetzt den Begriff als »Wehmut der Dinge«.92 De Bary schreibt von der Natur »tinged with sadness«93 und nimmt auch Bezug auf das Genji monogatori. Richie entdeckt die Nähe des mono no aware zur Sabi-Ästhetik. Beide betonen »the wistful melancholy of the sympathetic response …«94 Der Begriff des mono no aware enthält sowohl die Vergänglichkeit der natürlichen Dinge als auch den emphatischen, von einer leichten Trauer gekennzeichneten Respons auf das ästhetisch beobachtbare Phänomen. Kempton, finde ich, drückt es am klarsten aus: Mono no aware fokussiert sich auf die Schönheit der Natur und auf das anstehende (»impending«) Verschwinden dieser Schönheit und auf die ästhetische Aufmerksamkeit auf das Phänomen und auf die Trauer um das Verschwinden – was uns außerdem an die Endlichkeit unseres eigenen Lebens erinnert. All diese Komplexität konzentriert sich in mono no aware mit dem klassischen Symbol der zarten Kirschblüte im Vergehen. Es geht um eine melancholische ästhetische Erfahrung. Diese Erfahrung vermag sich zum ästhetischen Erleben zu steigern, versenkt man sich zum Beispiel in die Kirschblütenpracht, ein Schönheitserleben von empathischer, kleiner Trauer gekennzeichnet. Sie weist über die Kirschblüte hinaus. Das japanische Erleben macht Trauer und Freude zugleich möglich. Im Kontext der ökologisch einsetzenden Umweltkatastrophe passt mono no aware, als wäre der Begriff dafür geschaffen, um die Trauer um die Natur zugleich mit dem ästhetischen Genuss der Ästhetische Erfahrung II: Die Natur als Gewesene | 203

Restnatur zu erleben. Der Begriff beschreibt diese heutige Zeit des Anthropozäns, der Zeit der Naturzerstörung, wie ein passender Handschuh. Mono no aware fühlt die Melancholie des ästhetischen Erlebens stets mit. Er kann als der tragische Ausdruck unserer Zeit gelten. Kein anderer Begriff drückt ästhetische Trauer so feinsinnig, so überzeugend aus wie mono no aware. Er wird zum Menetekel, zum Symbol einer zerstörerischen Epoche, die sich ästhetisch pars pro toto bereits erleben lässt. Kein anderer Begriff drückt so unnachahmlich aus, wie man die existierende, übergehende Natur als bereits Gewesene ästhetisch erleben kann; und, will man wahrhaftig sein, sogar muss. Immer schwingt Trauer mit. Graham Parkes bezieht sich auf Saitos Kritik an mono no aware: Der Begriff sei zu fatalistisch, um ökologische Aufmerksamkeit zu erwecken. Man könne jede Entwaldung und jede Umweltverschmutzung ebenso gut als ein Beispiel für Vergänglichkeit erfahren.95 Das mag zutreffen, nur: Bei mono no aware geht es um ein melancholisches ästhetisches Erlebnis. Zu Recht kritisiert Saito die Heraufstilisierung des Zenbuddhismus zu einer Ökologie avant la lettre. Indem insbesondere der Mahayana-Buddhismus alles hienieden zu einer Buddha-Erscheinung deklariert, ist der Buddhismus, auch der Zenbuddhismus, nicht in der Lage, Umweltverwüstungen zu beschreiben und als absolut negativ zu begreifen, wie auch Ian Harris kritisierte.96 Das trifft alles zu. Wie jedoch bereits erwähnt, will mono no aware ein rein ästhetisches Erlebnis beschreiben und für diese ästhetische Sensibilität werben. Von einem jahrhundertealten Begriff darf man keine moderne Umwelttheorie erwarten. Mono no aware drückt eine melancholische DiesseitsJenseits-Ästhetik aus zu jeder Zeit und insbesondere im Anthropozän: das tragisch-ästhetische Symbol unserer unrühmlichen Ära. Allerdings genügt es nicht, allein an mono no aware als überaus adäquatem, ja kongenialem Ausdruck unserer Epoche festzuhalten. Es drückt ein Herangehen an die Naturästhetik aus. Ich verlasse daher die japanische Naturästhetik und gehe über zu weiteren ästhetischen Erfahrungs- und Erlebnisweisen mit der Natur.

204 | Ästhetische Erfahrung II: Die Natur als Gewesene

Vielfältige Zugänge zur Natur Wie Aldo Leopold schrieb: Der Umgang mit der Natur wird von Emotion getragen und ist auch ein geistiges, intellektuelles Phänomen.97 Diese Einschätzung aus den 1940er Jahren gibt eine Grundausrichtung vor, die auf vielfältige Weise mit Leben zu erfüllen wäre. Liebe allein, die Unverzichtbare, absolut Wesentliche, trägt eine Naturästhetik mit – aber eben nicht allein. Mit Ausnahme von Performances und Installationen kann die Kunst meist nicht als umgebendes Gesamtgefühl erfahren werden. Die Natur hingegen, die wir betreten, wird unmittelbar und sinnlich erfahren. Auch wenn die Kulturlandschaft »Natur« nur noch bedingt in ihrer Natürlichkeit zu uns spricht: Der Wald, die Wiesenlandschaften, die Wüste und die Berge umfangen uns ohne Begriffe, ohne Kriterien, ganz unmittelbar. Die Restnatur zu genießen, heißt eine Ahnung aufkommen zu lassen, was Heimat sein könnte. Gernot Böhme nennt diese Kategorie das »In-Sein«, worin wir leibliches Erspüren der Umgebung erfahren oder erleben; das Erleben als positive Steigerung des Erfahrenen. Das leibliche Spüren müsse eingeübt werden.98 Wir erfahren die Natur leiblich. Doch auch das, so positiv man es bewerten muss, genügt nicht. Denn Natur kann man nicht nur körperlich, sondern man muss sie mit allen fünf Sinnen erfahren. Yi-Fu Tuan untersuchte ausführlich die Sinne beim ästhetischen Erleben, bezog den Geschmackssinn aber wesentlich auf das Essen.99 Das Schmecken würde ich jedoch nicht nur auf Speisen und Getränke reduzieren. Die salzige Luft am Meer kann man schmecken, zusammen mit dem Geruchssinn. Hier hilft die erwähnte indische Rasa-Ästhetik, die vom »Geschmack« vieler ästhetischer Erfahrungen erzählt. Eng verwandt damit ist der Geruchssinn. Man riecht den Garten, die Blumen, man riecht den Wald intensiv. Ferne und nahe Aromen tragen zum Gesamtbild einer Landschaft bei. So gut wie immer riecht eine Landschaft, mal intensiv, mal ganz verhalten, niemals aber neutral. Ich erinnere mich an ein überwältigendes olfaktorisch-ästhetisches Erlebnis, das ich heute, nach Jahrzehnten, noch genauso »rieche«: Wenigstens einmal im Leben wollte ich in der Provence ein blühendes Lavendelfeld sehen. Wir fuhren am Spätnachmittag dahin – und das riesige Feld war Ästhetische Erfahrung II: Die Natur als Gewesene | 205

gerade eben abgeerntet worden. Aber der Geruch! Die Luft war erfüllt vom frischen und schweren Lavendelgeruch; ein buchstäblich unglaubliches Erlebnis. Statt der erwarteten visuellen Erfahrung mit einem hübschen Feld erlebte ich eine viel größere, noch nie dagewesene, unvergessliche Rasa-Geruchsbegegnung. Natürlich kann man die Natur auch fühlen: die Bäume berühren, die Blätter, die Blüten. Beim Waldbaden kann man, wie bereits erwähnt, die Bäume vorsichtig umarmen. Man kann in Maßen ein paar abgeworfene Tannenzapfen sammeln ebenso wie WegwartBlumen. Auch hört man die Natur, und zwar mit einem von uns unterschätzten Sinn: eine absolute Stille der Natur (wie in Death Valley) erschafft ein Gefühl des Todes. Man hört das Vogelgezwitscher und hört es dennoch nicht, so natürlich kommt es uns vor. Wenn wir uns aber darauf konzentrieren, hören wir Gezwitscher, den Wind, den Regen. Geräusche, schreibt Tuan, können die Emotionen noch intensiver berühren als visuelle Erfahrungen.100 Die Rasa-Ästhetik sensibilisiert für alle Naturgeräusche, die in der westlichen Ästhetik fast keine Rolle spielen. John Andrew Fisher betont, dass das Soundscape der Natur sich gemäß Tageszeit und Jahreszeit wesentlich verändert.101 Die verstädterten Menschen der Moderne hören, aber sie hören nicht. Bei indigenen Völkern wird nicht nur auf die Aktivität der Tiere gehorcht, nicht nur auf das Warnpotenzial der warnenden Tiere; die Kaluli in Papua-Neuguinea zum Beispiel stimmen ihre Musik ab auf die Geräusche der Natur.102 Im Verhältnis zum Hören von Musik, das durch Medium, Liedlänge, Tonart und Komposition völlig gerahmt wird, ist bei Stadt- und Vorortbewohner/innen der natürliche Gehörsinn radikal unterdeterminiert.103 Nicht nur Rasa, auch das japanische ongaku, die Freude an den Tönen, fungiert inklusiv und nicht exklusiv. Schließlich das Sehen, das, wie im Kapitel über empirische Ästhetik bewiesen, einen Löwenanteil der sinnlichen (Natur) Erfahrungen für sich beansprucht. Der visuelle Sinn ist bei uns Menschen überdeterminiert. Es empfiehlt sich daher bei der Naturerkundung stehenzubleiben und die Augen für ein paar Minuten zu schließen. Man wird staunen, was man alles schmeckt, riecht, hört und körperlich fühlt. Man kann Schönheit riechen und hören. Unser Sinn für Schönheit konzentriert sich überdeterminiert auf das visuelle Erleben. »Schön« heißt, sinnlich mit dem 206 | Ästhetische Erfahrung II: Die Natur als Gewesene

visuellen Zentrum im Okzipitalareal des Cortex zu erleben. Ohne sinnliche Wahrnehmung keine perzeptionelle. Daher gehen Theorien – es sind eher nur Annahmen und Überzeichnungen – von Naturwissenschaftlern völlig fehl, die etwa das Standardmodell der Physik, die Gleichungen mit ihren Symmetrien ohne sinnliche Anschauung als »schön« bezeichnen. Physikalische Symmetrien, Gleichungen und Theorien mögen stimmig, schlüssig, gar perfekt sein. Schön sind sie jedoch nicht. »All things are Number«, schreibt Wilczek, was er »a beautiful reality« nennt.104 Abgesehen von der groben neo-pythagoreischen Vereinfachung von Welt gibt es ohne sinnliche Perzeptionserfahrung keine Schönheit. Trifft die sinnliche Anschauung als Grundbedingung für Schönheitsempfindung zu, eröffnet sich die schöne Erfahrungswelt prinzipiell als unendlich, wie im Kapitel über das Schönheitsempfinden dargelegt. Man genieße die Restnatur in vollen Zügen, auch visuell, denn mono no aware lehrt uns die Vergänglichkeit. Menninghaus meint sogar, indem die Menschheit die ehemals reichlich dargebotene Schönheit der Natur zerstört, »wird der Affektbetrag ästhetischer Wahrnehmung von ›Natur‹ immer ausschließlicher auf den menschlichen Körper fokussiert«.105 Das mag eine Überspitzung sein, weist aber auf eine Tendenz hin, die nur unsere Spezies übriglässt – ein armseliger Ersatz für die einst reiche Fülle der aufgefächerten Natur. Am besten, man beginne gleich, sich den japanisch-selektiven Blick anzueignen, suji kaete, hinweg vom menschlichen Körper und der Egozentrik unserer Spezies, hin zu den Restposten des Verlorenen, oder, mit Kants prophetischer Aussage: »Die Natur war schön.« Schönheit jedoch darf kein absolutes Kriterium sein für die Naturerfahrung. Im Gegenteil. Auf dem Hintergrund der fortgeschrittenen Zerstörung der Mitwelt im Anthropozän muss die Negativästhetik zwangsläufig eine immer größere Rolle im naturästhetischen Ganzen spielen. Eine von Straßen durchpflügte Landschaft mit krebsartig sich ausbreitenden Zersiedlungen von Industrie- und Gewerbegebieten und vermüllte Ozeane: das bekannte Bild der ästhetischen Negativität. Man schütte aber nicht, wie Berleant warnt, das Kind mit dem Bade aus: Eingriffe des Menschen im Englischen Park und in französischen, chinesischen und japanischen Gärten sind nicht prinzipiell negativ zu werten. Vielmehr stellen sie eine mehr oder wenige erfolgreiche Ästhetische Erfahrung II: Die Natur als Gewesene | 207

Kollaboration mit den natürlichen Gegebenheiten dar.106 Negativ seien meist sorglose, nicht durchdachte, selbstsüchtige oder ausbeuterische Aktionen.107 Saito ruft dazu auf, stets die Moral in die ästhetischen Erwägungen mit einzubeziehen und den zeitlichen und historischen Kontext im Geist stets parat zu halten.108 Eine Müllkippe am Stadtrand, im Wald abgeladene alte Kühlschränke wären Beispiele für eine reine Negativästhetik, die mutwillig Szenisches zerstört und den Kontext nicht berücksichtigt. Dies wäre moralisch zu verurteilen. Moral also wird in den meisten Fällen in der Negativästhetik eine Rolle spielen, nicht aber beim »scenically challenged environment«, wie Saito schreibt,109 etwa Sümpfe oder reizlose Flachlandschaften. Man schenke ihnen trotzdem einen positiven Wert, weil sie einen biotischen Eigenwert besitzen. Im Reizlosen käme die Wabi-Ästhetik zum Austrag, die Ästhetik des Schlichten, des Unregelmäßigen.110 Auch hier gilt suji kaete, die Perspektive ändern, um dem Reizlosen, dem Unauffälligen einen positiven Wert abzugewinnen.

Respekt Überall in den Medien und auch in der ökologisch orientierten Ästhetik schallt der Ruf nach Respekt vor der Natur. Das ist richtig, aber leicht gesagt, denn mit dem Begriff »Respekt« vor der Natur werden einige Probleme angesprochen. Eine ursprünglich echte Natur existiert so gut wie nicht mehr; am ehesten in der Wüste Gobi oder in der Antarktis. Wenn wir daher von Respekt sprechen, reden wir von Natur-als-Kultur, der schon bearbeiteten und veränderten Natur. Dennoch obliegt es unserer Pflicht, Normen aufzustellen, die den Erscheinungen, wie sie sich nun einmal jetzt geben, einen inhärenten Wert schenken. Paul Taylor schrieb schon vor Jahrzehnten, dass der respektvolle Umgang mit der Natur die Idee des Guten eines Wesens und die Idee des ihm innewohnenden Werts umfasst.111 Die nichtmenschliche Natur respektvoll zu behandeln funktioniere nur, »when we accept the belief-system of the biocentric outlook on nature«.112 Der Respekt vor der Natur begründet sich als »ultimate attitude«.113 Ihm wohnt die Schwäche inne, einem Glaubenssystem anzugehören, allerdings einem 208 | Ästhetische Erfahrung II: Die Natur als Gewesene

objektiv und heute zwanghaft gegebenen: Wenn wir nicht lernen, respektvoll mit der Restnatur umzugehen, werden wir selbst untergehen. Taylor stellt fest, dass die Basis des Respekts vor der Natur nicht im emotionalen Aufruf, den das lebendige Wesen für uns haben mag, gründet, denn die Attraktivität einer Pflanze ist nicht relevant für unseren Respekt vor dieser Pflanze.114 Darin liegt auch die Schwäche der Liebe zur Natur. Respekt muss vielmehr unparteiisch sein, prinzipiell, sie ist eine moralische Norm und nicht von Emotionen abhängig. Respekt und der biotisch zentrierte Ausblick auf das Leben gehören zusammen. Was nicht unbedingt zusammengehört zur Respektnorm sind das naturwissenschaftlich-technologische Verständnis der Natur und die ästhetische Einstellung. Die Naturwissenschaft ist prinzipiell moralfrei, und ob sie sich stets einer höherwertigen moralischen Norm beugt oder einfach ihre Projekte durchzieht, liegt in den Sternen. Und was die Ästhetik betrifft: Zum Beispiel könnte der ästhetische Wunsch nach einer schönen Aussicht von einem Wohlfühlhotel die Ökologie in einem sensiblen Gebiet zerstören. Auch gibt die Ästhetik attraktiven Gegenden, Tieren und Pflanzen den Vorzug vor hässlichen (aber biotisch notwendigen) Tieren, Insekten oder Pflanzen – ein moralisch respektloses und verwerfliches Ästhetisieren. Mit dem Respektargument haben wir vieles über ein moralisches Verhalten gegenüber der Natur ausgesagt, wenig oder nichts über die Ästhetik. Respekt wirft, wie Parsons feststellte, ein Aktionsproblem gegenüber der Natur auf.115 Genaugenommen: Wenn wir die Natur so akzeptieren, wie sie ist, wäre das Respektargument ein Hindernis für Aktionen.116 Im Gegensatz zu Parsons befürworte ich dieses Hindernis, nämlich prinzipiell eine Dominanz der moralischen Norm des Respekts über die Ästhetik. Das Problem hängt also davon ab, welchen Wert wir als höherwertig zu akzeptieren bereit sind: Moral oder Ästhetik, falls es einen Widerspruch zwischen beiden geben sollte. Prinzipiell halte ich die Moral für höherwertig, aufgrund des fortgeschrittenen Zerstörungszustands der Natur. Einen vielleicht bedingten Ausweg spricht Saito an mit dem Beispiel des japanischen Gartens. Der Gartenarchitekt hört im Idealfall auf den »request«, auf die stumme Bitte der Steine und Ästhetische Erfahrung II: Die Natur als Gewesene | 209

Pflanzen. Die Bäume und Pflanzen werden so bearbeitet, wie es im Baum und in der Pflanze verborgen liegt. Die Landschaftsarchitekten gehen mit der Flora mit, nicht gegen sie an wie in den Gärten Europas etwa im Frankreich des 17. Jahrhunderts, wo die Gestalt der Bäume ohne Rücksicht auf die Charakteristiken der Flora zurechtgestutzt wurden.117 Ein buchstäblich schönes Ideal, das fähige Japanerinnen und Japaner tatsächlich realisieren. Ich bezweifle aber, dass sich dieser Umgang bei der durchrationalisierten Landwirtschaft der Welt verallgemeinern lässt. In nuce: Respekt vor der Natur ist absolut geboten, muss aber nicht mit der Ästhetik übereinstimmen. Aber es existieren noch andere ästhetische Begriffe im Umgang mit der Natur.

Ehrfurcht, Wehmut und Sehnsucht Ehrfurcht vor der Natur – Albert Schweitzers Ehrfurcht vor der Schöpfung – kann eine starke Emotion darstellen und Umweltaktionen inspirieren.118 Ehrfurcht bedeutet, sich von einem Naturobjekt überwältigen zu lassen, zu staunen, sich zu wundern. Sie produziert ein Gefühl des relativ Kleinen, der Machtlosigkeit.119 Das Gefühl muss keineswegs freudig, nicht einmal angenehm sein, wenn man etwa vor einem Hurrikan Ehrfurcht empfindet.120 In der Politik kann Ehrfurcht gefährlich sein, etwa wenn ein charismatischer Führer Ehrfurcht buchstäblich gebietet.121 In der Umweltbewegung vermag Ehrfurcht vor den eher banalen Aspekten in der Natur abzulenken.122 Ob sie sich positiv auf die ästhetische Erfahrung oder negativ auswirkt, hängt vom Kontext ab. Auf jeden Fall sollte Ehrfurcht keinen zentralen Platz in der Umweltästhetik beanspruchen. Mitleiden, Dank, Liebe, Verbundenheit, natürliche Freude spielen vielleicht eine bedeutendere Rolle.123 Wehmut, ein schwieriges Gefühl, besitzt meist einen Temporalbezug. Wehmut um das Vergangene, Verpasste, Verlorene, eine Verwandte der Sabi-Ästhetik. Mono no aware gibt sich nicht der Vergangenheit hin, nicht dem Verlorenen mit einem unbestimmten Gefühl. Mono no aware ist eine ästhetische Aussage des Gefühls, des Gefühls der Trauer um die zukünftige Vergangenheit des JetztSeienden im Übergang. Dieser Begriff drückt eine zutiefst ästheti210 | Ästhetische Erfahrung II: Die Natur als Gewesene

sche Erfahrung mit der jetzigen, aber schon im Zukünftigen fast angelangten Schönheitsempfindung aus: der ästhetische Genuss der Schönheit der emblematischen Kirschblüte, eines Rittersporns oder einer Sonnenblume, eines schnell wachsenden und schnell vergehenden Bambuswalds. Ich würde Wehmut durch mono no aware ersetzen. Sehnsucht, wie bereits erwähnt, vor allem die Sehnsucht nach der heilen Natur und der Mensch-Natur-Einheit, kann wie erwähnt ein gefährlicher Begleiter sein. Gibt er sich doch ganz einem diffusen Gefühl hin, das auch schlichtweg falsch sein kann: Sehnsucht nach der guten alten Zeit im Jungpaläolithikum? Eine harte Zeit. Sehnsucht nach einer heilen Natur im Anthropozän? Ein Ding der Unmöglichkeit. Sehnsucht lenkt den ästhetischen Fokus ab vom Objekt auf etwas Diffuses, Unerreichbares. Mono no aware hingegen fokussiert auf das Objekt.

Das Erhabene Im Erhabenen der Natur kommen noch ganz andere Gefühle mit ins Spiel. Zur Erinnerung: Im Schönheitskapitel habe ich Burkes und Kants Theorien des Erhabenen in Bezug auf das Schönheitsempfinden ausgeführt. Nun wechsle ich die Perspektive, suji kaete, und untersuche das Erhabene allein im Kontext der Natur; oder, wie stets, der Restnatur. Ich übergehe dabei andere Theorien im Großbritannien des 18. Jahrhunderts124 vor Burke und Kant sowie die Erhabenheitsgefühle in der Romantik.125 Ich übergehe sie hier, weil vor allem Kants Theorie des Erhabenen, zusammen mit Burkes negativer Erhabenheit, in die Gegenwart fortwirkt. »Erhaben nennen wir das, was schlechthin groß ist.«126 Während das »Schöne« Form ausdrücke, beziehe sich die Erhabenheit auf Formlosigkeit, »sofern Unbegrenztheit an ihm oder durch dessen Veranlassung, vorgestellt und doch Totalität derselben hinzugedacht wird …«, schreibt Kant.127 Gilt für das »Schöne« Qualität, bezieht sich das Erhabene stets auf Quantität. Kant qualifiziert die Ausgangsstellung der schlechthinnigen Größe: »Erhaben ist das, mit welchem in Vergleichung alles andere klein ist.«128 Und auf das Subjekt bezogen: »Erhaben ist, was auch nur denken zu können Ästhetische Erfahrung II: Die Natur als Gewesene | 211

ein Vermögen des Gemüts beweiset, das jeden Maßstab der Sinne übertrifft.«129 Kant unterscheidet weiterhin zwischen dem mathematisch Erhabenen, das die Anschauung der Unendlichkeit bei sich führt, zum Beispiel die »unermeßliche Menge solcher Milchstraßensysteme«, sprich: das Universum,130 und dem dynamisch Erhabenen, das als »furchterregend« vorgestellt werden muss.131 Diese Form der Erhabenheit, zum Beispiel ein Hurrikan oder ein Vulkanausbruch, erweckt in uns ein Gefühl der Unlust, weil wir uns unserer eigenen Schwäche bewusst werden, indem wir die Überlegenheit der Natur, die »Unwiderstehlichkeit ihrer Macht«, hautnah erfahren.132 Zwar gibt die Natur den Anlass zu dieser Erfahrung, aber unsere Vorstellungskraft, unsere Kontemplation, unsere Gefühle werden vom Überwältigenden des Naturerlebnisses »gehemmt«, sprich: für eine kurze, erschreckende, plötzliche Zeit außer Kraft gesetzt. Beim Erhabenen wird die Lust »indirecte«, nämlich so, »daß die durch das Gefühl einer augenblicklichen Hemmung der Lebenskräfte und darauf sogleich folgenden desto stärkern Ergießung derselben erzeugt wird …«133 Auf diese oft erschreckende Hemmung des dynamisch Erhabenen folgt die »Lust«, die bizarre, gefühlte ästhetische Freude an dieser Erfahrung. Modern ausgedrückt, nennt Kirwan diese Erfahrung, die sich zum Erlebnis steigern kann, ein »affective jolt«.134 Man wird emotional, mit unserem emotionalen Gehirn durchgerüttelt, erschreckt, aber vielleicht auch positiv überrascht. »You cannot prove something is sublime.«135 Man muss das Erhabene erleben, ein Respons auf eine überwältigende Situation. Die Situation wird sozusagen potenziell bereitgestellt, wie ich es als Kind auf einem rollenden Ozeandampfer während eines fürchterlichen Sturms im Nordatlantik im Dezember erlebt habe (und nie wieder erleben möchte) oder aber als Jugendlicher in Luxor, als ein plötzlicher Sonnenuntergang mit einem knallorangen Totalhimmel mit Rosé-Tönen über dem Nil zu sehen war, der alles in orangefarbene Schattierungen tauchte (was ich leider nie wieder erlebt habe). Das urplötzliche, überwältigende, zuerst hemmende, später sozusagen befreite Gefühl des Schrecklich-Erhabenen oder des Herrlich-Erhabenen existiert tatsächlich. Shaw beschreibt das Erhabene als »moment when the ability to apprehend, to know, and to express a thought or sensation is defeated«.136 212 | Ästhetische Erfahrung II: Die Natur als Gewesene

Das Erlebnis des Erhabenen lässt sich nicht festzurren, denn das Erlebnis ist temporal, vergänglich, subjektiv an Größe und mit der Formlosigkeit, der Unordnung, des Wilden, der körperlichen Verletzbarkeit und mit überwältigenden Gefühlen umschrieben.137 Das Erlebnis lässt sich schwerlich kommunizieren, weil es ein unmittelbarer Respons ist, das Gegenteil der Kontemplation. Im Respons wird man für kurze Zeit überwältigt. Die Existenz des Erhabenheitserlebnisses gilt als gesichert. Aber ist das Erhabene heute noch sinnvoll? Ein kleiner Anflug des Überkommenen, Altmodischen, der ferne Geruch des 18. Jahrhunderts haftet dem Begriff an. In den letzten dreißig Jahren gab es eine lebhafte Debatte im nordamerikanischen und britischen Raum um den Sinn der Erhabenheit in der heutigen Ästhetik. Cornelia Klinger weist auf die bemerkenswerte Diskontinuität (»striking discontinuity«) im Gebrauch des Erhabenheitsbegriffs in der westlichen Ästhetik hin.138 Ihre Hypothese lautet: Das Erhabene diskutiert man in Krisenzeiten – im 18. Jahrhundert, um mit dem Verlust der Transzendenz klarzukommen, heute, seit ungefähr dreißig Jahren, um sich ein wenig Erleichterung vor der ontologischen Einsamkeit der Moderne zu verschaffen.139 Die Gründe für das neuerliche Entstehen des Erhabenheitsdiskurses seien hier dahingestellt (sie wären einer Sonderuntersuchung wert), auf jeden Fall taucht der Begriff in Krisenzeiten auf; heute vielleicht als Überkompensation bei einer noch grandiosen Natur, die erhabene Erlebnisse ermöglicht, um beim Umweltzerstörungskontext der Natur im Anthropozän zu überkompensieren. Das sporadische Auftauchen des Erhabenheitsbegriffs spricht eher gegen die Verwendung des Begriffs, weil das Auftauchen kontingent zur Natur sein könnte, im Gegensatz etwa zum Schönheitskomplex, der aus der Diskussion prinzipiell nicht wegzudenken wäre, auch wenn das Schönheitsempfinden in der Diskussion des 20. Jahrhunderts zeitweilig verschwand. Allerdings muss ein Begriff, der diskontinuierlich auftaucht, prinzipiell nicht falsch sein. Der Begriff drückt lediglich ein legitimes Bedürfnis aus. Das Bedürfnis erwächst aus der Realität. Was spricht gegen die Verwendung des Erhabenheitsbegriffs? 1. Berleant wendet ein, das Erhabene gebe es in »human environment« nicht mehr, es gebe nur das negative Erhabene.140 Ästhetische Erfahrung II: Die Natur als Gewesene | 213

2. Jane Bennett kritisiert, wie auch andere, die narzisstische Komponente am Erhabenen: Wir seien mit unseren Gefühlen des Überwältigtseins durch Größe und Kraft allzu sehr beschäftigt, nicht mit der Natur selbst. Es gebe nichts Ökologisches am Erhabenen.141 3. Jane Forsey geht auf Kant zurück und kritisiert seine Verortung des Erhabenen weg von einer ästhetischen Eigenschaft hin zum Gefühl des wissenden Subjekts.142 Sie meint, Kants Theorie des Erhabenen beruhe auf einer falschen Erkenntnistheorie. Warum führe ein Bewusstsein unserer kognitiven Grenzen (Kants »Hemmung« im Augenblick des Überwältigtseins) zu einer Freude? Warum führe das Erhabene nicht zur Frustration oder zur Erniedrigung? Wenn wir nur eine vage Theorie eben nicht in Händen halten, entgleitet uns die Theorie und das Erhabene ist »simply out of reach«, also theoretisch unmöglich.143 4. Auch Hanauer fragt, warum das Ohnmachtsgefühl im Angesicht der Erhabenheit als angenehm empfunden wird. Etwas von gigantischer Größe bedroht uns ja.144 Warum, fragt er weiter, muss das Subjekt das Bewusstsein seiner Ohnmacht, seiner Impotenz angesichts einer gigantischen Macht schlagartig wahrnehmen, Kant folgend?145 5. Dem Erhabenen haftet etwas Episodisches an. Seine Bedeutung für die gesamte Ästhetik könnte extrem eingeschränkter Natur sein. 6. Die metaphysische Dimension des Erhabenen (Unendlichkeit) und sogar die religiöse, weil die Erfahrung der Erhabenheit die Natur geradezu exaltiert, konterkariert die zeitgenössische Ästhetik. Diese will zu möglichst greifbaren, konkreten, entmystifizierten Ergebnissen gelangen. Dem Erhabenen wohnt ein schwer greifbarer Mangel an Rationalität inne, der klaren Aussagen des Ästhetischen entgegenwirkt. Man kann die Erhabenheitserfahrung schwer mitteilen, was die Intersubjektivität der ästhetischen Erfahrungen, die die Urteilsästhetik anstrebt, nicht verunmöglicht, wohl aber erschwert. 7. Das Erhabene bettet Kant in seine Urteilsästhetik ein und diese als »Mittelglied« zwischen Verstand (in der Kritik der reinen Vernunft) als Erkenntnisvermögen und Vernunft als dem moralischen »Begehrungsvermögen« (in der Kritik der praktischen 214 | Ästhetische Erfahrung II: Die Natur als Gewesene

Vernunft).146 Aus systemischen Gründen gehört das Erhabene somit zur »Vernunft«, das dem Verstand die Regeln vorschreibt.147 Manche Kritiker/innen bemängeln Kants Erhabenheitstheorie als »impossibly complex«.148 Oder Forsey: Kants Darlegung der Erhabenheit heißt, sein Gesamtsystem zu akzeptieren.149 Diese Kritik greife ich auf und frage, was für das Erhabene spricht. 1. Kants Darlegung der Erhabenheit bedeutet keineswegs, dessen Gesamtsystem akzeptieren zu müssen. Lyotard wies schon in den 1990er Jahren darauf hin, es sei nicht einzusehen, wie bei Kant das Erhabene zum Projekt der philosophischen Vereinigung von reiner und praktischer Vernunft beizutragen habe. Bei Kant leiste das Erhabene keinen Beitrag zur Versöhnung von Natur und Freiheit. Im Erhabenen fordere das Denken lediglich seine eigene Endlichkeit heraus.150 Überhaupt, möchte ich diese Kritik fortführen, wird bei Kant die Ästhetik und somit das Erhabene systemisch völlig überfordert und überfrachtet durch die Vermittlungsfunktion zwischen Verstand und Vernunft. Als »vernünftig« kann man außerdem das Erhabene wahrhaftig nicht bezeichnen. Kirwan nennt das Erhabenheitserlebnis nicht-rational, nicht irrational.151 Vielmehr ist der Respons auf Größe ein kognitiver, neurologischer (somit emotionaler) Vorgang. Kants Grenze beim Erhabenen liegt in der Überfrachtung, nicht im Detail eines komplexen und hochemotionalen Vorgangs. Wenn Kant etwas im Detail richtig gesehen hat, muss man auf keinen Fall sein Gesamtsystem akzeptieren, das in der Digitalen Moderne durch die Neurowissenschaften und durch die veränderten Perzeptionsweisen heute ohnehin überholt ist. Außerdem möchte Kant eine Ästhetik als Urteilsästhetik schreiben, eine Fokussierung, die typisch für das 18. Jahrhundert ist, aber im Rahmen einer zeitgenössischen Globalästhetik völlig deplatziert wirken muss. Das kantische Erhabene wird durch den Systemzwang in die Urteilsästhetik eingezwängt – obwohl das ästhetische Erlebnis, das Kant auf geniale Weise als Erster beschrieb, überhaupt nicht als »Urteil« gefällt wird, sondern einen affektiven Respons darstellt. Erhabenheit hat nichts mit einem »Urteil« zu tun. Auch in diesem Punkt kann die Urteilsästhetik hinderlich sein. Ästhetische Erfahrung II: Die Natur als Gewesene | 215

2. Berleant wendet ein, das Erhabene existiere in der Anthropo­ zän-Natur nicht mehr. Das widerspricht real der Geografie der Wüsten, des Hochgebirges, der Nationalparks, der Sonnen­ unter­gänge; und auch den Stürmen und ökologischen Katastrophen in Burkes Negativ-Erhabenem. Beim Blick in den klaren Nachthimmel, entfernt vom Lichtsmog der Großstädte, entfaltet sich vor unseren Augen das tausendfache Leuchten des mathematisch Erhabenen, das fast Unendliche der Sterne. Eine Reise durch die Wüste oder durch ein wildes, geologisch aktives Land wie Island schüttet uns geradezu zu vor dynamisch Erhabenem. 3. Forsey fragt zu Recht, warum die kantische »Hemmung« des Gefühls die anschließende Freude am Erhabenen nach sich zieht, warum das Ohnmachtsgefühl ein merkwürdiges Glück in uns erweckt. Der einfache Grund: Das Erhabenheitserlebnis ist ein zutiefst ästhetisches Erlebnis. Man erfährt den ungehemmten ästhetischen Genuss, die von der Hemmung geläuterte Reinform des Hedonischen. Der »affective jolt« macht es möglich. 4. Rolston kontert die Annahme, das Episodische der Erhabenheit impliziere einen eingeschränkten Beitrag zur Ästhetik der Gegenwart. Rolston, der Waldtheoretiker, betont Erhabenheit als »perennial force«, als keineswegs episodisch.152 Auch wenn die einheimischen Wälder Kulturwälder seien, könnten sie eher Erhabenheit in der Rezipientin, im Betrachter hervorrufen als eine hübsche Wiese.153 Erhabenes lauert um die Ecke. In welchem Ausmaß Erhabenheitserlebnisse zur Ästhetik beitragen, lässt sich gerade nicht messen. Das hängt überhaupt mit der Nichtmessbarkeit aller ästhetischen Phänomene zusammen, im Besonderen mit dem Überraschungs-, dem Überwältigungseffekt des Erhabenen, was bedeutet, dass man das Erhabene kaum oder gar nicht beschreiben kann. Kirwan erwähnt, wie Burke das Erhabene eher umschreibt, als er die Klassiker herbeizitiert. Kants misslungene Beispiele des Erhabenen sind die Pyramiden und St. Peter in Rom, wovon er weder das eine noch das andere je gesehen hat. Kirwan kritisiert, auch andere Theoretiker wie Derrida, de Man, Hertz, Ferguson und Žižek schrieben um das Erhabene herum (around), anstatt das Erhabene selbst adäquat zu beschreiben.154 Es geht jedoch um die Unmittelbarkeit des Erlebnisses: Als ich als Jugendlicher auf die Terrasse des Hotels 216 | Ästhetische Erfahrung II: Die Natur als Gewesene

in Luxor trat, wenige Meter vor mir der Nil mit Felukas, die gemächlich vorbei segelten wie eh und je, und dazu dieser umwerfende roséfarbene Orangehimmel, der alles verklärte, als würde sich Aton zur Ruhe begeben; ein unvergessliches, gestimmtes, überwältigendes Erhabenheitserlebnis, eine neuronale Feuerung im Kopf eines naiven Teenagers, der zu diesem Zeitpunkt in seinem Leben Ägyptologe werden wollte. An diesem markanten Abend glänzte alles im kraftvollen Widerschein des Orangehimmels. Luxor leuchtete. 5. Die metaphysische Dimension des Erhabenen, schreibt Emily Brady, soll man nicht zu eliminieren versuchen. Es hilft, das rätselhafte Phänomen der Kombination von negativen und positiven Gefühlen zu erklären. Das Bewusstsein der eigenen Ohnmacht angesichts ungeheurer Größe, Macht, Ausdehnung (wie das All) beraubt uns der arroganten Allmachtsfantasien und kann uns beistehen, unser Verhältnis zur Natur zu klären.155 Inwieweit man das Erhabene als religiös oder rein psychisch erlebt, das sei jedem Menschen selbst überlassen.   Man erlebt eine fast unbegrenzte Macht außerhalb des Selbst, ein Komplex von, modern ausgedrückt, Repression und befreiter Befriedigung. Diese lässt sich im Belohnungszentrum des Neocortex verorten, ein spontanes ästhetisches Gefühl der Unendlichkeit. Im Erhabenheitserlebnis erfährt man eine sinnliche Belohnung, die sich zugleich darüber erhebt.156 Kirwan beschreibt das Erlebnis eindringlich: Das Erhabenheitsgefühl ist ein geistiger Zustand, bei dem das Gehirn die Quantität fortsetzt, bis es sich das nicht mehr vorstellen kann. Alles wird in meinem Beispiel aus Luxor zum orangefarbenen Aton-Himmel. Ein kurzer Augenblick, spontan und überraschend.157 Das Gehirn extrapoliert unendliche Macht und Größe.158 6. Brady betont den Unterschied von landschaftlichem »easy beauty« zum umwerfenden Erhabenheitserlebnis.159 Schönheitserleben und Erhabenheitserleben lassen uns diese Diversität der Natur fühlen.160 Indem man Erhabenheitserlebnisse zulässt, bereichern wir unser Naturerleben. Wie unser Verstand auf immense Größe antwortet, dazu kann Erhabenheit beitragen.161 7. Weit davon entfernt, ein narzisstisches Erlebnis – unsere Gefühle, nicht die nichtexistenten etwa des Grand Canyon – darzuÄsthetische Erfahrung II: Die Natur als Gewesene | 217

stellen, vermögen Erhabenheitserlebnisse, die uns klein machen, unser Gefühl der Demut zu erwecken. Natürlich ist Erhabenheit nicht-moralisch, sie kann jedoch die Bewunderung der Natur, somit ein immenses Respektgefühl auslösen, das zugleich Bewunderung und Demut nach sich zieht. Man fühlt die Größe der Naturerscheinung, der Landschaft, eines gewaltigen Baums und wird in einem positiven Sinn zur Demut getrieben.162 Das gigantisch Große der Naturerscheinungen macht uns klein, im Kleinen jedoch lassen uns ein feinst gesponnenes Spinnennetz oder eine perfekt symmetrische Schneeflocke in Ehrfurcht verharren, indem wir uns wundern über so viel Perfektion im Kleinen.163 Weit davon entfernt, uns mit einem narzisstischen Gefühl zu erfüllen, widersteht das Erhabenheitserlebnis sogar der »human appropriation«. Es führt über das unmittelbare Gefühl hinaus.164 8. Mit dem Erhabenen können unsere moralischen Kapazitäten angestoßen und mit Leben erfüllt werden. Man kann sich im Erhabenen selbst neu entdecken und die Natur zugleich als ästhetischen Wert fühlen und verstehen lernen. Das will nicht den Weg zu einem moralischen Herangehen an die Natur darstellen, sondern kann ein Weg zum moralischen Umgang mit der Natur sein.165 Mit der selbstverständlichen Einschränkung, dass Erhabenheitserlebnisse sich nicht an- und abstellen lassen, je nach Gutdünken. Erhabenheit passiert uns. 9. Wenn man nun einmal eine Erhabenheitsempfindung erlebt, wie ich in Luxor, in den Bergen, im Nordatlantiksturm im Bauch eines schwankenden Schiffs, einem realen bateau ivre, im kalifornischen Sequoiawald – darf man diese Empfindung aus der Ästhetik ausschließen, nur weil das Wort »Erhabenheit« betulich nach dem 18. Jahrhundert riecht? Man sollte das nicht. Je mehr in der ökologischen Katastrophenzeit die Gelegenheiten zum Erhabenheitserlebnis schrumpfen, desto mehr sollte man jedes Erlebnis des Erhabenen feiern. Man sollte sich, mit einem Wort, im Angesicht der Katastrophe darum bemühen, Natur­erlebnisse jedweder Art wahrzunehmen. Man sollte, trotz durchaus gewichtiger Gegenargumente, sich nicht sträuben, die Erhabenheit in die ästhetischen Erlebnisse und in die Diskussion mit einzubeziehen. Die Erhabenheit: in Praxis und Theorie möglich und sogar wünschenswert. 218 | Ästhetische Erfahrung II: Die Natur als Gewesene

Die Erhabenheit aber auch: ein gefährliches Pflaster seit Barnett Newmans erwähntem Aufsatz von 1948 über das hier im Schönheitskapitel diskutierte Erhabene. Immer wieder unreflektiert aufgegriffen, lief der Begriff insbesondere in der Postmoderne-Diskussion aus dem Ruder. Der Begriff wurde inflationär angewendet, auf Politik, auf kulturhistorische Ereignisse schrecklichster Art wie den Terrorismus und schließlich auf die zeitgenössische Kunst. Es erscheint sinnvoll, der Begriffsinflation kritisch zu begegnen, den Erhabenheitsbereich gut kantisch einzuschränken, um dem heute völlig diffus gewordenen Begriff seinen Sinn zurückzugeben. Ebenso muss hinterfragt werden: Wie viel Ästhetisches liegt im Erhabenen? Deleuze, Derrida und Lyotard fragen sich nicht: Bewegen wir uns noch im Ästhetischen oder landeten wir bereits, unbemerkt, in der Vernunftkritik oder in der Politik, wo der Begriff des Erhabenen schlichtweg inadäquat ist? Es geht also um die adäquate Anwendung. Erhabenheit ist eine Erfahrung, wenn sie spontan von der Größe und Entgrenzung ästhetisch erfahren werden kann, wie der silberne Sternenhimmel, wie der schreckliche und zugleich ästhetisch anziehende Vulkanausbruch. Alexander Gerard wollte im 18. Jahrhundert den Begriff des Erhabenen auf viele Sphären ausdehnen: auf die Kunst, auf den moralischen Charakter, auf Ideen. Neuerdings will Esther Leslie Erhabenheit digital vermittelt aufgespürt haben.166 Man muss immer bedenken, dass Kants ästhetische Theorie mit dem Erhabenen stets eine Theorie der ästhetischen Empfindung der Natur darstellt. Im Erhabenheitskontext nennt Kant, der kaum Originalwerke der Kunst kannte, wie erwähnt die Pyramiden von Gizeh und St. Peter in Rom als mögliche Erhabenheitsobjekte und widerspricht damit seiner eigenen Theorie. Es existieren keine Objekte, die a priori erhaben sind. Vielmehr muss es heißen: Objekte und Phänomene, die es ermöglichen könnten, dass man sie als erhaben erfahren könnte. In diesem Sinn wären meine Erhabenheitsbeispiele eher die Pyramiden von Gizeh, der Taj Mahal in Agra und Michelangelos Fresken in der Sixtinischen Kapelle. Sie sind jedoch nicht erhaben, obwohl die Größe zutrifft. Als architektonische und künstlerische Meisterwerke sind sie endlich, gerahmt und ihnen fehlt die Weite, die für Erhabenheitserlebnisse konstitutiv ist. Eher trifft die Bezeichnung des Sich-Wunderns zu, der ästhetischen EhrÄsthetische Erfahrung II: Die Natur als Gewesene | 219

furcht vor so viel Meisterschaft. Die Pyramiden sind ungeheuer groß und präsent, der Taj Mahal und die ganz andersgeartete Sixtinische Kapelle rufen Staunen hervor. Den Taj Mahal kann man als wohlproportioniert und schön bezeichnen. Ich hatte das Glück, den Taj Mahal am Nachmittag zu sehen und eine Stunde später, als der Sonnenuntergang den weißen Marmor zartrosa färbte: ein tiefes Schönheitserlebnis, das Staunen hervorruft, aber kein Erhabenheitserlebnis. Es geht um das »contemporary sublime«, wie es in der angloamerikanischen Diskussion heißt. Manche Theoretiker wie Gilbert-Rolfe oder Philip Shaw greifen Barnett Newmans Theorie seiner eigenen Kunst auf und wiederholen mantraartig Newmans Selbstermächtigung seiner Kunst als Ausdruck des Grenzenlosen.167 In der Folge von Weiskels »romantic sublime«168 wurde eine Reihe von Begriffserhabenheiten vorgestellt, wie Kirwan kritisiert,169 zum Beispiel von Crowther und Pillow.170 Viele Ästhetiker/innen, bemerkt Kirwan, »seem determined to talk one into their sublime«.171 Was meistens geschieht: Theoretiker/innen nehmen irgendeine Kategorie aus der Ästhetik, abstrahieren sie, sodass alles dazu passt, und zeigen daraufhin, dass ihre Lieblingskunst – sei sie von Newman oder von Nabokov – in diese dynamische Formel perfekt passt.172 Aber, wie Kirwan weiter ausführt, das Erhabene ist keine Meinung, die man von einem Objekt besitzt und die man mitteilen kann. Wie bereits zitiert: »You cannot prove that something is sublime.«173 Ebenso grundsätzlich, jedoch noch ausführlicher führt Brady Gründe an, weshalb Kunstprodukte, und seien sie noch so wunderbar, nicht als erhaben gelten können.174 Egal, wie groß Kunstwerke sein mögen: Sie besitzen nicht die Skala des Naturerhabenen. Die kantischen Erhabenheitsqualitäten von Größe und Macht besitzen sie nicht. Kunstprodukte aller Art, auch digitale, sind »gerahmt«, die Natur nicht. Die Formlosigkeit, die Grenzenlosigkeit des Naturerhabenen besitzen Kunstwerke nicht, auch nicht AvantgardeKunstwerke. Auch wenn sie – wie Goyas Desastres de la guerra – Wildes, Unordentliches und Schreckliches darstellen oder einfach die Weite der Landschaft, so fehlt den Kunstprodukten das Wilde und Ordnungslose und den Landschaftsdarstellungen fehlt realiter die landschaftliche Weite. Trotz dessen, dass Kunstwerke überaus 220 | Ästhetische Erfahrung II: Die Natur als Gewesene

eindrücklich und mitreißend sein können: Die Kapazität besitzen sie nicht, Gefühle der körperlichen Verwundbarkeit zu evozieren. Kunst mag sich bemühen, Erhabenheit darzustellen – zum Beispiel in James Turrells Raum- und Lichtinstallationen oder in großen Landschaftsbildern wie in Gerhard Richters Seestücken –, sie sind jedoch nicht selbst erhaben, sondern sie weisen durch ihr Sujet oder durch ihr kompositorisches Ganzes lediglich darauf hin. Kunstprodukte besitzen nicht die Durchschlagskraft realer Erfahrungen aus erster Hand: der Sturm, die aufgepeitschte See etc. Kunstwerken fehlt die physische, materielle Präsenz, woran sich die Erhabenheitserfahrung entzündet. Kunstprodukte sollen nicht geringgeschätzt werden. Sie können große Tiefe durch ihren Verweisungscharakter aufweisen, den die Natur wiederum nicht besitzt. Die angeblichen »Natur-Chiffren«: eine menschliche und romantische Vorstellung der Natur, nicht eine der realen Natur. In den Kunstwerken, Romanen und großen Musikkompositionen wie etwa in Beethovens Neunter erlebt man stets das künstlich Erschaffene, »artefactuality«175 , innerhalb eines irgendwie gearteten Rahmens. Tiefe der Kunstprodukte ja, Erhabenheit nein, auch nicht in einer Tragödie wie Tristan und Isolde – tragische Tiefe, »tragic beauty« unbedingt, jedoch keine Erhabenheit.176 Grandeur und begrenzte Größe wie das Empire State Building oder das Burj Khalifa in Dubai erzeugen Bewunderung, Sich-Wundern – aber über menschliche Artefakte. Dazu zählen auch die altägyptischen Pyramiden. Artefakte, und seien sie noch so bedeutsam wie etwa die Ilias oder wie Rembrandts Innenschau, bewohnen eine andere Sphäre als die Natur; weder tiefer noch höher, sondern sie bewohnen einen anderen Platz, den des Artefaktischen mit seinem Verweisungscharakter auf ein anderes. Kunstprodukte können raffiniert sein; die Natur kommt ohne Raffinesse aus, weil sie ist und nur sich selbst ist. Man sollte sich also nicht bemühen, das Erhabene in irgendeiner anderen Sphäre zu suchen als in der Natur. Geradezu bizarr mutet es an, wenn etwa Luke White vom kapitalistisch Erhabenen spricht, was Ehrfurcht und zugleich Terror hervorzurufen vermag.177 Ob eine Differenzierung innerhalb des Erhabenen in »thick sublime« und »thin sublime« hilfreich ist, um das Erhabene genauer zu fassen, sei mit einem Fragezeichen versehen. Shapshays »thin Ästhetische Erfahrung II: Die Natur als Gewesene | 221

sublime«, meint die Autorin, sei nicht kognitiv, sondern vor allem affektiv im Respons, gemäß Burke. Das »thick sublime« sei eher ein intellektuelles Spiel mit Ideen im Erhabenheitskontext.178 Ich frage mich allerdings, ob dieses Sich-wundern-Spiel nicht eher zu »wonder« als zur Erhabenheit zählt, wie Brady kritisiert.179 Mit ihrem Versuch jedoch, das Erhabene aufzufächern, weist Shapshay auf ein in meinen Augen unlösbares Problem des Erhabenen hin: Es lässt sich nicht dingfest machen, es lässt sich nur schwer mitteilen, es überrascht derart, dass die beschreibende Sprache im Angesicht der erhabenen Überwältigung versagt. Das Erhabene jedoch existiert. Es lauert mit Glück um die nächste Ecke in einem Wäldchen oder überrascht am Nachthimmel.

Globalästhetik: China – von Shan Shui zur ökologischen Lebensästhetik Shan Shui bedeutet »Berge und Gewässer« (Wasser in Form von Flüssen, Bächen, Seen und in Wolkenform). Shan Shui heißt auch die Abhandlung von Kuo Hsi (Guo Xi), die sein Sohn Kuo Hsü zusammenstellte, eine Abhandlung über die Landschaftsmalerei und zugleich eine dichterische Verherrlichung der Naturlandschaft.180 Guo Xi wurde um 1020 in der Provinz Honan geboren. Seine Abhandlung kann als Quintessenz des Landschaftsverständnisses und der Landschaftsmalerei in China gelten. Letztere erlebte ihre höchste Blüte in der Song-Periode (960–1260), die wiederum auf eine zweitausendjährige Geschichte zurückblicken konnte.181 Shan und Shui wiederum gingen auf die Grundelemente der Naturauffassung im Dao De Jing von Lao Zi (Lao Tse) zurück, die die Harmonie des Gegensätzlichen in der Natur sucht: die hochaufragenden, vertikalen Berge als Gesteinsmassen und die eher horizontal fließenden, »weichen« Gewässer. Yin und Yang verbinden sich idealtypisch in Shan und Shui: »Die zehntausend Dinge tragen das Yin auf dem Rücken / Und umarmen das Yang. Das Zusammenspiel der beiden durch das Qi / Schafft das Gleichgewicht in den zehntausend Dingen.«182 Diese dynamische Einheit von Bergen und Gewässern, eine Naturdialektik, stellt das neue Naturideal der Song-Periode dar, 222 | Ästhetische Erfahrung II: Die Natur als Gewesene

eine idealisierte und vergeistigte Natur.183 Berge und Wasser gehören untrennbar zusammen, wie es in der Shan-Shui-Abhandlung heißt: »Wasserläufe sind die Arterien des Berges; Gras und Bäume sein Haar; Nebel und Dunst seine Hautfarbe. Deshalb wird ein Berg mit Wasser lebendig, mit Gras und Bäumen schön; mit Nebel und Dunst bezaubernd und vornehm. Das Wasser hat die Berge als Antlitz; Bäume und Terrassen als seine Augen und Augenbrauen; Fischen und Angeln beleben es. Daher wird das Wasser mit Bergen bezaubernd; mit Bäumen und Terrassen heiter und lieblich; mit Fischen und Angeln frei und geräumig. Das sind die Verbindungen von Bergen und Wasser.«184 Die Künstler (Künstlerinnen gab es nicht) malten keine Landschaft ab, denn die Landschaftsmalerei war genau festgeschrieben mit ihrer Aufgabe, die Wege des Dao (Tao) zu veranschaulichen. Daraus erklärt sich ihre Gestaltungsgebundenheit durch die Jahrhunderte hindurch.185 Das landschaftliche Song-Ideal offenbart ­einen Yin-und-Yang-Kontext von Natur, sozusagen noch überhöht durch die Malerei: eine idealistische Ästhetik, so reizend sie auch sein mag, die für eine zeitgenössische Ästhetik aufgrund ihrer Vereinfachung und ihrer Regelhaftigkeit absolut inadäquat sein muss. Sie will Grundkräfte der Natur und der Naturmalerei benennen, basierend auf dem Naturverständnis von vor eintausend Jahren. Shan und Shui kann man verstehen, übernehmen aber lässt sich das Naturkonstrukt im Gegensatz zum japanischen mono no aware im 21. Jahrhundert nicht. Shan und Shui schreiben Künstlern und den Betrachter/innen vor, wie die Natur auf eine ganz bestimmte Weise erlebt und künstlerisch (re)produziert werden muss. So charmant Shan und Shui sein mögen: Das traditionelle chinesische Herangehen an die Natur engt diese Naturauffassung sehr ein. Dessen eingedenk, haben chinesische Ästhetik-Theoretiker/innen der Gegenwart neue, chinesische Wege gesucht. Allerdings existiert die zeitgenössische chinesische Philosophie nicht, wie Heubel betont.186 Brumlik will festgestellt haben, dass die neokonfuzianische Philosophie heute gegen die klassische liberale Philosophie, etwa von Rawls, in Stellung gebracht wird.187 Das mag punktuell zutreffen, aber wie Heubel zu Recht warnt, missversteht man in diesem Schema die chinesische Gegenwart, wenn China und Europa komparativ gesetzt werden. Es erscheint ihm Ästhetische Erfahrung II: Die Natur als Gewesene | 223

sinnvoller, den chinesischen »Sozialismus« als Teil einer transkulturellen Dynamik zu verstehen.188 Seit dem 19. Jahrhundert haben chinesische Reformer und Revolutionäre immer wieder den Weg des »Himmelunten«, des tiānxià gesucht.189 Insofern kann man die chinesisch-ästhetischen Theorien als dynamische Theorien verstehen, die den Staatsmarxismus als Herrschaftsideologie, den Daoismus, den Konfuzianismus und die moderne Ökologie ästhetisch zu einem neuen Naturverständnis zu vereinigen suchen. Hier zwei Beispiele. Fanren Zeng bemüht sich, Sinomarxismus (»… the guidance of Marxist theory that we must uphold …«)190 und das »ecological wisdom« des Konfuzianismus191 zu vereinen, um zu einer ökologischen Ästhetik zu gelangen. Man muss bezweifeln, dass der Konfuzianismus, der auf hierarchischen Familienwerten und sozialpolitischen Hierarchien beruht, irgendwie in Einklang mit moderner Ökologie gebracht werden kann. Zengs Theorie gipfelt daher in einer im Westen nach Kant völlig überholten Perspektive auf das »Schöne«: Sich auf Cai Yi berufend, sei Schönheit objektiv im Objekt gegeben.192 Zeng hinterfragt die von ihm vielbenutzten Termini nicht. Er reflektiert nicht, wie eine starr wiederholte Rechtfertigungsideologie jede freie Diskussion behindert. Wangheng Chen und Gerald Cipriani gehen vom Harmoniestreben des alten daoistischen Shan Shui aus. Die Autoren stellen Naturschönheit ins Zentrum ihrer Theorie. Sie suchen die harmonische Schönheit im Konzept des tianren heyi zu verorten, »a unity of life found in the experience of the environmental beauty of nature«.193 Die wesentliche Ausprägung der Umweltschönheit sei es, »to give a sense of home«.194 Auch hier wird der Schönheitsbegriff nicht hinterfragt. Die Autoren erstreben »liveability« in der Natur, was aber von menschlichen Faktoren und Interventionen abhänge.195 Nach dieser interessanten Programmatik greifen die Autoren auf den Konfuzianismus zurück, indem sie vom familienorientierten Geist des chinesischen Gartens ausgehend die konfuzianischen Werte der Familie mit ihren Hierarchien in den Vordergrund ihrer Überlegungen stellen.196 Auch hier trifft man auf ein Hindernis, das offensichtlich im Sinomarxismus geboten erscheint: den staatstragenden Neokonfuzianismus. Er trägt nicht zu einer ernsthaften ästhetischen Diskus224 | Ästhetische Erfahrung II: Die Natur als Gewesene

sion bei. Im Gegenteil: Die Rückgriffe auf Shan Shui, auf Daoismus, den staatstragenden, autoritären Konfuzianismus sowie der marxistische Kotau gehen an einer modernen Ästhetik vorbei. Umso erstaunlicher positioniert sich Jullien, der ebenfalls auf Shan Shui zurückgreift. Seinen Ausgangspunkt bildet die viel kritisierte Subjekt-Objekt-­ Dualität im westlichen Naturverständnis.197 Die Natur wird naturwissenschaftlich als erkennbar begriffen, was sich auf die Naturästhetik auswirkt: In der Landschaftsauffassung des Westens wird der Zuschauer immer als exterior gewertet, als ein von außen erkennendes Subjekt des Objekts.198 Dieses wird so gut wie ausschließlich vom Auge wahrgenommen, was eine Verarmung der Landschaft als »picturesque« nach sich zieht.199 Julliens Kritik an der westlichen Natur- und Landschaftsperspektive halte ich, wie bisher gezeigt, für absolut berechtigt. Das Problem liegt nicht in seiner berechtigten Erkenntnis, sondern in Julliens Lösung. Jullien greift auf Shan Shui zurück, wo die Natur nicht mehr als Objekt des subjektiven Betrachters fungiert. In Shan Shui gebe es eine Korrelation von Gegensätzen.200 Shan Shui weist eine grundlegende Polarität in der Naturobjektivität auf, in die sich das Subjekt einzufügen hat: in die »operation of the world in its entirety«.201 Shan Shui schafft »coherence by coupling« durch eine grundlegende Yin-Yang-Durchdringung, die ohne das Betrachtungssubjekt existiert.202 Diese Ontologie der Natur widerspricht der europäischen Perspektive.203 Auf diese Weise, so Jullien, wird Landschaft nicht auf das Wahrnehmbare reduziert.204 Selbst und Welt fallen in eins, indem die westliche Vernunft dekonstruiert wird und man zu ­einem Einverständnis mit der Natur und der Landschaft gelangt. Julliens bereits erwähnter Terminus »connivance« bringt dieses Einverständnis auf den Begriff. Doch diese theoretische Lösung Julliens wirft mehrere Probleme auf. So richtig die Kritik am westlichen Szientismus sein mag, so wenig kann ein altertümliches Naturmodell eine zeitgemäße Lösung anbieten. Das Shan-Shui-Modell der Gegensätze ist zu vereinfacht, ist eine zu krude Naturdialektik, um komplexe ökologische Erkenntnisse zu ersetzen. Shan Shui drückt eine ganz bestimmte, uraltchinesische Weltperspektive aus. Sie ist die Perspektive einer bestimmten Kultur, eine vorwissenschaftliche Pseudo-Erkenntnis, Ästhetische Erfahrung II: Die Natur als Gewesene | 225

die Komplexität nicht einmal anspricht, sondern sie umgeht und Shan und Shui schlichtweg setzt. Für eine Wüstenlandschaft ohne Berge und ohne Wasser trifft sie ohnehin nicht zu. Shan Shui interpretiert die Landschaft und kann keineswegs die neue (alte) Ontologie für sich reklamieren, die Jullien für sie beansprucht. Auch hält sein Modell das Pittoreske der Landschaft nicht fern, denn die chinesischen Landschaften und Rollbilder offenbaren auch Pittoreskes, worin der/die Betrachter/in sich ergeht, um sich zu erholen und wohlzufühlen. Der subjektive Betrachter, den Jullien im chinesischen Schema loswerden will, schlüpft zur Hintertüre wieder herein in das Landschaftsganze. Die Betrachter/ innen wollen einfach nicht fernbleiben, weder im alten China noch im neuen, noch im Westen. Jullien theoretisiert ein edles Programm der Einheit mit der Natur herbei. Diese theoretisch herbeigerufene Einheit ist ebenso wenig real wie alle bisherigen, modernen Versuche, auf wundersame Weise Subjekt-Objekt-Einheit herzustellen. Gewiss, man muss sich in der gewesenen Natur darum bemühen, so wenig von der Landschaft weiterhin zu zerstören wie möglich. Jullien fragt sich nicht, ob die, präzisiert ausgedrückt, ersehnte Mensch-NaturEinheit überhaupt eine Chance besitzt, sich rekonstruieren zu lassen. Zu weit ist die Naturzerstörung fortgeschritten. Zu weit haben sich moderne Menschen vom Jungpaläolithikum entfernt, worin diese Einheit bestand. Zu weit haben sich die modernen Städter von den indigenen Völkern der Vergangenheit entfernt, die täglich die Subjekt-Objekt-Einheit in einer allerdings harten Umwelt leben und lebten. Das Einverständnis mit der Natur als Subjekt-ObjektHarmonie: ein frommer Wunsch. Man muss heute so leben, als ob man an sie glaubte, auch wenn man nicht mehr daran glaubt, um nicht noch mehr zu vernichten. Die weitgehend verlorengegangene Natur – als Gewesene.

226 | Ästhetische Erfahrung II: Die Natur als Gewesene

ÄSTHE TISCHE ERFAHRUNG III: EMOTIONEN IN DER LITER AT URRE ZEP TION In krisengeschüttelten Zeiten verwandelt sich unser Verhältnis zum Ästhetischen. Was früher fast verwerflich schien, nämlich die Auffassung der Kunst als pures Genussphänomen, könnte heute in neuer Gestalt Akzeptanz erfahren. Das setzte aber eine Rekonfiguration des hedonischen Werts der Kunst voraus. Daher wird dieses Kapitel unter dem Zeichen von Rekonfigurationen stehen. In Krisenzeiten wird die Kunst für uns noch bedeutsamer, sie wächst uns noch mehr ans Herz als in relativ krisenfreien Zeiten. Im Kapitel über die Alltagsästhetik gelang es noch, die Disharmonie mit dem einfachen Gegenstand unter Zuhilfenahme der Material Culture Studies, die nicht werten, in Harmonie zu überführen. Im Naturkapitel war die Harmonie mit der Natur nicht mehr herzustellen, wenn man den heutigen Naturzustand wahrhaftig begreift. Die japanische Ästhetik von mono no aware implizierte in letzter Instanz ein tragisches, disharmonisches Natur­erleben. Nun, im Kunstkapitel, wäre »Harmonie« mit dem ästhetischen Gegenstand durch Erleben der Kunst (der Steigerung von Erfahrung) wieder möglich. Die Perspektive der Krisen jedoch in allem beizubehalten, das Kunsterleben allein auf diese Weise zu erklären, wäre eine grobe Vereinfachung und ein einseitiger Zugang zur Kunsterfahrung. Zu komplex ereignet sich die Kunsterfahrung zwischen Subjekt und Objekt, »auf eine nie vollständig kontrollierbare Weise«,1 wie Juliane Rebentisch zu Recht schreibt. Insofern kann dieses Kapitel immer nur eine Annäherung vorstellen, nie einen Abschluss, und schon gleich nicht in einem einzigen Kapitel. Deshalb wird sich dieses Kapitel auf bestimmte und aktuelle ästhetische Komplexe oder Probleme konzentrieren müssen: den hochbedeutsamen Emotionskomplex, das hedonische Problem, drei angebliche Para­doxa der Literatur und den Kontemplationsbegriff. Eine weitere, vertiefte Kritik der Digitalen Moderne sowie Überlegungen 227

zur Globalästhetik im Kunst- und Literaturkontext schließen sich an. Da die Krisenperspektive die heutige Kunsterfahrung allein nicht erklären kann, stelle ich die Frage:

Wozu Kunst? Dorothée Halcour erklärte den Grund, weshalb Menschen sich mit der Kunst beschäftigen, auf multivalente Weise: Kunst sei seit dem Jungpaläolithikum eine Aneignungsform von Welt.2 Aber noch mehr: Sie sei eine spielerische Auseinandersetzung mit der Wirklichkeit, darin Schillers ästhetischer Spieltheorie folgend.3 Kunst diene auch als Mittel zur Horizonterweiterung, als Wertevermittlerin, die somit als Mittel zur Kommunikation diene. 4 Halcour und Wolfgang Iser verweisen auf das Kunstwerk als Bedeutungsträger; für Iser als symbolische Formen, die Bedeutung tragen.5 In der Kunstentgrenzung seit Duchamp, was Rebentisch ausführlich diskutiert, 6 stellt Kunst außerdem alte Seh- und Denkgewohnheiten infrage.7 – Ob mit all diesen Gründen alles über die Kunstauseinandersetzung ausgesagt wird, bezweifle ich: Keiner der beiden Theoretiker, weder Halcour noch Iser, betonen den hedonischen Wert der Kunsterfahrung. Ich gebe das nur zu bedenken, damit man nicht vorschnell auf die Idee kommt, in einer multivalenten Aufzählung liege eine einfache ästhetische Lösung. Ein weiterer Aspekt: Bence Nanay spricht sich für eine multimodale Erfahrung mit der Kunst aus: Die Multimodalität der Wahrnehmung sei eher die Regel, nicht die Ausnahme. 8 Eine Konzerterfahrung etwa sei ein visuelles Erlebnis, auch der Handbewegungen des Dirigenten/der Dirigentin, ein Gefühl der feierlichen Umgebung und natürlich ein Erlebnis der Musik. In diesem Erweiterungskontext des ästhetischen Erlebens kritisiert Alan Goldman die ästhetischen Theorien von Peter Kivy und Noël Carroll:9 Sie glaubten, die formellen Eigenschaften eines Kunstprodukts wären bei der Kunsterfahrung wesentlich, was eine, so Goldman, eingeengte Sicht des ästhetischen Rezeptionsprozesses darstelle.10 Ich stimme ihm zu: Die ästhetische Erfahrung ist viel umfassender, als jede formale ästhetische Theorie es auszudrücken vermag.11 228 | Ästhetische Erfahrung III: Emotionen in der Literaturrezeption

In dieses weite ästhetische Schema passt auch Berys Gauts Kunst-als-cluster-concept.12 Gauts cluster von Kunstkriterien stellt ein flexibles, offenes Ganzes dar, bei dem einige Kunstkriterien zutreffen mögen, wobei keines notwendig sein muss. Nur einige Kriterien für ein Kunstwerk müssen zutreffen.13 Gauts Konzept wurde viel diskutiert, meist zustimmend, allerdings bewegt er sich im flexiblen Rahmen der Kunstdefinition im weitesten Sinn: Was macht ein Kunstwerk aus? Im ersten Kapitel habe ich die Bemühungen um eine Kunstdefinition kritisiert: Im Gefolge der PopArt zwar verständlich, bringen sie die Ästhetik jedoch nicht weiter, da man sich an der Kunstontologie festhakt. Und, wie kritisiert, Kunst­ontologien sind einem dynamischen Gegenstand wie dem Kunst­erfahrungsprozess nicht adäquat. Bevor man zu einer konstruktiven, begründeten Antwort auf die Frage »Wozu Kunst?« gelangt, scheint es mir sinnvoll, eine weitere Herangehensweise auszuschließen, von der ich meine, sie sei für das ästhetische Erleben nicht hinreichend relevant.

Noch einmal: Kritik der Urteilsästhetik Die Frage nach der Urteilsästhetik stellt sich nun, in der ausschließlichen Kunstästhetik, erneut und so spezifisch kunstorientiert wie möglich. Die Gründe, die gegen eine fortgesetzte Urteilsästhetik in Kunst, Literatur und Musik sprechen, kann man als Elaborate und Ergänzungen zum Kapitel Götterdämmerung des ästhetischen Urteils verstehen. Rebentisch, insbesondere Nanay, Robinson und Winner gelangen zu einem ähnlich kritischen Resultat, was ästhetische Urteile betrifft. 1. Rebentisch untersucht die entgrenzten Kunstprodukte der Gegenwart, die uns immer neue Gattungen erschaffen. Kunst sei als ein Plurale tantum zu werten, die sich singulär, nur in diesem Kunstwerk, versteht. Daher erübrigen sich Urteile über die dynamischen Kunstwerke. Vielmehr beurteilen wir die Kunstprodukte auf der Basis der Erfahrung, die wir mit ihnen machen, nicht auf der Basis von Kriterien.14 Ästhetische Erfahrung III: Emotionen in der Literaturrezeption | 229

2. Seit einigen Jahren kritisiert Bence Nanay die Urteilsästhetik. Ihre Existenz besitzt historische Gründe: Die überwiegende Mehrheit der ästhetischen Erfahrungen und der Erlebnisse mit den Kunstprodukten habe nichts mit Urteilen zu tun. Der Grund, weshalb wir einen dreistündigen, langen Film anschauen, liege nicht in einem Urteilsziel darüber, sondern d ­ arin, den Film zu genießen, womit wir uns selbst belohnen.15 3. Nanay geht sogar so weit, den ästhetischen Urteilen jede ästhetische Freude abzusprechen: »Judgment is not the kind of thing we take pleasure in.«16 Eine Erfahrung muss genüsslich, lohnend und für uns persönlich bedeutsam sein.17 4. Wie Nanay weiter schreibt: »We should focus on the temporal unfolding of our aesthetic experience and not on the (clearly optional) endpoint of pronouncing aesthetic judgments.«18 Auf die Begriffe »unfolding«, Entfaltung, und »end point« kommt es an: Die ästhetische Erfahrung, die heute im Zentrum der Kunsterfahrung steht, sei als Entfaltungsprozess zu verstehen. Ein Urteil hingegen steht am Ende dieses Prozesses und stellte die Entfaltung des Ästhetischen seit Kant in den Schatten. Indem wir heute das Primat der Erfahrung ins Zentrum der Ästhe­tik rücken, negieren wir automatisch die Bedeutung des Urteils. Ich schrieb bereits: Ästhetische Urteile, obwohl möglich, sind heute nicht wünschenswert. Das Primat der ästhetischen Erfahrung vor dem ästhetischen Urteil ist auch eine Wertungsfrage, die sich kritisch gegen eine 250jährige Tradition der Obsession mit dem Urteil wendet. 5. Nanay führt Fallbeispiele aus der globalen Ästhetik an, die per implicationem als Gegen-Ästhetiken gegen die Urteilsästhetik zu lesen sind: Einmal die islamische Kunst, insbesondere die Sufi-Tradition, deren ästhetische Erfahrungen sich sehr für das Schönheitsempfinden aussprechen, nicht jedoch, um Urteile darüber zu fällen. Sein zweites, auch von mir bereits erwähnte Beispiel: die altindische Rasa-Ästhetik, bei der es primär um das Auskosten, savoring, der multimodalen ästhetischen Erfahrungen geht, nicht um Urteile, die das ästhetische Auskosten nur behindern würden.19 6. Jenefer Robinson kritisiert das ästhetische Urteil von einer emotionstheoretischen Perspektive aus, was ich im Lauf dieses Kapi230 | Ästhetische Erfahrung III: Emotionen in der Literaturrezeption

tels darlegen und ausweiten werde. Ein Urteil, schreibt sie, reiche nicht, um eine Emotion anzustoßen.20 Wie zu zeigen sein wird: Emotionen in der Erfahrung mit Kunstprodukten gehören zum Elementarsten, zum Notwendigsten eben dieser Erfahrung. 7. Der von mir kritisierte Konsens über Kunstprodukte, der im berühmt-berüchtigten Kanon seinen höchsten, fixierten Ausdruck findet, entsteht eigentlich nicht als Resultat von ästhetischen Urteilen. James Cutting, auf den Ellen Winner sich beruft, betonte, dass Konsens beim ästhetischen Gegenstand sich aus der Vertrautheit ergibt.21 Dieser vieldiskutierte Effekt nennt sich in der Psychologie »the mere exposure effect«. Je öfters wir (gemeinschaftlich) Kunstwerke sehen, desto lieber werden sie uns, weil wir immer mehr in ihnen »sehen«. Das jedoch bildet zwar eine Erklärung unter vielen, sie macht jedoch deutlich, wie überflüssig ästhetische, angeblich objektive Urteile in Wirklichkeit sind.

Der Emotionskomplex: Der affective turn Parallel zum erwähnten pictorial turn in der Ästhetik spricht man seit ungefähr zwanzig Jahren von einem affective turn.22 Alex Houen schrieb im Jahr 2020, in den letzten zwanzig Jahren gebe es keine Knappheit an Emotionstheorien in der Psychologie, der Ethnologie, der Philosophie, der Soziologie, der Politik und in den Cultural Studies sowie in der Literaturwissenschaft.23 Die Bedeutung der Emotionen für das ästhetische Erleben wurde von Dewey vor fast einhundert Jahren vorgedacht: Der Abrundungseffekt einer ästhetischen Erfahrung sei emotional. Emotionen seien »qualities« einer komplexen Erfahrung, »that moves and changes«.24 Dewey war sich bewusst, dass das emotionale Engagement ein dynamischer Prozess sei, wobei es keine rein »ästhetische Emotion« gibt, wie Nanay bemerkt.25 Viele Theoretiker unterscheiden grundlegend zwischen Affekt, Gefühl und Emotion. Unten in der Hierarchie des (zunächst) Bottom-up-Prozesses siedelt man die Affekte (affects) an. Sie drücken körperliche Reaktionen aus, werden also als Erstes nach der Perzeption »affiziert«.26 In der Hierarchie nehmen die Gefühle (feeÄsthetische Erfahrung III: Emotionen in der Literaturrezeption | 231

lings) einen mittleren Platz ein. Sie reflektieren ein Bewusstsein des emotionalen Erlebnisses (»Ich fühle mich glücklich/traurig«).27 Die Emotionen (emotions) schließlich, an der Spitze der Pyramide, sind die Primäremotionen wie Glücklichsein, Trauer, Furcht, Wut, Interesse oder Abscheu mit ihren Verknüpfungen, ebenso die komplexen Emotionen wie Scham oder Schuld.28 Cupchik präzisiert: »I maintain that emotions are feelings filled with meaning related to the self, both personal and social, in particular situations.«29 Der ästhetische Respons muss immer als Prozess verstanden werden, ausgehend von den Affekten bis hin zu den Emotionen und den kognitiven Einschätzungen und Erkenntnissen.30 Der emotionale Respons spielt eine wesentliche Rolle darin, wie wir an ein Kunstprodukt herangehen (interessiert, freudig, gleichgültig, ablehnend), wie wir ein Kunstprodukt verstehen und interpretieren. Die Emotionen machen uns aufmerksam auf Handlung, Charaktere, Atmosphäre und Erzählpersonen. Ein/e emotional engagierte/r Leser/in vermag Feinheiten zu entdecken, etwa bei der Handlung, den der/ die Leser/in, die sich emotional ohne Engagement verhält, nicht entdecken würde. 31 Die nicht-kognitiven affektiven Einschätzungen »fix my attention on those aspects of the story that are of significance to me or mine«, 32 wie Robinson schreibt. Die emotionale Verwicklung bedeutet, dass die ästhetische Aufmerksamkeit in der Handlung etwa eines Romans aufgeht. 33 Außerdem existieren besondere emotionale Gedächtnissysteme, die, wenn mein Respons stark genug ausfällt, in das emotionale Gedächtnis encodiert werden. Dieses emotionale Gedächtnis kann über die Lektüre hinaus meine Gedanken und Glaubensvorstellungen beeinflussen.34 Durch den emotionalen Respons können die Lücken in einem literarischen Text gefüllt werden.35 Das wiederum bedeutet, dass emotionale Erfahrung eine Form des Verstehens ist, und sei sie noch so inartikuliert. 36 Insbesondere die großen realistischen Romane kann man unmöglich verstehen, wenn man nicht emotional involviert wurde und wenn man die Schicksale der Romanfiguren nicht teilt.37 Die größten Fortschritte bei der Anwendung der Emo­tions­t heo­ rie(n) auf die Ästhetik wurden bei der Literatur gemacht, vor allem bei den realistischen Romanen des 19. Jahrhunderts. Dennoch kann man vieles auch auf die visuellen Kunstformen übertragen: Warum gefallen einem manche Kunstwerke auf Anhieb und an232 | Ästhetische Erfahrung III: Emotionen in der Literaturrezeption

dere nicht? Weil Emotionen, die wir ad hoc nicht analysieren können, im Spiel sind. Und warum gefallen uns manche Kunstwerke erst nach längerer Betrachtung? Weil wir uns erst langsam in sie einfühlen, von den Affekten, Gefühlen und den Emotionen geleitet, hin zu einer kognitiven Abwägung und Einschätzung, dem sogenannten »cognitive monitoring«. Natürlich müssen nicht alle literarischen Werke und alle Kunstwerke im engeren Sinn emotional erlebt werden, worauf Robinson hinweist. 38 In manchen Kunstwerken dominieren Form und Design. Das emotionale Engagement bei Bildern etwa von De Stijl wird erheblich geringer ausfallen als bei den mächtigen Bildern von Otto Dix. Die Identifikation mit Charakteren eines TolstoiRomans wird erheblich stärker ausfallen als etwa bei einem »kühlen«, experimentellen Roman wie Joyce’ Ulysses. Hier dominiert die kognitive Entschlüsselung der Parallelen zu Homers Odyssee und die kognitive Faszination – wobei Faszination auch zu den komplexen Emotionen zählt. Diese Ausführungen erhellen, dass Begriffe wie »rational« und »irrational« bei der Emotionstheorie völlig fehl am Platze sind. Emotionen im Kunst-Respons sind immer ehrlich und wertvoll. Insbesondere die indische Rasa-Ästhetik hat sich seit dem 10. Jahrhundert n.  u.  Z . mit den Emotionen beschäftigt. Die ästhetische Rasa-Revolution im zehnten Jahrhundert konzentrierte sich auf das ästhetische Subjekt: auf die Zuschauer/innen, auf die Leser/innen mit ihrem Respons auf Musikdarbietungen, Drama und Dichtung.39 In der Rasa-Ästhetik geht es um das ästhetische Erlebnis der Subjekte, von Abhinava definiert, hinweg von einer objektorientierten Ästhetik zu einem subjektorientierten ästhetischen Erlebnis. 40 Rasa (Sanskrit für »Saft«, »Essenz«, »Stimmung«) bezeichnet den freudigen Zustand der Kunsterfüllung. Die acht oder neun Grundstimmungen (Rasas) werden durch bestimmte Gefühlsauslöser (Bhavas) hervorgerufen: eine Ästhetik des Gefühls, sowohl produktionsästhetisch als auch rezeptionsästhetisch. Was seit wenigen Jahrzehnten mithilfe des affective turn in den Dunstkreis des Westens rückt, gehört seit tausend Jahren zum Kern der Rasa-Ästhetik. Mit dem affective turn der Ästhetik haben wir es, anders ausgedrückt, mit dem weiten Kontext von Psychologie und Ästhetik zu tun. Ästhetische Erfahrung III: Emotionen in der Literaturrezeption | 233

Der Emotionskomplex: Zur Psychologie Mit der Psychologie der ästhetischen Erfahrung befindet man sich im Zentrum der Kunstästhetik. Dementsprechend viele Ansätze und Theorien existieren. Von diesen greife ich einige wenige auf und versuche im Anschluss Gemeinsamkeiten aufzuzeigen. Shulamith und Hans Kreitler bemühten sich in den 1960er/70er Jahren, sich dem Phänomen experimentell anzunähern. Den Kreitlers zufolge generieren alle Kunstformen Spannung (tension), die die Kunstrezipienten/innen aufzulösen versuchen. Diese Spannung liegt für die Kreitlers in den Emotionen begründet, was sich im Verständnis des Kunstprodukts auflösen lässt.41 Ebenso zur älteren Generation gehört Roman Ingardens Unter­ suchung Vom Erkennen des literarischen Kunstwerks, worin der Autor betont, dass das ästhetische Erleben in den Emotionen (heute: erst einmal in den Affekten) gründet. Das ästhetische Erleben sei emotional und aktiv-schöpferisch, woraus eine »Wert­ antwort« entsteht.42 Ingarden wendet sich wie viele Theoretiker gegen die Auffassung, das Kunsterlebnis sei lediglich momentan und gleich vorüber.43 Die Länge des Erlebens könne variieren, bevor es zur »Konstituierung« des Kunstwerks im Subjekt kommt.44 Ingarden geht aus von der »Ursprungsemotion«, wobei es nicht um das »Gefallen« geht, sondern um eine neue »Qualität«, die sich uns aufdrängt.45 Danach folge ein wachsendes Gefühl der Sättigung dieser Qualität. Die Folge der Ursprungsemotion sei eine »gewisse Hemmung« im normalen Lauf der Erlebnisse, die uns von der »Last des Daseins« befreit. Die Ursprungsemotion reicht weiter: Die Verbundenheit mit der unmittelbaren Vergangenheit und Zukunft verliert sich, denn das ästhetische Erleben bedeute »Herausgehobensein«.46 Mit der radikalen Wandlungseinstellung geht das ästhetische Erleben über in eine Phase, in der Qualität überwiegt; sie wird zur »erregenden Qualität«, zu einem bestimmten Wert, der »nur unmittelbar gefühlt wird«.47 In einer weiteren Phase findet die »Formung der erfassten Qualitäten« statt, die in der Wertantwort im Erkennen ihren letzten Ausdruck findet.48 Ich habe Ingardens Theorie so ausführlich berichtet, weil mehrere Dinge daran auffallen: seine Betonung der Bedeutung von Emotionen bei der Kunsterfahrung; sein Verständnis vom ästheti234 | Ästhetische Erfahrung III: Emotionen in der Literaturrezeption

schen Erleben als einem Prozess; aber er analysiert diesen Prozess, der immer genauso abzulaufen habe, ziemlich rigide; schließlich beschreibt er lediglich das ästhetische Erleben (das, wie wir heute wissen, nicht unbedingt zu den Alltagserfahrungen mit Kunstprodukten gehört), nicht jedoch die banalere ästhetische Erfahrung. Ich fasse Ingardens rigide Strukturierung des Erlebnisprozesses als Warnung auf, keinem festgelegten Schema zu verfallen und darin ein Ziel anzuvisieren, Ingardens »Erkennen«. Wie bereits diskutiert, geht die Kunsterfahrung erst einmal von den Affekten aus. Was danach jedoch folgt, liegt an den Umständen, dem Augenblick, der Primär- und Sekundärsozialisation des Subjekts begraben – ganz zu schweigen von den Gefühlen und Emotionen, die variabel dabei entstehen, sowie der Absicht, mit der ein Kunstprodukt erfahren wird. Auf keinen Fall kann man dem Prozess ein allgemeines Ziel wie »Erkennen« aufoktroyieren. Wir haben, wie Butler schreibt, einen Trieb (drive) zu erkennen, zu erleben, zu verstehen, was uns ästhetisch Freude bereitet.49 Immer tragen die Emotionen diese Erfahrung, die Shimamura »thinking with feeling« nennt und die die volle Kraft des Gehirns ausschöpft (bei der visuellen Kunst): den Okzipitalcortex, die visuellen Zentren V 1–V 5, die ventralen und dorsalen »Pfade« im Gehirn, die Gedanken und Erinnerungen (präfrontaler Cortex, Hippocampus, hinterer Parietalcortex) und die Emotionen (Belohnungskreislauf, Amygdala, den orbitofrontalen Cortex).50 Mit Glück erlebt man dabei eine Erfahrung im engeren Sinn: ein Erlebnis, bekannt als das »Stendhal-Syndrom«, ein Kunsterlebnis von Stendhal vor einem Volterrano-Fresko in einer florentinischen Kapelle, das berühmte »Wow«-Erlebnis bei Kunst, Musik und Literatur, das tiefe, innere, nicht kommunizierbare psychologische Erlebnis mit physiologischen Auswirkungen. Dazu bedarf es Ruhe und Stille. Nachweislich wird das Kunsterlebnis in Gesellschaft, zum Beispiel bei einer Kunstführung im Museum, geschwächt. Neben Stille braucht man zwei andere Elemente: Man verbringt längere Zeit mit dem Kunstwerk, nicht nur die durchschnittlichen 28,63 Sekunden, die in einem Experiment gemessen wurden. Drittens muss man »umfangen« werden, was sich besonders beim Musik­erleben einstellt, da die Musik den Menschen rundum einÄsthetische Erfahrung III: Emotionen in der Literaturrezeption | 235

bettet. In der Musik kommt noch ein Letztes hinzu, die Bewegung der Musik, die zur synchronen Bewegung anregt.51 Gemeinsam ist allen Theorien das Verständnis der Kunsterfahrung als Prozess, ausgehend von den Affekten. Des Weiteren wird die Bedeutung der Gefühle und schließlich der Emotionen betont, die am Ende zu einem kognitiven Verständnis und zur Interpretation des Kunstprodukts – führen können. Nichts darf festgelegt werden, kein Schema darf dem Erfahrungsprozess ab ovo übergestülpt werden. Winner fasst diesen offenen und variablen Prozess zusammen: »The greatness of a form of art is not measured only by the emotions it arouses in us. Artworks also open our eyes and our minds.« 52

Der Emotionskomplex: Zur Bedürfniserfüllung Kunsterfahrung, schreibt Joachim Bauer, sei »Beziehungsgeschehen«. Die emphatische Beziehungsaufnahme vollzieht sich in zwei Richtungen: zum einen in Richtung des Kunstprodukts und der hinter dem Kunstwerk verborgenen Künstlerperson, zum anderen in Richtung derjenigen, die dem Kunstwerk ebenfalls begegnen.53 Meine Kritik an Kants sensus communis, der über die Kunstwerke zwischen den erfahrenden Subjekten als gemeinsame und positive Erfahrung etabliert wird, richtete sich nur gegen die Orientierung der ästhetisch gemeinsamen Erfahrungen am ästhetischen Urteil. Der Austausch muss keineswegs am Urteil gemessen werden, sondern an der Erfahrung am Kunstprodukt, sofern sich diese Erfahrung kommunizieren lässt. Die Bedeutung des Kunstprodukts in der Selbsterfahrung besitzt einen Wert, der über die gemeinsame Erfahrung hinausgeht, denn sie geht aus dem Selbst hervor: Es sind die Selbstnetzwerke des präfrontalen Cortex. Die Selbstnetzwerke kodieren den Kern einer Person hier (das heißt im PFC) »im Ort der Überzeugungen …, die eine Sinn-geleitete eudaimonische Lebenseinstellung ausmachen«. 54 Zu diesem Kern des Menschen gehört die Kultur­ erfahrung im weitesten Sinn, im engeren Sinn die Kunst als »gemeinsame Anteilnahme an den unendlichen Möglichkeiten des kreativen Selbstausdrucks der Menschen«.55 Diese Selbstkodierung 236 | Ästhetische Erfahrung III: Emotionen in der Literaturrezeption

der Person – ein komplexer, sich entwickelnder Prozess, der ein Leben lang anhält – entsteht im »unified self«, wie Cupchik das Selbst nennt. 56 Wir sprechen mit anderen Worten von der Selbstentstehung des Menschen, zu dem als Kulturgut die Kunsterfahrungen gehören. Die emotionalen (und geistigen) Erfahrungen, schreibt Cupchik, seien fundamental synkretistisch, eine Melange aus Perzeptionen, Affekten, Gefühlen, Emotionen, Gedanken, Erinnerungen etc., und einheitlich durch das Gefühl der Selbstkontinuität.57 Die komplexe Selbstkonstitution ist derart grundlegend für den Menschen, dass daraus Bedürfnisse entstehen. Neben den Grundbedürfnissen Essen, Trinken, Sex und Wohnen besitzt der Spätkulturmensch erweiterte Bedürfnisse verschiedenster Art. Hier interessieren die Kunstbedürfnisse. Ich habe die Kunstbedürfnisse »erweiterte Bedürfnisse« genannt, weil ein Leben ohne Kunst möglich wäre. Sie wäre aber nicht sinnvoll und wünschenswert: Der Mensch lebt nicht vom Brot allein, was auch für die bilder- und symbolreichen jungpaläolithischen Kulturen weltweit gilt, nicht nur für die Spätkultur. Die Künste erfüllen ganz verschiedene Bedürfnisse. Ein Drama kann sehr wohl kathartisch wirken, was Aristoteles ganz richtig gesehen hat. Romane und Kurzgeschichten können im Leser und in der Leserin eine Auflösung als Erlösung erfahren. Kunstwerke können auf jede denkbare Weise erfreuen und auf jede denkbare Weise über das emotionale »Verständnis« geistige Befriedigung herbeiführen: der Möglichkeiten keine Grenzen. Gerade die Musik erlaubt eine subtile Bedürfniserfüllung, da Musik den Menschen unmittelbar sinnlich umflutet.

Der Emotionskomplex: Zur Musik Und nicht nur umflutet: Die Musik gehört extrem zur Selbst­defi­ nition einer Person oder einer Gruppe dazu. Eine Kultur ohne Musik in irgendeiner Form existiert nicht. Das älteste bekannte Musikinstrument, eine Flöte aus einem Gänsegeierflügel, wurde 2008 in der Hohle-Fels-Höhle auf der Schwäbischen Alb gefunden, weitere in der Geißenklösterle-Höhle, alle mindestens 32.000 Jahre alt.58 Diese Flöten sowie andere gefundene, wahrscheinliche Ästhetische Erfahrung III: Emotionen in der Literaturrezeption | 237

Musik­instru­mente wie Mundbögen und Schwirrhölzer besaßen, davon geht man aus, eine soziale Verankerung in den Aurignacien-, den Gravettien- und den Magdalénien-Gruppen. Das gemeinsame Hören und Erleben, schreibt Polite, verstärkt die Gruppenzugehörigkeit und somit das eigene Hören.59 Es gibt drei Haupttheorien der Musikinterpretation: die Erregungstheorie (arousal), die Ähnlichkeitstheorie (resemblance) und die Ausdruckstheorie (expression). Die Erregungstheorie besagt, dass die Hörer/innen die Ausdrucksqualitäten der Musik erkennen, weil bestimmte Emotionen evoziert werden, die wir dem Gehörten zuschreiben. Die Ähnlichkeitstheorie drückt aus, dass wir Aspekte der Musik wahrnehmen, die bestimmten Emotionen ähneln. Die Ausdruckstheorie appelliert an die menschliche Empathie und an imaginierte Personen, die für die Musik verantwortlich zeichnen.60 Robinson entscheidet sich, was mir sinnvoll erscheint, für alle drei Theorien, da die jeweilige Theorie nur einen Aspekt der Musik­ erfah­rung abdeckt. 61 Ganz gleich, für welche der Theorien (oder für alle drei) man sich entscheidet: Musik evoziert unzweifelhaft Emotionen, was in der Fachliteratur als unbestritten gilt. Scherer und Coutinho gehen in ihrem multifaktoriellen Ansatz zunächst von zwei Verwandtschaftsarten von Musik und Emotion aus: zum einen repräsentiere Musik Emotionen, zum anderen schaffe Musik reale Emotionen. 62 Allerdings sind die Mechanismen, die in der Interaktion mit der Musik beteiligt sind, mehrfach determiniert und hängen eng mit der Hörerperson zusammen. Musik vermag es, alle Arten von emotionalen Erfahrungen (und Erlebnissen) wachzurufen. 63 Musik, schreibt Butler, sei geprägt vor allem von ihren Tonfolgen, Rhythmen, Harmonien und den allgemein variablen Parametern wie zum Beispiel Tonhöhe, Tondauer und Klangfarbe. 64 In der westlichen Forschung herrscht Uneinigkeit darüber, was als fröhlich und was als traurig empfunden wird. Dur und Moll geben nur eine vage Richtung an. 65 Einigkeit besteht nur darüber, dass es um sehr grundlegende Emotionen gehen kann66 und dass bestimmte Musikausprägungen einen hohen Erregungsfaktor besitzen, wie etwa Heavy Metal oder der erste Satz von Beethovens Fünfter, oder einen niedrigen Erregungsfaktor besitzen, wie etwa der erste Satz von Beethovens Mondscheinsonate op.  27 Nr.  2. Al238 | Ästhetische Erfahrung III: Emotionen in der Literaturrezeption

lerdings hängt das auch sehr von den Gefühlsassoziationen ab, die man dabei empfindet. Die Emotionen, über die man spricht, werden sehr verallgemeinert ausgedrückt, zum Beispiel Tristans angebliches Sehnsuchtsmotiv in der Ouvertüre – aber nicht spezifisch nach Isolde. 67 Tempo und Tonart (Dur, Moll) sind die Hauptfaktoren, die grundlegende Gefühle in eine bestimmte Richtung lenken, zum Beispiel ein schneller Dreivierteltakt in Dur impliziert Dynamik und freudiges, beschwingtes Erleben. Langsame Tempi mit niedrigem Erregungsfaktor werden mit Ruhe, Besinnlichkeit und Trauer assoziiert wie etwa Samuel Barbers Adagio for Strings op. 11. Selten, schreibt Winner, löst ein einziger Faktor eine Emotion aus, meist sind es mehrere, die zusammenwirken.68 Auch wenn es um grundlegende Emotionen geht, listet das Geneva Emotional Music Scale eine große Auswahl nuancierter Emotionen auf, die Musik hervorzurufen vermag. Die Evokation von Gefühlen durch Musik gestaltet sich überaus komplex und variabel; variabel von Augenblick zu Augenblick im Individuum und variabel zwischen den Personen – obwohl Hörerpersonen das gleiche Musikstück hören. Erinnerungen, bildhafte Vorstellungen, Assoziationen und die eigene Musiksozialisation bestimmen die Musikemotion und modifizieren sie.69 Stimmungen können sich beim Hören in Emotionen verwandeln. Der Schlüssel zu dieser Komplexität, schreibt Butler, liegt in der Interaktion zwischen Emotion(en) und Kognition.70 Ich bezweifle allerdings, dass ein Schlüssel zur Komplexität der Höremotionen überhaupt existiert. Daher würde ich im Musikzusammenspiel zwischen Affekten, Gefühlen und Emotionen mit der kognitiven »Arbeit« lieber von »variabler Komplexität« sprechen, ohne dass allgemein die Parameter definiert werden könnten – und sollten. Um an das Kapitel Götterdämmerung des ästhetischen Urteils anzuschließen: Anstatt ein Urteil anzustreben über die jeweilige emotional-kognitive Erfahrung, würde ich es akzeptieren, wenn hier ein klassischer Fall von ästhetischer Komplexität vorliegt. Damit wäre die Erfahrung umschrieben; mehr bedarf es in meinen Augen nicht. Im Gegensatz zur oft »kühlen« bildenden Kunst fühlen wir Musik direkt. Zwei Teile des Nervensystems sind involviert, das limbische System und das autonome Nervensystem. Beide werden aktiviert. Dadurch werden die Belohnungszentren angestoßen, Ästhetische Erfahrung III: Emotionen in der Literaturrezeption | 239

Dopamin und Oxytocin fließt. Insbesondere der Hippocampus wird aktiv. Dopamin wiederum regt die Verschaltung der Synapsen an, weshalb das Musikgedächtnis auf Höchstleistungen getrimmt wird und leicht ins Langzeitgedächtnis übergeht.71 Das autonome Nervensystem reagiert bei Erlebnissen (der Steigerung von Erfahrungen), der galvanische Hauptrespons stellt sich ein, die Körpertemperatur steigt plötzlich an.72 Während Kunstprodukte in der visuellen Kunst am besten allein oder im Gespräch genossen werden, besitzt Musik eine starke soziale Komponente. Individuen können sich mit einer bestimmten Musik (Rock, Bach) identifizieren. Noch größere Bedeutung erlangt die Musik als Mittel des Gruppenzusammenhalts bei indigenen Völkern. Musik stiftet Identitäten. »Zwar können Menschen bestimmte Frequenzbereiche schlechter hören als Hunde oder Fledermäuse. Ihr soziales Gehör aber sei exzellent ausgeprägt.«73 Die evolutionsbiologische Funktion der Musik, heißt es bei Eckart Altenmüller, liege in der Fähigkeit, »soziale Laute« zu erkennen, zu deuten und im Gedächtnis abzuspeichern.74 Kants sensus communis verwirklicht sich am direktesten und am prononciertesten bei der Musik, über die Emotionen. Hier gibt es kein Paradoxon, keine Zweifel: Musik wirkt direkt und kann intensivste Emotionen auslösen. Komplizierter freilich gibt sich die Ästhetik, etwa bei der Literatur, wo Paradoxa aufzutauchen scheinen.

Der Emotionskomplex: Das Paradoxon der Fiktion Wie können sich bei der Lektüre Emotionen bei fiktiven Geschehnissen und fiktiven Personen entwickeln? Diese Frage geht auf Colin Radfords berühmtes Argument von 1975 zurück, Emotionen bei Fiktionen seien unzusammenhängend (»incoherent«) und daher irrational.75 Kendall Walton ging 1990 sogar so weit, von »Quasi-Emotionen« zu sprechen, gab aber 1997 zu, es seien doch echte Emotionen.76 Darüber herrscht nun Konsens. Von QuasiEmotionen spricht niemand mehr. Und dennoch verhält es sich mit dem Paradoxon nicht ganz einfach, denn wie gelingt es uns ohne Probleme, uns mit dem Schicksal von Romanfiguren zu identifizieren – und andere abzulehnen –, obwohl wir doch wissen, dass 240 | Ästhetische Erfahrung III: Emotionen in der Literaturrezeption

diese Figuren rein fiktiv sind? Reale Emotionen und Emotionen gegenüber fiktiven Personen seien »structurally identical«, wie Moonyoung Song schreibt.77 Wir wissen, dass fiktionale Texte gegen die Normen der Korrektheit verstoßen und somit in Widerspruch zum ontologischen Wissen stehen, wie Stacie Friend betont.78 Wir kompartamentalisieren die Emotionen, indem wir die Korrektheitsnorm suspendieren.79 Was aber nicht immer oder nicht ganz zutrifft: Wir wissen, dass Oliver Twist fiktiv ist, wir wissen jedoch ebenso, dass er pars pro toto steht für die vielen pauperisierten und arbeitenden britischen Kinder im Rahmen der entfesselten Indus­ tria­lisierung des 19. Jahrhunderts. Wir wissen, dass Anna Karenina und Madame Bovary fiktiv sind, aber wir wissen ebenso, dass sie sinnbildlich für die unendlich vielen Frauen früherer Jahrhunderte stehen, die vom Patriarchat unterdrückt und unglücklich in der Gefangenschaft ihrer Ehen dahinvegetierten. Ich frage mich allerdings, ob der Begriff »Kompartamentalisierung« das Problem löst. Würden Romane »lügen«, würden sie sich selbst disqualifizieren: »Novels never lie.« Das liegt daran, dass Romane keine Behauptungen vorbringen, und Lügen wären eine Art von falschen Behauptungen. 80 Was man also liest und was einen berührt, ist im Rahmen der Fiktion »wahrhaftig« – trotz unseres Wissens um die Fiktionalität. Mariano Longo kommt der Erklärung des Problems näher, wenn er die literarische Künstlichkeit ins Spiel bringt. Romane und Kurzgeschichten sind künstliche Gebilde, die dergestalt konstruiert wurden und werden, Emotionen für oder gegen etwas auszulösen. 81 Longo stützt sich dafür auf Richard Moran, der zum Schluss gelangte, gerade die Künstlichkeit als ein Weg zum Weltbezug ermögliche Emotionen: Narrationen schaffen auch Sinn im menschlichen Leben. 82 Wir, die Leser/innen, folgen unbewusst den literarischen Konventionen83 und erfahren früh im Leben die Künstlichkeit von Stil und Charakterisierung, von Plot-Entfaltung, was zusammen genommen den »Realitätseffekt« gekonnt (und manchmal weniger gekonnt) hervorbringt. 84 Fabrice Teroni trifft eine Unterscheidung zwischen Emotionen: »afraid-of« im Alltag und »afraid-for«, nämlich für die Charaktere eines Romans, einer Geschichte, eines Dramas oder eines Films. Diese letzteren »Emotionen-für« sind echt und daher nicht Ästhetische Erfahrung III: Emotionen in der Literaturrezeption | 241

irrational, 85 wie ich mich überhaupt dagegen wehre, Emotionen als irrational aufzufassen und somit zu entwerten. In der Literatur geht es um »Emotionen-für«. Longos Betonung der Bedeutung des Kontexts im Roman, die Künstlichkeit des Ganzen, sowie Teronis Unterscheidung der »Emotionen-für« im Romankontext führen ein gutes Stück auf den Weg, das Paradoxon aufzulösen. Ein weiterer wichtiger Aspekt: Echte Gefühle werden vom prä­ frontalen Cortex bei der Lektüre angestoßen bzw. produziert. Aber das Aktionssystem im PFC wird dabei nicht aktiviert, weil wir etwa in unseren dorsolateralen Frontallappen zugleich wissen, dass wir, den Romankonventionen gemäß, nicht aktiv werden müssen. Indem wir um die emotionale, künstliche Interaktion mit fiktiven Charakteren wissen, verändern wir unsere nicht-kognitive Einschätzung nicht. Auch in der Alltagswelt haben wir emotionalen Respons auf eine Vielzahl von Gegebenheiten, real oder vorgestellt: Hätte ich doch nur dieses und jenes getan, das wäre doch eine gute Idee gewesen, wenn … Wahrscheinlich, meint Robinson, können wir auf alles emotional reagieren. 86 »The emotion systems respond when one feels one’s wants and interests to be at stake, regardless of whether they really are or whether one truly believes them to be. Emotions do not require belief in their ›objects‹ to get off the ground.«87 Zum gleichen Ergebnis gelangt Carolyn Korsmeyer: Das vermeintliche Paradoxon der Fiktion sei leicht aufzulösen: Echte Gefühle könnten durch ein Objekt/eine Handlung, die nicht als real aufgefasst wird, jederzeit hervorgerufen werden. Furcht entsteht aus realen und fiktiven Gründen: Dieser Mann bedroht mich, oder: Ich fürchte den Klabautermann. Aber es gibt eine Lücke (gap) zwischen dieser Erkenntnis und den Emotionen, die im Roman oder in einem Film den Aktionsmodus nicht aktiviert. 88 »One may fear for a character, at the same time that one realizes that character is not real. One starts and flinches at a movie, but real full-blown fear would make one leave the theatre.«89 Das Paradoxon löst sich in Wohlgefallen auf. Die realen »Emotionen-für« tragen dazu wesentlich bei. Und doch wird damit nicht alles zum Fiktionskontext ausgesagt. Die Frage des Wie, wie wir Fiktionen (literarische, Film, Theater  …) erleben, wurde noch nicht beantwortet.

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Der Emotionskomplex: Sympathie, Empathie und Imagination Die sympathischen Responsantworten gegenüber fiktiven Charakteren, schreibt Alessandro Giovanelli, können als die weit verbreitete Form des narrativen Engagements angesehen werden.90 Giovanelli unterscheidet wie der bereits erwähnte Teroni zwischen Sympathie als Trägerin von Gefühlen für eine fiktive Person (»feelings-for«) und der Empathie als Gefühle mit einer fiktiven Person (»feelings-with«).91 Giovanelli bemängelt zu Recht, dass die sympathischen Gefühle-für ein Schattendasein geführt haben. Tatsächlich haben wir oft zugleich Gefühle für eine fiktive Person, etwa dem zu Unrecht leidenden Joseph in Thomas Manns Joseph und seine Brüder, und wir leiden mit Joseph, der in die Sklaverei verkauft wird. Oft gibt es hierbei eine emotionale Gemengelage, bei der man sich im Unklaren ist, ob man Sympathie für eine Person fühlt oder ob man Empathie mit einer Person erlebt. Es scheint mir sinnvoll, beides auseinanderzuhalten, aber bei der unmittelbaren Lektüre spielt die genaue Scheidung der Gefühlsformen oft eine untergeordnete oder eher gar keine Rolle. Der empathische Nachvollzug ist »nicht-originärer Art«, was bedeutet, dass wir keineswegs das gleiche fühlen müssen wie die Figur, in die wir uns einfühlen.92 Das deckt sich mit Breithaupts Definition der Empathie als »the co-experience of the situation of another«.93 Man erlebt sozusagen zusammen eine Situation, ohne dass man das gleiche Erlebnis in allem emotional nachvollziehen muss. In den letzten Jahren wurde verstärkt auf die Simulation der Situation von fiktiven Personen hingewiesen. Eine Simulation jedoch setzt eine willentliche, meist bewusste Simulation einer anderen Situation voraus. Das trifft auf die Gefühle, gar Emotionen, die sich im Lauf der Lektüre entwickeln, nicht zu. Gefühle und Emotionen entstehen unwillentlich, spontan, unbewusst und unzensiert. Daher würde ich ein Fragezeichen bei der ästhetischen Simulationstheorie setzen. Auch wurde es fast zur Mode, die sogenannten Spiegelneuronen heranzuziehen, um fiktive empathische Respons-Situationen zu erklären94 – abgesehen davon, dass die neuronalen Grenzen und AusÄsthetische Erfahrung III: Emotionen in der Literaturrezeption | 243

sagen über die Spiegelneuronen umstritten sind. Armstrong weist im ästhetischen Kontext auf die Schwäche der Spiegelneuronentheorie hin: Das einfache Spiegeln der fiktiven Situation im Leser/innengehirn würde höhere, komplexere Intentionen und Emotionen nicht darstellen können. Ein Neuron sei nur ein Neuron.95 Indem wir lesen, absorbieren wir unbekannte oder nicht näher bekannte Fiktionserfahrungen in unsere persönliche Erfahrungswelt.96 Oder wie Shimamura schreibt: Unsere persönlichen und episodischen Erinnerungen sowie unsere kulturellen Erfahrungen – und wie ich bereits erwähnte, unsere gesamte Primär- und Sekundärsozialisation – bestimmen unseren emotionalen Respons.97 Auch wenn das emphatische »Fühlen-mit« fiktiven Personen ein ganz bedeutsames ästhetisches Moment sein mag, so besitzt die Empathie doch ­Grenzen. Empathie, heißt es bei Winner, sei keinesfalls immer wünschenswert, weil empathische Gefühle, die wir beim Lesen entwickeln, im realen Leben uns Menschen näherbringen, die uns ähneln, aber Empathie kann uns in diesem Fall unempfindlich machen für diejenigen, die entfernter von uns sind.98 Oft reagieren wir, schreibt Butler, emotional auf Situationen, die nicht unseren eigenen Interessen entsprechen. Die emotionale Einschätzung von Situationen sei oft »other-regarding«. Man möge daher nicht immer auf unsere Identifikation mit den fiktiven Charakteren bestehen.99 Zahlreiche Beispiele lassen sich anführen, wo wir uns mit den Protagonisten von Filmen und Romanen nicht identifizieren: mit dem psychisch kranken Protagonisten Norman Bates in Hitchcocks Psycho; mit den negativen Protagonisten in Edward St Aubyns Romanen Bad News und Mother’s Milk; mit dem hemmungslosen Opportunisten Julien Sorel in Stendhals Le rouge et le noir; mit all den negativen Grantlern in Thomas Bernhards Romanen und Stücken, die Bosheit verspritzen; und viele mehr. Butler schlägt vor, anstatt unbedingte Empathie als Auslöser für den Respons anzunehmen, dass man die pragmatische Logik der situativ gegebenen Aktionen setzt, worauf wir emotional antworten.100 So verführerisch es sein mag, in allen narrativen Situationen stets von Empathie (und Sympathie) auszugehen: Verallgemeinern lässt sich die Empathietheorie nicht. Denn es kommen noch einige ästhetische Momente hinzu. 244 | Ästhetische Erfahrung III: Emotionen in der Literaturrezeption

Zum emotionalen Respons gehört auch die Imagination, gehören die Vorstellungen, die uns beim Lesen auch beflügeln. »Imaginings«, heißt es bei Gilmore, sind kontextabhängig, im Gegensatz zu »beliefs«.101 Wenn wir Texte lesen, füllen wir die Lücken durch unsere Vorstellungen: wie die Personen aussehen, wie sie angezogen sind, wie sie leben, was gerade nicht im Text ausgesagt wird. Wir können mit unserer Vorstellungskraft die Zeit einfrieren, wir sind in der Handlung absorbiert und ziehen emotional bedingte Schlüsse.102 Wir können oder können uns nicht vorstellen, ein anderer zu sein, wie Schmetkamp schreibt: »imagine-other«.103 Wir vermögen auch der Empathie zu widerstehen und uns gerade nicht mit der Protagonisten-Person zu identifizieren. Die innere Welt unserer Vorstellungen vermag eine breite Skala von lebendigen emotionalen Antworten hervorzurufen. Ob man die Erfahrung neutral »imaginings« oder »imagine-other« oder »absorption« nennt, die die Erfahrung anstoßen: Wir haben es mit der Vorstellungsgabe zu tun, ohne die eine Textlektüre undenkbar wäre.104 Man muss außerdem, wie Cupchik in Anlehnung an Rudolf Arnheims Gestalttheorie betont, von einem dynamischen, offenen, holistischen Prozess ausgehen, worin die Vorstellungskraft eingebunden wird auf dem Weg zur Bedeutung. Die Auflösung der aufgeführten Ansätze liegt, soweit ich sehe, in der kritischen Synthese. Sympathie (ebenso Antipathie) und Empathie, auch ein fast rein kognitiver Respons (wie beim Entziffern etwa von Joyce’ Ulysses, wobei der emotionale Einsatz gering sein dürfte) – all das sei unbestritten. Im Kontext der Vorstellungen sei noch Richard Wollheim erwähnt, der von »iconic« geistigen Zuständen bei der Visualisierung spricht.105 Auch die ikonisch-bildhaften Vorstellungen gehören zum immensen, grenzenlosen Reich der Vorstellungen, die wir für uns bei Narrationen, bei der Musik und bei der Kunst spontan oder überlegt entwickeln. Alle Einzellösungen können nicht anders als inadäquat sein. Zu komplex geben sich die emotionalen und kognitiven Responsmöglichkeiten. Ihre Quellen wie die assoziativen Erinnerungen, die autobiografischen Erfahrungen, wie erwähnt die Primär- und Sekundärsozialisation, die von Individuum zu Individuum variable Vorstellungskraft: all das kann, da dynamisch nicht festzulegen, dazu beigetragen, ästhetisch auf Texte, Musik und Kunstwerke zu Ästhetische Erfahrung III: Emotionen in der Literaturrezeption | 245

reagieren. Katherine Tullmann schlägt als holistischen Lösungsausdruck den Begriff der »fascinated attention approach« vor, wobei sie dies auch »sympathy for the devil phenomenon« nennt: die fragwürdige »Sympathie« für den verwerflichen Humbert Humbert in Nabokovs Lolita oder für die Charaktere im Film Kill Bill.106 Tullmanns Terminus wird auf negative Charaktere gemünzt, die uns trotzdem faszinieren und deren Charakter wir im realen Leben verabscheuen würden. Ich würde den Faszinationsgedanken jedoch in die Synthese mit einbeziehen, denn Texte und Filme, die emotional eher abgehoben sein können, wie mein Lieblingsbeispiel von Joyce’ Ulysses, vermögen uns trotzdem zu faszinieren. Texte können anziehen, auch ohne großes emotionales Engagement. Die Auflösung dieses Themas bestünde darin, keinem Herangehen Dominanz einzuräumen, sondern den ästhetischen Erfahrungsprozess als ein synthetisches, offenes, komplexes Ganzes zu würdigen. Manche Romane werden von Sympathien getragen, andere nicht. Bei einigen Narrationen spielt die Vorstellungsgabe eine wichtige, persönliche Annäherungsrolle (wie bei meiner eigenen Lektüre von John Fowles’ The French Lieutenant’s Woman), bei anderen wie beim erwähnten Ulysses die intellektuelle, also kognitive Auseinandersetzung mit Joyce’ schwierigen Parallelen zu Homers Odyssee oder bei der Kühle des experimentellen Modernismus. Zu Recht schreibt Giovanelli von einem »pluralism of our responses of our engagement with narrative characters«107 und überhaupt mit allen Kunstprodukten. Eine solche Formulierung mag unzufriedenstellend sein, sie mag als ein Allgemeinplatz gelten, allein, sie erfolgt als Konsequenz vieler Responsvorstellungen vieler Theoretiker/innen. Doch damit gelangt man keineswegs ans Ende. Das nächste Paradoxon wartet ungeduldig darauf, entwirrt zu werden.

Der Emotionskomplex: Das Paradoxon der negativen Emotionen Der ästhetische Genuss des Unangenehmen, des Furchteinflößenden, des Erschreckenden – das weicht derart von unserem normalen Verhalten ab, dass er Erklärungsbedarf weckt. Warum tun wir 246 | Ästhetische Erfahrung III: Emotionen in der Literaturrezeption

das, wo wir in der Kunst unangenehme Begegnungen leicht vermeiden könnten?108 Viele Erklärungen für dieses unerklärliche Verhalten wurden angeboten. Ein bizarrer Masochismus gehört nicht dazu. Die popu­ lärste Antwort liefert die Hedonic Compensatory Theory: Trotz des negativ-emotionalen Geschehens ziehen wir den Genuss aus einer gut durchgestalteten Narration mit ihrer eleganten Prosa.109 Oder die Kunstwerke sind in all ihrer Negativität mächtig, bewegend, ergreifend.110 Smuts hält die Nonhedonic Compensatory Theory für plausibler: Es gebe andere Wertformen, die das Unangenehme kompensieren, denn schmerzhafte Erfahrungen sind oft intrinsisch wertvoll.111 Diese Theorie, bei der es viele Wertformen gibt, um den Zuschauern die vielen schmerzhaften Kunstprodukte nahezubringen, nennt Smuts Constitutive Theory.112 Wenn man aber zum Ergebnis gelangt, ein großer Teil der Kunstprodukte sei schlecht für das Publikum, warum setzen sich Zuschauer und Publikum immer wieder den negativen Emotionen aus? Könnte es nicht sein, schreibt Fileva, dass der fiktive Gehalt uns sogar dabei hilft zu erkennen, wie gut wir es im realen Leben haben, gemäß der Auffassung von Lukrez und Hobbes?113 Kunstwerke wie Tolstois Anna Karenina oder Michael Hanekes Film-Meisterwerke Das weiße Band und Liebe handeln von zutiefst menschlicher Tragik, wobei die Kunstwerke uns bei der Bewältigung ihrer und somit unserer Probleme zur Seite stehen.114 Fileva meint: Schmerzhafte Kunst versichert uns unserer Menschlichkeit115 und schafft, einmal wieder und ein wenig bizarr, einen sensus communis der an der Kunst Leidenden. Schließlich und nicht zu vergessen: Aristoteles’ Poetik, worin die Katharsis der Tragödie »mit Hilfe von Mitleid und Furcht eine Reinigung von … Affekten bewerk­stel­ ligt …«116 All diese Theorien entbehren nicht einer gewissen Überzeugungskraft, aber genügt »einer gewissen«? In einem philosophischen Text wäre strictu sensu zu argumentieren, was sich mit ­einem Mehr oder Weniger nicht zufriedengibt. Beginnen wir daher wieder von vorne. Die oben aufgeführten Gründe für die Akzeptanz der negativen Emotionen gehen jeweils von einem bestimmten, singulären Grund aus, um die willige Akzeptanz der negativen Emotionen Ästhetische Erfahrung III: Emotionen in der Literaturrezeption | 247

bei der Kunsterfahrung zu erklären. Wie aber, wenn uns Menschen »con­flicting desires«117 bei der Tragödie umtreiben? Für die Sehnsüchte, für das Begehren existieren keine ästhetischen Konsistenz­ erfordernisse. Trotz der üblen Handlung, bei der ein schlechter Ausgang unerwünscht wäre, akzeptieren wir den schrecklichen Ausgang und »genießen« die Handlung, die in den Abgrund führt. Das wirft die Frage auf: Weshalb gab es bisher bei den negativen Emotionen keine – siehe oben – befriedigende philosophische Antwort? Das liegt zum einen an der Komplexität der Antwort und zum anderen daran, dass die Antwort zum Teil oder hauptsächlich psychologisch wird ausfallen müssen. Die Antwort bewegt sich im Rahmen der Hauptfeststellung dieses Kunstkapitels: Ästhetik wird nicht länger rein philosophisch zu betreiben sein. Ohne Hilfe der Psychologie bzw. der Emotionstheorien kann die Philosophie zu keinen befriedigenden Ergebnissen führen. Fileva drückt auf der Basis bisheriger Lösungsangebote ihre Skepsis darüber aus, ob es überhaupt und angesichts der vielen Ansätze eine einheitliche Theorie zu den negativen Emotionen geben kann.118 Ich meine, diese Lösung liegt in Greifweite. Alle oben aufgeführten Lösungen (außer Aristoteles’ KatharsisTheorie) kranken an einer falschen Prämisse, nämlich dass die Gefühle, die wir bei schrecklichen Geschehnissen erleben, schlichtweg negativer Natur seien. Daraus ergibt sich ja das Paradoxon. Um die Sache noch komplexer zu gestalten, setzt die Philosophie eine zweite falsche Prämisse hinzu, nämlich dass ästhetischer Genuss den negativen Gefühlen oder Emotionen entgegengesetzt sein muss, weshalb sich das Paradoxon vertieft. In der Psychologie hat sich längst durchgesetzt, dass Emotionen wie Furcht, Wut und Schrecken durchaus starke positive Anteile besitzen. Die Emotionen, die spontan entstehen, sind immer ehrlich. Furcht zeigt klar auf, was tatsächlich gefährlich sein kann. Wut offenbart absolut mit Recht eine Wut auf jemanden, der das eigene Sein oder dasjenige anderer nicht respektiert, indem die Person schädlich für andere oder für mich handelt oder spricht. Eifersucht und Einsamkeit signalisieren, dass etwas im Beziehungsgefüge nicht stimmt und dass man nach einer Lösung suchen muss. Neid kann aufzeigen, was einem fehlt. Und Schrecken schließlich, ein natürlicher Respons auf etwas Fürchterliches, versetzt den Men248 | Ästhetische Erfahrung III: Emotionen in der Literaturrezeption

schen in Kampf- oder Fluchtmodus. Sogenannte negative Gefühle/ Emotionen mögen durchaus und oft genug konstruktive, wahrhaftige Seiten an sich haben, die das Subjekt emotional weiterbringen können, zieht es die richtigen und selbstkritischen Schlüsse. Die Prämisse der rein negativen Emotionen lässt sich heute nicht mehr halten. Sie gehört zu einem älteren Weltbild, das viele Gefühle moralisch verurteilt. Die Verurteilung oder gar Tabuisierung von bestimmten Gefühlen/Emotionen, die Philosophen unreflektiert »nega­tiv« nennen, wirkt destruktiv in der Ästhetik, nicht kon­struk­ tiv und auf eine Lösung bedacht. Auch die zweite Prämisse, die unreflektierte Entgegensetzung von Genuss (der nicht sein darf) und Leiden mit und an der Kunst, überzeugt nicht. Man sei nicht versucht zu sagen, argumentiert Butler, wir würden traurige Emotionen genießen.119 Der hedonische Begriff par excellence, »Genuss«, trifft den Sachverhalt nicht. Butler schreibt von »arousal«, von der Anregung, vom Reiz der horrenden Geschehnisse etwa in King Lear oder in Horrorfilmen oder von der Spannung, die uns aus dem Alltagsschlummer wachrüttelt und die uns bannt.120 In diesem Sinn sind alle Emotionen »angenehm«, »positiv« fesselnd und aufregend sowie anregend. Die Begriffe »positive« und »negative« Emotionen sind bei der ästhetischen Erfahrung inadäquat und sogar falsch. Sie verführen zur Gegensatzbildung, ohne den positiven Wert ästhetisch »negativer« Emotionen zu würdigen. Sich auf Robert Solomon berufend, schreibt Cain Todd, es gehe nicht nur um Affekte, die zu Emotionen führen, sondern um einen Prozess, worin Bedeutung und Interpretation mit eingebunden werden.121 Wie wir die Emotionen werten und ob eine bestimmte Emotion oder Episode als »pleasurable« oder als »painful« gewertet wird, hänge von unseren familiären und sozialen Werten, Sorgen, Sehnsüchten etc. ab. Die Relativität des Kontexts sei relativ nicht nur bei den kulturellen, sozialen etc. Hintergründen, sondern sei auch relativ bei der Individualpsychologie, dem Temperament, dem Charakter etc.122 Außerdem sind unsere angeblich negativen Reaktionen auf Kunstprodukte auf zweierlei Art kognitiv komplex. Erstens zielen die Emotionen darauf ab, den dargestellten Inhalt kognitiv zu verarbeiten. Zweitens evozieren die Emotionen eine gleichzeitige Aufmerksamkeit, ein Bewusstsein der Fiktionalität. Ästhetische Erfahrung III: Emotionen in der Literaturrezeption | 249

Selten fühlen wir bei Kunstwerken relevante körperliche Veränderungen wie etwa bei der Furcht.123 Auch das Paradoxon der negativen Emotionen löste sich in Wohlgefallen auf, wenn man die beiden falschen philosophischen Prämissen überwindet. An dieses große, angebliche Paradoxon dockt sich ein kleineres an, das in den letzten Jahren viel diskutiert wurde.

Der Emotionskomplex: Das Paradoxon von Ekel Alle anderen negativen Emotionen wie Trauer, Furcht, Schrecken, Mitleid und das Hässliche wurden seit Burke in der Ästhetik akzeptiert; nur nicht, bemerkt Korsmeyer, der Ekel.124 Denn Ekel besitzt einen stark körperlichen Ausdruck, der sich als Übelkeit äußert. Ekel ist unmittelbar, mächtig und schwer einfach beiseitezuschieben. Ein Ekelgefühl vermag jedoch bestimmte Objekte zu erhellen, indem es die Gelegenheit ermöglicht, um über bestimmte Objekte zu reflektieren.125 Ekel in Form von Verwesung kann auch zum weiten Kreis der Vanitas zählen und den Menschen auf seine Endlichkeit verweisen. Ekel in der Form von Abscheu drückt eine moralische Haltung aus, wenn nach unserem Empfinden bestimmte Menschen unmoralisch handeln.126 Beispiele aus dem Film und vor allem aus der Kunstgeschichte gibt es zuhauf: Cellinis Bronzestatue von Perseus, Tizians Häutung des Marsyas, Gentileschis und Caravaggios Judith und Holofernes, Traversis Operationsbild, Géricaults Bild von abgetrennten Gliedmaßen, Otto Dix’, George Grosz’ und Lucian Freuds Arbeiten bis hin zu Jenny Savilles Bilder von aufgeblasenem weiblichem Fleisch. Man denke auch an die Filme von David Lynch und Quentin Tarantino, die den Ekel als Schockelement benützen, man denke an die Alien-Filme und an viele Horror-Filme. Ekel geht von der Insula und den Basalganglien aus. Die Erfahrung wird unmittelbar ausgelöst. Korsmeyer – indem sie sich auf die Meinungen von Kant, Lessing und Mendelssohn beruft, später von Danto und Jenefer Robinson wiederholt – betont, es gebe keinen wesentlichen Unterschied zwischen Ekel im realen Leben und Ekel in Fiktionen aller Art. Das wird etwa von Filippo Contesi 250 | Ästhetische Erfahrung III: Emotionen in der Literaturrezeption

bestritten, der eine große Lücke zwischen realem und fiktivem Ekel annimmt.127 Korsmeyer unterstreicht hingegen, es gebe eine kleine Lücke: »There is a little gap between belief and emotion, because it is what is presented by the artwork itself that is the object of disgust.«128 Ob wir es mit einer kleinen oder großen Lücke zu tun haben, gehört nicht in den Problembereich der Philosophie, sondern nur in den der Psychologie: Das mögen Psychologinnen und Psychologen entscheiden. Interessanter scheint mir die Frage, ob wir es bei diesem kleinen Paradoxon überhaupt mit einem Paradoxon zu tun haben. Ich schließe mich Korsmeyer an, die folgert, es handle sich überhaupt nicht um ein Paradoxon. Und zwar aus den folgenden Gründen: Zum einen werde Ekel so leicht und direkt ausgelöst, dass er das (scheinbare, wie wir sahen) Paradoxon der Fiktion umgeht, da das Ekelgefühl keine gegensätzlichen Annahmen (beliefs) über den Gegenstand zulässt.129 Zum anderen gehe es gar nicht um Freude, um Genuss. Mit dem Ekel im ästhetischen Gegenstand geht es stattdessen um vollkommenes Aufgehen im Kunstwerk, um absorption statt pleasure,130 um dasjenige, was emotional zutiefst anzieht, ganz gleich, wie abstoßend der Gegenstand sein mag. Ekelerregende oder abstoßende Kunstprodukte üben auf verschiedene Weisen einen Sog aus: Sie reizen das Bewusstsein bis an die Grenzen der Toleranz. Ekel bringt uns dem gemeinsamen Nenner des organischen Lebens nahe, mit dem entsprechenden Identitätsverlust. Man gewinnt ein kognitives Wissen um Sterblichkeit und Vergehen. Parallel zu Burkes Verwandlung vom Positiv-Erhabenen zum Negativ-Erhabenen, Schrecklichen, verwandelt sich auch das Ekelerregende in ästhetische Anziehung.131 Goyas späte Fresken, die Schwarzen Gemälde (Pinturas negras), heute im Prado, liefern ein überzeugendes Beispiel dafür; ebenso wie das Gesamtwerk von Francis Bacon, Kiki Smith’ Tale (1992) und Blood Pool (1992), Cindy Shermans menschliche Verwandlungen ins Bizarr-Abstoßende oder Jeffrey Silverthornes Leichenschauhausfotos, um nur einige zu nennen. Francis Bacons existenzielle Porträts, seine kompromisslose Sicht auf die condition humaine in Bilder gefasst, könnte man als abscheulich-schön bezeichnen.

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Der Emotionskomplex: Die ästhetische Distanz Das Ekelthema wirft die Frage nach der ästhetischen Distanz bei der Rezeptionserfahrung auf. Samuel Taylor Coleridge beschrieb als Erster (in Biographia literaria, 1817) die ästhetische Distanz als ein »willing suspension of disbelief for the moment, which constitutes poetic faith«.132 Edward Bullough thematisierte in einem Aufsatz von 1912 die »psychical distance« oder »aesthetic distance«. Er meinte psychische Distanz, verwandt der Einfühlung von Lipps, Witsek und Volkelt. Bullough schrieb von einer Konkordanz,133 worin das Ziel der Rezeption darin liege, optimales Engagement ohne exzessive Selbstbeschäftigung zu erfahren.134 Er unterschied dabei zwischen »under-distancing« (als kruder Naturalismus) und »overdistancing« (das entsteht, wenn der Stil Unwahrscheinlichkeiten in der Handlung, Künstlichkeit oder Absurditäten produziert).135 Bullough knüpft die Möglichkeit der ästhetischen Distanz an die, modern ausgedrückt, narrative Kompetenz der Autorin oder des Autors. Ich möchte hingegen »over-distancing« in der direkten Bedeutung des Worts auffassen. Von klein auf folgen wir literarischen Konventionen, auf denen die Gesamtrezeption – auch die möglich gemachte ästhetische Distanz – aufbaut. Literarische (und nicht-literarische) Werke und Filme sind extra so geschaffen, damit wir eine Gesamtheit an Rezeptionsweisen anwenden können – also immer: bewusst oder unbewusst – erleben können. Es empfiehlt sich nicht, die Distanz zu überspringen und die Konventionen außer Kraft zu setzen. Als ich Hans Falladas Kleiner Mann – was nun? (1932) las, identifizierte ich mich derart mit dem reizenden jungen Paar, das nur ein kleines bisschen Glück wollte (die Ehefrau sehnte sich nach einem Frisiertischchen, welches sich das Paar nicht leisten konnte), sodass ich mitten im Roman das Buch für immer beiseitelegen musste: Ich hielt es nicht aus, vom wirtschaftlichen Untergang des Paares zu lesen, der sich zwangsläufig ankündigte. Ein klassisches Beispiel von Über-Empathie und »under-distancing«. Mein emotionales Engagement war allzu stark ausgeprägt. Ich beging einen Anfängerfehler. Ein Beispiel für »over-distancing« wäre ein mangelndes emotionales Engagement: Man kann mit dem Buch oder dem Kunstprodukt oder der Musik »nichts anfangen«. Ein Engagement findet nicht statt. 252 | Ästhetische Erfahrung III: Emotionen in der Literaturrezeption

Selbst bei negativen Charakteren wie Vronsky oder Karenin in Anna Karenina oder Uriah Heep in David Copperfield und den vielen anderen herrlichen Dickens-Schurken verhalten wir uns nicht allzu sehr distanziert. Wir entwickeln für sie negative Gefühle, sie faszinieren uns, ohne dass wir ihnen Empathie oder Sympathie entgegenbringen. Tullmann bezieht sich auf Murray Smith, der diese Art von Faszination »perverse allegiance« nannte.136 Man kann fasziniert sein von negativen Protagonisten wie etwa dem Familienmörder von Truman Capotes In Cold Blood. Wie erwähnt trifft hier Tullmanns »fascination attention approach« zu, die auf dem moralisch defizitären Charakter des Protagonisten beruht. Hier wird die ästhetische Distanz vergrößert, aber nicht außer Kraft gesetzt. Denn um ein Werk zu würdigen, kann man es ohne diese Distanz nicht rezipieren. Saugt einen das Werk zu sehr auf, verliert man die Distanz, wie es mir bei Fallada erging (»under-distancing«). Wird die Distanz durch mangelndes emotionales Engagement aufgehoben (»over-distancing«), quält man sich desinteressiert durch die weitere Lektüre oder man legt das Buch beiseite.

Noch einmal: Kants »interesseloses Wohlgefallen« Kann man die für die ästhetische Erfahrung notwendige ästhetische Distanz mit Kants viel diskutiertem interesselosem Wohlgefallen in eins setzen? Um das zu beantworten, gehe ich zurück zu Kants Kritik der Urteilskraft und frage, was Kant genau mit »interesselos« meinte. »Wohlgefallen« ist nicht kontrovers und meint genau das. »Ein jeder muß sich eingestehen, daß dasjenige Urteil über Schönheit, worin sich das mindeste Interesse weckt, sehr parteilich und kein reines Geschmacksurteil sei.«137 Es geht Kant um die »Reinheit« des Geschmacksurteils, als wäre etwas Derartiges überhaupt möglich. Kant setzt das moralisch Gute, das »höchstes Interesse« bei sich führt, gegen das ästhetische Urteil:138 Die Erfüllung des Sittengesetzes setzt ein Bedürfnis voraus. »Alles Interesse setzt Bedürfnis voraus, oder bringt eines hervor, und, als Bestimmungsgrund des Beifalls, läßt es das Urteil über den Gegenstand mehr frei sein.«139 Ästhetische Erfahrung III: Emotionen in der Literaturrezeption | 253

Kant bemüht sich, das »Geschmacksurteil« von allen Bindungen wie Interesse und dessen Voraussetzung, dem Bedürfnis, zu reinigen, damit das Urteil ohne vorherige Einmischung »rein« ausfallen möge. Beim sittlichen Gesetz gebe es keine Wahl bei der Richtigkeit der Handlung; hingegen beim »Geschmack ist … ein Be­urtei­lungs­ vermögen eines Gegenstandes oder einer Vorstellungsart durch ein Wohlgefallen oder Missfallen, ohne alles Interesse. Der Gegenstand eines solchen Wohlgefallens heißt schön.«140 »Interesse« bedeutet, modern ausgedrückt, eine andersartige Motivation. Wir besitzen, und zu Recht, ein Interesse am Sittengesetz, damit es uns gelingt, moralisch mit dem Rest der Menschheit zu leben und stets moralisch zu handeln. Rein wäre Kant zufolge ein Urteil, das von keinerlei Interessen geleitet, also fehlgeleitet wird, »rein« sich demjenigen ergeben kann, was Kant »schön« nennt. Am Ende des Teilkapitels über Kunst und Emotionen lassen sich viele Einwände gegen die Interesselosigkeit schon allein auf der emotionstheoretischen Basis aufführen: 1. Die Interesselosigkeit widerspricht allem, was Emotion und Kognition betrifft. Der Weg von Affekten zu Gefühlen zu Emotionen, ein dynamischer Prozess, und weiter bis zu kognitivem »Genuss« und zu den Einschätzungen, widerspricht Kants Idea­ lismus, wie Urteile zu fällen wären. 2. Als Kind des rationalistischen Zeitalters der Aufklärung theo­ retisiert Kant einen idealen Weg herbei, wie es zu einem Urteil kommen kann. Als Kind seiner Zeit vermag es Kant nicht, die Emotionen in diesen Prozess einzubinden. Vielmehr wären diese in seinen Termini gefasst »unrein«, da von einem emotionalen »Interesse« geleitet. Insofern muss für ihn das Bedürfnis in der Ästhetik fehl am Platz sein. Aber Bedürfnisse, wie ich zeigte, sind untrennbar vom ästhetischen Erfahrungsprozess. Kants Auffassung von »Bedürfnissen« ist zu eingeengt. 3. Wie bereits im Kapitel Götterdämmerung des ästhetischen Urteils in Anlehnung an Lyotards Kant-Kritik diskutiert: Hier zeigt sich auch im Kleinen, in der Kontrastierung von Sittengesetz und ästhetischer Erfahrung, ein Systemzwang. Diese geniale, aber zwanghafte Konstruktion Kants erlaubt es ihm nicht, die ästhetische Eigenart zu würdigen: ein falscher Gegensatz, der im Grunde das ästhetische Bedürfnis nicht respektiert, denn 254 | Ästhetische Erfahrung III: Emotionen in der Literaturrezeption

das ästhetische Bedürfnis darf nicht sein. Sonst verlöre sich das angeblich reine Urteil im Schmutz der chaotischen Gefühle, der wilden Neigungen. 4. Kants Theorie der Interesselosigkeit muss man historisieren. Nur so begreift man seine Theorie im Rahmen des deutschen Idealismus und im Rahmen idealischer Setzungen der aufklärerischen Vernunft. Ein reizendes Ideal seiner Zeit: Der kühle Kopf der Aufklärung, der vollkommen nüchtern, sprich: rein rational mit dem Geschmacksurteil des etablierten Bürgers überlegt und überlegen umgeht. 5. Unser emotionales Gehirn richtet sich prinzipiell nach Selbstich-Interessen. Emotionale und kognitive »Befriedigung« im Kunstprodukt muss stets interessiert sein. Nicht-kognitive Affekteinschätzungen von Kunstprodukten »fix my attention on those aspects of the story that are of significance to me and mine«.141 Die emotionale Verquickung impliziert die Verwicklung mit den Ereignissen und den Charakteren einer Narra­ tion.142 Aus den Emotionen entsteht die kognitive Einschätzung des Kunstprodukts.143 6. Kants rationalistische Urteilsästhetik konzentriert sich wesentlich auf das Urteil. Seit Dewey richtet sich die Ästhetik jedoch nach der ästhetischen Erfahrung. 7. Die von Iser thematisierte Lückenfüllung (gap) der Vorstellungsgabe bei der Lektüre gehört zu den emotionalen und kognitiven Texterfahrungen: Es sind partizipatorische Antworten, und diese stets interessegeleitet – und gehe es nur um Spannung beim Text. Als emotional beteiligter Leser bin ich in einer besseren Position, Schlüsse über die Charaktere und über die Handlung zu ziehen, als ein interesselos Beteiligter.144 Am Ende allerdings, schreibt Robinson, gelangen wir meist zu einem »dispassionate assessment« einer Geschichte oder e­ ines Romans.145 Das aber ist ein Resultat des Erfahrungs- und Interpretationsprozesses, nicht, wie Kant vermutete, der Gesamtprozess selbst, wie er idealiter zu sein hätte. Es verhält sich daher nicht so, wie Vendrell Terran annimmt, dass nur »einige« literarische Werke ein emotionales Engagement erfordern.146 Es sind alle Werke, wobei die Intensität des Engagements stark variiert: Bei Joyce’ Ulysses entziffert man kühl und bewundernd, Ästhetische Erfahrung III: Emotionen in der Literaturrezeption | 255

bei Falladas Kleiner Mann – was nun? konnte ich vor ÜberEngagement nicht weiterlesen. (Zur emotionalen Ehrenrettung vom Ulysses: Erst bei der zweiten Lektüre ging mir auf, wie unglaublich amüsant das Buch war, wie schreiend komisch Joyce die Sprache einsetzte; eine helle Freude und auch eine Emotion.) Levinson jedoch, als einer der Wenigen, hält sich noch an Kants »disinterestedness«.147 Man möge sich dem Kunstprodukt ohne Interesse annähern, »with a concern not only for its resultant, highorder qualities, meaning, and effects but also for the way these intertwine with the rest of the work’s lower-level perceptual face«.148 Was Levinson aufzählt, stimmt natürlich. Was mich stört, ist der zerebrale Zugang zum Werk, ein Zugang, der sich selbst Emotionen weitgehend verbietet. In der Ästhetik aber sei nichts verboten. Zieht man das Fazit aus den Erläuterungen zu den Emotionen, der ästhetischen Distanz und dem interesselosen Wohlgefallen, ergeben sich einige, für jede zukünftige Ästhetik wichtige Zwischenergebnisse: Erstens: Das interesselose Wohlgefallen, ein idealistisches Konstrukt des 18. Jahrhunderts, kann in der modernen Ästhetik keine Geltung beanspruchen. Zweitens: Das interesselose Wohlgefallen ist nicht identisch mit der ästhetischen Distanz. Als gebranntes Kind halte ich unbedingt an einer notwendigen, emotional-kognitiven Distanz zum ästhetischen Objekt fest. Bei der Ästhetik kann die ästhetische Distanz nicht weggedacht werden. Drittens: Eine zukünftige Ästhetik wird ohne Emotionstheorien nicht auskommen. Das emotionale Engagement ab und mit den Affekten ist mit-konstitutiv bei der ästhetischen Erfahrung.

Das hedonische Problem: Der ästhetische Genuss »Nowadays«, schreibt McIver Lopes, »nobody produces arguments for aesthetic hedonism …«149 Diese kategorische Ablehnung des ästhetischen Hedonismus ist missverständlich, denn der hedonische Wert eines Kunstprodukts gehört untrennbar zum ästhetischen Erfahrungsprozess. Falls McIver Lopes hingegen meint, niemand 256 | Ästhetische Erfahrung III: Emotionen in der Literaturrezeption

bricht eine Lanze für den Hedonismus als alleiniger Wert im Ästhetischen, erst dann würde ich den Satz auch unterschreiben. Der hedonische Wert ist keinesfalls alles, wie bei der Wertdiskussion im Kapitel Götterdämmerung des ästhetischen Urteils dargelegt. Im ästhetischen Erfahrungsprozess muss man stets von einer Pluralität von Werten relativer Art ausgehen, relativ zu den individuellen, dynamisch-temporalen und kulturell unterschiedlichen Variablen. Die Frage nach dem Hedonischen in der Ästhetik liegt in meinen Augen nicht darin, den Hedonismus in Bausch und Bogen abzulehnen, denn der ästhetische Genuss gehört zur ästhetischen Erfahrung dazu. Sondern es muss darum gehen, den Hedonismus von seinem negativen Image des Total-Genüsslichen zu befreien und ihm einen sinnvollen Platz im Ganzen zuzuweisen. Levinson etwa meint, die Kernwahrheit des Kunstprodukts liege darin, die enge Verquickung vom Wert des Kunstprodukts mit dem Genuss des Rezipienten/der Rezipientin zu akzeptieren. Für Levinson gehört der Genuss (enjoyment) dazu, der aktiv erworben wird im Umgang mit dem Kunstprodukt.150 »Genuss« sei nicht nur purer positiver Genuss, sondern auch, je nach Kunstprodukt, ein verstörender, desorientierter Genuss, ein tragischer Genuss.151 Das bedeutet, wie schon dargelegt, dass es sich um eine Diversität von ästhetischen Engagements handelt.152 Der Genuss geht weit darüber hinaus, nur Schönheit zu empfinden, sondern bezieht das Bizarre, das Schräge, das, was man als hässlich empfindet, auch mit ein. Butler schreibt, der Trieb, intellektuell zu erkunden, zu verstehen, gehört zum Gesamtprozess.153 Sowohl Butler als auch Levinson unterscheiden im Erkundungsprozess zwischen primärer und sekundärer Interpretation; bei der letzteren geht es um ein vertieftes Verstehen. Levinson nennt das erweiterte Verstehen ein »meta-response«.154 Damit betreten wir das weite Feld des kognitiven Responses, denn die bisher untersuchten Emotionen tragen bei zum Prozess und, als bottom-up geleitete hedonische Zustände, erleichtern sie oder formen sie die holistische Erfahrung von Affekten zu Gefühlen zu den Emotionen und zu den geistigen, holistischen Genüssen; ein Oszillieren von Bottom-up- zu Top-down-Prozessen und umgekehrt.155 Wir suchen, mit anderen Worten, durch die kognitive Elaboration, die mit der emotionalen verflochten wird, nichts andeÄsthetische Erfahrung III: Emotionen in der Literaturrezeption | 257

res als Bedeutung, die wir genießen können. Wenn Kunstprodukte durch ihren symbolischen Wert über sich hinausweisen, spreche ich vom »Verweisungscharakter« der Kunstprodukte. Er wird auch als »metaphorische Ebene« oder »Symbolgehalt« bezeichnet. Ich gehe somit von einem elaborierten, weiten hedonischen Wert aus: Wozu ansonsten Kunst? Gerade der weitgefasste Hedonismus gehört zum Kern des Ästhetischen, denn Kunstwerke wurden füruns produziert, auf dass wir sie emotional-geistig genießen, auf dass wir »Befriedigung«, »Auflösung«, Komplexität aus ihnen ziehen. Natürlich gehört die nüchterne Einschätzung des Kunstprodukts als sekundäre Erfahrung dazu, so weit, wie man in das Werk eindringen möchte oder schlichtweg einzudringen vermag. Den Wert des Hedonischen im offenen Gesamtrahmen der ästhetischen Erfahrung zu finden, muss man als einen, nicht den zentralen Wert würdigen – wobei andere Werte wie religiöse, kultische, moralische, politische, formale etc. Werte je nach kultureller Bedingtheit den hedonischen Wert überlagern können. Die Einschränkung des hedonischen Werts auf den dominanten Wert nennt Antonia Peacocke »unmotiviert«.156 Stattdessen plädiert sie für einen »Liberalismus« der Werte als Alternative zum Hedonismus – was nicht überzeugt, da der hedonische Wert vom Belohnungszentrum des Neocortex ausgeht, also eine kortikale Basis besitzt, was für »Liberalismus« (ohnehin ein schwammiger Begriff) nicht zutrifft. Auch McIver Lopes entwirft eine Alternative zum hedonischen Wert.157 Die Alternative setzt sich aus verschiedenen Elementen zusammen. Statt hedonischer Wert will McIver Lopes die ästhetische Kompetenz im Ästhetischen verankern, eine Errungenschaft, die statt Genuss »appreciation« setzt. Mir scheint, dass McIver Lopes der »einfachen« Hedonik eine verfeinerte, quasi- oder ganz professionelle Kompetenz im Ästhetischen anstrebt: ein überaus kognitiver Zugang zur Ästhetik, der extrem viel von den Rezipientinnen und Rezipienten abverlangt. Die Alternative von McIver Lopes überzeugt nicht. Kann es sein, dass er von einem vereinfachten Hedonismusgedanken ausgeht, den Begriff deshalb ablehnt und schließlich bei einem allzu intellektuellen Erfahrungsbegriff landet? Das Kompetenzargument, man erinnere sich an Humes »true judges«, feiert in McIver Lopes’ Begriff der überragenden Kompetenz fröhliche Urständ’. In der Ästhetik begegnen einem immer 258 | Ästhetische Erfahrung III: Emotionen in der Literaturrezeption

wieder die wahren Richter, und es wird Zeit, sie in den Ruhestand zu verabschieden. Im Gegensatz zu McIver Lopes visierte Mohan Matthen eine Zukunft für den ästhetischen, erweiterten Hedonismus an. Keiner anderen Theorie als der hedonischen gelinge es, adäquat die Kulturspezifik und die variable Kunstqualität ausreichend zu würdigen. Der Wert eines Kunstprodukts liege im Respons, den es bei seinen Zuschauerinnen und Zuschauern, den Leserinnen und Betrachtern auslöst.158 Die anerkannte Verschiedenheit der ästhetischen Zugänge, individuell und kulturell, ermögliche einem variablen Hedonismus, einen wichtigen Platz in der Gegenwartsästhetik einzunehmen. Das setzt eine Auffassung der individuell-emotionalen und zugleich kulturell variablen Perspektive voraus. Man muss also einmal wieder die Perspektive verändern, suji kaete, um eine neue Form von Hedonismus zuzulassen, die dynamischer Natur ist. Auf Aristoteles und dessen Theorie der Katharsis zurückgehend, bemerkt Korsmeyer, dass ästhetische Freude (pleasure) kein einheitliches Phänomen sei. Den Genuss von Kammermusik und von rezitierten Gedichten könne man nicht über einen Kamm scheren, insbesondere dann nicht, wenn gemischte Rezeptionsgefühle ins Spiel kommen.159 Sie beruft sich dabei auf einen Aufsatz von Gilbert Ryle aus dem Jahr 1954. Ryle zufolge sei es ein fundamentaler Fehler, die Rezeptionsweisen mit dem angeblichen Gegensatz Ge­nuss – Schmerz auszudrücken.160 Schmerz bilde nicht den Gegensatz zur Freude. »We can cease worrying about a common causal source of pleasure and redirect attention to the idea that what satisfies is also what absorbs attention in artworks.«161 Was die Rezipientin/den Rezipienten in einem Kunstprodukt aufgehen lässt, was fesselt, was Befriedigung generiert, sei wesentlich beim ästhetischen »Genuss«. Dieses Aufgehen in der Kunst nennt Korsmeyer absorption, nicht pleasure, mit dem sie den Genussbegriff im Ästhetischen ersetzen möchte.162 Im Kontext der medialen Unterhaltung gelangen Mary Beth Oliver, Anne Bartsch und Tilo Hartmann ebenso wie Korsmeyer zum Schluss, man müsse den ästhetischen Genuss (enjoyment) etwa bei traurigen Filmen rekonfigurieren. Man müsse den Hedonismusbegriff überwinden, um emotional ambivalente und bedeutungsvolle ästhetische Erfahrungen hinreichend zu würdigen.163 SchmerzÄsthetische Erfahrung III: Emotionen in der Literaturrezeption | 259

hafte Erfahrungen werden wertgeschätzt, nicht »genossen«. Viele Filme wie etwa Steven Spielbergs Schindlers Liste (Schindler’s List, 1993) werden wegen der ambivalenten Gefühle, die sie hervorrufen und wegen der Bedeutungen, die man in solchen Filmen entdecken kann, nicht genossen, sondern wertgeschätzt. Sie berühren durch ihre Darstellung von fundamentalen Lebensprinzipien, was wiederum die Suche nach Bedeutung auslöst.164 Ein anderes Beispiel: Sidney Lumets Die zwölf Geschworenen (Twelve Angry Men, 1957), ein Film mit Sogwirkung und ein Lehrstück über den menschlichen Anstand, über Vorurteile und über Gerechtigkeit. Die drei Autoren Oliver, Bartsch und Hartmann schreiben mit ihrem Rekonfigurationsvorschlag nicht länger von »enjoyment of meaningful entertainment«, sondern von »appreciation of meaningful entertainment«.165 Bedeutsame Medienerfahrung führe zu einer vertieften Reflexion und zur Innenschau.166 Kunstprodukte tun nichts anderes. Deshalb möchte ich den Begriff der ästhetischen Wertschätzung (appreciation) auf alle Kunstprodukte, die man genießt, ausweiten. Wertschätzung impliziert ein vertieftes Verständnis eines Kunstprodukts; ein dynamischer und gradueller Prozess von bottom-up (sinnliche Erfahrung der Perzeption – Affekte – Gefühle – Emotionen bis zur Einschätzung des künstlerischen Werts) und top-down (der umgekehrte Prozess, vom Kognitiven ausgehend). Mit dem Begriff der ästhetischen Wertschätzung hätte man als hedonische Rekonfiguration einen weiten Begriff, der emotionales Engagement und nüchterne Einschätzung beinhaltet. Mit dem Begriff der Wertschätzung wird stets ein Wert-für-mich und eventuell für viele andere Menschen ausgedrückt, je nach Einzelfall. Außerdem entkommt der Wertschätzungsbegriff der Hedonismusfalle des Genussausdrucks, wo es eigentlich um anderes geht, wenn ein Kunstprodukt von Negativem handelt und »Genuss« ohnehin inadäquat ist, da es um emotionale und kognitive Elaboration geht. Sie sind beide im Wertschätzungsbegriff enthalten. Und doch: Den Genuss würde ich, entgegen allem Gesagten, nicht aus der Ästhetik-Diskussion ausschließen. Manche Werke, ja viele Werke wie etwa Monets Landschaften genießt man unmittelbar und ohne Begriff. Rembrandts Die Anatomie des Dr. Tulp im Seziersaal genießt man nicht; man schätzt es wert. Hingegen die weltberühmte Nachtwache genießt man als ein fantastisch kom260 | Ästhetische Erfahrung III: Emotionen in der Literaturrezeption

poniertes, bewegtes und reich schattiertes Gruppenporträt – und man schätzt es wert. Genuss also, wenn man überhaupt davon sprechen will, ist sehr persönlich, sehr subjektiv, ganz unmittelbar. Viele Kunstwerke, die man als schön empfinden kann, wie etwa Vermeers Ansicht von Delft, genießt man. Man möge das Kind nicht mit dem Bade ausschütten. Der Begriff der Wertschätzung genügt eigentlich nicht, um die Auseinandersetzung mit diesem genialen Bild auszudrücken. Daher greife ich noch einmal den Begriff von Korsmeyer auf, den der absorption. Das Aufgehen in einem Kunstprodukt ist ein viel intensiveres Erlebnis als eine einfache Wertschätzung. Wenn man in einem Kunstwerk aufgeht, wird man quasi zu einem Teil dieses Bilds oder dieser Narration. Man erfährt ein Kunstprodukt nicht einfach, wofür der Begriff Wertschätzung völlig genügt. Man erlebt ein Kunstprodukt, eine Steigerung der emotionalen und kognitiven Erfahrung, wenn sie zu einem Erlebnis wird. Wertschätzung und Aufgehen im Kunstprodukt sind also beide möglich und wünschenswert. Das Aufgehen muss unbedingt als Steigerung der Erfahrung hin zu einem Erlebnis verstanden werden. Es drückt eine neue Qualität in der Auseinandersetzung mit dem Kunstprodukt aus. Geht man in einem Kunstprodukt auf, umfängt es einen und weist einen hohen Grad an emotionalem Engagement auf sowie möglicherweise auch an kognitiver Bedeutungsfindung. Der Begriff des Aufgehens, der auch bei schrecklichen Geschehnissen in Kunstprodukten zu gelten hat, weist außerdem auf die starke emotionale Komponente beim Kunsterleben hin. Mit dem Begriff des »Aufgehens in« drückt die Theorie eine neue Qualität einer Kunsterfahrung aus. Ich habe versucht, mit den Begriffen der Wertschätzung und des Aufgehens zwei wesentliche Aspekte der Kunsterfahrung zu umreißen. Dass damit der gesamte Erfahrungs- und Erlebnisreichtum im Umgang mit Kunstprodukten ausgedrückt wird, möchte ich bezweifeln. Denn die Rezeptionserfahrungen sind unendlich vielschichtig und von Subjekt zu Subjekt verschieden. Sie lehren den Menschen, sich nicht auf das Eine festzulegen, sondern sich den unendlich vielen Möglichkeiten der Rezeption zu öffnen, ganz gleich, was irgendeine Theorie aussagt. Im Zweifelsfall irrt die Theorie, nicht die Praxis. Ästhetische Erfahrung III: Emotionen in der Literaturrezeption | 261

Der Verweisungscharakter Ob man nun beim ästhetischen Phänomen von »Verweisungscharakter« oder »metaphorischer Ebene« oder »Symbolgehalt« spricht (hier wäre ich mit dem Begriff ausnahmsweise nicht kleinlich), spielt keine Rolle, denn die Begriffe drücken dasjenige aus, was in den Kunstprodukten angelegt ist, was sich jedoch erst in der Interpretation erschließt. Der Verweisungscharakter der Künste ist in der Ästhetik-Diskussion nicht kontrovers: Gerade darauf sind Kunstprodukte ja – ebenso – ausgerichtet. Die Einbettung des Verweisungscharakters in den kognitiven Teil der Erfahrung hat sich durch die Neurowissenschaft bestätigt und soll hier nicht noch einmal ausgeführt werden. Im Verweisungscharakter geht es um die Bedeutung des Kunstwerks und um die Bedeutungen, die dem Kunstwerk innewohnen, die erst in der Interpretation sichtbar gemacht werden. Mit dem Verweisungscharakter verlassen wir die emotionalen Bedürfnisse zwar nicht. Man konzentriert sich hier jedoch eher auf die komplexen, oft ganz versteckten metaphorischen Elemente des

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Kunstwerks. Nun geht es eher um einen kognitiven Prozess (topdown) als beim Bottom-up-Prozess. Nun koordiniert das Gehirn Bruchstücke, Einzelteile, Fetzen, Hinweise, (ikonografische und biografische) Erfahrungen und partielle Einsichten, um zu einem stets offenen Verweisungsganzen zu gelangen, das uns (einigermaßen) befriedigt, das erstaunt, das erleuchtet und, mit Glück, aus der Erfahrung sich ein Erlebnis gestaltet. Zwei Beispiele aus der Gegenwartskunst. Man könnte meinen, dass die Bezeichnung »Konzeptkünstler« einen unsinnlichen, zerebralen Kunstproduzenten meint. Das trifft bei Ai Weiwei nicht zu. Als Hunderte von Kindern – man spricht sogar von Tausenden – im Sichwan-Erdbeben von 2008 in schlecht gebauten Schulgebäuden verschüttet wurden, reagierte Ai sofort. Er konstruierte 2009 eine Wand aus über 9000 bunten Kinderrucksäcken in fünf Farben, die pars pro toto für die verstorbenen Kinder standen (hier im Haus der Kunst, München). Die auf den ersten Blick hübschen, bunten Rucksäcke ergeben ein Schreckensbild der Toten, die mit Abb. 7:  Ai Weiwei, Remembering, 2009

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ihren Rucksäcken die Unfähigkeit der chinesischen Behörden anklagen. Kontrastierend zur Bedeutung der Anklage stehen die fünf bunten Farben, die die Geschehnisse bunt und darum umso treff­ sicherer ironisch kommentieren: Das habt ihr uns angetan. Der Titel der Installation, Remembering, ist auch ein memento mori. Dasselbe Prinzip der bunten Oberfläche und der dahinter ironisch versteckten, anklagenden Bedeutung realisierte Ai im Bild After the Death of Marat, 2019. Es verweist auf Jacques-Louis Davids Der Tod des Marat (1793), worin der Künstler den radikalen Revolutionär im Tod in der Wanne heroisch-tragisch preist. Von Heroik nun in der Gegenwart keine Spur mehr. After the Death of Marat besteht aus kindlich-bunten Legobausteinen und stellt das tote Flüchtlingskind Alan Kurdi auf einem Strand liegend dar. Die Flucht der Familie Kurdi über das Mittelmeer misslang. Gerade die bunte Lego-Welt, mit der der Junge nie wieder spielen wird, kontrastiert bitter mit dem toten Körper am Strand in allen fröhlichen Legofarben. Auch ein Bild der Anklage, ein hartes Bild des banalen, erschreckenden und unnötigen Todes. Eine Anklage der europäischen Staaten, die es mit ihrer Einwanderungspolitik in Kauf nehmen, dass jährlich Tausende Flüchtlinge vor Europas Toren buchstäblich stranden, das heißt ertrinken. Erst ein genauer, analysierender Blick und die Kenntnis des politischen Hintergrunds erlauben ein Verständnis des Verweisungscharakters dieses Bildes: ein Verweisungscharakter, der uns alle angeht. Die beiden Schreckensarbeiten von Ai, die man nicht genießen kann, wohl aber wertschätzen und in die man vielleicht sogar aufgehen kann, verweisen auf die alte Frage, ob man Kunstprodukte kontemplieren sollte.

Kunstprodukte kontemplieren? Wenn ich bei Kunstprodukten an »Kontemplation« denke, schwebt mir immer Rembrandts Bild Aristoteles bij de buste van Homerus vor, bekannt geworden als »Aristotle Contemplating the Bust of Homer«, 1653 für die Sammlung des sizilianischen Aristokraten Don Antonio Ruffo gemalt, heute im Metropolitan Museum of Art in New York, eine Auftragsarbeit. Mit einer Medaille seines 264 | Ästhetische Erfahrung III: Emotionen in der Literaturrezeption

Abb. 8:  Ai Weiwei, After the Death of Marat, 2019

Schülers Alexander dem Großen behängt, scheint Aristoteles in dem Bild eine Büste von Homer zu kontemplieren. Aber er kontempliert nicht die Skulptur als Kunstwerk, sondern das, worauf sie verweist: auf die Vergänglichkeit des Ruhms und was es heißt, unsterblich zu sein. Wieder einmal ein Vanitas-Bild. Es verweist die Betrachter/innen implizit auf ihre eigene Vergänglichkeit. In diesem Bild ist der Akt der Kontemplation philosophischer Natur, nicht ästhetischer. In der Kunstgeschichte existieren nicht allzu viele kontemplative Werke wie etwa Mark Rothkos »kontemplative« Farbfelder. Was Rembrandt in seiner Auftragsarbeit höchst ungewöhnlich darstellt, ist ein innerlicher, ein fast statischer Akt der Verneigung vor vergangener Größe – und zugleich eine Befragung der Ruhmesvorstellung. Leider befragt niemand in der zeitgenössischen Ästhetik den Kontemplationsbegriff. Wie selbstverständlich wird im gegenwärtigen ästhetischen Diskurs vom Kontemplieren der Kunstwerke gesprochen, ohne den Begriff in die Zeitumstände einzubetten und ohne ihn in seinem philosophischen Charakter zu hinterfragen. Kontemplation: eine allzu zerebrale, kognitive Tätigkeit. Sie wirkt den ästhetischen Emotionen entgegen und allem, was wir über den emotionalen Zugang zur Kunst, wie hier dargelegt, wissen. Ist ein derart philosophisch-statischer Begriff in der Gegenwart adäquat? Ich meine nein und möchte mich Byung-Chul Han anschließen, der stattdessen von Verweilen spricht – ein entschleunigender Begriff in Zeiten der Digitalen Moderne, ein neutraler Begriff, eher nicht innerlicher Natur. »Die Verdichtung von Ereignissen, Informationen und Bildern macht es unmöglich, zu verweilen. Die rasende Schnittfolge lässt kein kontemplatives Verweilen zu. Die Bilder, die die Netzhaut nur flüchtig streifen, binden die Aufmerksamkeit nicht dauerhaft. Im Gegensatz zu Wissen und Erfahrung im emphatischen Sinne haben Informationen und Erlebnisse keine dauerhafte oder tiefe Wirkung.«167 Hans Begriff des Verweilens beim Kunstwerk, beim langsamen Lesen treffen den notwendigen Umgang mit Kunst genauer als die rein philosophische Kontemplation. Es geht um Kunst, nicht um Philosophie. Noch präziser trifft das Verweilen etwas notwendig Gewordenes im digitalen Zeitalter, nämlich die Ruhe, die man braucht, wenn man sich mit Kunstprodukten auseinandersetzt. Diese Ruhe muss 266 | Ästhetische Erfahrung III: Emotionen in der Literaturrezeption

keineswegs eine hochgestochene Kontemplation darstellen; ein philosophisches und rein kognitives Ideal aus fernen Zeiten.

Kritik der Digitalen Moderne, die Zweite Im Schönheitskapitel kritisierte ich die Digitale Moderne als glatte Oberflächenkultur, die aus der Tendenz zu Kitsch, aus Beschleunigung, Uniformierung und Glamour besteht. Im Rahmen der Interaktion des Selbst mit der Kunst untersuche ich nun dieses Selbst im digitalen Kontext. Denn die jetzige Phase der Moderne, die Digitale Moderne, verändert das Selbst und die Zugangsweisen zur Kunst. Die Digitale Moderne seit ungefähr 1990 gibt auch den neuen, beschleunigten Hintergrund ab für die Kunsterfahrung. Byung-Chul Han nennt die heutige Zeit ein Zeitalter des Schwirrens. Im heutigen »Gefühl des Gehetztseins«, worin sich jeder selbst definiert, lebt man eine »ungerichtete, richtungslose Bewegung …«168 Die Erfahrung der Dauer kommt abhanden, weil die Atomisierung der Beschleunigung das Lebensgefühl in Form des Gehetztseins bestimmt. Dauer aber macht das Leben erfüllter, schreibt Han.169 Der digitale Umgang mit der Welt bestimmt Raum und Zeit, der das digital dominierte Selbst definiert. Die ständig neuen, blitzschnell sich ergebenden Möglichkeiten der digitalen Wahl haben eine diskontinuierliche Zeit zur Folge.170 Da auch die Intervalle wegfallen, entsteht ein ungerichteter Raum, ein Raum, der keine sinnliche Richtung mehr kennt.171 Im richtungslosen Netzraum hat keine Option den Vorrang vor der anderen. Surfen stellt die Gangart des Netzraums dar.172 Das Verweilen entschwindet. Als um 2010 die Smartphones eingeführt wurden, nahmen die Face-to-face-Begegnungen von gleichaltrigen 13- bis 18-Jährigen markant ab. Von einer Zunahme der Einsamkeit berichten Personen, die sich intensiv auf den Social-Media-Plattformen aufhalten. Sie berichten auch über ein schlechteres Allgemeinbefinden, eine verminderte Lebenszufriedenheit, ein vermindertes Selbstwertgefühl und sie offenbaren mehr Angst- und Depressionssymptome.173 Am gefährlichsten scheint mir die Entkoppelung von Emotion und Person, wie auch Bauer kritisiert.174 Wir haben es mit einem neuen Ästhetische Erfahrung III: Emotionen in der Literaturrezeption | 267

Selbst zu tun: mit einem orientierungslosen, gehetzten, unzufriedenen Selbst. Das analoge Selbst hingegen erlebt sich holistisch, kontinuierlich und vertieft strukturiert. Es interpretiert die Welt gerichtet und bemüht sich um synchrones Verhalten gegenüber der Welt. Im Gegensatz dazu erfährt sich das digitale Selbst kompartamentalisiert mit rasch wechselnden persönlichen Bedürfnissen. Das digitale Selbst kann sich tendenziell immer schlechter in einer Mitwelt zurechtfinden, die es immer weniger gestaltet. Momentane Stimuli leiten es.175 Das digitale Selbst fragt sich bei seiner Konsumwahl, ob das Objekt zu ihm passt,176 beim Kunstwerk sowie beim Konsum­artikel. Das Verweilen beim Kunstprodukt kennt das neue digitale Selbst nicht mehr. Die Digitale Moderne führt daher zu einer gewaltigen ästhetischen Verarmung. Die Stille des Verweilens – ein unbekannter und reicher Kontinent. Und so wird jeder ästhetische Theoretiker zu einem Rufer in der digitalen Wüste. Ich glaube, dass man in der Ästhetik das Gefahrenpotenzial der Digitalen Moderne noch nicht voll begriffen hat. Der Digitalen Moderne hat man nur schwächliche Kritik entgegenzusetzen; ein kleiner und vergeblicher Aufruf zum Verweilen bei der Kunst.

Globalästhetik: Ein paar Anmerkungen An dieser Stelle hatte ich vor, die indigene Kunst der Yoruba oder der Benin-Kultur im heutigen Nigeria zu behandeln. Damit wollte ich dem Afrikadefizit dieses Buches ein wenig entgegenwirken. Auch hatte ich selbstverständlich vor, diesen komplexen afrikanischen Kulturen mit Respekt zu begegnen und ihre großartige Kunst zu würdigen. Nach langer Überlegung gelangte ich zu der Überzeugung, dass das ohne ausführliche theoretische und kritische Vorbereitung nicht möglich ist. Diese Vorbereitung würde den Rahmen dieser Schrift sprengen. Die japanische Ästhetik, die ich in den beiden letzten Kapiteln in die ästhetischen Überlegungen integriert habe, wirft für die westliche Ästhetik nicht die Probleme auf wie bei der indigenen Kunst. Japan war nie ein kolonisiertes Land, es liegt daher mit dem Westen auf historischer Augenhöhe. Die japanische Ästhetik ist urjapanisch, aber nicht indigen oder 268 | Ästhetische Erfahrung III: Emotionen in der Literaturrezeption

stammesbezogen. Die japanische Ästhetik drückt sich im Grunde als eine Haltung aus, und indem ich sie auf bestimmte Gebiete angewandt habe, habe ich ihr, wie ich hoffe, größten Respekt gezollt. Bei Kontinenten oder Ländern oder Kulturen, die in den weiten Rahmen des postkolonialen Diskurses fallen, liegt der Fall ganz anders – ein Minenfeld für die westliche Ästhetik. Um die Voraussetzung für eine globale Ästhetik zu schaffen, habe ich mich in dieser Schrift bemüht, aus der normativen westlichen Ästhetik auszubrechen. Elisabeth Burns Coleman, die die westliche Galerien- und Museumskultur mit ihrer Urteilsästhetik kritisiert, beschreibt sie als »a cluster of prescriptions regarding how something should be appreciated …«177 Zumindest habe ich mich bemüht, der proskriptiven Ästhetik mit ihren heute unhaltbaren Idealen Adieu zu sagen, um die Voraussetzung mit anzustoßen für eine wahrhaftige globale Ästhetik. Allerdings genügt ein Wandel in der Ästhetik nicht allein, um eine neue globale Ästhetik zu etablieren. Der neue Ansatz stellt lediglich die Voraussetzung dar. Im Rahmen des postkolonialen Diskurses türmen sich für die westliche Ästhetik weitere Probleme auf: das Perspektivproblem des Westens auf das Andere und Fremde; das ontologische Pro­ blem bei der indigenen »Kunst«; das gewaltige, postkoloniale Aneignungsproblem fremder Kulturen, ein mentales und moralisches Problem; das Zugehörigkeitsproblem der Artefakte in der Kultur selbst; und schließlich das materielle und wieder hochmoralische Problem der Raubkunst bzw. das Restitutionsproblem. Das Perspektivproblem fordert von der westlichen Ästhetik nichts anderes als suji kaete, den Perspektivwechsel, um die Eigen­ art der jeweiligen fremden Kunst gebührend zu würdigen. Wie Rebentisch betont, liegt der Impuls der postkolonialen Herausforderung darin, den westlichen Diskurs zu relativieren in seiner Bedeutung, eventuell sogar zu provinzialisieren und die polyvalente Welt auf einer Stufe zu akzeptieren.178 Die Gegenwartskunst besitzt eine lokale, regionale und internationale Dimension.179 Um fremde oder indigene Objekte wertzuschätzen, muss man unsere eigenen kulturellen Werte überwinden.180 Das verlangt Verständnis für andere Werte und die Teilnahme an dem, was Burns Coleman die »etiquette« der jeweiligen Kultur nennt.181 Man muss sich auch von allen Stereotypen lösen, die man mental-emotional mit Ästhetische Erfahrung III: Emotionen in der Literaturrezeption | 269

sich herumschleppt. Das impliziert weiterhin die Grenzziehung für die (westliche) Neuroästhetik. Die westliche Ästhetik und die Neuroästhetik sind Ästhetik-Theorien der Universalien. Besonders die Neurowissenschaften verfügen über keine validen Aussagen bei unterschiedlichen Kulturen. Ihr Gebiet liegt bei transkulturellen Gehirnfunktionen. Bei der Globalästhetik jedoch geht es gerade um kulturell bedingte Eigenheiten. Das ontologische Problem folgt aus dem Perspektivwechsel: Wie stellt man ohne westliche Bevormundung und ohne das westliche ästhetische Rüstzeug eine ganz andere Kultur dar? Und haben wir es mit »Kunst« zu tun oder sind wir verblendet, wenn wir symbolisch aufgeladene Artefakte indigener Kulturen von außen kommend für die »Kunst« reklamieren möchten? Viele indigene Artefakte sind symbolisch dicht und haben mit Identitäten, kulturellen Praktiken oder kultischen Handlungen zu tun, deren Sinn der Westen schlichtweg nicht versteht.182 Man muss sich in die fremden Objekte und in die gesamte, jeweilige Kultur einfühlen und hineindenken. Damit hängt das umfangreiche Aneignungsproblem (appropriation) des Fremden zusammen. Die vertiefte Debatte darüber hat bereits begonnen. Sie kann nicht anders als ideologiegeladen sein, da es um eine zutiefst moralische Frage geht: Darf man sich andere Kulturen überhaupt aneignen? Verletzt man dabei die Intimität dieser Kultur? Oder verletzt man dabei die Eigentumsrechte dieser Kultur? C. Thi Nguyen und Matthew Strohl argumentieren, dass Besitzrechte zwar nicht verletzt werden – aber die Aneignung verletze die kulturelle Intimität.183 Viele Theoretiker und Theoretikerinnen lehnen appropriation prinzipiell ab, wenn sie ohne Autorisierung geschieht. Doch wer ist befugt, Aneignung zu erlauben, und wer nicht? Damit hängt das Power-Problem zusammen: Eine Aneignung gleich welcher Art darf sich nicht aus neoimperialistischen, aus machtpolitischen Verhältnissen speisen. Machtpolitik kann sich auch finanziell äußern: Die reichen Länder bestimmen durch ihre fehlgeleitete Förderung, welche indigenen Kulturen mit ihren Artefakten oder welche Gegenwartskunst in einem nichtwestlichen Land unterstützt werden soll und welche nicht. Machtverhältnisse, schädliche Präsentationen (was bedeutet »schädlich« und für wen?), ungewollte Stereotypisierung oder gar die unge270 | Ästhetische Erfahrung III: Emotionen in der Literaturrezeption

wollte Herabsetzung anderer Kulturen: all diese Problembereiche komplizieren die Aneignung auf Augenhöhe.184 Das Aneignungsproblem verkompliziert sich weiter durch das Zugehörigkeitsproblem innerhalb der fremden Kultur. Wann gehört eine kulturelle Praxis zu einer Kultur? Wie wird diese Zugehörigkeit definiert, etwa durch bedeutungsvolle Verbindungen zwischen dem Artefakt und der Praxis der jeweiligen Kultur? Joshua Lewis Thomas meint, die symbolische Bedeutung als Zugehörigkeitsmal sei zu eng gefasst.185 Er räumt ein, dass kulturellen Artefakten mehrfache Bedeutungen innewohnen, sodass es ein Festlegungsproblem beim symbolischen Gehalt gibt. Zugehörigkeit heißt: Ein Artefakt muss in bedeutungsvollem Bezug zu einer Kultur stehen, wobei Zugehörigkeit gradueller Natur sein kann. Ein Beispiel: Kilts gehören mehr zur schottischen Kultur als zu jeder anderen. Ruinen einer nicht mehr existenten Kultur gehören zwar zu dieser Nachfolge-Kultur, aber auch zu einer neuen Kultur, die sich (geographisch, kulturell) an diese anschließt wie die alt-/ neu­ägyptische.186 Altägyptische Artefakte, die bei Grabungen geborgen werden, gehören selbstverständlich dem ägyptischen Staat, auch wenn die Deutungshoheit bei den internationalen Ägyptologinnen und Ägyptologen liegt. Damit hängt das Raub- bzw. Restitutionsproblem zusammen. War der Kauf oder der Tausch nachweislich ethisch gerechtfertigt? Wenn nicht, muss die Provenienzforschung ermitteln, und wenn sie nicht fündig wird, muss man von unethischem Tausch oder Kauf oder, wie in den meisten Fällen, von brutalem Raub ausgehen. Das mag zwar kein genuin ästhetisches Problem darstellen, es darf jedoch nicht ignoriert werden, denn geraubte Kunst mit naivem Blick ästhetisch zu behandeln hieße, den Raub gut zu heißen. Es wäre mir unmöglich gewesen, die Benin-Bronzen naiv zu würdigen, ohne ausführlich auf den Raubkontext einzugehen. Eine naive Behandlung, und sei sie noch so positiv, entwertete sich selbst, da sie das Ungleichgewicht zwischen der geraubten Benin-Kunst und den europäischen, räuberischen Kolonialmächten – hier Großbritannien und das deutsche Kaiserreich – fortschriebe. Es fehlte vollkommen an Respekt vor der von Burns Colman genannten »etiquette« der Benin-Kultur; sie würde mit Füßen getreten, eine Bronzekunst, die vom renommiersüchtigen deutschen Kaiserreich Ästhetische Erfahrung III: Emotionen in der Literaturrezeption | 271

von den Briten angekauft wurde, damit das neu entstandene Kaiserreich damit protzen konnte. Bei der Kunst und Literatur, die zur bedeutenden globalen Weltkunst gehört, wäre es hingegen kein Problem, diese darzustellen. Ich erwähnte bereits mehrmals Ai Weiwei, meine aber auch viele, viele andere wie Michael Armitage, die feinsinnige Shirin Neshat, den Nobelpreisträger von 2021, Abdulrazak Gurnah, dessen gelungene Romane als Tragikomödien über das Oszillieren von der alten Heimatkultur in Ostafrika zur neuen im Vereinigten Königreich erzählen. Bei Gurnah brauchen Leserinnen und Leser keine große Leistung zu vollbringen, um die Bedeutung herauszulesen; gerade Gurnah macht es einem leicht, da er den westlichen Romankonventionen augenzwinkernd folgt. Bei indigenen Kulturen und bei der Gegenwartskunst hingegen muss die westliche Ästhetik über den eigenen Schatten springen und einen Mentalitätswandel vollziehen. Ansonsten verlöre sie ihre ohnehin angekratzte Glaubwürdigkeit.

Zur Rekonfiguration ästhetischer Zugänge Die Rekonfiguration der westlichen ästhetischen Perspektive kann man als Forderung verstehen, die sich in den Gesamttenor dieser Schrift einfügt. Sie ist nichts anderes als notwendig für eine genuine Globalästhetik. Ansonsten jedoch rücke ich ab von allen anderen, möglichen Forderungen bei der Ästhetik. Denn der Abschied von der Urteilsästhetik hat gewaltige Folgen für die gesamte Ästhetik der Gegenwart. Der Wegfall der alten Urteilsästhetik des 18. Jahrhunderts eröffnet neue Möglichkeiten für die Subjektivität des Schönheitsempfindens, für die Neurowissenschaften, für die Alltags- und Naturerfahrung und nicht zuletzt für die emotionsdurchtränkte Kunsterfahrung. Sie befreit sich selbst von der Dämonisierung der Emotionen in den christlichen (genauer: pseudochristlichen) Gesellschaften und gewinnt für sich gefühlte ästhetische Zugänge. Die Ästhetik betritt den Bereich der ästhetischen Psychologie und verlässt das morsche Feld der Urteile. Damit eröffnet sich der letzte, äußerste Bereich des Ästhetischen als eine Möglichkeit, nicht mehr: das taufrische Feld der Kunst-als-Trost und das von Kunst-als-Trotz. 272 | Ästhetische Erfahrung III: Emotionen in der Literaturrezeption

Im Kontext der ökologisch sich anbahnenden Katastrophe vermögen es die Künste, unendlich viel Trost spenden. Kunst-als-­Trost bedeutet die Zurückgeworfenheit auf das rezipierende Subjekt, um die Trauer über die Naturzerstörung und das Artensterben ein wenig abzumildern. Natürlich kann man sofort und zu Recht einwenden, die Ausschöpfung des Trostpotenzials der Künste sei schlichtweg Instrumentalisierung der Kunst. Der Einwand ist berechtigt, doch was sind ästhetische Einwände wert, die von einer selbst erhöhten Warte der Moral aus über den anderen ästhetischen Zugang einer Person den Stab bricht, die Kunst als Trost wertschätzt? Wer erlaubt sich, diese Person zu verurteilen? Schon Horaz hat, römisch-utilitaristisch und römisch-hedonistisch, sich einer Lyrik verschrieben, die Nutzen und Freude vereint.187 Lehnt man das Trostpotenzial der Künste gerade in Krisenzeiten ab, macht man sich einmal mehr schuldig, der Rezeption die Regel vorzuschreiben. Kunst-als-Trost ist kein Heilmittel, erst recht kein Allheilmittel. Kunst löst kein einziges Problem. Sie vermag jedoch einen einzelnen Menschen gemäß Schuberts Lied An die Musik (op.  88 Nr.  4) zu trösten: »In wie viel grauen Stunden / … Hast du mein Herz zu warmer Lieb entzunden, / Hast mich in eine bessre Welt entrückt!« Kunst-als-Trost bedeutet keine romantische Flucht vor der Wirklichkeit, keine verspätete Bejahung bildungsbürgerlich-roman­ tischer Ideale. Vielmehr impliziert sie die Affirmation der Humanität in widrigen Zeiten. Sie betont den Wert der Kunstprodukte als der besten Schöpfungen unserer problematischen Spezies. Keine romantische Flucht: Schon allein die Naturästhetik des mono no aware erzwingt den Blick auf die Zerstörungsrealität der Restnatur mit der stummen Aufforderung, alles dagegen zu unternehmen, was die schwächliche Macht eines Individuums oder einer Gruppe durchsetzen kann. Was Guy Debord »die Gesellschaft des Spektakels« der Künste und ihrer Großveranstaltungen nannte, widerspricht dem Trostcharakter. Denn Trost heißt Innerlichkeit, nicht gigantische, gehypte Ausstellungen und Veranstaltungen. Es geht um das stille Verweilen, nicht um den schnellen, oberflächlichen Hype der schick herausstilisierten Kunst-Pseudogenüsse. Rembrandt und Vermeer, zwei Künstler der Innerlichkeit als Spektakel – ein Widerspruch in sich. Ästhetische Erfahrung III: Emotionen in der Literaturrezeption | 273

Die Subjektivität des stillen ästhetischen Verweilens, worin man Trost findet, kann auch als Gegenbild gelesen werden, als GegenBild gegen die eiskalte Durchtechnisierung der Welt, gegen die raumumgreifende Digitalisierung und schließlich als stilles, vergebliches Gegenbild zur Mitweltzerstörung. Im ästhetischen Trost eröffnet sich ein unbesetztes Land, lebt der subjektive Freiraum auf, der sich gegen die Objektivierung sträubt. Kunst-als-Trost, das sei einschränkend deutlich gemacht, kann der ästhetischen Rezeption nur kontingent sein. Zur Ästhetik gehört der ästhetische Trost nicht notwendigerweise. Ich spreche lediglich die subjektiv mögliche Grenzerfahrung an, die man als rezipierendes Subjekt mit der Kunst machen kann, keineswegs machen muss. Da die Krisen sich häufen und die Makrokrise der ökologischen Zerstörung rasch zunehmen wird, wäre es sinnvoll, Kunst-als-Trost in die ästhetisch möglichen Zugänge mit einzubeziehen. Das vielfältige Potenzial der Kunst sollte man ausnutzen, anstatt sogleich mit dem Instrumentalisierungsverbot mahnend zu winken. Nichts in Zeiten der ökologischen Zerstörungen kann für sich reklamieren, heilgeblieben zu sein. Man gebe sich keinen Illusionen hin, indem man in der alten Kunst oder in den alten, gewachsenen Städten wie Venedig, Delft, Amsterdam, Brügge, Heidelberg, Tübingen, Florenz, Rom und Siena ein angeblich vergangenes Heil vor dem geistigen Auge leuchtend aufscheinen lässt, rein und schön und ehrwürdig. Man vergesse nicht: Die früheren Bewohnerinnen und Bewohner der alten Städte waren arm, die meiste Zeit krank, und ihr Leben war kurz und heftig. Ich warne nur von dem angeblich heilen Alten und dem Schwindel, der sich hinter den Fassaden tragisch verbirgt. Nichts ist heil und niemandem und nichts vertraue man als Fluchtburg vor der anrückenden Zerstörung. Man wird, wie bemerkt, ganz auf sich zurückgeworfen. Daher möge man in der Zeitlosigkeit der Kunst ein klein wenig Trost suchen und finden. Wie dieses Kapitel lehrt: Keine Kunsterfahrung ohne Emotionen, und alle Emotionen im Kunstumgang sind legitim. Neben Kunst-als-Trost ergibt sich eine weitere, äußerste Möglichkeit, Kunst zu erfahren, nämlich in der Form von Kunst-alsTrotz. Ein Trotz gegen die Zerstörung von Welt und Mensch lese ich ebenso als Affirmation der Humanität und ihrer bedeutends274 | Ästhetische Erfahrung III: Emotionen in der Literaturrezeption

ten Werke, der Kunstprodukte. Drei aktuelle Beispiele zur Zeit der Niederschrift dieses Manuskripts: In Zeiten des fürchterlichen Angriffskriegs des russischen Diktators Putin gegen die Ukraine statteten ukrainische Künstler und Künstlerinnen ihren Pavillon bei der Venedig-Biennale 2022 aus: gerade jetzt. Im Jahr 2022 wurde das Ukrainian Freedom Orchestra gegründet. Im Juni 2022, mitten im Krieg, eröffnete die Ukraine die schöne alte Oper in Odessa wieder: ein Trotz der Musik gegen Putins Vernichtungsfeldzug. Diese Handlungen beantworten unmittelbar und praktisch die Frage Hölderlins, »wozu Dichter in dürftiger Zeit«.188 In seinem Gedicht Andenken gibt sich Hölderlin selbst die vertiefte und zeitumgreifende Antwort: »Was bleibet aber, stiften die Dichter.«189

Ästhetische Erfahrung III: Emotionen in der Literaturrezeption | 275

ABB ILDUNG EN Abb. 1: Michelangelo Merisi da Caravaggio, The Supper at Emmaus (Das Emmaus-Mahl), 1601, Öl und Tempera auf Leinwand, 196,2 cm × 141 cm, The National Gallery, London. Copyright The National Gallery, London. Abb. 2: Johannes Vermeer, Het melkmeisje (Das Milchmädchen), ca. 1660, Öl auf Leinwand, 45,5 cm × 41 cm, Rijksmuseum Amsterdam. Copyright Rijksmuseum Amsterdam. Abb. 3: Johannes Vermeer »van Delft«, Die Malkunst, 1666/1668, Öl auf Leinwand, 120 cm × 100 cm, Kunsthistorisches Museum Wien, Gemäldegalerie. Copyright KHM-Museumsverband. Abb. 4: Die silberne Tabakdose, Oberseite. Foto Stefanie Gießler, Stuttgart. Abb. 5: Die silberne Tabakdose, Unterseite. Foto Stefanie Gießler, Stuttgart. Abb. 6: Die kannelierte Mokkatasse. Foto Stefanie Gießler, Stuttgart. Abb. 7: Ai Weiwei, Remembering, 2009, 9,005 backpacks, 10 600  cm × 920 cm. Copyright Ai Weiwei Studio. Abb. 8: Ai Weiwei, After The Death of Marat, 2019, LEGO bricks. Copyright Ai Weiwei Studio.

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ANMERKUNG EN

Vorrede: Von den Krisen 1  Immanuel Kant, Kritik der Urteilskraft, Werke Band X, Wiesbaden 1957, §  61, S.  469  ff., B 267 / A 263. 2  David Wallace-Wells, Die unbewohnbare Erde. Leben nach der Erwärmung, München 2019, 22019, S.  30 (The Uninhabitable Earth. Life after Warming, New York 2019). 3  Connor Nolan et al., »Past and Future Global Transformation of Terres­ trial Ecosystems Under Climate Change«, in: Science, 361, no.  6405, August 2018, S.  920  ff. 4  Rupert Read, Samuel Alexander, Diese Zivilisation ist gescheitert. Gespräche über die Klimakrise und die Chance eines Neuanfangs, Hamburg 2020, S.  10 (This Civilisation is Finished. Conversations on the End of Empire – and What Lies Beyond, Melbourne 2019). 5  Ulrich Beck, Weltrisikogesellschaft. Auf der Suche nach der verlorenen Sicherheit, Frankfurt a. M. 2007, 2008, S.  316, Hervorhebung im Original. 6  Ebd., S.  320. 7  Gregory Fuller, Das Ende. Von der heiteren Hoffnungslosigkeit im Angesicht der ökologischen Katastrophe, Zürich 1993; 2., überarbeitete und erweiterte Auflage, Hamburg 2017, S.  19  ff. und aktualisiert S.  87  ff. 8  Siehe Anmerkung 2, Wallace-Wells, a. a . O., ab S.  55  ff. 9  International Panel for Climate Control (IPCC – Weltklimarat), Special Report on the Ocean and Cryosphere in a Changing Climate, Chapter 3 Executive Summary, September 2019, https://www.ipcc.ch/reports. 10  Wallace-Wells, a. a . O., S.  55. 11  IPCC-Report, a. a . O., Summary. 12 Umweltbundesamt, Atmosphärische Treibhausgas-Konzentrationen, 21. 06. 2016, www.umweltbundesamt.de/atmosphaerische-treibhausgas-konzentrationen sowie Fuller, a. a. O., S.  93. 13  Wallace-Wells, a. a . O., S.  117. 14  Harald Welzer, Klimakriege. Wofür im 21. Jahrhundert getötet wird, Frankfurt a. M. 2008. 15  Zweites Deutsches Fernsehen, Nachrichten heute vom 18. 06. 2020. 16 Artenschutz.info, Täglich sterben bis zu 150 Arten aus, www.artenschutz. info/einfuehrung/artensterben.htm sowie Spiegel online Wissenschaft, Jedes

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Jahr verschwinden bis zu 58.000 Arten, www.spiegel.de/wissenschaft/natur/ artensterben-jaehrlich-verschwinden-58-000-tierarten. 17  Jonathan Franzen, Wann hören wir auf, uns etwas vorzumachen?, Hamburg 2020, S.  47 (What if We Stopped Pretending?, am 8. September 2019 in The New Yorker erschienen). 18  Read, Alexander, a. a . O., S.  75. 19  Fuller, a. a . O., S.  42. 20  Ebd., S.  105. 21  Franzen, a. a . O., S.  31/32. 22  Read, Alexander, a. a . O., S.  64. 23  Fuller, a. a . O., S.  72 und 105  f. 24  Pankaj Mishra, Das Zeitalter des Zorns. Eine Geschichte der Gegenwart, Frankfurt a. M. 2017, 32017, S.  21 (Age of Anger. A History of the Present, London 2017). 25  Andreas Reckwitz, Das Ende der Illusionen. Politik, Ökonomie und Kultur in der Spätmoderne, Berlin 2019, S.  9. Anmerkung: Den Begriff »Spätmoderne« halte ich für eine Sackgasse, denn wie will man die Zeit in ca. 30 Jahren nennen? »Spätestmoderne« und noch später »Allerspäteste Moderne«? Ich habe mich im Kapitel »Die Rückkehr der Schönheit« daher für den Begriff »Digitale Moderne« entschieden, der die heutige Periode konstruktiv und aussagekräftig, wenn auch nicht vollständig charakterisiert. 26  Ebd., S.  17 und 138 sowie Jean Fourastié, Les Trentes Glorieuses, ou la révolution invisible de 1946 à 1975, Paris 1979. 27  Marcus Jauer, »Wird schon gut gehen, oder? Warum Vertrauen gerade in einer Zeit so wichtig ist, in der alles auf Wissen und Kontrolle beruht«, in: DIE ZEIT, Dossier-Teil, 28. Mai 2020, Nr. 23, S.  13–15; Zitat S.  15. 28  Philipp Blom, Was auf dem Spiel steht, München 2017, S.  190. 29  Jutta Allmendinger, Otfried Jarren, Christine Kaufmann, Hanspeter Kriesi, Dorothea Kübler, Zeitenwende. Kurze Antworten auf große Fragen der Gegenwart, Zürich 2019, S.  58; hybride Demokratien seien Russland, Ukraine, Kosovo. 30  Ebd., S.  59–61. 31  Mishra, a. a . O., S.  155. 32  Ebd., S.  140  ff. 33  V. S.  Naipaul, The Mimic Men, London 1967. 34  Reckwitz, a. a . O., S.  19. 35  Ebd., S.  66. 36  Ebd., S.  74. 37  Ebd., S.  85  ff. 38  Ebd., S.  93. 39  Ebd., S.  97–100. 40  Ebd., S.  100. 41  Ebd., S.  102  ff. 278 | Anmerkungen

42 

Ebd., S.  123. Ebd., S.  204. 44  Ebd., S.  20. 45  Ebd., S.  21, 23. 46  Ebd., S.  210. 47  Ebd., S.  217. 48  Mishra, a. a . O., S.  22. 49  Reckwitz, a. a . O., S.  29  ff. 50  Ebd., S.  36. 51  Ebd., S.  53. 52  Ebd., S.  43/44. 53  Blom, a. a . O., S.  51. 54  Reckwitz, a. a . O., S.  45. 55  DIE ZEIT, Dossier-Teil, 27. Februar 2020, Nr. 10, S.  15–17. 56  Reckwitz, a. a . O., S.  54. 57  Ebd., S.  54. 43 

Keine ästhetische Krise 1  Kendall Walton, »Aesthetics – What? Why? And Wherefore?«, in: The Journal of Aesthetics and Art Criticism (in der Folge: JAAC), Vol. 65, Issue 2, Spring 2007, S.  149. 2  Ebd., S.  150. 3  Ebd., S.  153. 4  Zum Beispiel: Adam Müller, Von der Idee der Schönheit, 1807/1808 (Vorlesungen), Kritische Ausgabe Band 2, Neuwied und Berlin 1967; Friedrich Schiller, Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen, Stuttgart 2000, 2005: Durch Schönheit soll der Mensch von der »Rohigkeit« und »Erschlaffung« zurückgeführt werden (S.  38). 5  Zum Beispiel: Karl Marx, Friedrich Engels, Über Kunst und Literatur, Zwei Bände, Berlin 1967; Moissej Kagan, Vorlesungen zur marxistisch-leninistischen Ästhetik, München 1974; oder als allgemeine mimetische Theorie: Erich Auerbach, Mimesis: Dargestellte Wirklichkeit in der abendländischen Literatur, Bern 1946. 6 Aristoteles, Poetik, Stuttgart 1969, S.  30  ff. 7 Horaz, Ars poetica, in: Aristotle, Horace, Longinus – Classical Literary Criticism, Harmondsworth (Middlesex) 1965, S.  90/91. 8  Jean Paul, Vorschule der Ästhetik (1804), Werke Band 5, Darmstadt 1963, 1967. 9  Santiago Zabala, Why Only Art Can Save Us. Aesthetics and the Absence of Emergency, New York 2017, S.  11. 10  Ebd., S.  113.

Anmerkungen | 279

11  Umberto Eco, Das offene Kunstwerk, Frankfurt a. M. 1973, S.  27 (Opera aperta, Milano 1962, 1967). 12  Stanley Fish, »Consequences«, in: (Hrsg.) W. J. T. Mitchell, Against Theory, Chicago 1985, S.  110. 13  Rüdiger Bubner, »Über einige Bedingungen gegenwärtiger Ästhetik«, in: Neue Hefte für Philosophie, Heft 5, 1973, S.  40. 14  R. G. Collingwood, The Principles of Art, Oxford 1938, 1960, S.  2 88. 15  Ebd., S.  289. 16  Helmut Kuhn, Wesen und Wirken des Kunstwerks (1960), Mittenwald 21979, S.  7  ff. Das »Wesen« eines Kunstwerks verzahnte Kuhn eng mit dem heute überholten »Werkbegriff«. 17 Martin Heidegger, »Der Ursprung des Kunstwerkes«, in: Holzwege (1936), Frankfurt a. M. 1950, und darin »Wozu Dichter?«, S.  252. 18  John Hospers, Meaning and Truth in the Arts, Chapel Hill 1946, S.  158. 19  Käte Hamburger, Wahrheit und ästhetische Wahrheit, Stuttgart 1979, S.  47. 20  Ebd., S.  104, 112. 21  Ebd., S.  137. 22  Ebd., S.  138. 23  Carol Donnell-Kofrozo, »Representation and Expression: a False Antinomy«, in: JAAC, Vol. 39, Issue 2, Winter 1980, S.  168. 24 Rüdiger Bubner, »Moderne Ersatzfunktionen des Ästhetischen«, in: Merkur. Deutsche Zeitschrift für europäisches Denken, 40. Jahrgang, Heft 2, 1986, S.  98. 25  Hans-Georg Gadamer, Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik (1960), Tübingen 31972, insbesondere die »Wiedergewinnung der Frage nach der Wahrheit der Kunst«, S.  7 7  ff. Kunst sei eine »Erkenntnisweise besonderer Art« (S.  93). Aus der Kunst spreche »eine überlegene Wahrheit« (S.  107), sie sei eine »Erkenntnis des Wesens.« (S.  109). 26  Gregory Fuller, »Das Versagen der monokausalen Kunsterklärung«, in: Philosophischer Literaturanzeiger, Band 33, Heft 2, April–Juni 1980, S.  167  ff. 27  Max Dessoir (Max Dessauer), Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft, in den Grundzügen, Stuttgart 1923, 31923, S.  61, Hervorhebung im Original. 28  Morris Weitz, »The Role of Theory in Aesthetics«, in: (Hrsg.) Joseph Margolis, Philosophy Looks at the Arts. Contemporary Readings in Aesthetics, Philadelphia 1978 (Revised Edition), S.  122; der Aufsatz erschien zuerst unter dem gleichnamigen Titel in JAAC, Vol. 15, Issue 1, September 1956, S.  27–35. 29  Weitz in (Hrsg.) Margolis, a. a . O., S.  1 25. 30  Ebd., S.  126. 31  Nelson Goodman, »Reality Remade«, in: ebd., S.  226. 32  Franz Koppe, Grundbegriffe der Ästhetik, Frankfurt a. M. 1983, S.  29.

280 | Anmerkungen

33  Georg Lukács, Ästhetik. In vier Teilen. Erster Teil, Neuwied und Berlin 1963, 1972, S.  13  ff. 34  Koppe, a. a . O., S.  62. 35  Ebd., S.  66/67. 36  Ebd., S.  69. 37  Ebd., S.  76; Ernst Bloch, Das Prinzip Hoffnung in drei Bänden, Frankfurt a. M. 1959, 1967, Vierter Teil, Dargestellte Wunschlandschaft in Malerei, Oper, Dichtung, S.  929  ff. 38  Franz Koppe, »Mimetischer Schein, imaginärer Schein, schöner Schein – und was davon übrigbleibt«, in: (Hrsg.) Willi Oelmüller, Kolloquium Kunst und Philosophie 2. Ästhetischer Schein, Paderborn / München / Wien / Zürich 1982, S.  126. 39  Walther Ch. Zimmerli, »›Alles ist Schein‹«, in: ebd., S.  1 47  ff. und ders., »Universalisierung des Scheins als Prinzip entgrenzter Ästhetik«, in: ebd., S.  247  ff. 40  Ebd., in einer Entgegnung von Koppe, S.  265. 41  »Richard Kuhns Psychoanalytische Theorie als Kunstphilosophie«, in: (Hrsg.) Dieter Henrich, Wolfgang Iser, Theorien der Kunst, Frankfurt a. M. 1982, S.  179  ff. 42  Milton C. Nahm, »The Philosophy of Aesthetic Expression«, in: JAAC, Vol. 13, Issue 4, June 1955, S.  458. 43  Christoph Menke, Die Kraft der Kunst, Frankfurt a. M. 2013, 2 2013, S.  9. Eine weitere reduktionistische Theorie: Gernot Böhme, Atmosphäre. Essays zur neuen Ästhetik, Frankfurt a. M. 1995, 72013, S.  21  ff. Die ästhetische Arbeit »…  w ird allgemein bestimmt als Produktion von Atmosphären und reicht insofern von der Kosmetik über Werbung, Innenarchitektur, Bühnenbildnerei bis zur Kunst im eigentlichen Sinne.« (S.  25). Es mag durchaus zutreffen, dass es »Atmosphären« im Design und in der Kunst gibt, zum Beispiel im Bühnenraum oder in Landschaftsdarstellungen oder bei Installationen, etwa bei Dan Flavins Lichtinstallationen. Aber ein einziger Grundbegriff (S.  21) wird ebenso wenig die Ästhetik-Diskussion voranbringen wie Menkes »Kraft«. Mit einer monobegrifflichen Ästhetik ist diese nicht gerüstet, den zeitgenössischen ästhetischen Herausforderungen und Problemen zu begegnen. 44  Menke, a. a . O., S.  12. 45  Ebd., S.  13. 46  Ebd., S.  14. 47  Ernst Kris, Otto Kurz, Die Legende vom Künstler. Ein geschichtlicher Versuch (Wien 1934), New Haven CT 1979, Frankfurt a. M. 1980, S.  37  ff. 48  Menke, a. a . O., S.  13. 49 Frank Fehrenbach, Robert Felfe, Karin Leonhard, »Die Kräfte der Künste. Zur Einleitung«, S.  ix, in: (Hrsg.) Frank Fehrenbach, Robert Felfe, Karin Leonhard, Kraft, Intensität, Energie. Zur Dynamik der Kunst, Berlin / Boston 2018.

Anmerkungen | 281

50  Wassily Kandinsky, Über das Geistige in der Kunst (1911/12), Bern / Sulgen / Zürich 32004, 2009, S.  136. 51  Ebd., S.  138. 52  Ebd., S.  1 47. Im Original ist »Epoche des großen Geistigen« hervorgehoben. 53  Hans Ulrich Gumbrecht, »Epiphanien«, in: (Hrsg.) Joachim Küpper, Christoph Menke, Dimensionen ästhetischer Erfahrung, Frankfurt a. M. 2003, S.  212. 54  Ebd., S.  215. 55  Bazon Brock, Ästhetik als Vermittlung. Arbeitsbiographie eines Generalisten, Köln 1977, S.  185. 56 Rüdiger Bubner, »Moderne Ersatzfunktionen des Ästhetischen«, in: Merkur, a. a. O., S.  94–96. 57  Ebd., S.  96. 58  Ebd., S.  97. 59  Harold Bloom, Die Kunst der Lektüre. Wie und warum wir lesen sollten, München 2000 und Richard Rorty, »Der Roman als Mittel zur Erlösung aus der Selbstbezogenheit«, in: (Hrsg.) Küpper, Menke, a. a. O., S.  49  ff. 60  Rorty in ebd., S.  57. 61  Ebd., S.  57. 62  Ebd., S.  58/59. 63  Ebd., S.  59. 64  Bence Nanay, Aesthetics. A Very Short Introduction, Oxford 2019, S.  2–4. 65  Ebd., S.  3. 66  Ebd., S.  8. 67  Michel de Montaigne, Essais, »Über die Eitelkeit«, Band III, Frankfurt a. M. 1998, S.  475. 68  George Dickie, Art and the Aesthetic, Ithaca / London 1974, S.  34. 69  Ebd., S.  147. 70  Arthur C. Danto, The Transfiguration of the Commonplace, Cambridge MA / London 1981, S.  83. 71  Ebd., S.  99, 135. 72  Ebd., S.  135. 73  Ebd., S.  175. 74  Monika Leisch-Kiesl, Susanne Winder, »Die ›Entgrenzung des Ästhetischen‹ und die Kunstwissenschaft«, in: (Hrsg.) Monika Leisch-Kiesl, Max Gottschlich, Susanne Winder, Ästhetische Kategorien. Perspektiven der Kunstwissenschaft und der Philosophie, Bielefeld 2017, S.  50/51. 75  Nanay, a. a . O., S.  83. 76  Reckwitz, a. a . O., S.  141/142. 77  Ebd., S.  178. 78  Ebd., S.  179/180. 79  Ebd., S.  181.

282 | Anmerkungen

80 

Ebd., S.  187/188. Ebd., S.  189/190. 82  Ebd., S.  190. 83 Ebd. 84  Kathleen Marie Higgins, »Global Aesthetics – What Can We Do?«, in: JAAC, Vol. 75, Issue 4, Fall 2017, S.  339. 85  Nanay, a. a . O., S.  86. 86  JAAC, Vol. 65, Issue 1, Winter 2007, »Special Issue: Global Theories of the Arts and Aesthetics«, (Hrsg.) Susan L. Feagin, Philadelphia 2007. 87  Susan L. Feagin, »Introduction«, in: ebd., S.  2. 88  Ebd., S.  4 . Hervorhebung im Original. 89  Noël Carroll, »Art and Globalization: Then and Now«, in: ebd., S.  132. 90  François Jullien, Die Affenbrücke, Wien 2011, 2 2012, S.  1 2. (Le pont des singes. De la diversité à venir. Fécondité culturelle face à identité nationale, Paris 2010). 91  Ebd., S.  13. 92  Ebd., S.  17. 93  Ebd., S.  53. 94  Ebd., S.  70. 95  Ebd., S.  71. 96 Ebd. 97  Ebd., S.  73. 98  Ebd., S.  75. 99  Ebd., S.  77. 100  Michael Rings, »Aesthetic Cosmopolitanism and the Challenge of the Exotic«, in: JAAC, Vol. 59, Issue 2, April 2019, S.  161–178. 101  Higgins, »Global Aesthetics …« in: JAAC, a. a . O., S.  339–349. 102  Nanay, a. a . O., S.  40. 103  Kathleen Marie Higgins, »An Alchemy of Emotion: Rasa and Aesthetic Breakthrough«, in: JAAC, Special Issue 2007, S.  4 4. 104  Ebd., S.  44/45. 105  Nanay, a. a . O., S.  40. 106  Higgins, »An Alchemy of Emotion …«, in: JAAC, Special Issue 2007, S.  45. 107  Ebd., S.  45. 108  Susan Pratt Walton, »Aesthetic and Spiritual Correlations in Javanese Gamelan Music«, in: ebd., S.  33. 109  Stephen Davies, »Balinese Aesthetics«, in: ebd., S.  21. 110  Ebd., S.  21. 111 Ebd. 112  Ebd., S.  24. 113  Jale Nejdet Erzen, »Islamic Aesthetics: An Alternative Way to Knowledge«, in: ebd., S.  70. 81 

Anmerkungen | 283

114 

Ebd., S.  70.

115 Ebd. 116 Ebd. 117 

Ebd., S.  70–72. Ebd., S.  71. 119  Eric C. Mullis, »The Ethics of Confucian Artistry«, in: ebd., S.  99–101. 120  Ebd., S.  102/103. 121  Yuriko Saito, »The Moral Dimension of Japanese Aesthetics«, in: ebd., S.  85  f., Fußnote 2 auf S.  94. 122  Ebd., S.  86. 123  Ebd., S.  88. 124  Ebd., S.  89. 125  Ebd., S.  91. 126  Daniel Wilson, »The Japanese Tea Ceremony and Pancultural Definitions of Art«, in: JAAC, Vol. 76, Issue 1, Winter 2018, S.  21–31. 127  Saito, »The Moral Dimension …«, in: JAAC, Special Issue 2007, S.  86. 128  David Fopp, »Ästhetik im Zeitalter der Globalisierung. Kunsttheoretische Überlegungen im Anschluss an Juliane Rebentischs Theorien der Gegenwartskunst«, in: Zeitschrift für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft (in der Folge: ZAAK), Band 64, Heft 2, 2019, S.  315. 129  Ebd., S.  315. 130  Walter Abell, »Toward a Unified Field of Aesthetics«, in: (Hrsg.) Morris Philipson, Aesthetics Today, New York 1961, 7 1971, S.  432  f., 434. 131  Jean-Paul Sartre, Der Idiot der Familie. Gustave Flaubert 1821 bis 1857, 1. Teil (La Constitution), Reinbek bei Hamburg 1977, S.  7  ff. (L’idiot de la famille. Gustave Flaubert 1821 à 1857, Paris 1971). 118 

Empirische Ästhetik 1  Nicholas J. Bullot, William P. Seeley, Stephen Davies, »Art and Science: A Philosophical Sketch of Their Historical Complexity and Codependence«, in: JAAC, Vol. 75, Issue 4, Fall 2017, S.  453–463. 2  Gregory J. Feist, »An Evolutionary Model of Artistic and Musical Creativity«, in: (Hrsg.) Colin Martindale, Paul Locher, Vladimir P. Petrov, Evolutionary and Neurocognitive Approaches to Aesthetics, Creativity, and the Arts, Amityville (New York) 2007, S.  15/16. 3  Denis Dutton, The Art Instinct. Beauty, Pleasure, and Human Evolution, New York / Berlin / London 2009, S.  15, 21. 4  Geoffrey Miller, The Mating Mind: How Sexual Choice Shaped the Evolution of Human Nature, New York 2000; Steven Pinker, How the Mind Works, New York 1997.

284 | Anmerkungen

5  Joseph Carroll, »The Adaptive Function of Literature«, in: (Hrsg.) Mar­ tin­dale et al., a. a. O., S.  31. 6  Henrik Høgh-Olesen, The Aesthetic Animal, New York / Oxford 2019, S.  65. 7  Ebd., S.  77  ff. 8  Anjan Chatterjee, The Aesthetic Brain. How We Evolved to Desire Beauty and Enjoy Art, Oxford 2014, 2015, S.  3–7, 17  ff., 37  ff. 9  Catherine Wilson, »Another Darwinian Aesthetics«, in: JAAC, Vol. 74, Issue 3, 2016, S.  237–252. 10  Alfred Russel Wallace, The Malay Archipelago: The Land of Orang-utan and the Bird of Paradise; A Narrative of Travel, with Studies of Man and Nature, (1877), London / New York 62007, S.  294, 295. 11  Wilson in JAAC, 74, a. a . O., III. 12  Ebd., IV. und Richard O. Plum, »Aesthetic Evolution by Mate Choice: Darwin’s Really Dangerous Idea«, in: Philosophical Transactions of the Royal Society, Issue 1600, B 367, August 2012, https://doi.org./10.1098/rstb.2011.0285 13  Charles Darwin, The Descent of Man, and Selection in Relation to Sex, (1871, 21879), London 2004, Part II, Chapter 13, S.  408. 14  Ebd., Part III, Chapter 19, S.  629 und Chapter 19, S.  640. 15  Winfried Menninghaus, Wozu Kunst? Ästhetik nach Darwin, Berlin 2011, S.  141. Menninghaus lieferte hier eine glänzende Darstellung von Darwins Theorie im Kunstkontext, S.  31–111, sowie eine gründliche Kritik an der neodarwinistischen Ästhetik. 16  Ebd., S.  145 17  Ebd., S.  145. 18  Winfried Menninghaus, Das Versprechen der Schönheit, Frankfurt a. M. 2003, 2007, S.  230. 19  Ebd., S.  230. 20 Menninghaus, Wozu Kunst? …, a. a . O., S.  141/142. 21 Menninghaus, Das Versprechen der Schönheit, a. a . O., S.  196. 22  Ebd., S.  197. 23  Carroll, »The Adaptive Function of Literature«, in: (Hrsg.) Martindale et al., a. a. O., S.  33. 24 Menninghaus, Wozu Kunst? …, a. a . O., S.  130. 25  G. Gabrielle Starr, Feeling Beauty. The Neuroscience of Aesthetic Experience, Cambridge MA / London 2013, 2015, S.  27. 26  Eveline Seghers, »The Artful Mind: A Critical Review of the Evolutionary Psychological Study of Art«, in: The British Journal of Aesthetics (in der Folge: BJA), Vol. 55, Issue 2, April 2015, S.  225–248, Punkt 4. 27  Ebd., Punkt 4. 28 Menninghaus, Das Versprechen der Schönheit, a. a . O., S.  129, 135. 29  Chatterjee, a. a . O., S.  xxii. 30 Menninghaus, Das Versprechen der Schönheit, a. a . O., S.  230/231.

Anmerkungen | 285

Seghers, »The Artful Mind …«, in: BJA, a. a. O., Punkt 4. Wozu Kunst? …, a. a. O., S.  273. 33  Ebd., S.  256. 34  Ebd., S.  257. 35  Helmut Leder, Gernot Gerger, David Brieber, »Aesthetic Appreciation: Convergence from Experimental Aesthetics and Physiology«, in: (Hrsg.) Joseph P. Huston, Marcos Nadal, Francisco Mora, Luigi F. Agnati, Camilo J. Cela-Conde, Art, Aesthetics and the Brain, Oxford 2015, 2019, S.  59. 36  Francisco Mora, »Neuroculture: A New Cultural Revolution?«, in: ebd., S.  7. 37  Ebd., S.  13. 38  Eric Kandel, Das Zeitalter der Erkenntnis. Die Erforschung des Unbewussten in Kunst, Geist und Gehirn von der Wiener Moderne bis heute, München 2012, 2014, S.  268  ff. (The Age of Insight. The Quest to Understand the Unconscious in Art, Mind and Brain from Vienna 1900 to the Present, New York 2012). 39  Ebd., S.  269. 40  Ebd., S.  270. 41  Ebd., S.  270, 272. 42  Ebd., S.  272. 43 Ebd. 44  Ebd., S.  274. 45  Ebd., S.  273. 46  Ebd., S.  358. 47  Ebd., S.  433. 48  Ebd., S.  492. 49  Ebd., S.  491, 499–501. 50  Ebd., S.  503/504. 51  Jan A. Fischer, Über die Wahrnehmung von Kunst im Gehirn, Zürich 2016, S.  28. 52  Ebd., S.  28. 53  Ebd., S.  66. 54  Jesse Prinz, »Seeing with Feeling«, in: (Hrsg.) Greg Currie, Matthew Kieran, Aaron Meskin, Jon Robson, Aesthetics and Sciences of the Mind, Oxford / New York 2014, S.  149. 55  K. Gasper, G. L. Clore, »Attending the Big Picture: Mood and Global versus Local Processing of Visual Information«, in: Psychological Science, 13, 2002, S.  33  ff. 56  E. A. Phelps, S.  L ing, M. Carrasco, »Emotion Facilitates Perception and Potentiates the Perceptual Benefits of Attention«, in: Psychological Science, 17, 2006, S.  292  ff. 57  Peter A. Bos, Eddie Brummelman, David Terburg, »Cognition as the Tip 31 

32 Menninghaus,

286 | Anmerkungen

of the Emotional Iceberg: A Neuro-evolutionary Perspective«, in: Behavioral and Brain Sciences, Vol. 38, January 2015, p N. Pag-00.1 p. 58  Starr, a. a . O., S.  36. 59  Arthur P. Shimamura, Experiencing Art. In the Brain of the Beholder, Oxford / New York 2013, S.  188. 60  Jesse Prinz, »Emotion and Aesthetic Value«, in: (Hrsg.) Elisabeth Schellekens, Peter Goldie, The Aesthetic Mind. Philosophy and Psychology, Oxford / New York 2011, 2014, S.  75. 61  Starr, a. a . O., S.  41. 62  Noël Carroll, »The Arts, Emotion, and Evolution«, in: (Hrsg.) Currie et al., a. a. O., S.  164. 63  Ebd., S.  167. 64  David S.  M iall, »Enacting the Other: Towards an Aesthetics of Feeling in Literary Reading«, in: (Hrsg.) Schellekens, et al., a. a. O., S.  286, 291. 65  William Forde Thompson, Lena Quinto, »Music and Emotion: Psychological Considerations«, in: ebd., S.  360/361. 66  Kandel, a. a . O., S.  404–411. 67  Starr, a. a . O., S.  4 2. (Experimentell nachgewiesen in Edward A. Vessel, G. Gabrielle Starr, Nava Rubin, »The Brain on Art: Intense Aesthetic Experience Activates the Default Mode Network«, in: Frontiers in Human Neuroscience, 6, no. 66, 2012.) 68  Starr, a. a . O., S.  54. 69  Prinz, »Emotion and Aesthetic Value«, in: (Hrsg.) Schellekens et al., a. a. O., S.  80. 70  Ebd., S.  74. 71  Starr, a. a . O., S.  46/47. 72  Shimamura, a. a . O., S.  190 und Paul B. Armstrong, How Literature Plays with the Brain. The Neuroscience of Reading and Art, Baltimore 2013, 2014, S.  50. 73  Ebd., S.  50. 74  Starr, a. a . O., S.  61. 75  Shimamura, a. a . O., S.  190. 76  Kandel, a. a . O., S.  491. 77  Armstrong, a. a . O., S.  50. 78  Starr, a. a . O., S.  63/64. 79  Semir Zeki, Glanz und Elend des Gehirns. Neurobiologie im Spiegel von Kunst, Musik und Literatur, München 2010, S.  33 (Splendors and Miseries of the Brain. Love, Creativity, and the Quest for Human Happiness, London 2009). 80  Ebd., S.  60. 81  Starr, a. a . O., S.  53. 82  Luigi F. Agnati, Diego Guidolin, Kjell Fuxe, »Art as a Human ›Instinct-

Anmerkungen | 287

like‹ Behavior Emerging from the Exaptation of the Communication Processes«, in: (Hrsg.) Huston et al., a. a. O., S.  435. 83  Armstrong, a. a . O., S.  42. 84  Ebd., S.  43. 85  William P. Seeley, »Art, Meaning, and Aesthetics: The Case for a Cognitive Neuroscience of Art«, in: (Hrsg.) Huston et al., a. a. O., S.  33/34. 86  Shimamura, a. a . O., S.  191. 87  Prinz, »Seeing with Feeling«, in: (Hrsg.) Currie et al., a. a . O., S.  1 43  ff. 88  Ebd., S.  150/151. 89  Starr, a. a . O., S.  66. 90  Ebd., S.  149. 91  Zeki, a. a . O., S.  97. 92  Ebd., S.  101  ff. 93  Armstrong, a. a . O., S.  3. 94  Shinobu Kitayama, Jiyoung Park, »Cultural Neuroscience of the Self: Understanding the Social Grounding of the Brain«, in: Social Cognitive and Affective Neurosciences, Vol. 5, Issue 2/3, June 2010, o. Seitenangabe. 95 Francisco Mora, »Neuroculture: A New Cultural Revolution?«, in: (Hrsg.) Huston et al., a. a. O., S.  7. 96  Elisabeth Schellekens, »Experiencing the Aesthetic: Kantian Autonomy or Evolutionary Biology?«, in: (Hrsg.) Schellekens et al., a. a. O., S.  233. 97  Bullot et al., »Art and Science …«, in: JAAC, Vol. 75/4, a. a . O., S.  453–463. 98 Patrick Maynard, »›Neuroaesthetics‹, Gombrich and Depiction«, in: BJA, Vol. 56, Issue 2, April 2016, S.  191–201. 99  I. C. McManus, »Beauty is Instinctive Feeling: Experimenting on Aes­ thetics and Art«, in: (Hrsg.) Schellekens et al., a. a. O., S.  171. 100  Agnati et al., »Art as a Human …«, in: (Hrsg.) Huston et al., a. a . O., S.  435. 101  Armstrong, a. a . O., S.  4. 102  Anjan Chatterjee, »The Neuropsychology of Visual Art«, in: (Hrsg.) Huston et al., a. a. O., S.  343. 103  Ebd., S.  343. 104  Anne Hamker, »Irrungen und Wirrungen. Theorie und Praxis der experimentellen Ästhetik«, in: Zeitschrift für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft, Band 57, Heft 2, 2012, S.  284. 105  Schellekens, »Experiencing the Aesthetic  …«, in: (Hrsg.) Schellekens et al., a. a. O., S.  226. 106  Armstrong, a. a . O., S.  6. 107  Ebd., S.  7. 108  Roman Frigg, Catherine Howard, »Fact and Fiction in the Neuropsychology of Art«, in: (Hrsg.) Schellekens et al., a. a. O., S.  65. 109  Gesche Westphal-Fitch, W. Tecumseh Fitch, »Towards a Comparative Approach to Empirical Aesthetics«, in: (Hrsg.) Huston, et al., a. a. O., S.  385. 110  Seeley, »Art, meaning, and Aesthetics  …«, in: ebd., S.  4 8. 288 | Anmerkungen

111 

Leder at al., »Aesthetic Appreciation  …«, in: ebd., S.  7 1. Ebd., S.  72. 113 Ebd. 114  Ebd., S.  73. 115  D. E. Berlyne, »Novelty, Complexity, and Hedonic Value«, in: Attention, Perception, and Psychophysics, 8, no. 5, 1970, S.  279  ff. 116  Starr, a. a . O., S.  120. 117  Max-Planck-Institut für empirische Ästhetik (in der Folge: MPI), Research Report 2017/2018, Frankfurt a. M. 2019, S.  42. 118  Raphael Rosenberg, Christoph Klein, »The Moving Eye of the Beholder: Eyetracking and the Perception of Paintings«, in: (Hrsg.) Huston et al., a. a. O., S.  85, 91. 119  MPI, a. a . O., S.  20–22. 120  Ebd., S.  22. 121  Tom Vanderbilt, Geschmack. Warum wir mögen, was wir mögen, München 2016., S.  182 (You May Also Like, New York 2016). 122  Ebd., S.  182. 123  MPI, a. a . O., S.  26/27. 124  Ebd., S.  62. 125 Westphal-Fitch et al., »Towards a Comparative Approach   …«, in: (Hrsg.) Huston et al., a. a. O., S.  385. 126  Vanderbilt, a. a . O., S.  196–198. 127  Pierre Bourdieu, Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft, Frankfurt a. M. 1982 (La distinction. Critique sociale du jugement, Paris 1979) und Reckwitz, a. a. O., S.  29  ff. 128  Fabian Dorsch, »The Limits of Aesthetic Empiricism«, in: (Hrsg.) Currie et al., a. a. O., S.  95. 129  Ebd., S.  80, 83. 130  Geoffrey West, Scale. The Universal Laws of Growth, Innovation, Sustainability, and the Pace of Life in Organisms, Cities, Economies, and Companies, New York 2017 (Deutsch: Scale: Die universalen Gesetze des Lebens von Organismen, Städten und Unternehmen, München 2019). 131  Carlos Spoerhase, »Skalierung. Ein ästhetischer Grundbegriff der Gegenwart«, in: (Hrsg.) Carlos Spoerhase, Steffen Sigel, Nikolaus Wegmann, Ästhetik der Skalierung, Sonderheft 18 der Zeitschrift für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft, Hamburg 2020, S.  5. 132  Ebd., S.  10. 133  Ebd., S.  6. 134  Ebd., S.  7/8. 135  Ebd., S.  10. 136  Ebd., S.  11/12. 137  Ebd. S.  9. 112 

Anmerkungen | 289

138  Nicola Glaubitz, »Lang oder überlang? Zu Ästhetik und Pragmatik komplexer anglophoner Langromane der Gegenwart«, in: ebd., S.  58  f., 63. 139  Benjamin Krautter, Marcus Willand, »Close, Distant, Scalable. Skalierende Textpraktiken in der Literaturwissenschaft und den Digital Humanities«, in: ebd., S.  79, 87. 140  Andrew Fisher, »Der fotografische Maßstab«, in: ebd., S.  102. 141  Steffen Sigel, »Jeff Wall und das Politische. Zur Gegenwart des fotografischen Großtableaus«, in: ebd., S.  122, 126. 142  Marc Ries, »Figurationen der Schrift im öffentlichen Raum. Jenny Holzers infame Kunst der Skalierung«, in: ebd., S.  135  f., 138.

Götterdämmerung des ästhetischen Urteils 1  Kendall L. Walton, Marvelous Images. On Values and the Arts, Oxford / New York 2008, S.  4. 2  Ebd., S.  1 2. Zu appreciation siehe auch Dominic McIver Lopes, Being for Beauty. Aesthetic Agency and Value, Oxford / New York 2018, S.  33. 3  Walton, a. a . O., S.  14. 4  Ebd., S.  17. 5  James Shelley, »The Default Theory of Aesthetic Value«, in: BJA, Vol. 59, Issue 1, January 2019, S.  1–12, Punkt 1. 6  Ebd., Punkt 3. 7  McIver Lopes, a. a . O., S.  34. 8  Rafe McGregor, The Value of Literature, London / New York 2016, 2018, S.  6/7. Auf die Unterscheidung von intrinsischem Wert und finalem Wert, die für McIver Lopes bedeutsam ist, gehe ich hier nicht ein (McIver Lopes, a. a. O., S.  55/56). 9  Mohan Matthen, »Art Forms Emerging: An Approach to Evaluative Diversity in Art«, in: JAAC, Vol. 78, Issue 3, Summer 2020, S.  308–318, Punkt I, 1. 10  Ebd., Punkt I, 2. 11  Roman Ingarden, Vom Erkennen des literarischen Kunstwerks, Tübingen 1968, S.  215. 12  Ebd., S.  215. 13  Alan H. Goldman, »The Experiental Account of Aesthetic Value«, in: JAAC, Vol. 64, Issue 3, Summer 2006, S.  333. 14  Ebd., S.  333. 15  Wolfgang Iser, The Range of Interpretation, New York 2000, S.  7. 16  Ebd., S.  28  ff. 17  Ebd., S.  33. 18  Ebd., S.  41  ff. 19  Ebd., S.  45. 20  Matthen in JAAC, a. a . O., Punkt 1, 2.

290 | Anmerkungen

21 

Ebd., Punkt I, 2. Ebd., Punkt II. 23  Ebd., Punkt III. 24  McIver Lopes, a. a . O., S.  67. 25  Goldman in JAAC, a. a . O., S.  340. 26  Daan Evers, »Relativism and the Metaphysics of Value«, in: BJA, Vol. 61, Issue 1, January 2021, S.  75  ff., Punkt 5. 27  Ebd., Punkt 5. 28  Jesse Prinz, »Emotion and Aesthetic Value«, in: (Hrsg.) Schellekens et al., a. a. O., S.  77. 29 Sabine Roeser, Cain Todd, »Emotion and Value. Introduction«, in: (Hrsg.) Sabine Roeser, Cain Todd, Emotion and Value, Oxford / New York 2014, S.  10. 30  Julien A. Deonna, Fabrice Teroni, »In What Sense are Emotions Evaluations?«, in: ebd., S.  15/16. 31  Jan Slaby, Philipp Wüschner, »Emotion and Agency«, in: ebd., S.  215, Hervorhebung im Original. 32  Ulrich Kirk, David Freedberg, »Contextual bias and insulation against bias during aesthetic rating: The roles of VMPFC and DLPFC in neural valuation«, in: (Hrsg.) Huston et al., a. a. O., S.  163. 33 Michael Brady, »Emotion, Attention, and the Nature of Value«, in: (Hrsg.) Roeser et al., a. a. O., S.  52. 34  Ebd., S.  56. 35  Ebd., S.  68. 36  Kirk, Freedberg, in: (Hrsg.) Huston et al., a. a . O., S.  163. 37  Ebd., S.  164. 38  G. Gabrielle Starr, a. a . O., S.  18. 39  Isabelle Graw, Christoph Menke, The Value of Critique. Exploring the Interrelations of Value, Critique and Artistic Labour, Frankfurt a. M. 2019, Preface, S.  9. 40  Starr, a. a . O., S.  148. 41  Sabine A. Döring, »Why Recalcitrant Emotions Are Not Irrational«, in: (Hrsg.) Roeser et al., a. a. O., S.  124. 42  Robert Stecker, Intersections of Value. Art, Nature and the Everyday, Oxford / New York 2019, S.  2. 43  Ebd., S.  2. 44  Ebd., S.  7. 45  Ebd., S.  112. 46  (Hrsg.) James O. Young, Semantics of Aesthetic Judgements, Oxford / New York 2017, Introduction, S.  3. 47  Ebd., S.  8/9. 48  Dan Cavedon-Taylor, »Reasoned and Unreasoned Judgement: On In22 

Anmerkungen | 291

ference, Acquaintance and Aesthetic Normativity«, in: BJA, Vol. 57, Issue 1, January 2017, S.  1–17, Punkt 3. 49  Ebd., Punkt 1. 50  C. K. Ogden, I. A. Richards, The Meaning of Meaning. A Study of The Influence of Language upon Thought and of The Science of Symbolism, London 1923, 101966; Hilary Putnam, »The Meaning of ›Meaning‹«, in: (Hrsg.) Keith Gunderson, Language, Mind and Knowledge, Minneapolis 1975. 51  Peter Kivy, De Gustibus. Arguing about Taste and Why We Do It, Oxford / New York 2015, S.  21, Hervorhebung im Original. 52  A. J. Ayer, Language, Truth and Logic (1936), New York 1952, S.  113/114. 53  Kivy, a. a . O., S.  33. 54  Ebd., S.  96, Hervorhebung im Original. 55  Ebd., S.  142. 56  Ebd., S.  1 44, Hervorhebung im Original. 57  Ebd., S.  146. 58  Paul Crowther, Defining Art, Creating the Canon. Artistic Value in an Era of Doubt, Oxford / New York 2007, S.  15 und 42  ff. 59  Goldman in JAAC, a. a . O., S.  340. 60  Jan Roß, Bildung – eine Anleitung, Berlin 2020, S.  19. 61  Ebd., S.  19. 62  Ebd., S.  317. 63  Ebd., S.  22. 64  Stecker, a. a . O., S.  17  ff. 65 Ebd. 66  Kevin Melchionne, »Aesthetic Choice«, in: BJA, Vol. 57, Issue 3, July 2017, S.  283–298, Punkt 1. 67  Ebd., Punkt 3. 68  James Bettman, »Constructive Consumer Choice Processes«, in: Journal of Consumer Research, 25, 1998, S.  187–217. 69  Melchionne in BJA, a. a . O., Punkt 4. 70  Edna Ullmann-Margalit, »Picking and Choosing«, in: Social Research, 44, 1977, S.  757–785. 71  Melchionne in BJA, a. a . O., Punkt 6. 72  Ebd., Punkt 7.

Die Rückkehr der Schönheit 1  Stefan Kleins Wissenschaftsgespräche (33), »Schönheit ist lebensnotwendig«, in: ZEIT Magazin, 3. Januar 2019, S.  34. 2  Darstellung der Bedürfnispyramide und Zitat: Rolf L. A. Küster, Prinzip Schönheit. Ästhetik als kognitive Welterschließung in Natur, Design und Psychologie, Hildesheim / Zürich / New York 2017, S.  45.

292 | Anmerkungen

3  Arthur C. Danto, The Abuse of Beauty. Aesthetics and the Concept of Art, Chicago / LaSalle (Illinois) 2003, 2004, 2005, 42006, S.  14/15. 4  Anjan Chatterjee, a. a . O., S.  133. 5  Elaine Scarry, On Beauty and Being Just, Princeton / Oxford 1999, 52001, S.  4  ff. 6  Charles Martindale, Latin Poetry and the Judgement of Taste. An Essay in Aesthetics, Oxford / New York 2005, 2007, S.  10. 7  Dave Hickley, The Invisible Dragon. Essays on Beauty (1993), Chicago  / London 2009, 212012, S.  1  ff. 8  Denis Donoghue, Speaking of Beauty, New Haven / London 2003, S.  49  f., nämlich die Gegner der Schönheit: Paul de Man, The Rhetoric of Romanticism, New York 1984, S.  264  ff.; T. J. Clark, Farewell to an Idea: Episodes from a History of Modernism, New Haven 1999, S.  167; Hans Urs von Balthasar, The Glory of the Lord: A Theological Aesthetics, Vol. I: »Seeing the Form«, San Francisco 1998, S.  9  ff. 9 Platon, Sämtliche Werke, Band I, Köln / Olten 51967, Der größere Hippias (Hippias Maior), S.  655. 10 Ebd., Das Gastmahl (Symposion), S.  671  ff. 11  David Konstan, Beauty. The Fortunes of an Ancient Greek Idea, Oxford 2014, S.  31  f. 12  Ebd., S.  72, 96. 13  François Jullien, Die fremdartige Idee des Schönen, Wien 2012, S.  4 2–46 (Cette étrange idée du beau, Paris 2010). 14  Friedrich Schiller, Briefe über die ästhetische Erziehung des Menschen, 18. Brief, a. a. O., S.  70. 15  Jullien, a. a . O., S.  70, Hervorhebung im Original. 16  Ebd., S.  165. 17  Philipp Blom, Der taumelnde Kontinent. Europa 1900–1914, München 2009, S.  12  ff. (The Vertigo Years, 2008). Ich verzichte hier auf eine Darstellung der gesellschaftlich-wirtschaftlichen Verwandlungen der Zeit vor 1900, da dies ein anderes Thema ist. 18  Filippo Tommaso Marinetti, »The Fountain and the Manifesto of Futurism«, in: (Hrsg.) Charles Harrison, Paul Wood, Art in Theory 1900–2000. An Anthology of Changing Ideas, Malden MA u. a., New Edition 22003, S.  148. 19  Percy Windham Lewis, »Our Vortex«, 1914, in: ebd., S.  162. 20  Tristan Tzara, »Dada Manifesto 1918«, in: ebd., S.  253. 21  Barnett Newman, »The Sublime is Now«, 1948, in: ebd., S.  581; zuerst veröffentlicht in Tiger’s Eye, vol. 1, no. 6, December 1948, S.  51–53. Zur Kritik der Moderne siehe (Hrsg.) Karl Markus Michel, Ingrid Karsunke, Kursbuch 122. Die Zukunft der Moderne, Berlin Dezember 1995. 22  Wie Danto berichtet: Danto, a. a . O., S.  x iv und xv. 23  Was Scruton erwähnt: Roger Scruton, Beauty. A Very Short Introduction, Oxford 2009, 2011, S.  139.

Anmerkungen | 293

24  In: (Hrsg.) Hirshhorn Museum and Sculpture Garden, Washington, D. C ., Beauty Now – Die Schönheit in der Kunst am Ende des 20. Jahrhunderts, (Ausstellung Washington, D. C . 1999–2000 und München 2000), Ostfildern / Ruit 1999, darin: Olga M. Viso, »Das Elend mit der Schönheit«, S.  86  ff. Zu Gerhard Richter S.  120  f., zu Turrell S.  123, zu Sugimoto S.  125/126. 25  (Hrsg.) Hans-Ulrich Obrist, Gerhard Richter, Interview, Frankfurt a. M. / Leipzig 1993, S.  59. 26  Howard Gardner, Truth, Beauty and Goodness Reframed. Educating for the Virtues in the Twenty-First Century, New York 2011, S.  65. 27  Scarry, a. a . O., S.  57  f. 28  Zum Beispiel Peg Zeglin Brand, Beauty Matters, Bloomington (Indiana) 2000, S.  6: Schönheit sei ernst zu nehmen; Wendy Steiner, Venus in Exile: The Rejection of Beauty in Twentieth Century Art, Chicago 2001, S.  192: Beauty sei ein »legitimate appetite«. 29  Arthur C. Danto, »Schönheit statt Asche«, in: (Hrsg.) Hirshhorn Museum, a. a. O., S.  195. 30  Charles W. Morris, Zeichen, Wert, Ästhetik, Frankfurt a. M. 1975, S.  321. 31  Ebd., S.  286. 32  Jan Mukařovský, Structure, Sign and Function, New Haven / London 1978, S.  75. 33  Chatterjee, a. a . O., S.  28, 33. 34  Ebd., S.  28. 35  Ebd., S.  67. 36  Semir Zeki, a. a . O., S.  4 1/42, Hervorhebung von mir, G. F. 37  Ebd., S.  42. 38  Ebd., S.  60. 39 Ebd. 40  G. Gabrielle Starr, a. a . O., S.  46–48. 41  Ebd., S.  41. 42  Ebd., S.  4 2 und Edward A. Vessel, G. Gabrielle Starr, Nava Rubin, »The Brain on Art: Intense Aesthetic Experience Activates the Default Mode Network«, in: a. a. O., 2012. 43  Roddy Cowic, »Beauty is Felt, Not Calculated; and it Does Not Fit in Boxes«, in: (Hrsg.) Elisabeth Schellekens et al., a. a. O., S.  94. 44  Zum Beispiel: S.  Z eki, H. Kawabata, »Neural Correlates of Beauty«, in: Journal of Neurophysiology, 91, 2004, S.  1699  ff.; T. Jacobsen, R. I. Shubotz, L. Höfel, D. Y. von Cramon, »Brain Correlates of Aesthetic Judgement of Beauty«, in: NeuroImage, 29, 2006, S.  276  ff. 45  Jesse Prinz, »Seeing with Feeling«, in: (Hrsg.) Greg Currie et al., a. a . O., S.  143  ff., und L. Mealey, P. Theis, »The Relationship between Mood and Preferences among Natural Landscapes: An Evolutionary Perspective«, in: Ethology and Sociobiology, 16, 1995, S.  247  ff. 46  Arthur P. Shimamura, a. a . O., S.  190/191.

294 | Anmerkungen

47 

Ebd., S.  199. Fabian Dorsch, »The Limits of Aesthetic Empiricism«, in: (Hrsg.) Currie et al., a. a. O., S.  77. 49  Ebd., S.  77. 50  Shimamura, a. a . O., S.  185: Je mehr wir über ein Werk wissen, desto mehr können wir die Komplexität des Werkes wertschätzen. 51  Max-Planck-Institut für empirische Ästhetik, Research Report 2017/2018, a. a. O., S.  64. 52  Ebd., S.  35. 53  Ebd., S.  63. 54  Immanuel Kant, Kritik der Urteilskraft, Werke Band X, a. a . O., Analytik des Schönen § 3, B 10 / A 10, S.  283, Hervorhebung im Original. 55  Ebd., § 2, B 7 / A 7, S.  2 81. 56  Ebd., § 5, B 16 / A 16, S.  2 87. 57  Ebd., § 5, B 14, 15 / A 14, 15, S.  2 86. 58  Ebd., § 5, B 16 / A 16, S.  2 87. 59  David Hume, »On the Standard of Taste«, in: (Hrsg.) Stephen Copley, Andrew Elgar, David Hume: Selected Essays, Oxford / New York 1996, 1998, 2008, S.  136/137. 60  Ebd., S.  140. 61  Gardner, a. a . O., S.  41. 62  Crispin Sartwell, Six Names of Beauty, New York / London 2004, S.  5. 63  Alexander Nehamas, Only a Promise of Happiness. The Place of Beauty in a World of Art, Princeton / Oxford 2007, S.  85. 64  Stefan Sagmeister, Jessica Walsh, Beauty (Ausstellungskatalog), London 2018, Mainz 2018, 22019, S.  118. 65  Ebd., S.  178–264. 66  Kant, a. a . O., § 9, B 32 / A 32, S.  298, Hervorhebung im Original. 67  Scruton, a. a . O., S.  22. Im Original ist »presented form« hervorgehoben. 68  Peter Schjeldahl, »Notes on Beauty«, in: (Hrsg.) Bill Beckley, David Shapiro, Uncontrollable Beauty. Toward a New Aesthetics, New York 1998, S.  53. 69  Ebd., S.  53. 70  Chatterjee, a. a . O., S.  68 und 71. 71  James Hillman, »The Practice of Beauty«, in: (Hrsg.) Beckley et al., a. a. O., S.  271. 72  Starr, a. a . O., S.  117. 73  Friedrich Cramer, Wolfgang Kaempfer, Die Natur der Schönheit. Zur Dynamik der schönen Formen, Frankfurt a. M. / Leipzig 1992, S.  212. 74  Nehamas, a. a . O., S.  76. 75  Winfried Menninghaus, Das Versprechen der Schönheit, a. a . O., S.  8. 76  Hillman, in: (Hrsg.) Beckley et al., a. a . O., S.  261. 77  Gernot Böhme, Atmosphäre. Essays zur neuen Ästhetik, a. a . O., S.  299. 78  Ebd., S.  299. 48 

Anmerkungen | 295

79  Tom Vanderbilt, Geschmack. Warum wir mögen, was wir mögen, a. a . O., S.  275. 80  Ebd., S.  182. 81  Jerrold Levinson, »Beauty is Not One: The Irreducible Variety of Visual Beauty«, in: (Hrsg.) Schellekens et al., a. a. O., S.  193–204. 82  Ebd., S.  207. 83  Sartwell, a. a . O., S.  27  ff. 84  Danto, a. a . O., S.  101/102. 85  Colin Martindale, »A Neural-Network Theory of Beauty«, in: (Hrsg.) Martindale et al., a. a. O., S.  188. 86  Danto, a. a . O., S.  101/102. 87  Zeki, a. a . O., S.  44. 88  Ebd., S.  44. 89  Richard Rorty, Der Spiegel der Natur. Eine Kritik der Philosophie, Frankfurt a. M. 1987, S.  289 (Philosophy and the Mirror of Nature, Princeton 1979). 90  W. J. T. Mitchell, Bildtheorie, Frankfurt a. M. 2018, S.  101  ff. 91  Ebd., S.  104. 92  Ebd., S.  108. 93  Jean Baudrillard, »The Hyper-realism of Simulation«, in: (Hrsg.) Harrison et al., a. a. O., S.  1018  ff. 94  Hubertus Gassner, »… zu schön, um wahr zu sein. Die Wiederentdeckung der Schönheit«, in: (Hrsg.) Hirshhorn-Ausstellung, a. a. O., S.  231. 95  Beat Wyss, »Die Zukunft des Schönen«, in: Kursbuch 122, a. a . O., S.  9. 96  Ebd., S.  7. 97  Gassner in: (Hrsg.) Hirshhorn-Ausstellung, a. a . O., S.  232. 98  Ebd., S.  233. 99  Wysss in: Kursbuch 122, a. a . O., S.  8. 100  Ebd., S.  8. 101 Ebd. 102  Byung-Chul Han, Die Errettung des Schönen, Frankfurt a. M. 2015, 2 2015, S.  11. 103  Ebd., S.  11. 104  Ebd., S.  15. 105  Gassner in: a. a . O., S.  231. 106  Han, a. a . O., S.  10. 107  Gregory Fuller, Kitsch-Art. Wie Kitsch zur Kunst wurde, Köln 1992, S.  89. 108  Han, a. a . O., S.  50/51. Hervorhebungen im Original. 109  Ebd., S.  51. 110  Ebd., S.  37. 111  Küster, a. a . O., S.  272. 112  Robert C. Morgan, »A Sign of Beauty«, in: (Hrsg.) Beckley et al., a. a . O., S.  78/79.

296 | Anmerkungen

113 

Ebd., S.  80. Ebd., S.  81. 115 Ebd. 116  Han, a. a . O., S.  82/83, Hervorhebungen im Original. 117  Scarry, a. a . O., S.  12–14. 118  Ebd., S.  12–16. 119  Edmund Burke, A Philosophical Enquiry into the Origin of our Ideas of the Sublime and Beautiful, (1757), Oxford 1990, S.  36. 120  Ebd., S.  53. 121 Ebd. 122  Ebd., S.  75. 123  Ebd., S.  79. 124  Ebd., S.  113. 125  Han, a. a . O., S.  25. 126  Max-Planck-Institut für empirische Ästhetik, a. a . O., S.  2 8. 127  Newman, »The Sublime is Now«, in: (Hrsg.) Harrison et al., a. a . O., S.  581. 128  Ebd., S.  582. 129  Wassily Kandinsky, Über das Geistige in der Kunst, a. a . O., S.  136. 130  Ebd., S.  138. 131  Ebd., S.  1 47. Im Original ist »Epoche des großen Geistigen« hervorgehoben. 132  Zum Beispiel: K. J. Erskine, N. A. Kacinik, J. J. Prinz, »Stirring Images: Fear, Not Happiness or Arousal Makes Art More Sublime«, in: Emotion, 12, 2012, S.  1071  ff. 133  Kant, a. a . O., § 25, B 81 / A 80, S.  333, Hervorhebungen im Original. 134  Ebd., § 25, B 84 / A 83, S.  335, Hervorhebungen im Original. 135  Ebd., § 25, B 85 / A 84, S.  336. Im Original ist der ganze Satz hervorgehoben. 136  Ebd., § 23, B 75 / A 74, S.  329. 137  Ebd., § 23, B 76 / A 75, S.  329. 138  Jullien, a. a . O., S.  165. 139  Schjeldahl, »Notes on Beauty«, in: (Hrsg.) Beckley et al., a. a . O., S.  59. 114 

Ästhetische Erfahrung I: Alltagsästhetik 1  Yuriko Saito, »Everyday Aesthetics in the Japanese Tradition«, in: (Hrsg.) Liu Yuedi, Curtis L. Carter, Aesthetics of Everyday Life: East and West, Cambridge 2014, S.  151. 2  Ludwig Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen, Frankfurt a. M. 1967, § 129, S.  70.

Anmerkungen | 297

3  Katya Mandoki, Everyday Aesthetics. Prosaics, the Play of Culture and Social Identities, Ashgate (Hampshire) UK / Burlington VT 2007, S.  48. 4  Thomas Leddy, The Extraordinary in the Ordinary. The Aesthetics of Every­d ay Life, Peterborough (Ontario) u. a. 2012, S.  18. 5  Yuriko Saito, Aesthetics of the Familiar. Everyday Life and World-Making, Oxford / New York 2017, S.  9. 6  Ebd., S.  10. 7  Arnold Berleant, Sensibility and Sense. The Aesthetic Transformation of the Human World, Charlottesville VA / Exeter UK 2010, S.  84. 8  Daniel Miller, Der Trost der Dinge. Fünfzehn Porträts aus dem London von heute, Berlin 2010, S.  15 (The Comfort of Things, Cambridge 2008). 9  Ebd., S.  208. 10  Ebd., S.  215. 11  Ebd., S.  216. 12 Ebd. 13 Ebd. 14  Ebd., S.  217. 15  Ebd., S.  219. 16 Ebd. 17  Sherry Turkle, »Introduction: The Things That Matter«, in: (Hrsg.) Sherry Turkle, Evocative Objects. Things We Think With, Cambridge MA / London 2007, 2011, S.  5. 18  Ebd., S.  308. 19  Ebd., S.  309. 20  Miller, a. a . O., S.  19  ff. 21  Ebd., S.  33  ff. 22  Ebd., S.  93  ff. 23  Ebd., S.  116  ff. 24  Saito, a. a . O., S.  18. 25  Liu Yuedi, »›Living Aesthetics‹ from the Perspective of the Intercultural Turn«, in: (Hrsg.) Liu  /  Carter, a. a. O., S.  14  ff. 26  Ben Highmore, Ordinary Lives. Studies in the Everyday, London / New York 2011, S.  58. 27  Ebd., S.  58. 28  Ebd., S.  74. 29  Ebd., S.  73. 30  Xavier de Maistre, »Die Reise um mein Zimmer«, in: Zwei Reisen um mein Zimmer, München 1968, S.  7  ff. (Voyage autour de ma chambre par M. le chev. X … O. A. S. D. S. M. S., Turin 1794, eigentlich 1795 in Lausanne erschienen; die Abbreviaturen bedeuten: Officier au service de Sa Majesté Sarde). 31  Hermann Hesse, »Kleine Freuden«, 1899, in: (Hrsg.) Volker Michels, Hermann Hesse. Kleine Freuden. Verstreute und kurze Prosa aus dem Nachlass, Frankfurt a. M. 1977, 51981, S.  7.

298 | Anmerkungen

32 

Ebd., S.  9. Ebd., S.  10. 34  Yuriko Saito, Everyday Aesthetics, Oxford / New York 2007, S.  1 4. 35 Saito, Aesthetics of the Familiar, a. a . O., S.  10/11. 36  Sherri Irvin, »The Pervasiveness of the Aesthetic in Ordinary Experience«, in: BJA, Vol. 48, Issue 1, January 2008, S.  29–44, III. 37  Ebd., III. 38  Mandoki, a. a . O., S.  73. 39  Sherri Irvin, »Scratching an Itch«, in: JAAC, Vol. 66, Issue 1, Winter 2008, S.  25–35; Saito, Aesthetics of the Familiar, a. a. O., S.  93  ff., 115  ff. 40  Irvin, in: a. a . O., V. 41  Allen Carlson, »The Dilemma of Everyday Aesthetics«, in: (Hrsg.) Liu  / Carter, a. a. O., S.  57, 60. 42  Christopher Dowling, »The Aesthetics of Daily Life«, in: BJA, Vol. 50, Issue 3, July 2010, S.  225–242. 43  Kevin Melchionne, »Aesthetic Experience in Everyday Life. A Reply to Dowling«, in: BJA, Vol. 51, Issue 4, October 2011, S.  437–442, 2. 44  Ebd., 2. 45 Ebd. 46 Ebd. 47  Carolyn Korsmeyer, »A Tour of the Senses«, in: BJA, Vol. 59, Issue 4, October 2019, S.  357–371, 1. 48  Yi-Fu Tuan, Passing Strange and Wonderful. Aesthetics, Nature and Culture, Washington D. C . / Covela CA 1993, S.  35  ff. 49  Jane Forsey, The Aesthetics of Design, Oxford / New York 2013, 2016, S.  211. 50  Leddy, a. a . O., S.  207. 51  Forsey, a. a . O., S.  209, dazu ursprünglich Glenn Parsons, Allen Carlson, Functional Beauty, Oxford / New York 2008, S.  180. 52 Thomas Leddy, »Everyday Aesthetics and Happiness«, in: (Hrsg.) Liu  /  Carter, a. a. O., S.  34. 53  Ebd., S.  34. 54  Ebd., S.  35. 55  John Dewey, Art as Experience, (1934), London / New York 1980, 2005, S.  36. 56  Tuan, a. a . O., S.  152  ff. 57  Ebd., S.  158  ff. 58  Simon Frith, Performing Rites. On the Value of Popular Music, Oxford / New York 1996, S.  273. 59  Ebd., S.  274. 60 Ebd. 61  Thomas Leddy, »The Nature of Everyday Aesthetics«, in: (Hrsg.) Andrew Light, Jonathan M. Smith, The Aesthetics of Everyday Life, New York 2005, S.  7, 9. 33 

Anmerkungen | 299

The Extraordinary in the Ordinary, a. a. O., S.  64  ff., 127  ff. Ebd., S.  152. 64  Mandoki, a. a . O., S.  83. 65  Melchionne in BJA, a. a . O., 1. 66  Ebd., 1. 67  Tuan, a. a . O., S.  215. 68 Saito, Aesthetics of the Familiar, a. a . O., S.  199. 69  Ebd., S.  201, 204. 70  Ebd., S.  207. 71  Forsey, a. a . O., S.  224. 72  Ebd., S.  225. 73  Berleant, a. a . O., S.  165. 74  Ebd., S.  166. 75  Leddy, a. a . O., S.  211. 76  Irvin, »The Pervasiveness …« V. 77 Saito, Everyday Aesthetics, ed cit., S.  1 29–132. 78  Ebd., S.  129. 79  Saito, »Everyday Aesthetics in the Japanese Tradition«, in: (Hrsg.) Liu  / Carter, a. a. O., S.  146. 80  Donald Richie, A Tractate on Japanese Aesthetics, Berkeley CA 2007, 2020, S.  34–37. 81  Gian Carlo Calza, Japan Stil, Berlin 2007, S.  8. 82 Saito, Aesthetics of the Familiar, a. a . O., S.  155. 83  Ebd., S.  196  ff. 84  Ebd., S.  204. 85  O. Benl, »Geschichtliche Entwicklung des Zen«, in: Daisetz Teitaro Suzuki, Zen und die Kultur Japans, Hamburg 1958, S.  144. 86  Suzuki, ebd., S.  14  ff. 87  Ebd., S.  73. 88  Robyn Griggs Lawrence, The Wabi-Sabi House. The Japanese Art of Imperfect Beauty, New York 2004, S.  36. 89  Ebd., S.  24. 90  Beth Kempton, Wabi-Sabi. Japanese Wisdom for a Perfectly Imperfect Life, London 2018, S.  4, 5. 91  Ebd., S.  9. 92  Ebd., S.  19–23. 93  Ebd., S.  15. 94  Suzuki, a. a . O., S.  15. 95  Richie, a. a . O., S.  44. 96  Kempton, a. a . O., S.  14. 97  Ebd., S.  17. 98 Ebd. 99  Griggs Lawrence, a. a . O., S.  21. 62 Leddy, 63 

300 | Anmerkungen

100 

Ebd., S.  22/23. Dōgen, Shōbogenzō Zuimonki, Unterweisungen zum wahren Buddha-Weg aufgezeichnet von Koun Ejō, Heidelberg 1997, Buch I, 11, S.  46 (Shōbogenzō Zuimonki. Sayings of the Eihei Dōgen Zenji recorded by Koun Ejō, Kyoto 1987). 102  Calza, ed. cit., S.  159. 103  Translated by Donald Keene, Essays in Idleness. The »Tsurezuregusa« of Kenkō, New York / London 1967 (Columbia University), Nr. 7, S.  7. 104  Tanizaki Jun’ichiro, Lob des Schattens. Entwurf einer japanischen Ästhetik, (1933), Zürich 1987, 2007, S.  34. 105  Ebd., S.  38, 41. 106  Ebd., S.  53. 107  Suzuki, a. a . O., S.  111. 108  Ebd., S.  111. 109  Ebd., S.  112. 110  Kempton, a. a . O., S.  174. 111  Ebd., S.  17. 112  Ebd., S.  19. 113  Ebd., S.  20. 114  Ebd., S.  24. 115  Ken Mogi, Ikigai. Die japanische Lebenskunst, Köln 2018, 32021, S.  17. 116  Ebd., S.  26/27. 117  Ebd., S.  31. 118  Ebd., S.  71. 119  Ebd., S.  90. 120  Ebd., S.  89. 121  Das Kopfkissenbuch der Dame Sei Shonagon, (um das Jahr 1000 n. u. Z.), herausgegeben von Helmut Bode, Frankfurt a. M. 1975, 81993, S.  29. 122  Mogi, a. a . O., S.  143. 123  Sōetsu Yanagi, Die Schönheit der einfachen Dinge. Mingei – Japanische Einsichten in die verborgenen Kräfte der Harmonie, Bergisch Gladbach 1999, S.  117  f. (The Unknown Craftsman. A Japanese Insight into Beauty, Tokyo 1972, 1989). 124  Richie, a. a . O., S.  41. 125 Saito, Aesthetics of the Familiar, a. a . O., S.  40/41. 126  Ebd., S.  93  ff., 115  ff. 127  Tuan, a. a . O., S.  113. 128  Ebd., S.  113. 129 Ebd. 130  Kempton, a. a . O., S.  29. 131  Griggs Lawrence, a. a . O., S.  37–41. 132  Ebd., S.  36. 101 Eihei

Anmerkungen | 301

133  Marie Kondo, Das große Magic Cleaning Buch. Über das Glück des Aufräumens, Reinbek bei Hamburg 2018, S.  63  ff. (Spark Joy, New York 2016). 134  Ebd., S.  63/64. 135  Transl. Keene, a. a . O., Nr. 81, S.  70. 136  Richie, a. a . O., S.  66. 137  Arto Haapala, »On the Aesthetics of the Everyday. Familiarity, Strangeness and the Meaning of Place«, in: (Hrsg.) Light  /  Smith, a. a. O., S.  39  ff. 138  Ebd., S.  43. 139  Ebd., S.  46/47, 50. 140  Zachary Simpson, Life as Art. Aesthetics and the Creation of Self, Lanham u. a. 2012, S.  6. 141  Ebd., S.  8. 142  Chiara Brozzo, »Are Some Perfumes Works of Art?«, in: JAAC, Vol. 78, Issue 1, Winter 2020, S.  21–32. 143  Wolfgang Welsch, »Sport Viewed Aesthetically and Even as Art?«, in: (Hrsg.) Light  /  Smith, a. a. O., S.  135  ff. 144  Ebd., S.  142. 145  Ebd., S.  143/144. 146  Glenn Kuehn, »How Can Food Be Art?«, in: ebd., S.  94. 147  Laura Sizer, »The Art of Tattoos«, in: BJA, Vol. 60, Issue 4, October 2020, S.  419–433. 148 Ebd. 149  Ebd., 1. 150  Ebd., 2. 151  Ebd., 3. 152  Barbara Sandrisser, »Cultivating Commonplaces: Sophisticated Vernacularism in Japan«, in: JAAC, Vol. 56, Issue 2, Spring 1998, S.  201–210. 153  Ebd., S.  202/203.

Ästhetische Erfahrung II: Die Natur als Gewesene Martin Seel, Eine Ästhetik der Natur, Frankfurt a. M. 1991, S.  38  ff. Böhme, Aussichten der Natur. Naturästhetik in Wechselwirkung von Natur und Kultur, Berlin 2017, S.  13. 3  Ebd., S.  14. 4  Gregory Fuller, Das Ende …, a. a . O., und hier in der Vorrede sowie Gregory Fuller, »Das Ende der Utopien. Von der heiteren Gelassenheit im Angesicht der ökologischen Katastrophe«, in: der blaue reiter. Journal für Philosophie, 48: »Nachhaltigkeit«, 2021, S.  14  ff. 5  François Jullien, Living off Landscape or the Unthought-of in Reason, 1 

2  Hartmut

302 | Anmerkungen

London / New York 2018, S.  105  ff. (Vivre de paysage ou L’impensé de la Raison, Paris o. J.). 6  Arnold Berleant, Allen Carlson, »Introduction«, in: JAAC, Vol. 56, Issue 2, Spring 1998, S.  97. 7  Yuriko Saito, »The Aesthetics of Unscenic Nature«, in: ebd., S.  103. 8  Saito, in: ebd., S.  104. 9  Emily Brady, »Aesthetic Value, Nature, and Environment«, in: Emily Brady, The Oxford Handbook of Environmental Aesthetics, Oxford 2016, S.  187. 10  Dazu Yuriko Saito, Everyday Aesthetics, a. a . O., S.  78; Brady »Aesthetic Value, Nature, and Environment«, in: Brady, a. a. O., S.  191. 11  Arnold Berleant, Living in the Landscape. Toward an Aesthetics of Environment, Lawrence (Kansas) 1997, S.  13, 60/61. 12  Ebd., S.  15. 13  Aldo Leopold, A Sand County Almanac and Sketches Here and There, Oxford / New York 1949, S.  3  ff. 14  Ebd., S.  211. 15  Berleant, ed cit., S.  63. 16  Ebd., S.  70. 17 Ebd. 18  Ebd., S.  71. 19  Ebd., S.  72/73. 20  Ebd., S.  74. 21  Ebd., S.  75. 22 Saito, Everyday Aesthetics, a. a . O., S.  60. 23  Ebd., »Museum pieces«, S.  63. 24  Sally Schauman, »The Garden and the Red Barn: The Pervasive Pastoral and Its Environmental Consequences«, in: JAAC, a. a. O., S.  184. 25  Ebd., S.  184–186. 26  Ebd., S.  186/187. 27  Marcia Muelder Eaton, »Fact and Fiction in the Aesthetic Appreciation of Nature«, in: JAAC, a. a. O., S.  149  ff. 28  Allen Carlson, »Environmental Aesthetics, Ethics and Ecoaesthetics«, in: JAAC, Vol. 76, Issue 4, Fall 2018, S.  391–397. 29  Duncan C. Stewart, Taylor N. Johnson, »Complicating Aesthetic Environmentalism: Four Criticisms of Aesthetic Motivation for Environmental Action«, in: ebd., S.  4 41–451, Punkt I. 30  Ebd., Punkt II. 31  Ebd., Punkt III. 32  Ebd., Punkt III. Auf die gegenwärtige heiße Debatte zwischen Anthro­ po­zentrismus und Ökozentrismus kann in diesem Ästhetikkontext nicht eingegangen werden. 33  Nathalie Blanc, »Ethics and Aesthetics of Environmental Engagement«, in: (Hrsg.) Emily Brady, Pauline Phemister, Human – Environment Relations. Anmerkungen | 303

Transformative Values in Theory and Practice, Dordrecht / Heidelberg / London / New York 2012, S.  149  f. 34  Berleant, a. a . O., S.  13. 35  Ebd., S.  35. 36  Glenn Parsons, Aesthetics and Nature, London / New York 2008, S.  91. 37  Ebd., S.  91. 38  Ebd., S.  89. 39  Allen Carlson, Nature and Landscape: An Introduction to Environmental Aesthetics, New York 2009, S.  11. 40  Ebd., S.  11. 41  Ebd., S.  13. 42 Ebd. 43  Ebd., S.  14. 44  Ebd., S.  33. 45  Ebd., S.  48. 46  Ebd., S.  104. 47 Ebd. 48  Parsons, a. a . O., S.  52. 49  Ebd., S.  51. 50  Ebd., S.  7 7, 79. 51  Ebd., S.  34: Welche Theorie sei »appropriate«? S.  7 7: Die moralischen Ansätze seien nicht »equally appropriate«. Carlson, a. a. O., S.  23: Wie wählt man das »appropriate aesthetic appreciation« aus? S.  33: Die Naturwissenschaft liefere »appropriate boundaries«, was und wie man die Natur ästhetisch wertzuschätzen habe. 52  Jennifer Welchman, »Aesthetics of Nature, Constitutive Goods, and ­Environ­mental Conservation: A Defense of Moderate Formalist Aesthetics«, in: JAAC, 76/4, a. a. O., Punkt II. 53  Carlson, »Environmental Aesthetics, Ethics and Ecoaesthetics«, in: ebd., Punkt IX. 54  Holmes Rolston III, »Aesthetic Experience in Forests«, in: JAAC, 56/2, a. a. O., S.  165. 55  Leopold, a. a . O., S.  174. 56  Brady, »Aesthetic Value, Nature, and Environment«, in: Brady, ed. cit, S.  189. 57  Ebd., S.  189. 58  Ebd., S.  188. 59 Dale Jamieson, »Loving Nature«, in: JAAC, 76/4, a. a . O., S.  485–495, Punkt V. 60  Ebd., Punkt VI. 61  Leopold, a. a . O., S.  223. 62  Cheryl Foster, »The Narrative and the Ambient in Environmental Aes­ the­t ics«, in: JAAC, 56/2, a. a. O., S.  134. 304 | Anmerkungen

63 

Ebd., S.  134. Emily Brady, »Imagination and the Aesthetic Appreciation of Nature,« in: ebd., S.  141. 65  Ebd., S.  142–144. 66  Marcia Muelder Eaton, »Fact and Fiction …«, in: ebd., S.  1 49/150, Zitat S.  154. 67  Holmes Rolston III, »Aesthetic Experience in Forests«, in: ebd., S.  157. 68  Ebd., S.  159. 69  Ebd., S.  160. 70  Brady, »Aesthetic Value, …«, in: Brady, a. a . O., S.  189. 71  Ebd., S.  190. 72  Leopold, a. a . O., S.  225. 73  Robert E. Carter, The Japanese Arts and Self-Cultivation, Albany (New York) 2008, S.  5. 74  Donald Keene, »Japanese Aesthetics«, in: (Hrsg.) Nancy G. Hume, Japanese Aesthetics and Culture. A Reader, Albany (New York) 1995, S.  31. 75  The »Tsurenzuregusa« of Kenkō, a. a . O., Nr. 137, S.  115. 76  Keene, »Japanese Aesthetics«, in: (Hrsg.) Hume, a. a . O., S.  33. 77  Ebd., S.  34–37. 78  Ebd., S.  37–39. 79  Ebd., S.  27. 80  Carter, a. a . O., S.  56. 81 Saito, Everyday Aesthetics, a. a . O., S.  133, 135. 82  Ebd., S.  234, 236. 83  Ebd., S.  241. 84 Suzuki, Zen und die Kultur Japans, a. a . O., S.  107. 85  Saito, a. a . O., S.  186. 86  The »Tsurenzuregusa« of Kenkō, a. a . O., Nr. 19, S.  18. 87  Haiku. Japanische Dreizeiler, ausgewählt und aus dem Urtext übersetzt von Jan Ulenbrook, Stuttgart 1995, 2004, S.  97. 88 Calza, Japan Stil, a. a . O., S.  136. 89 Richie, A Tractate on Japanese Aesthetics, a. a . O., S.  52/53. 90  Calza, a. a . O., S.  137; Die Geschichte vom Prinzen Genji, Wiesbaden 1954, Frankfurt a. M. / Leipzig 1995. 91  Carter, a. a . O., S.  92. 92  Mathias Obert, Tanzende Bäume, sprechende Steine. Zur Phänomenologie japanischer Gärten, Freiburg / München 2019, S.  91. 93  William Theodore de Bary, »The Vocabulary of Japanese Aesthetics, I, II, III«, in: (Hrsg.) Hume, ed cit., S.  4 4. 94  Richie, a. a . O., S.  52. 95  Graham Parkes, »Kūkai and Dōgen as Exemplars of Ecological Engagement«, in: (Hrsg.) J. Baird Callicot, James McRae, Japanese Environmental Philosophy, Oxford / New York 2017, S.  78/79. 64 

Anmerkungen | 305

96  Ian Harris, »Getting to Grips with Buddhist Environmentalism«, in: Journal of Buddhist Ethics, 2, 1995, S.  177. 97  Wie bereits zitiert: Leopold, a. a . O., S.  225. 98  Gernot Böhme, »Was hat Ökologie mit Ästhetik zu tun? Wir müssen unsere Einstellung zur Natur ändern. Es kommt dabei auf eine Philosophie des leiblichen Spürens an und auf die Gestaltung der Umwelt«, in: DIE ZEIT, Nr. 28, 8. Juli 2021, S.  51. 99  Yi-Fu Tuan, Passing Strange and Wonderful. Aesthetics, Nature, and Culture, a. a. O., S.  51–54. 100  Ebd., S.  92. 101  John Andrew Fisher, »What the Hills Are Alive With: In Defense of the Sounds of Nature,« in: JAAC, 56/2, a. a. O., S.  168. 102  Ebd., S.  169. 103  Ebd., S.  170. 104  Frank Wilczek, A Beautiful Question. Finding Nature’s Deep Design, New York 2015, S.  324. 105  Winfried Menninghaus, Das Versprechen der Schönheit, a. a . O., S.  285. 106  Berleant, a. a . O., S.  82. 107  Ebd., S.  82. 108 Saito, »The Aesthetics of Unscenic Nature«, in; JAAC, 56/2, a. a . O., S.  102/103. 109  Ebd., S.  102. 110 Saito, Everyday Aesthetics, a. a . O., S.  171. 111  Paul W. Taylor, Respect for Nature. A Theory of Environmental Ethics, Princeton / Oxford 1986, 1989, 2011, S.  13, 71  ff. 112  Ebd., S.  80. 113  Ebd., S.  91. 114 Ebd. 115  Glenn Parsons, »Nature Aesthetics and the Respect Argument«, in: JAAC, 76/4, a. a. O., S.  411–418. 116  Ebd., Punkt III. 117  Saito, a. a . O., S.  112. 118  Katie McShane, »The Role of Awe in Environmental Ethics«, in: JAAC, 76/4, a. a. O., S.  473–484, Zusammenfassung. 119  Ebd., Punkt I. 120  Ebd., Punkt II/III. 121  Ebd., Punkt IV. 122  Ebd., Punkt V. 123  Ebd., Punkt VI. 124  Joseph Addisons Essays in The Spectator, insbesondere »On the Pleasures of Imagination«, 1712, The Spectator, no. 414; John Baillie, An Essay on the Sublime, 1747; Alexander Gerard, An Essay on Taste, 1759. 125  In vielen Schubert-Liedern, z. B. Die Unendlichen, op. posth. nach Klop-

306 | Anmerkungen

stock oder Der Wanderer, op. 4 Nr. 1 nach Schmidt von Lübeck; Wordsworth in »The Prelude« und »Tintern Abbey« oder Coleridges »Ode to a Nightingale«. 126 Kant, Kritik der Urteilskraft, Zweites Buch, Analytik des Erhabenen, Werke Band X, a. a. O., § 25, B 81 / A 80, S.  333. Hervorhebung im Original. 127  Ebd., § 23, B 75 / A 74, S.  329. Hervorhebung im Original. 128  Ebd., § 25, B 84 / A 83, S.  335. Hervorhebung im Original. 129  Ebd., § 25, B 85 / A 84, S.  336. Im Original ist alles hervorgehoben. 130  Ebd., § 26, B 96 / A 95, S.  343. Hervorhebung im Original. 131  Ebd., § 28, B 103 / A 102, S.  348. 132  Ebd., § 28, B 104 / A 103, S.  349. 133  Ebd., § 23, B 75 / A 74, S.  329. Hervorhebung im Original. 134  James Kirwan, Sublimity. The Non-Rational and the Irrational in the History of Aesthetics, New York / London 2005, S.  157. 135  Ebd., S.  157. 136  Philip Shaw, The Sublime, New York 2006, 2 2017, S.  3. 137  Emily Brady, The Sublime in Modern Philosophy. Aesthetics, Ethics, and Nature, Cambridge / New York 2013, S.  7. 138  Cornelia Klinger, »The Sublime, A Discourse of Crisis and of Power, Or: ›A Gamble on Transcendence‹«, in: (Hrsg.) Luke White, Claire Pajaczkowska, The Sublime Now, Cambridge 2009, S.  92. 139  Ebd., S.  95. 140  Berleant, a. a . O., S.  78/79. 141  Jane Bennett, »Thing-Power and an Ecological Sublime«, in: (Hrsg.) White et al., a. a. O., S.  25/26. 142  Jane Forsey, »Is a Theory of the Sublime Possible?«, in: JAAC, Vol. 65, Issue 4, Fall 2007, S.  381–389, Punkt II. 143  Ebd., Punkt III. 144  Tom Hanauer, »Sublimity and the Ends of Reason: Questions to Deligiorgi«, in: JAAC, Vol. 74, Issue 2, Spring 2016, S.  195–199, Punkt II. 145  Ebd., Punkt III. 146  Kant, a. a . O., Vorrede zur ersten Auflage, B V / A V, S.  238. 147  Ebd., B V–VI / A V, S.  238. 148  Hammer in JAAC, 74/2, a. a . O., Punkt III. 149  Forsey in JAAC, 65/4, a. a . O., Punkt III. 150  Jean-François Lyotard, Die Analytik des Erhabenen. Kant-Lektionen, »Kritik der Urteilskraft«, §§ 23–29, München 1994, S.  65, 68. (Leçons sur l’Analytique du sublime (Kant, Critique de la faculté de juger, §§ 23–29), Paris 1991). 151  Kirwan, a. a . O., S.  166. 152  Rolston in JAAC, 56/2, a. a . O., S.  163. 153  Ebd., S.  164. 154  Kirwan, a. a . O., S.  158. 155  Brady, a. a . O., S.  193. Anmerkungen | 307

156 

Kirwan, a. a. O., S.  162–164. Ebd., S.  161. 158  Ebd., S.  162. 159  Brady, a. a . O., S.  180. 160  Ebd., S.  181. 161  Ebd., S.  3. 162  Ebd., S.  196, 199. 163  Ebd., S.  197/198. 164  Ebd., S.  195. 165  Ebd., S.  200. 166  Esther Leslie, »Icy Scenes from Three Centuries«, in: (Hrsg.) White et al., a. a. O., S.  46. 167  Jeremy Gilbert-Rolfe, Beauty and the Contempoary Sublime, New York 1999, S.  51  f., 54. Philip Shaw, a. a. O., S.  180. 168  Thomas Weiskel, The Romantic Sublime: Studies in the Structure and Psychology of Transcendence, Baltimore 1976. 169  Kirwan, a. a . O., S.  157. 170  Paul Crowther, The Kantian Sublime: From Morality to Art, Oxford 1989: Kirk Pillow, Sublime Understanding: Aesthetic Reflection in Kant and Hegel, Cambridge MA 2000. 171  Kirwan, a. a . O., S.  157. 172  Ebd., S.  157. 173 Ebd. 174  Brady, a. a . O., S.  119/120. 175  Ebd., S.  134. 176  Ebd., S.  135. 177  Luke White, »Capitalism, Terrorism, Art and the Sublime«, in: (Hrsg.) White et al., a. a. O., S.  129. 178  Sandra Shapshay, »Contemporary Environmental Aesthetics and the Neglect of the Sublime«, in: BJA, Vol. 53, Issue 2, April 2013, S.  181–198 und Sandra Shapshay, »A Two-Tiered Theory of the Sublime«, in: BJA, Vol. 61, Issue 2, April 2021, S.  123–143. 179  Brady, a. a . O., S.  189. 180  Ernst Diez, Shan Shui. Die chinesische Landschaftsmalerei, Wien 1943, S.  25. 181  Ebd., S.  37. 182  Lao Zi, Dao De Jing, herausgegeben und übersetzt von Hannes Mehnert und Birgit Mehnert, o. O. 2010, Nr. 42, S.  54. 183  Diez, a. a . O., S.  10. 184  Ebd., S.  30. 185  Ebd., S.  36. 186  Fabian Heubel, Was ist chinesische Philosophie? Kritische Perspektiven, Hamburg 2021, S.  29. 157 

308 | Anmerkungen

187  Micha Brumlik, »Der Kampf der Weltanschauungen. China gegen den Westen: Von Kant über ›Habeimasi‹ zu ›Tianxia‹«, in: Blätter für deutsche und internationale Politik, 10, 2020, S.  81. 188  Heubel, a. a . O., S.  16, 18. 189  Ebd., S.  19. 190 Fanren Zeng, Introduction to Ecological Aesthetics, Beijing 2019, S.  X XV. 191  Ebd., S.  143  ff. 192  Ebd., S.  220. 193  Wangheng Chen, Gerald Cipriani, Chinese Environmental Aesthetics, London / New York 2015, S.  39. 194  Ebd., S.  45. 195  Ebd., S.  60/61. 196  Ebd., S.  72/73. 197 Jullien, Living off Landscape …, a. a . O., S.  8  ff. 198  Ebd., S.  11/12. 199  Ebd., S.  15  ff. 200  Ebd., S.  18. Hervorhebung im Original. 201  Ebd., S.  20. Hervorhebung im Original. 202  Ebd., S.  32/33. 203  Ebd., S.  41. 204  Ebd., S.  105/106  ff.

Ästhetische Erfahrung III: Emotionen in der Literaturrezeption 1  Juliane Rebentisch, Theorien der Gegenwartskunst zur Einführung, Hamburg 2013, 42017, S.  51. 2  Dorothée Halcour, Wie wirkt Kunst? Zur Psychologie ästhetischen Erlebens, Frankfurt a. M. u. a. 2002, S.  37. 3  Ebd., S.  40. 4  Ebd., S.  4 2/43, 45–47. 5  Ebd., S.  203  ff. und Wolfgang Iser, The Range of Interpretation, a. a . O., S.  95. 6  Rebentisch, a. a . O., u. a. S.  110. 7  Halcour, a. a . O., S.  43/44. 8  Bence Nanay, »The Multimodal Experience of Art«, in: BJA, Vol. 52, Issue 4, October 2012, S.  353  ff. 9  Peter Kivy, Once Told Tales, Oxford 2011, S.  13  ff.; Noël Carroll, »Recent Approaches to Aesthetic Experience«, in: JAAC, Vol. 70, Issue 2, May 2012, S.  165  ff.

Anmerkungen | 309

10  Alan H. Goldman, »The Broad View of Aesthetic Experience«, in: JAAC, Vol. 71, Issue 4, November 2013, S.  323  ff. 11  Ebd., Punkt II. 12  Berys Gaut, »›Art‹ as a Cluster Concept«, in: (Hrsg.) Noël Carroll, Theories of Art Today, Madison (Wisconsin) 2000, S.  25  ff. 13  Ebd., S.  26/27. 14  Rebentisch, a. a . O., S.  112/113. 15  Bence Nanay, Aesthetics. A Very Short Introduction, a. a . O., S.  46. 16  Bence Nanay, »Against Aesthetic Judgments«, in: (Hrsg.) Jennifer A. McMahon, Social Aesthetics and Moral Judgment. Pleasure, Reflection and Accountability, New York / London 2018, S.  56. 17  Ebd., S.  57. 18  Ebd., S.  58. 19 Nanay, Aesthetics …, a. a . O., S.  54/55. 20  Jenefer Robinson, Deeper than Reason. Emotion and its Role in Literature, Music, and Art, Oxford / New York 2005, 22009, S.  15. 21  Ellen Winner, How Art Works. A Psychological Exploration, Oxford / New York 2019, S.  114–120. 22  (Hrsg.) Patricia Ticinetto Clough, Jean Halley, The Affective Turn: Theorizing the Social, Durham NC 2007. 23 Alex Houen, »Introduction: Affect and Literature«, in: (Hrsg.) Alex Houen, Affect and Literature, Cambridge UK 2020, S.  3. 24 Dewey, Art as Experience, a. a . O., S.  43. 25 Nanay, Aesthetics …, a. a . O., S.  16. 26  Houen, a. a . O., S.  4 ; Gerald C. Cupchik, The Aesthetics of Emotion. Up the Down Staircase of the Mind-Body, Cambridge UK 2016, 22018, S.  35. 27  Ebd., S.  35. 28 Ebd. 29  Ebd. Im Original von »emotions« bis zum Satzende hervorgehoben. 30  Robinson, a. a . O., S.  57–59. 31  Ebd., S.  107. 32  Ebd., S.  114. 33  Ebd., S.  115. 34  Ebd., S.  116. 35  Ebd., S.  117/118. 36  Ebd., S.  123. 37  Ebd., S.  126. 38  Ebd., S.  101/102, 126. 39  Herausgegeben und übersetzt von Sheldon Pollock, A Rasa Reader. Classical Indian Aesthetics, New York 2016, S.  5. 40  Ebd., S.  38. 41  Shulamith Kreitler, Hans Kreitler, Psychology of the Arts, Durham NC 1972; dazu Shimamura, Experiencing Art …, a. a. O., S.  203.

310 | Anmerkungen

42  Roman Ingarden, Vom Erkennen des literarischen Kunstwerks, a. a . O., S.  215. 43  Ebd., S.  185. 44  Ebd., S.  194. 45  Ebd., S.  195/196. 46  Ebd., S.  198–201. 47  Ebd., S.  202–204. 48  Ebd., S.  209–216. 49  Christopher Butler, Pleasure and the Arts. Enjoying Literature, Painting, and Music, Oxford / New York 2005, S.  14. 50  Shimamura, a. a . O., S.  199. 51  Winner, a. a . O., S.  77/78, 83–87. 52  Ebd., S.  87. 53  Joachim Bauer, Das empathische Gen. Humanität, das Gute und die Bestimmung des Menschen, Freiburg / Basel / Wien 2021, S.  79. 54  Ebd., S.  53. 55  Ebd., S.  78. 56  Cupchik, a. a . O., S.  133. 57  Ebd., S.  129. 58  Hrsg. vom Archäologischen Landesmuseum Baden-Württemberg und der Abteilung für Ältere Urgeschichte und Quartärökologie der Eberhard Karls Universität Tübingen, Eiszeit. Kunst und Kultur, Ostfildern 2009, S.  317  ff. 59  Brandon Polite, »Shared Musical Experiences«, in: BJA, Vol, 59, Issue 4, October 2019, S.  429  ff. 60 Tom Cochrane, »Section Introduction«, in: (Hrsg.) Tom Cochrane, Bernardino Fantini, Klaus R. Scherer, The Emotional Power of Music. Multidisciplinary perspectives on musical arousal, expression, and social control, Oxford 2013, S.  3. 61  Jenefer Robinson, »Three theories of emotion – three routes for musical arousal«, in: ebd., S.  155. 62  Klaus R. Scherer, Eduardo Coutinho, »How music creates emotions: a multifactorial process«, in: ebd., S.  121  ff. 63  Ebd., S.  124/125. 64  Butler, a. a . O., S.  89. 65  Winner, a. a . O., S.  34. 66  Butler, a. a . O., S.  110. 67  Ebd., S.  110. 68  Winner, a. a . O., S.  37. 69  Lincoln John Colling, William Forde Thompson, »Music, action and affect«, in: (Hrsg.) Cochrane et al., a. a. O., S.  197. 70  Butler, a. a . O., S.  39. 71  Winner, a. a . O., S.  44. 72  Ebd., S.  44.

Anmerkungen | 311

73  Caterina Lobenstein, »Und jetzt alle! Musik führt Menschen zusammen, überall auf der Welt. Ist sie eine Sprache, die jeder versteht?«, in: DIE ZEIT, Nr. 21, 20. Mai 2021, Dossier, S.  14. 74  Ebd., S.  14. 75  Dazu Stacie Friend, »Fiction and Emotion: The Puzzle of Divergent Norms«, in: BJA, Vol. 60, Issue 4, October 2020, S.  403  ff. 76  Dazu Jonathan Gilmore, Apt Imaginings. Feelings for Fictions and Other Creatures of the Mind, Oxford / New York 2020, S.  9. 77  Moonyoung Song, »Aptness of Fiction-Directed Emotions«, in: BJA, Vol.  60, Issue 1, January 2020, S.  45  ff. 78  Friend in: BJA, 60/4, a. a . O., S.  403  ff., Punkt 8. 79  Ebd., Punkt 8. 80  James Edwin Mahon, »Novels Never Lie«, in: BJA, Vol. 59, Issue 3, July 2019, S.  323  ff. 81  Mariano Longo, Emotions Through Literature. Fictional Narratives, Society and the Emotional Self, London / New York 2020, S.  7 1/72. 82  Ebd., S.  73 und Richard Moran, »The Expression of Feeling in Imagination«, in: The Philosophical Review, 103, (1), 1994, S.  75  ff. 83  Longo, a. a . O., S.  73. 84  Ebd., S.  73. 85  Fabrice Teroni, »Emotion, Fiction and Rationality«, in: BJA, Vol. 59, Issue 2, April 2019, S.  113  ff., Punkt 3–5. 86  Robinson, a. a . O., S.  144/145. 87  Ebd., S.  151. 88  Carolyn Korsmeyer, Savoring Disgust. The Foul and the Fair in Aesthetics, Oxford / New York 2011, S.  55/56. 89  Ebd., S.  56. Hervorhebung im Original. 90  Alessandro Giovanelli, »In Sympathy with the Narrative Characters«, in: JAAC, Vol. 67, Issue 1, Winter 2009, S.  83  ff. 91  Ebd., Punkt I. 92  Susanne Schmetkamp, »Narrative Empathie und der ethische Wert der Perspektiveinnahme« in: ZAAK, Band 63, Heft 1, 2018: Kunst und Empathie, S.  88. 93  Fritz Breithaupt, »Empathy and Aesthetics«, in: ebd., S.  51. 94  Gilmore, a. a . O., S.  68. 95  Paul B. Armstrong, How Literature Plays with the Brain. The Neuroscience of Reading and Art, Baltimore 2013, 2014, S.  141. 96  Ebd., S.  142. 97  Shimamura, a. a . O., S.  207. 98  Winner, a. a . O., S.  191. 99  Butler, a. a . O., S.  41. 100  Ebd., S.  41. 101  Gilmore, a. a . O., S.  19.

312 | Anmerkungen

Breithaupt in: ZAAK, a. a. O., S.  48/49, 52. Schmetkamp in: ebd., S.  82. 104  Alison Denham, »Making Sorrow Sweet: Emotion and Empathy in the Experience of Fiction«, in: (Hrsg.) Houen, a. a. O., S.  200. 105  Worauf sich Giovanelli beruft: Alessandro Giovanelli, »In and Out: The Dynamics of Imagination in the Engagement with Narratives«, in: JAAC, Vol. 66, Issue 1, Winter 2008, S.  11  ff; dazu Richard Wollheim: The Thread of Life, Cambridge UK 1984, S.  62  ff. 106  Katherine Tullmann, »Sympathy and Fascination«, in: BJA, Vol. 56, Issue 2, April 2016, S.  115  ff. 107  Giovanelli, »In Sympathy with Narrative Characters«, in: JAAC, 67/1, a. a. O., Punkt III. 108  Jonathan Gilmore, »That Obscure Object of Desire: Pleasure in Painful Art«, in: (Hrsg.) Jerrold Levinson, Suffering Art Gladly. The Paradox of Negative Emotion in Art, Houndmills (Basingstoke) / Hampshire (New York) 2014, S.  155. 109  Aaron Smuts, »Painful Art and the Limits of Well-Being«, in: ebd., S.  123. 110  Rafael De Clercq, »A Simple Solution to the Paradox of Negative Emotion«, in: ebd., S.  115. 111  Smuts in: ebd., S.  1 24. 112  Ebd., S.  124. 113  Iskra Fileva, »Playing with Fire: Art and the Seductive Power of Pain«, in: ebd., S.  177. 114  Ebd., S.  179. 115  Ebd., S.  182. 116 Aristoteles, Poetik, a. a . O., S.  30. 117 Gilmore, Apt Imaginings …, a. a . O., S.  163, 169. 118  Fileva in: (Hrsg.) Levinson, a. a . O., S.  175. 119  Butler, a. a . O., S.  51 u. ff. 120  Ebd., S.  56. 121  Cain Todd, »Attention, Negative Valence, and Tragic Emotions«, in: (Hrsg.) Levinson, a. a. O., S.  231; dazu Robert C. Solomon, Not Passion’s Slave, Oxford 2003. 122  Todd in: (Hrsg.) Levinson, a. a . O., S.  231/232. 123  Ebd., S.  232. 124  Korsmeyer, a. a . O., S.  50. 125  Ebd., S.  3. 126  Ebd., S.  4. 127  Filippo Contesi, »Disgust’s Transparency«, in: BJA, Vol. 52, Issue 4, October 2012, S.  353  ff. 128  Korsmeyer, a. a . O., S.  56. Hervorhebung im Original. 129  Ebd., S.  56. 102  103 

Anmerkungen | 313

130 

Ebd., S.  118, 125. Ebd., S.  130/131. 132  Zitiert in: Cupchik, a. a . O., S.  177. 133  Edward Bullough, »Psychical distance as a factor in art and an aesthetic principle«, in: British Journal of Psychology, 5, 2, 1912, S.  87  ff. 134  Cupchik, a. a . O., S.  181. 135  Ebd., S.  182. 136  Tullmann in: BJA, 56/2, a. a . O., S.  115  ff., Punkt II., IV. 137 Kant, Kritik der Urteilskraft, a. a . O., §  2, B 6 / A 6, S.  281. 138  Ebd., § 4, B 13 / A 13, S.  2 86. 139  Ebd., § 5, B 15 / A 15, S.  2 87. 140  Ebd., § 5, B 17 / A 17, S.  2 88. Hervorhebungen im Original. 141  Robinson, a. a . O., S.  114. 142  Ebd., S.  115. 143 Ebd. 144  Ebd., S.  124. 145  Ebd., S.  134. 146  Íngrid Vendrell Ferran, »Empathy in Appreciation: An Axiological Account«, in: JAAC, Vol. 79, Issue 2, Spring 2021, S.  233  ff. 147  Jerrold Levinson, The Pleasures of Aesthetics: Philosophical Essays, Ithaca / London 1996, S.  7. 148  Ebd., S.  7. 149  McIver Lopes, Being for Beauty …, a. a . O., S.  58. 150  Levinson, a. a . O., S.  11. 151  Ebd., S.  12. 152  Nanay, a. a . O., S.  16. 153  Butler, a. a . O., S.  14. 154  Ebd., S.  197 und Levinson, a. a . O., S.  18. 155  Cupchik, a. a . O., S.  287. 156  Antonia Peacocke, »Let’s be liberal: An Alternative to Aesthetic Hedonism«, in: BJA, Vol. 61, Issue 2, April 2021, S.  163  ff. 157  McIver Lopes, a. a . O., S.  91  ff. 158  Mohan Matthen, »New Prospects for Aesthetic Hedonism«, in: (Hrsg.) McMahon, a. a. O., S.  13. 159  Korsmeyer, a. a . O., S.  115/116. 160  Ebd., S.  117 und Gilbert Ryle, »Pleasure«, Kapitel 4 von Ryles Dilemmas, Cambridge UK 1954, S.  56. 161  Korsmeyer, a. a . O., S.  118. 162  Ebd., S.  125. 163  Mary Beth Oliver, Anne Bartsch, Tilo Hartmann, »Negative Emotions and the Meaningful Sides of Media Entertainment«, in: (Hrsg.) W. Gerrod Parrott, The Positive Side of Negative Emotions, New York / London 2014, S.  230. 164  Ebd., S.  231/232. 131 

314 | Anmerkungen

165 

Ebd., S.  235. Ebd., S.  238. 167  Byung-Chul Han, Duft der Zeit. Ein philosophischer Essay zur Kunst des Verweilens, Bielefeld 2009, 122015, S.  4 4. Hervorhebung im Original. 168  Ebd., S.  39. 169  Ebd., S.  40. 170  Ebd., S.  43. 171 Ebd. 172  Ebd., S.  43/44. 173  Bauer, a. a . O., S.  113. 174  Ebd., S.  115. 175  Cupchik, a. a . O., S.  63/64. 176  Rebentisch, a. a . O., S.  114. 177  Elisabeth Burns Coleman, »Cross-Cultural Aesthetics and Etiquette«, in: (Hrsg.) McMahon, a. a. O., S.  186. 178  Rebentisch, a. a . O., S.  185, 187. 179  Ebd., S.  185, Terry Smith folgend. 180  Burns Coleman in: (Hrsg.) McMahon, a. a . O., S.  182. 181  Ebd., S.  182. 182  Ebd., S.  186. 183  C. Thi Nguyen, Matthew Strohl, »Cultural Appropriation and the intimacy of groups«, in: Philosophical Studies, 176, 2019, S.  981  ff. und James O. Young, »New Objections to Cultural Appropriation in the Arts«, in: BJA, Vol.  61, Issue 3, July 2021, S.  307  ff. 184  Joshua Lewis Thomas, »When does Something ›Belong‹ to a Culture?«, in: ebd., S.  275  ff. 185  Ebd., Punkt 3. 186  Ebd., Punkt 4. 187 Horaz, Ars Poetica, in: Aristotle Horace Longinus: Classic Literary Criticism, a. a. O., S.  90/91: Dichter sollen »profit with delight« vereinen. 188  Friedrich Hölderlin, Brot und Wein, in: Hölderlins Werke in zwei Bänden, Erster Band, Berlin und Weimar 1968, S.  225. 189  Ebd., Hölderlin, Andenken, S.  273. 166 

Anmerkungen | 315

PERSONENREG ISTER A ABBA 165 Abbott, Berenice 124 Abell, Walter 55 Abhinava 233 Adorno, Theodor W. 180, 188 Agnati, Luigi F. 77 Ai, Weiwei 49, 262–265, 272 Albin Guillot, Laure 124 Alexander, Samuel 14, 15 Alexander der Große 266 Allmendinger, Jutta 16 Altenmüller, Eckardt 240 Aristoteles 25, 30, 237, 247, 248, 259, 264 Armitage, Michael 272 Arnheim, Rudolf 245 Armstrong, Paul B. 76, 77, 78, 244 Ayer, A. J. 104 B Bach, Johann Sebastian 240 Bacon, Francis 251 Balog, James 192 (de) Balzac, Honoré 30, 121, 125, 139 Barber, Samuel 239 Bartsch, Anne 259–260 de Bary, William Theodore 203 Bashō 202 Baudrillard, Jean 143–144 Bauer, Joachim 236, 267–268 Baumgarten, Alexander 7, 54, 153, 154, 180

Beatles 165 Beck, Ulrich 12 Beethoven, Ludwig 26, 39, 107, 135, 136, 139, 140, 142, 151, 191, 221, 238 Bellini, Giovanni 147 Bennett, Jane 214 Bergman, Ingmar 124 Berleant, Arnold 155, 161, 169, 189, 190, 192–193, 194, 195, 207, 213, 216 Berlyne, D. E. 64, 80, 81 Bernhard, Thomas 143, 244 Bettman, James 115 Beuys, Joseph 35 Beyoncé 110, 165 Bharata 46, 91 Bing, Ilse 124 Blanc, Nathalie 192 Bloch, Ernst 32 Blom, Philipp 121 Bloom, Harold 35–36, 37, 42 Böhme, Gernot 137, 205 Böhme, Hartmut 187 Boucher, Pierre 124 Bourdieu, Pierre 83 Brady, Emily 197–198, 199, 217, 220, 222 Brady, Michael 95 Brahms, Johannes 110, 121, 140, 147 Brassaï 124 Breithaupt, Fritz 243 Breslauer, Marianne 124 Breton, André 124 Brock, Bazon 35 317

Brozzo, Chiara 180 Brumlik, Micha 223 Bubner, Rüdiger 29, 35 Bullough, Edward 252 Bullot, Nicholas J. 57–58 Burke, Edmund 142, 148, 150, 151, 211, 214, 216, 222, 251 Burns Coleman, Elisabeth 269, 271 Butler, Christopher 235, 239, 244, 249, 257 C Callot, Jacques 85, 86 Capote, Truman 253 da Caravaggio, Michelangelo Merisi 67–69, 81, 98, 106, 135, 149, 250 Carlson, Allen 161–162, 181, 191, 195–196, 197, 198, 200 Carroll, Noël 228 Carter, Howard 118 Cäsar, Gaius Julius 195 Cavedon-Taylor, Dan 102 Cellini, Benvenuto 250 César 133 Cézanne, Paul 75, 121, 122 Chatterjee, Anjan 59, 62, 77, 118, 126, 135 Chen, Wangheng 224 Cheng, François 49–50 Cheng, Xiangzhan 197 Chevalier, Yvonne 124 Chopin, Frédéric 107, 140 Christo und Jeanne-Claude 124 Cipriani, Gerald 224 Coleridge, Samuel Taylor 252 Collingwood, R. G. 28 Conrad, Joseph 139 Contesi, Filippo 250–251 Coutinho, Eduardo 238 318 | Personenregister

Cramer, Friedrich 135 Crowther, Paul 105, 220 Cupchik, Gerald C. 232, 237, 245 Cutting, James 231 D Danto, Arthur 38–39, 118, 141–142, 150, 250 Darwin, Charles 58–64 David, Jacques-Louis 264 Davies, Stephen 57–58 Debord, Guy 273 Debussy, Claude 191 Deleuze, Gilles 219 Deonna, Julien A. 94 Derrida, Jacques 216, 219 Descartes, René 48, 52, 120, 201 Dessoir, Max 30 Dewey, John 47, 94, 164, 165, 231, 255 Diabelli, Anton 107 Dickens, Charles 263 Dickie, George 38–39 Dickinson, Emily 77, 100 Dix, Otto 233, 250 Dōgen Zenji, Eihei 174 Donoghue, Denis 119 Donnell-Kofrozo, Carol 29 Döring, Sabine A. 96 Dorsch, Fabian 129 Dos Passos, John 142 Dowling, Christopher 161–162, 181 Duchamp, Marcel 26, 38, 42, 74, 122, 124, 138, 228 E Eco, Umberto 27, 136 Eisenman, Peter 142 Eliot, T. S. 124 Engels, Friedrich 31

Erez, Noga 98 Evers, Daan 94 van Eyck, Jan 42, 151 F Fallada, Hans 252, 253, 256 Faulkner, William 142 Feagin, Susan 44 Fechner, G. T. 64 Ferguson, Adam 216 Fibonacci, Leonardo 57 Ficino, Marsilio 119 Fileva, Iskra 247, 248 Fisher, John Andrew 206 Flaubert, Gustave 55, 121 Flavin, Dan 124–125 Ford, Richard 139 Forsey, Jane 163, 164, 169, 214, 215, 216 Foster, Cheryl 198 Fowles, John 246 Franzen, Jonathan 14 Freud, Lucian 250 Freund, Gisèle 124 Friedrich, Caspar David 191 Friend, Stacie 241 Frigg, Roman 78–79 Frith, Simon 166 Fry, Roger 123 G Gardner, Howard 124, 132 Gassner, Hubertus 144 Gaut, Berys 182, 229 Gehry, Frank 137 Gentileschi, Artemisia 250 Gerard, Alexander 219 Géricault, Jean-Louis André ­Théodore 250

Gilmore, Jonathan 245 Giotto di Bondone 34, 35 Giovanelli, Alessandro 243, 246 Gilbert-Rolfe, Jeremy 220 Glass, Philip 128 von Goethe, Johann Wolfgang 139 van Gogh, Vincent 100, 121, 182 Goldman, Alan H. 91, 105, 228 de Goya, Francisco 75, 86, 150, 220, 251 Griggs Lawrence, Robyn 178 Grosse, Katharina 85, 147–148 Grosz, George 250 Gumbrecht, Hans Ulrich 34–35 Gurnah, Abdulrazak 272 H Haapala, Arto 179 Halcour, Dorothée 228 Hamburger, Käte 28–29 Hamker, Anne 78 Han, Byung-Chul 144–146, 170, 266–267 Hanauer, Tom 214 Haneke, Michael 247 Harris, Ian 204 Hartmann, Tilo 259–260 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 28, 29, 87, 153, 188 Heidegger, Martin 27, 28, 29, 117, 179–180, 183 Hemingway, Ernest 139, 142, 143, 149 Henri, Florence 124 Hertz, Heinrich 216 Hesse, Hermann 159 Heubel, Fabian 223 Heyse, Paul 159 Personenregister | 319

Hickley, Dave 119 Highmore, Ben 157 Hitchcock, Alfred 244 Hillman, James 137 Hobbes, Thomas 247 Høgh-Olesen, Henrik 58 Hölderlin, Friedrich 275 Holzer, Jenny 85 Homer 233, 264, 266 Horaz 273 Hospers, John 28 Houen, Alex 231 Howard, Catherine 78–79 Hume, David 8, 93, 98, 103–104, 131–132, 258 Hummel, Johann Nepomuk 107 Huntington, Samuel P. 20 I Ingarden, Roman 91, 234–235 Inoue, Yasushi 139 Irvin, Sherri 160–161, 170 Iser, Wolfgang 92, 228, 255 J James, Henry 35, 37, 139 Jamieson, Dale 198 Jarry, Alfred 122 Dr. Johnson, Samuel 92, 103 Johnson, Taylor N. 193 Joyce, James 85, 142, 233, 245, 246, 255, 256 Jullien, François 45, 53, 119–120, 152, 188, 225–226 K Kaempfer, Wolfgang 135 Kaluli (indigenes Volk in PapuaNeuguinea) 206 320 | Personenregister

Kandel, Eric 65–67 Kandinsky, Wassily 34–35, 149, 151–152, 153 Kant, Immanuel 8, 10, 12, 44, 77, 87, 98, 104, 120, 131, 132, 134, 139, 150–151, 168, 207, 211–212, 214–215, 216, 219, 236, 240, 250, 253–256 KAWS (Brian Donnelly) 145 Keene, Donald 201 Kelten, keltisch 194–195, 199 Kempton, Beth 203 Kenkō 174, 178, 201, 202 Kepler, Johannes 57 Kertész, André 124 Kim-Diktatoren 28 Kirwan, James 212, 216, 217, 220 Kivy, Peter 104–105, 228 Klee, Paul 137 Klinger, Cornelia 213 Kondo, Marie 178–179 Konfuzius 49 Konstan, David 119 Koons, Jeff 144–145 Koppe, Franz 31, 32 Korsmeyer, Carolyn 242, 250, 251, 259 Kreitler, Shulamith und Hans 234 Kretschmer, Annelise 124 Kris, Ernst 33–34 Krull, Germaine 124 Kubrick, Stanley 124 Kuehn, Glenn 181 Kuhn, Helmut 28 Kuhn, Thomas S. 14, 143 Kuo Hsi (Guo Xi) 222–223 Kuo Hsü 222 Kurdi, Alan 264 Kurz, Otto 34 Küster, Rolf L. A. 118

L Lacan, Jacques-Marie Émile 144 Laib, Wolfgang 140–141 Landau, Ergy 124 Lang, Lang 50 Lao Zi (Lao Tse) 222–223 Leddy, Thomas 154, 163, 164, 167, 170, 177 Leopold, Aldo 188, 190, 197, 198, 200, 205 Lessing, Gotthold Ephraim 250 Levinson, Jerrold 137–138, 256, 257 Lewis, Percy Wyndham 122 Lipps, Theodor 252 Liu, Yuedi 156, 172, 183 Longo, Mariano 241, 242 Louis XIV (le Grand) 107, 184 (­Sonnenkönig) Lukács, Georg 31, 32 Lukrez 247 Lumet, Sidney 260 Lynch, David 250 Lyotard, Jean-François 215, 219, 254 M Maar, Dora 124 de Man, Paul Adolph Michel 216 Mandoki, Katya 154, 160, 167 Mann, Thomas 95, 139, 243 Maori (indigenes Volk Neuseelands) 181 Marías, Javier 139, 143 Marinetti, Filippo Tommaso 122 Martindale, Charles 119 Marx, Karl 31 de Maistre, Xavier 159 Maslow, Abraham 118 Matisse, Henri 124, 131 Matthen, Mohan 91, 92–93, 259

van Meegeren, Henricus Antonius, »Han« 38 McIver Lopes, Dominic 14, 256–257, 258–259 McManus, I. C. 77 Melchionne, Kevin 115–116, 161, 162, 167 Melville, Herman 91–92, 100, 120 Mendelssohn, Moses 250 Menke, Christoph 33–34 Menninghaus, Winfried 61, 136, 207 Metsu, Gabriel 98 Michelangelo Buonarotti 75, 219 Miller, Daniel 155–156, 157 Miller, Geoffrey 58 Mishra, Pankaj 15, 17, 19 Mitchell, W. J. T. 143 Modi, Ken 176 Mondrian, Piet 137 Monet, Claude 98, 132, 135, 260 de Montaigne, Michel 36, 109, 152 Moran, Richard 241 Morgan, Robert C. 146 Morris, William 51, 126 Motoori, Norinaga 203 Mozart, Wolfgang Amadeus 140, 142 Mukařovský, Jan 31, 126 Muelder Eaton, Marcia 191, 198–199 Murasaki 203 N Nabokov, Vladimir 220, 246 Nahm, Milton C. 33 Naipaul, V. S. 17 Nanay, Bence 36, 42, 44, 228, 229–230, 231 Navaho (nordamerikanisches ­indigenes Volk) 141, 168 Personenregister | 321

Nehamas, Alexander 132, 133, 136 Neshat, Schirin 272 Newman, Barnett 122–123, 149, 151, 219, 220 Nguyen, C. Thi 270 Nietzsche, Friedrich 26 O Obert, Mathias 203 Ogden, C. K. 103 Oliver, Mary Beth 259–260 P Paris, Gaston 124 Parkes, Graham 204 Parry, Roger 124 Parsons, Glenn 193–194, 195, 196, 197, 200, 209 Phelps, E. A. 71 Phidias 132 Piaget, Jean 156 Picasso, Pablo 75, 90, 122, 123 Pillow, Kirk 220 Pinker, Steven 58 Pissarro, Camille 141 Platon 25, 28, 30, 71, 117, 119, 120, 141 Plum, Richard 59 Poe, Edgar Allan 120 Polite, Brandon 238 Pollock, Jackson 33, 182 Praxiteles 132 Presley, Elvis 165 Prinz, Jesse 75 Proust, Marcel 26, 35, 37, 85, 124, 139, 151, 164 Putin, Vladimir 23, 275 Pynchon, Thomas 85

322 | Personenregister

Q Quinto, Lena 72 R Rachmaninow, Sergei 140 Radford, Colin 240 Rawls, John 223 Read, Rupert 14, 15 Rebentisch, Juliane 228, 229, 269 Reckwitz, Andreas 16, 17–21, 43, 60, 83 Rembrandt, Harmensz. van Rijn 100, 151, 182, 221, 260–261, 264, 266, 273 Richards, I. A. 103 Richie, Donald 203 Richter, Gerhard 124, 221 no Rikyū, Sen 51, 173 Rings, Michael 45–46 Robinson, Jenefer 229–230, 232, 242, 250, 255 Roeser, Sabine 94 Rolston III, Holmes 197, 199, 216 Rorty, Richard 35–37, 42, 143 Roß, Jan 105–106 Rothko, Mark 124, 137, 147, 266 Ruffo, Antonio 264 Russel Wallace, Alfred 59 Ruskin, John 51 Ryle, Gilbert 259 S Sagmeister, Stefan 133 de Saint-Exupéry, Antoine 139 Saito, Yuriko 154, 160, 161, 168, 169, 171–172, 177, 178, 190–191, 196, 204, 208 Salgrado, Sebastião 148 Sandrisser, Barbara 182

Santi, Raffael 119 Sartre, Jean-Paul 55 Sartwell, Crispin 132, 140 Saville, Jenny 250 Scarry, Elaine 119, 125, 147 Schauman, Sally 191 Schellekens, Elisabeth 76, 78 Scherer, Klaus R. 238 Schiller, Friedrich 35, 120, 183 Schjeldahl, Peter 135, 152 Schleiermacher, Friedrich Daniel Ernst 92 Schmetkamp, Susanne 245 Schopenhauer, Arthur 33 Schubert, Franz 110, 140, 273 Schweitzer, Albert 201 Scruton, Roger 134 Seel, Martin 187 Seeley, William P. 57–58 Sei Shonagon, Dame 176 Shah von Persien – Pahlevi 17 Shakespeare, William 92, 103, 139, 142, 143 Shan, Sa 49 Shapshay, Sandra 221–222 Shaw, Philip 212, 220 Sherman, Cindy 251 Shimamura, Arthur P. 75, 128, 235, 244 Simpson, Zachary 180 Silverthorne, Jeffrey 251 Sisley, Alfred 141 Sizer, Laura 181–182 Slaby, Jan 94–95 Smith, Kiki 251 Smith, Murray 253 Smuts, Aaron 247 Socrates 119 Solomon, Robert 249

Song, Moonyoung 241 Sougez, Emmanuel 124 Spielberg, Steven 260 Spoerhase, Carlos 84 St Aubyn, Edward 244 Stamitz, Anton 107 Starr, G. Gabrielle 71, 135 Stecker, Robert 97, 114–115, 168 Stendhal (Henri Marie Beyle) 72, 121, 125, 139, 235, 244 Stewart, Duncan C. 193 Strauss, Richard 140 Strawinsky, Igor 118 Strohl, Matthew 270 Suevi (spätere Schwaben) 195 Sugimoto, Hiroshi 124 Suzuki, Daisetz Teitaro 174–175 T Tanizaki, Jun’chiro 174 Tarantino, Quentin 250 Taut, Bruno 141 Taylor, Paul 208–209 Teroni, Fabrice 94, 241–242, 243 Terran, Vendrell 255 Thomas, Joshua Lewis 271 Thompson, William Forde 72 Thoreau, Henry David 188 Tizian 26, 250 Todd, Cain 94, 249 Tolstoi, Leo 139, 150, 233, 247, 253 de la Tour, Georges 147 Traversi, Gaspare 250 Tschaikowsky, Pjotr 139 Tuan, Yifu 163, 165, 178, 205, 206 Tullmann, Katherine 246, 253 Turkle, Sherry 156 Turner, Joseph Mallord William 137, 191 Personenregister | 323

Tutanchamon 118 Tzara, Tristan 122 U Ullmann-Margalit, Edna 115 Utzon, Jørn 82 V Vanderbilt, Tom 137 de Velázquez, Diego 75 Verdi, Giuseppe 140 Vermeer, Johannes 38, 75, 93, 98, 99, 111–113, 151, 261, 273 da Vinci, Leonardo 11, 75, 135 Viso, Olga 124 Volkelt, Johannes Immanuel 252 de Voltaire, François Marie Arouet 121 Volterrano, Baldassare Frances­ chini, »Il Volterrano« 235 W Wagner, Richard 121, 140 Wall, Jeff 85 Wallace, David Foster 85 Wallace-Wells, David 12 Walsh, Jessica 133 Walton, Kendall 25, 26, 90, 240 Wang, Juja 50 Warhol, Andy 124 Weiskel, Thomas 220 Weitz, Morris 30 Welchman, Jennifer 197 Welles, Orson 157

324 | Personenregister

Welsch, Wolfgang 181 West, Geoffrey 84 White, Luke 221 Willis, Bruce 93 Wilson, Catherine 59 Winckelmann, Johann Joachim 105 Winner, Ellen 229, 231, 239, 244 Winnicott, D. W. 157 Witsek 252 Wittgenstein, Ludwig 154 Wolf, Hugo 159 Wollheim, Richard 245 Wüschner, Philipp 94–95 Wyss, Beat 144 Y Yanagi, Sōetsu 177 Yang, Lian 49 Yi, Cai 224 Yoruba (Volk im heutigen Nigeria) 72 Yue, Minjun 49 Z Zabala, Santiago 27 Zeki, Semir 54, 74, 75, 118, 126–127 Zeng, Fangren 224 Zimmerli, Walther Ch. 33 Žižek, Slavoj 216 Zola, Émile 121 Zuñi (nordamerikanisches ­indigenes Volk) 168 Zweig, Stefan 139