Ästhetik in der Wissenschaft: Interdisziplinärer Diskurs über das Gestalten und Darstellen von Wissen 9783787317837, 9783787335251

I. WISSENSCHAFTSTHEORETISCHE REFLEXIONEN Wolfgang Krohn: Die ästhetischen Dimensionen der Wissenschaft Ernst Peter Fis

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Ästhetik in der Wissenschaft: Interdisziplinärer Diskurs über das Gestalten und Darstellen von Wissen
 9783787317837, 9783787335251

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Ästhetik in der Wissenschaft Interdisziplinärer Diskurs über das Gestalten und Darstellen von Wissen

Sonderheft 7 der Zeitschrift für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft

Herausgegeben von wolfgang krohn

FELIX MEINER VERLAG HAMBURG

Bislang erschienen im Felix Meiner Verlag folgende Sonderhefte der »ZÄK«: 1 2 3 4

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Ursula Franke (Hg.): Kants Schlüssel zur Kritik des Geschmacks (Jg. 2000) Rudolf Behrens (Hg.): Ordnungen des Imaginären (Jg. 2002) Ursula Franke / Josef Früchtl (Hg.): Kunst und Demokratie (Jg. 2003) Gert Mattenklott (Hg.): Ästhetische Erfahrung im Zeichen der Entgrenzung der Künste (Jg. 2004) 5 · Ursula Franke / A. Gethmann-Siefert (Hg.): Kulturpolitik und Kunstgeschichte ( Jg. 2005) 6 · Georg Braungart / Bernhard Greiner (Hg.): Schillers Natur (Jg. 2005)

Bibliografi sche Information Der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografi sche Daten sind im Internet über ‹ http://dnb.ddb.de › abruf bar.

Zeitschrift für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft Sonderheft 7 · ISBN 3-7873-1783-X · ISBN 978-3-7873-1783-7 · ISSN 1439-5886 Felix Meiner Verlag 2006. Alle Rechte vorbehalten. Dies betriff t auch die Vervielfältigung und Übertragung einzelner Textabschnitte durch alle Verfa hren wie Speicherung und Übertragung auf Papier, Transparente, Filme, Plat ten und andere Medien, soweit es nicht §§ 53 und 54 URG ausdrücklich gestatten. Satz: Type & Buch Kusel, Hamburg. Druck und Bindung: Druckhaus »Thomas Müntzer«, Bad Langensalza. Werkdruckpapier: alterungsbeständig nach ANSI-Norm resp. DIN-ISO 9706, hergestellt aus 100% chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Printed in Germany. ©

IN H A LT

Vorwort .......................................................................................................

V

i. wissenschaftstheoretische reflexionen Wolfgang Krohn: Die ästhetischen Dimensionen der Wissenschaft ...............

3

Ernst Peter Fischer: Ästhetische Wissenschaft – Schöne Ideen und elegante Experimente in der Geschichte ..................................................................

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Joachim Schummer: Symmetrie und Schönheit in Kunst und Wissenschaft ...

59

Carsten Köllmann: Das elegante Universum und seine hemdsärmelige Wirtschaft – Ästhetische Aspekte der Wirtschaftswissenschaft ..................

79

Ii. gestaltung des wissens Thomas Kellein: Die Ästhetik des Wissens – in Gips. Hiroshi Sugimoto und »Das große Glas« Marcel Duchamps ....................................................

107

Alfred Nordmann: Vor-Schrift – Signaturen der Visualisierungskunst ..........

117

Torsten Meyer: KnowledgeDesign – Die ästhetische Darstellung der Welt ...

131

iii. naturwissenschaftliche sichtweisen Holk Cruse: Wissenschaft und Kunst – Zwischen beharrender Harmonie und unstetem Streben nach Neuem ............................................................

147

Diskurs: Ästhetik zwischen Harmonie und Neugier ...................................

157

Philippe Blanchard: Chaotische Bemerkungen eines theoretischen Physikers zur Ästhetik ...............................................................................................

167

Helge Ritter: Schönheit als Antriebsfeder der Erkenntnis .............................

175

IV

Inhalt

Johannes Lenhard: Computersimulation – Über einen Umbruch in der ästhetischen Konstitution der Mathematik .................................................

181

Diskurs jenseits der Fachgrenzen: Über die (Dis-)Kontinuität des Begriffes der Schönheit ..............................................................................

187

iV. historische blicke Wolfgang Braungart und Silke Jakobs: Staunen und Hingabe: Zur Ästhetik des Wissens seit dem 18. Jahrhundert ...............................................................

201

Natascha Adamowsky: Annäherungen an eine Ästhetik des Geheimnisvollen – Beispiele aus der Meeresforschung des 19. Jahrhunderts ................

219

Klaus Hentschel: Zur Rolle der Ästhetik in visuellen Wissenschaftskulturen – Das Beispiel der Spektroskopie im 19. Jahrhundert ...................

233

Veronika Hofer: Jakob von Uexkülls Umwelten und das wiedergefundene Staunen – Zur neuen Ästhetik des Performativen im Zoo ..........................

257

V. ausblicke .........................................

283

Die Autorinnen und Autoren .....................................................................

291

Farbteil (farbige Abbildungen) ...................................................................

297

VORWORT

Ist es nicht verwegen, die Wissenschaften insgesamt und umstandslos im schönen Schein der Ästhetik erglänzen zu lassen? In den Verließen der Laboratorien, den Datenströmen der Rechner, den komplexen Modellen der Mathematik und den unverständlichen Theoriesprachen mag ja vieles zu entdecken sein – aber Ästhetik, so wird man vermuten, fristet dort eher ein verkümmertes Dasein im Schatten. Den Wert des wissenschaftlichen Wissens mag man in Welterklärung oder Technologie sehen, aber schwerlich in seinem Beitrag zur Ästhetik. Dennoch: Unter dem Titel »Die Ästhetik der Wissenschaften« fand im Februar 2005 im Zentrum für Interdisziplinäre Forschung der Universität Bielefeld ein interdisziplinäres Symposium statt, in dessen Zentrum die innere Ästhetik der wissenschaftlichen Tätigkeit stand. ›Ästhetik‹ umfasst dabei – ohne enge defi nitorische Vorgaben – die reflexiven Versuche, die Bedeutung der sinnlichen Wahrnehmung in der Forschung, des Staunens über und der Hingabe an die durch Forschung erschlossenen Wirklichkeiten, der Eleganz formaler Modelle und Theorien, des Designs von Experimenten und der Gestaltung von Texten und Bildern zu verstehen. Das Ziel des Symposiums war nicht die Erarbeitung einer einheitlichen oder geschlossenen Theorie, sondern die Öff nung des Blicks für die Vielfalt dieser Aspekte ästhetischer Arbeit in den Wissenschaften. Ästhetische Gestaltung steht nicht in Konkurrenz zur Wahrheitsorientierung der Wissenschaft, sondern ist ein Element des Wahrheitsanspruchs. Geltung kann nur für ein Wissen beansprucht werden, das in einem exponierten Sinn besonderen Gestaltungsansprüchen genügt. Nicht obwohl, sondern weil Wissen gestaltet ist, kann es sich der kritischen Prüfung aussetzen. Darin besteht die Ähnlichkeit zum Kunstwerk; zunächst aber nur darin. Denn Wahrnehmung und Gestaltung in Kunst und Wissenschaft gehen in der Moderne verschiedene Wege, auch wenn diese sich immer wieder überschneiden, durch Analogien verbunden sind, einander anregen und gemeinsam zu Weltbildern beitragen. Bevor jedoch das reflexive Interesse sich auf diese Schnittpunkte und Analogien konzentriert, ist die vorrangige Aufgabe, die ästhetische Kultur der wissenschaftlichen Wirklichkeitswahrnehmung und Wissensgestaltung zu erkennen. Das ist das gemeinsame Credo der hier versammelten Autoren. Sie wenden sich kritisch dagegen, durch einen vermeintlichen Funktionalismus der wissenschaftlichen Sachlichkeit die Begeisterung für die spezifi schen Reize der Forschung und der Präsentation von Wissen zu verstellen. Ein besonderer Akzent des Symposiums war seine Interdisziplinarität, zu der von Seiten der Geisteswissenschaften Philosophie, Soziologie, Kunstwissenschaft und Wissenschaftsgeschichte beitrugen, von Seiten der Naturwissenschaften Mathematik, Informatik, Physik und Biologie.

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Vorwort

Das vorliegende Buch spiegelt diese Vielfalt. Er enthält nicht nur Beiträge zu neuen naturwissenschaftlichen Erkenntnissen über die ästhetischen Dimensionen des Erkenntnisprozesses, sondern dokumentiert auch die regen Diskussionen, die sich über die disziplinären Grenzen hinweg ergaben. Mit besonderer Spannung wurde diskutiert, ob die Ästhetik des Wissens, die immer wieder um Begriffe wie ›Eleganz‹, ›Symmetrie‹ und ›Harmonie‹ kreist, mit der Ästhetik der modernen Kunst, die auch das Hässliche, Verworrene und Abstoßende umfasst, in Zusammenhang zu bringen ist. Dahinter tun sich die zwei grundlegenden Fragen nach den möglichen gemeinsamen Wurzeln der Ästhetik in der Arbeitsweise unseres Gehirns und nach der möglichen kulturellen Heterogenität des Ästhetischen auf. Die hier versammelten Beiträge können nur einzelne Aspekte eines umfassenden Themas zur Sprache bringen. Es wäre eine uneinlösbare Erwartung, in der hier vertretenen interdisziplinären Spannweite eine kohärente wissenschaftsphilosophische Theorie der Ästhetik in den Wissenschaften zu vermuten. Nicht zum abgeschlossenen Kunstwerk, sondern zum performativen Theater wollten die Autoren beitragen. Der erste Beitrag des Bandes ist immerhin ein Versuch, das Thema in systematischer Weise zur Sprache zu bringen und dabei die weiteren Beiträge zu positionieren. Wenn es eine gemeinsame Absicht gibt, dann die, mit der ›Ästhetik der Wissenschaften‹ den Verkrustungen in den Wissenschaft entgegen zu wirken, ihre innere Spannkraft bei der Gestaltung von Wissen zur Geltung zu bringen und Anregungen dafür zu geben, Wissenschaft nicht nur als technologischen Faktor, sondern auch als ästhetisches Element der Gesellschaft wahrzunehmen. Wenn Wissenschaftler hierin auch eine Aufgabe erblicken, ihre eigene Tätigkeit zu überdenken und anders zu vermitteln – umso schöner. Der Fritz Thyssen Stiftung sei auch an dieser Stelle für die fi nanzielle Unterstützung des Symposiums und dieser Veröffentlichung gedankt. Ich danke auch Petra Schulze vom Institut für Wissenschafts- und Technikforschung, die sowohl bei der Tagungsorganisation wie bei der Erstellung der Buchvorlage durch ihre wie immer engagierte und verlässliche Arbeit mitgewirkt hat. Mein ganz besonderer Dank gilt Andrea Nehring, die in allen Phasen der Herstellung dieses Buches als Ideengeberin, Gestalterin und textkritische Lektorin beteiligt gewesen ist.

Bielefeld, Mai 2006

Wolfgang Krohn

I. WISSENSCHAFTSTHEOR ETISCHE R EFLEXIONEN

Die ästhetischen Dimensionen der Wissenschaft Von Wolfgang Krohn

Dieser Beitrag ist ein Versuch, die ästhetischen Dimensionen der Wissenschaft in den Komponenten des Forschungsprozesses (Instrumente, Methoden, Theorien), in der Struktur von Forschungsergebnissen, in der Gestaltung von Texten und den Stilformen von Forschungsfeldern sichtbar zu machen. Ein solcher Versuch kann nur mit einer Entschuldigung angesichts der Uneinlösbarkeit des Anspruchs beginnen. Da jedoch die weiteren Beiträge dieses Bandes recht unterschiedliche Themen behandeln, durch die kein roter Faden hindurchleitet, erscheint es geboten, eine Gesamtsicht dieses Themenbandes wenigstens zu probieren. Es versteht sich, dass damit weder eine verbindliche Sicht der beteiligten Autoren unterstellt wird, noch alle Aspekte, die diese behandeln, einbezogen sind.

I. Ausgangspunkte: Ästhetik des Wahrnehmens, Begreifens und Gestaltens von Wissen Ästhetik ist die Kultivierung des Wahrnehmens und Gestaltens – und sie ist deren reflexive Thematisierung. Wissenschaft kultiviert Wahrnehmung und Gestaltung in der ihr besonderen Weise. Mit ihrem instrumentellen Inventar schult, verfeinert, übersteigert und transformiert sie die Sinnesleistungen weit über die alltäglichen Gebrauchsmuster hinaus. Sie gibt ihrem Umgang mit Gegenständen einen experimentellen Formenreichtum, der Eingreifen und Begreifen spannungsvoll vermittelt. Sie besitzt durch ihre Theoriesprachlichkeit eine Stilistik des Wissens, die dessen Beschreibung, Begriff sbildung, Erklärung und Repräsentation umfasst. Sie besitzt – in einigen Wissenschaften – mit der Mathematik eine einzigartige Formelsprache zur verdichteten Erfassung des Vielfältigen. Ich möchte die ästhetischen Dimensionen der Wissenschaft genau dort anlegen, wo die wissenschaftliche Selbstbeschreibung sich der Ästhetik gegenüber eher spröde gibt – in der Gestaltung von Wahrheit, also in der Gestaltung von Wissen, das mit dem Anspruch gültig zu sein auftritt. Ich gebrauche die Ausdrücke Wissen und Wahrheit unemphatisch. Sie sprechen nicht mehr an, als die in Forschungsprozessen gefundenen Ergebnisse, die einem fachlichen Publikum gegenüber veröffentlicht werden, weil sie nach Einschätzung der Autoren verdienen, diskutiert zu werden. Weder Wissenschaftler noch Publikum würden einräumen, dass ein solcher Anspruch allein durch die Ästhetik des Vorgehens erwirkt werden kann. Jedoch soll dies die zentrale Hypothese sein, der ich hier nachgehe und für die ich – in Anwendung des Behaupteten – einen Gestaltungsrahmen auf bauen möchte. Das Ziel der Argumentation besteht in dem Aufweis, dass der Geltungsanspruch,

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den ein Wissensproduzent gegenüber einem Rezipienten erhebt, einem Gestaltungsprozess entspringt, in dem instrumentalisierte Wahrnehmung, experimentelle Generierung von epistemischen Gegenständen und die Formung begriffl icher Interpretationen so verknüpft werden, dass sie eine Evidenz erzeugen, die es lohnt, behauptet, dargestellt und rezipiert zu werden. Offensichtlich besitzt ein solcher Ansatz konstruktivistische Züge. Die Beobachtung ästhetischer Wahrnehmungs- und Gestaltungsprozesse soll jedoch keinesfalls ein weiterer Beitrag zur soziologischen Reduktion von Wahrheitsansprüchen auf externe Impacts, Interessen und Einstellungsmuster sein, sondern – im Gegenteil – die interne Konstruktivität der Wissenschaft als epistemische Kultur sichtbar machen. Wieweit es fruchtbar ist, damit die Kontroverse zwischen Realismus und Relativismus fortzusetzen, kann hier offen bleiben. Ich habe den Begriff der Gestaltung des Wissens (shaping of knowledge) gewählt, um der Verklemmung dieser Kontroverse aus der falsch aufgebauten Alternative zu entkommen. Ähnlich wie ein Kunstwerk uns anspricht, weil es gestaltet ist, erleben wir wissenschaftliche Evidenz, weil – nicht obwohl – sie gestaltet ist. Dass wir dieses Erleben nicht unserer Einbildungskraft, sondern der Realität zurechnen (mindestens in der Version der beobachtenden ersten Person), kann schwerlich anders gefasst werden, wenn überhaupt von Wissen die Rede sein soll. Was wir dann unter Realität verstehen, ist bereits in den Gestaltungsprozess des wissenschaftlichen Wissens einbezogen, zu dem auch dessen Reflexion gehört. Ich möchte nicht behaupten, dass eine Fokussierung auf die Ästhetik der Wissenschaften einen Ausweg aus diesem Grundlagenstreit bietet und möchte mich hier nicht darauf einlassen – aber vielleicht wird dieser dadurch bereichert. Eine zweite Vorbemerkung: Der Beitrag äußert sich nicht zu den Beziehungen zwischen Wissenschaft und Kunst. Dafür gibt es den äußerlichen Grund, eine thematische Überlastung zu vermeiden. Stärker noch wiegt die Vorsicht, aus allgemeinen Ähnlichkeiten wie der Kreativität der Forscher und der Künstler oder der Verwendung von Bildmaterial hier wie da oder aus punktuellen joint ventures wie Auff ührungen von Quantenmusik oder Ausstellungen, die science & fi ction annähern, vorschnelle Schlüsse auf Gemeinsamkeiten zu ziehen. Es werden dann gern der Wissenschaft künstlerische Züge zugesprochen und der Kunst solche der Wirklichkeitserkenntnis, ohne dass dabei die innere Ästhetik der Forschungspraxis und Wissenspräsentation begrifflich erfasst wird (um die der Kunst sorgen sich hingegen Fachleute genug). Eine Absage wird damit den vielfältigen und spannenden Verknüpfungen, die es zum Glück wieder gibt, nicht erteilt. Sie sind nur nicht der primäre Gegenstand dieses Essays (siehe hierzu der Beitrag von Joachim Schummer in diesem Band).

Die ästhetischen Dimensionen der Wissenschaft

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II. Die instrumentellen, experimentellen und begrifflichen Gestaltungselemente 1. Instrumentalisierte Wahrnehmungsästhetik Forschung verlässt sich nur selten auf die direkte sinnliche Wahrnehmung, sondern setzt Instrumente ein. Die Schulung der wissenschaftlichen Wahrnehmung besteht daher zu einem großen Teil darin, Instrumente zu handhaben und deren Daten interpretieren zu lernen. Die den Forschern zugewandten Oberfl ächen der Instrumente bieten Bilder, Geräusche, Gerüche, Zeiger auf Skalen, Graphen und kodierte Daten. Sie zeigen häufig auf etwas, das der unbewehrte Blick schwerlich oder gar nicht erfassen kann. Vor allem dem Sehsinn, aber auch den anderen Sinnen werden diese instrumentellen Mediatisierungen zugemutet und man muss körperlich lernen, damit umzugehen. Für diese Steigerungen und Verfeinerungen der Wahrnehmung stehen seit der Entstehung der neuzeitlichen Wissenschaft paradigmatisch das Fernrohr und das Mikroskop. Die Faszinationen des Blicks in die Weiten des Planetensystems und später des Weltraums sowie der Entdeckungen in den Mikrowelten der sublimen Texturen und Organismen durchzogen das 17. Jahrhundert. Das Erstaunlichste war nicht die Vergrößerung als solche, sondern das Schauen von Wirklichkeiten, zu denen kein anderer Zugang besteht, als der durch die Repräsentationen der Instrumente. Robert Hooke hat in seiner Micrographia von 1665 diesem neuen Zutrauen in die instrumentelle Erweiterung Ausdruck gegeben. Durch die »Hinzufügung von künstlichen Organen zu den natürlichen« ist »nichts so weit, dass es nicht unserer Sicht präsentiert werden könnte […] noch so klein, dass es unserer Untersuchung entginge« (Hooke, 1665, Preface o. S., Absatz 11). Für Hooke war diese Instrumentalisierung des Sehens die »Öff nung des Himmels« für eine sinnliche Erfahrung, der gegenüber alle antiken Astronomen Fremde waren (were utterly strangers). Und sie eröff nete der Wahrnehmung den Zugang zur Erde unter unseren Füßen, in deren jedem kleinen Teil »wir jetzt eine beinahe so große Varietät von Kreaturen betrachten, wie wir sie vorher in der ganzen Welt feststellen konnten« (ebd.). Die grenzenlose Steigerung der natürlichen Wahrnehmung durch die künstliche wird keineswegs als Entfremdung zwischen der körperlich-sinnlichen und der wissenschaftlichen Wahrnehmung interpretiert. Die künstlichen Organe öff nen Pforten der Wahrnehmung, hinter denen die kleinsten Dinge die größten Überraschungen offenbaren. Hooke beginnt die Micrographia mit einem allegorischen Verwirrspiel: Die feinsten geometrischen Punkte und Linien – er nimmt die Spitze der Nähnadel und die Schneide des Rasiermessers – erweisen sich unter dem Mikroskop als grobe, unregelmäßige Landschaften. Die »Schönheit« (beauty, Hooke 1665, 2) der feinsten von der Kunst gefertigten Dinge schwindet unter dem Mikroskop dahin. Demgegenüber weisen die »Werke der Natur« auch in beliebigen Vergrößerungen »die größte Excellenz« der geometrischen Formen auf und sprechen das Lob ihres Schöpfers. (Genauer

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sprechen dieses Lob die Stiche des Werkes, doch dies ist ein Vorgriff auf die repräsentationalen Aspekte der Gestaltung von Wissen.) Die Übernahme dieser Grundgedanken in die Philosophie von Leibniz und die daran geknüpften weit reichenden Interpretationen der monadischen Vollkommenheit des ›Infi nitesimalen‹ sind bekannt (Wendler 2002). Ich nehme ein zweites Beispiel hinzu. Bereits im vorwissenschaftlichen Raum praktischer Technik eröff nete der Kompass dem Auge den Zugang zu einem Phänomenbereich, für den wir nicht einmal einen Sinn ausgeprägt haben. Der Londoner Seemann, Instrumentenbauer und Amateurforscher Robert Norman ›sah‹ mit der Magnetnadel die Wirkungsweisen des irdischen Magnetfeldes (durch die vertikale Neigung der Nadel) und der Eisenmagneten (durch ihre horizontale Ausrichtung). Norman spürte das dem Pythagoras nachempfundene »unglaubliche Entzücken« seiner Entdeckungen (nach Zilsel 1976, 116). Natürlich beruht ein solcher »kognitiver Hedonismus« (Martindale 1984) nicht darauf, den Kompass anzustarren, sondern ein neues Gebäude des Wissens zu betreten, das sich nur im instrumentellen Wirklichkeitsbezug auf bauen lässt. William Gilbert, Leibarzt der Königin Elizabeth, verwendete Normans Erkenntnisse in seinem 1600 erschienenen »De Magnete«, das Zilsel als »das erste von einem akademisch geschulten Gelehrten gedruckte Buch über einen Gegenstand der Naturwissenschaft, das fast vollständig auf Beobachtung und Experiment gegründet ist«, bezeichnete (Zilsel 1976, 98). Im Verlauf der weiteren Entwicklung machten sich die Wissenschaften immer stärker von dieser instrumentellen Vermittlung sinnlicher Wahrnehmung abhängig. Sie ›tasteten‹ sich in die Gebiete jenseits der unmittelbaren Erfassbarkeit durch unsere Sinne vor. Teils ging es um neue Phänomenbereiche, teils um die Steigerung des Auflösungsvermögens der Wahrnehmung. So entstand ein instrumentelles ›Sensorium‹, das sich über immer weitere Strecken auf seine eigenen Anzeigesysteme und deren Transformation in Bildwelten bezog. Die Bodenhaftung wurde nicht etwa durch die verbleibenden Funktionen der natürlichen Sinne gewahrt, sondern durch die Experimentalwirklichkeiten, die einer ähnlichen Tendenz unterlagen, lebensweltliche Primärerfahrungen allenfalls als Ausgangspunkte apparativ ›verbesserter‹ Erfahrungen anzuerkennen. Diese Instrumentalisierung der Wissenschaft nun umstandslos eine ästhetische Kultivierung der Wahrnehmung zu nennen, muss – auch gegen die begeisterten Selbstbeschreibungen der Forscher vom Schlage Normans und Hookes – auf Kritik stoßen. Ist sie doch, wie bereits Goethe beklagte, zugleich ein Verlust unseres eigenen Sensoriums der Wirklichkeitswahrnehmung. Insbesondere erscheint es problematisch, die eigenen Sinne als defi zient zu diskreditieren, wie Robert Hooke es tat. »Es ist nicht unwahrscheinlich, dass viele mechanische Erfi ndungen gefunden werden, die auch unsere anderen Sinne des Hörens, Riechens, Schmeckens, Tastens verbessern« (Preface, o. S. Abs. 22). Hooke lässt eine Reihe von Vorschlägen folgen, wie die Defi zite unserer Sinne durch Reparatur und Ersatz zu beseitigen

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wären. Es sind alles Vorschläge der Spezialisierung auf Kosten der sinnlichen Fülle. Genau hierin sehen Kritiker die ästhetische Schwäche der Wissenschaft. Vorsichtiger formuliert ist das Problem nicht die Wissenschaft selbst, sondern der mit ihr verbundene Anspruch auf ›objektive‹ und ›verbindliche‹ Wirklichkeitswahrnehmung. Ein amerikanischer Geologe und Philosoph Bob Frodeman beschrieb (Frodeman 2003), wie er seine Kursteilnehmer dem Erlebnis der Landschaftswahrnehmung aussetzt. Sie sollten sich darin schulen, die Schönheit der Rocky Mountains und die Brutalität der bergbaulichen Eingriffe zu erkennen. Sie sollten auch einen Sinn für die bizarren Überlagerungen entwickeln, die sich zwischen dem Abraum, dem Einsatz von Säuren (›acid mining‹) und den ehemals natürlichen Formationen von Hängen, Flüssen und Vegetation ergaben. Diese ›künstlichen Naturen‹ wahrnehmen zu lernen galt dem Philosophen Frodeman als Voraussetzung dafür, bei dem Geologen Frodeman in der spezifi schen Realität heimisch zu werden, die durch die instrumentalisierten Wahrnehmungsweisen der chemischen Messungen, hydrologischen Simulationsmodelle und kristallographischen Analysen bestimmt sind. Goethes Einspruch (vgl. jüngst Helbig 2004) – weitergeführt in Pierre Duhems (1908) Formel der »Rettung der Phänomene«, Husserls (1977) Ursachenanalyse der »Krisis des europäischen Geistes«, der Phänomenologie von Herrmann Schmitz (1998) und Gernot Böhmes (1984) Apriori leiblicher Erfahrungskonstitution – kann gewiss nicht gering bewertet werden. Aber er kann die erkenntnismächtige Grundlage der Instrumentalisierung wissenschaftlicher Wahrnehmung mit ihrer besonderen ästhetischen Valenz nicht bestreiten, sondern nur in ein kritisches Licht rücken. Ich werde später (Abschnitt III ) diese Diskussion wieder aufnehmen. Zunächst gilt es festzuhalten: Ästhetik in den Wissenschaften hat in der Kultivierung des Wahrnehmens durch wissenschaftliche Instrumente ihr erstes Thema und ihren ersten spezifi schen Beitrag. Mit ihm reizt sie das Ästhetische in einer unvergleichlichen, nämlich wissenschaftlichen Radikalität aus und bereichert den Wirkungskreis des Ästhetischen.

2. Experimentelle Gestaltung Nicht anders steht es um die gestaltende Seite der wissenschaftlichen Ästhetik: Durch die Erfi ndung des Experimentierens ist eine Form des Erkennens entwickelt worden, die Eingreifen und Begreifen in einem ständigen Wechselspiel hält. Galileo Galileis »Discorsi« von 1638 sind das erste literarische Zeugnis, in dem die Wissenschaft als eine Praxis beschrieben wird, die ihre Gegenstände nicht empfängt, sondern formt. Der neuen Wissenschaft stehen Künstler und Handwerker Modell, jedenfalls in Galileis literarischer Herausforderung an die etablierte Schulwissenschaft. Der Satz, mit dem Salviati die Diskussion eröff net, bringt die Nähe des Experiments zur handwerklichen Gestaltung zum Ausdruck: »Die unerschöpfliche Tätigkeit Eures berühmten Arsenals, Ihr meine Herren Venezianer, scheint

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mir den Denkern ein weites Feld der Spekulation darzubieten, besonders im Gebiete der Mechanik: da fortwährend Maschinen und Apparate von zahlreichen Künstlern ausgeführt werden, unter welchen sich Männer von umfassender Kenntnis und bedeutendem Scharfsinn befi nden.« (1987, Bd. I, 329) Der berühmte Auftakt verbindet den Erfi ndungsreichtum der Praktiker mit den ›spekulativen‹ Interessen der Theoretiker auf dem neuen Wissens- und Handlungsgebiet der Mechanik. Charakteristisch für die Mechanik ist die Verbindung der Erklärung von Kräften und Bewegungen der Natur mit solchen der technischen Konstruktion. Salviati richtete seine Eröff nung an die Stadtherren Venedigs, um auch gleich auf die Bedeutung der neuen Wissenschaft für das wirtschaftliche und militärische Wohlergehen aufmerksam zu machen. In den gedanklichen Mittelpunkt positionieren die Gesprächspartner das Experiment, in dem die (technische) Gestaltung gegebener Wirklichkeit und die (theoretische) Beschreibung gestalteter Wirklichkeit in eins gesetzt werden. Die intellektuelle und sprachliche Kraft der Discorsi trug nachhaltig dazu bei, der neuen wissenschaftlichen Erkenntnisform soziales Gehör zu verschaffen. Die große Wirksamkeit der experimentellen Methode bestand nach Galilei darin, verwickelte Probleme, die bei der Beschreibung der Wechselwirkungen zwischen materiellen Körpern, natürlichen Kräften, künstlichen Stößen, Reibungen und Widerständen der Medien auftraten, in isolierbare einfache Szenen aufzulösen, die man gedanklich und faktisch durchspielen konnte. Dies ist die Geburt des Laboratoriums, dem Aufenthaltsort der Wahl des modernen Wissenschaftlers, weil er die ideale Umgebung seiner experimentellen Gestaltung der Wirklichkeit ist. Parallel also zur ›Kultivierung der Wahrnehmung‹ durch das instrumentelle Sensorium setzte die wissenschaftsspezifi sche ›Kultivierung der Gestaltung‹ durch die experimentelle Methode ein. Deren Kern ist die Erschaff ung kleiner Sonderwelten, in denen die Schöpfer das Geschehen nach eigenem Ermessen bestimmen können. In diesem Sinne fangen Experimente ein Wissen gleichsam ein und geben ihm durch die Isolierung gegenüber störenden Einflüssen seine spezifi sche Form als Funktionsbeziehung zwischen veränderlichen Größen. Verschiedene Methoden des Experimentierens setzten sich durch, deren gemeinsamer Nenner aber immer ist, dass der Experimentator als Designer besonderer Arrangements des Geschehens auftritt. Experimentieren dient in der Forschung verschiedenen Zielen: der Entdeckung neuer Effekte, der Gewährleistung verlässlicher Anordnungen durch Standardisierung und der Bestätigung theoretischer Aussagen. Zu bedenken ist auch, dass Experimente in den verschiedenen Bereichen der Physik, Chemie, Lebenswissenschaften, Kognitionsforschung und Sozialwissenschaften recht unterschiedliche Auf baustrukturen haben, die davon abhängen, wieweit die untersuchten Gegenstände eigene Rollen spielen und wie der Experimentator sie darin determiniert, dirigiert oder kommunikativ beeinflusst. Weiterhin variieren die Grade der Isolierung. An dem einen Ende stehen fast vollständig artifi zielle Arrangements an dem anderen lebensweltlich eingebettete Realexperimente. Da-

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zwischen gibt es Feldexperimente, Freisetzungsexperimente, Selbstexperimente, Pilotprojekte. (Groß / Hoff mann-Riem / Krohn 2005, 16 ff.). Der in der Wissenschaftstheorie lange behauptete Vorrang der Theorie vor dem Experiment ist also gebrochen. Man kann darin eine Rückkehr zur Auff assung Francis Bacons sehen, dessen Novum Organon von 1624 die erste Methodologie zur experimentellen Arbeitsweise ist. Er sah bereits, dass man viele experimentelle Strategien – von der Entdeckung neuer Effekte bis hin zu Bestätigung von theoretischen Hypothesen – neben einander bestehen lassen muss. Seine Unterscheidung zwischen ›lichtbringenden‹ und ›fruchtbringenden‹ Experimenten unterstellt, dass das vom Experiment entzündete ›Licht‹ Klarheit in die theoretische Erklärung bringt, und dass der vom Experiment entdeckte Effekt eine Bereicherung darstellt, die der ›Frucht‹ einer neu gezüchteten Pfl anze vergleichbar ist. Die wissenschaftstheoretische Literatur hat die eigenständige Bedeutung des Experimentierens lange vernachlässigt, heute ist sie durchgängig anerkannt (Hacking 1983, Gooding 1990, Gooding / Pinch / Schaeffer 1989). Aus Sicht der Ästhetik ist es wichtig, dass der experimentelle Gestaltungsprozess und damit die wissenschaftliche Form des Eingreifens in die Natur in ihrer Eigenständigkeit anerkannt werden. Es eröff net sich dadurch ein breiter Bereich wissenschaftlicher Gestaltungspraxis weit jenseits dessen, was in alltäglicher oder auch berufl icher Erfahrungspraxis erprobt werden könnte. Ähnlich wie im Bereich des Wahrnehmens die Instrumentierung mit einer Schulung der Fähigkeiten, neu und anders wahrzunehmen, einhergeht, sind im Experimentieren neben der Nutzung der Apparate die Aspekte der experimentellen Könnerschaft angesprochen. In einigen Disziplinen haben sich um dieses Können herum Experimentalkulturen herausgebildet, die ihr relatives Eigenrecht gegenüber den Theoretikern behaupten. Neben der Erfi ndung neuer Apparate ist es mehr noch das Untersuchungsdesign, das Anerkennung hervorruft. Es reicht von der genialen Einfachheit etwa der schiefen Ebene Galileis bis zur Komplexität etwa des Millikan ›Öltropfenexperiments‹. Beide Experimente erreichten die Top 10 einer Umfrage, die der Wissenschaftsjournalist Robert Crease 2002 in das Internet setzte, um die »most beautiful experiments of physics« herauszufi ltern. Fragwürdig wie jeder Schönheitswettbewerb ist er zugleich spannend, weil die angewandten Maßstäbe – die die Mitspieler frei wählen konnten – originär aus der Bewertung der experimentellen Designs und der Aussagekraft der Experimente geschöpft wurden. Ein Einsender betonte den überwältigenden Überraschungseffekt, ein anderer den starken Realitätseindruck, den ein Experiment gerade wegen seiner Isolation hinterlässt, ein anderer den Spaß, den der Vollzug eines Experiments gewährt. Weitere Experimente wurden wegen ihrer im Verhältnis zur Aussagekraft sparsamen Ökonomie herausgestellt. (Siehe zur Ästhetik des Experimentierens den Beitrag von Ernst Peter Fischer in diesem Band.) Obwohl Überraschung, Beeindruckung und Effi zienz durchaus Kategorien der Ästhetik des Designs auch außerhalb der Wissenschaft sind (vgl. Liu 2003), reizt die Wissenschaft mit der Arbeit am experimentellen Design die Möglichkeiten der

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Gestaltung in spezifi scher Weise aus. Die Spannungen, die einerseits zwischen der Steigerung des Könnens und Erweiterung des Entdeckens weit über die Grenzen der alltäglichen Erfahrungsmöglichkeiten hinaus und andererseits der Loslösung aus der Beständigkeit lebensweltlich eingebundener Erfahrung aufgebaut werden, gibt es nur in der Forschungspraxis. Problematisch erscheint wiederum zunächst nicht die apparative Isolierung der experimentellen Gestaltung, sondern der damit möglicherweise verbundene Anspruch der alleinigen Verlässlichkeit experimentellen Wissens. Wenn hieraus ein wissenschaftlicher Monopolanspruch auf Wahrheit wird, entsteht das szientistische Missverständnis, das die Lebenswelt nicht nur experimentell bereichert, sondern ersetzt wird. Husserls Auseinandersetzung mit der »europäischen Wissenschaft« nahm zum kritischen Ausgangspunkt, dass mit Galilei die Verwechslung eines methodischen Zugangs zu spezifi schen Gegenstandsbereichen mit unserem lebensweltlichen Zugang zur Wirklichkeit begann (Husserl 1977). Dieselbe Ambivalenz, die mit der gleichzeitigen Steigerung und Einschränkung der wissenschaftlichen Wahrnehmung verbunden ist, zeigt sich auch im Experimentieren. Auch sie trägt zur Besonderheit der Wissenschaftsästhetik bei. Ähnlich wie bei den wissenschaftlichen Instrumenten war das Experimentieren niemals allein eine esoterische Sache der Forschung. Das Publikum und die Unternehmer waren immer dabei. Schon Leonardo da Vinci bot Herzog Ludovico Sforza von Mailand an, seine Erfi ndungen öffentlich vorzuführen (Leonardo da Vinci, Codex Atlanticus 391 r. o.). Von Galileis Angeboten an die Philosophen, sich selbst von den neuen astronomischen Entdeckungen zu überzeugen, über Otto von Guerickes Magdeburger Vorführungen des Vakuumeffektes, den großen Experimentalvorlesungen im Pariser Jardin du Roi im 18. Jahrhundert, Lichtenbergs Physikvorlesungen in Göttingen für »reisende Cavaliere«, Humphrey Davys öffentliche Veranstaltungen in der Londoner Royal Institution zu Beginn des 19. Jahrhunderts, Faradays Vorlesungen über die Kerze für Kinder und Pasteurs öffentlichen Versuchen zur Wirkung der Impfstoffe bis zu den heutigen Events der ›Wissenschaftstage‹ und ›langen Nächte der Wissenschaften‹ ziehen sich die Versuche hin, das Publikum durch Vorführung überraschender Effekte zu begeistern. Die Experimente schaffen die dramatischen Höhepunkte des öffentlichen Theaters der Wissenschaften, die Staunen, Bewunderung und Schaudern auslösen. In der öffentlichen Inszenierung des Wissens reichen sich Auf klärung und Verklärung, Einführung und Verführung die Hände. (Siehe zur öffentlichen Inszenierung den Beitrag von Veronika Hofer in diesem Band.)

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3. Begriffl iche Formgebung Die dritte Komponente der ästhetischen Gestaltung des Wissens bezieht sich auf die Theorie oder allgemeiner auf den begriffl ichen Ausdruck, der der instrumentalisierten Wahrnehmung und dem experimentellen Handeln korrespondiert. Ähnlich wie bei den Instrumenten und Experimenten ist es geboten, eine weite Konzeption einzuführen, die viele Formen des begriffl ichen Ausdrucks von der ›getreuen‹ Beschreibung, über die Klassifi kation der Phänomene, der mathematischen Formalisierung bis hin zur bildtextlichen Erfassung umgreift. Es kommt mir nicht darauf an, für diese Vielfalt einen gemeinsamen Nenner zu fi nden, sondern darauf, den Ansatzpunkt des Ästhetischen auch hier sichtbar zu machen. Im Unterschied zur Instrumentalisierung und Experimentalisierung kann Theoretizität nicht im gleichen Sinn als ein spezifi sches Merkmal der modernen Wissenschaft bezeichnet werden. Dagegen sprechen die Herkunft des Begriff s aus der Philosophie und die Verwandtschaft, die zwischen philosophischen und wissenschaftlichen Weltanschauungssystemen besteht. Als unterscheidendes Merkmal zur philosophischen Theoriebildung springt zuerst die Mathematisierung ins Auge. Beginnend mit Keplers Planetengesetzen, über Newtons Gravitationsgesetz bis hin zu der formalen Ikone des 20. Jahrhunderts (E = mc 2 ) bilden die mathematischen Formulierungen eine Kette formvollendeter Glanzstücke der wissenschaftlichen Ästhetik. (Siehe hierzu der Beitrag von Johannes Lenhard in diesem Band.) Die Selbstzeugnisse der Wissenschaftler stimmen bemerkenswert darin überein, dass der Eleganz eines Formalismus die höchste Qualität wissenschaftlicher Ästhetik zukommt (McAllister 1996). Die Faszination beruht darauf, dass mit einer äußerst sparsamen Formulierung eine große Breite von häufig heterogenen Erscheinungen mit großer Genauigkeit erfasst werden können. Es sind vor allem diese mathematischen Theoriekerne, mit denen die Wissenschaft in einer nirgendwo sonst kultivierten Weise ihre besondere Ästhetik ins Extrem steigert. (Siehe hierzu der Beitrag von Philippe Blanchard in diesem Band.) Auch hier steht die Kritik direkt neben der Bewunderung der Eleganz. Denn ähnlich wie die instrumentelle Steigerung der Wahrnehmung die synästhetische Fülle unserer körperlichen Wahrnehmung Preis geben muss, und das experimentelle Handeln die Komplexität des Handelns in der Umwelt beschneidet, grenzen Theorien radikal Wirklichkeitsbereiche aus, um die Konsistenz und Präzision ihrer Aussagen möglich zu machen. So wie das Instrument der Illusion Vorschub leistet, die Welt sei ›durchschaubar‹, und die Kontrolle des Experiments die Kontrollierbarkeit der Wirklichkeit suggeriert, erzeugt die Theorie die Vorstellung, sie sei vollständig berechenbar. Man kann nicht bestreiten, dass solche weltanschaulichen Fantasien gepflegt wurden – die berühmteste ist wohl der Dämon von Laplace – und ihre eigene Ästhetik von Propaganda und Macht entfalteten. Aber die bescheidene Lesart, die hier vertreten werden soll, besteht gerade nicht auf den szientistischen Ansprüchen, sondern auf der ästhetischen Besonderheit der Weltbeschreibung

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in begriffl ichen und formalen Theoriesprachen. Sie können nicht als Basis einer allgemein gültigen und überall anwendbaren Ästhetik dienen. Neben den ästhetischen Vorzeigestücken der theoretischen Gleichungssysteme gibt es als weiteren Bereich der theoriesprachlichen Ästhetik die Begriffsbildung selbst. Auch sie strahlt die Eleganz der Erfassung einer extensionalen Vielfalt in einer einzigen Bedeutung aus. So war an Newtons Theorie bemerkenswert, dass es in ihr gelang, für unterschiedlichste Formen der Kräfte (Stoß, Druck, Schub, Zug) und Erscheinungsformen der Materie Begriffe zu fi nden, die nicht abstrakte Dächer waren, sondern wesentliche Eigenschaften erfassten und daher die bis dahin heterogenen Dinge des Himmels und der Erde, des Natürlichen und des Technischen in eine Begriff ssprache brachten. Eine ähnliche Eleganz strahlten Darwins Wechselbegriffe der Variation und Selektion aus, weil sie versprachen, die unendliche Differenzierung des Lebens in einem einzigen Schema erklären zu können. Der zeitgleich geformte Begriff der Energie, der alle Arten der mechanisch, elektrisch, chemisch› magnetisch und anders arbeitenden Natur und Technik vereinigte, besaß eine ähnliche Qualität und wurde darüber hinaus zum Schlüsselbegriff eines neuen mathematisch formulierten Theoriekerns. Ein weiteres, mit der Begriff sbildung verwandtes Feld sind Klassifikationen. Wenn es gelingt, mit wenigen Unterscheidungen für eine große Fülle von Erscheinungen ein Ordnungsschema bereit zu stellen, entsteht wiederum ein Eindruck von Eleganz. Carl von Linnés so genanntes »natürliches System« der Pfl anzenklassifi kation strahlte diese Eleganz mit Blick auf die Ordnung des unübersichtlich komplexen Pfl anzenreichtums aus. Noch stabiler erwies sich das Klassifi kationssystem der chemischen Elemente von Mendelejev, das auf dem einfachen Prinzip der Anordnung nach Atomgewichten und der Zuordnung von stoffl ichen Qualitäten, die die Periodizität begründeten, beruhte und später durch das Atommodell weiter geführt werden konnte. Besonders beeindruckend an dieser Klassifi kation war Mendelejevs korrekte Vorhersage der Existenz von Elementen, die in die bestehenden Lücken passten. Gesetzmäßige Modellierung, Begriff sbildung und Klassifi kation weisen darauf hin, dass es auch auf theoretischem Gebiet berechtigt ist, von spezifi sch wissenschaftlichen Formen der ästhetischen Kultivierung des Wissens auszugehen. In Analogie zu großen Werken der Kunst hat Heisenberg (1971) die Vorstellung entwickelt, dass Theorien eine Vollkommenheit und Abgeschlossenheit besitzen können, die nicht verbesserungsfähig ist, wenn auch damit zu rechnen ist, das ihnen spätere Theorien folgen, in deren Schatten sie dann wahrgenommen werden. So hat Heisenberg das Verhältnis von klassischer Mechanik zu Quantenphysik und Relativitätstheorie gedeutet. Andere, stärker historisch arbeitende Interpreten haben eher den andauernden Wandel der Theorien und Begriffe herausgestellt, sozusagen die Generationen übergreifende Arbeit an der Vollkommenheit einer Kathedrale oder dem Erscheinungsbild einer Stadt, die ihre ästhetische Identität im Wandel wahrt. Ernst Mach (1988) hat eine solche Entwicklung in seinem weg-

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weisenden Werk über die klassische Mechanik, deren erste Aufl age 1883 erschien, nachgezeichnet. Stephen Toulmin hat allgemein ein Modell des evolutionären konzeptuellen Wandels entwickelt, das er Thomas Kuhns Konzeption der revolutionären Brüche entgegen stellte (Toulmin 1983). Mit stärker soziologischer Ausprägung ist dies im so genannten Finitismuskonzept von Barnes / Bloor / Henry (1996) ausgebaut worden. Sie betonen, dass kleinste Veränderungen zu Abweichungsverstärkungen führen können, die in einem Umbau einer Theorie, ja eines Weltbildes enden können. Ich komme – wie bereits bei der Wahrnehmung und dem experimentellen Eingriff – auf die subjektive Seite der theoretischen Schulung und Kompetenz zu sprechen. In keiner wissenschaftlichen Disziplin kann ohne die Einübung der fachbegriffl ichen Sprache, der basalen Theorien und Methoden erfolgreich geforscht werden. Hierin liegt eine Kultivierung des Begreifens von Wirklichkeit, die sich wiederum unvermeidlich sehr weit von lebensweltlichen Einbindungen entfernt. Auch dies muss unter dem ästhetischen Gesichtspunkt der Gestaltung von Wissen zunächst einmal grundsätzlich anerkannt werden. Ein großer Teil der akademischen Ausbildung wird dafür verwendet, diese Distanz zwischen alltäglicher und begriffl ich angeleiteter Wirklichkeitswahrnehmung aufzubauen. Um dafür nur ein klassisches Beispiel aus der Wissenschaftsgeschichte anzuführen: Im Schlusswort seiner »Mechanik in ihrer Entwicklung« schrieb Mach von der »richtigen theoretischen Idealisierung« der mechanischen Dynamik: »Sie lag in der entgegengesetzten Richtung, als die ungeheure Mehrzahl der Menschen sie erwartet haben mochte. Nicht die Erhaltung, sondern die Abnahme der Wurfgeschwindigkeit war das theoretisch zu Erklärende, zu Rechtferigende« (Mach 1988, 523). Unsere Alltagsintuition würde dazu neigen, dass sich die durch einen Stoß übertragene Kraft allmählich verbrauchen müsse und daher ein Wurf körper einer begrenzten Wurf bahn folgt. Man kann dieses Beispiel zu der Behauptung verallgemeinern, dass theoretische Wissensformen gerade darin ihren kognitiven ästhetischen Reiz haben, dass sie die Denkgewohnheiten durchbrechen. Der Psychologe Martindale (1984) hat diese »pleasures of thought« an die kognitive Erregung kontra-intuitiver Wissensformen gekoppelt. Als ein Beispiel kann man die Statistik anführen, die ›eiskalt‹ korrigiert, was die subjektive Einschätzung nahe legt. Von einem ihrer Begründer, Francis Galton, wurde sie vielf ältig eingesetzt, um Alltagsüberzeugungen zu überprüfen. Sein eigenes Vergnügen verband er dabei mit Satire, etwa bei der statistischen Überprüfung der Wirksamkeit von Gebeten für ein längeres Leben der Mitglieder der königlichen Familie, von Priestern und Missionaren, zu denen die anglikanische Kirche und der fromme Familienkreis verpfl ichteten. Der Siegeszug des kausalen Erklärungsschemas in den Lebenswissenschaften ist ein weiteres Beispiel, dessen Erregungspotential immer noch hoch ist, weil die intuitive Einstellung nach wie vor der immanenten Teleologie der Lebensprozesse zuneigt. Ein damit verwandtes Erregungspotential boten in den letzten Jahrzehnten die kontra-intuitiven Spannungen, die von den Forschungen zur künstlichen

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Intelligenz und zum künstlichen Leben ausgingen. Die wohl extremste Distanz nicht nur zum Alltagswissen, sondern auch zu den gewohnt gewordenen Mustern der wissenschaftlichen Erklärung baute die Quantenphysik mit ihren (Un-)Vorstellungen zu den nichtkausalen Abläufen in der quantenphysikalischen Mikrowelt auf. Unabhängig davon, ob die von Sigmund Freud so genannten großen Kränkungen historischen Bestand haben oder nicht, ist der Zusammenhang von ästhetischer Provokation, die die Denkgewohnheiten verletzt, und theoretischer Radikalität bei Freud gut formuliert: »Zwei große Kränkungen ihrer naiven Eigen liebe hat die Menschheit im Laufe der Zeiten von der Wissenschaft erdulden müssen. Die er ste, als sie erfuhr, dass unsere Erde nicht der Mittelpunkt des Weltalls ist, sondern ein winziges Teilchen eines in seiner Größe kaum vorstellba ren Weltsystems. Sie knüpft sich für uns an den Namen Kopernikus […]. Die zweite dann, als die biologische Forschung das angebliche Schöpfungsvor recht des Menschen zunichte machte, ihn auf die Abstammung aus dem Tierreich […] verwies. Diese Umwertung hat sich in unseren Tagen […] nicht ohne das hef tigste Sträuben der Zeitgenossen vollzogen. Die dritte und empfi ndlichste Kränkung aber soll die menschliche Grössensucht durch die heutige psychologische Forschung erfahren, welche dem Ich nachweisen will, dass es nicht einmal Herr ist im eigenen Hause, sondern auf kärgliche Nachrichten angewiesen bleibt von dem, was unbewusst in seinem Seelenleben vorgeht.« (Freud 1917, 294 f.) Der ästhetische Reiz einer theoretischen Weltsicht ist immer auch eine Verführung, die Landkarte für die Landschaft zu halten. Duhems bekannter Ausspruch und Buchtitel, »die Phänomene zu retten« (1908), ist der Idee verpfl ichtet, dass Theorien letztlich immer hinter unserer phänomenalen Weltsicht zurück zu stehen haben. Sie sollen – wie Landkarten – Instrumente der Orientierung und des Handelns bleiben. Mach verfolgte eine ähnliche Korrektur. Er betonte, dass die Brücke zwischen der theoretisch »idealisierten« und der alltäglichen Wirklichkeit gerade durch ästhetische Aufmerksamkeit, nämlich Aufmerksamkeit auf die eigenen Empfi ndungen in der praktischen Betätigung geschaffen werden kann. Letztlich fundierte bei ihm die Empfi ndungsfähigkeit (und damit die Physiologie) die Physik. Die Achtsamkeit auf sich selbst bei dem, was man tut, erklärt die Begriffe, die man – nach Mach – als »Denkmittel« der Physik auf baut. Die Verblendung, zu der der umgekehrte Weg des physikalistischen Reduktionismus führt, illustrierte Mach mit der Wirklichkeit des Theaters: »Wenn jemand die Welt nur durch das Theater kennen würde und nun hinter die mechanischen Einrichtungen der Bühne käme, so könnte er wohl auch meinen, dass die wirkliche Welt eines Schnürbodens bedürfe und dass alles gewonnen wäre, wenn nur dieser einmal erforscht wäre. So dürfen wir auch die intellektuellen Hilfsmittel, die wir zur Auff ührung der Welt auf der Gedankenbühne gebrauchen, nicht für Grundlagen der wirklichen Welt halten.« (Mach 1988, 521) Es geht hier nicht um die Philosophie Machs, die eher ein Abgesang an die

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Geltungsansprüche des klassischen mechanistischen Weltbildes ist, in dem sich die Welt, wie sie uns erscheint (sekundäre Qualitäten), und die Welt, wie sie – nach Theorie – wirklich ist (primäre Qualitäten), so treffl ich unterscheiden ließ. Mit Mach will ich nur darauf verweisen, wie groß, unvermeidlich und problematisch die Differenz zwischen der begriffl ichen Gestaltung des Wissens und der Alltagserfahrung geworden ist. Dies ist zunächst nur ein weiterer Beleg dafür, dass die Ästhetik der begriffl ichen Gestaltung in den Wissenschaften besondere Ausprägungen erfährt. Nur weil dies so ist, ist der Bau von Brücken des Verstehens eine bedeutsame Aufgabe geworden, die – so fand Mach – »von jedem Spezialforscher gefordert werden kann« (1988, 521). Dass eine solche Forderung leicht im modernen Forschungsbetrieb ins Leere läuft, ist offensichtlich. Sie hat bei der ästhetischen Selbstvergessenheit der akademischen Ausbildung und Forschungspraxis kaum einen Ort. Dennoch ist Wissenschaft in einem exponierten Sinn ein ästhetisches Unternehmen, auch wenn sie dies nicht oder nur punktuell, episodisch und anekdotisch reflektiert. Darauf soll im folgenden Abschnitt eingegangen werden.

III. Zwischen Selbstvergessenheit und Entfremdung Festzuhalten ist also, dass das Ästhetische der Wissenschaft nicht aus einer fernen Welt angedient wird, sondern in ihr stattfi ndet und daher innerhalb des reflexiven Diskurses über Wissenschaft zu verhandeln ist. Die Gestaltungsarbeit der modernen Wissenschaft bezieht sich auf drei konstitutive Elemente: die Erweiterung der sinnlichen Wahrnehmung durch Instrumente, die Steigerung der experimentellen Eingriffstiefe in die Wirklichkeit und die theoretische Formgebung des Wissens – und in Abhängigkeit hiervon auf die Wahrnehmung und Gestaltung ihrer Gegenstände. Worin genau die Gestaltungsprozesse und Wahrnehmungsleistungen bestehen und nach welchen Maßstäben sie als gelungen, befriedigend, aufregend oder anders ästhetisch qualifi ziert werden, muss uns später beschäftigen (s. Abschn. IV ). Ich greife noch einmal den Einwand auf, dass die materielle und sprachliche Ausstattung des Forschungsprozesses das ästhetische Empfi nden des Wissenschaftlers selbst immer mehr in den Hintergrund gedrängt hat. Gernot Böhme stellt heraus, dass – was immer man über die Ästhetik der Naturwissenschaften sagen mag – die Differenz zu einer Ästhetik der Natur verbleibt. Versteht man mit Böhme darunter die Betrachtung der Natur im Hinblick auf das, »was sie für den Menschen bedeutet, seine Empfi ndung und Befi ndlichkeit« (Böhme 2001, 23), dann liegt die Feststellung nahe, dass »die naturwissenschaftliche Betrachtungsweise der Natur eine eingeschränkte ist, dass sie nämlich Natur apparativ, objektiv, d.h. letzten Endes entfremdet zum Thema macht. Die Natur, die in der Naturwissenschaft Gegenstand ist, ist nicht in menschlicher, und das heißt sinnlicher Erfahrung gegeben, sondern stets vor dem Apparat, in instrumentellen und experimentellen Zusammenhängen« (ebd., 24).

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Man könnte auch sagen: Mach und Duhem haben verloren; zu wenige haben auf sie gehört. Durchgesetzt hat sich das Bild des in die disziplinäre Theorietechnik eingebundenen Fachmanns, der in seiner Tätigkeit weder die Natur noch sich selbst in einer besonderen Weise empfi ndet. Genau hiergegen hatte bereits Goethe sich zur Wehr gesetzt, als er gegen die klassische Mechanik argwöhnte, ihre ganze Organisation des Wissens gleiche eher einem »despotischen Hofe« als einer »freiwirkenden Republik«. Für Goethe sollte Forschung ein wechselseitiger Bildungsprozess sein, in dem die Wissenschaftler sich selbst nicht weniger formen als ihre Gegenstände. Sein Ideal war der freie Bürger Locke‹scher Prägung, der sich selbst in der Aneignung des Gegenständlichen verwirklicht, zugleich dieses kultiviert und sich mit seinem Mitbürger darüber austauscht. Ob Goethe grundsätzlich jeder ›apparativen‹ Instrumentalisierung der Naturbetrachtung entgegen gesetzt war, ist häufig erwogen worden. Ganz sicherlich hat er deren zunehmende Bedeutung erheblich unterschätzt. Seine Kritik galt aber in erster Linie der ästhetischen Selbstvergessenheit des Forschers, der sich nur von seinen Instrumenten und Hypothesen leiten lässt, nicht von dem Prozess der wechselseitigen Formung. (Zu Goethes Haltung des Forschers gegenüber der Natur siehe auch den Beitrag von Braungart und Jacobs in diesem Band.) Ich habe dargestellt, dass die wissenschaftlichen Arbeitsformen immer auch an die Fähigkeiten der Forscher gebunden sind, in spezifisch geschulter Weise wahrzunehmen, zu handeln und zu begreifen. Man kann dies recht gut mit Bereichen wie Sport oder Musik vergleichen, in denen Schulung und Instrumentierung zu Formen der Ästhetik führen, die dem Alltagsverhalten entzogen sind. Jedoch ist mit der Einübung in die Forschungspraxis allein noch keine ästhetische Kultivierung im Sinne der wechselseitigen Bildung eingerichtet. Goethe versuchte, seine eigenen Forschungen als eine solche Kultivierung zu beschreiben. In einem kleinen Essay mit dem Titel »Der Versuch als Vermittler von Objekt und Subjekt« (1792/1823, HA XIII, 10-20) hat er seine Wissenschaftstheorie zusammengefasst. In ihr spielt die Spannung zwischen Forscher und Gegenstand die entscheidende Rolle. Die in Versuchsreihen ständig verfeinerte Wahrnehmung von Unterschieden, die gesteigerte Geschicklichkeit der Handhabung von Geräten und das Staunen über die erblickten Phänomene sollen die Forschung bestimmen. Wissenschaft ist für Goethe ein Gestaltungsprozess des eigenen Erlebens nicht minder als der Instrumente, der Objektwelt und der Theoriensprache (Krohn 1998). Die Standardbeschreibungen der Wissenschaften tendieren dazu, diese Selbstreferenz des Forschungsprozesses auszugrenzen. Die Ideale der Objektivität und Allgemeingültigkeit erscheinen unverträglich damit zu sein, die subjektiven Elemente der Forschungspraxis systematisch im Erkenntnisgebäude der Wissenschaft zu berücksichtigen. Sie werden daher eher der Persönlichkeit des Forschers zugerechnet und sind ohne Belang für die Geltung des Wissens. Um seine Sicht dagegen zu stellen, griff Goethe interessanterweise auf die Philosophie Francis Bacons zurück. Bacon hatte radikal das Motiv der Herrschaft über die Natur als zentrale Metapher gewählt (wenn auch in

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der dialektisch gebrochenen Figur, dass man nur der Natur dienend sie beherrschen könne). Goethe nahm die Metapher auf, um sie in eine ganz andere zu transformieren – die der wechselseitigen Bildung: »Wenn der zur lebhaften Beobachtung aufgeforderte Mensch mit der Natur einen Kampf zu bestehen anfängt, so fühlt er zuerst einen ungeheuern Triebe, die Gegenstände sich zu unterwerfen. Es dauert aber nicht lange, so dringen sie dergestalt gewaltig auf ihn ein, dass er wohl fühlt, wie sehr er Ursache hat, auch ihre Macht anzuerkennen und ihre Einwirkung zu verehren. Kaum überzeugt er sich von diesem wechselseitigen Einfluss, so wird er ein doppelt Unendliches gewahr, an den Gegenständen die Mannigfaltigkeit des Seins und Werdens und der sich lebendig durchkreuzenden Verhältnisse, an sich selbst aber die Möglichkeit einer unendlichen Ausbildung, indem er seine Empfänglichkeit sowohl als sein Urteil immer zu neuen Formen des Aufnehmens und Gegenwirkens geschickt macht.« (Goethe, HA Bd. XIII: 53) Bacon hatte einen ausgeprägten Sinn für beides, das Streben des Menschen nach Macht über die Natur und die weitaus größere Macht der Natur über den Menschen. Jedoch war er so stark Gefangener dieser Metapher, dass ihm nur weitere Mittel der Forschungstechnik einfielen, die Natur dazu zu zwingen, ihre Geheimnisse preiszugeben. Forschung (inquisitio!) ist ein Verhör mit allen Mitteln, Folter eingeschlossen. Man kann nicht sagen, dass in dieser Metaphorik die Subjektivität des Forschers gar nicht auftritt; aber sie ist eingebunden in die distanzierte Rolle des Richters, den der verhandelte Fall nicht weiter angeht, als seine amtliche Zuständigkeit und die Paragraphen vorschreiben. Im Gegensatz dazu begibt sich in Goethes Metaphorik der Forscher in eine gemeinsame Fortentwicklung mit dem untersuchten Wirklichkeitssegment, die zu immer neuen Formen der Balance führt. Das Experiment endet nicht, und es wird kein Sieg über eine unterworfene Natur erklärt, nachdem sie am Ende und unter Foltern bekennen musste. Bei Goethe sind die Experimente Bestandteile eines sich selbst forttreibenden, zeitlich unbeschränkten Gestaltungsprozesses. (Zum Thema des Geheimnisvollen siehe den Beitrag von Natascha Adamowsky in diesem Band.) Einen ähnlichen Ansatz hat in jüngster Zeit der Wissenschaftshistoriker HansJörg Rheinberger (2001) entwickelt, der dabei nicht von ungefähr seine eigenen Erfahrungen als Biochemiker ins Spiel bringt. Im Zentrum seines Modells stehen »Experimentalsysteme«, in denen sich »epistemische Dinge« im Wechselspiel zwischen experimentellen Arrangements und den Erfahrungen der Forscher formen. Rheinberger und weiteren Autoren geht es insbesondere auch darum, den Begriff der Repräsentation neu zu formulieren, nämlich nicht als Darstellung von etwas, sondern als Darstellung in etwas. Sie sprechen von dem »Im-Bild-Sein« des Wissenschaftlers (Rheinberger / Wahrig-Schmidt / Hagner 1997, 9). »Repräsentation realisiert sich in […] Experimentalanordnungen« (ebd., 11). Mag es noch hingehen, in Goethe den Vertreter eines vergangenen Ideals des forschenden Künstlers oder künstlerisch beobachtenden Forschers zu sehen (wie es der junge Helmholtz tat, um allerdings sein Urteil in späteren Jahren zu revidieren (Krohn 1998, 400 ff.),

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so befasst sich Rheinberger mit gegenwärtigen Entwicklungen der Molekularbiologie. Das Verdikt der Entfremdung zwischen Wissenschaft und Natur kann also nicht so grundsätzlich und allgemein ausgesprochen werden, wie Böhme es formuliert hat. Auch wenn im Zeichen der ökologischen Krise tief greifende Fehlentwicklungen nicht zu bezweifeln sind und durchaus auch einem fehlgeleiteten Selbstbild der Wissenschaft zugerechnet werden können, würde die wissenschaftstheoretische Ausgrenzung der Wissenschaften aus dem ästhetischen Diskurs der Fehlleitung eher Vorschub leisten als entgegen wirken. Auch würde man den vielfältigen historischen Erscheinungsformen und Selbstbeschreibungen der Wissenschaftler nicht gerecht, von denen ich einige punktuell angesprochen habe. Zwar ist es unbestreitbar, dass mit Kopernikus und Galilei die folgenreiche Trennung zwischen den sinnlichen Erscheinungen und der wissenschaftlichen Wirklichkeit beginnt, die zu jener Verwechslung von Landkarte und Landschaft führt. Sonnenauf- und -untergang werden in der heliozentrischen Hypothese zur menschlichen Illusion und das Trägheitsprinzip erschließt sich gegen allen Anschein der von uns wahrgenommenen Bewegungen. Aber der Konfl ikt, der hier zwischen dem Vertrauen in das Wahrgenommene und Vertrauen in das kognitiv Konstruierte aufgebaut wird, ist zugleich eine Basis dafür, die eigenen Wahrnehmungen neu wahrzunehmen und sich selbst gegenüber auf die Distanz eines Beobachters zweiter Ordnung zu gehen. Die kopernikanische Revolution bef ähigt dazu, den geozentrischen Beobachter von einem virtuellen Standpunkt im heliozentrischen System aus zu beobachten, weil dafür nun ein kognitives Verfahren der Verrechnung unterschiedlicher Beobachterperspektiven zur Verfügung steht. Man kann mit der theoretischen Landkarte des Kopernikus den kognitiven Weg zur Venus beschreiten, um von dort ›gedanklich‹ zu beobachten, wie man als Venusbürger die Erdbewegung sähe. In diesem Sinne ist wissenschaftliche Ästhetik eine Steigerung der ästhetischen Komplexität. Das Trägheitsprinzip Galileis macht evident, dass die uns erscheinende natürliche Grundkraft fallender Körper und die von uns aufgewendete technische Kraft künstlich beschleunigter Körper (Wurfgeschosse) in dasselbe Referenzsystem eingeordnet werden können und zur Wahrnehmung der Einheit von Technik und Natur beitragen. Diese Evidenz kann nur erlangt werden, wenn die Bereitschaft zu kognitiven Distanzierungen gegenüber der erlebten Wirklichkeitswahrnehmung aufgebracht wird. Ich fasse zusammen: Wissenschaft ist durchdrungen von Prozessen der spezifischen Kultivierung der Wahrnehmung und Gestaltung von Wissen. Die Befähigung zur wissenschaftlichen Wahrnehmung und die Gestaltung wissenschaftlicher Spezialerfahrungen durch Instrumente, Experimente, Methoden, Begriffe und Theorien sind nicht nur nebenbei oder zusätzlich von ästhetischer Art, sondern sind es in einer exponierten, ja kapriziösen und provozierenden Weise. Um dies plausibel zu machen, sind die drei Komponenten der (instrumentellen) Wahrnehmung, (experimentellen) Gestaltung und (theoretischen) Begriffsbildung getrennt

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betrachtet worden. Dies hat durchaus eine historische Berechtigung, denn es gibt die Eigenständigkeit des wissenschaftlichen Instrumentenbaus, der Experimentalsysteme und der Theoriesprachen und es gibt entsprechende Spezialisierungen der Forscher. Jedoch soll im nächsten Abschnitt davon ausgegangen werden, dass Forschung immer auch diese Komponenten zusammenführt und jedes einzelne Forschungsergebnis ein Zeugnis von deren Beziehungen ist. Meine Ausgangsfrage ist: Was ist ein Forschungsergebnis? Die Antwort lautet: Ein Forschungsergebnis ist dasjenige (Zwischen-)Ergebnis, das ein Forscher oder eine Forschergruppe einer fachlichen Öffentlichkeit vorzulegen wagt. Ein solches Ergebnis muss defi nitionsgemäß einen Wahrheitsanspruch erheben. Dieser – so wird die These sein – beruht darauf, jene bisher isoliert betrachteten Komponenten in einer Weise zusammen zu fügen, die als Evidenz empfunden wird. Etwas – ein Forschungsergebnis – hat Gestalt angenommen. Der ästhetische Gestaltungsprozess, der bisher zerlegt betrachtet wurde, wird nun in seiner die Komponenten zusammenführenden Form betrachtet. Ich gehe hierauf noch ohne besondere Berücksichtigung der Darstellungspraxis für ein Auditorium oder eine Leserschaft ein (siehe hierzu Abschnitt V). Denn der Forschungsprozess, der zu einem Ergebnis führt, ist eine Gestaltungsebene, die der Auf bereitung eines Ergebnisses zu einem Text für ein Publikum vorhergeht. Allerdings ist einzuräumen, dass die logische Sequenz von der Erzeugung eines Ergebnisses zur Darstellung in einer sprachlichen oder schriftlichen Veröffentlichung in der tatsächlichen Arbeit der Forscher unterlaufen wird, da Antizipationen der textlichen Verwendung auf die Erzeugung einwirken. Aber es wäre zu kompliziert, diese Verschränkungen hier zu berücksichtigen.

IV. Gestalt und Evidenz Um der Gestaltung eines Forschungsergebnisses den Geltungsanspruch der Wahrheit zuzuordnen, muss der Wissenschaftler das darin erzeugte Wissen-über-etwas nicht dem Gestaltungsprozess, sondern der Wirklichkeit zurechnen. Während in der rekonstruktiven Analyse eines Forschungsprozesses das Zusammenspiel der Apparate, Instrumente, Begriffe und Formeln mit Blick auf die Formung eines epistemischen Gegenstandes herausgearbeitet wird, zählt für den Forscher letztendlich nur das Erlebnis, etwas gefunden zu haben. Einem Artefakt aufzusitzen, ist eine Enttäuschung. Ich nenne dies das Erlebnis der Evidenz, das den Gestaltungsprozess an ein (relatives) Ziel führt. Evidenz ist wie eine glaubwürdige Botschaft, die als Antwort auf die Versuche erfolgt, geschickte Fragen zu stellen. Nicht immer müssen die Fragen präzise sein; man kann auch einfach neugierig und auf Überraschungen aus sein, jedoch muss man sie immerhin registrieren können. Es ist hier nicht der Ort, den Begriff der Evidenz defi nitorisch zu erfassen, zumal er hier zunächst in seiner subjektiven Form als die Suggestion eines Erlebnisses von Wahrheit erfasst wird. In der philosophischen Tradition besitzt Evidenz viele

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Schattierungen. Die wichtigste ist die scheinbare Unmittelbarkeit der ›sinnliche Evidenz‹, das heilige Gut des Empirismus. Als selbstständige Quelle des Wissens ist sie wegen ihrer Theorieabhängigkeit immer wieder in Frage gestellt worden. Jedoch betriff t dieser Einwand nicht das Erlebnis der Evidenz, sondern eine darauf auf bauende Argumentation zugunsten des Vorliegens eines theorie- oder methodenunabhängigen Befundes. Evidenz ist jedoch keineswegs an die Sinnlichkeit des Erlebens gebunden. Man kann beispielsweise auch von ›statistischer Evidenz‹ reden, die auf der Einsicht von Korrelationen beruht, die man nur zufällig im Einzelfall beobachten kann. Weiterhin kann ›akkumulative Evidenz‹ auf einer methodisch gestützten Summation von für sich allein nicht hinreichend evidenten Teilerfahrungen beruhen. Mit ›intuitiver Evidenz‹ werden schließlich die Quellen des Überzeugtseins umrissen, die auch als selbst-evident oder selbst-erklärend bezeichnet werden. Da sie in der Regel auf die logische Unmöglichkeit oder empirische Absurdität des Gegenteils rekurrieren, spielen sie in der empirischen Forschung nur selten eine Rolle. In komplexen Forschungsprozessen sind mehrere dieser Aspekte auf einander bezogen und verdichten sich zu dem Erlebnis, etwas gefunden zu haben, was zu einer wissenschaftlich relevanten Aussage über die Wirklichkeit berechtigt. In vielen Selbstberichten von Forschern wird dieses Erlebnis als Glücksgefühl und Quelle der Motivation dargestellt, es genügt jedoch bereits die nüchterne Version, die darin besteht, dass ein Forscher oder eine Forschergruppe davon überzeugt ist, ein vertretbares Ergebnis aufgespürt zu haben. Der Weg von dieser Überzeugung in die wissenschaftliche Kommunikation verwandelt die Evidenz in Indikatoren, die einem Indizienbeweis vor Gericht entsprechen. Im Sinne der englischen Phrase »what is the evidence?« wird das Erlebnis der Wahrheit transformiert in für andere verwendbare Information. Auf diesen Transformationsprozess gehe ich im nächsten Abschnitt ein. Zunächst will ich mich mit der Spannung befassen, die sich zwischen der bisher behandelten (aktiven) Gestaltung des Erkennens und dem nun angesprochenen (passiven) Erleben der Erkenntnis auftut. Wie ist beides vereinbar? Es wäre keine Lösung, auf eine in der Erkenntnispsychologie vorbereite Idee einer ursprünglichen Einheit des Gestaltens und Erlebens zurück zu kommen. Obzwar diese Einheit in jedem Akt der Erkenntnis aktualisiert wird, ist sie im Forschungsprozess durch die Differenzierungen zwischen Apparaten, Instrumenten, Begriffen und Formeln, mit denen epistemische Gegenstände geformt werden, aufgebrochen. Es bietet sich daher die entgegen gesetzte Lösung an: Wissenschaftliche Evidenz ist das Resultat eines als stimmig empfundenen Funktionskreises, der während des Forschungsprozesses zwischen den genannten Größen aufgebaut wird. Wie kann diese Passung oder, wie Holk Cruse in seinem Beitrag zu diesem Band sagt, Harmonie entstehen? Man kann sich – ich räume ein, dass dies eine metaphorische Sprechweise ist – die am Forschungsprozess beteiligten Komponenten als Funktionsgrößen vorstellen, die miteinander verknüpft sind und in Abhän-

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gigkeit von den aufgenommenen Inputs aufeinander einwirken. Sie sind Funktionsgrößen oder Variable in dem Sinne, dass es immer Spielräume des Entscheidens bei der Wahl der Anfangs- und Randbedingungen, der Kalibrierung der Geräte, der Granulation, der Genauigkeit und des Umfangs der Datenerhebung, der formalen Modellierung und der theoretischen Interpretation gibt. Ein Forschungsprozess ist bestimmt von Vorentscheidungen und Revisionen im Umgang mit diesen Größen. Man kann ihn daher als einen rekursiven Prozess interpretieren, in dem sich schrittweise Entscheidungen verfestigen. Benutzt man für einen Moment eine formale Sprache, kann man den Forschungsprozess interpretieren als die rekursive Suche nach einer ›Eigenlösung‹ oder einem ›Attraktor‹ eines durch eine Reihe von Variablen defi nierten Systems, das – angeheizt von Impulsen aus der Wirklichkeit – auf sich selbst reagiert. Man kann durch eine geschickte Anordnung der Variablen und Wahl ihrer Werte die Bedingungen einer solchen Eigenlösung schaffen, jedoch nicht diese selbst. Sie ergibt sich aus der rekursiven Dynamik und wird daher als Lösung gefunden, entdeckt, erlebt. Einer solchen Evidenz gilt die Erwartung der Forschung. Vor einigen Jahren haben Günter Küppers und ich dieses Modell entwickelt (Krohn/Küppers 1989). Es weist ein Forschungsergebnis als die Eigenlösung einer Selbstorganisationsdynamik aus. (Zur technischen Defi nition des Begriff s ›Eigenlösung‹ siehe ebd., 134 ff.) Ob eine solche existiert oder das Thema irgendwann fallen gelassen werden muss, weil man um sich selbst kreist ohne weiter zu kommen, kann nicht vorher gesehen werden. Ob genau nur eine Lösung existiert oder bei leicht abweichenden Parametern andere Lösungen gefunden werden, die miteinander konkurrieren, ergibt sich ebenfalls erst im Verlauf weiterer Forschungsepisoden. Eine Eigenlösung ist daher nicht von selbst eine ›wahre‹ Lösung, sondern eine als plausibel empfundene Lösung eines mit Unwahrscheinlichkeiten belasteten Prozesses. Wie kommt hier Ästhetik ins Spiel? Bisher wurden Ästhetik und Wissenschaft verknüpft über die Kategorie der Kultivierung spezifischer Leistungspotentiale; jetzt zeigt sie sich in der unwahrscheinlichen Passung aller Komponenten eines komplexen Konstruktionsprozesses in einer überraschenden und häufig überraschend einfachen Lösung. Mit der Eigenlösung eines Konstruktionsprozesses ist die Auffi ndung eines ›lokalen Gleichgewichts‹ gemeint, bei dem die gewählten Größen der beteiligten Komponenten einfach gut zueinander passen. In dieser modellhaften Darstellung eines Forschungsprozesses bezieht sich die Ästhetik auf die Evidenz eines Forschungsresultats, das sich in dem gelungenen Zusammenspiel der heterogenen Komponenten des Forschungsprozess zeigt. Worin dieses Gelingen durch ›Passung‹ genau besteht, ist schwer zu erfassen. Es ist seit langem Gegenstand nicht nur der Epistemologie, sondern auch der allgemeinen Erkenntnistheorie. Kant hat als Schlüssel einen Begriff gewählt, der seine ästhetische Konnotation offen zur Schau trägt – die Einbildungskraft. Sie ist für Kant die »blinde obgleich unentbehrliche Kraft der Seele« (KdrV B 103), aus der Mannigfaltigkeit der sinnlichen Wahrnehmungen ein Bild zu gewinnen, über das

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letztendlich Sinne und Begriffe vermittelt werden. Mit diesem ›bildgebenden Verfahren‹, wies Kant der Ästhetik die wichtigste produktive Rolle im Erkenntnisprozess zu. In der Anthropologie nannte er ihre produktive Funktion »dichtend«, wenn auch nicht »schöpferisch«, da sie auf externen Stoff angewiesen ist (Anthropologie § 25, B 70), obgleich sie an die sinnliche Anschauung und die Regeln des Verstandes gebunden ist. Es sind vor allem die Gestaltpsychologen gewesen, die diesem Ansatz einen empirischen, experimentell kontrollierten Unterbau gegeben haben und zahlreiche Gesetzen der Wahrnehmung vor insbesondere im Bereich des Sehsinns formulierten (klassische Zusammenfassung durch Metzger 1953). Einer der führenden Vertreter der Gestaltpsychologie, Max Wertheimer hat sogar Fallstudien zu markanten Forschungsprozessen von Galilei und Einstein vorgelegt, die noch heute beeindrucken (Wertheimer 1945). Wie belastbar der Begriff des Gesetzes in diesem Zusammenhang ist, ist umstritten. Der entscheidende Durchbruch der Forschungen ist darin zu sehen, dass das Zusammenspiel zwischen den konstruktiven Leistungen des Gehirns und den Reizen der Wahrnehmung ein Stück weit entschlüsselt werden konnte. Heute treiben neben der fortentwickelten Gestaltpsychologie Kognitionsforschung und Neuroinformatik diese Forschungen weiter (Stadler / Kruse 2004). Zu einer evolutionstheoretischen Deutung des hier einschlägigen Symmetriebegriffs siehe Helge Ritters Beitrag in diesem Band. Holk Cruse (in diesem Band) nimmt als zentrale Metapher die ›Harmoniesucht‹ des Gehirns. Die im Vergleich zum Gehirn immer noch sehr einfachen Modelle der neuronalen Netze zeigen, wie das Auffi nden von Eigenlösungen oder Attraktoren technisch nachgebildet werden kann. Diese Forschungen zielen darauf ab, die Verkoppelung von konstruktiver Gestaltung und erlebter Evidenz in ihrer kognitiven Breite und Allgemeinheit, also in ihrer Alltäglichkeit zu untersuchen. So grundlegend dies auch für den wissenschaftlichen Erkenntnisprozess ist, so soll andererseits darauf insistiert werden, diesen in seiner Besonderheit von den alltäglichen Erfahrungsmustern abzugrenzen. Zwar ist er nicht von ganz anderer Natur, aber die spezifi sch hochgerüstete Suche nach etwas Neuem in den Bereichen des Unwahrscheinlichen und Unzugänglichen wird im Alltag eben nicht kultiviert, sondern unterlassen. Allerdings mag es ähnliche Suchstrategien auch außerhalb der Wissenschaft überall dort geben, wo investigativen Aufgaben nachgegangen wird (etwa in der Kriminalistik, der Spionage, dem Journalismus). Auch dort wird nach ›Eigenlösungen‹ gesucht und die technische Ausstattung kann erheblich sein. Die spezifi sche Differenz der wissenschaftlichen Forschung eröff net sich erst durch ihren Einbau in ein Publikationswesen, das die Transformation eines Forschungsergebnisses in eine wissenschaftliche Veröffentlichung verlangt.

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V. Textgestaltung Die Spannung zwischen der in die Praxis der Forschung eingeschriebenen Evidenz und seiner für die schriftliche Kommunikation auf bereitete Gestaltung wird von jedem Forscher empfunden und – je nach Begabung und Interesse – begrüßt oder gehasst. Vom Auffi nden einer Eigenlösung zu einer argumentativ durchgestalteten Textfassung ist es ein langer Weg. Der erste und bedeutungsvollste Schritt ist – in der Ausdrucksweise Ludwik Flecks – der von der Esoterik der Forschung in die exoterischen Kreise der Kommunikation (Fleck 1980, 138 ff.; Krohn/Küpper 1989, 71). Esoterik umfasst genau genommen nur den engen Kreis der Kooperationspartner, die einen bestimmten Forschungsprozess »von innen« kennen und miteinander indexikalisch (›Siehst du hier die Einfärbung? – Scheint eine Idee stärker als gestern!‹) und empraktisch (›Wir machen das heute genauso wie neulich, nur etwas moderierter‹) kommunizieren können. Zum esoterischen Kreis können auch noch die Spezialisten gezählt werden, die an konkurrierenden Projekten arbeiten und mit wenigen Hinweisen die Feinheiten des Designs eines Forschungsprozesses verstehen können. Fleck sprach von einer »Hierarchie des Eingeweihtseins« (1980, 138). Jedoch schon die Veröffentlichung in einem Fachblatt und der Vortrag auf einem Fachkongress verlangen eine Beschreibung, die Unbeteiligte erreichen soll. Dies ist für Fleck der erste exoterische Kreis. Um diese Diskrepanz vorzuführen, hat ein Professor gelegentlich der Hälfte seiner Kursteilnehmer die Aufgabe gegeben, so genau wie möglich das Binden einer Schuhbandschleife zu beschreiben, und der anderen die Aufgabe, das Beschriebene auszuführen. Die doppelte Transformation misslang kläglich. Wir wissen auch aus den Versuchen, historische Experimente nach ihren originalen Beschreibungen nachzubauen, wie ungenau und irreführend die Angaben sein können (Heering 1998). Aus den Untersuchungen von Collins (1985) ist bekannt, dass neues experimentelles Wissen sich häufi g erst dadurch verbreiten kann, dass Kollegen Besuche in den Instituten, die den Prioritätsanspruch stellen, abstatten und vor Ort die neue Technik erlernen. Gelegentlich ist es auch eingeplant, in der Veröffentlichung nicht den genauen Weg zur Rekonstruktion eines Ergebnisses mitzuteilen. Man kann dadurch vielleicht einen Vorsprung wahren oder sogar Lücken überdecken, wie dies jüngst der südkoreanische Pionier des Klonens von Stammzellen Hwang Woo Suk mit einer grandiosen betrügerischen Inszenierung vorgeführt hat.

1. Das ästhetische Ideal der ›Sachlichkeit‹ In der textlichen Gestaltung von Wissen sind einige ästhetische Funktionen gebündelt, die direkt mit Rhetorik der Sprache und der Suggestion der Bilder zu tun haben. Andere verwenden dafür auch den Begriff des »knowledge design« (siehe der Beitrag von Thorsten Meyer in diesem Band). Dass diese Rhetorik nicht als

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solche gesehen wird, ist ein Erbe der frühen Neuzeit. Bereits in der Renaissance setzten einige Autoren gegen den Stolz der Humanisten auf die rhetorische Stilistik der schmucklosen, geradlinigen Berichterstattung, einige der Not der eigenen Unbildung gehorchend, andere dem Ideal einer neuen wissenschaftlichen Sachlichkeit verpfl ichtet. Als Beispiel zitiere ich aus Albrecht Dürers Konzept zur Einleitung in die Proportionenlehre von 1523: »Aber eh ich dass anfach, mein Fürnehmen anzugreifen, so bitt ich ein idlichen Leser, er wöll mir mein Eifalt nit verargen, sunder mich treulich beschützen, Dann ich schreib hie nit dorum, dass ich die Kunst in der Red […] woll anzeigen, des ich nie gelernt hab, sunder allein gib ich, das ich […] durch sauer Übung erlangt habe.« (Dürer 1978, 220) Dürers Werke gehören übrigens zu den ersten, in denen das Bildliche nicht nur Zierde ist, sondern Teil der Darstellung und Begreifens des Wissens ist. Wenig später hatte Francis Bacon, ein Stilist höchsten Ranges, die faktische Berichterstattung, in der man ohne Umschweife von den ›Worten‹ auf die ›Werke‹ gelenkt wird, als Bedingung wissenschaftlicher Arbeitsteilung formuliert. Das Ideal fand Verbreitung unter den Autoren in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts. Das berühmte Motto der Royal Society »Nullius in verba« hat damit zu tun. Dessen inkorrekte Übersetzung als »Nichts in Worten« im Sinne von »Worte spielen keine Rolle« entspricht ganz dem Ideal der neuen Sachlichkeit. Die korrekte Formel (die den Genitiv nullius nicht durch den Nominativ nullus ersetzt) geht auf Horaz (Epistularum liber 1, 1.1) zurück (»nullius addictus iurare in verba magistri«, »ich bin nicht verpfl ichtet, den Worten irgendeines Lehrers blindlings zu folgen«). Das ist die Verpfl ichtung auf die eigene Evidenz, die durch den Bericht über ›Werke‹ zwar angeleitet, aber nicht überflüssig wird. Schon der Rekurs auf Horaz zeigt, dass diese Idee der ›Sachlichkeit‹ (im Gegensatz, wenn man so möchte, zur ›Wörtlichkeit‹) in Rhetorik eingebettet ist. Seine literaturwissenschaftlichen Analyse der Veröffentlichungen der Royal Society beginnt Charles Bazerman mit dem Hinweise auf die Besonderheit dieser historischen Erfi ndung einer neuen Stilform: »Experimental reports tell a special kind of story, of an event created so that it might be told. The story creates pictures of the immediate laboratory world in which the experiment takes place, of the happenings of the experiment, and of the larger, structured world of which the experimental events are exemplary. The story must wend its way through the existing knowledge and critical attitude of its readers in order to say something new and persuasive, yet can excite imaginations to see new possibilities in the smaller world of the laboratory and the larger world of nature. And these stories are avidly sought by every research scientist who must constantly keep up with the literature.« (Bazerman 1998, 59) Bis heute hat dieser Stil wissenschaftlichen Schreibens sich erhalten und muss ständig neu eingeübt werden, denn die schnörkellose Berichterstattung drängt sich nicht von selbst auf. Ein in den Anleitungen zum wissenschaftlichen Schreiben gern wiederholtes Zitat lautet: »Vigorous writing is concise. A sentence should contain no unnecessary words […] for the same reason that a drawing should have no

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unnecessary lines and a machine no unnecessary parts […]« (Strunk/White 1979, 23). Worin besteht das Problem, sich diesen Wissenschaftsstil zu eigen zu machen? Wir besitzen ja wohl nicht einen angeborenen Stil der Weitschweifigkeit. Ein Grund liegt darin, dass zwischen der rekursiven Forschungsdynamik und dem Format der wissenschaftlichen Kommunikation eine tiefe Differenz besteht. Entdeckung und effiziente Darstellung fallen auseinander. Es hat keinen zu interessieren – so der Mythos und die Konvention – wie ein Forscher oder eine Forschergruppe die Fragestellung mehrfach veränderte und erst allmählich das Thema fand, das nun als Hypothese der Aufmacher der Veröffentlichung ist. Die Anpassung der Methoden, die Bewältigung von Überraschungen und Umwegen, der ständige Umgang mit den Kontingenzen offener Forschung (also das Basteln an einer Eigenlösung) müssen der Darstellung eines beständigen Fortschreitens weichen. Dieser Suchprozess muss nicht nur unterdrückt, sondern in eine artifi zielle Parallelität zum Präsentationsformat gebracht werden, wie etwa die folgende, dem Internet entnommene »How to Write a Paper in a Scientific Journal Style an Format«-Anleitung suggeriert: Experimental process

Section of Paper

What did I do in a nutshell?

Abstract

What is the problem?

Introduction

How did I solve the problem?

Materials and Methods

What did I fi nd out?

Results

What does it mean?

Discussion

Die Forscher dürfen nicht ihre Geschichte erzählen, sondern müssen lernen diese zugunsten der für das Publikum bereinigten und vom Resultat her rekonstruierten Geschichte zu unterdrücken. Die genaueste Untersuchung dieser Approximation des ›Labor-Oportunismus‹ an die in der Veröffentlichung vertretene Abarbeitung eines logischen Flussdiagramms verdanken wir der Fallstudie von Karin KnorrCetina (1981, 191). Ohne dass bei Knorr-Cetina das Thema Äesthetik zentral wird (immer steht bei ihr die Verhandlung von Interessen im Vordergrund), benutzt sie rhetorische Kategorien wie die »literarische Strategie« und »dramatische Inszenierung«, die als Ressourcen der Komposition zur Verfügung stehen. Die mühevolle Transformation – gleichsam von der Arbeit in der Küche des Restaurants zur Präsentation des Menüs im Speiseraum – hat seine institutionelle Berechtigung (hierauf gehe ich im nächsten Abschnitt genauer ein). Wer wäre schon daran interessiert, ständig über die Irrungen und Wirrungen aller mediokren Forschung unterrichtet zu werden? Aber sie hat auch ihren Preis. Boot-Bernstein (2003) hat in einem anregenden Aufsatz Belege dafür zusammen getragen, dass viele Forscher diese

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Sequenz sehr deutlich empfi nden. Er führt den Technikhistoriker und Materialforscher Cyril Smith an: »before publishing anything I tried to put in respectable scientific terminology and it was fun to do so, but the discovery was entirely sensual […]« (nach Root-Bernstein, 2003). Der Preis ist, dass die Fachliteratur keine Fingerzeige mehr über den Gestaltungsprozess der Forschung und über die kognitiven Veränderungen zwischen Forschung und Darstellung enthalten. Bereits Ludwik Fleck hatte diese Veränderungen herausgestellt. »Die Fragmentarität der Probleme, Zufälligkeit des Materials […], technische Einzelheiten, kurz die Ein- und Erstmaligkeit des Arbeitsstoffes verbinden ihn unzertrennlich mit dem Verfasser.« (Fleck 1980, 157). Aber das Format des Wissenschaftsstils macht daraus etwas anderes: »Die ›allgemeine Überprüf barkeit‹ wird als sozusagen demagogisches Postulat offiziell gefordert, doch ist es erstens keine allgemeine, sondern eine denkkollektivistische Prüfung, zweitens besteht sie einzig in der Überprüfung der Stilgemäßheit eines Wissens.« (Ebd.) Fleck stellte den wissenschaftlichen Wert dieser Transformation nicht in Frage, denn ihm kam es gerade darauf an, die kognitive Rückwirkung der Veröffentlichung auf das Wissen der Gemeinschaft zu erfassen. Wenn jedoch der Stil der Veröffentlichung als Strategie der Forschung ausgegeben wird, entsteht ein verzerrtes Bild. Root-Bernstein plädiert daher dafür, gerade diesen Transformationsprozess in den Standardbeschreibungen der »wissenschaftlichen Methode« zur Sprache zu bringen und sieht in seiner Unterdrückung einen der größten Mängel der gegenwärtigen Ausbildung. Er zitiert einen anderen bedeutenden Chemiker, William Lipscomb: »if one actually set out to give as little help as possible to both aesthetics and originality in science, one could hardly devise a better plan than our educational system.« (Nach Root-Bernstein 2003, 47) Ähnlich wie bei der Diskussion der ästhetischen Komponenten der Wissensgestaltung durch Instrumente, Methoden und Begriffe kommt es mir bei den Komponenten der Wissensdarstellung darauf an, ihre spezifische ästhetische Qualität im Vergleich zu anderen Textformen heraus zu heben. Die Hinweise auf den rhetorischen Stil der wissenschaftlichen Sachlichkeit sollen dem hier genügen. Jedoch ist damit nur ein erstes Erfordernis textlicher Gestaltung genannt.

2. Text als narrative Historisierung Ein zweites Element rhetorischer Darstellung dient der Aufgabe, ein Forschungsergebnis in ein Forschungsfeld einzubetten. Jede Veröffentlichung benutzt eine Anzahl von Stilmitteln, um für den Informationsgehalt des Textes einen Kontext der Interpretation aufzubauen. Wie auf einem klassischen Gemälde der Blickpunkt des Bildes in und durch seine Umgebung zu Geltung kommt, muss der Gegenstand der Veröffentlichung in die Forschungslandschaft und gegebenenfalls in die Anwendungsfelder eingepasst werden. Eine Forschungslandschaft existiert allein da-

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durch, dass sie ständig durch die Autoren in jedem Beitrag ›fortgeschrieben‹ wird. Jede Veröffentlichung trägt ein Stück zur Erhaltung dieser Landschaft bei. Der eigene Beitrag wird nur wahrgenommen, weil er zugleich ein Beitrag zu dieser ›Landschaftspflege‹ ist. Jede Veröffentlichung leistet ein Minimum an historischer Narration. Sie erzählt eine Geschichte darüber, welchen Ort in der Gegenwartsgeschichte ihres Fachs sie sich anweist. Sie ist ein Bindeglied, das das mitteilenswerte neue Wissen mit dem bestehenden verknüpft. Die in allen disziplinären Kulturen dafür genutzten, allerdings unterschiedlich ausgestalteten Mittel sind die Einkreisung des Forschungsfeldes, auf dem die eigene Fragestellung lokalisiert wird, die Erwähnung eines zentralen Referenzautors, die wichtigsten Vorarbeiten und Parallelarbeiten, die Nennung eines spezifi schen Defi zits, das bisher unbeachtet oder ungelöst erscheint. Zur Narration gehört weiterhin die anlehnende und ablehnende Haltung, die in Zitationen signalisiert wird, der Dank an Institutionen, Stiftungen, Kollegen und Gutachter. Ausblicke auf Fragen, die sich nun der Forschung eröff nen, geben der Geschichte eine Zukunft. Wissenschaft ist explizit eine ihre Geschichte konstruierende Tätigkeit (vgl. Bayertz 1980, Krohn 2003) – nicht durch eine nebenher laufende Wissenschaftsgeschichtsschreibung, sondern durch die immanente rhetorische Konstruktionsform des wissenschaftlichen Beitrags. Jeder Text gestaltet seine eigene Kontextualisierung und ist damit zugleich ein Beitrag zur Identitätssicherung des Gebietes in seiner Entwicklung. Er ist wie ein Partikel in einem Feld, das letztendlich nur aus der Wechselwirkung der Partikel besteht, jedoch zugleich deren Positionen und Operationen bestimmt. Jeder Autor muss sich einpassen in die institutionellen Erwartungen des Faches und seiner Publikationsorgane, und zugleich trägt er minimal nicht nur zur Stabilisierung sondern auch zur Veränderung der Erwartungen bei.

3. Der Text als Rede Zur rhetorischen Funktion der Veröffentlichung gehört auch die Gestaltung der kommunikativen Verständigung, zu der bereits die historische Kontextualisierung beiträgt. Jede textliche Beschreibung eines Forschungsergebnisses ist eine Darstellung für andere, die nicht ›dabei‹ waren. Sie ist daher gebunden an die Entscheidung über die Wahl eines Publikums, an die der Text als Ansprache gerichtet werden soll. Damit einhergehen Einschätzungen über Hintergrundwissen, Fachwissen und Interessen; Entscheidungen über den Präsentationsumfang technischmethodischer Details; Umfang der Aufwendungen für graphische und bildliche Komponenten. Die Spannweite reicht von der Unterstellung eines hohen impliziten Wissen der hoch spezialisierten Fachgemeinschaft bis zur Rücksicht auf eine fachlich nicht vorgebildete Leserschaft, wenn man etwa hoff t, in ›Science‹ oder ›Nature‹ veröffentlichen zu können. In der modernen Multimedialität spielt Bildlichkeit eine besonders große kommunikative Rolle. Für hoch spezialisierte Fach-

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gruppen wie die von Knorr-Cetina (2001) beobachteten Hochenergiephysik-Forschergruppen am CERN ist die visuelle Darstellung Grundlage der Verständigung. Knorr-Cetina hat dafür einen neuen Begriff geprägt – »Viskurse«. Sie hat beobachtet, dass graphische Darstellungen bereits schon bei der Planung von Experimenten wichtig sind, wenn eine große Anzahl Forscher unterschiedlicher Fachrichtungen beteiligt sind und einander verständigen müssen. »Rapporteurrollen und die kommunikative Form des (visuellen) Statusreports dienen dazu, nicht nur technische Objekte und ihr Verhalten zu entfalten, sondern auch das Wissensgebiet: Sie entfalten es und bringen es gleichzeitig zusammen, indem sie eine kontinuierliche Geschichte der Entwicklung und der Zustände des Gebiets […] sichtbar machen.« (Knorr-Cetina 2001, 216). Und weiter: »Dadurch, dass in visuellen Darstellungen verschiedene Experimente, Theorien […] und ähnliches zusammengefügt werden, wird auch die Entdeckungsgeschichte eines Gebiets kollektiv als Basis für den Entdeckungsfortschritt etabliert.« (Ebd.) (Zur ›Visualisierungskunst‹ siehe die Beiträge von Klaus Hentschel und Alfred Nordmann in diesem Band.) Die meisten Wissenschaftshistoriker, die Laborbücher mit Veröffentlichungen verglichen haben, haben nicht die Kontinuität, sondern das hohe Maß an Stilisierung herausgearbeitet, das dem Forschungsprozess in der Veröffentlichung den Adel einer rational entworfenen Planung verleiht. Über Robert Millikans bedeutendes Experiment zur Messung der Ladung von Elektronen schreibt Cantor (1989, 160) im Anschluss an die Rekonstruktion von Holmes (1985): »The publication is a retrospective narrative, an impersonal, passive reconstruction which draws attention th those theories, tests and data which are considered appropriate for consumption by the scientific community […] The crucial difference between the notebook and the publication is that the latter is written for an audience and constitutes part of the public transactions of science whereas the notebook is principally for the use of the researcher (and perhaps a few intimates).« (Cantor 1989, 160) Die rhetorischen Strategien dienen neben der Kontextualisierung also dazu, das Forschungsergebnis mit einer geschlossenen Argumentation und prägnanten Sichtbarkeit zu unterfüttern. Dass dabei Datenschönungen zur Herausarbeitung eines eleganten Befundes stattfi nden, ist von Historikern immer wieder dargestellt worden und hinterlässt den Eindruck einer illegitimen Manipulation. Aber eigentlich ist dies ein eher uninteressanter Aspekt; er stellt die Wissenschaftler in eine Reihe mit allen anderen, die mit Marketing ihre Produkte aufstylen. Vielmehr besitzt diese ›manipulierende‹ Rhetorik eine wissenschaftstheoretische Verankerung. Die Vermittlung von Daten und Theorie durch eine rein rational schlüssige Argumentation kann niemals vollständig gelingen, sondern bedarf immer der ästhetischen Gestaltung. Wissenschaftstheoretiker haben hierzu zwei Theoreme entwickelt. Bereits 1958 hat Hanson im Anschluss an Wittgenstein das Theorem von der ›Theoriebeladenheit der Beobachtung‹ entwickelt. Es besagt im Kern, dass alle empiri-

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sche Evidenz immer von theoretischen Annahmen geprägt ist und daher keinen theorieunabhängigen Bestand hat. Bereits 1953 war von Quine das komplementäre Theorem der Unterdeterminiertheit aller Theorien durch empirische Daten aufgestellt worden. Es formuliert, dass eine jede Sammlung von empirischer Evidenz mit mehreren einander ausschließenden Theorien zur Deckung gebracht werden kann und daher in jede theoretische Interpretation Entscheidungen über die Verwendung der Daten eingehen (Laudan/Leplin 1991). Die wissenschaftstheoretische Diskussion über die Theoriebeladenheit der Beobachtung und der Entscheidungsbeladenheit der Theorie ist unabgeschlossen, aber mit einiger Zuverlässigkeit kann man aus ihr entnehmen, dass es rhetorischer Mittel bedarf, um für die Veröffentlichungen Argumentationen und Illustrationen zu entwerfen, die Bruchstellen überdecken. Rhetorische Mittel wie Metaphern und Illustrationen sind wirksam immer relativ auf die Sprach- und Sehgewohnheiten einer Hörerschaft. Eine im strengen Sinne rein rationale Argumentation können wir uns, wenn überhaupt, nur als eine logische Ableitung vorstellen. Diese aber wäre grundsätzlich zu grob und unsensibel für diejenigen Plausibilitäten, um die es bei der theoretisch-begrifflichen Erfassung empirischer Daten geht. Im Kontext des sozialkonstruktivistischen Programms der Wissenschaftsforschung ist aus der Beobachtung des Ungenügens rein rationaler Verfahrensweisen geschlossen worden, dass wissenschaftliche Kommunikation keine epistemologische Besonderheit darstellt. In der Schlussbemerkung ihrer Fallstudie, in der es vor allem auch um die Anfertigung einer Veröffentlichung ging, schrieb Knorr-Cetina: »Revidiert werden müssen, wie es scheint, diejenigen Vorstellungen, die der naturwissenschaftlichen Rationalität und dem naturwissenschaftlich-technischen Handeln, spezifi sche, von der Alltagsrationalität und dem Alltagshandeln abgehobenen formale Qualitäten zuschreiben. Die illustrierten Komponenten naturwissenschaftlicher Verfahrensweisen geben keinerlei Hinweis auf eine solche formal ausgrenzbare Rationalität. Der Unterschied liegt, sofern es ihn gibt, in den von Wissenschaftlern behandelten Inhalten.« (Knorr 1984, 272) Wenn man das Attribut ›formal‹ in die strenge Lesart des Begriffs der ›formalen Logik‹ rückt, mag die Aussage stimmen. Sie mag ebenfalls stimmen, wenn man sie auf die Alltagspraktiken im Labor und auch auf das Zurechtschneiden einer Veröffentlichung bezieht. Aber diese beiden Pole sind letztendlich uninteressant. Während die zu hoch gehängte Idee einer »formal ausgrenzbaren Rationalität« zwangsläufig dazu führt, die faktische Rationalität in der Wissenschaft als defi zitär zu klassifi zieren, verstellt die Gleichsetzung wissenschaftlicher Praxis mit Alltagspraxis den Blick auf die kognitiven Besonderheiten der wissenschaftlichen Kommunikation. (Im Feld der Kunst und Literatur würde das soziologische Prokrustesbett ähnlich aussehen: Dem Anspruch eines formal ausgrenzbaren Gebrauchs von Bauformen oder Sprachformen würde kein Architekt oder Dichter genügen, und dass auch diese ›nur mit Wasser kochen‹ ist immer wieder einmal eine Bemerkung wert, aber ohne theoretischen Wert.) Die Schwäche des sozialkonstruktivistischen

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Programms lag in der Programmatik, nichts epistemisch Besonderes beobachten zu wollen – was dann auch gelang. Der bereits erwähnte Wissenschaftshistoriker Frederic Holmes, dessen Interesse der Entdeckung der Strukturen von ›Schönheit‹ in der Anlage und Darstellung von Experimenten galt, war in der Lage, durch die Alltagspraktiken im Labor hindurch die Eleganz der Verfahren und Argumentationen zu beobachten. In einer Rekonstruktion des Meselson-Stahl Experiments und seiner Veröffentlichung im Jahre 1958 zur DNA-Replikation, das die wichtigste empirische Bestätigung des Doppel-Helix Modells von Crigg und Watson von 1953 war, legte er zunächst größten Wert auf das Auffinden der verschlungenen Pfade, denen Wissenschaftler auf der Suche nach einer Eigenlösung eines komplexen Problems folgen: »Historical investigation, however, seldom follow the straightest line between two points. During the 4 years between the time that Meselson had the germinal idea […] and the time that he and Stahl performed the experiment that fulfi lled Meselson‹s dream, this problem changed form several times, was deferred and retrieved, became successively entangled with several other problems and opportunities and again isolated from them.« (Holmes 1996, 87) Eine bessere Bestätigung für die Aufl adung des Forschungsprozesses mit den Kontingenzen von Überraschungen und Interventionen kann man sich aus sozialkonstruktivistischer Sicht nicht wünschen. Jedoch richtet sich Holmes‹ abschließendes Urteil auf die Bewertung der besonderen Gestaltungsarbeit, die die Veröffentlichung trotz des Drucks, den Max Delbrück ausübte, auszeichnet: »Despite this fi nal rush, the care that the authors put into their writing is obvious in the product. The clarity and economy of expression in the prose, as well as in the visual representations that accompany the text, are exemplary. The beauty perceived by those scientists who fi rst encountered the Meselson-Stahl experiment by reading the published account of it would be hard to separate from the beauty of the paper.« (Ebd., 93) Nicht jede wissenschaftliche Veröffentlichung genügt diesen Standards. Zutreffender ist vermutlich: kaum eine genügt ihnen. Jedoch ist dies nicht der Punkt. Es geht darum, dass jede wissenschaftliche Veröffentlichung Anforderungen an eine textliche – Sprache, Formel, Graphik und Bild umfassende – Gestaltung stellt, die für die Rhetorik wissenschaftlicher Kommunikation charakteristisch ist. Die meisten Autoren empfi nden die Schwierigkeit dieser Anforderung. Viele würden ihr lieber entgehen, um sich sofort dem nächsten Forschungsproblem zu widmen, wenn nicht das institutionelle System der Wissenschaft sie zwingen würde, am Spiel der literarischen Präsentation teilzunehmen. Im Ergebnis möchte ich festhalten: Der behauptete Ausgangspunkt, das Ästhetik in der Wissenschaft in der Kultivierung der Wahrnehmung und Gestaltung von Wissen besteht, wird kommunikativ sichtbar in der Präsentation von Text. Ähnlich wie die Kultivierung wissenschaftlicher Erkenntnis im Forschungsprozess folgt die Darstellungskultur ihren eigenen, der wissenschaftlichen Kommunikation geschuldeten Regeln.

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4. Text und Stil Vom wissenschaftlichen Text aus eröff nen sich weitere Bereich der ästhetischen Analyse, die ich hier unter dem Stichwort des Stils anführen will. Der Begriff ist in Verbindung mit Ludwik Fleck bereits angesprochen worden. Er dient – angeleitet aus seiner Verwendung in der Kunstwissenschaft – der Einordnung und Wiedererkennung eines Elements in einem Feld. Zugleich können die Elemente ihrerseits stilprägend (rück)wirken. Ähnlich wie in Kunst und Musik können der persönliche Stil eines Autors, der einer Zeitschrift, einer Disziplin, eines theoretischen Erklärungsideals und – früher mit Vorliebe – der Stil einer nationalen wissenschaftlichen Kultur unterschieden werden. In der Kunstwissenschaft war das Bemühen vergeblich, dem Begriff die Präzision eines wissenschaftlichen Grundbegriff s zu verleihen (Gumbrecht 1986); umso erfolgloser wird dies in der Wissenschaft sein. In formaler oder funktionaler Hinsicht geht es beim Stilbegriff jedoch immer darum, dass und wie einerseits der Stil die einzelne Darstellung prägt und er andererseits durch diese fortentwickelt wird. Während ich bei der einzelnen Veröffentlichung (als kleinste Einheit der Gestaltung von Wissen) die Kontextualisierung und Historisierung herausgestellt habe, ist die mit dem Stilbegriff eingenommene Blickrichtung die umgekehrte: der Stil leitet die Gestaltung des Textes durch die Bereitstellung von wissenschaftlichen Idealen an, denen Wissenschaftskulturen verpfl ichtet sind. (Siehe in diesem Band Klaus Hentschels Analyse einer speziellen Wissenschaftskultur.) Der Aufstieg des Stilbegriff s zur Systematisierung der Kunst begann um die Wende zum 20. Jahrhundert. Heinrich Wölffl ins ›Kunstgeschichtliche Grundbegriffe‹ (1915) markieren nach Gumbrecht den »Beginn jener wissenschaftsgeschichtlichen Phase […], welche durch die Dominanz der Stilforschung als Paradigma geprägt ist« (Gumbrecht 1986, 771). Bereits früher verwendete der Wissenschaftshistoriker Pierre Duhem den Begriff in der Wissenschaftsgeschichtsschreibung, um damit unterschiedliche Erklärungsideale zu kennzeichnen. Er unterschied drei basale Stile der Wissenschaft seiner Zeit: die reduktionistischmechanistische Erklärungsideal, das struktural-formalistische und das axiomatisch-deduktive. Unglücklicherweise assoziierte er diese Unterscheidungen mit ›nationalen Stilen‹. 1893 hatte er in »Die englische Schule und die Theorien der Physik« den englischen Mechanikergeist vorgeführt, dem es nicht gelang, das neue Wissen der Thermodynamik ohne Rückgriff auf mechanische Modelle zu erklären. Ihm stellt er den »esprit geometrique« der Franzosen gegenüber, der in der Lage ist, die formalen Strukturen in den Gegebenheiten der experimentellen Befunde herauszuheben. In einer späteren Arbeit, über »Die deutsche Wissenschaft« (1915) griff er speziell den schwerfälligen prinzipalistischen deutschen Stil an. Dies war sein patriotischer Beitrag zum Ersten Weltkrieg. Am Ende des Buches (genauer: eines angehängten Beitrags) sprach er von dem Joch des »willkürlichen und unsinnigen algebraischen Imperialismus«, dem der »esprit geometrique« als Sach-

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walter des »bon sens« entkommen müsse. Dann würde es heißen: »Scientia germanica ancilla scientiae gallicae« (Duhem 1915, 143). Duhem schloss mit der Idee der nationalen Stile allerdings nur an die nationalistisch-imperialistischen Attitüden der Zeit an. Diese Abwegigkeiten stellen die Fruchtbarkeit des Stilbegriffs zur Charakterisierung verschiedener Erklärungsideale nicht in Frage. Erklärungsideale beruhen immer auf Annahmen darüber, was in einem Erklärungsschema anerkannte Grundlage ist und was als erklärungsbedürftig gilt. Genau hierüber waren mit dem Zusammenbruch des mechanistischen Weltbildes heftige Kontroversen entbrannt. Das Misslingen der Versuche, die neuen Theorien der Thermodynamik und der Elektrodynamik auf die Mechanik zurückzuführen, hatten eine tiefe Verunsicherung hervorgebracht, die durch das Auf kommen der Quantenphysik und Relativitätstheorie nur noch verstärkt wurde. Ernst Mach war von den historischen Analysen Duhems beeindruckt und nahm einiges in den späteren Aufl agen seiner ebenfalls 1883 erschienenen Darstellung »Die Mechanik in ihrer Entwicklung« auf, um damit seine Verabschiedung des mechanistischen Erklärungsideals zu stützen. In der verdienstvollen Ausgabe von Wahsner und Borzeszkowski sind im Anhang einige Dokumente zu dem Streit mit Max Planck abgedruckt, in dem es um die Berechtigung des von Mach selbst entwickelten Stils der »Ökonomie des Denkens« und der ökonomischen Natur der physikalischen Forschung ging. Der Stilbegriff ist geeignet die tiefen Kontroversen zu typisieren, die jene Zeit prägten. Tatsächlich erinnern die bezeichnenden Prägungen – Konventionalismus, Konstruktivismus, Realismus, Sensualismus, Empirismus, Logizismus, Deskriptionismus – stark an die analoge Auflösung des Kunstschaffens in parallele und konkurrierende Stilformen. Mach hatte seine Denkökonomie eigentlich als eine Metatheorie erdacht, um Vergleichbarkeit und Ordnung in diese Vielfalt zu bringen. Aber sie wurde selbst als ein Stil eingeordnet, dem nicht jeder folgend wollte. Max Planck war sein vehementer Gegner. »Deshalb muss der Physiker, wenn er seine Wissenschaft fördern will, Realist sein, nicht Ökonom« (Mach 1988, 678); dies setzte er gegen den vermeintlich denkökonomisch gebotenen Sensualismus. Verteidigt wurde Mach dagegen von Einstein, der den Nutzen von Machs Denkökonomie für die Begriffsbildung der Relativitätstheorie betonte. Die Worte Einsteins sind den wissenssoziologischen Annahmen zur Stilbildung verwandt: »Begriffe, welche sich bei der Ordnung der Dinge als nützlich erwiesen haben, erlangen über uns leicht eine solche Autorität, dass wir ihres irdischen Ursprungs vergessen und sie als unabänderliche Gegebenheiten hinnehmen. Sie werden dann zu ›Denknotwendigkeiten‹, ›Gegebenen a priori‹ usw. gestempelt. […] Es ist deshalb durchaus keine müßige Spielerei, wenn wir darin geübt werden, die längst geläufigen Begriffe zu analysieren und zu zeigen, von welchen Umständen ihre Berechtigung und Brauchbarkeit abhängt, wie sie im einzelnen aus den Gegebenheiten der Erfahrung herausgewachsen sind. Dadurch wird ihre allzu große Autorität gebrochen.« (Ebd., 685) Stile sind Hintergrundphilosophien und werden in Denkschulen gepflegt, aber

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sie spezifi zieren auch die »Umstände«, unter denen die Berechtigung und Brauchbarkeit von Wissen bewertet wird. In ähnlicher Weise lassen sich auch wissenschaftliche Erklärungsideale anfügen, die in und zwischen den Disziplinen kontrovers verhandelt wurden: Organizismus versus Mechanizismus, Reduktionismus versus Holismus, ideographische Erklärung versus nomothetische, statistische versus kausale Erklärung. (Zur Konkurrenz von Erklärungsidealen am Beispiel der Wirtschaftswissenschaften siehe den Beitrag von Köllmann in diesem Band.) Wie erwähnt, war es Ludwik Fleck, der den Stilbegriff zu seinem zentralen erkenntnistheoretischen Begriff gemacht hat. Der Untertitel seines Werkes heißt »Einführung in die Lehre vom Denkstil und Denkkollektiv«. Obwohl Fleck auch von einem generellen wissenschaftlichen Denkstil und von fachspezifi schen disziplinären Stilen spricht, setzt seine Analyse an der Einwirkung des Denkstils auf die alltägliche Forschungspraxis an. Der Stil ist für Fleck charakterisiert durch ein »Bereitsein für solches und nichts anderes Sehen und Handeln« (Fleck 1980, 85). Stil als Schule des Sehens. Dennoch steht am Anfang jeder Forschungsepisode die Kontingenz. Sie beginnt »stillos: verworrene, chaotisch zusammengeworfene Teilmotive verschiedener Stile […] man kann so oder so sehen, fast willkürlich« (ebd., 121). Dann entsteht eine Bereitschaft für gerichtetes Wahrnehmen, an dessen Ende »das entwickelte, reproduzierbare, stilgemäße Gestaltsehen« (ebd., 123 f.) steht. Flecks Defi nition der Wahrheit: »Auch ist Wahrheit nicht Konvention, sondern im historischen Längsschnitt: denkgeschichtliches Ereignis, in momentanem Zusammenhange: stilgemäßer Denkzwang.« (ebd., 131). Der Stil führt zum Denkzwang und speist sich aus den stilgemäßen Produkten. So entsteht »ein Wissensgebäude, das eigentlich von Niemandem geahnt und beabsichtigt wurde …« (ebd., 91). Der in meinen Augen bedeutende Schritt von Fleck ist dieser: Er hat die Stilisierung der Wahrheit als das wesentliche Merkmal der kommunikativen Gestaltungs- und Abstimmungsprozesses defi niert. Die ästhetischen Werte dienen nicht, wie bei Kuhn, der Überbrückung einer rationalen oder empirischen Lücke, sondern entspringen aus den Stilvorgaben des Denkkollektivs. Jedoch wird man bei aller Sympathie für die Subtilität der Fallstudie von Fleck und seiner sachnahen Verwendung von Wissenssoziologie und Gestaltpsychologie den Ansatz nicht verteidigen können. Die ethnomethodologisch angeleiteten Beobachtungen von Forschern im Alltag ihrer Interaktionen haben herausgestellt, dass nicht Denkzwang, sondern Flexibilität, Interpretationsoffenheit und Verhandlung am Ende eines Forschungsprozesses stehen. Zwar ist das Erlebnis oder, wie Fleck sagt, »Ereignis« der Evidenz in dem Sinne »zwanghaft«, als es unwillkürlich auftritt. Jedoch setzt dies die reflexive Relativierung nicht außer Kraft noch ist – wie wir gesehen haben – die Aufgabe der schriftlichen Gestaltung damit schon erledigt. Dennoch bildet Fleck einen wichtigen Anknüpfungspunkt für jede Analyse, die die Ästhetik der Wissenschaft in der wissenschaftlichen Kommunikation der Fachgemeinschaft selbst verorten will und in der Rückbindung zwischen dem disziplinären Kontext und der Forschungspraxis die Quelle der wissenschaftlichen Stilistik sieht.

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Dass dabei die Kriterien ästhetischer Qualität – ähnlich wie in der Kunstgeschichte in den verschiedenen Epochen und Genres – unterschiedlich sein können, ist besonders von McAllister (1996) herausgearbeitet worden. In seinem an Kuhn angelehnten Modell dient die ästhetische Bewertung vor allem der sozialen Festigung eines bestehenden Paradigmas, während alternative Paradigmata zunächst häufig mit dem Stigma des Unästhetischen versehen werden. Es spielen dabei die Gewöhnung an einen ästhetischen Habitus ebenso eine Rolle wie die Anerkennung der erprobten Reichweite eines etablierten Paradigmas. Demgegenüber erscheint ein neues Paradigma zunächst als roh und unfertig – hier scheiden sich die ästhetischen Präferenzen. Nach McAllister ergeben sich erst schrittweise mit der Durchsetzung eines neuen Paradigmas die ästhetischen Muster aus den nichtempirischen Zügen einer Theorie. Er nennt dies den Prozess der ästhetischen Induktion. Dafür dass die ästhetischen Muster ganz unterschiedliche Ausprägungen in verschiedenen Disziplinen besitzen können, gibt Kuipers (2002) ein schönes Beispiel aus einer Diskussion zwischen dem Physiker Alvin Weinberg und dem Evolutionsbiologen Stephen Gould. Nachdem beide Übereinstimmung darüber signalisiert haben, dass ästhetischer Kriterien relevant sind, betonte Gould sofort, dass die seinen von denen Weinbergs vollständig abweichen. Während Weinberg »inevitability« von Schlussfolgerungen heraushob, war Goulds ästhetischer Kanon: »diversity, unrepeatable contingencies and irregularities« (ebd., 292).

VI. Ästhetische Werte in der Wissenschaft In dieser kleinen Episode wird die Frage aufgeworfen, die ich durchgängig umgangen habe: die Frage nach der inhaltlichen Bestimmung der Ästhetik in den Wissenschaften. Wenn der Bogen so weit gespannt wurde, wie in diesem Essay, dann erscheint es aussichtslos hierauf eine positive Antwort zu geben, sondern angeraten, sie wieder fallen zu lassen. Ich hatte damit begonnen, die Besonderheiten wissenschaftlicher Qualifi kationen in der instrumentalisierten Wahrnehmung, experimentellen Betätigung und begriffl ichen Arbeit unter Gesichtspunkten der ästhetischen Kultivierung darzustellen. Diese bilden die Ressourcen wissenschaftlicher Forschung. Im nächsten Schritt habe ich dargestellt, das ein Forschungsprozess im Arrangieren einer komplexen Handlungssituation und in der Gestaltung einer als evident empfundenen ›Eigenlösung‹ besteht. Dieses Wechselspiel zwischen konstruktivem Erfi nden und überraschendem Auffi nden macht den zentralen ästhetischen Reiz der ›kognitiven Hedonik‹ der Forschung aus. Die an eine fachliche Öffentlichkeit gerichtete Publikation wirft Probleme der ästhetischen Textgestaltung auf, die wieder anderen Maßstäben folgen. Disziplinäre Kontextualisierung der Innovation, argumentative Dichte und Ansprache an ein Publikum zählen zu diesen Maßstäben. Mit diesen drei Schritten sind die zentralen ästhetischen Aspekte der Forschung

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angesprochen, jedoch erstreckt sich die wissenschaftliche Tätigkeit auf weitere Felder, die ich nur gestreift habe: die Umsetzung von Forschung in Lehre; die ständig zunehmende Bedeutung populärwissenschaftlicher Inszenierungen; die ständigen Anforderungen, zukünftig erwartetes Wissen in Forschungsanträgen zu antizipieren; Verhandlungen in der Öffentlichkeit über soziale Folgen der Anwendung neuen Wissens sind weitere Bereiche, in denen Wissenschaftler gestaltend tätig sind. Es würde den Rahmen sprengen, die ästhetischen Aspekte auch dieser Tätigkeiten zu analysieren. Bei dieser Vielfalt und Verschiedenheit der ästhetischen Aspekte kann es schwerlich gelingen, einen kanonischen Kern zu identifi zieren. In der Ästhetik der Wissenschaften überlagern sich die basalen Bestandteile einer psycho-biologischen Ausstattung des Erkenntnisprozesses (siehe den Diskurs über die (Dis-)Kontinuität des Begriff s der Schönheit in diesem Band) mit den spezifi schen Ausprägungen der wissenschaftlichen Kognitions- und Wahrnehmungsbereitschaft durch Instrumente, Methoden und Theorien, den disziplinären Stilen und kulturell verankerten Weltbildern. Eine ästhetische Theorie zu entwerfen, die von den tiefen evolutionären Wurzeln der Erkenntnisästhetik bis hin zur spezifischen Wahrnehmungs- und Gestaltungsästhetik in einzelnen Forschungsfeldern reicht und dabei allen disziplinären Stilprägungen und historischen Wandlungen gerecht werden kann, wird nicht gelingen. Das Ziel des Beitrags war daher nicht, die Defi nition eines kanonischen Kerns der Wissenschaftsästhetik in Aussicht zu stellen, sondern der Nachweis, dass die Erforschung der Wirklichkeit und die Darstellung des Wissens tief imprägniert sind von ästhetischen Funktionen. Die ästhetischen Funktionen beziehen sich auf die Kultivierung der Kognitions- und Wahrnehmungsbereitschaft im Zusammenhang mit der instrumentellen Ausstattung, die rekursive Verkoppelung von Handeln und Erleben im Forschungsprozess in der Erwartung einer ›attraktiven Evidenz‹ (Eigenlösung), die expressive Prägnanz der Darstellung im Kontext eines disziplinären Stils und die öffentliche Inszenierung von Wissen. Die Wissenschaftstheorie hat – mit wenigen Ausnahmen – dazu tendiert, diese Funktionen an den Rand der ihr zentralen Defi nitionen des empirischen Gehalts und der Bestätigung von Theorien zu drängen; die Wissenschaftssoziologie an den Rand der von ihr zentrierten Analysen von Interessen, Nutzen und Institutionen. Die stärksten Sachwalter der Ästhetik der Wissenschaften stammen – so scheint es – aus den Reihen der empirischen Wissenschaftler selbst (siehe hierzu der Beitrag von Wolfgang Braungart und Silke Jakobs in diesem Band). Ihre Reflexion ist angeregt durch die eigene Praxis. In dieser Flackern ästhetische Werte auf, deren Bedeutung sie persönlich empfi nden und deren Missachtung in den Routinen der Forschung und Lehre sie bedauern. Die wissenschaftstheoretische, -soziologische und -historische Forschung kann hier ansetzen und den ästhetischen Raum des Erkennens und Wissens sichtbar machen, nicht nur um der Wissenschaft besser gerecht zu werden, sondern auch um ihre Gestaltungspraxis durch ästhetische Reflexion zu bereichern.

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Ästhetische Wissenschaft – schöne Ideen und elegante Experimente in der Geschichte Von Ernst Peter Fischer

»Die höchste Schönheit der menschlichen Natur besteht in dem Glanz der Wissenschaft.« Thomas von Aquin, Summa theologica I/II, qu. 27, art. 1

Am Anfang der modernen Wissenschaft steht etwas, das postmoderne Zeitgenossen glatt unwissenschaftlich nennen und verwerfen: Als Nicolaus Kopernikus im 16. Jahrhundert die Erde aus der Mitte des Weltalls nahm, um sich dort die Sonne vorstellen zu können, da vollzog er diesen heute als revolutionär empfundenen Schritt nicht, weil es eine entscheidende Beobachtung gab, die zugleich gegen die alte (geozentrische) und für die neue (heliozentrische) Sicht der Dinge am Himmel sprach. Kopernikus handelte überhaupt nicht aus naturwissenschaftlichen Gründen, sondern aus Motiven, die sich durch das Beiwort ›ästhetisch‹ charakterisieren lassen. In seinem Hauptwerk von 1543, in dem es um die »Umwälzungen der himmlischen Kugelschalen« geht (De revolutionibus orbium coelestium), schwärmte er nämlich von der Idee, dass die Sonne »ihren Sitz in der Mitte hat«, und er fragte seine Leser verzückt: »Denn wer möchte sie in diesem herrlichen Tempel als Leuchte an einen anderen Ort stellen als dorthin, von wo sie auch das Ganze zugleich beleuchten kann?« (Hamel 1994, 165) Natürlich zeigte sich auch Kopernikus – ebenso wie kurz vor ihm der berühmte Martin Luther und andere Männer, die den Himmel aus unterschiedlichen Gründen im Visier hatten – unzufrieden über viele ungenaue Vorhersagen der zeitgenössischen Astronomie. Daran hat seine heliozentrische Konstruktion der Welt jedoch nicht viel ändern können – allen hartnäckigen und bis heute anders lautenden Gerüchten zum Trotz. Und auf die Messungen bzw. Beobachtungen, mit denen die Einwände gegen eine Umlauf bahn der Erde um die zentrale Position der Sonne verworfen werden konnten, die es also nahe legten, das neue Modell des Kopernikus dem älteren des Ptolemäus mit der ruhenden Erde im Mittelpunkt des Kosmos vorzuziehen, auf diesen experimentellen Beweis musste die Gemeinde der Wissenschaftler noch sehr lange warten, nämlich bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts, und zwar vor allem wegen quantitativer bzw. technischer Gründe. Doch das Fehlen einer experimentellen Untermauerung hat weder bei der Entwicklung der Kosmologie noch bei der Entfaltung unseres Bildes vom Universum gestört. Auf präzise Nachweise kam es den Menschen nicht an, und alle technischen Mängel und Ungenauigkeiten lassen nur um so heller das eigentliche Motiv hervortreten, nämlich das damals wie heute umfassend verbreitete und allgemein menschliche Bedürfnis, im Kosmos Schönheit vorzufi nden. Kopernikus drückt das

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auch ihn beherrschende Verlangen so aus: »Wir fi nden daher in dieser Anordnung [mit der Sonne in der Mitte des Kosmos] die wunderbare Symmetrie der Welt und den festen harmonischen Zusammenhang zwischen Bewegung und Größe der Kugelschalen, wie sie auf keine andere Weise gefunden werden kann.« (Hamel 1994, 166) Lieber schön als richtig Dieses ästhetische Element des heliozentrischen Weltbildes muss den Menschen allgemein aufgefallen sein und eingeleuchtet haben, denn sonst ist nicht zu verstehen, warum das System des Kopernikus im Laufe der Zeit ohne jeden experimentellen Beweis akzeptiert und von jedermann als unverrückbar zutreffend angesehen wurde. Das ästhetische Element des heliozentrischen Weltbildes muss den Menschen bis heute gefallen und einleuchten, weil sie es nach wie vor als Gewissheit behandeln, obwohl es bekanntlich längst als unzutreffend erkannt worden ist. Wie sehr ›falsch‹ das kopernikanische Weltbild ist, zeigen die Befunde der Astronomie von Tag zu Tag deutlicher. Bekanntlich befi ndet sich nämlich die Sonne weder in der kosmischen Mitte, noch verharrt sie in der Ruhe, die Kopernikus ihr zubilligte. Richtig ist nur, dass sich die Erde noch viel mehr bewegt und – wie viele andere Planeten auch – die Sonne umrundet. Das ganze Sonnensystem – und mit ihm die Erde und die Menschen – vollführt eine komplizierte Fluchtbewegung, und zwar als winziger Teil einer Galaxie namens Milchstraße, die eher am Rande des Universums zu fi nden ist, das die Wissenschaft mit ihren modernen Apparaten über- und einsehen kann. (Dass einige der heutigen Intellektuellen, die Schwierigkeiten mit dem traditionellen Gottesbild haben, diese Randlage vielleicht eher als angemessen und damit möglicherweise sogar als schön empfi nden, soll nur nebenbei bemerkt werden. Beklagt über die extreme Nähe zum Rand haben sich jedenfalls noch nicht sehr viele Zeitgenossen – sie scheint den Menschen zu gefallen.) So seltsam es klingt: Aber als die apparative Entwicklung der Physik endlich so weit war, dass sie die Drehung der Erde um die Sonne nachweisen konnte – und zwar gegen der Mitte des 19. Jahrhunderts durch die Messung einer so genannten Fixsternparallaxe –, da hat sich niemand mehr dafür interessiert bzw. darüber aufgeregt. Das heißt, natürlich waren einige Physiker von den technischen und mathematischen Details begeistert, die dann ihre Kollegen Friedrich Wilhelm Bessel und Joseph von Fraunhofer klären mussten, um die schöne neue Ordnung am Himmel wissenschaftlich zu bestätigen. Aber nötig war die Messung nicht, um irgendjemanden von einer heliozentrischen Welt zu überzeugen. Das kopernikanische Modell hatte sich ohne technische Hilfe in den Köpfen durchgesetzt, und zwar einfach deshalb – so darf vermutet werden –, weil es symmetrisch und harmonisch wirkte. Mit anderen Worten: Die Menschen haben sich für das neue Weltbild entschieden, weil sie es schön fanden. Sie haben ihre Wahl nach der Schönheit, nach ästhetischen Kriterien, getroffen und nicht mehr als sie im Sinn gehabt.

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Dreifaltigkeit Hilfestellung auf diesem Weg zur Akzeptanz hatte unter anderem Johannes Kepler geleistet, der als einer der ersten Astronomen schon früh im 17. Jahrhundert (kurz vor der Zeit des Dreißigjährigen Krieges) davon überzeugt war, dass die Sonne in der Mitte der Welt ruht. Aber wie bei Kopernikus wird auch Keplers feste Einstellung weniger durch wissenschaftliche und mehr durch ästhetisch zu nennende Gründe und Hintergründe verständlich. Die Sonne verkörpert für ihn das »Prinzip aller Schönheit der Welt«, und deshalb gehört sie in das Zentrum. Kepler hält darüber hinaus das heliozentrische Weltbild vor allem aus seinen religiösen Bedürfnissen heraus für wahr. Für ihn bezeugt keine andere Vorstellung der Welt deutlicher die christliche Dreifaltigkeit (Trinität) als der Vorschlag des Kopernikus mit der Sonne im Zentrum, von wo aus sie die Erde mit Licht und Leben versorgt und auf einer ewigen Umlauf bahn hält. Im heliozentrischen System sieht Kepler das großartige »Abbild des drei-einen Gottes«, und das ist es, wonach er, der jede Wissenschaft als einen Dienst an Gott – als Gottesdienst – ansieht, wirklich und mit all seinen Kräften sucht. Nun wird es moderne, aufgeklärte Zeitgenossen geben, denen eine derart aufdringliche Bildlichkeit nicht unmittelbar einleuchtet. Heute kann man sich Wissenschaftler wie Kepler nur von Begriffen erhellt vorstellen. Doch der Weg dorthin ist weiter, als man meint. Die abstrakten Konzepte stehen nicht am Anfang der modernen Wissenschaft, an dem Kepler tätig ist. Und von seinen Erfahrungen und Berichten lässt sich lernen, dass auch das wissenschaftliche Erkennen nicht allein außen (durch Beobachtungen) beginnt, sondern auch von innen her (durch dort angesiedelte Vorstellungen und Bilder) vorbereitet werden muss. Für Kepler ist die heliozentrische Ordnung des Kosmos offenbar vor allem deshalb wahr (und zugleich schön), weil sie mit seinen inneren Ideen zusammenpasst, weil die Bilder, die das äußerlich Wahrgenommene in ihm entstehen lässt, mit den Bildern übereinstimmen, die – so seine Worte – »von intellektuellen und innen vorhandenen Gegebenheiten hervorgelockt werden«. Erkennen fi ndet für Kepler statt, wenn diese Bilder »in der Seele aufleuchten«, wie er es in einer Schrift aus dem Jahre 1604 ausdrückt ( Jung / Pauli 1952, 120). Solch ein Erleben kann ich mir nur als eine Berührung mit der Schönheit vorstellen. Was Kepler aus eigener Erfahrung sagt, wird den philosophisch bewanderten Leser sofort an einen zentralen Gedanken von Platon erinnern, für den Erkennen ebenfalls mit einem Zur-Deckung-Kommen von äußeren Eindrücken und inneren Bildern zu tun hatte. Platon sprach in diesem Zusammenhang von Ideen, wobei es ihm wichtig war, dass die Ideen im Gegensatz zu den flüchtigen und veränderlichen Erscheinungen eine unwandelbare Festigkeit besaßen. Die moderne Wissenschaft versucht zwar, derartige Postulate abzuschütteln. Ansonsten weist sie aber längst in eine vergleichbare Richtung, vor allem dann, wenn Erkenntnistheorie von Psychologen betrieben wird. Offenbar beginnt das

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menschliche Verstehen lange vor dem Stadium, in dem die rational formulierten Sätze auftauchen, mit denen man sich schließlich verständigt. Und am einfachsten ist es, sich frühe Bilder vorzustellen, die im menschlichen Inneren entstehen. In einem sehr skizzenhaften Modell lässt sich vorstellen, dass zunächst unbewusste Prozesse in Gang kommen müssen, die natürlich ohne klar erfasste Begriffe operieren und uns stattdessen etwas anderes anbieten, was man sich als eine Bildersammlung vorstellen kann. Diese Imaginationen – die frühen Bilder – können von der Tätigkeit der Seele erfasst und unter diesen Umständen auch mit den Bildern verglichen werden, die durch die Wahrnehmung von außen vermittelt worden sind. Die Rolle der Bilder Hier soll zur Klarheit eine Anmerkung gemacht werden, die mit der hier benutzten Sprache zu tun hat. Im Deutschen ist es sehr schwierig, zu erklären, was ein Bild ist bzw. was mit ›Bild‹ gemeint ist. Auf jeden Fall soll unter ›Bild‹ etwas anderes verstanden werden als das, was eine Fotographie zeigt oder was auf einem Fernsehschirm zu sehen ist. Im Englischen gibt es dafür das Wort picture, das von dem image zu unterscheiden ist, für das manch ein Lexikon unter anderem ebenfalls die Übersetzung ›Bild‹ (oder auch ›Bildnis‹) angibt. Was im Inneren einer Person entsteht, ist natürlich kein picture, sondern so etwas wie ein image, also ein Bild, das mit der Imagination, der Einbildungskraft, zu tun hat und deshalb eher ein Gemälde als eine Photographie ist. Ein gemaltes Bild entsteht aus seinen Einzelteilen immer neu, und was ein Mensch aus den Wahrnehmungen macht, die von außen kommend über die Sinne gelangen, wird zuletzt natürlich ebenfalls solch ein image. Damit treffen zwei vergleichbare Größen zusammen, die sich ein Naturwissenschaftlicher in allererster Näherung als komplexe Aktivität von Nervenzellen vorstellen kann. In seinem Jargon kann er sich sogar ausmalen, dass es beim Zusammenbringen (Vergleichen) der beiden Bild-Muster zu einer Art Resonanz kommen kann, was dann die seelische Regung zur Folge haben kann, die Kepler und andere große Forscher als »Aufleuchten« kennen und beschrieben haben (und die normal Sterbliche erleben, wenn ihnen plötzlich etwas »einleuchtet«). Wenn für dieses innere Leuchten ein Beispiel aus dem 20. Jahrhundert gefordert wird, darf auf den Physiker Richard Feynman verwiesen werden, der ein sehr bildhaftes Verfahren – die so genannten Feynman Diagramme – ersonnen hat, um die Wechselwirkung zwischen den elementaren Bestandteilen der Materie anschaulich verstehen zu können. Als er eines Tages das Diagramm vor Augen hatte, in dem die Umwandlung von Elektronen, Protonen und Neutrinos richtig erfasst war, da »leuchtete das verdammte Ding«, wie Feynman es selbst ausgedrückt hat (Gleick 1992, 527). Ich schlage vor, solche Geschichten ernst zu nehmen und ihnen in einer Erkenntnistheorie der Wissenschaft gebührend Platz zu geben. Feynman schwärmt

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keineswegs kitschig herum, wenn er den Begriff »leuchten« verwendet. Ihm wurde auf diese Weise signalisiert, dass die Natur tatsächlich so funktioniert und dass er sie in diesem Augenblick (!) – wortwörtlich – durchschaut hat. Der romantische Dichter Novalis hat die Seele des Menschen bekanntlich dort geortet, wo Innen und Außen zusammentreffen. So gesehen, »leuchtet« es sofort ein, dass Feynmans Erkenntnisse auch seine Gefühle betreffen, und dieser Zusammenhang ließe sich für jeden Forscher zeigen. Es lässt sich sogar darüber spekulieren, dass es Einsichten gibt, die erst durch Gefühle überhaupt möglich werden. Eine solche innere Bewegtheit kann auf einer frühen Stufe vermutlich am besten erfassen, ob die verfügbaren Bilder zusammenpassen oder nicht. Gemeint ist die kognitive Stufe, auf der die images etwas zeigen, das zwar geahnt, aber (noch) nicht benannt werden kann. Noch bleibt ohne Begriff, was in der Mitte der Seele zu sehen ist, so dass die Psychologen an dieser Stelle von symbolischen Bildern sprechen. Sie suchen damit verständlich zu machen, wie auf dieser Stufe ästhetische Momente ins Spiel kommen, wenn das Erkennen beginnt.

Archetypen Die seltsamen »Gegebenheiten«, von denen bei Kepler oben die Rede war und von denen die inneren Bilder stammen, muss man sich (vielleicht) als Grundbestandteile der menschlichen Erfassung von Wirklichkeit vorstellen, mit deren Hilfe das Denken auf bricht. Die moderne Psychologie spricht in diesem Zusammenhang manchmal von Archetypen, und es ist am einfachsten, sich dieses Vorgegebene als tragf ähige Brücke zwischen den Sinneswahrnehmungen (von außen) und den Ideen (von innen) vorzustellen. Kepler verwendet den schwierigen Begriff des Archetypus ebenfalls, und zwar in Zusammenhang mit dem Konzept, das uns hier vor allem interessiert, dem Konzept der Schönheit nämlich. Für Kepler, den erfahrenen Naturforscher, dem die Wissenschaft so viele Erkenntnisse verdankt, lassen sich die Archetypen, mit denen bildhaft unser Denken beginnt, durch die geometrischen Gebilde veranschaulichen, die als Kreise, Linien und Winkel bekannt sind. Er schreibt: »Die Spuren der Geometrie sind in der Welt ausgedrückt, wie wenn die Geometrie gleichsam der Archetypus des Kosmos wäre«. ( Jung/Pauli 1952, 121) Die Welt empfi ndet Kepler nun deshalb als schön, weil sie mit geometrischen Mittel erfasst werden kann, wie es im Falle des heliozentrischen Systems gelingt. Oder allgemein bzw. universell von Kepler ausgedrückt: »Die Geometrie ist der Archetyp für die Schönheit der Welt«, was im Latein des Originals »Geometria est archetypus pulchritudinis mundi« heißt. So schön dieser Satz klingt und so nützlich es ist, ihn auswendig zu lernen: An dieser Stelle muss der Hinweis folgen, dass es für Menschen unseres Jahrhunderts wahrscheinlich nicht mehr möglich ist, korrekt nachzuvollziehen, was Kepler

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meinte, als er von Archetypen sprach. Zu seiner Zeit bestand noch nicht die strikte Trennung zwischen den materiellen und den geistigen Bereichen, die von René Descartes eingeführt worden ist und die das westliche Denken beherrscht. Seit Descartes muss man sich entscheiden, ob etwas zur res cogitans gehört oder eine res extensa ist – mein als PC bekanntes Werkzeug ist Materie, meine Gedanken (während ich auf dem PC schreibe) sind es nicht; es gibt in der Sprache keine Möglichkeit, sich neutral zu äußern. Ich vermag nur über Dinge zu reden, die entweder zu der einen oder zu der anderen Sphäre gehören, und es besteht Grund zu dem Verdacht, dass die Archetypen sich dieser Einteilung verweigern. Für Kepler spielte dies, wie gesagt, keine Rolle. Allen derzeitigen Versuchen einer genaueren Bestimmung der Archetypen legt diese Dichotomie aber so hohe Hindernisse in den Weg, dass es geraten scheint, an dieser Stelle besser umzukehren und einfachere Fragen in Augenschein zu nehmen.

Harmonie und Symmetrie Keplers Hauptwerk heißt »Harmonices mundi«. Es beschreibt also »die Harmonie der Welt«, wie jeder leicht übersetzen kann, ohne dabei ernst zu machen mit der eigentlich doch nicht zu übersehenden Tatsache, dass das Ziel der in ihm beschriebenen naturwissenschaftlicher Tätigkeit ästhetisch ist. Kepler erkundete die Welt, weil ihre Schönheit ihn dazu antrieb. Er hatte das Gefühl, bei seinen Forschungen auf Schönheit zu treffen, und damit steht er nicht allein. Der Wunsch der Wissenschaftler, das Schöne zu fi nden, lässt sich vielmehr durch die Jahrhunderte nach Kepler bis in die Moderne verfolgen, wie auf den nächsten Seiten an einigen Beispielen vorgestellt werden soll. Es geht im Falle von großer Wissenschaft stets sowohl um Harmonie – wie bei Kepler – als auch um Symmetrie – wie bei Kopernikus –, und der berühmteste Kopf des zu Ende gehenden 20. Jahrhunderts, Albert Einstein, machte beides mit dem ersten Satz seiner berühmten Veröffentlichung klar, die im Jahre 1905 das präsentierte, was heute Relativitätstheorie heißt. Einstein stellte diese Theorie überhaupt nur auf, weil ihn eine Asymmetrie – eine fehlende Symmetrie – störte, die in einem der Grundpfeiler der Physik zu stecken schien, wenn ihn jemand mit Bewegung versehen wollte. Gemeint sind damit die – in mathematischer Form gehaltenen – Beschreibungen von elektrischen und magnetischen Feldern, die vor allem zeigen, wie deren gegenseitige Abhängigkeit und Beeinflussung aussieht und zustande kommt. All dies konnte im 19. Jahrhundert in einem Formelpaket zusammengefasst werden, das unter Physikern als die Maxwell-Gleichungen (Abb. 1) bekannt ist.

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Abb. 1 : Die legendären vier Maxwell-Gleichungen (a), mit denen ausgedrückt wird, wie elektrische (E) und magnetische Felder (B) zustande kommen und sich gegenseitig induzieren. Elektrische Felder entspringen aus elektrischen Ladungen (ρ), und Magnetfelder kommen durch Ströme ( j) zustande. (Die mathematischen Details müssen hier übergangen werden.) Für den Fall des Vakuums, in dem es keine Ladung und keinen Strom gibt, lassen sich die Maxwell-Gleichungen zu einer Wellengleichung (b) umformen. Sie beschreibt die Ausbreitung einer elektromagnetischen Welle mit der Geschwindigkeit c. Dabei handelt es sich um die Lichtgeschwindigkeit, die den Maxwell-Gleichungen zufolge konstant ist. Jedenfalls sehen die Gleichungen keinen Bezug auf ein Koordinatensystem vor. Diese Eigenschaft hat Einstein ernst genommen und die Newtonsche Mechanik so geändert, dass auch in ihr die Lichtgeschwindigkeit konstant ist. Das Ergebnis kennen wir als Theorie der Relativität.

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Benannt sind diese berühmten Formeln nach dem schottischen Physiker James Clerk Maxwell, der mit ihren Symbolen den Einsichten über die Wechselwirkung zwischen Elektrizität und Magnetismus, die sein britischer Kollege Michael Faraday auf eine mehr intuitive Weise gewonnen hatte, eine mathematisch-ästhetische Form geben konnte. Maxwell selbst hat im Übrigen betont, dass er bei der Formulierung der Gleichungen nicht das Gefühl hatte, diesen Schritt selbst zu tun. Da war vielmehr etwas in ihm, dass herausdrängte und von ihm – wörtlich – zum Ausdruck gebracht wurde. Natürlich hatte Maxwell viele Monate lang intensiv über Faradays Ergebnisse nachgedacht und sich ein inneres Bild von ihnen zu machen versucht. Er hat dieses Nachdenken dann lange und intensiv genug betrieben, um seinen inneren Schatz an archetypischem in Bereitschaft zu versetzen und die Antwort zu ermöglichen. Es wird an dieser Stelle niemanden verwundern, wenn mitgeteilt wird, dass Faradays Suchen nach dem Zusammenwirken von elektrischen und magnetischen Kräften bzw. Erscheinungen ebenfalls durch das Verlangen ausgelöst worden war, eine Symmetrie in der Natur zu fi nden, also durch ein ästhetisches Moment. Warum begann Faraday mit seiner Suche nach diesem Schönen? Zu Beginn des 19. Jahrhunderts hatte der Däne Hans Christian Oerstedt beobachtet, dass eine Magnetnadel von einem Draht beeinflusst wird, wenn durch ihn ein Strom fl ießt. Mit anderen Worten: Elektrizität hat magnetische Auswirkungen. Dies konnte zwar jeder sehen, aber nur einer sah weiter, und das war Faraday. Er ahnte, dass mit der abgelenkten Kompassnadel nur die eine Seite einer wechselseitigen Abhängigkeit sichtbar geworden war. Eine symmetrisch vorgehende Natur – so sein Gedanke – müsste die Wirkung auch in die andere Richtung laufen lassen. Mit anderen Worten: Magnetische Felder müssten auch elektrische Ströme erfassen und möglicherweise hervorrufen können. Faraday machte sich zwar sofort an die Arbeit, aber es kostete viele Jahre sorgfältigen Experimentierens, bis er den ihm innerlich längst zur Gewissheit gewordenen symmetrischen Effekt auch in der Außenwelt der Drähte, Spulen und Ströme nachweisen konnte. Die Intensität und Länge der Suche Faradays kann wohl am besten verstanden werden als Ausdruck seiner Sehnsucht nach Schönheit und der Gewissheit, beim Studium der Natur auf sie zu stoßen. Der Wunsch nach Symmetrie steht – wie schon angedeutet – am Anfang der Erfolgsgeschichte, die sich im wissenschaftlichen Leben von Einstein abgespielt hat. Seine berühmte Abhandlung mit dem Titel »Zur Elektrodynamik bewegter Körper«, die den Inhalt der speziellen Relativitätstheorie liefert, beginnt mit dem Hinweis, dass die Anwendung der Gleichungen Maxwells »auf bewegte Körper zu Asymmetrien führt, welche den Phänomenen nicht anzuhaften scheinen.« (Einstein 1905, 891) Während sich bei Faraday die widersprüchlichen Wirkungen elektrischer und magnetischer Felder gegenüberstanden, hatte Einstein mit einem Konfl ikt zwischen den elektromagnetischen Gleichungen Maxwells und den mechanischen

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Gesetzen zu tun, die auf Newton zurückgingen und nach ihm benannt sind. Während sich in der älteren Mechanik Newtons Geschwindigkeiten bewegter Körper ohne Einschränkung addieren – wie sich dies der gesunde Menschenverstand vorstellt –, gaben die Maxwell Formeln eine Abweichung vor. Die Geschwindigkeit der elektromagnetischen Wellen, aus denen Licht bestand, musste ihnen zufolge konstant bleiben. Das heißt, sie musste unabhängig davon sein, ob sich die Quelle der Strahlen bewegte. Das Licht aus einer Taschenlampe würde immer mit Lichtgeschwindigkeit unterwegs sei, so schnell Gerät und Betreiber auch von Ort zu Ort eilten. Selbst wer auf einer Lichtwelle ritt, konnte die Welt beleuchten und sie damit auch weiterhin sehen. Der Eindruck, den die Maxwell-Gleichungen auf Einstein gemacht haben, muss demnach sehr groß gewesen sein. Wie hätte er sonst die eben geschilderte und auf den ersten Blick überhaupt nicht einleuchtende und mit allen anschaulichen Vorstellungen scheinbar unvereinbare Konsequenz in Form einer konstanten Lichtgeschwindigkeit zu dem Prinzip erheben können, mit dem er zuerst die mechanische Welt aus den Angeln heben und zuletzt das Verständnis für Raum und Zeit grundlegend ändern sollte? Einstein sah die Asymmetrie zwischen Newtons Mechanik und Maxwelle Elektrodynamik, und er entschied sich, die schöneren Gleichungen zu erhalten und die Gesetze der Bewegung zu ändern. In den Maxwell-Gleichungen – und das ist ein Teil des Wunderbaren an ihnen, das die Physiker so verzückt –, kommt die Lichtgeschwindigkeit zweimal vor: einmal als die Geschwindigkeit, mit der sich Lichtwellen im leeren Raum ausbreiten, und dann noch als ein fester Zahlenwert, der benötigt wird, um zwischen unterschiedlichen Maßeinheiten zu vermitteln. Einstein zog daraus den Schluss, dass die Lichtgeschwindigkeit tatsächlich konstant sein müsse, und er verbrachte im Vertrauen auf die Überzeugungskraft dieser von seinem Standpunkt aus einfachen Annahme – und ohne eine zuverlässige experimentelle Evidenz – viele Jahre damit zu, die anderen Gesetze der Physik – zum Beispiel die Mechanik Newtons – so abzuwandeln und umzuformen, dass sie mit der zunächst aus rein ästhetischen Gründen entwickelten und nur so verständlichen Annahme einer unveränderlichen Lichtgeschwindigkeit vereinbar wurden. Es waren also vor allem ästhetische Gründe, die Einstein zur Relativitätstheorie führten, und Außenstehende sollten sich klarmachen, dass Physiker durch die Maxwell-Gleichungen so fasziniert sein können, wie Musiker durch Partituren. Der Zauber, der von dem Formelquartett ausgeht, wird vor allem bei dem Wiener Physiker Ludwig Boltzmann spürbar, der später noch ausführlicher zu Wort kommen wird. Boltzmann hat einmal davon gesprochen, dass er beim Anblick der Maxwell-Gleichungen so viel »Wonne« und »Lebensglück« empfi ndet, wie Goethe es seinem Faust auszudrücken gestattet, als er in dem Monolog zu Beginn des Weltspiels das Buch von Nostradamus aufschlägt und »das Zeichen des Makroskosmos« erblickt, wie es in einer Regieanweisung heißt. Dieser Anblick lässt Faust dann ausrufen (Verse 434–439):

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»War es ein Gott, der diese Zeichen schrieb, Die mir das inn‹re Toben stillen, Das arme Herz mit Freude füllen, Und mit geheimnisvollem Trieb Die Kräfte der Natur rings um mich her enthüllen?«

Was Boltzmann im 19. Jahrhunderts beim Anblick von Maxwells Theorie des elektromagnetischen Feldes empfand, spürten die Physiker im 20. Jahrhundert erneut, als Einstein ihnen die Relativitätstheorie der Raumzeit offen legte. Seine Suche war nicht nur ästhetisch motiviert gewesen, sie hatte zuletzt auch ein schönes Ziel erreicht. »Diese eigentümliche Schönheit« Wie große Wissenschaft vor sich geht, kann nur verstehen, wer akzeptiert, dass es in den Köpfen ihrer Hervorbringer letztlich ganz ähnlich zugeht wie in den Köpfen der Dichter und Maler. Am deutlichsten ausgedrückt hat das der französische Mathematiker Henri Poincaré, der in seinem Buch »Wissenschaft und Hypothese« nach dem Erscheinen der Relativitätstheorie festhält: »Der Gelehrte studiert die Natur nicht, weil das etwas Nützliches ist; er studiert sie, weil er daran Freude hat, und er hat Freude daran, weil sie so schön ist. Wenn die Natur nicht so schön wäre, so wäre es nicht der Mühe wert, sie kennen zu lernen.« (Poincaré 2003, 17) Dem ist zunächst fast nichts hinzuzufügen, bis man wenige Zeilen später auf den Hinweis stößt, dass Poincaré ausdrücklich »nicht von einer Schönheit, welche die Sinne berührt« spricht, also »nicht von der Schönheit der Eigenschaften und Erscheinungen«. Er meint vielmehr die seiner Ansicht nach »viel intimere« Schönheit, »welche aus der harmonischen Ordnung der Teile hervorgeht und welche von der reinen Intelligenz erfasst werden kann.« Es ist nun die Suche nach »dieser eigentümlichen Schönheit«, der sich der Forscher Poincaré zufolge verschreibt, und ausschließlich ihretwegen »verurteilt sich der Gelehrte zu langen und mühsamen Arbeiten«, wie der französische Mathematiker und Philosoph anmerkt. Natürlich ist dem letzten Satz ohne Abstriche zuzustimmen, aber ganz ohne die Schönheit, zu der wir durch sinnliche Wahrnehmung Zugang erhalten, kann nicht auskommen, wer den ästhetischen Momenten in der Wissenschaft nachgehen will. Wenn Poincaré zutreffend sagt, dass wir die Natur erforschen, weil wir Freude an ihrer Schönheit haben, dann weicht er nur um Nuancen von den ersten Sätzen jenes berühmten Buches ab, mit dem so etwas wie der Anfang der westlichen Wissenschaft markiert wird. Gemeint ist die »Metaphysik« von Aristoteles, die mit der häufig – vor allem in philosophischen Festreden – zitierten Feststellung beginnt, »Alle Menschen streben von Natur her nach Wissen.« Aristoteles, der selbstverständlich nur Menschen seines Kulturkreises im Auge hatte und haben konnte, begründet seinen Satz, und zwar im zweiten Satz seiner

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»Metaphysik«, der in philosophischen Festreden meist nicht mehr erwähnt wird. Die Menschen streben nämlich nicht aus Machtgier nach Wissen, sondern aus Freude, wie Aristoteles ausdrücklich festhält, und er gibt darüber hinaus sogar die Quelle der Freude an: »Alle Menschen streben nach Wissen; dies beweist die Freude an den Sinneswahrnehmungen, denn diese erfreuen an sich, auch abgesehen von dem Nutzen und vor allem anderen die Wahrnehmungen mittels der Augen.« (Aristoteles 1994, 37)

Zur Wahrnehmung Wahrnehmung also steht am Anfang der menschlichen Suche nach Wissen, und diese Fähigkeit ist nicht nur besser als die von Poincaré angeführte reine Intelligenz in der Lage, etwas als schön zu erfassen – zum Beispiel die Natur selbst. Die Wahrnehmungsfähigkeit gehört auch – als erste Stufe auf dem Weg zum Denken – zu den Kriterien, mit denen große Forscher sich vom Durchschnitt abheben. Wenn Faraday die durch einen Strom bewegte Kompassnadel sieht, dann beobachtet er nicht nur ihre Drehung – das tun alle anderen auch –, dann nimmt er vielmehr wahr, dass in diesem Fall (dem Auge unsichtbar bleibenden) elektrische und magnetische Felder ineinander greifen – ein Phänomen, das er nun genauer untersuchen wird. Und wenn Einstein einen fallenden Gegenstand sieht – in den er sich mit seinen Gedanken hineinversetzt –, dann registriert er nicht nur Fallhöhe und -dauer, was alle anderen auch können, dann wird ihm auf einmal klar – er nimmt es wahr –, dass ein im freien Fall befi ndlicher Mensch während des Stürzens keine Schwerkraft mehr spürt – ein Phänomen, dem er nun genauer auf den Grund gehen wird. Nach langen Jahren des Suchens hat er dabei die Relativitätstheorie der allgemeinen Art gefunden. Von Wahrnehmung wird noch ausführlich die Rede sein, weil sie unmittelbar zu den ästhetischen Momenten in der Wissenschaft führt. Denn wenn Aristoteles in der »Metaphysik« von dieser Qualität der Sinne spricht, dann verwendet er, wie schon oben erwähnt, das griechische Wort aisthesis. Es braucht nicht betont zu werden, dass davon der Begriff der Ästhetik, den unsere Sprache kennt, abgeleitet worden ist. So klar dieser Zusammenhang vor Augen liegt, so klar zeigt sich aber auch, dass die alte und die neue Verwendung der aisthesis nicht mehr viel gemeinsam haben. Wer heute von Ästhetik redet, hat kaum noch Wahrnehmen und Erkennen im Sinn. Er oder sie meint vielmehr eine Theorie der Schönheit, wie man sie auf Kunstwerke bezieht. Die Aufgabe dieser modernen Ästhetik besteht darin, Antworten zu geben, wenn gefragt wird, ›Was macht ein Kunstwerk zu einem Kunstwerk?‹ oder ›Was unterscheidet einen Flaschenständer von einer surrealistischen Plastik?‹ Die Kunstästhetik muss sich zum Beispiel konkret äußern, wenn – wie es tatsächlich geschehen ist – eine ursprünglich von Joseph Beuys gestaltete Fettecke nach erfolgter Raumpflege durch das Reinigungspersonal ihr Aussehen

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verändert hat. All diese sicher mühe- und verdienstvollen Bemühungen fi nden allerdings meilenweit entfernt von der naturwissenschaftlichen Suche nach Erkenntnis statt. Natürlich soll die Kunstästhetik auf keinen Fall gestört werden. Ebenso wenig soll allerdings auf den Versuch verzichtet werden, das Schöne der Ästhetik – das Schöne, das man mit der theoretisch operierenden Vernunft und dem wahrnehmenden Vermögen intellektuell und sinnlich erfassen kann –, für die Naturwissenschaft zurückzuerobern. In der Tat lässt sich nämlich nicht nur von Kunstwerken, sondern auch von wissenschaftlichen Abhandlungen in mathematischer Sprache behaupten, sie seien »von ungewöhnlicher Schönheit«, wie es der schon genannte Ludwig Boltzmann einmal ausgedrückt und in einer Rede gegen Ende des 19. Jahrhunderts geradezu pathetisch wie folgt ausgeschmückt hat: »Schönheit, höre ich Sie da fragen; entfl iehen nicht die Grazien, wo Integrale die Hälse recken, kann etwas schön sein, wo dem Autor auch zur kleinsten äußeren Ausschmückung die Zeit fehlt? – Doch – ; gerade durch die Einfachheit, durch die Unentbehrlichkeit jedes Wortes, jedes Buchstabens, jedes Strichelchens kommt der Mathematiker unter allen Künstlern dem Weltenschöpfer am nächsten; sie begründet eine Erhabenheit, die in keiner Kunst ein Gleiches, – Ähnliches höchstens in der symphonischen Musik hat. Erkannten doch schon die Pythagoräer die Ähnlichkeit der subjektivsten und der objektivsten der Künste. – Ultima se tangunt. Und wie ausdrucksfähig, wie fein charakterisierend ist dabei die Mathematik. Wie der Musiker bei den ersten Takten Mozart, Beethoven, Schubert erkennt, so würde der Mathematiker nach wenigen Seiten seinen Cauchy, Gauß, Jacobi, Helmholtz unterscheiden. Höchste äußere Eleganz, mitunter etwas schwaches Knochengerüste der Schlüsse charakterisiert die Franzosen, die größte dramatische Wucht die Engländer, vor allem Maxwell. Wer kennt nicht seine dynamische Gastheorie? – Zuerst entwickeln sich majestätisch die Variationen der Geschwindigkeiten, dann setzen von der einen Seite die Zustandsgleichungen, von der anderen Seite die Gleichungen der Zentralbewegung ein, immer höher wogt das Chaos der Formeln; plötzlich ertönen die vier Worte: ›Put n = 5.‹ Der böse Dämon V verschwindet, wie in der Musik eine wilde, bisher alles unterwühlende Figur der Bässe plötzlich verstummt; wie mit einem Zauberschlag ordnet sich, was früher unbezwingbar schien. Da ist keine Zeit, zu sagen, warum diese oder jene Substitution gemacht wird; wer das nicht fühlt, lege das Buch weg; Maxwell ist kein Programmmusiker, der über die Noten die Erklärung setzen muß. Gefügig speien nun die Formeln Resultat auf Resultat aus, bis überraschend als Schlußeffekt noch das Wärmegleichgewicht eines schweren Gases gewonnen wird und der Vorhang sinkt.« (Boltzmann 1979, 50 f.)

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Eine Frage der Form Man braucht nicht alle Einzelheiten zu verstehen, um wahrzunehmen, was Boltzmann hier stellvertretend für alle fühlenden Forscher ausdrücken will. Aber es sollte deutlich geworden sein, dass – zumindest für den genießenden Kenner und Ästheten – eine wissenschaftliche Arbeit nicht nur durch ihren Inhalt, sondern genauso gut durch ihren Stil bzw. ihre Form ausgezeichnet ist. Es ist immer die Art der Darbietung – die Form einer Arbeit eben –, die auf ihren Autor hinweist. Tatsächlich haben wissenschaftliche Publikationen vor allen Dingen dann eine durchschlagende Wirkung auf die Forschung, wenn sie nicht nur inhaltlich von großer Bedeutung, sondern zugleich auch unter dem Aspekt der Form auff ällig sind. Natürlich muss – vor allem in unserem Jahrhundert – jede zur Veröffentlichung eingereichte Arbeit im Bereich der exakten Naturwissenschaften bestimmte Vorschriften einhalten, um angenommen zu werden: Es muss eine Zusammenfassung geben, der ganze Text muss erst die Methoden nennen und die Ergebnisse anführen, bevor in einer Diskussion deren Bedeutung erörtert werden darf. Auch ist klar, dass diese vielen Formalien der Form abträglich sind und ihr keinen großen Spielraum mehr lassen. Trotzdem schaffen es große Autoren in dem von Boltzmann beschriebenen Sinne, unmittelbar durch ihren Stil zu glänzen und ihren Ergebnissen durch die Art der Darstellung die Wucht und Überzeugungskraft zu verleihen, die sie weit über den Durchschnitt erhebt und in den Himmel der Klassiker aufsteigen lässt. Als Beispiel sei auf die berühmte Arbeit des Amerikaners James Watson und des Briten Francis Crick aus dem Jahre 1953 hingewiesen, mit der sie im Fachblatt »Nature« der wissenschaftlichen Öffentlichkeit ihren Vorschlag für die Struktur des Erbmaterials unterbreiteten (Abb. 2, S. 52). Watson und Crick präsentierten damals zum ersten Mal die heute durch Schulbücher und viele Abbildungen in allen möglichen Illustrierten jedem Kind vertraute Doppelhelix, die zum Symbol des damit eingeleiteten Zeitalters der Molekularbiologie geworden ist. Es gibt viele wissenschaftliche Gründe dafür, die kurze Arbeit von 1953 als eine große Wende der Biologie anzusehen. Gleichwohl sollte man die ästhetischen Aspekte nicht übersehen, die jedem auffallen, der den Originaltext zur Hand nimmt. Natürlich gab es nach 1953 noch viele andere Vorschläge zur Struktur des Erdmaterials, und es gibt bestimmte Varianten, die von Watson und Crick nicht beachtet bzw. erfasst worden sind. Trotzdem verbreitet ihre Arbeit den in der Wissenschaft ungewöhnlichen Flair des Endgültigen, und dies liegt nicht nur an der sprachlichen Darstellung, sondern auch an der Tatsache, dass die Doppelhelix selbst – das neue Modell der Erbmoleküle – weniger in einer exakten und mehr in einer überzeugenden Form präsentiert wurde: Sie ist das graphische Werk einer Künstlerin. Die erste Doppelhelix wurde von Cricks Frau Odile gezeichnet, die sich einen Namen als Malerin gemacht hat. Vor allem aus diesem Grunde reagieren auch unsere Sinne, also unsere Wahrnehmung, wenn wir die vorgelegte Struktur des

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Abb. 2: Das Original der Doppelhelix aus der Zeitschrift »Nature« im Jahre 1953 stammt von Odile Crick, die sich nicht als Naturwissenschaftlerin, sondern als Zeichnerin für diese Struktur interessiert hat. Ich vermute, dass der durchschlagende Eindruck der Publikation nicht zuletzt auf die ästhetische Qualität des Moleküls zurückgeht. Die Struktur musste nicht nur richtig sein, sie musste auch in der richtigen Form präsentiert werden.

Erbmaterials sehen. Die schöne Schraube ist unmittelbar überzeugend, und die Wirkung, die von ihr ausgeht, kann durch keinerlei Korrekturen im Detail verändert oder beeinflusst werden. Diese Kleinigkeiten interessieren auch niemanden. Sie sind einfach nicht mehr schön.

Die Schönheit der Schraube Es ist unmöglich, von der Doppelhelix nicht gefesselt zu sein, und es ist wahrscheinlich sehr voreilig zu meinen, man könne alle ästhetischen Aspekte dieses Wunderwerks der evolutionären Natur in geeigneter Form und vollständig zusammenstellen. Dass die DNA-Schraube ästhetisch ansprechend ist, haben selbst die Konkurrenten von Watson und Crick gemerkt, die im Rennen um die Auf klärung der Struktur unterlegen waren. Sie haben sich der Schönheit des Modells nicht entziehen können und Bemerkungen wie »zu schön, um falsch zu sein« hören lassen. Schön ist dabei nicht nur der Blick auf die elegante Außenseite des Moleküls, aus dem das Leben entsteht und an dem es hängt. Schön ist auch der Blick in das Innere der sich windenden Struktur, die bei geeigneter Farbgebung der Bauteile sogar so gestaltet werden kann, dass man beinahe an die Rosette einer gotischen Kathedrale erinnert wird. Des Weiteren ist es möglich, in der genetischen Schraube den goldenen Schnitt zu entdecken, und zudem gehört es zu den chemischen Details des Erbmoleküls, im Inneren der Struktur genau vier Bausteine zu besitzen. Es hätte Pythagoras und seinen Anhängern – den Pythagoräern – gefallen, dass die heilige Vierzahl, die sie tetraktys nannten und entsprechend verehrten, auf diese Weise genau im Kern des Lebens festzumachen ist und von hier aus ihre Wirkung entfaltet. Die Bemerkungen und Zusammenstellungen dienen nicht dem Zweck, der Doppelhelix magische oder andere unwissenschaftliche Eigenschaften anzudichten. Sie möchten nur dem Gedanken Ausdruck verleihen, dass es nicht stimmen kann, wenn man sagt, mit der erkannten Struktur gebe es kein Geheimnis mehr im Bereich des Lebendigen. Die Doppelhelix löst nämlich das Rätsel des Lebens nicht – die Doppelhelix ist das Rätsel des Lebens. Man muss die Struktur nur in geeigneter Weise wahrnehmen.

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Die Relevanz des Schönen Der englische Physiker Paul Dirac hat einmal von den Theorien Einsteins gesagt, dass sie uns nicht nur durch ihre Wahrheit, sondern vor allem durch ihre Schönheit überzeugen (Chandrasekhar 1990, 25). Niemanden würde es stören, wenn sich – so Dirac – mit Hilfe von beobachteten astronomischen Daten herausgestellt hätte, dass Einsteins Theorien die physikalisch messbare Wirklichkeit des Kosmos nicht korrekt erfassen. Dirac hat ganz allgemein konstatiert, dass eine schöne Theorie, die falsch ist, die Menschen mehr interessiert als eine hässliche Theorie, die richtig ist. Und er persönlich hat daraus die Konsequenz gezogen, sich um eine moderne Form der Physik – die so genannte Quantenelektrodynamik – nicht weiter zu kümmern, so genau sie auch Versuchsergebnisse vorhersagen könnte. Dieser Theorie der Wechselwirkung von Licht und Materie fehle jede Eleganz und Schönheit. Was Dirac über Einstein und andere sagte, lässt sich problemlos auf das Modell von Watson und Crick übertragen. Es ist sofort und gerne glaubhaft, dass die Erbsubstanz so aufgebaut ist, wie es uns das Bild der Malerin zeigt, und eigentlich will niemand etwas anderes glauben. Detailbesessene Chemiker, die kleine Abweichungen den Modells gegenüber der Wirklichkeit anmahnen, dürfen mit höchstens halbvollen Hörsälen rechnen, und sie müssen darauf gefasst sein, dass sie auf eine fast unwissenschaftlich zu nennende Weise abgewiesen werden. Mein Doktorvater, der Nobelpreisträger Max Delbrück, hat zum Beispiel – nachdem die Doppelhelix bekannt war –, schon vor dem Beginn eines Vortrags, in dem eine alternative Struktur präsentiert werden sollte, allen Anwesenden geraten, nach Hause zu gehen und ihre Zeit sinnvoller zu verbringen – schließlich sei an der Doppelhelix nicht zu zweifeln. Übrigens ist es die besondere Form der Arbeit von Watson und Crick aus dem Jahre 1953, die einem Argument den Wind aus den Segeln nimmt, mit dem oft versucht wird, die Naturwissenschaften neben der Kunst als zweitrangig hinzustellen bzw. Forscher als austauschbar abzuwerten und dem einmaligen und unersetzlichen Genie des Künstlers gegenüberzustellen. Man sagt und hört nämlich oft, dass die Doppelhelix auch dann gefunden worden wäre, wenn es Watson und Crick nicht gegeben hätte. Irgendwelchen Forschern nach ihnen würde die Möglichkeit, die Moleküle treppen- und schraubenartig anzuordnen, schon eingefallen sein. Und man meint ganz allgemein für die Wissenschaften sagen zu können: Was die Doktoren A und B heute entdeckt haben, wäre den Professoren C und D spätestens morgen eingefallen. Andersherum würde es die Poesie von Goethe oder seine Tragödie mit dem Helden Faust ohne den Dichter nie gegeben haben. Solche Argumente werden aus unterschiedlichen Motiven vorgebracht, zumeist in der Absicht, die Naturwissenschaftler oder ihre Tätigkeit abzuwerten. Doch hinkt der Vergleich deshalb, weil im Falle des Dichters die Form gemeint ist, die es seinen Stoffen gibt – auch vor Goethe ist es in der Poesie um Liebe und Treue

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gegangen, und den Faust-Stoff haben andere vor und nach ihm bearbeitet –, während im Falle der Forscher der Inhalt angesprochen wird – also die Struktur eines Moleküls in dem angeführten Beispiel. Wird aber verglichen, was tatsächlich vergleichbar ist, dann darf die Form, die eine wissenschaftliche Publikation hat und mit der sie wissenschaftliche Ergebnisse präsentiert, nicht abschätzig behandelt und als nebensächlich abgetan werden. Die Form steht als Leistung für sich und hat durchaus Einfluss auf die Wirkung eines Ergebnisses. Sie macht ein ästhetisches Moment in der Wissenschaft aus, und das beste Beispiel ist die oben beschriebene Präsentation der Doppelhelix. Damit komme ich zu Diracs Bewertung der Schönheit einer Theorie zurück, die verständlich macht, warum viele Wissenschaftler und die Öffentlichkeit lange Zeit an Theorien hängen, selbst wenn sie wissen, dass sie falsch sind. Falsch ist zum Beispiel – vom streng wissenschaftlichen Standpunkt aus betrachtet – das heliozentrische Weltbild, das mit den großen Namen Kopernikus und Kepler verbunden ist: Es kann bekanntlich keine Rede davon sein, dass die Sonne im Zentrum der Welt »ruht«. Und ebenso ›falsch‹ ist die immer noch beliebte Vorstellung, dass Elektronen auf defi nierten Bahnen einen Atomkern unrunden, die ihrerseits eine feste Lage und Struktur haben, so wie es etwa das berühmte »Atomium« oder andere anschauliche Skizzierungen suggerieren. Die Menschen orientieren sich an diesen Modellen offenbar einfach deshalb, weil sie ihnen ästhetisch zusagen und gefallen, einen anderen Grund sehe ich nicht. Wissenschaft wird dann akzeptiert – unabhängig von aller erforderlichen Korrektheit –, wenn sie etwas Schönes hervorbringt; sie wird eher zurückgewiesen, wenn sie dies nicht tut und hässlich wirkt. Das Interesse an Wissenschaft, so scheint es, hängt nicht primär an der Wahrheit, die ihre Ergebnisse enthalten, sondern an der ästhetischen Qualität, die sie für die Öffentlichkeit gewinnt.

Das elegante Experiment Die Form spielt in der Wissenschaft nicht nur bei der Darstellung eine Rolle. Sie wird auch in den Ergebnissen selbst erkennbar, und zwar nicht nur im Fall von schönen Theorien, sondern auch oder gerade bei eleganten Experimenten. Eleganz – das ist eigentlich das höchste Lob, das Wissenschaftler sich untereinander machen, und dabei haben sie trotz der ästhetischen Kategorie die Erkenntnis im Auge, die der gemeinte Versuch bringt. Sie gewinnt ihren Wert eben auch durch seine Eleganz. Als Beispiel lässt sich die Klärung einer Frage betrachten, die sich im Anschluss an die Entdeckung der Doppelhelix stellte. Erbmaterial muss bekanntlich die Eigenschaft haben, sich zu verdoppeln, und natürlich legte die Doppelhelix die Annahme nahe, dass dabei aus einem Doppelstrang des Moleküls zwei gemacht werden. Aber wie? Würde man in der zweiten Generation einen alten und einen neuen Doppelstrang fi nden? Oder gäbe es zwei Doppelstränge, die zur einen

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Hälfte alt und zur anderen Hälfte neu waren? Vor allem aber: Wie könnte man diese Frage durch ein Experiment beantworten bzw. entscheiden? Die Lösung ist zwei amerikanischen Biologen, Frank Stahl und Matthew Meselson, gelungen, und ihr 1957 durchgeführtes »Meselson-Stahl-Experiment« galt in Fachkreisen sofort als klassisch (Abb. 3), was im Klartext heißt, es bedurfte keinerlei Ergänzung, war in seiner Form vollkommen und somit auch vollendet schön. Die jahrelange Vorgeschichte, die Suche nach dem geeigneten System für den geplanten Versuch, die eigentliche Tätigkeit im Laboratorium, das Hantieren mit analytischen Ultrazentrifugen und radioaktiven Chemikalien und vieles mehr – all das lässt sich natürlich ebenso wenig unter dem Aspekt der Eleganz untersuchen wie die handwerklichen Arbeiten und Reinigungsaktionen eines Malers in seinem Atelier. Aber als Ergebnis aller Bemühungen lässt sich ein so einfaches Ergebnis in eine so übersichtliche und ansprechende Form bringen, dass viele Wissenschaftler heute noch ganz verzückt klingen, wenn sie in ihren Vorlesungen das berühmte »Meselson-Stahl-Experiment« behandeln. Eine Voraussetzung des Versuchs bestand in der Möglichkeit, das Erbmaterial physikalisch schwerer zu machen, ohne es chemisch zu verändern. Diese Idee allein hat etwas Schönes an sich, nämlich die Einsicht, dass die chemischen Eigenschaften eines Atoms – zum Beispiel seine Fähigkeit, sich mit anderen Atomen zu verbinden – von seinen äußeren Elektronen bestimmt werden, während die physikalischen Eigenschaften – zum Beispiel die Masse – im Atomkern stecken. Die

Abb. 3: Das Ergebnis des »Meselson-Stahl-Experiments« aus dem Jahre 1957 besteht aus dunklen Bändern, die sich von einer Generation zur nächsten verändern. Das Erbmaterial wird im Laufe der Zeit stufenweise leichter, wie durch die Verschiebung nach links angezeigt wird. Der Versuch beginnt (Generation 0) mit Zellen (von Bakterien), die in einem Medium mit schwerem Stickstoff gewachsen sind (einige Details im Text). Die nachfolgenden Generationen werden mit gewöhnlichem (leichten) Stickstoff gebildet. Wie man sich den dazugehörenden Mechanismus vorzustellen hat, zeigt Abb. 4 (Kendrew 1967).

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Aufteilung ist durch das Vorhandensein von Atomen bekannt geworden, bei denen der Kern ein wenig umfangreicher ist, ohne dass dies Änderungen bei den Elektronen nach sich zieht. Die Experten reden in solch einem Fall von den Isotopen eines Atoms, und Meselson und Stahl haben im Oktober 1957 damit begonnen, Bakterien mit Nährstoffen zu füttern, die ein schweres Stickstoff-Isotop enthielten. Dieser Stickstoff wird nach und nach durch Stoff wechselvorgänge in die Moleküle der Bakterien eingebaut, und die beiden Biologen setzten diese Behandlung so lange fort, bis das ganze Erbmaterial der Bakterien schwer geworden war. Dann begannen sie, normale Nährstoffe (zum Beispiel Zucker) mit dem natürlichen leichten Stickstoff zu verfüttern, und das dabei nach und nach in den Bakterien entstehende Erbmaterial wurde in jeder Generation untersucht. Tatsächlich – dies war eine weitere Voraussetzung für den eleganten Versuch – stand den Wissenschaftlern damals zum ersten Mal ein höchst raffi niertes Verfahren zur Verfügung, die so genannte analytische Ultrazentrifugation. Dank dieser Technik waren sie in der Lage war, nicht nur schweres und leichtes Erbmaterial, sondern auch Zwischenstufen zu unterscheiden. Das Bild, dass die Auswertung dieses Verfahrens ergab, und das Bild, das man sich anschließend von dem eigentlich interessanten Vorgang selbst machen konnte (Abb. 4), sind so eng miteinander verwandt, dass ihr ästhetischer Reiz und die sinnlich wahrnehmbare Überzeugungskraft des Meselson-Stahl-Experiments für sich selbst sprechen und jedes weitere Wort überflüssig wird.

Abb. 4: Eine Darstellung der Vorgänge, die durch das Meselson-Stahl-Experiment (Abb. 3) sichtbar werden. Man sieht den akzeptierten Ablauf der Replikation, der aus dem experimentellen Ergebnis unmittelbar ablesbar ist. Für die meisten Wissenschaftler und die Öffentlichkeit ist der Fall damit abgeschlossen. Man hat ein schönes Bild des grundlegenden Mechanismus vor Augen.

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Schwindel mit Schönheit? Weiter oben wurde Paul Dirac zitiert mit seinem Diktum, dass eine schöne Theorie mehr interessiert als eine richtige. Natürlich ist damit nicht gemeint, dass eine völlig falsche – und somit unsinnige – Theorie vor den Augen der Wissenschaft bestehen kann, und sei sie noch so elegant. Trotzdem bedauern es die meisten Forscher schon, wenn ihre so schönen Gedanken und Theorien durch hässliche Fakten widerlegt werden. Manchmal kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, dass sie eher dazu neigen, an den Tatsachen vorbei zu sehen, als dass sie auf die Idee kämen, ihre Vorstellungen und Theorien zu ändern. Wenn man den letzten Satz auf seinen philosophischen Gehalt hin abklopfen wollte, käme man bald zu der Frage, was eine Tatsache ist. Die Tat ist in dem Wort nicht zu übersehen, und in der experimentellen Forschung ist eine Tatsache durch das Ergebnis eines Versuches gegeben, eben durch das, was jemand getan hat. Dabei kann man sich natürlich ungeschickt angestellt und etwas falsch gemacht haben, und dann lässt sich die Tatsache – das Ergebnis – leicht leugnen, wenn es einem nicht in den Kram passt. Genau nach diesem Motto hat der amerikanische Physiker Robert Millikan gehandelt, als er in den ersten Jahrzehnten unseres Jahrhunderts versuchte, die Ladung eines Elektrons zu bestimmen. Man spricht dabei von der Elementarladung und meint damit, dass elektrische Ladungen in der Natur nicht kontinuierlich in jeder Größe vorkommen, sondern nur als Vielfaches eines bestimmten Wertes, eben der Elementarladung. Heute wird diese Einsicht (mit Einschränkungen, die für diese Betrachtung ohne Bedeutung sind) zwar als Tatsache behandelt, aber als Millikan sich mit seinem berühmten »Öltröpfchenversuch« daran machte, die Ladung eines Elektrons zu messen, konnte davon noch nicht die Rede sein. Millikan konnte nur annehmen, dass er der Elementarladung auf der Spur war. Umso erstaunlicher die Art und Weise, in der er vorging. Die Laborbuchaufzeichnungen, die erst nach seinem Tod bekannt geworden sind, zeigen nämlich, dass Millikan nur solche Versuche für die Publikation nutzte, die seiner Theorie der Elementarladung entsprachen (vgl. Holton 1996, 183–208). In solchen Fällen benutzte er sogar das Wort »Beauty«, um die entsprechende Messung zu charakterisieren. Und nur die schönen Daten hat der Nobelpreisträger veröffentlich – alle anderen hat er unter den Tisch fallen lassen! Hat er damit seine Daten geschönt? Hat da jemand Schwindel mit Schönheit betrieben? Natürlich kann man solch eine Meinung äußern und an dieser Stelle nur eine banale Bagatelle der Wissenschaftsgeschichte sehen. Aber ich schlage vor, Millikans beauty und sein Vergnügen daran ernster zu nehmen. Mir scheint es nämlich offenbar, dass sich ein erfolg- und einflussreicher Physiker hier mehr auf sein Gefühl für die Schönheit der Natur und weniger auf seine analytische und technische Fähigkeit verlassen hat – und zwar gleich zweimal. Zum einen war für Millikan

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der Gedanke an eine Elementarladung so schön, dass er deswegen seinen Versuch überhaupt unternahm. Und zum Zweiten muss man ihm als geschicktem und erfahrenem Physiker einfach zutrauen, dem wahrgenommenen Ablauf einer Messung danach beurteilen zu können, ob sie brauchbar war oder nicht. Die eigentliche Frage steckt an einer anderen Stelle, und sie lautet, woher Millikan die innere Sicherheit und Gewissheit nehmen konnte, dass es überhaupt eine Elementarladung gibt? Er konnte nur so agieren, wie er es getan hat, weil ihm die Existenz einer solchen Naturkonstante allen rationalen Zweifeln zum Trotz einleuchtete. Dies ist nur verständlich, wenn man diesen Gedanken – wie oben dargelegt – als schön bezeichnet und unterstellt, dass Forscher die Natur erkunden, weil sie schön ist. Genau dies nun hat Millikan auf seine Weise getan – nicht mehr und nicht weniger. Er hat die ersehnte beauty jedenfalls dabei gefunden, und er sagt es ausdrücklich!

Literatur Aristoteles (1994): Metaphysik. Reinbek. (Erstes Buch (A), 980 a) Boltzmann, Ludwig (1979) Populäre Schriften. Braunschweig. Chandrasekhar, Subrahmanyan (1987): Truth and Beauty – Aesthetics and Motivations in Science. University of Chicago. Einstein, Albert (1905): Zur Elektrodynamik bewegter Körper. In: Annalen der Physik, Band 17. Gleick, James (1992): Richard Feynman – Leben und Werk des genialen Physikers. München. Hamel, Jürgen (1994): Nicolaus Copernicus. Heidelberg. Holton, Gerald (1996): On the Art of Scientific Imagination. Münster. Jung, Carl Gustav und Pauli, Wolfgang (1952): Naturerklärung und Psyche. Zürich. Kendrew, John (1967): Der Faden des Lebens. München. Poincaré, Henri (2003): Wissenschaft und Hypothese. Berlin.

Sym metrie und Schönheit in Kunst und Wissenschaft Von Joachim Schummer

I. Einleitung Der Begriff der Symmetrie scheint wie kein zweiter geeignet zu sein, nicht nur eine Brücke zwischen Wissenschaft und Kunst zu schlagen, sondern beide unter einem gemeinsamen Dach zu vereinen. Denn nimmt man Symmetrie als ein Kriterium von Schönheit, wie es die antiken und neuzeitlichen Kunstlehren getan haben, dann erscheint im Streben moderner Wissenschaft nach Symmetrie die gleiche Suche nach Schönheit wie in der Kunst. So plausibel diese These zunächst erscheinen mag, so erstaunlich ist es, wie spät sie in neuerer Zeit zur Geltung gebracht wurde. In den 1960er Jahren begann eine Reihe von berühmten theoretischen Physikern, die alle über Symmetrien physikalischer Theorien forschten, diesen gemeinsamen Bezug zur Schönheit in populären Schriften herauszustellen (z. B. Dirac 1963, Wigner 1963, Gell-Mann 1964, Feynman 1965, Heisenberg 1971, Weinberg 1979).1 Den ästhetischen Durchbruch lieferte vermutlich Paul Dirac (1963) mit seiner radikalen These, »es ist wichtiger, Schönheit in seinen Gleichungen zu haben als Übereinstimmung mit dem Experiment«. Seit den 1980ern ist die These ein Gemeinplatz in populären Darstellungen der theoretischen Physik, 2 in der zugleich deren antike Wurzeln betont werden. So schreibt beispielsweise der theoretischer Physiker Anthony Zee (1990, 15, 23): »Laßt uns vor allem darauf achten, dass das Ganze schön ist, dann wird sich die Wahrheit von selbst ergeben!‹ So lautet das Motto der Grundlagenphysiker. […] Wie die Griechen des Altertums […] werde aber auch ich dabei bleiben, Symmetrie und Schönheit gleichzusetzen.« Auch in der Chemie wurde der Bezug zu Schönheit und Kunst via Symmetrie und Antike in den 1980ern entdeckt, als es gelang, Moleküle von großer Symmetrie oder der Gestalt Platonischer Polyeder zu synthetisieren (Grahn 1981, de Meijere 1982, Vögtle, Rossa / Bunzel 1982, Hargitai / Hargitai 1986, Hoff mann 1988 f.; siehe hierzu auch Schummer 1995, 2003). Und auch hier wurde die Symmetrie und Schönheit der Moleküle als wichtiges, wenn nicht das wichtigste Motiv dieser chemischen Synthesen herausgehoben. 1 Zum sozialen Kontext dieses ästhetischen Bezugs siehe Stevens 2003. Selbstverständlich gibt es vereinzelte Vorläufer, wie den Mathematiker Weyl (1952) und den Biologen Haeckel (1899–1904). 2 Ein umfangreiche Bibliographie gibt Dénes Nagy: Symmetry: A bibliography of interdisciplinary books [http://members.tripod.com/vismath2/denes1/index.html]

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In diesem Aufsatz möchte ich die Tragfähigkeit des Symmetriebegriff s als Brücke oder Dach von Kunst und Wissenschaft untersuchen. Dazu werde ich zunächst den Symmetriebegriff und den zugeordneten Schönheitsbegriff jeweils in Kunst und Wissenschaft in ihren historischen Entwicklungen betrachten (Abschnitte II und III ). Dabei wird sich zeigen, dass die Begriffe nicht nur grundverschieden sind, sondern auch ganz verschiedene historische Ursprünge haben. Daher suche ich im nächsten Abschnitt nach der Rolle des wissenschaftlichen Symmetriebegriff s als Kriterium von Schönheit in der Kunst und Kunsttheorie. Weil auch diese Suche eher erfolglos ist, frage ich nach den ästhetischen Motiven von Wissenschaftlern für die Suche nach Symmetrie in ihrem Sinne (siehe Abschnitt V). Dabei ergibt sich, dass die Motive nicht ästhetischer, sondern erkenntnistheoretischer Natur sind. Wenn also Schönheit für Wissenschaftler ein erkenntnistheoretisches Kriterium ist, dann stellt sich abschließend die Frage, welche Rolle dieser Schönheitsbegriff spielen kann (Abschnitt VI ). Hierbei zeigt sich, dass dieser Schönheitsbegriff weder den Schönheitsbegriff in der Kunst ersetzen oder ergänzen noch gegen herkömmliche erkenntnistheoretische Kriterien in den Naturwissenschaften konkurrieren kann. Er bleibt jedoch innerhalb der Wissenschaft eine erkenntnistheoretische Restkategorie und ein wichtiges heuristisches Prinzip, das ein Analogon in der Kunst besitzt. II. Der Symmetriebegriff in der Kunst Das Wort »Symmetrie« leitet sich ab aus dem altgriechischen symmetría, ursprünglich eine Verbindung von syn (zusammen) und métron (das Zahlenmaß und das rechte Maß), und bedeutete Eben- oder Gleichmaß. Dieser Symmetriebegriff bildet den Kern einer der ältesten und einflussreichsten Theorien der bildenden Kunst, des Kanons des griechischen Bildhauers Poliklet (gr. Polykleitos) aus der zweiten Hälfte des 5. Jahrhunderts v. Chr. Zwar ist der Text nur indirekt in Bruchstücken überliefert, 3 aber Poliklet hatte seine Lehre explizit in eine Bronzeskulptur eingegossen, dessen Original zwar ebenfalls verschollen ist, die jedoch in Form mehrerer Kopien aus spätantiker Zeit erhalten ist: der Doryphoros oder Speerträger (Abb. 1). Der Kanon war zunächst eine Proportionslehre von den Längen- und Abstandsverhältnissen der Teile des menschlichen Körpers zueinander und zum ganzen Körper als Anleitung für Künstler. So wie die Pythagoräer die perfekten Harmonien in der Musik durch Zahlenverhältnisse auszudrücken suchten, so beschrieb Poliklet den perfekten menschlichen Körper durch Maßzahlverhältnisse. Darüber hinaus übertrug seine Symmetrielehre auch die in der griechischen Medizin bedeutende Lehre vom Gleichgewicht der Gegensätze auf die bildenden Kunst. So wie der Pythagoräer Alkmäon und ihm folgend die Hippokratische Schule den Zustand der Galen: De placitis hippocratis et platonis, 5; De temperamentis, 1.9; Plinius: Naturalis historia, 34.19; sowie indirekt Vitruv: De architectura, III; Plutarch: Moralia, 45C. 3

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Gesundheit als Gleichgewicht der elementaren körperlichen Kräfte defi nierte, so sollte die perfekte menschliche Skulptur, Abb. 1: Doryphoexemplifi ziert in seinem Doryphoros, ein ros, Holzschnitt Gleichgewicht von Ruhe und Bewegung, nach einer antiken Spannung und Entspannung, Hebung und Kopie der Skulptur Sen kung usw. verkörpern, was später unter von Polyklet aus dem Begriff Kontrapost zusammengefasst dem 5. Jhd. v. Chr. 4 Die Skulptur verwurde. Beides zusammen, die perfekten körperte die antike Maßzahlverhältnisse des Körpers und das Symmetrielehre richtige Maß zwischen den Gegensätzen, im Doppelsinn der bildeten die erste ästhetische Theorie der idea len ProporSymmetrie. tionen und des Im Rückblick des römischen ArchitekGleichgewichts ten Vitruv aus dem ersten Jahrhundert v. von Gegensätzen. Chr. erscheint Polyklets Proportionenlehre nicht nur in der Bildhauerei, sondern auch in der klassisch-griechischen Architektur, vor allem im Tempelbau, verwendet worden zu sein. In dem ältesten uns bekannten Lehrbuch der Architektur (De architectura, III .1) entwarf Vitruv daran anknüpfend eine Architekturästhetik, die den menschlichen Körpers als Maß für perfekte Bauwerke nahm. Die Teile des menschlichen Körper lieferten dabei nicht nur ideale Maßzahlverhältnisse, wie etwa die Länge des Vorderarms ein Viertel der des Körpers ist, sondern auch ideale absolute Zahlen, wie etwa die Zehn entsprechend der Anzahl der Finger. Darüber hinaus sah Vitruv die perfekte Proportionierung und Lage der Körperteile im Körperganzen dadurch bestätigt, dass dieser bei ausgestreckten Armen und Beinen genau durch ein Quadrat und durch einen Kreis mit dem Zentrum im Bauchnabel einbeschrieben werden könne. Damit wurden auch die für die Architektur zentralen geometrischen Formen, Quadrat und Kreis, auf den menschlichen Körper bezogen. Die antiken Symmetrielehren hatten einen kaum zu überschätzenden Einfluss auf die Künstler und Architekten seit der Renaissance. 5 Von Donatellos Bronze4 Die Suche nach dem Gleichgewicht von Gegenkräften hat nicht nur die griechische Medizin und Ästhetik, sondern auch die Tugendethik entscheidend geprägt, wie sie in der Aristotelischen mesotes-Lehre zum Ausdruck kommt (z. B. Tapferkeit als Mitte zwischen Tollkühnheit und Feigheit). Sie erscheint dort gleichsam als universelles normatives Findungsprinzip in den Wertfragen der Gesundheit, Schönheit und Tugendhaftigkeit. 5 Siehe dazu Zöller 1990 und Frings 1998. Die einzige nennenswerte antike Kritik der Proportionenästhetik stammt von Plotin aus dem 3. Jahrhundert n. Chr. (Enneaden, I.6, 1): Wenn Schönheit eines Ganzen in den Proportionen seiner Teile begründet ist, dann könne das Ganze auch aus hässlichen Teilen bestehen, was für Plotin ein Widerspruch war. Stattdessen sieht er mit Platon die Schönheit eines Körpers durch die Schönheit der einheitlichen Idee des Körpers begründet, die für ihn letztlich auf die Schönheit seines Gottes zurückgeht (s. a. Anton 1964). Anklänge an diese Kritik fi nden sich auch bei Augustinus (Confessiones, IV, 13).

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Abb. 2: Leonardo da Vincis Proportionszeichnung (um 1500) modifi ziert nach den Maßverhältniszahlen von Vitruv. Die Zeichnung illustrierte die perfekten Proportionen des menschlichen Körpers und lieferte zugleich eine naturästhetische Begründung der geometrischen Formen Kreis und Quadrat. Man beachte auch die Abweichungen von der perfekten Spiegelsymmetrie, etwa an der Stellung der Füße.

figur »David« (1432) über Botticellis Gemälde »Geburt der Venus« (um 1486) zu Michelangelos Marmorstatue »David« (1504): Die großen Meister führten nicht nur den klassischen Kontrapost wieder ein, sondern stützten sich auch bewusst auf den Kanon bzw. den Doryphoros des Polyklet. Und Leonardo da Vinci (1451–1519) übersetzte (und korrigierte) Vitruvs Maßzahlen des wohlgeformten Körpers in seiner berühmten Zeichnung (Abb. 2), wobei er übrigens nicht an dem so genannten Goldenen Schnitt interessiert war, der erst im 19. Jahrhundert als ästhetisches Prinzip formuliert und dann unkritisch auf die gesamte Geschichte zurückprojeziert wurde. 6 Neben Leonardo griffen vor allem Leon Batista Alberti (1485) und Siehe die umfangreiche historische Studie Fredel 1998 sowie Frings 2002. Der Goldene Schnitt bzw. die stetige Teilung ist eine mathematisch ausgezeichnete Proportion. Sie teilt eine Strecke AC im Punkt B in zwei Teilstrecken AB und BC, so dass, wenn AB die längere Teilstrecke ist, das Längenverhältnis AC:AB im Längenverhältnis AB:BC wiederkehrt. Die fortgesetzte Teilung der jeweils größeren Teilstrecke nach dem gleichen Verfahren reproduziert also stets die gleichen Längenverhältnisse. Die stetige Teilung war im Prinzip seit Euklid bekannt und wurde von Luca Pacioli in seiner Divina Proportione (1509) neu entdeckt, allerdings ohne sie ästhetisch 6

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Albrecht Dürer (1528) die Proportionenlehre des Vitruvs auf, entwickelten sie theoretisch weiter und setzten sie in für die Folgezeit maßgebende Werke der Kunst und Architektur um. Die klassische Symmetrielehre im Sinne idealer Proportionen zieht sich durch die Kunst- und insbesondere Architekturtheorie bis ins 20. Jahrhundert durch, wenn auch mit unterschiedlichen ästhetischen Gewichtungen und Begründungen. Die Proportionen wurden dabei entweder wie bei Vitruv durch Bezug auf den menschlichen Körper (Alberti, Giorgio Vasari, François Blondel), musikalische bzw. akustisch-wahrgenommene Proportionen (Charles-Etienne Briseux), Wahrnehmungsgewohnheiten (Claude Perrault, Denis Diderot) begründet, oder werkimmanent (Adolf von Hildebrandt, Piet Mondrian).7 In der Architekturtheorie zählt Le Corbusiers »Modulor« (1948, 1955) – ein an menschlichen Proportionen und dem Goldenen Schnitt entwickeltes Maßsystem für die Architektur – zu den wichtigsten, wenn auch umstrittenen Ansätzen des 20. Jahrhunderts. Die Bedeutung der Proportionenlehren schwindet erst in den Gegenbewegungen zum Funktionalismus und Rationalismus, indem andere ästhetische Kategorien wie Symbolik, individuelle Formensprache oder Stil in den Vordergrund treten, so wie auch insgesamt in der bildenden Kunst die Kategorie der Schönheit zurücktritt. Nun scheint es schon bei Vitruv unverständlich, wie er ohne unseren heutigen Begriff der Spiegelsymmetrie auskommen konnte, die dann im Klassizismus als Ordnungsprinzip die Architektur dominierte. 8 Tatsächlich war dieser Begriff rudimentär im antiken Begriff der Proportion enthalten als Proportion der Gleichheit von Teilen auf zwei gegenüberliegenden Seiten. Alberti erläuterte diesen Begriff erstmals ausführlich mit Bezug auf die Antike und begründete ihn für die Folgezeit maßgeblich durch die Schönheit der bilateralen Körpergestalt von Menschen und Tieren.9 In Frankreich wurde dieser Begriff der bilateralen Symmetrie, zu empfehlen oder gar gegen die Vitruvschen Proportionen auszuspielen. Stattdessen wurde sie unter dem Namen «Goldener Schnitt« erst ab Mitte des 19. Jahrhunderts durch Adolf Zeising (1810–76) als universelles ästhetisches Prinzip in Natur und Kunstgeschichte propagiert. Zeisel fi ndet den Goldenen Schnitt natürlich auch am menschlichen Körper, indem er feststellt, dass die Gesamthöhe im Bauchnabel dadurch geteilt wird. 7 Zu diesen und weiteren Autoren siehe Kask 1971 und Kambartel 1972. Im 19. Jahrhundert kommt dann als weitere architekturästhetische Begründung von Proportionen und Symmetrie der Bezug auf Kristalle hinzu, wie etwa bei Gottfried Semper 1860 (Kruft 1991, 360). 8 Vitruv hatte weder ein Wort dafür, noch entwickelte er explizit einen entsprechenden Begriff , sondern setzte ihn stets implizit voraus, wenn er beispielsweise bei einem offensichtlich spiegelsymmetrischen Tempel lediglich eine Seite im Detail beschrieb. Die Beschränkung auf eine Hälfte ist in einigen Architekturskizzen der Renaissance auch zeichnerisch verwirklicht. Mainzer (1986, 136–137) sieht in dieser «Zeichnungsökonomie« ein klares Indiz dafür, dass unser Begriff der Spiegelsymmetrie ausgebildet war. Dagegen sprechen allerdings die recht umständlich erscheinenden Defi nitionen der bilateralen Symmetrie (z. B. als Gleichheit oder Ähnlichkeit zweier Hälften) bis weit ins 19. Jahrhundert hinein (siehe unten). 9 De re aedifi catoria, IX, 7 (Florenz 1485); siehe Kambartel 1972, 37 ff .

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insbesondere durch den Einfluss der Vitruv-Übersetzung und Schriften von Claude Perrault im 17. Jahrhundert mit dem Ausdruck symétrie bezeichnet und von dem klassischen Symmetriebegriff, der nun proportion genannt wurde, unterschieden.10 Diese neue Wortverwendung blieb in der Kunsttheorie zunächst bis Mitte des 18. Jahrhundert noch weitgehend auf Frankreich beschränkt, bevor sie sich dann allgemein durchsetzte,11 so dass sie noch heute die Primärbedeutung von »Symmetrie« im allgemeinen Sprachgebrauch bestimmt. Der Begriff der bilateralen Symmetrie in der Architektur bereitete zwar die Entwicklung des mathematischen Symmetriebegriffs im 19. Jahrhunderts in Frankreich vor und wurde dann als Spiegelsymmetrie auch wichtig in der Architekturtheorie (siehe unten). Allerdings blieb die Spiegelsymmetrie eine singuläre Brücke vom mathematischen zum künstlerischen Symmetriebegriff, weil nur sie eine ästhetische Begründung in der menschlichen Körperform besaß und sie alleine eine nennenswerte Rolle in der Kunst spielte – und hier auch nur in der Architektur und vorübergehend im barocken Gartenbau. Hinzu kommt, dass sie zwar ein wichtiger Ordnungsbegriff in der Kunsttheorie blieb, aber als Schönheitskriterium bereits im 18. Jahrhundert unter heftige Kritik geriet, weil sie Sterilität und Monotonie ausdrückte (siehe Abschnitt IV). Zusammenfassend können wir feststellen, dass der Symmetriebegriff in der Kunst drei miteinander verwandte Komponenten umfasst, die historisch unterschiedliches Gewicht haben und die sich alle auf das Verhältnis der Teile zueinander und zum Ganzen eines Kunstwerks beziehen und die alle ihre ästhetische Begründung historisch im Bezug auf den menschlichen Körper haben. In der ProSiehe Kambartel 1972, der in Perrault die erste Aufspaltung von «antikem« und «modernem« Symmetriebegriff sieht; zur Kritik siehe auch die Buchbesprechung von W. Hermann in Architectura, 6 (1976), 75–78. 11 Zedlers Universal-Lexicon aller Wissenschaften und Künste (1732–1754) referiert unter »Symmetrie« (Bd. XLI, 715 f.) weitgehend die antike Bedeutung und erwähnt dann: »Die Franzosen gebrauchen es auch vor die Aehnlichkeit der Seiten, neben einem unähnlichen Mittel, wovon unter dem Wort: Eurythmia im VIII Bande, p. 2208, geredet worden.« (Der selbe Text steht bereits wörtlich in Wolff s Vollständiges mathematisches Lexicon, 1734, 1217.) Auch Huttons Mathematical and Philosophical Dictionary (1795) erläutert unter »symmetry« die antike Bedeutung, nachdem er allerdings zuvor im Sinne der Proportion der Gleichheit defi niert «the relation of parity, both in respect of length, breadth, and height, of the parts necessary to compose a beautiful whole«. In Sulzers Allgemeine Theorie der Schönen Künste (1771–1774) heißt es dann schon unter dem Stichwort »Symmetrie«: »Das Wort bedeutet zwar nach seinem Ursprung das gute Verhältnis der Teile eines Ganzen gegen einander; man braucht es aber gemeinhin in zeichnenden Künsten, um die Art der Anordnung auszudrücken, wodurch ein Werk in zwei gleiche oder ähnliche Hälften geteilt wird.« In Meyers Konversationslexikon (4. Aufl. 1888–1889) ist Symmetrie «das Ebenmaß oder die Übereinstimmung bei der Anordnung der Teile eines Ganzen in Hinsicht auf Maß und Zahl. Die Symmetrie zeigt sich besonders darin, dass sich das Ganze in zwei hinsichtlich der Anordnung des Einzelnen übereinstimmende Hälften teilen läßt.« Man beachte, dass hier die bilaterale Symmetrie immer noch als Spezialfall der antiken Proportionenlehre gefasst ist und der Bezug auf die mathematische Spiegeloperation fehlt. 10

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portionenlehre ist Symmetrie ein System von Maßzahlverhältnissen der Teile zueinander und zum Ganzen, woraus sich der später dominierende Begriff der bilateralen Symmetrie als Gleichheit oder Ähnlichkeit zweier Hälften entwickelt, während sie in der allgemeinen Kompositionslehre ein Gleichgewicht abstrakt bestimmter Pole bedeutet.

III. Der Symmetriebegriff in der Wissenschaft In der Mathematik und den Naturwissenschaften hat der Ausdruck »Symmetrie« eine völlig andere Bedeutung als in der Kunst, sodass über die Wortgleichheit hinaus kaum inhaltliche Zusammenhänge erkennbar sind. Symmetrie ist hier ein Aspekt zur Charakterisierung und Klassifi zierung von abstrakten Objekten oder Räumen nach bestimmten Struktureigenschaften, die Symmetrieeigenschaften genannt werden. An jedem geometrischen Objekt kann man bestimmte Transformationen vornehmen, z. B. Spiegelung an einer Ebene, Drehung um eine Achse mit bestimmtem Winkel oder Inversion über einen Punkt. Jede Transformation, bei der das resultierende Objekt mit dem Ausgangsobjekt kongruent ist, ist eine Symmetrieeigenschaft des Objekts. Fasst man die Symmetrieeigenschaften zu Gruppen zusammen, dann lassen sich die geometrischen Objekte nach ihrer Gruppenzugehörigkeit klassifi zieren. Je mehr Symmetrieeigenschaften eine Gruppe enthält, desto höher ist die Symmetrie der zugeordneten Objekte. Ganz analog kann man auch in der Algebra Transformationen für Gleichungen oder Differentialgleichungen defi nieren, die dann deren algebraische Symmetrieeigenschaften bestimmen und sie nach Gruppen klassifi zieren. Entscheidend ist, dass der allgemeine Grundgedanke aus der Kunsttradition, wonach Symmetrie eine Verhältnisbestimmung der Teile zueinander und zum Ganzen ist, hier keine Rolle spielt, weil es bei der mathematischen Symmetrie gerade nicht um ein Verhältnis von Teilen, sondern um allgemeine Struktureigenschaften geht. Der mathematische Symmetriebegriff hat keine antiken Wurzeln, wie vielfach unterstellt wird, sondern – das verrät schon der Klassifi kationsansatz – er geht auf die Naturgeschichte zurück, auf die Anfänge der Kristallographie im späten 18. Jahrhundert (Scholz 1989). Eine morphologische Klassifi kation der Kristalle war lange dadurch behindert, dass gewachsene Kristalle gleicher chemischer Zusammensetzung unterschiedliche Formen aufweisen. Erst die Entdeckung, dass die Bruchflächen von Kristallen gleicher Zusammensetzung konstante Winkel zeigen, ermöglichte einen systematischen Zugang.12 Bei der Vermessung der Bruchwinkel Die Idee gleicher chemischer Zusammensetzung setzte im Prinzip den modernen chemischen Elementbegriff der 1780er voraus. Tatsächlich war dieser bereits vorher in der Mineralogie von Torbern Bergmann gleichsam als pragmatischer Elementbegriff für die Zwecke der Mineralogie vorformuliert (Siegfried & Dobbs 1968). 12

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ver schiedener Kristalle fand der französische Mineraloge René-Just Haüy gegen Ende des 18. Jahrhunderts, dass sich die Winkel der Kristallfl ächen für jeden Kristall durch einfache rationale Verhältniszahlen darstellen lassen, das so genannte Gesetz der rationalen Indizes. Dieses Gesetz zusammen mit seinen Überlegungen über den Auf bau von phänomenologischen Kristallformen aus so genannten Grundformen, den Gesetzen der »Dekreszenz« und »Symmetrie«, schränkten die Anzahl möglicher Kristallformen erheblich ein.13 Der mathematische, durch die Transformationen an Ebene, Achse und Punkt bestimmte, Symmetriebegriff entwickelte sich daraus aber erst im Laufe des 19. Jahrhunderts über unzählige Klassifi kationsansätze für Kristalle, bei denen empirische Klasseneinteilungen der bekannten Kristallformen zunehmend ergänzt und schließlich ersetzt wurden durch geometrische Überlegungen, alle denkbaren Formen und Kristallgitterstrukturen in einem System zu erfassen. Hierzu gehören insbesondere die Einteilung nach 7 bzw. 6 Kristallsystemen von Christian Weiss und Friedrich Mohs (1815–1825); 14 die Systematik der 32 möglichen Punktgruppen von Johann Hessel (1832); die 14 möglichen Raumgitter von Auguste Bravais (1850); 15 und schließlich die 230 kristallografi schen Raumgruppen von E. S. Fedorov und Arthur Schoenfl ies (1880– 1891). Bemerkenswerterweise sind diese mathematischen Klassifi kationsansätze – und damit die geometrische Symmetrietheorie sowie Teile der Gruppentheorie – mit Ausnahme von Schoenfl ies von Mineralogen entwickelt worden (Burke 1966, Scholz 1989). Weil die mathematische Gruppentheorie im 19. Jahrhundert die wichtigsten mathematischen Gebiete (Algebra, Geometrie und Zahlentheorie) auf neue GrundHaüy formulierte sein »Symmetriegesetz« zuerst 1815, was in der deutschen Übersetzung von Hessel (1819) noch »Ebenmaßgesetz« genannt wurde. »Symmetrie« bezieht sich hier noch auf die Kongruenz (identité) von Seitenfl ächen, Kanten und Ecken der Grundformen und ist, wie Scholz (1989, 27) bemerkt, vermutlich terminologisch und inhaltlich inspiriert durch Legrendres Untersuchung der regelmäßigen Polyeder in Elements de Géométrie (1794); siehe dazu auch Burckhardt 1988, 14 f. 14 An den klassischen sieben Kristallsystemen lässt sich sehr gut das Ordnungsprinzip nach Symmetriegrad illustrieren, weil die Klassen ausschließlich nach Symmetrieachsen bestimmt sind. Entscheidend für den Symmetriegrad sind die Anzahl und der Grad der Achsen: das triklinische System besitzt keine Symmetrieachse, das monoklinische System eine Zweifachachse, das orthorombische System drei Zweifachachsen, das trigonale System eine Dreifachachse, das tetragonale System eine Vierfachachse, das hexagonale System eine Sechsfachachse und das kubische System vier Dreifachachsen und drei Vierfachachsen. 15 Spätestens bei Bravais (»Mémoire sur les polyèdres de forme symétrique«, Journal de mathématique, 14 [1849], 141–180) ist die Defi nition der Symmetrie über Transformationen voll entwickelt und bekannt – Hessels Aufsatz von 1832 bleibt weitgehend unbeachtet. Demgegenüber defi niert der Mathematiker Möbius noch 1852: »Eine Figur soll symmetrisch (im weiteren Sinne) heissen, wenn sie einer ihr gleichen und ähnlichen Figur auf mehr als eine Art gleich und ähnlich gesetzt werden kann. (»Über das Gesetz der Symmetrie der Kristalle und die Anwendung dieses Gesetzes auf die Eintheilung der Kristalle in Systeme«, Journal für die reine und angewandte Mathematik, 43, 367). 13

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lagen stellt, lassen sich naturgemäß in jedem dieser Gebiete historische Vorläufer benennen. Trotzdem ist der Einfluss der Kristallografie in entscheidenden Phasen erkennbar, in denen der verallgemeinerte Begriff der mathematischen Symmetrie als Invarianz gegenüber Transformationen entwickelt wird. So wie der Symmetriegrad von Kristallstrukturen durch Gruppen von Spiegel-, Dreh- und Inversionstransformationen, die zu kongruenten Strukturen führen, bestimmt wurde, so wurden nun algebraische Gleichungen, Differenzialgleichungen und Geometrien durch Gruppen von Transformationen charakterisiert, die zur Invarianz führen. In dem für die Algebra ganz neuartigen Ansatz des 19-jährigen Pariser Studenten Evariste Galois (1811–1832), dessen Bedeutung erst nach Jahrzehnten erkannt wurde, ist zumindest indirekt der Stil der Kristallografen erkennbar. Galois charakterisierte und klassifi zierte nämlich algebraische Gleichungen über den »Symmetriegrad« ihrer Lösungsgleichungen, indem er die Anzahl der Vertauschungen (Permutationen) der Wurzeln bestimmte, die die Geltung der Lösungsgleichungen nicht verändern. Sophus Lies (1842–1899) spätere Klassifi kation von Differenzialgleichungen nach Tranformationsgruppen sowie das »Erlanger Programm« von Felix Klein (1849–1925), eine Metatheorie der Geometrie auf der Basis Transformationseigenschaften zu entwickeln, folgen nicht nur dem gleichen allgemeinen Schema, sondern sie sind sogar nachweisbar beeinflusst durch Bravais’ Symmetriesysteme der Kristallografie (Scholz 1989, 97–109).16 In der Chemie und Physik des späten 19. Jahrhunderts gewann der Symmetriebegriff über die strukturelle Beschreibung von Kristallen und Molekülen hinaus auch eine ontologische und metaphysische Bedeutung, die er seitdem nicht mehr verlieren sollte. Bei Pasteur war dies noch ganz anschaulich, als er seine Entdeckung spiegelsymmetrischer Kristalle und Moleküle (Enaniomerenpaare) später dahingehend steigerte, dass die chemische Synthese im Unterschied zur Natur kein einzelnes Enantiomer ohne sein Pendant herstellen könne (Engels 1999). Pierre Curie verallgemeinerte dies dann zu seinem physikalischen Symmetrieprinzip, wonach der Grad der Symmetrie in allen kausalen Prozessen erhalten bleibt, Symmetrie also als Substanz mit Erhaltungsgesetzen gedacht wird (Katzir 2004). Nach Übertragung von dem geometrischen auf den algebraischen Begriff der Symmetrie wurde aus diesem Prinzip die Suche nach der »Ursymmetrie«, die im 20. Jahrhundert zum Leitgedanken fast der gesamten theoretischen Physik bis heute wurde, sodass sie hier nicht referiert werden kann.17 Ausgangspunkt war die von Einstein später nachgelieferte Interpretation, dass seine spezielle Relativitätstheorie die klassische Mechanik und Elektrodynamik in dem Sinne vereinige, dass 16 Die Brücke läuft über eine Arbeit des Pariser Mathematikers Camille Jordan von 1860, in der die Bravaissche Kristalltheorie rezipiert und mathematisch verallgemeinert und in der erstmals der Gruppenbegriff explizit eingeführt wurde. Etwa zur gleichen Zeit sorgte Jordan für die Verbreitung der bis dahin kaum bekannten Ideen von Galois (Yaglom 1988, 2). 17 Siehe hierzu und zum folgenden insbesondere Mainzer 1988.

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die Gleichungen der Mechanik nun die gleiche algebraische Symmetrie wie die Maxwellschen Gleichungen der Elektrodynamik aufwiesen, nämlich invariant zur Lorentztransformation zu sein. Der nächste Schritt, die entsprechende Vereinigung von Quantenmechanik und spezieller Relativitätstheorie in Gestalt der DiracGleichung gilt heute unter Physikern als ausgezeichnetes Beispiel von mathematischer Schönheit (Abb. 3). Während analoge Symmetrievereinigungen später in Bezug auf die schwache und starke Wechselwirkung folgten, ist der letzte Schritt, die Vereinigung mit der Gravitation durch die so genannte »Supersymmetrie« oder »Weltformel« noch Gegenstand theoretischer Bemühung. In Umkehrung der theoretischen Vereinigung wird die Vielfalt von Erscheinungen, Partikeln und Kräften sowohl theoretisch als auch kosmologisch als Resultat von schrittweisen Symmetriebrüchen gedeutet.

Abb. 3: Die Dirac-Gleichung von 1928. Sie gilt unter Physikern als ausgezeichnetes Beispiel für Symmetrie und Schönheit, weil sie Quantenmechanik und spezielle Relativitätstheorie vereint.

Die Substantialisierung der Symmetrie in der theoretischen Physik ist dort nicht ohne Einfluss auf wissenschaftstheoretische Fragen geblieben, weil sie die moderne Trennung von Erkenntnis- und Seinsfragen unterläuft. Denn wenn Symmetrie einerseits als ein einheitliches und einfaches Grundprinzip der Natur unterstellt wird und andererseits eine formale Eigenschaft eines mathematischen Theorienapparats ist, dann kann die formale Symmetrie einer Theorie zum rationalistischen Erkenntniskriterium erhoben werden. Diese Strategie hat neben einigen erfolgreichen Voraussagen von Elementarteilchen, die dann auch tatsächlich experimentell nachgewiesen werden konnten, auch zu Immunisierungstendenzen von Theorien geführt, an denen man trotz experimenteller Widerlegung wegen ihrer Einfachheit und Symmetrie festhielt.18 In diesem Kontext ist der seit Dirac gängige Bezug auf den Wertbegriff Schönheit zu sehen, der als zusätzliches Geltungskriterium für einfache und symmetrische Theorien ins Feld geführt wird.19 So wird Symmetrie 18 Ein bekanntes Beispiel ist die Yang-Mills-Theorie, die Mainzer (1988, 477 f.) aus wissenschaftstheoretischer Perspektive diskutiert. 19 Den gleichzeitigen sozialen Kontext, die Suche nach einer populären Begründung der teuren Elementarteilchenphysik als Alternative zu der an Akzeptanz schwindenden militärtechnischen Rechtfertigung in den 1960ern, erläutert Stevens 2003.

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stilisiert zum Prinzip des Seienden, des Wahren und des Schönen in einem aus der Scholastik bekannten Begründungsgefüge: Symmetrie ist wahr, weil sie das Prinzip des Seienden ist und weil sie schön ist. In populären Darstellungen der theoretischen Physik des 20. Jahrhunderts wird deren algebraischer Symmetriebegriff gerne in eine kontinuierliche Tradition der Mathematik und Kunst gestellt und bis auf Platon zurückgeführt, wobei der kristallografi sche Ursprung der geometrischen Symmetrie übergangen werden muss. Dabei wird nicht begriff shistorisch, sondern über Analogien und Äquivokationen argumentiert: Da Symmetrie ein Maß für Einfachheit und Schönheit sei und da Platon die regelmäßigen Polyeder, die im modernen Verständnis einen hohen Symmetriegrad haben, als einfach und schön ausgezeichnet habe, habe er bereits über den modernen Symmetriebegriff verfügt. Diese Argumentation ist jedoch weder begriffl ich noch historisch haltbar.20 Tatsächlich hatte Platon in seinem Dialog Timaios (53c–56c) den Kosmos aus den fünf regelmäßigen Polyedern auf bauen lassen (Abb. 4, S. 70), die vermutlich den Pythagoräern schon bekannt waren. Euklid lieferte dann im 13. Buch seiner Elemente, was vermutlich auf Platons Zeitgenossen Theaitetos zurückgeht, nicht nur die Konstruktionsanleitungen der so genannte Platonischen Körper, sondern auch den Beweis, dass es nur fünf Figuren dieser Art geben kann. 21 Indem Platon die fünf regelmäßigen Polyeder als die schönsten Körper auszeichnete, bezog er sich aber gerade nicht auf den künstlerischen Schönheits- und Symmetriebegriff, die er beide durchaus kannte, 22 sondern formulierte dagegen einen zweiten Schönheitsbegriff, der mit Einfachheit identisch ist. Während Platon damit eher die Einfachheit der Konstruktion dieser Formen meinte, wie seine relativ ausführlichen Konstruktionsanleitungen nahe legen, wurde in der mathematischen Tradi-

20 Die zweite klassische Populärargumentation lieferte bereits Weyl (1952, 6). Zuerst wird der antike Symmetriebegriff der Kunst in einen allgemeinen Begriff (Proportionslehre) und einen besonderen Begriff (bipolare Symmetrie) aufgeteilt. Dann wird die bipolare Symmetrie mathematisch reformuliert und als Spezialfall des allgemeinen mathematischen Symmetriebegriff s ausgewiesen. Schließlich wird der allgemeine mathematische Symmetriebegriff als »Präzisierung« des »unklaren« allgemeinen Symmetriebegriff s der Kunst dargestellt. 21 Darüber hinaus studierte Euclid (Theaitetos) auch die Proportionen an den regelmäßigen Polyedern, was offensichtlich durch den künstlerischen Symmetriebegriff motiviert war. Vom »Geheimnis der Proportionen«, statt von der mathematischen Symmetrie, war auch noch Johannes Kepler fasziniert, als er den Kosmos durch Ineinanderschachtelung der regelmäßigen Polyeder entwarf (Mysterium cosmographicum, 1596). Für Kepler (Harmonici Mundi, II, 1619), wie für Euklid waren die regelmäßigen Polyeder allerdings primär deswegen interessant, weil sie regelmäßig sind, d.h. weil sie gleiche Kanten und Winkel aufweisen. 22 Siehe den Dialog Philebos. In Sophistes (236 b) warf Platon sogar den Bildhauern und Architekten Trugbildnerei vor, die von den idealen Proportionen abwichen, weil diese durch perspektivische Verkürzungen gar nicht wahrgenommen werden konnten und daher für die Wahrnehmung entsprechend korrigiert werden mussten. Vitruv (De architectura, VI, 2) erklärte später wie und warum die Korrekturen vorgenommen werden sollen.

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tion seit Euklid daraus der Begriff der Regelmäßigkeit, im Sinne gleicher Kanten und Winkel, gegen den sich der geometrische Symmetriebegriff später gerade abgrenzen musste. Die populärwissenschaftliche These basiert damit nicht nur auf der Verwechslung der beiden Symmetrie- und Schönheitsbegriffe, sondern sie setzt auch geometrische Regelmäßigkeit mit dem hochkomplexen Begriff der algebraischen Einfachheit gleich. Dieser ist jedoch nur in Analogie zum Begriff der Einfachheit in der geometrischen Symmetrie verständlich in Sinne einer Invarianz gegenüber Transformationen einer höheren Gruppe.

Abb. 4: Die fünf regelmäßigen Polyeder (platonische Körper): Tedraeder, Würfel, Oktaeder, Dodekaeder und Ikosaeder. Sie waren seit der Antike bekannt und wurden wegen ihrer Regelmäßigkeit (gleiche Kanten und Winkel) und Einfachheit geschätzt.

Zusammenfassend können wir feststellen, dass der mathematische Symmetriebegriff grundverschieden von dem künstlerischen Symmetriebegriff ist und seinen Ursprung auch nicht in der antiken Kunsttheorie, sondern in der Kristallographie des 19. Jahrhunderts besitzt. Als einziges Brückenglied kann die Spiegelsymmetrie angeführt werden, die jedoch anders defi niert ist als der entsprechende künstlerische Begriff der bipolaren Symmetrie. Darüber hinaus sind auch die mit den beiden Symmetriebegriffen assoziierten Schönheitsbegriffe grundverschieden. Während der mathematische Symmetriebegriff sich auf Schönheit im Sinne der Einfachheit bezieht, ist im künstlerischen Symmetriebegriff die Schönheit durch Maßzahlverhältnisse des menschlichen Körpers und das Gleichgewicht gegensätzlicher Kräfte bestimmt.

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IV. Mathematische Symmetrie in der Kunst 23 Mathematische Symmetrieelemente spielen in den bildenden Künsten eigentlich nur in der Architektur und da besonders in der Ornamentik eine Rolle, und auch hier fi ndet man lediglich Spiegelebenen, Translationssymmetrie und manchmal Drehachsen (Arnheim 1988, 8). Die Spiegelsymmetrie nimmt dabei eine Besonderheit ein, weil sie seit Alberti nicht mathematisch, sondern ästhetisch durch den Bezug auf den menschlichen Körper begründet war. Allgemein werden Symmetrieelemente in der Architektur gezielt oder epochal bedingt als Stilmittel zum Ausdruck von Ordnung, Ruhe und Stabilität eingesetzt und meistens kontrapostisch zur bewegten Umgebung gestellt. Während das hochsymmetrische Ornament in der Regel nur als Ruhepol im Ganzen oder als Dekoration dient, wird man im noch so symmetrisch erscheinenden Bauwerk in den seltensten Fällen einen Symmetriebruch vermissen. In der Malerei dürfte es sogar schwer sein, Beispiele zu benennen, bei denen mathematische Symmetrie zum Thema wird. 24 Wäre mathematische Symmetrie eine hinreichende Bedingung für Schönheit, und würde der Grad der Schönheit eines Kunstwerks an der Zahl seiner Symmetrieelemente messbar sein, dann würden alle auf Schönheit ihrer Werke bedachten Künstler Kugeln herstellen, 25 was freilich ein entsprechender Automat perfekter Zustand bringt. 26 Der überwiegende Mangel an mathematischen Symmetrieelementen in der bildenden Kunst mag als empirischer Beleg gegen die These gelten, dass mathematische Symmetrie ein Kriterium für Schönheit oder gar ein ästhetisches Ideal sei. Die Kunsttheorie geht noch härter mit der mathematischen Symmetrie und ReDieser Abschnitt basiert auf einem Abschnitt in Schummer 1995. Die bekannte Ausnahme bilden natürlich die Werke von M. C. Escher, auf den sich Naturwissenschaftler gerne beziehen. Aber bei Escher steht die mathematische Symmetrie nicht alleine, sondern in einer Verschränkung mit ikonographischen Elementen, die übrigens oft alchemistische Wurzeln erkennen lassen. 25 Über entsprechende Phantasien in der Architektur insbesondere des 18. Jahrhunderts, berichtet Vogt (1988). Die Kugelform, die wir auch heute noch in Sternwarten und Planetarien fi nden, ist hier allerdings im Rahmen der Kosmossymbolik zu deuten; dieser naturphilosophische Bezug fi ndet im 18. Jahrhundert einen Höhepunkt in den architektonischen Entwürfen von Boullées Newton-Denkmal. 26 Einige Werke der Minimal Art, z. B. von Donald Judd, scheinen diese These zu unterlaufen, weil hier die Annäherung an mathematische Symmetriemaßstäbe bis zur handwerklichen Perfektion getrieben wird. Aber Minimal Art verlangt eben eine gesteigerte Aufmerksamkeit für minimale Differenzen; und diese wird hier gerade auf die unüberbrückbare Differenz zwi schen idealer mathematischer Symmetrie oder der automatisch perfektionierten Reproduzierbarkeit einerseits und der durch Symmetriebrüche jeder handwerklicher Ausführung erreichten Einmaligkeit andererseits gelenkt. Darüber hinaus scheint Minimal Art als Teil der Non-Relational Art die mathematische Symmetrie nicht als ästhetisches Kriterium, sondern nur instrumentell zu verwenden, um gerade die Zwänge der klassischen Proportions- und Kompositionslehre, d. h. den klassischen Symmetriebegriff der Kunst, zu überwinden (Kambartel 1972, 143 f.). 23 24

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gelmäßigkeit zu Gericht. Im Rahmen der Kantschen Ästhetik dienen regelmäßige geometrische Körper als begründete Beispiele des Nicht-Ästhetischen: »Alles SteifRegelmäßige (was der mathematischen Regelmäßigkeit nahe kommt) hat das Geschmackswidrige an sich: dass es keine lange Unterhaltung mit der Betrachtung desselben gewährt, sondern […] lange Weile macht.« (Kant 1799, 72). 27 Ganz in diesem Sinne schreibt auch Gombrich (1988, 104): »sobald das Ordnungsprinzip erfasst wird, können wir das Gebilde ja auch jederzeit auswendig rekonstruieren. [… Wir sehen] uns leicht daran satt, es bietet uns ja bald keine Überraschungen mehr.« Mathematische Symmetrie – darin scheinen sich zumindest die meisten Kunsttheoretiker einig zu sein – spielt in der Kunst keineswegs die Rolle eines anzunähernden Ideals. Sie dient stattdessen entweder als Spannungspol, dessen Gegenpol Unordnung, Bewegung oder Asymmetrie darstellt, oder als Ordnungsmatrix, an der sich ein Kunstwerk durch seine spezifischen Ordnungs- bzw. Symmetriebrüche in seiner Einzigartigkeit begreifen lässt. Dabei ist zu bedenken, dass in der Kunsttheorie der mathematische Symmetriebegriff wesentlich weiter gefasst ist als in der Mathematik. 28 Spiegelsymmetrie bzw. bipolare Symmetrie bedeutet dort nicht exakte Formkongruenz bei Spiegeloperationen, sondern nur eine Entsprechung der Elemente auf beiden Seiten, oder noch weiter gefasst: eine Ausgewogenheit der Seiten, wobei kompositorische Form- und Farbelemente mit Bedeutungsgehalten auf eine nicht weiter formalisierbare Weise gegeneinander verrechnet werden. Damit nähert man sich jedoch dem Harmoniebegriff, der dem Symmetriebegriff der Kunst verwandt ist, im Sinne einer Stimmigkeit oder Ausgewogenheit der Teile in einem Ganzen. Als Gegenpol zu Asymmetrie lässt sich die mathematische Symmetrie durchaus in den antiken Symmetriebegriff der Kunst integrieren im Sinne eines Gleichgewichts von Gegensätzen. So schreibt z. B. der Kunsthistoriker Frey (1949, 277 f.): »In der Spannung zwischen Symmetrie und Asymmetrie, zwischen In-sich-Beruhen und Gerichtet-sein, zwischen Ausgewogenheit und Antrieb, zwischen Beharrung und Bewegung, zwischen Sein und Werden ist das entscheidende Agens [der künstlerischen Gestaltung] gegeben.« Darauf nimmt auch der Kunstpsychologe Arnheim (1988, 8, 15) Bezug, wenn er meint, »dass Symmetrie Ruhe und Bindung bedeutet, Asymmetrie hingegen Bewegung und Lösung. Ordnung und Gesetz in jener, Willkür und Zufall in dieser; Erstarrung und Zwang in jener, Lebendigkeit, Spiel und Freiheit in dieser. […] Was Symmetrie von Asymmetrie unterscheidet, ist also offenbar das bloße Verhältnis zwischen Gleichgewicht und gerichteten Der Geschmack ist für Kant das Vermögen zur Beurteilung des Schönen (ebd., 3); geschmackswidrig ist also etwas, was sich dem Vermögen widersetzt und damit einer ästhetischen Beurteilung entzieht. 28 Instruktiv über Differenzen des Symmetriebegriff s in verschiedenen Disziplinen und der daraus resultierenden Gefahr von Missverständnissen ist die Dokumentation der interdisziplinären Symposiumsdiskussionen in Wille 1988. 27

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Kräften. Im einen Extremfall würde dies Verhältnis die Starre des gänzlichen Stillstandes mit sich führen, im anderen Extrem die ebenso furchterregende Formlosigkeit des Chaos. Irgendwo aber auf der Stufenleiter zwischen diesem beiden Extremen fi ndet jeder Stil, jeder Einzelne und jedes Werk seinen eigenen, besonderen Platz.« Ähnlich sieht auch Gombrich (1988, 114, 113) die Kunst im »Widerspiel zwischen Symmetrie und Asymmetrie« als »Kampf gegen zwei gleich mächtige Gegner, das ungeformte Chaos, dem wir Entsprechungen auferlegen, und die allzu geformte Monotonie, die wir durch neue Akzente beleben«. Die These der Symmetrie als Ordnungsmatrix zur Heraushebung der Einzigartigkeit durch Ordnungsbruch macht z. B. de la Motte-Haber stark: 29 »Es folgte die Kunstproduktion einer grundsätzlichen geistigen Haltung, die die Erklärbarkeit aller Dinge voraussetzte und das Unvorhergesehene, Nicht-Berechenbare nur auf dem Hintergrund von Ordnungen als Regelverletzungen duldete.« (1988, 29)

V. Die Vorliebe von Wissenschaftlern für mathematische Symmetrie Wir haben bisher gesehen, dass die mathematische Symmetrie und die künstlerische Symmetrie grundverschiedene Begriffe sind und dass die darauf jeweils bezogenen Schönheitsbegriffe keine Gemeinsamkeiten haben. Wenn also Naturwissenschaftler die Schönheit von mathematisch-symmetrischen Gebilden preisen und mathematische Symmetrie als Kriterium oder gar als Ideal von Schönheit erachten, dann tun sie dies nicht nur ohne Bezug, sondern sogar gegen die Kunst und Kunsttheorie, die beide deutlich machen, dass mathematische Symmetrie kein Kriterium, geschweige denn Ideal von Schönheit ist. Damit stellt sich die Frage, welche Motive Naturwissenschaftler zu ihrem speziellen Schönheitsbegriff leiten bzw. woher ihre Vorliebe für mathematische Symmetrie stammt. Legt man die zitierten kunsttheoretischen Positionen von Frey, Arnheim, Gombrich, de la Motte-Haber u. a. zugrunde, wonach mathematische Symmetrie in der Kunst stets in einem Gleichgewicht zu Asymmetrie steht, dann müsste man Naturwissenschaftler am äußersten Ende einer kunstpsychologischen Skala lokalisieren. Ihr ästhetisches Empfi nden wäre dann durch ein extremes Bedürfnis nach Ordnung und Sicherheit bestimmt. De la Motte-Haber (1988, 57) meint sogar: »Symmetrie gibt Sicherheit und sie nimmt Ihnen das Denken ab. Man kann, was die künstlerische Entwicklung anbelangt, sagen: Je totalitärer ein System, um so symmetrischer die Kunst, weil sie umso fasslicher ist.« Diese Einschätzung lässt sich allerdings durch zwei Beobachtungen relativieren.

Ähnlich auch schon Adorno (1970, 237): »Asymmetrie ist, ihren kunstsprachlichen Valeurs nach, nur in Relation auf Symmetrie zu begreifen.« 29

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Erstens muss die Vorliebe der Naturwissenschaftler für mathematische Symmetrie im Kontext ihrer Tätigkeit gesehen werden. Die Wahrnehmung, Entdeckung oder Herstellung eines symmetrischen Objekts ist ein seltenes Ausnahmeereignis im wissenschaftlichen Forschungsalltag. Wissenschaftler sind im Prozess ihrer Forschung überwiegend mit komplexer Unordnung konfrontiert, mit Verunreinigung von Proben, störenden Fremdeinflüssen im Experiment, Streuung von Messwerten, unübersichtlichen Datenfluten, und nicht zusammenhängenden Gleichungen, die es alle zu ordnen und zu interpretieren gilt. In diesem Kontext ist Geordnetes und Regelmäßiges nicht nur die Ausnahme, sondern gerade auch das Gesuchte. Zweitens zeigen zahlreiche wahrnehmungspsychologische Experimente, dass alle Menschen kulturübergreifend eine mehr oder weniger starke Präferenz für mathematisch-symmetrische Formen haben (Schuster 1990, 124). Ob diese Präferenz wahrnehmungsphysiologisch bedingt ist oder nicht, auch in der Alltagswahrnehmung sind zumindest traditionell symmetrische Formen eher die Ausnahme als die Regel. Da mathematische Symmetrie auch ein Maß für Einfachheit ist, ist weiterhin zu vermuten, dass mathematisch-symmetrische Gebilde visuell sehr viel leichter spontan zu erfassen und zu behalten sind als asymmetrische Gebilde. Die Beobachtungen führen zu einer anderen Erklärung für die Vorliebe von Naturwissenschaftlern für mathematische Symmetrie. Sowohl im naturwissenschaftlichen Forschungsalltag als auch bei der visuellen Wahrnehmung geht es um Erkenntnis. Symmetrische Erkenntnisobjekte befriedigen offensichtlich das wissenschaftliche und das spontan visuelle Erkenntnisstreben stärker oder leichter als unsymmetrische Erkenntnisobjekte. Die Vorliebe resultiert demnach aus einer Erkenntisbefriedigung, die sich einstellt, wenn aus dem Ungeordneten auf einmal Ordnung hervorscheint, wenn Komplexes auf einmal einfach wird. Diese Erklärung ist nicht neu, sondern sie geht zurück auf die Kantsche These der Verwechslung von Erkenntnisbefriedigung und ästhetischer Befriedigung (Kant 1799, 277 f.): »Man ist gewohnt, die erwähnten Eigenschaften sowohl der geometrischen Gestalten als auch der Zahlen […] Schönheit zu nennen, […] Allein es ist keine ästhetische Beurteilung, […]; sondern eine intellektuelle nach Begriffen.« Wenn naturwissenschaftliches Streben darauf ausgerichtet ist, möglichst einfache mathematische Beschreibungsformen zu fi nden, dann fi ndet dieses Streben in einfachen geometrischen oder algebraischen Strukturen eine Befriedigung. Aber diese Befriedigung ist nicht ästhetischer, sondern (in Kants Worten) intellektueller Natur, weil sie Phänomene durch strukturierende Einordnung auf Begriffe bringt: »Nun werden geometrisch-regelmäßige Gestalten, eine Zirkelfigur, ein Quadrat, ein Würfel usw. von Kritikern des Geschmacks gemeiniglich als die einfachsten und unzweifelhaftesten Beispiele der Schönheit angeführt; und dennoch werden sie eben darum regelmäßig genannt, weil man sie nicht anders vorstellen kann als so, dass sie für bloße Darstellungen eines bestimmten Begriffs, der jener Gestalt die Regel vorschreibt (nach der sie allein möglich sind), angesehen werden. […] Die Regelmäßigkeit, die zum Begriffe von einem Gegenstande führt, ist zwar die un-

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entbehrliche Bedingung (conditio sine qua non), den Gegenstand in eine einzige Vorstellung zu fassen und das Mannigfaltige in der Form desselben zu bestimmen. Diese Bestimmung ist ein Zweck in Ansehung der Erkenntnis; und in Beziehung auf diese ist sie auch jederzeit mit Wohlgefallen […] verbunden.« (Kant, 1799, 70 f.) Das Kantsche Programm der Vernunftkritik war nicht zuletzt auch ein Versuch, die antike und mittelalterliche Verschränkung von Erkenntnis, Ästhetik und Ethik aufzulösen, wonach das Wahre, das Schöne und das Gute entweder identisch sind oder sich wechselseitig begründen. Seitdem gilt: Was schön ist, ist nicht automatisch wahr; und was wahr ist, ist nicht automatisch schön. Der naturwissenschaftliche Bezug auf Schönheit wäre demnach ein Rückgriff auf die vormoderne Verschränkung von Erkenntnis und Ästhetik.

VI. Schlussfolgerungen – Die Rolle der mathematischen Symmetrie als Schönheits- und Erkenntniskriterium Ich habe in diesem Aufsatz gezeigt, dass mathematische Symmetrie und künstlerische Symmetrie grundverschiedene Begriffe mit ganz unterschiedlicher historischer Herkunft sind und dass die jeweils darauf bezogenen Schönheitsbegriffe miteinander unvereinbar sind. Schließlich habe ich dafür argumentiert, dass mathematische Symmetrie nicht ästhetische, sondern Erkenntnisbefriedigung verschaff t. Wollte man dennoch an der Symmetrie als Schönheitskriterium oder -ideal festhalten, dann ist dies nur durch Ersetzung oder Verdopplung des künstlerischen Schönheitsbegriff s möglich. Beides hat problematische Konsequenzen, die ich abschließend diskutieren möchte. Eine Ersetzung des künstlerischen Schönheitsbegriff s ist entweder mit oder ohne Bezug auf die Ästhetiktradition denkbar. Mit Bezug müsste man behaupten, dass der ästhetische Sinn nicht bloß von Naturwissenschaftlern, sondern von allen Menschen durch ein extremes Ordnungs- und Sicherheitsbedürfnis geprägt ist, das durch Symmetrien befriedigt wird. Diese These würde vermutlich niemand vertreten, zumal sie durch die Kunstgeschichte widerlegt wird. Ohne Bezug auf die Ästhetiktradition müsste man auf die erkenntnispsychologische These zurückgreifen, wonach Symmetrie das Erkenntnisstreben befriedigt, und Schönheit dann durch epistemische Befriedigung erklären. Mit dem Anspruch der Ersetzung hätte man damit aber nicht nur die gesamte Ästhetiktradition gegen sich, dies liefe auch auf die These hinaus, dass jede ästhetische Wahrnehmung auf Erkenntnis ausgerichtet ist. Zwar ist die These der Erkenntnisorientierung der Kunst in der Ästhetiktradition immer wieder vorgebracht und seit Kant auch heftig kritisiert worden, aber die dabei gemeinte Erkenntnis war niemals auf Einfachheit raus, wie es die Symmetrie als Schönheitsideal verlangen würde. Die Leugnung nicht-epistemischer ästhetischer Wahrnehmung wird durch das schlichte Faktum widerlegt, dass

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die meisten Menschen z. B. Landschaften ohne irgendwelche Erkenntnisabsichten als schön empfi nden. Martin Seel (1991) geht sogar soweit, dass das Kennzeichen der ästhetischen (Natur-)Wahrnehmung gerade die Abwesenheit der Erkenntnisorientierung ist. Wenn damit die Ersetzung und Abschaff ung des künstlerischen Schönheitsbegriff s zurückgewiesen sind, so bleibt noch übrig, einen davon unabhängigen, esoterischen Schönheitsbegriff für den Bereich der Wissenschaft zu postulieren. Die Verdopplung des Schönheitsbegriffs erheischt jedoch über die Wortgleichheit irreführende Assoziationen, die durch einen angemesseneren Ausdruck besser zu vermeiden sind. Da mathematische Symmetrie ein Maß für strukturelle Einfachheit ist und es in der Wissenschaft um Erkenntnis geht, wähle ich für den infrage stehenden Begriff den geeigneteren Ausdruck »epistemische Einfachheit«. Unsere Frage lautet damit, ob es sinnvoll ist, epistemische Einfachheit als Gütekriterium oder Ideal in der Wissenschaft zu behaupten. Damit sind wir bei einer reinen wissenschaftstheoretischen Frage angelangt, die sich dahin präzisieren lässt, ob es sinnvoll ist, epistemische Einfachheit entweder als Gütekriterium oder Ideal für wissenschaftliche Erkenntnisse aufzufassen. Im Unterschied zum vormodernen, rein kontemplativen Wissenschaftsmodell, behauptet heute niemand mehr, dass epistemische Einfachheit das Ideal oder einzige Gütekriterium der empirischen Wissenschaften sei. Auch als gleichgewichtiges Gütekriterium mit empirischer Adäquatheit ist epistemische Einfachheit in Verruf seit Francis Bacons Warnung im 17. Jahrhundert, dass sie blind macht für die Tatsachen und die Erkenntnis verzerrt (Novum Organum, I, 45). Der einzige bisher unumstrittene Platz der epistemischen Einfachheit in den empirischen Naturwissenschaften lässt sich mit Bezug auf William Ockham aus dem 14. Jahrhundert so formulieren: 30 Wenn keine anderen wissenschaftlichen Erkenntnisgründe dagegen sprechen, dann wähle die einfachere von zwei Erkenntnissen. 31 Wenn Schönheit im Sinne der mathematischen Symmetrie damit ein wissenschaftstheoretisches Restkriterium ist, so ist sie nichtsdestotrotz eine wichtige Motivationsquelle und ein heuristisches Mittel der wissenschaftlichen Forschung. 32 Da sowohl Kunst als auch Wissenschaft, wie jede kreative Tätigkeit, auf Motivationsquellen und Heuristiken angewiesen sind, lässt sich zumindest auf dieser allgemeinen Ebene eine Brücke zwischen Kunst und Wissenschaft fi nden.

Siehe dazu auch Hoff mann et al. 1997. Innerhalb dieses Rahmens bewegen sich auch die neuesten und ambitioniertesten ästhetischen Ansätze aus der Wissenschaftstheorie. In McAllisters »Rationalismus« werden ästhetische Kriterien sogar danach bewertet, ob sie Theorien höherer empirischer Adäquatheit favorisieren (McAllister 1996, 206 f.); ähnlich Kuipers 2002. 32 Siehe z. B. Root-Bernstein 2003 für zahlreiche historische Belege. 30 31

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Das elegante Universum und seine hemdsärmelige Wirtschaft Ästhetische Aspekte der Wirtschaftswissenschaft * Von Carsten Köllmann

I. Einleitung Die Tatsache, dass in der Wissenschaft auch ästhetische Momente eine gewichtige Rolle spielen können, ist in den offiziellen Darstellungen der Wissenschaftstheorie lange Zeit ignoriert worden. Sie ist aber mindestens durch Anekdoten verbürgt. Als beispielsweise Watson und Crick ihr Modell der Doppel-Helix gefunden hatten, dachten sie, das Modell sei zu schön, um nicht wahr zu sein – so zumindest Watsons eigene Darstellung, die vielleicht ihrerseits zu schön ist, um wahr zu sein. Aber es gibt auch noch andere Beispiele dafür, dass Wissenschaftler ihre Entscheidung für oder gegen eine bestimmte Theorie explizit von der Schönheit dieser Theorie abhängig machen und dass sie dafür durchaus auch gravierende empirische Unstimmigkeiten in Kauf nehmen – Einstein oder Dirac werden hier häufig genannt (vgl. z. B. McAllister 1996, 15). Schönheit soll also ein Indikator für Wahrheit sein – was auch immer Schönheit in diesem Zusammenhang heißen mag. Meist ist damit wohl so etwas wie Einfachheit oder formale Eleganz gemeint, wobei dann natürlich wiederum zu klären wäre, was man sich unter Einfachheit oder formaler Eleganz genau vorstellen soll. Warum jedoch, so möchte man fragen, sollte eine einfache und elegante Theorie der Wahrheit näher kommen als eine komplizierte und umständliche? Dahinter steckt vermutlich nach wie vor der Glaube an ein harmonisch eingerichtetes Universum, von Gott auf einige wenige Grundgesetze gebaut, aus denen sich alles andere wie von selbst ergibt. Dieser Glaube ist mit der Säkularisierung des Weltbilds in der Moderne keineswegs verschwunden, sondern lediglich selbst säkularisiert und rationalisiert worden und wirkt in der Form von ästhetischen Überzeugungen weiter. Intuitiv sind wohl die meisten Wissenschaftler zu glauben geneigt, dass die Welt in ihrer gesetzmäßigen Struktur einfach und harmonisch eingerichIch danke Wolfgang Krohn für die Anregung zu einer Auseinandersetzung mit dem Thema und für ausführliche Kommentare. Ferner danke ich Meinard Kuhlmann, Gerhard Lüdeker, Cornelis Menke, Reinhard Merkel, Andrea Nehring, Malte Schophaus, Matthias Wilde und in besonderem Maße Melanie Grütter für sachdienliche Hinweise, ungeschminkte Kritik und positive Resonanz. Schließlich danke ich der DFG für fi nanzielle Unterstützung in Form eines Postdoktorandenstipendiums, das ich in (nicht nur materiell) bereichernder Weise am Graduiertenkolleg »Auf dem Weg in die Wissensgesellschaft« des Instituts für Wissenschaftsund Technikforschung (IWT), Universität Bielefeld, nutzbringend verwenden durfte. *

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tet ist und dass wahlweise Gott oder die Evolution uns freundlicherweise mit den notwendigen Fähigkeiten ausgestattet hat, diese Struktur auch zu entdecken. Wenn wir also eine Theorie als schön empfi nden, so die Konsequenz dieser Überzeugung, dann dürfen wir auch glauben, dass wir auf der richtigen Fährte sind, und sogar scheinbar widerlegende Evidenz muss uns von diesem Glauben nicht abbringen. Deutet aber nicht vieles darauf hin, dass die Welt eher uneinheitlich und chaotisch ist, von einer Vielzahl von häufig nur lokal geltenden Gesetzen und Einzeltatsachen durchzogen, die sich auch noch so hartnäckigen Versuchen, sie in ein einheitliches Bild zu zwingen, ebenso hartnäckig immer wieder entziehen? Nein, davon wollen wir nichts wissen, trotz aller Rückschläge glauben wir an unser ›elegantes Universum‹ (Greene 2002), denn wie heißt es bereits bei Kant: »Zwei Dinge erfüllen das Gemüt mit immer neuer und zunehmender Bewunderung und Ehrfurcht, je öfter und anhaltender sich das Nachdenken damit beschäftigt: Der bestirnte Himmel über mir, und das moralische Gesetz in mir.« (Kant 1788, A 289) Und damit wären wir beim Thema: Denn an das moralische Gesetz in uns glauben die meisten vermutlich viel weniger fest als an die ehernen Naturgesetze, und vielleicht suchen wir die Schönheit in der äußeren Natur nicht zuletzt auch deshalb so unverdrossen, weil wir in der menschlichen Natur allzu häufig soviel Hässliches zu entdecken meinen. Von kaum einer Wissenschaft ist diese ›moralische Hässlichkeit‹ so sehr zum Programm erhoben worden wie von der Wirtschaftswissenschaft. Sie nimmt die Schattenseiten der menschlichen Natur so ernst, dass sie den Akteuren, die ihre Theorien bevölkern, in der Regel egoistische Motive unterstellt. Zwar wird eine solche inhaltliche Festlegung von manchen gern bestritten, aber nicht zufällig wird die Wirtschaftswissenschaft von manchen auch als dismal science bezeichnet (vgl. Persky 1990). Die Menschen sind schlecht, so lautet also die unerfreuliche Nachricht. Allerdings schadet das gar nichts, so lautet die gute. Denn die ›unsichtbare Hand‹ des Marktes wendet hinter dem Rücken der einzelnen Akteure dennoch – oder gerade deshalb – alles zum Besten. An dieser Stelle könnte man nun wieder den Anschluss an die von vielen Wirtschaftswissenschaftlern beneidete Physik zu fi nden hoffen, indem man, vermittelt über das Staunen, das einen angesichts der von der unsichtbaren Hand angeblich vollführten Wunderwerke bef ällt, den Glauben an eine harmonische Einrichtung auch der sozialen und wirtschaftlichen Welt wieder fi ndet. Aber leider hat die unsichtbare Hand spätestens seit der Weltwirtschaftskrise auch bei vielen Wirtschaftswissenschaftlern erheblich an Kredit verloren. Seitdem glauben sie nicht nur, dass die einzelnen Menschen schlecht sind, sondern auch, dass das Gesamtergebnis, das aus der Interaktion dieser Menschen resultiert, nicht sehr viel Anlass zur Freude gibt. Krisen oder wenigstens temporäre Ungleichgewichte sind offenbar an der Tagesordnung, die soziale Welt und ihre Wirtschaft scheinen alles andere als schön und wohlgeordnet zu sein. Wenn das so ist, dann stellt sich für manche Wirtschaftswissenschaftler scheinbar wie selbstverständlich die Frage, warum die Theorien, die all das abbilden und

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erklären sollen, ihrerseits besonders schön und harmonisch aussehen sollten. Mit dem Glauben an eine harmonisch eingerichtete Wirtschaft ist deshalb für sie auch das neoklassische Forschungsprogramm, das diesen Glauben wissenschaftlich zu untermauern schien, in Verruf geraten. Die neoklassische Orthodoxie, in deren Zentrum die Begriffe der individuellen Rationalität und des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts stehen, wird nicht zuletzt mit dem Argument kritisiert, sie idealisiere in unzulässiger Weise die eigentlich gar nicht so ideale Wirtschaftswirklichkeit. Insbesondere die auf Léon Walras zurückgehende Variante, die so genannte allgemeine Gleichgewichtstheorie, deren formale Eleganz seit ihrer kanonischen Darstellung durch Gerard Debreu vielfach gerühmt worden ist, steht bei manchen scheinbar gerade wegen dieser formalen Eleganz in der Kritik (vgl. z. B. Kaldor 1972, Helmedag 1999, Ackerman 2002). Man wirft ihr vor, sie kultiviere ihre ästhetischen Qualitäten um den Preis der empirischen Irrelevanz und prämiere mathematische Virtuosität statt ökonomischen Sachverstand. Dass sie sich dennoch bis heute halten konnte, wird von ihren Kritikern nicht zuletzt mit der von ihr ausgehenden ästhetischen Faszination erklärt. Hier wird offenbar Ästhetik gegen empirische Relevanz ausgespielt. Von skeptischen Wirtschaftswissenschaftlern wird formale Eleganz häufig keineswegs als Indikator für Wahrheit, sondern im Gegenteil als Indikator für ein Desinteresse an empirischer Relevanz interpretiert. Allerdings ist nicht sicher, dass die vorgeschlagenen Alternativen unter empirischen Gesichtspunkten jederzeit besser dastehen. Gerade weil die wirtschaftliche Wirklichkeit so komplex und disparat ist, kann keine Theorie ohne ein erhebliches Maß an Idealisierungen auskommen. Man kann daher bezweifeln, dass es allein die empirischen Qualitäten sind, denen sich die Entscheidung für oder gegen eine bestimmte Wirtschaftstheorie verdankt. Vielleicht spielen ästhetische Gesichtspunkte auch bei den Kritikern der neoklassischen Orthodoxie eine wichtigere Rolle, als sie selbst sich eingestehen mögen – die Frage wäre dann lediglich, an welcher Ästhetik sie sich orientieren. Möglicherweise passt zur Wirtschaftswissenschaft einfach nicht dieselbe Ästhetik wie zur Physik, weil wir mit der Wirtschaft andere Bilder assoziieren als etwa die für die Physik lange Zeit paradigmatischen Planetenbewegungen unseres Sonnensystems. Möglicherweise haben sich aber auch einfach die ästhetischen Maßstäbe gewandelt oder pluralisiert, so wie man das aus der bildenden Kunst, der Musik und der Literatur seit langem kennt. Dann läge das Problem der neoklassischen Theorie am Ende vielleicht gar nicht so sehr in ihrem empirischen Versagen, sondern vielmehr in ihrer Verpfl ichtung auf eine als veraltet empfundene Ästhetik. Das ist eine gewagte These, ich weiß. Wie glaubwürdig eine solche These ist, hängt ganz wesentlich davon ab, was man unter ästhetischen Beurteilungskriterien im Einzelnen versteht. Jedenfalls fällt es schwer zu glauben, dass es allein empirische Mängel sein sollten, denen sich die Ablehnung des neoklassischen Programms verdankt, dafür fällt die Kritik häufig zu kompromisslos und emotional aus. Schon der Terminus ›neoklassisch‹ reicht häufig aus, um ein ökonomisches Argument zu

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diskreditieren – aber inzwischen sehen auch einige Kritiker ein, wie wenig mit diesem Terminus eigentlich noch gesagt ist, zu unscharf sind die Konturen des neoklassischen Forschungsprogramms im Verlauf der Theorienentwicklung geworden (vgl. Colander 2000). Die Ästhetik scheint also eine Rolle bei der Beurteilung von Theorien zu spielen. In den folgenden Abschnitten möchte ich der Bedeutung der Ästhetik für die Wirtschaftswissenschaft etwas genauer nachgehen. Dabei werde ich nach einem eher allgemein gehaltenen Abschnitt über die Bedeutung ästhetischer Kriterien für die rationale Theoriewahl in den darauf folgenden zwei Abschnitten die konkurrierenden Forschungsprogramme der neoklassischen allgemeinen Gleichgewichtstheorie einerseits und der keynesianisch inspirierten Makroökonomik andererseits unter dem Gesichtspunkt der in ihnen verwirklichten ästhetischen Maßstäbe vergleichen. Ein abschließender Abschnitt wird dann die vorläufigen Ergebnisse resümieren. II. Ästhetik als Kriterium der Theorienwahl Da es hier um das Problem der Theorienwahl geht, stellt sich zunächst die Frage, wie man eigentlich eine Theorie wählt. Im Grunde wählt man sie wohl nach den gleichen Gesichtspunkten wie jedes andere Gut. Am wichtigsten ist natürlich, dass sie überhaupt funktioniert, wenn sie darüber hinaus noch benutzerfreundlich ist, ist das sicherlich auch nicht verkehrt, und wenn dann die damit verbundenen Anforderungen allesamt erfüllt sind, kann man sich vielleicht sogar noch die Farbe aussuchen. So oder so ähnlich gehen wir zumindest bei der Wahl von langlebigen Konsum- oder Investitionsgütern vor – sofern wir rational sind. Sind wir das allerdings nicht, dann kann es passieren, dass wir uns von den ästhetischen Qualitäten eines Produkts blenden lassen und darüber die kritische Prüfung seiner vorrangig relevanten funktionalen Qualitäten vergessen. Überträgt man das auf die Wahl von wissenschaftlichen Theorien, dann heißt das nichts anderes, als dass an erster Stelle unserer Präferenzordnung die funktionalen Eigenschaften einer Theorie stehen sollten. Diese bestehen nach der Standardauffassung darin, dass die Theorie die in ihrem Anwendungsbereich liegenden Phänomene in hinreichendem Maße erklären und prognostizieren kann. Das wiederum kann sie offenbar nur, wenn sie wahr oder, weniger kontrovers ausgedrückt, empirisch adäquat ist. Wahrheit oder empirische Adäquatheit sollten bei der Theorienwahl offenbar an erster Stelle stehen, während pragmatische Kriterien wie Einfachheit oder Vereinheitlichungskraft dementsprechend erst an zweiter Stelle, und ästhetische Kriterien, wenn überhaupt, eine nachgeordnete Rolle spielen sollten. Studiert man allerdings die Wissenschaftsgeschichte, dann ergibt sich ein deutlich anderes Bild. In der realen Wissenschaft spielten und spielen jederzeit auch pragmatische Kriterien eine wichtige Rolle, und seit die Wissenschaftstheorie in den 1960er Jahren von der selbst gewählten Beschränkung auf ›rationale Rekonst-

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ruktionen‹ abgegangen ist und sich der ganzen Vielfältigkeit und Widersprüchlichkeit dieser realen Wissenschaft geöff net hat, wird das auch zunehmend eingestanden und nicht mehr nur als der Ausdruck individueller Irrationalität abgetan. Nun betrachten manche Autoren pragmatische Kriterien insgesamt als Ausdruck einer bestimmten Ästhetik, aber diese Auffassung ist zumindest umstritten (vgl. Worrall 2000). Auch wenn die Abgrenzung zwischen pragmatischen und ästhetischen Gesichtspunkten der Theoriewahl nicht ganz klar zu sein scheint, lässt sich festhalten, dass nach der eben erwähnten Öff nung der Wissenschaftstheorie auch die Berücksichtigung ästhetischer Kriterien in der Wissenschaft nicht von vornherein als irrational abgewertet werden muss. Schon Thomas Kuhn, dem wir diese Öff nung der Wissenschaftstheorie verdanken, hat auf die mögliche Bedeutung ästhetischer Gesichtspunkte hingewiesen, allerdings hat er auch den wichtigen Unterschied benannt, den es diesbezüglich zwischen Wissenschaft und Kunst zu beachten gilt: »Was auch immer der Ausdruck ›ästhetisch‹ bedeuten mag, der Künstler hat das Ziel, ästhetische Gegenstände hervorzubringen; technische Probleme muß er lösen, um solche Gegenstände hervorzubringen. Für den Wissenschaftler dagegen ist die Lösung technischer Probleme Ziel, das Ästhetische lediglich ein Mittel dazu. Auf dem Gebiet der Erzeugnisse wie auch dem der Tätigkeiten sind die Ziele des Künstlers die Mittel des Wissenschaftlers, und umgekehrt.« (Kuhn 1969, 450) Kuhn hat also die Bedeutung der Ästhetik innerhalb der Wissenschaft eigentlich ganz traditionell gesehen, was ja angesichts des Rufs, seine Theorie sei der Irrationalität verpfl ichtet, nicht selbstverständlich erscheint. Auch James McAllister, dessen Beauty and Revolution in Science ein Standardwerk zu diesem Thema geworden ist, ist von dieser Auffassung einer dienenden Funktion der Ästhetik nicht in substantieller Weise abgewichen (vgl. McAllister 1996). Allerdings hat er der Ästhetik insofern eine eigenständige Rolle zugestanden, als sich in seiner Sicht die ästhetischen Bewertungen einer Theorie nicht auf ihre empirischen Eigenschaften zurückführen lassen. Nur langfristig hat die empirische Performance einer Theorie einen Einfluss auf ihre ästhetische Bewertung. Was langfristig besser funktioniert, so McAllister, wird irgendwann auch unter ästhetischen Gesichtspunkten als ansprechender empfunden werden. McAllister sieht dem entsprechend in den ästhetischen Urteilen von Wissenschaftlern vor allem einen konservativen Faktor, der dafür sorgt, dass diese an einmal etablierten Theorien länger festzuhalten geneigt sind, als es nach sachlichen Kriterien gerechtfertigt wäre. So gesehen hätte die Beschäftigung mit den ästhetischen Eigenschaften von Theorien wohl vor allem den Sinn, unbewusst wirkende Bewertungskriterien aufzudecken und damit ihres fortschritthemmenden Einflusses zu berauben. Aber was genau versteht man im Kontext der Wissenschaft unter Ästhetik? Wie gesagt: als umfassende ästhetische Eigenschaft wird in der Regel die Schönheit einer Theorie genannt, womit dann meist Eigenschaften wie Einheitlichkeit, Ökonomie, Symmetrie, Konsistenz, Gleichgewicht, Harmonie und Ordnung gemeint

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sind. Dabei handelt es sich allerdings McAllister zufolge um Kriterien einer formalistischen Ästhetik, die vor allem in den mathematisierten Wissenschaften geschätzt wird. In anderen Disziplinen wie z. B. der Biologie werden dagegen gerade umgekehrt Eigenschaften wie Unterschiedlichkeit, Differenzierung, Komplexität oder ein organischer Charakter goutiert, bei denen es sich um Kriterien einer romantischen Ästhetik handelt (vgl. McAllister 2002). Welche ästhetischen Maßstäbe in der Wissenschaft zum Tragen kommen, hängt dabei von der jeweiligen Disziplin und ihrem Selbstverständnis ab, es gibt also nicht so etwas wie die Ästhetik der Wissenschaft. Die Anerkennung dieser Vielfalt von ästhetischen Gesichtspunkten quer durch die Disziplinen ist freilich eine Sache; ihre wissenschaftstheoretische Durchdringung eine andere. McAllister unterscheidet in seiner Analyse vier Eigenschaften, die bei der ästhetischen Bewertung von Theorien eine wesentliche Rolle spielen. Es sind dies die Formen der Symmetrie, die Verwendung von Modellen, die Verwendung von Visualisierungen und die Bedeutung der Metaphysik (vgl. McAllister 1996, Kap. 3). Gehen wir kurz auf den Inhalt dieser Eigenschaften ein. Als Symmetrie bezeichnet man allgemein die Invarianz eines Objekts gegenüber bestimmten Transformationen, die an ihm vorgenommen werden (vgl. Tarassow 1999, 17). In der neueren Wissenschaftstheorie hat vor allem Bas van Fraassen auf die grundlegende Bedeutung von Symmetrien für die moderne Wissenschaft hingewiesen (vgl. van Fraassen 1989). Dass Symmetrien ein ästhetisches Bedürfnis befriedigen, leuchtet unmittelbar ein. Allerdings ist damit noch nicht gesagt, dass es immer die Symmetrie und nicht manchmal gerade die Asymmetrie ist, die als ästhetisch ansprechend empfunden wird. Während eine formalistische Ästhetik die Symmetrie auszeichnen mag, wird eine romantische Ästhetik gerade die Asymmetrie bevorzugen. Das folgende Zitat macht das sehr anschaulich: »Auf der einen Seite kann das Betrachten ebenmäßiger, harmonisch proportionierter, sich regelmäßig wiederholender Teile eines symmetrischen Gebildes ein Gefühl der Ruhe, Ordnung und Beständigkeit hervorrufen. Und deshalb wird ein solches Gebilde als schön empfunden; umso mehr, wenn seine Symmetrie auch der Zweckmäßigkeit dient. […] Andererseits ist bekannt, dass die Symmetrie auch negative Emotionen hervorrufen kann. So machen die vielen Neubauviertel, die immer wieder aus den gleichen symmetrischen Häuserblöcken bestehen, einen langweiligen, eintönigen Eindruck. Im Gegensatz dazu können die Abweichungen von der Symmetrie zum Beispiel in der Malerei und Bildhauerei ein Gefühl von Freiheit und Ungezwungenheit auf kommen lassen und dem Kunstwerk dadurch seine Einmaligkeit verleihen. Niemand wird wohl eine blühende Frühlingswiese mit üppigen und ganz und gar nicht symmetrischen Farbmustern als hässlich empfi nden. Auch ist es schwer zu glauben, dass ein akkurat gemähter Rasen oder ein gestutzter Baum schöner aussehen soll als eine Waldlichtung oder eine Eiche auf dem Feld. […] Symmetrie und Asymmetrie gehören zusammen, aber nicht auf die Weise, dass es sich bei einer bestimmten Blume oder einem Lebewesen einfach um diese oder

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jene Störungen der Symmetrie handelt. Das Symmetrie-Asymmetrie-Problem liegt viel tiefer. Man kann sagen, dass die Symmetrie das Gemeinsame verschiedener Objekte und Erscheinungen ausdrückt, dass sie mit der Struktur zusammenhängt, die den Dingen zugrunde liegt. Die Asymmetrie dagegen ist Ausdruck der Individualität, sie hängt mit der Verkörperung der Struktur in diesem oder jenem konkreten Objekt zusammen.« (Tarassow 1999, 19 – Hervorhebungen im Original) Folgt man dieser Erklärung, dann sollte man vermutlich auch in der Wirtschaftswissenschaft überall dort eine Präferenz für Symmetrien erwarten, wo der Aspekt des Gleichförmigen im Mittelpunkt der Betrachtung steht, während Asymmetrien dort zu erwarten sind, wo der Aspekt des Lebendigen und der Entwicklung das Erklärungsinteresse dominiert. Was die Verwendung von Modellen betriff t, so ist vor allem an den französischen Physiker und Wissenschaftstheoretiker Pierre Duhem zu erinnern, der zwischen einem ›englischen‹ und einem ›französischen Stil‹ in der Physik unterschieden hat: während er den ›englischen Stil‹ durch eine Neigung zur Veranschaulichung und die Verwendung von Modellen gekennzeichnet sah, charakterisierte er den ›französischen Stil‹ durch eine Neigung zur abstrakten und verallgemeinerten Darstellung (vgl. Duhem 1998, 79 ff. sowie McAllister 1996, 51 ff.). Interessanterweise gibt es zu dieser methodisch-stilistischen Unterscheidung Duhems eine Entsprechung in der Wirtschaftswissenschaft des 20. Jahrhunderts. Auch hier hat sich der, wenn man so will, ›englische Stil‹ von Alfred Marshall und John M. Keynes in einer eher anschaulichen Argumentationsweise artikuliert, während sich der ›französische Stil‹ von Léon Walras und Gerard Debreu in einer bevorzugten Verwendung abstrakter mathematischer Modelle – allerdings nicht in einem generellen Verzicht auf graphische Darstellungsmethoden – manifestiert hat. Dazu werde ich weiter unten noch mehr sagen. Mit den Modellen eng verbunden ist die Verwendung von Visualisierungen, auf deren offensichtlich ästhetische Aspekte hier nicht separat eingegangen werden soll. Und schließlich spielt auch die Metaphysik, vor deren Hintergrund die jeweilige Theorie formuliert wird, eine wichtige Rolle. Das hat besonders deutlich Nancy Cartwright thematisiert. Sie hat zwei grundlegend verschiedene Ansätze identifiziert, vor deren Hintergrund nach ihrer Ansicht überhaupt erst die Entscheidung für oder gegen eine bestimmte Forschungsstrategie erfolgt, die dann ihrerseits zur Akzeptierung oder Ablehnung bestimmter empirischer Theorien führt. Während sich die einen von einem Bild angezogen fühlen, in dem, metaphorisch gesprochen, Gott zuerst die fundamentalen Gesetze der Physik festgelegt hat, um dann aus ihnen die konkreten Erscheinungen der übrigen Gegenstandsbereiche hervorgehen zu lassen, sind die anderen eher von einem Bild geleitet, in dem Gott für jeden dieser Gegenstandsbereiche eigene Gesetze festgelegt hat, die sich nicht auf die Gesetze der Physik zurückführen lassen (vgl. Cartwright 1999, 33). Cartwright selbst votiert für das zweite Bild, das nicht zuletzt den Vereinheitlichungsbestrebungen der Elementarteilchenphysiker engere Grenzen setzen will. Dabei sieht sie

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offensichtlich die grundlegende Entscheidung für oder gegen eine bestimmte Metaphysik wesentlich durch ästhetische Motive geleitet. Das wird deutlich, wenn sie Philip Allports Bemerkungen über die Erhabenheit von Poppers Vision einer vereinheitlichten Theorie zitiert und dagegen Gerard Manley Hopkins’ Verse über die buntscheckige Schönheit stellt, denen ihre eigene Aufsatzsammlung The Dappled World den Titel verdankt (vgl. Cartwright 1999, 19). Letztlich, so scheint es, hängt alles von der metaphysischen Vision ab, der man folgt, und deren Anziehungskraft ist durch das Schönheitsideal bestimmt, dem man sich verpfl ichtet fühlt. An dieser Stelle ergibt sich allerdings die Frage, ob es wirklich vorstellbar ist, dass ästhetische Aspekte bei der Entscheidung für oder gegen eine wissenschaftliche Theorie nicht nur faktisch, sondern auch begründet eine Rolle spielen. Nun, es ist zumindest dann vorstellbar, wenn wir es mit sehr allgemeinen Theorien wie der Quantenmechanik, der Evolutionstheorie oder der allgemeinen Gleichgewichtstheorie zu tun haben. Um aus einer solch allgemeinen Theorie überhaupt empirische Aussagen zu generieren, bedarf es einer Anzahl von zusätzlichen Hilfshypothesen. Wenn dann die Summe aus allgemeiner Theorie und konkreten Hypothesen an der Erfahrung scheitert, ist zunächst nicht klar, ob die allgemeine Theorie oder eine der Hilfshypothesen zu verwerfen ist – das besagt die wohlbekannte DuhemQuine-These (vgl. Quine 1951 sowie McAllister 1996, 93). Deshalb reichen logische Konsistenz und empirische Adäquatheit allein als Kriterien der Theorienwahl nicht aus, es sind darüber hinaus pragmatische Kriterien anzuwenden, zu denen dann natürlich auch im weitesten Sinne ästhetische Kriterien zählen können. Für diese Frage mag es allerdings durchaus einen Unterschied machen, ob man sich z. B. als Realist oder als Antirealist versteht. Denn wenn man, wie van Fraassen (1980), den Bereich der theoretischen Entitäten und fundamentalen Gesetze als mehr oder weniger fi ktional, das heißt als Bereich ohne Referenz auf reale Entitäten und Prozesse auffasst, dann kann man in diesem Bereich größere Zugeständnisse an ästhetische Präferenzen machen, als wenn man auch diesen Bereich durch eine unabhängige Realität determiniert sieht. Wie auch immer man zu diesem metaphysischen Problem stehen mag, aufgrund der faktischen Unterbestimmtheit von Theorien bleibt zu jedem beliebigen Zeitpunkt ein erheblicher Spielraum für Bewertungskriterien jenseits von logischer Konsistenz und empirischer Ad äquatheit. Ohnehin sind die Kriterien der logischen Konsistenz und der empirischen Adäquatheit in der realen Wissenschaft wohl vor allem als regulative Ideen wirksam. Denn keine Theorie stimmt jemals mit allen Beobachtungen überein, also ist genau genommen jede Theorie zu jedem beliebigen Zeitpunkt vielfach empirisch falsifi ziert. Und auch die logische Konsistenz einer Theorie ist als Kriterium nur bedingt zu gebrauchen, da sie sich lediglich im Falle formalisierter Theorien eindeutig prüfen lässt – und auch hier nur im Sinne einer syntaktischen Konsistenz, deren Aussagewert dann immer noch durch mehrdeutige oder sogar widersprechende Interpretationen derselben syntaktischen Struktur relativiert werden kann. Insgesamt, so muss man deshalb die vorstehende Diskussion resümieren, bleibt für

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Realisten wie für Antirealisten auch im Rahmen der rationalen Theoriewahl genügend Spielraum, um sowohl pragmatische als auch ästhetische Gesichtspunkte in einem relevanten Ausmaß zur Geltung zu bringen.

III. Von der unsichtbaren Hand zum allgemeinen Gleichgewicht Vor dem Hintergrund dieser Überlegungen kann man im Falle der Wirtschaftswissenschaft vermuten, dass pragmatische und ästhetische Kriterien die Entscheidung für oder gegen eine bestimmte Theorie sogar im höheren Maße determinieren als logische und empirische. Denn da es diese Disziplin mit einem sehr komplexen Gegenstandsbereich zu tun hat, der sich zudem kaum eindeutig von anderen Bereichen des Sozialen abgrenzen lässt, ist es keineswegs sicher, dass die Theorien, die in diesem Bereich formuliert werden, den Standards der Wissenschaftstheorie über das wohlfeile Lippenbekenntnis hinaus genügen können. Es ist deshalb zu vermuten, dass das allgemeine Weltbild, kurz: die Metaphysik, der die einzelnen Wirtschaftswissenschaftler anhängen, ganz wesentlich zur Akzeptierung oder Verwerfung spezifi scher wirtschaftswissenschaftlicher Überzeugungen beiträgt. Joseph A. Schumpeter hat diesbezüglich von der ›präanalytischen Vision‹ gesprochen, die in der einen oder anderen Form jeder wirtschaftswissenschaftlichen Theorie zugrunde liege (vgl. Schumpeter 1965, 77 ff.). Betrachten wir die bereits erwähnte Metapher von der unsichtbaren Hand des Marktes. Sie hat ihren Ursprung bekanntlich in Adam Smiths Wohlstand der Nationen, dessen Erscheinen im Jahre 1776 für gewöhnlich als der Startpunkt der Wirtschaftswissenschaft als eigenständige Disziplin gilt. Smith führt diese Metapher in folgender Weise ein: »Wenn […] jeder einzelne soviel wie nur möglich danach trachtet, sein Kapital zur Unterstützung der einheimischen Erwerbstätigkeit einzusetzen und dadurch diese so lenkt, dass ihr Ertrag den höchsten Wertzuwachs erwarten lässt, dann bemüht sich auch jeder einzelne ganz zwangsläufig, dass das Volkseinkommen im Jahr so groß wie möglich werden wird. Tatsächlich fördert er in der Regel nicht bewusst das Allgemeinwohl, noch weiß er, wie hoch der eigene Beitrag ist. Wenn er es vorzieht, die nationale Wirtschaft anstatt die ausländische zu unterstützen, denkt er eigentlich nur an die eigene Sicherheit, und wenn er dadurch die Erwerbstätigkeit so fördert, dass ihr Ertrag den höchsten Wert erzielen kann, strebt er lediglich nach eigenem Gewinn. Und er wird in diesem wie auch in anderen Fällen von einer unsichtbaren Hand geleitet, um einen Zweck zu fördern, den zu erfüllen er in keiner Weise beabsichtigt hat. Auch für das Land selbst ist es keineswegs immer das Schlechteste, dass der einzelne ein solches Ziel nicht bewusst anstrebt, ja, gerade dadurch, dass er das eigene Interesse verfolgt, fördert er häufig das der Gesellschaft nachhaltiger, als wenn er wirklich beabsichtigt, es zu tun. Alle, die jemals vorgaben, ihre Geschäfte dienten dem Wohl der Allgemeinheit, haben meines Wissens niemals etwas Gutes getan.« (Smith 1776, 370 f.)

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Wie man sieht, ist die unsichtbare Hand bei Smith ziemlich vage formuliert, als prüf bare Hypothese im heutigen Sinne kann man sie kaum auffassen. Aber gerade ihre Vagheit und ihr latent paradoxer Charakter haben sicher einen Großteil ihres ästhetischen Appeals ausgemacht und dürften mitverantwortlich dafür sein, dass diese Metapher so enorm wirkungsmächtig geworden ist. Sie ist später in verallgemeinerter Form als die Behauptung interpretiert worden, dass der Markt trotz des Fehlens einer zentralen koordinierenden Instanz keineswegs im Chaos versinke, sondern über den Preisanpassungsmechanismus ein harmonisches Gesamtergebnis produziere, wobei dies gerade auf die eigennützigen Handlungen der einzelnen Individuen zurückzuführen sei. Damit hat die Metapher von der unsichtbaren Hand wesentlich dazu beigetragen, dass man den Markt als einen selbst regulierenden Mechanismus aufzufassen lernte, der keiner Intervention von Seiten staatlicher Instanzen bedürfe – auch wenn Smith selbst, wie man dem obigen Zitat entnehmen kann, hier deutlich vorsichtiger formulierte. Erst im Verlauf des 20. Jahrhunderts hat man das allzu optimistische Bild vom Markt als selbst regulierenden Mechanismus mit Hilfe von mathematischen Theorien zu präzisieren versucht, mit durchaus zwiespältigen Ergebnissen (vgl. Ingrao/ Israel 1990). Insbesondere die Arbeiten von Kenneth J. Arrow und Gerard Debreu verfolgten das Ziel, die Voraussetzungen zu klären, unter denen das häufig allzu unkritisch vorausgesetzte Bild von der idealen Funktionsweise des Marktes tatsächlich zutriff t (vgl. Weintraub 1983). Wie sich anhand mathematischer Modelle zeigen ließ, sind die Existenz, Stabilität und Optimalität eines allgemeinen Gleichgewichts, um die es bei der Rede von der unsichtbaren Hand ja letztlich ging, von ziemlich unrealistischen Voraussetzungen abhängig (vgl. z. B. Helmedag 1999, 58 ff.). Diese Ergebnisse haben allerdings der Attraktivität der Metapher keinen Abbruch getan. Bis heute wird gern mit der unsichtbaren Hand argumentiert. Ausgangspunkt der Präzisierungsbemühungen von Arrow und Debreu war die allgemeine Gleichgewichtstheorie, die Léon Walras erstmals im Jahre 1874 in seinen Éléments d’économie politique pure vorgestellt hatte (vgl. Walras 1874). Damit komme ich auf die oben erwähnte Unterscheidung zwischen einem ›englischen‹ und einem ›französischen Stil‹ in der Wirtschaftswissenschaft zurück. Walras’ Theorie, die sich erst seit den 1930er Jahren vor allem durch die Vermittlung von John R. Hicks auch im englischen Sprachraum durchzusetzen begann (vgl. Hicks 1946), exemplifi zierte ein bestimmtes Ideal wirtschaftswissenschaftlicher Theoriebildung. Walras formulierte das erste mathematische Totalmodell einer Wirtschaft, ein Modell, in dem die Interaktionen der einzelnen Individuen nach dem Vorbild der Physik und damit, wie er es sah, erstmals in wissenschaftlicher Weise sollten studiert werden können. Sein Ziel war eine allgemeine Erklärung der Preisbildung auf Märkten, wobei er allerdings auf die Analyse konkreter empirischer Preisbildungsprozesse verzichtete und den Mechanismus der Preisbildung stattdessen in Ana logie zur Preisbildung an der Börse erklärte. In diesem Zusammenhang führte er die Kunstfigur des Auktionators ein, der in

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seiner Theorie stellvertretend für den sehr viel schwerer zu modellierenden anonymen Preismechanismus realer Märkte stehen sollte – insofern ist die obige Behauptung, der so genannte ›französische Stil‹ verzichte auf anschauliche Modelle, zumindest für die Wirtschaftswissenschaft etwas zu relativieren. Der Auktionator ruft die Preise für die einzelnen Güter aus, damit die Marktteilnehmer die Angebots- und Nachfragemengen angeben können, die sie zu diesen Preisen planen. Da zu einem mehr oder weniger willkürlich ausgerufenen Preis die geplanten Angebots- und Nachfragemengen nur selten übereinstimmen werden, wird der Auktionator den Preis für die einzelnen Güter solange anpassen, bis die entsprechenden Angebots- und Nachfragemengen übereinstimmen. Dann erst, im allgemeinen Gleichgewicht, wird tatsächlich getauscht. Diese Darstellung einer schrittweisen Annäherung an das Gleichgewicht, von Wal ras als tâtonnement bezeichnet, ist natürlich extrem unrealistisch. In der Realität gibt es keinen solchen omnipräsenten und omnipotenten Auktionator, dort fi ndet deshalb jederzeit ein Tausch zu so genannten falschen Preisen statt, das heißt zu Preisen, die kein Gleichgewicht zwischen Angebot und Nachfrage herstellen. Trotz dieser unübersehbaren Realitätsferne hat man sich lange Zeit mit dem von Walras gezeichneten suggestiven Bild zufrieden gegeben. Noch die an Arrow und Debreu anschließenden Arbeiten unterstellten der Einfachheit halber meist solche tâtonnement-Prozesse. Da die allgemeine Gleichgewichtstheorie auch noch andere wesentliche Bestandteile realer Marktwirtschaften ausblendete, um über bloße Metaphern und Plausibilitätserwägungen hinauszukommen, geriet sie natürlich zunächst zu einer ziemlich unrealistischen Theorie. Um die Frage nach der Existenz, Optimalität, Eindeutigkeit und Stabilität von allgemeinen Gleichgewichten überhaupt mathematisch in den Griff zu bekommen, ignorierte sie zum Beispiel die Existenz von Marktunvollkommenheiten und Institutionen und unterstellte darüber hinaus ein extrem vereinfachtes Rationalitätsmodell individueller Entscheidungen, in dem beispielsweise unvollkommene Information und kognitive Beschränkungen keine Rolle spielten. Ja, sogar ein so eminent ökonomisches Element wie Geld wurde im Arrow-Debreu-Modell aus Vereinfachungsgründen weggelassen, für den Laien sicher eine schier unbegreifl iche Vereinfachung, denn was, so wird er sich fragen, soll uns eine Wirtschaftstheorie lehren, in der nicht einmal Geld vorkommt? Diese Frage scheint in der Tat berechtigt, allerdings stand hier die allgemeine Gleichgewichtstheorie und mit ihr das Arrow-Debreu-Modell in einer langen Tradition. Gehen wir dem kurz nach. Die Wirtschaftstheorie kannte schon seit längerem eine analytische Unterscheidung zwischen Wert- und Geldtheorie. Dieser Unterscheidung zufolge war der Marktmechanismus am besten zu verstehen, wenn man die beobachtbaren Transaktionen analytisch auf den geldlosen Austausch von Gütern reduzierte. Das in der Wahrnehmung des Laien so zentrale Geld hatte in dieser Sicht lediglich die Funktion, den Austausch zu erleichtern, fügte ihm aber selbst nichts Wesentliches hinzu, vielmehr lag das Geld dieser Auffassung

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zufolge lediglich wie ein Schleier über den ökonomischen Transaktionen – ebenfalls eine wirtschaftswissenschaftliche Metapher von erheblicher Tragweite. Um zu erkennen, nach welchen Gesetzmäßigkeiten diese Transaktionen abliefen, musste man der traditionellen Auff assung zufolge diesen Schleier wegziehen, also vom Geld abstrahieren, denn Güterangebot und Güternachfrage hingen dieser Auffassung zufolge allein von den relativen Preisen, das heißt von den Austauschrelationen, der einzelnen Güter ab, während die absoluten Geldpreise erst durch die Geldmenge determiniert wurden. Geld war also dieser Auffassung zufolge in dem Sinne neutral, dass eine Erhöhung oder Verringerung der Geldmenge nur die absoluten, nicht aber die relativen Preise berühren konnte. Das wirtschaftliche Geschehen ließ sich demnach zu analytischen Zwecken problemlos in einen so genannten Realteil und einen monetären Teil aufspalten, wobei die Tatsache, dass der Realteil gegenüber monetären Transformationen, das heißt gegenüber Veränderungen der Geldmenge, invariant blieb, durchaus als eine Art von Symmetriebedingung dieser Theorie verstanden werden kann. Sie vereinfachte die Analyse erheblich, freilich bezahlte man die Vereinfachung mit einer Dichotomisierung der Theorie, die langfristig als unbefriedigend angesehen werden musste – unbefriedigend nicht zuletzt unter ästhetischen Gesichtspunkten. Denn die reale Sphäre der Tauschbeziehungen wurde auf Grundlage der Hypothese der individuellen Nutzenmaximierung erklärt, während die monetäre Sphäre auf Grundlage einer ganz anders gearteten Theorie, nämlich auf Grundlage der Quantitätstheorie des Geldes, erklärt wurde. Hier regierte dann nicht die individuelle Nutzenmaximierung, sondern die so genannte Quantitätsgleichung: (1)

M·v=T·P

Diese Gleichung postuliert eine Gleichheit von Geldmenge M, multipliziert mit der Umlaufgeschwindigkeit v, auf der einen Seite, und dem Transaktionsvolumen T, multipliziert mit dem Preisniveau P auf der anderen Seite. Sie leuchtet unmittelbar ein, wenn man sich klarmacht, dass die in einer Volkswirtschaft benötigte Geldmenge zum einen davon abhängt, welches zu herrschenden Marktpreisen bewertete Transaktionsvolumen T · P in einer bestimmten Periode umgesetzt wird, zum anderen aber auch davon, wie schnell dieses Geld zirkuliert, sprich: wie hoch die Umlaufgeschwindigkeit v jeder einzelnen Geldeinheit in dieser Periode ist, da jede Geldeinheit zur Abwicklung von mehr als einer Transaktion dienen kann. Obwohl also diese Zweiteilung der Theorie zunächst einleuchten konnte, musste sie letztlich unbefriedigend erscheinen, da sie die Geldnachfrage nicht wie die Nachfrage nach anderen Gütern von rationalen Erwägungen abhängig machte, sondern von eher soziologisch zu erklärenden Gewohnheiten der Geldhaltung und institutionellen Bedingungen des Geldumlaufs. Später hat man deshalb Versuche einer Integration von Wert- und Geldtheorie auf Grundlage der Hypothese der Nutzenmaximierung unternommen. Darauf soll hier nicht weiter eingegangen werden. Die Vernachlässigung des Geldes war also keineswegs eine Eigentümlichkeit der

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allgemeinen Gleichgewichtstheorie oder des Arrow-Debreu-Modells. Dennoch bleibt zu konstatieren, dass die im Rahmen dieser Theorie erreichte Präzisierung zentraler Begriffe und Überzeugungen der Wirtschaftswissenschaft nur um den Preis einer erheblichen Verengung der Perspektive erreicht worden ist. Zwar beabsichtigte man von Anfang an, die damit verbundenen Vereinfachungen im weiteren Verlauf der Theorieentwicklung nach und nach aufzuheben und auf diese Weise zu einem realistischeren Bild von der Funktionsweise realer Marktwirtschaften zu gelangen, aber aus Sicht der Kritiker war dieses Insistieren auf mathematischer Rigorosität von vornherein verfehlt. Die daraus resultierende formale Strenge und Eleganz der Modelle der allgemeinen Gleichgewichtstheorie war nach ihrem Eindruck sehr schnell zum Selbstzweck geworden, während die eigentliche Aufgabe der Wirtschaftswissenschaft, die Analyse und Lösung realer ökonomischer Probleme, mehr und mehr aus dem Gesichtsfeld zu verschwinden drohte. Insbesondere Mark Blaug hat die allgemeine Gleichgewichtstheorie mitsamt den mathematisch ingeniösen Existenzbeweisen von Arrow und Debreu in diesem Sinne als vollkommenen Irrweg in der Entwicklung der Wirtschaftstheorie betrachtet (vgl. z. B. Blaug 1992, 169 f. sowie 1996, 570). Er schrieb hierzu: »The metamorphosis in the late 1940s and 1950s is aptly called a ›formalist revolution‹ because it was marked, not just by a preference, but by an absolute preference for the form of an economic argument over its content.« (Blaug 2003, 145) Seine Kritik entzündete sich vor allem an der Loslösung der formalen Modelle von jeglicher konkreten ökonomischen Interpretation, das heißt an einem Vorgehen, das von Debreu in einer wohlbekannten Passage durchaus offensiv gerechtfertigt worden war: »Allegiance to rigor entirely dictates the axiomatic form of the analysis where the theory, in the strict sense, is logically entirely disconnected from its inter pretations. […] Such a dichotomy reveals all the assumptions and the logical structure of the analysis. It also makes possible immediate extensions of that analysis without modi fication of the theory by simple reinterpretations of concepts […].« (Debreu 1959, x) Nach Ansicht von Blaug resultierte diese Art von wirtschaftswissenschaftlicher Methodologie jedoch in einer übermäßig ästhetisierten, aber empirisch nutzlosen Theorie. Debreu selbst sah dagegen in der ästhetischen Gestalt der Theorie weder einen Selbstzweck noch eine Sackgasse, sondern vielmehr ein Mittel zur Erhöhung ihrer Leistungsfähigkeit, wie man den folgenden Ausführungen entnehmen kann: »Rigor undoubtedly fulfi lls an intellectual need of many contemporary economic theorists, who therefore seek it for its own sake, but it is also an attribute of a theory that is an effective thinking tool. Two other major attributes of an effective theory are simplicity and generality. Again, their aesthetic appeal suffices to make them desirable ends in themselves for the designer of a theory. But their value to the scientific community goes far beyond aesthetics. Simplicity makes a theory usable by a great number of research workers. Generality makes it applicable to a broad class of problems.« (Debreu 1984, 275) Allerdings ist gerade Debreus eigene Darstellung der allgemeinen Gleichge-

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wichtstheorie beinahe gebetsmühlenartig vor allem wegen ihrer Eleganz gerühmt worden. So hat die Schwedische Akademie die Verleihung des Nobelpreises im Jahre 1983 unter anderem so begründet: »His book, Theory of Value, from the late 1950s has already become a classic both for its universality and for its elegant analytical approach. The theory developed in this study lends itself to many farreaching interpretations and applications. The concept of »goods«, for instance, is defi ned so broadly that the theory may be used in pure static equilibrium analysis, the analysis of the spatial distribution of production and consumption activities, intertemporal analysis and the analysis of uncertainty. Thus, within the same model, Debreu’s general equilibrium theory integrates the theory of location, the theory of capital, and the theory of economic behaviour under uncertainty.« (http: //nobelprize.org/economics/laureates/1983/press.html) Als elegant sind hier vor allem die ontologische Sparsamkeit sowie die effi ziente Beweisführung mit Hilfe von Fixpunktsätzen empfunden worden, wobei vor allem dem erstgenannten Aspekt neben der rein ästhetischen Qualität auch die Vereinheitlichungskraft der Theorie zugesprochen wird. Und auch die Universität Berkeley hat in einer Kurzcharakterisierung ihrer Nobelpreistradition die Eleganz von Debreus Arbeiten besonders hervorgehoben, hat ihnen allerdings darüber hinaus auch besondere Meriten bei der Klärung der Funktionsbedingungen der unsichtbaren Hand zuerkannt: »Economist Gerard Debreu’s elegant mathematical models provided the theoretical structure to explain the law of supply and demand. Through the work of Debreu and others, the conditions of the ›invisible hand‹ in the marketplace were clarified.« (http://www.berkeley.edu/news/berkeleyan/ 2001/10/17_time.html) Wie man sieht, geht die Würdigung der Eleganz der Theorie hier stets mit der Zuschreibung von zusätzlichen Qualitäten einher – letztlich geht es hier vor allem um die logische Konsistenz der Theorie und um die Rigorosität der Schlüsse, die man aus ihr ziehen kann. Insofern scheint der Vorwurf, hier gehe es allein um ästhetische Qualitäten, nicht gerechtfertigt, auch wenn der logischen Konsistenz und Rigorosität der Argumente in den Augen der allgemeinen Gleichgewichtstheoretiker über ihre Funktionalität hinaus durchaus etwas Schönes – im Sinne einer formalistischen Ästhetik – anzuhaften scheint. Was daran als schön empfunden werden kann, hat John Roemer in seiner Charakterisierung der axiomatischen Methodologie der formalistischen Tradition besonders klar auf den Punkt gebracht: »The modern economist has been trained to take an interesting question and squeeze it as quickly as possible into a formal model. Axioms summarize certain primitive relationships among the terms which defi ne the model, and knowledge comes from inferring conclusions from these axioms that do not obviously follow from them. The economist’s main interest is in the inference procedure, her aesthetic sense most satisfied by a brilliant proof or a demonstration that a certain strong conclusion surprisingly follows from a set of apparently weak axioms.« (Roemer 1996, 2)

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Eher untypisch für einen Wirtschaftswissenschaftler hat Roemer die Bedeutung der Ästhetik hier offen ausgesprochen, aber deshalb nicht auch gleich ihre Berechtigung in Zweifel gezogen. Grundsätzlich ist gegen die von Roemer beschriebene Strategie wohl auch in der Tat nichts zu sagen. Dass aus möglichst schwachen Axiomen möglichst starke Aussagen gewonnen werden, heißt ja nichts anderes, als dass man auf Grundlage möglichst allgemeiner Voraussetzungen möglichst interessante und weit reichende Aussagen gewinnen will. Wenn die von Roemer beschriebene Strategie aufgeht, zwingt die Zustimmung zu beinahe selbstverständlichen Axiomen zur Akzeptierung von keineswegs selbstverständlichen Schlussfolgerungen. Als ästhetisch wird eine solche Strategie wohl vor allem deshalb empfunden, weil sie so unwiderstehlich ist. Ein brillantes und damit ästhetisch befriedigendes Argument ist wie ein eleganter Fechtstoß: er wirkt dann elegant, wenn er den Gegner so transparent wie möglich auf ebenso mühelose wie unausweichliche Weise triff t und entwaff net. Die Wirkung eines solchen Stoßes verpuff t allerdings, wenn er an einer vergleichsweise unwichtigen Stelle trifft. Dies ist in der Tat der Vorwurf, den die Kritiker der allgemeinen Gleichgewichtstheorie erheben. Nach ihrer Auffassung hat man insbesondere bei der Ausarbeitung des eleganten Arrow-Debreu-Modells ein vergleichsweise unwichtiges Problem mit unangemessen hohem Aufwand ver folgt. Letztlich lebt diese Art von abstrakter Theoriebildung in der Tat von der Hoffnung, die Theorie schrittweise an die Realität annähern zu können, andernfalls kann man mit Recht die Frage stellen, welchen Beitrag diese Analyse zum Verständnis realer Wirtschaftssysteme leisten soll. Dies war in der Tat seit der Entwicklung des Arrow-Debreu-Modells das erklärte Ziel gewesen (vgl. Koopmans 1957b, 142 ff.). Allerdings scheint sich der Formalismus des Arrow-Debreu- Modells nicht ohne Schwierigkeiten an die ökonomische Realität annähern zu lassen. Versucht man etwa das Geld in die Theorie zu integrieren, so gerät man schnell in erhebliche Probleme, und die Erweiterung des Modell um zusätzliche Elemente der Realität führt leicht zum Verlust der einfachen und eleganten Struktur, wie die Herausgeber des Handbook of Monetary Economics, dessen Beiträge von der allgemeinen Gleichgewichtstheorie ausgehen, mit offensichtlichem Bedauern feststellen: »Monetary theory cannot proceed in the elegant manner of Arrow and Debreu, which collapses the future into the present, nor can it ignore the actual process of exchange. These are the facts of the situation, and they have the consequence of launching the monetary economist on journeys where no generally agreed upon axiomatic guideposts are available. This in turn has two further consequences: the assumptions that monetary economists make often attempt to encapsulate empirical regularities rather than axioms, and the subsequent theorizing has not often attained the defi niteness one would like.« (Friedman/Hahn 1990, xii) Hier wird einmal mehr die Eleganz des Arrow-Debreu-Modells hervorgehoben und gegen die umständlichere und stärker an empirischen Gegebenheiten orientierte Vorgehensweise der Geldtheorie abgegrenzt.

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Interessant ist allerdings, wie das Zitat die Legitimationslasten verteilt. Während die allgemeine Gleichgewichtstheorie und das Arrow-Debreu-Modell aufgrund ihres abstrakten Charakters gegenüber den empirisch orientierten Kritikern zunehmend in eine Legitimationskrise zu geraten schienen, mussten sich offenbar die Versuche, die Theorie näher an die Wirklichkeit heranzubringen, ihrerseits gegenüber dem Arrow-Debreu-Modell legitimieren. Wenn dieser Eindruck richtig ist, könnte man in der Tat befürchten, dass die formale Eleganz des ArrowDebreu-Modells zu einem Hindernis für die Entwicklung einer realitätsnäheren Wirtschaftstheorie werden könnte. Ist also McAllisters Vermutung, dass ästhetische Gesichtspunkte den wissenschaftlichen Fortschritt verzögern können, im Falle der allgemeinen Gleichgewichtstheorie und insbesondere des Arrow-Debreu-Modells als bestätigt anzusehen? Die Kritiker würden das natürlich bejahen. Für einen anwendungsorientierten Wirtschaftswissenschaftler wie Heiner Flassbeck ist die auf Walras zurückgehende Theorie an »Trivialität […] im Grunde nicht zu überbieten« (Flassbeck 2004, 1072). Dass sie sich dennoch durchgesetzt hat, ist nach seiner Ansicht nur so zu erklären: »Die Vorstellung, ein anonymes Marktgeschehen könnte auf die harmonischste Weise alle wirtschaftlichen Probleme lösen, könnte all die Verteilungskämpfe und Auseinandersetzungen um Einkommen und Arbeitsplätze aus der Welt schaffen oder doch zumindest entpolitisieren, war zu attraktiv, als dass sich die Volkswirtschaftslehre diesem Gedanken hätte entziehen können.« (Ebd., 1073) Auch hier wird also die Ästhetik der Theorie für ihren Erfolg verantwortlich gemacht – die ästhetische Attraktivität der Theorie macht sie auch politisch attraktiv und sorgt so für ihre wissenschaftliche Akzeptanz. Für Kritiker wie Flassbeck ist das nicht weniger als eine Bankrotterklärung der Wirtschaftswissenschaft als ursprünglich anwendungsorientierte Disziplin. Sicher sind Kritiken dieser Art unter empirischen Gesichtspunkten nicht vollkommen von der Hand zu weisen. Was ihnen allerdings entgeht, ist der Beitrag, den eine solche Theorie gerade aufgrund ihrer Allgemeinheit zum Verstehen wirtschaftlichen Geschehens leisten mag. Auf die Bedeutung dieses Gesichtspunkts hat kürzlich Peter Kosso hingewiesen: »Criteria for choosing theories should consider more than epistemic justification in the sense of indications that a theory is true; they should cover as well the factors that indicate a theory contributes to our understanding of the world. This too is a kind of justification, reason to think the theory is important, and not just an idle fact.« (Kosso 2002, 40) Eine Theorie, die in sich kohärent und einheitlich ist, erscheint dieser Auffassung zufolge nicht nur ästhetisch attraktiver, sondern trägt auch mehr zum Verständnis eines Phänomenbereichs bei als eine empirisch noch so akkurate Theorie, der es gerade aufgrund ihrer Genauigkeit im Detail nicht mehr gelingt, ein kohärentes Gesamtbild dieses Bereichs zu entwerfen. Nur wenn es eine alternative Theorie gibt, die empirisch besser funktioniert und zugleich einen ebenso guten Beitrag zum Verstehen wirtschaftlicher Vorgänge leistet, wird man sich also der

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Kritik am formalistischen Stil der allgemeinen Gleichgewichtstheorie vorbehaltlos anschließen können. Betrachten wir also die nach Ansicht der Kritiker aussichtsreichste Alternative.

IV. Die Keynessche Makroökonomik als Gegenentwurf? Während die allgemeine Gleichgewichtstheorie in der soeben skizzierten Weise ausgearbeitet und verfeinert worden ist und sich dabei nach Auff assung ihrer Kritiker in die Sackgasse einer ästhetisch ansprechenden, aber empirisch irrelevanten Theorie manövrierte, hatte sich bereits in den 1930er Jahren eine alternative Methodologie herausgebildet, die sehr viel weniger Wert auf die logische Konsistenz des begriffl ichen Grundgerüsts legte und stattdessen in einer eher hemdsärmeligen Weise unmittelbar an empirische Probleme anzuknüpfen suchte. Die Rede ist von der empirischen Makroökonomik, deren Entstehung in der Regel der 1936 von John M. Keynes veröffentlichten General Theory of Employment, Interest, and Money zugeschrieben wird (vgl. Keynes 1973). Die makroökonomische Methodologie exemplifi zierte in dem weiter vorn erwähnten ›englischen Stil‹ nicht zuletzt auch eine andere Wissenschaftsästhetik und ist von vielen als Alternative zur mikroökonomischen Methodologie der allgemeinen Gleichgewichtstheorie aufgefasst worden. Die General Theory und mit ihr die moderne Makroökonomik entstanden nicht zuletzt als Reaktion auf die Weltwirtschaftskrise der 1920er Jahre und die dabei scheinbar zu Tage tretende Unfähigkeit der neoklassischen Orthodoxie, auf diese Krise eine wirtschaftspolitische Antwort zu fi nden, die nicht nur die Selbstheilungskräfte des Marktes beschwor. Der Zweck der General Theory bestand darin, die deshalb weitgehend ad hoc durchgeführten Maßnahmen zur Überwindung der Weltwirtschaftskrise mit einer theoretischen Fundierung zu versehen. Sie entstand also nicht als Ergebnis der Suche nach einer allgemeinen Wirtschaftstheorie, sondern als theoretische Antwort auf ein konkretes Anwendungsproblem (vgl. Köllmann 2004). Man kann den methodologischen Unterschied zwischen den beiden Konkurrenzprogrammen auch so ausdrücken: Während das Forschungsprogramm von Walras und Debreu als Beispiel für einen top-down-approach aufgefasst werden kann, in dem zuerst die fundamentalen Gesetze des Wirtschaftens niedergelegt werden müssen, bevor man sich dann in einem Prozess der schrittweisen Konkretisierung der auf diese Weise gewonnenen theoretischen Struktur an die komplexe wirtschaftliche Realität herantasten kann, ist das von Keynes initiierte makroökonomische Forschungsprogramm eher als Beispiel für einen bottom-up-approach zu charakterisieren, in dem mehr oder weniger ad hoc einige empirische Regularitäten zusammen gesucht werden, um diese dann zu einem, wenn nötig, eher grobschlächtigen System zusammenzufügen.

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Dass allerdings trotz der häufig betonten Anwendungsorientierung der Keynesschen Theorie auch bei ihr durchaus ästhetische Aspekte eine Rolle spielten, hat insbesondere Paul A. Samuelson in seinem berühmten Nachruf auf Keynes hervorgehoben – nur handelte sich dabei um eine vollkommen andere Ästhetik. Samuelson schreibt in einer häufig zitierten Passage selbst mit spürbarer Lust an paradoxen Formulierungen: »Herein lies the secret of the General Theory. It is a badly written book, poorly organized; any layman who, beguiled by the author’s previous reputation, bought the book was cheated of his 5 shillings. […] It abounds in mares’ nests and confusions: involuntary unemployment, wage units, the equality of savings and investment, the timing of the multiplier, interactions of marginal efficiency upon the rate of interest, forced savings, own rates of interest, and many others. In it the Keynesian system stands out indistinctly, as if the author were hardly aware of its existence or cognizant of its properties; and certainly he is at his worst when expounding its relations to its predecessors. Flashes of insight and intuition intersperse tedious algebra. An awkward defi nition suddenly gives way to an unforgettable cadenza. When it fi nally is mastered, we fi nd its analysis to be obvious and at the same time new. In short, it is a work of genius. It is not unlikely that future historians of economic thought will conclude that the very obscurity and polemical character of the General Theory ultimately served to max imize its long-run influence.« (Samuelson 1946, 190) Samuelson geht im weiteren Verlauf sogar so weit, die General Theory mit Finnegan’s Wake, dem Spätwerk von James Joyce, zu vergleichen, nach seiner Ansicht sind beide Texte für den unbedarften Leser kaum zugänglich (vgl. Samuelson 1946, 191). Auch wenn das ein wenig übertrieben klingt, es lässt sich nicht leugnen, dass die General Theory auch für geübte Leser ziemlich harte Kost darstellte. Methodisch war sie eher uneinheitlich, würfelte ziemlich unbedenklich ein paar allgemein gehaltene Gleichungen ohne einheitliche theoretische Fundierung zusammen und zimmerte daraus ein in der Tat eher grobschlächtiges theoretisches System zusammen, dessen Struktur und Inhalt den Zeitgenossen nicht immer ganz durchsichtig wurden. Erst die Interpretationen durch John R. Hicks und andere haben dieses theoretische System für die wirtschaftstheoretische Diskussion und die wirtschaftspolitische Anwendung fruchtbar gemacht (vgl. die Beiträge in Barens / Caspari 1994). Dass die Gleichungen der General Theory nicht aus einem einheitlichen theoretischen Gesichtspunkt wie dem Postulat der individuellen Nutzenmaximierung abgeleitet worden sind, haben viele neoklassisch geprägte Wirtschaftswissenschaftler als einen Mangel empfunden. Sie haben deshalb sehr schnell die Aussagen von Keynes in die Sprache der allgemeinen Gleichgewichtstheorie zu übersetzen versucht. Auf diese Kritik an der mangelnden begrifflichen Stringenz der Keynesschen Theorie könnte man entgegnen wollen, dass eben an die Stelle des Kriteriums der Vereinbarkeit mit den Postulaten der neoklassischen Orthodoxie das Kriterium der Vereinbarkeit mit den empirischen Beobachtungen getreten sei, aber ein solcher

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Anspruch ist zumindest in der Anfangszeit mehr Rhetorik als Wirklichkeit gewesen. Die von Keynes ins Zentrum seines theoretischen Systems gestellten Gleichungen sind keineswegs in besonders engem Kontakt mit empirischen Beobachtungen entwickelt worden. Es handelte sich bei ihnen um eine ziemlich bunt gescheckte Mischung aus neoklassischen Postulaten – denn Keynes war ja durchaus neoklassisch geprägt – und ad hoc postulierten ›psychologischen Gesetzen‹ über das Konsum- und Investitionsverhalten sowie die Geldnachfrage, die zusammengenommen nur undeutlich die Umrisse einer neuen Theorie erkennen ließen. Zudem ließ Keynes durchaus eine gewisse Neigung für paradoxe Behauptungen erkennen – am stärksten erkennbar in der Behauptung, es könne so etwas wie ein Gleichgewicht mit Unterbeschäftigung geben. So etwas ist im Rahmen der allgemeinen Gleichgewichtstheorie einfach unmöglich, denn es scheint zu bedeuten, dass in einer Ökonomie alle Märkte mit Ausnahme des Arbeitsmarktes im Gleichgewicht sind. Das wäre nur denkbar, sofern man unter ›Gleichgewicht‹ einfach einen Ruhezustand versteht. Dann sollte es durchaus möglich sein, dass eine Ökonomie in einem Ruhezustand verharrt, während gleichzeitig viele Menschen arbeitslos sind – die Weltwirtschaftskrise hatte dies ja gerade erst vorgeführt. Aber der Gleichgewichtsbegriff ist notorisch mehrdeutig. In der Wirtschaftstheorie meint man damit meist vor allem den Ausgleich von Angebot und Nachfrage. Verwendet man jedoch den Gleichgewichtsbegriff in dieser Bedeutung, dann ist es aus logischen Gründen unmöglich, dass nur der Arbeitsmarkt im Ungleichgewicht ist, denn wie das später von Oskar Lange formulierte so genannte ›Gesetz von Walras‹ zeigt, muss, wenn von n Märkten n – 1 im Gleichgewicht sind, auch der n-te Markt im Gleichgewicht sein (vgl. Lange 1942 sowie Patinkin 1987). Von einem allgemeinen Gleichgewicht mit Unterbeschäftigung zu sprechen, hat deshalb etwas Widersprüchliches an sich – eine Widersprüchlichkeit, die Keynes, wie Samuelsons Zeugnis glaubwürdig macht, möglicherweise bewusst forciert hat. Zwar konnte Keynes die von Lange gelieferte Explikation des ›Gesetzes von Walras‹ bei der Abfassung der General Theory noch nicht kennen, aber das macht die Notwendigkeit einer solchen begriffl ichen Explikation umso deutlicher. Nicht zuletzt zur Auf klärung solcher begriffl icher Unklarheiten ist die Keynessche Theorie in den folgenden Jahren sowohl mit Hilfe von mathematischen Modellen als auch mit Hilfe von graphischen Darstellungsmitteln expliziert und zugleich in das etablierte neoklassische Begriff ssystem integriert worden. Der Keynesianismus der Nachkriegszeit ist deshalb mit Recht vielfach auch als ›neoklassische Synthese‹ bezeichnet worden. Dabei ermöglichte insbesondere die Übersetzung der Theorie in mathematische Modelle ihre Konfrontation mit den zu dieser Zeit von Simon Kuznets, dem ›Tycho Brahe der Wirtschaftswissenschaft‹ (Boulding 1991, 15), erstmals systematisch gesammelten Daten der volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung und ihre prognostische Anwendung mit Hilfe ökonometrischer Techniken, die ebenfalls zu dieser Zeit systematisch entwickelt wurden (vgl. Morgan 1990). Den dennoch verbleibenden methodologischen Unterschied

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zwischen der mikroökonomischen allgemeinen Gleichgewichtstheorie und der keynesianisch inspirierten Makroökonomik hat Milton Friedman in seiner Rezension der englischen Übersetzung von Walras’ Éléments sehr anschaulich umrissen – dort charakterisierte er die walrasianische Methodologie wie folgt: »One fi rst constructs a pure theory, somehow on purely formal considerations without introducing any empirical content; one then turns to the ›real‹ world, fi lls in the empty boxes, assigns numerical values to constants and neglects ›second-order‹ effects at this stage. «(Friedman 1955, 905) Sein Urteil über diese Art von Methodologie war unmissverständlich: »As I have argued extensively elsewhere […], this seems to me a basically false view.« (ebd.) Nach Friedmans Auffassung bestand die richtige, d. h. die unter empiristischen Gesichtspunkten wissenschaftliche Methodologie darin, von Anfang an konkrete Hypothesen für konkrete Erklärungs- oder Prognosezwecke zu formulieren, ohne Rücksicht auf ihre Integrierbarkeit in eine allgemeine und umfassende Theorie der Wirtschaft nehmen zu müssen. Diese Methodologie scheint den wissenschaftsphilosophischen Ausführungen von Nancy Cartwright recht nahe zu kommen. Allerdings hinderte ihn diese methodologische Einstellung nicht daran, auch die Vorzüge von Walras’ Forschungsprogramm und einmal mehr auch seine ästhetischen Qualitäten zu würdigen. In derselben Rezension heisst es an anderer Stelle: »This is Walras’ great contribution. His general equilibrium system gives a bird’seye view of the economic system as a whole, which has not only an extraordinary aesthetic appeal as a beautifully articulated abstraction but also a utilitarian appeal as providing relevant, meaningful, and mutually exhaustive categories. […] This classificatory scheme is developed in considerable detail, with extraordinary skill and ingenuity, great attention being devoted to showing, or attempting to show, that it is internally consistent and exhaustive (i.e., that the system of equations has a solution that tends to be attained and maintained by the operation of market forces).« (Friedman 1955, 906) Da ich die Geschichte der Makroökonomik an dieser Stelle nicht ausführlicher darstellen kann, muss hier die weitere Entwicklung gestraff t werden. Die an der keynesianischen Methodologie orientierten Modelle der Makroökonomik, die gegenüber den formalistisch ausgerichteten Modellen der allgemeinen Gleichgewichtstheorie ein strikt empirisch orientiertes Programm zu verfolgen schienen, verloren unter anderem gerade durch ihr prognostisches Versagen zu Beginn der 1970er Jahre auch bei ihren Anhängern erheblich an Renommee. Eine Konsequenz dieses Niedergangs war die Erneuerung neoklassischer Ideen in Gestalt des von Friedman initiierten Monetarismus und schließlich der Aufstieg der Theorie der rationalen Erwartungen von Robert E. Lucas, Thomas J. Sargent und anderen, in deren Rahmen die allgemeine Gleichgewichtstheorie und das mit ihr verbundene Bild einer sich selbst regulierenden Marktwirtschaft endgültig zum Referenzmodell auch für die makroökonomische Theoriebildung wurden – für die Kritiker der »Höhepunkt […] diese[r] Art der unwissenschaftlichen Selbstbeweihräuche-

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rung […]« (Flassbeck 2004, 1075). Auch für den Durchbruch dieser Theorie scheinen ästhetische Motive eine Rolle gespielt zu haben, folgt man der Einschätzung von Sargent, immerhin einem ihrer bedeutendsten Protagonisten: »The victory of rational expectations owes to its beauty and its utility: the economy with which it eliminates what we had thought were free variables – peoples’ expectations about endogenous variables – while adding no free parameters, but bringing instead cross-equation and cross-frequency restrictions.« (Sargent 1996, 542) Sargent selbst war in seiner Arbeit, wie Esther-Mirjam Sent in ihrer durchaus kritischen Studie über die Entwicklung seiner Auffassungen gezeigt hat, vor allem vom Bestreben um begriffliche Integrität geleitet. Damit ist in diesem Zusammenhang vor allem die methodische Vereinheitlichung von Wirtschaftstheorie und Ökonometrie gemeint (vgl. Sent 1998, 15). Das Problem, das Sargent zu lösen suchte, ergab sich daraus, dass die keynesianisch geprägte Makroökonomik zwar in der theoretischen Analyse der Konsum- und Investitionsentscheidungen rationale, das heißt nutzenmaximierende, Individuen unterstellte, aber bei der ökonometrischen Anwendung des daraus abgeleiteten Systems die hierfür relevante Erwartungsbildung dieser Individuen keineswegs nach denselben Rationalitätsvorstellungen modellierte, sondern ihnen der Einfachheit halber adaptive Erwartungen unterstellte. Dass eine solche Inkonsistenz zur Auflösung drängt, dürfte einleuchten, auch wenn man mit der von Lucas, Sargent und ihren Mitstreitern vorgeschlagenen Lösung nicht übereinstimmen muss. Die von Sargent empfundene Schönheit dieses Ansatzes basierte auf mehr als nur auf subjektiven Geschmacksurteilen, sie hat etwas mit begriffl icher Konsistenz zu tun. Nachdem die eher von empirischen Gesichtspunkten angetriebene keynesianische Makroökonomik schließlich nach ihren eigenen Maßstäben zu versagen schien, ist es kaum verwunderlich, dass danach das Pendel erst einmal wieder in die andere Richtung ausschlug und eine Rückbesinnung auf die Stärken der allgemeinen Gleichgewichtstheorie einsetzte, und es ist auch keineswegs klar, dass diese Entwicklung als ein Rückschritt aufzufassen ist, wie die Kritiker meinen. Der Erkenntnisfortschritt wird nicht allein von empirischen, sondern auch von begriffl ichen Problemen und Lösungsvorschlägen angetrieben (vgl. Laudan 1977, 50), und in dieser Hinsicht hatte die Methodologie der allgemeinen Gleichgewichtstheorie offensichtlich zu diesem Zeitpunkt mehr zu bieten. Was von den Kritikern dieser Methodologie als Fixierung auf ästhetische Qualitäten betrachtet wurde, kann nun genauer als Bemühen um begriffl iche Konsistenz und Transparenz charakterisiert werden. Ein solches Bemühen kann zwar in der Tat im Einzelfall die Form eines artifi ziellen Ästhetizismus annehmen. Es kann jedoch, wie die Integration der Keynesschen Ideen in das Begriff ssystem der allgemeinen Gleichgewichtstheorie gezeigt hat, auch zum Verständnis stärker empirisch orientierter Theorien beitragen. So ist beispielsweise die von Edmond Malinvaud im Rahmen der allgemeinen Gleichgewichtstheorie durchgeführte Explikation und Erklärung verschiedener Ursachen von Arbeitslosigkeit zu bewerten (vgl.

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Malinvaud 1977), die selbst als ein Beitrag zum Keynesianismus intendiert war und keineswegs das unkritische Bild von der Omnipotenz der unsichtbaren Hand wiederbeleben sollte. 5. Resümee Das Thema dieses Aufsatzes war die Ästhetik der Wirtschaftswissenschaft, aber weil es die Wirtschaftswissenschaft als einen monolithischen Block anerkannter Theorien und Methoden nicht gibt, entwickelte sich der Aufsatz zu einer Diskussion zweier konkurrierender Forschungsprogramme und ihrer alternativen ästhetischen Maßstäbe. Die Hauptthese lautete, dass die Bewertung dieser Forschungsprogramme nicht allein nach den üblichen Standardkriterien erfolgt, sondern dass dabei immer auch pragmatische und insbesondere ästhetische Gesichtspunkte eine Rolle spielen und dass deshalb auch die Konkurrenz zwischen diesen beiden Forschungsprogrammen auch auf ästhetischem Feld ausgetragen wird. Das bedeutet, dass die Bewertung dieser Programme nicht allein nach objektiven Maßstäben verläuft, wie sich das die Standardauffassung der Wissenschaftstheorie einmal vorgestellt hatte. Insbesondere steht bei der Bewertung einer Theorie nicht allein ihre Prognosefähigkeit, sondern auch ihre Erklärungskraft auf dem Prüfstand, und die hängt, wie man spätestens seit den Arbeiten von Michael Friedman und Philip Kitcher weiß, nicht allein von der empirischen Adäquatheit, sondern auch von der Vereinheitlichungskraft der jeweiligen Theorie ab (vgl. Friedman 1974, Kitcher 1981). Hier liegt die Stärke der allgemeinen Gleichgewichtstheorie. Sie integriert verschiedene Bereiche des Wirtschaftslebens in einen einheitlichen begrifflichen Rahmen und trägt damit zum Verstehen sowohl des Gesamtsystems als auch der jeweiligen Teiltheorien bei. Um diese Integration zu erreichen, muss sie allerdings mitunter zu Idealisierungen greifen, die nach Ansicht ihrer Kritiker ihren Erklärungswert weitgehend reduzieren. Aber eine Erklärung ist nicht unbedingt dann besonders gut, wenn sie besonders detailgetreu ist. Es geht ja bei der Wahl einer wissenschaftlichen Theorie nicht darum, die eine Theorie für jeden Zweck zu fi nden, sondern vielmehr darum, für jeden Zweck jeweils die theoretische Beschreibung zu fi nden, die das richtige Maß an begriffl icher Konsistenz und empirischer Adäquatheit verwirklicht. Wenn dabei für manche Zwecke die begriffl iche Konsistenz in den Vordergrund rückt, ist das per se noch kein Anlass für Kritik. Manchmal kommt es auf die Stärke des Arguments an, manchmal auf die Genauigkeit der Beschreibung. Solange man nicht in beliebigem Maße beides zugleich haben kann, muss man sich für eine bestimmte Mischung beider Qualitäten entscheiden, und es ist nicht a priori klar, welche Mischung für welchen Zweck am besten ist – sicher nicht dieselbe für jeden Zweck. Wie sich gezeigt hat, war mit dem an die Adresse der allgemeinen Gleichgewichtstheorie gerichteten Vorwurf der Ästhetisierung im Grunde das Insistieren

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auf die logische Konsistenz des begriffl ichen Rahmens gemeint. Das ist allerdings in gewisser Weise erstaunlich, denn die logische Konsistenz einer Theorie zählt neben ihrer empirischen Adäquatheit zu den zwei Standardkriterien der Theorienbeurteilung und nicht zu den pragmatischen oder ästhetischen Kriterien. Wenn man also meint, die Orientierung der allgemeinen Gleichgewichtstheoretiker an Fragen der begriffl ichen Konsistenz führe zu einer übermäßigen Ästhetisierung der Theoriebildung, dann wäre das diesem Argument zufolge verfehlt. Immerhin ist die Kritik, die allgemeine Gleichgewichtstheorie lege ein zu großes Gewicht auf die logischen Qualitäten der Theorie und ästhetisiere die Theoriebildung, keineswegs abwegig. Allerdings ließe sich dieser Vorwurf auch umgekehrt erheben. Die Keynesianer ließen es wohl gerade an dieser Tugend mitunter etwas leichtfertig fehlen. Letztlich bewegt sich jede Theorie im Spannungsverhältnis zwischen logischer Stringenz und empirischer Detailtreue. Wie schon Heisenberg wusste, besteht seit Platon und Aristoteles eine Spannung zwischen »dem Empiriker, der durch sorgfältige und gewissenhafte Kleinarbeit erst die Voraussetzungen für ein Verständnis der Natur schaff t, und dem Theoretiker, der mathematische Bilder entwirft, nach denen er die Natur zu ordnen und damit zu verstehen sucht – mathematische Bilder, die sich nicht nur durch die richtige Darstellung der Erfahrung, sondern vor allem auch durch ihre Einfachheit und Schönheit als die wahren, dem Naturgeschehen zugrunde liegenden Ideen erweisen.« (Heisenberg 1977, 98 f.) Wenn man sich aber tatsächlich zwischen diesen beiden Qualitäten – oder für Mischungen dieser beiden Qualitäten – entscheiden kann und entscheiden muss, dann stellt sich die Frage, nach welchen Kriterien diese Entscheidung getroffen wird. Und hier kommen dann eben auch die ästhetischen Präferenzen ins Spiel, die sich je nach methodologischer Ausrichtung eher in Richtung der Logik oder in Richtung der Empirie auswirken werden. Wie Heisenberg ebenfalls betont hat, besteht »ein enger Zusammenhang zwischen dem Verständlichen und dem Schönen […]« (Heisenberg 1977, 96). Hier schließt sich dann der Kreis. Da sich ihm zufolge die Schönheit der Natur in der Schönheit der Naturwissenschaft spiegelt (vgl. Heisenberg 1977, 91), könnte man den Verdacht haben, dass uns die Kritik der allgemeinen Gleichgewichtstheorie mit der schönen Theorie eigentlich vor allem den Gedanken an eine Schönheit der dezentralen Lösung des Koordinationsproblems, d.h. an eine Schönheit der Marktwirtschaft, austreiben will. Aber die Adaption der allgemeinen Gleichgewichtstheorie ist nicht gleichbedeutend mit einem unkritischen Glauben an die Selbstheilungskräfte des Marktes, wie viele Kritiker zu glauben scheinen, und natürlich ist das Arrow-Debreu-Modell auch nicht das letzte Wort in der Entwicklung dieses Forschungsprogramms oder gar der Wirtschaftstheorie insgesamt – aber das hat nun wohl auch niemand zu irgendeinem Zeitpunkt geglaubt.

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II. GESTALTUNG DES WISSENS

Die Ästhetik des Wissens – in Gips Hiroshi Sugimoto und »Das große Glas« Marcel Duchamps Von Thomas Kellein

Vor knapp 150 Jahren, ausgelöst von mathematischen Forschungen, begann eine eindrucksvolle Produktion stereometrischer Modelle in Gips. Die Steinersche Römerfl äche oder die Diagonalfl äche von Clebsch, die Kummersche Fläche oder Modelle von Flächen dritter Ordnung von Rodenberg dienten als dreidimensionale Anschauungsmittel für neue, weitgehend unverständliche Formeln. Die Modelle gingen alsbald in mathematisch-naturwissenschaftliche Institute und größere universitäre Sammlungen über. Ab 1877 gab es in Darmstadt einen Handel mit den Objekten aus Gips, ab 1904 stellte ein Verlag in Halle an der Saale und später in Leipzig das auf mehrere Dutzend angewachsene Konvolut in einem Begleitbuch vor. Um 1911 betrug das Angebot an plastischen Lehrmitteln in Deutschland angeblich 40 Serien mit annähernd 400 Einzelstücken. In Frankreich gab es vergleichbare Gebilde aus Draht und Holz, die sich heute als Unikate im Pariser Palais de la Découverte befi nden. Gerd Fischer hat der deutschen Produktion dieser seltsamen Gebilde vor 20 Jahren nachgeforscht und dazu den über tausend Nummern umfassenden Bestand mathematischer Lehrmittel aus der Universität Göttingen herangezogen. Bereits damals wurden die Objekte teilweise in schwarzweiß fotografiert. Fischer vermutete, dass das Interesse an den kostspieligen Modellen mit dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs zurückging. Nach 1914 hatten sich zudem allgemeinere und abstrakte Gesichtspunkte in der Mathematik ergeben, so dass das Verschwinden der Bilder in Gips mit dem Fortschritt des Wissens zusammenhing (Fischer 1986, X).1 Die mathematischen Modelle aus Deutschland sind nach der Wende zum 20. Jahrhundert auch in die University of Tokyo gelangt. Der 1948 geborene japanische Künstler Hiroshi Sugimoto hat sie dort durch einen Freund im University Museum entdeckt. Nachdem er bereits vor 30 Jahren wissenschaftliche Darstellungen im New Yorker Museum of Natural History als Wachtraum erlebte und immer wieder dreidimensionale Vitrinen als »Dioramas«, als angestaubte Filmstandbilder und mithin Fälschungen aufs Korn genommen hat, gilt sein jetziger Blick einem Abschnitt des menschlichen Konzeptualismus, den er selbst »Mathematical Forms«, »Geometrical Forms« und »Mechanical Forms« benennt. In 44 gleichgroßen Schwarzweiß-Fotografien begegnen sie uns als befremdlicher, großartig stoischer Bilderzyklus.

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Ich danke Hiroshi Sugimoto für den Hinweis auf dieses Buch.

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Die Fondation Cartier hat im Sommer 2004 aus zwei dieser Serien, den »Mathematical Forms« und den »Mechanical Forms«, eine größere Zahl von Beispielen ausgestellt. Mit ihnen wird auf Marcel Duchamp angespielt, indem die Serien im Sinne von »Brides« und »Bachelors« in zwei Räume getrennt sind. Die gelobte, transparente Architektur des Pariser Ausstellungshauses von Jean Nouvel wird dabei kurzerhand zum »Großen Glas« erklärt. War denn Duchamp ein Mathematiker? Viele der von Sugimoto fotografierten Figuren sehen auf den ersten Blick wie abstrakte Skulpturen aus (Abb. 1 und Abb. 2). Man denkt bei der Abbildung des ersten mathematischen Modells, einer Schraubenfl äche von konstanter negativer Krümmung, nach dem Forscher Dini benannt, an eine alte griechische Statue. Der Künstler selbst hat gesagt, dass er das Werk am liebsten dreidimensional vergrößert vor sich sehen würde. Ein daneben stehendes stereometrisches Modell, das »Onduloid, Surface of Revolution of Constant Mean Curvature«, erinnert ebenfalls an Bildhauerei. Vielleicht war hier ein Verwandter Jean Arps im Spiel. Vor wieder anderen Werken denkt man an Formen und mithin Formeln bei Alexander Archipenko, Max Ernst, Isamu Noguchi, Barbara Hepworth oder die Spielbrettfiguren von Alberto Giacometti. Doch sind alle Plastiken bei Sugimoto weiß und starr. Sie wurden gleichmäßig im Dreiviertelprofi l und aus

Abb. 1 und Abb. 2 (rechte Seite): Fotografien aus der Serie »Conceptual Forms« des japanischen Fotokonzept-Künstlers Hiroshi Sugimoto. Er lichtete mathematische stereometrische Gipsmodelle von komplexen trigonometrischen Funktionen in großformatigen Schwarzweissprints ab, die im 19. Jahrhundert für Studienzwecke hinsichtlich visueller Vorstellungskraft angefertigt wurden.

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der Untersicht fotografiert. Zehn bis dreißig Zentimeter messen sie im Original, doch vor den großformatigen Papierabzügen denkt man an riesige Körper, Bauwerke und Pendants zu seinen Architekturfotografien aus den Jahren 2001 und 2002. Erst nach der Entscheidung für die neue Motivkette nahm Sugimoto das Buch von Gerd Fischer in die Hand. Als Fotograf wusste er, dass sich bereits Man Ray für »Kuen’s Surface«, die Oberfl äche einer konstant negativen Kurvatur, und andere stereometrische Modelle interessiert hat. Doch warum wird auf Duchamp angespielt? Während seiner fotografi schen Arbeit in der Amsterdamer Filiale von Madame Tussaud’s besuchte Sugimoto im August 1999 noch einmal das Teyler Museum in Haarlem. Hier werden in einer großen Zahl wissenschaftliche Instrumente, sowohl mechanische, hydraulische, pneumatische und chemische Apparaturen als auch astronomische und optische Instrumente ausgestellt. Die meisten Schätze des Museums gehen auf einen Ankauf des Sammlers Martinus van Marum auf einer Auktion im Jahr 1791 zurück, als er mit 3515 Holländischen Gulden einen großen Bestand an wissenschaftlichen Geräten erwarb. Das Museum zeigt die Sammlung, zu der Globen und andere tellurische und planetarische Anschauungsmodelle gehören, wie einen zusammenhängenden Lehrmittelbestand, der die Geschichte der

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Naturwissenschaften von der Mitte des 18. bis in das 19. Jahrhundert dokumentiert. Das Teyler Museum war zum Ende des 19. Jahrhunderts, insbesondere in einem »Ovalen Zimmer«, ausdrücklich als »Zeitmaschine« konzipiert. Bereits van Marum hatte das Museumspersonal animiert, weiter zu sammeln und damit den Gang der Wissenschaften fortlaufend verfügbar zu machen. Der Weg erschloss sich über den visuellen Zusammenklang der Instrumente mit Fossilien, Drucken, Zeichnungen, Münzen, Gemälden und Büchern. Das Museum will noch heute den Eindruck erwecken, dass Naturwissenschaften und Künste von Michelangelo, Raffael und Leonardo bis in die jüngste Zeit als einander verwandte, geschichtsteleologisch vielleicht sogar zur Paarung bereite Kräfte zu betrachten sind. Pieter Teyler van der Hulst (1702–1778), der eine der ältesten öffentlichen Sammlungen zu Kunst und Wissenschaft geschaffen hatte, war wie sein Vater ein Tuch- und Seidenhändler. Als er starb, übernahm nach dem testamentarischen Willen Tako Jelgersma die Pflege der Bestände, ehe der Arzt und Physiker Martinus van Marum 1784 als Direktor begann. 1782 wurde der »Ovale Raum« als Kunstkammer eingerichtet. In diesen Räumen hat Sugimoto nach eigenen Worten Marcel Duchamp entdeckt. Duchamps Formen, die Tropfen, die Schokoladenreibe, die Schieber, die Radien, die Gussformen und Kanäle, ebenso wie die Art, Ebenen des Körpers wie des Geistes über funktional wirkende Objekte in eine wissenschaftlich anmutende Balance zu bringen, erschienen hier in einer sezierten, abgeklärten, dennoch naiven Gegenständlichkeit vorgeformt. Noch ging es nicht um eine reflexiv auf dem naturwissenschaftlichen Instrumentarium bauende Kunst. Als Sugimoto bei Teyler die »19 Resonators by R. Koenig (Paris 1864), according to H. von Helmholtz (1858)« oder »36 Mechanical slides« vor sich sah, in der Größe ansteigende Messingballons mit Öff nungen, durch die das menschliche Gehör Klänge aufnehmen sollte, ebenso astronomisches Bildmaterial, mit dem Bewegungen der Planeten, die Jahreszeiten, Ebbe und Flut erfasst werden sollte, dachte er an ein fi ktives Werkverzeichnis von Duchamp, das die Frühzeit des modernen Alchemisten, lange vor den Studien zum »Grossen Glas« ab 1913, umfassen würde. Wie ein Theoretiker und Kulturanthropologe hat Sugimoto unter dem Titel »Conceptual Forms« zunächst ohne Duchamp-Bezug drei verschiedene Wissensgebiete versammelt: Mathematik, Geometrie und Mechanik. Mögen die Vorlagen für seine Aufnahmen aus einer japanischen Universitätssammlung stammen, mögen die Originalmodelle aus Gips, Holz, Glas und Eisendraht sein, seine Fotografie raubt den Modellen zum einen ihren Kontext, vernichtet zum anderen ihre reale Größe und beleuchtet sie so einheitlich, dass eine wie bei Duchamp in Haarlem verschollen wirkende Welt der »Science« als erhabene, die Betrachteraugen senkende und den Geist in Ehrfurcht erziehende Kulturgalaxie erscheint. Aus den mathematischen Modellen sind nüchtern ausgedrückt Paradigmata griechischer, islamischer und moderner Skulptur geworden, die wir nicht verstehen. Wie Duchamp hat sie Sugimoto künstlerisch codiert.

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In der Abteilung Mechanik fällt der Blick auf maschinelle Transmissionen, bei denen sich Kräfte über Gestänge in vertikale Gewinde bohren. Sie erzeugen wie der »Bachelor« nichts. In der Mathematik sieht man auf schwarze Fonds mit betörend erotischen Figuren, sodass fortan von Kunsthistorikern viele neue »Bräute« betrachtet werden können. In der mechanischen Welt, zu der auch Glaskolben gehören, schwillt vielleicht so etwas wie Manneslust auf, um sich vornehmlich vertikal, nach unten und oben stampfend, zu bewegen. Die Mathematik liefert im Unterschied dazu einen Beitrag zu Kurven und idealen Schönheitsvorstellungen. Was verbirgt sich noch hinter Sugimotos visuellem Konzeptualismus zwischen Wissenschaft und Kunst? Die Modelle selbst, obwohl bereits vor ihm von Man Ray und Gerd Fischer ausgewählt, treten makellos, als unnachahmlich vollendete Formen aus dem tiefen schwarzen Nichts hervor. Sie wirken als anonyme, in der Größe übermächtige Körper. Ihre Regelmäßigkeit erweisen sie über gekrümmte Linien auf den Gipsoberfl ächen, die auf gleichmäßig gespannte Fäden zurückgehen. Zu den Fäden gehören Punkte, mit denen Mathematiker und Geometer ihren zu beweisenden Kurvenverlauf infi nitesimal verortet haben. Es waren die Linien und eigentlich nicht die Formen, die das jeweilige mathematische Axiom veranschaulichen sollten. Das Axiom selbst kannten nur Fachleute. In der Wissenschaftsgeschichte kamen die axiomatischen Gebilde zur Bestimmung von Krümmungsverläufen erst nach den Wunderkammern auf. In ein Teyler Museum gehören sie nicht. Beispielhaft werden von Sugimoto Raumdarstellungen gezeigt, auf die der Geometer Carl Friedrich Gauss 1827 erstmals in den »Göttingischen gelehrten Anzeigen« hingewiesen hatte (ebd., 57–59). Man sieht eine Schraubenfläche in konstanter positiver Krümmung (ebd., 80) oder eine Wendelfl äche, wie sie um die Mitte des 19. Jahrhunderts mathematisch nachgewiesen worden war (ebd., 87). Bis 1851, als Bernhard Riemann, ebenfalls aus Göttingen, seine Dissertation über die »Grundlagen für eine allgemeine Theorie der Funktionen einer veränderlichen complexen Grösse« vorlegte, schienen die meisten naturwissenschaftlichen Annahmen, die sich in geometrischen Modellen niederschlugen, dem Kurventhema zugewandt. Die Krümmungen der räumlichen Formeln konnten hyperbolisch oder elliptisch verlaufen. Sie demonstrierten, dass der physikalisch-mathematische Raum, mithin auch das Vorstellungsvermögen, nicht länger fl ach, ‚euklidisch’‚ und synchron, sondern als Summe spiralförmiger, von vorn nach hinten und von oben nach unten führender Wege zu denken war. Es ging nicht mehr um einzelne Längen, Winkel und Distanzen im schachtelförmigen Raum, sondern um das Element der Drehung und Bewegung. Dazu kam die Präsenz von 27 gleichzeitigen Ansichten wie bei dem Modell von Clebsch. Die moderne Physik klopfte ab 1850 unauf haltsam an die Tür. Der Raumbegriff und die Raumvorstellung hatten sich verändert. Von 1700 bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts bedeutete der Raum für die Wissenschaftler ein Ganzes. Newton hatte gelehrt, dass Raum eine absolute, unendliche Größe sei, ein Volumen, in dem Körper, gleich welcher Größe, wie eine riesige Familie ihren Ort fi nden

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konnten. Die Größe des Raumes wurde im Unterschied zu den inhärenten Körpern als unbeweglich, feststehend und übermächtig gedacht. Eine »Vergottung des Raumes« hatte stattgefunden ( Jammer 1980, 139). Indem auch der Himmel und die Gestirne als Teile des absoluten Raums über irdischen Körpern erlebbar schienen, rechneten Naturwissenschaftler und Theologen relativ fest mit einem gleichsam physikalischen Gottesbeweis. Er war ihr immanenter Grundsatz, denn alle Körper oder Stoffe, mochten diese in Bewegung oder in Ruhe sein, fanden in diesem einzigen angenommenen Trägheitssystem Platz. Immanuel Kant hatte für die Wirkungen und Wechselwirkungen zwischen Körpern um 1750 eine kausale Abhängigkeit von der göttlichen Schöpfung benannt. Leibniz und mithin die Mathematik sahen den Raum seinerzeit als teilbar an. Die Monadologie entstand, und so hatte der menschliche Konzeptualismus mit seinem klaren Sinn für Mikro- und Makrokosmos eine plausible Ordnung erhalten. Das Thema Kunstkammer bis hin zu den wissenschaftlichen Volksspektakeln im 18. Jahrhundert ist bei den Kunsthistorikern heute in Mode. Horst Bredekamp, Angela Fischel, Birgit Schneider und Gabriele Werner haben zu den »Bildwelten des Wissens« unlängst einen längeren Aufsatz vorgelegt (Bredekamp und Werner 2003, 9–20). Barbara Maria Stafford legte in ihrem Buch »Auf klärung, Unterhaltung und der Niedergang der visuellen Bildung« überzeugend dar, dass gerade jene Zeit, in der mit Newtons Erkenntnissen gearbeitet worden war, die Techniken bildlicher Darstellungen des Koginitiven verwässerten. Sie schrieb diese Entwicklung seit dem 18. Jahrhundert den Künstlern und Sammlern sowie den Fahrenden zu: »Mit dem Problem, ein ausgewogenes Verhältnis zwischen Unterhalten und Belehren, zwischen einer Ästhetik des Schauens und den Mühen der Intellektualisierung zu fi nden, beschäftigen sich die Künstler, die Vorführer wissenschaftlicher Experimente sowie die Sammler von Automaten, Kunstwerken und Naturobjekten.« (Stafford 1998, 17) Welche Rolle spielt Sugimoto hierbei? Grinst er wie ein Sieur Pelletier, der dem Publikum 1752, unter Anspielung auf Briefe von Benjamin Franklin, einen 27 Meter messenden Blitzableiter präsentierte? Eher feixt er erneut über eine fast vergessene Wissensgeschichte. Der Grund ist ihr ungeschickter Umgang mit Ästhetik. Die Modelle und Formeln lässt er sich erklären. Ihren Sinn vermag er wie die meisten von uns nicht gänzlich zu verstehen. Aber ausgedachte, mit der modernen Physik nur partiell vereinbare Volumina bieten aus Sicht der Geschmackssicherheit des Künstlers nicht mehr und weniger als zum Beispiel Madame Tussaud’s Bilderdienst, der ja ebenfalls naturwissenschaftlichen Vorgaben folgte. Nach einem Gespräch über Teyler sagte der Künstler unlängst, dass sein eigener Vater in Tokio nicht mit wissenschaftlichen, sondern mit kosmetischen und pharmazeutischen Artikeln gehandelt habe. Sein Geschäft war einträglich, so dass die gesamte Familie ein Auskommen hatte und dass Hiroshi, da sein drei Jahre jüngerer Bruder bereit war, das väterliche Geschäft zu übernehmen, Ökonomie studieren durfte. Er sollte es weiter als der Vater bringen. Die Mutter trug zum Gang der

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Ausbildung dadurch bei, dass sie – vor dem Hintergrund einer gelösten Verlobung mit einem christlich erzogenen Japaner – darauf bestand, ihren Sohn an eine christliche Universität zu schicken. Hier, in den Jahren von 1968 bis 1972, wurde Sugimoto in der Politischen Ökonomie von Karl Marx und Friedrich Engels geschult. Schon im Gymnasium in Tokio war das kommunistische Denken der Lehrer bestimmend. An der kirchlichen Universität hielten sich zahlreiche marxistische Professoren auf, weil sie an der University of Tokyo auf Drängen der amerikanischen Regierung nicht mehr lehren sollten. Sugimotos künstlerische Kernüberzeugung lässt sich vor diesem Hintergrund in die Aussage münzen, dass es für ihn vor allem eine Wissenschaft, die Wissenschaft der Geschichte gibt. Bilder müssen in diesem Zusammenhang besonders überzeugend sein, wenn sie nicht belächelt werden wollen. Im Zuge der Studentenrevolte, die sich von Paris und Berlin über die westlichen Industrienationen bis hin nach Tokyo ausbreitete, musste er seine Ausbildung nach weniger als vier Jahren bereits 1972 beenden. Das Studium war aufgrund von Streiks nicht länger möglich. Eine schriftliche Prüfung brauchte er nicht abzulegen; das Diplomzeugnis wurde ihm ein Jahr später mit der Post zugeschickt. Mit einem monatlichen Wechsel der Eltern im Gepäck war er nach Los Angeles gegangen, um an einer Kunstschule eine Fotografenlehre zu beginnen. Die folgenden zwei Jahre machte er sich mit Halluzinogenen und den vor allem in Amerika, kaum jedoch in seiner Heimat verbreiteten Lehren des Zen-Buddhismus vertraut. Zu seinen Erfahrungen von Historie gehörte, dass er das westliche Wissen im Osten und das östliche Wissen im Westen erwarb. Das mag die Glaubwürdigkeit von Wissen für ihn nicht sonderlich befördert haben. Erst danach, ab 1974 in New York, begegnete er in größerem Umfang westlicher Kunst. Die Reaktion war gespalten. Gemälde aus der Renaissance, von Petrus Christus beispielsweise, aber auch Skulpturen von Donald Judd, erfuhren seine tiefste Bewunderung. Das Ideal des Handwerklichen wollte er seit seiner Kindheit schon bewahrt sehen. Viele andere künstlerische Leistungen aber, auch ausgestopfte Tiere in den Vitrinen des Museums of Natural History, ein Polarbär, der täuschend echt gerade eine Robbe schlug, lösten bei ihm einen Kulturschock aus. Ost und West, Wahrheit und Täuschung, Wissen und Vergessen fielen in seinen Werken fast immer auf signifi kante Weise ineinander.2 Das Konzept der ausgestellten Zeit, im Sinne stillgestellter und künstlerisch ernsthaft für tot geglaubter Lebenszeit, entstand. Lichtspielhäuser hielt Sugimoto ab 1976 mit geöff neter Kamerablende fest, um ganze Kinovorstellungen wie bei einem Shintotuch in eine weiße, leere Flächen zu überführen. Nur die Orte, nicht die Filmtitel wollte er benennen. Danach kamen die »Seascapes«, zuerst in der »The history of photography is the history of human illusion. The tendency of the humans to look at their illusions is to have a vision. That’s all in one line.« (Sugimoto 1993, 76). 2

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Aufnahme der Karibischen See auf Jamaica 1980. Es handelte sich ebenfalls um stoische, zyklische und dabei unglaublich wahrhaftige Aufnahmen jeweils eines Meereshorizonts, wie er an unzähligen anderen Orten des Planeten bei Tag und Nacht erlebt werden könnte. Der marxistisch ausgebildete Fotograf stellte die Leistungen der Wissenschaft danach auch aufgrund von Maquetten und Bühnendekors in Frage – indem seine »Dioramas« entstanden. Die Kinokultur hielt er gleichsam wie Christus im Tempel an. Mit den »Seascapes« brachte er den Menschen Bilder in die Häuser, an denen sie sich grundlegend orientieren konnten: »Here I am«, wie schon Barnett Newman sagte. Es gab und gibt noch andere kultur- und wissenschaftskritische Bilderserien zum Beispiel die Architekturaufnahmen, mit denen Sugimoto Inkunabeln des Modern Style und der Postmoderne als majestätisch aufragende, menschenleere und dabei mutwillig unscharf fotografierte Riegel und Kuben verewigte. Sie stehen wie anonyme Grabplastiken vor uns. Mit den »Wissenschaftsbildern« in der Fondation Cartier erschienen 2004 in der gleichen fotografischen Technik, in Untersicht und im Dreiviertelprofi l, faszinierend saubere Modelle der Geometrie. Die Tiefenschärfe beeindruckte. Indem ein kleines, im Ausstellungsraum dazu gestelltes Multiple das »Große Glas« von Marcel Duchamp reproduzierte, schien eine Art Schlüsselloch und ein zweites »Etant donnés« hinzugekommen zu sein. Nach dem ersten Remake des »Großen Glases« für Japan von Shuzo Takiguchi, wiederum einem Freund des Künstlers, der es für das Museum of Modern Art in Tokyo angefertigt hatte, stellte Sugimoto 2003 eine doppelte, von zwei Fotografien verklebte Glasplatte her, die er dem New Museum in New York und die Zeitschrift Parkett als verkäufl iches Aufl agenobjekt zur Verfügung stellte. In Paris hat Sugimoto das Multiple dazu verwendet, die durch ein Treppenhaus geteilte Architektur der Fondation Cartier in zwei verwandte, aber elementfremde Räume zu scheiden. Zur Rechten waren wie gesagt die »Mathematical Forms« zu sehen, wodurch in sechs verschiedenen Motiven die »Braut« erschien. Auf der anderen Seite ragten neun »Mechanical Forms« an Stellwänden auf, die »Junggesellen« repräsentierten. Das Ganze war nach jener lange versperrten Tür im Philadelphia Museum of Art betitelt, hinter der Duchamp postum ein programmatisches, rätselhaftes Werk zur Betrachtung durch ein Schlüsselloch freigab: »Given: 1° the waterfall, 2° the illuminating gas«. Duchamps Arbeit besteht aus einer hell erleuchteten Bühne mit Landschaft, in der ein nackter Frauenkörper mit gespreizten Beinen liegt. Das weibliche Gesicht ist für den Betrachter unsichtbar, da es sich weit entfernt von der Tür unter einer Welle aus blonden Haaren verbirgt. Die linke, erhobene Frauenhand hält eine Gaslaterne, in der Licht zu sehen ist. Das Werk selbst führt mittelbar und unmittelbar zum »Großen Glas« in der Arensberg Collection in Philadelphia Museum of Art. Anne d’Harnoncourt und Walter Hopps haben es 1969 das Alter ego des unvollendeten Hauptwerks genannt:

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»We see through them more than we see them. The viewer becomes part of the view.« (d’Harnoncourt und Hopps 1973, 8–10) Bei Sugimoto geht es darum, dass die vergessenen, unverstandenen, auratisch fotografierten Wissenschaftsmodelle sich in der Tat als männliche und weibliche – und in der dritten Serie fast im christlichen Sinne als geistliche – Charaktere entpuppen. Ihre geschlechtliche Fortpfl anzung oder Erleuchtung zu noch Höherem ist nicht geplant. Denn Sugimoto will bei allen Referenzen zu einer ohnehin kaum glaublichen Wirklichkeit Künstler sein, und das nicht schlechter als Duchamp.

Literatur Bredekamp, Horst; Werner, Gabriele (Hrsg.) (2003): Bildwelten des Wissens. In: Kunsthistorisches Jahrbuch für Bildkritik. Band 1,1. Bilder in Prozessen. Berlin, 9–20. Fischer, Gerd (1986): Mathematische Modelle. Aus den Sammlungen von Universitäten und Museen. Mathematical Models. From the Collection of Universities and Museums. Braunschweig/Wiesbaden. d’Harnoncourt, Anne; Hopps, Walter (1973): Etant Donnés: 1° la chute d’eau. 2° le gaz d’éclairage. Reflections on a New Work by Marcel Duchamp. Wiederabdruck von Philadelphia Museum of Art Bulletin, LXIV, 299 f., April–September 1969, Nachwort von Anne d’Harnoncourt. Philadelphia Museum of Art, 8–10. Jammer, Max (1980): Der Begriff des Raumes in der modernen Physik. In: Ders.: Das Problem des Raumes. Aus dem Englischen übersetzt von Paul Wilpert. Darmstadt. Stafford, Barbara (1998): Kunstvolle Wissenschaft. Aufklärung, Unterhaltung und der Niedergang der visuellen Bildung. Amsterdam, Dresden, 17. (Originalausgabe: Artful Science. Enlightenment, Entertainment and the Eclipse of Visual Education. Cambridge. Sugimoto, Hiroshi (1993): Hiroshi Sugimoto im Interview mit Thomas Kellein, 14. Februar 1993, in Santa Monica, CA. In: Ausstellungskatalog The 21st Century, Kunsthalle Basel, 76.

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»Man muss etwas Neues machen, um etwas Neues zu sehen« notierte Georg Christoph Lichtenberg gleich zweimal in seinen Sudelbüchern (SB 2, J 1770). Auch wenn sich diese Bemerkung auf alle möglichen Lebensbereiche anwenden lässt, spricht Lichtenberg hier ganz offenbar aus der Erfahrung des Experimentalphysikers. Zumindest liefert die Geschichte der Experimentalphysik reiches Anschauungsmaterial für Lichtenbergs These, die in moderner Form beispielsweise von Peter Galison vertreten wird, wenn er den Brüchen und begriffl ichen Innovationen in der Theorienentwicklung die Innovationen der Instrumentierung gleichberechtigt an die Seite stellt (Galison 1988, 1997). In der jüngeren Vergangenheit fi ndet sich ein eindrucksvoller Beleg für diese Gleichstellung, als nämlich der theoretische Physiker Richard Feynman im Jahre 1959 eine ganz praktische Einladung aussprach. Ein noch unbestelltes Feld gelte es zu kultivieren, ein neues Gebiet zu erobern: »Dieses Gebiet unterscheidet sich von den anderen, indem es uns nicht viel über die Grundlagen der Physik sagen wird […], sondern mehr wie die Festkörperphysik ist, indem es viel Hochinteressantes über die seltsamen Phänomene aussagen könnte, die in komplexen Verhältnissen auftreten. Darüber hinaus ist äußerst wichtig, dass es eine enorme Zahl technischer Anwendungen hätte.« (Feynman 1960, 22) Nachdem er die geringe theoretische Bedeutung des neuen Gebiets eingestanden hat, fährt Feynman fort und verlangt mit der spielerischen Arroganz des Physikers nicht einmal, dass neue theoretische Erkenntnisse Zugang zu diesem Gebiet verschaffen müssten: »Wir haben Freunde in anderen Gebieten – in der Biologie, zum Beispiel. Oft sehen wir Physiker sie und sagen ›Wisst ihr eigentlich, warum ihr so wenig Fortschritt macht?‹ […] ›Ihr solltet mehr Mathematik benützen, so wie wir.‹ Sie könnten selber antworten – aber sie sind höfl ich, also tue ich es für sie: ›Was ihr tun solltet, damit wir rapideren Fortschritt machen, ist das Elektronenmikroskop 100fach verbessern.‹« (Feynman 1960, 24) Hiermit hat Richard Feynman gleich eine doppelte Voraussage gemacht. Einmal, dass es ein völlig neues Feld zu erobern geben wird, in dem die Entdeckung seltsamer Phänomene viele technische Anwendungen hat. Und zweitens, dass die Erschließung dieses Feld nur auf die Entwicklung eines neuen Mikroskops wartet. Wegen dieser beiden, über lange Zeit in Vergessenheit geratenen Voraussagen wurde Feynman nachträglich zum Propheten der Nanotechnologie stilisiert. 1992 hat der Physiker Peter Brix die Erfüllung der Voraussagen Lichtenbergs und Feynmans kurz und knapp dargestellt: »Auch die Physik-Nobelpreistäger 1986 Gerd Binnig und Heinrich Rohrer haben ›Neues gemacht um Neues zu sehen‹: Mit ihrem Raster-Tunnel-Mikroskop (klein wie eine Streichholzschachtel) lassen sich

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einzelne Atome auf der Oberfl äche fester Körper sehen und neuerdings sogar versetzen.« (Brix 1992, 404) Das hier genannte Scanning-Tunneling-Microscope oder STM ist alles andere als ein optisches Instrument. Das STM tastet mit seiner Spitze gewissermaßen eine Oberfl äche ab und setzt daraus, Datenspur um Datenspur eine Art topographische Darstellung dieser Oberfläche zusammen. Mit der richtigen Software jedoch lassen sich die Erhebungen so einfärben, dass schließlich die noch unbesiedelte Landschaft entsteht, in die uns Richard Feynman einladen wollte. Rötliche Erhebungen sollen einzelne Atome darstellen wie sie bis zu Binnig und Rohrers Erfi ndung des STM noch nie so dingfest dargestellt wurden. Man muss Neues machen, um Neues zu sehen. War das schon der Anfang der Nanotechnologie? Entspricht ein neues Datenverarbeitungs- und Bildgebungsverfahren schon Feynmans Einladung »to enter a new field of physics« oder musste dazu erst jemand dieses höchst anwendungsrelevante Feld der Physik betreten? In seiner kurzen Beschreibung fügt Brix hinzu, dass Atome jetzt nicht nur gesehen werden können, sondern sich »neuerdings sogar versetzen« lassen. Das neu gemachte Mikroskop, mit dem Binnig und Rohrer molekulare Strukturen ertasteten, erlaubte es Don Eigler und Erhard Schweizer, in diese Welt einzugreifen und erstmals einzelne Atome gezielt zu manipulieren. Erst jetzt, da einzelne Forscher das Gebiet betreten und dort auf unerhört neue Weise zu handeln beginnen, konnte von Nanotechnologie die Rede sein. Was war nun aber das Neue, das Eigler und Schweizer in vier Schritten zum Vorschein brachten und in der Zeitschrift Nature veröffentlichten? Die Pointe ist allgemein bekannt, dass sich nämlich das unerhört Neue zugleich als schamlos banal erwies. Binnig und Rohrer, Eigler und Schweizer arbeiteten für IBM in der Schweiz und den USA, sie schrieben hier also den Namen ihres Labors, zugleich den Namen ihres Arbeitgebers (Abb. 1) – und ihre Arbeit an diesem Schriftzug hörte nicht auf, bis das defi nitive Ergebnis erreicht wurde (Abb. 2).

Abb. 1: Die Nanotechnik entbirgt etwas sonderlich Verborgenes.

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Abb. 2: Die Arbeit am Schriftzug geht weiter.

Mochte das ursprüngliche Ergebnis noch als dramatischer wissenschaftlich-technischer Durchbruch gelten, lässt sich dies von der Weiterentwicklung nicht sagen. Denn allenfalls nach ästhetischen Gesichtspunkten handelt es sich bei dem Endprodukt um ein besseres Signet oder ein besseres Porträt von IBM . Schon das ursprüngliche Bild buchstabierte schließlich den Firmennamen. Wie alle kleinen Fehler und Abweichungen erhöhten die beiden am oberen Bildrand übrig gebliebenen Atome die wissenschaftliche Glaubwürdigkeit des Bildes – es ist offenbar nicht mit Photoshop oder als Plastikmodell künstlich erstellt worden. Abgesehen von Bereinigung, Perspektivwechsel, Farbigkeit schreibt das fertige Bild eine technische Grenze des alten eher fort, überwindet sie also keineswegs, sondern lässt sie uns vergessen. Beiden Versionen ist nämlich ein Mangel an Tiefenschärfe gemeinsam, der den Produzenten offenbar nur lieb ist. Denn was für eine Oberfl äche ist das, auf der die großen Xenon-Atome positioniert wurden? Wir müssen nur daran erinnert werden, dass diese Oberfl äche gewiss auch aus Atomen besteht, die allerdings unter den richtigen Bedingungen nicht sichtbar werden. Wären sie sichtbar, ließe sich erkennen, dass Atome hier keineswegs willkürlich verschoben wurden, dass ihre Abstände vielmehr von der Oberfl ächenstruktur mitbestimmt sind (vgl. Hennig 2004). Diese ausführliche Erzählung der bekannten Geschichte von Rastersondenmikroskopie und ersten gezielten Bewegung von Atomen soll eine Art Staunen provozieren. So viel Arbeit und so viel ganz offenbar keineswegs streng wissenschaftliche Anstrengung im Vollzug eines geradezu archaischen Akts, nämlich den eigenen Namen oder den des eigenen Labors zu schreiben! Wer vermutet, dass dies vielleicht auf Wunsch der Firmenleitung geschah, die sich Schleichwerbung in der Zeitschrift Nature erhoff te, dem wird von Don Eigler auf der Webseite des IBM Labors Almaden widersprochen1 : »Künstler waren fast immer auf die UnterstütVgl. www.almaden.ibm.com/vis/stm/gallery (Zugang am 25. August 2005). Der Künstler stellt sich im folgenden Zitat als allein Schaffender dar und verschweigt hier die Mitarbeit Erhard Schweizers. 1

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zung von Mäzenen angewiesen (Wissenschaftler auch!). Kurz nachdem er entdeckte, wie er mit dem STM Atome bewegen kann, hat hier der Künstler einen Weg gefunden, dem Unternehmen etwas zurückzugeben, das ihm Arbeit gab und die für seinen Erfolg erforderlichen Werkzeuge.« Was bedeutet diese Geste anscheinend der Dankbarkeit, warum wird sie unablässig wiederholt und warum suchen Wissenschaftlern in aller Welt immer wieder neue Methoden, den Namen ihres Labors oder ihrer Universität nanotechnisch zu schreiben 2 , und warum bemerkt Eigler zunächst, dass auch Wissenschaftler Mäzene haben, um sich dann aber als Künstler und nicht als Wissenschaftler bei seinem Mäzen zu bedanken? Diesen Fragen soll im Folgenden nachgegangen werden und insbesondere den Bedeutungsaspekten des geschriebenen Namens als einer Signatur, die auf das merkwürdige Spannungsverhältnis von künstlerischer und technischer Produktion führt.

I. Von Staubfiguren zu molekularen Signaturen Um dem von Eigler und Schweizer in kleinstmöglicher Schrift geschriebenen Namenszug »IBM« Profi l zu verleihen, bietet sich eine Rückkehr zu Georg Christoph Lichtenberg an. Sein »Man muss etwas Neues machen, um etwas Neues zu sehen« bezog sich auf die nach ihm benannten Staubfiguren, die sich seinen Modifi kationen des so genannten Elektrophors verdanken. Die starken elektrischen Entladungen vom Deckel des Elektrophors in seinen Boden sollten Blitz und Donner in Lichtenbergs Labor holen. Dort, wo der Blitz in den Boden des Elektrophors einschlug, entdeckte Lichtenberg einmal – zu seiner größten Freude, wie er schreibt – dass sich Staub »an bestimmten Stellen zu Sternchen anordnete«: »Es zeigten sich bisweilen fast unzählige Sterne, Milchstraßen und größere Sonnen. Die Bogen waren an ihrer konkaven Seite matt, an ihrer konvexen Seite mannigfaltig mit Strahlen verziert. Herrliche kleine Ästchen entstanden, denen ähnlich, die der Frost an den Fensterscheiben hervorbringt; kleine Wolken in den mannigfaltigsten Formen und Graden der Schattierung und endlich mancherlei Figuren von besonderer Gestalt waren zu sehen.« (Lichtenberg 1972, 27) Wie Martin Kemp bemerkte, hat sich hier also eine elektrische Entladung in den Harzkuchen des Elektrophors eingeschrieben und ihre »explosiv schöne« Spur hinterlassen (Kemp 2005, 888). Die Schrift des Blitzes jedoch konnten Lichtenberg und seine Zeitgenossen nicht entziffern. Anfänglich war Lichtenberg überzeugt, dass es nunmehr möglich sei, »die Natur und Bewegung der elektrischen Materie zu erforschen«, insbesondere dass unterschiedliche Entladungsmuster den Unterschied zwischen positiver und negativer Ladung erhellen könnten. Obgleich Lichtenberg zunächst also betont, dass seine Methode nicht »zu den elektrischen Spie2

Die Vielzahl der Beispiele kann hier nicht einmal ansatzweise illustriert werden.

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lereien zu rechnen sei« (Lichtenberg 1779), steht am Ende und nach Erschöpfung seines theoretischen Interesses an den Staubfiguren eine solche zumindest scheinbare Spielerei. So berichtet er im Februar 1778 an Schernhagen: »Am vergangenen Sonnabend habe ich vorgelesen, ich hatte wenige Personen invitirt, allein die Menge wurde so gros am Ende, dass auch die Catheder voll stunden. […] Als ich sagte ich wolte nun, in einem Zug, ein GR schreiben, das selbst Franklin respektiren würde, da hätten sie sehen sollen, wie alles drückte und als es mir ohne Anstoß gelang, so legten einige die Hände vor Verwunderung zusammen. Es ist ein Versuch, den ich Ew. Wohlgeboren zeigen zu können wünschte, er würde sie sicherlich in Verwunderung setzen, und dabey ist er lehrreich.« (Lichtenberg 1983, Nr. 450, vergleiche den Brief vom 15. März) Eine Tafel zu den Lichtenbergschen Figuren in der Encyclopedia Britannica illustrierte den Artikel »Electricity« und verewigt zumindest eine Version des hier von Lichtenberg erwähnten »GR« (Abb. 3). 3

Abb. 3: Ein offenbar bereinigter experimenteller Schriftzug huldigt »Georgius Rex III .«. Die Herausgeber des Ausstellungskatalogs Georg Christoph Lichtenberg: Wagnis der Aufklärung, München: Hanser weisen diese Tafel für die 5. Aufl age von 1815 nach, sie erschien vermutlich aber bereits in der 4. Aufl age. 3

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Während Benjamin Franklin von elektrischen Forschungen zur Sache der amerikanischen Unabhängigkeit übergegangen war und damit dem englischen König und somit dem König Lichtenbergs wenig Respekt erwies, konnte Lichtenberg die elektrische Entladung so steuern, dass der Staub nun den Namen seines Mäzens und Arbeitgebers Georgius Rex III schrieb. Mit einem befeuchteten Blatt ließ sich der Schriftzug vom Elektrophor abnehmen und rahmen, dies sogar mehrmals, da sich das elektrostatische Muster im harzenen Boden des Elektrophors eine ganze Weile erhielt. Natürlich kannte Don Eigler Lichtenbergs neue Schreibtechnik nicht – und wenn hier nach der Bedeutung der Schriftzüge »GR« und »IBM« gefragt wird, dann geht es gerade auch um die erhellenden Differenzen zwischen Lichtenbergs spielerischer Verbeugung zum Abschied von seiner Entwicklung der Staubfiguren und Eiglers programmatischem Einstieg in die Nanotechnologie.

II. Ende und Anfang Die Gemeinsamkeit zwischen Lichtenbergs und Eiglers Schriftzügen besteht darin, dass die Willkür des Schreibens und des Geschriebenen Ausdruck der Phänomenbeherrschung ist. Die elektrische Materie einerseits, der Tunneleffekt andererseits ist ihnen so gefügig, dass sie sogar ihrer Schreiblaune folgen. »This is fun« habe Eigler in Großbuchstaben und mit Ausrufezeichen in seinem Labortagebuch notiert (Amato 1999, 6). Einen Namen schreiben zu können erscheint hier als Privileg, das sich einer einzigartigen Aneignung von Naturprozessen verdankt. Die Widerständigkeit des Materials ist überwunden, was mit einer triumphalen Geste besiegelt und gefeiert wird. Allgemeiner ausgedrückt – im Schriftzug wie im Akt der Signatur exemplifi ziert sich die aus der Willkür über das Material gewonnene Selbstbestätigung, in dem das Material auch noch zur buchstäblichen Bestätigung des Selbst gezwungen wird. 4 Hier dient somit die Signatur als Vollzug des Gelingens. In dieser Hinsicht begegnen wir ihr in vielfältigen Erfahrungen, zunächst beispielsweise wenn wir uns eine Unterschrift erfi nden, sie erproben und zum Zeichen erworbener Persönlichkeit stilisieren. Als Vollzug des Gelingens erscheint uns die Unterschrift insbesondere wenn wir ein wichtiges Dokument einmalig Kunsthistoriker mögen hierbei etwa an die Signatur Miros denken, die ihn in seine Werke einverleibt, die umgekehrt seine Bilder als bloße Erweiterung seiner Signatur, seines Selbst erscheinen lassen. So einfach ist der Modus der Selbstbestätigung bei Lichtenberg und Eigler natürlich nicht, schon weil sie nicht persönlich zeichnen, sondern ihren Mäzenen oder Auftraggebern huldigen. Auch ihre Schriftzüge beziehen sich jedoch auf identitätsstiftende Momente – für den modernen Wissenschaftler ist das oft genug der Name der Forschungsgruppe (des Labors, des Instituts, der er oder sie angehört) und für Lichtenberg in diesem Fall ganz offenbar auch eine kulturell-politische Verortung, Ausdruck seiner Anglophilie, die mit seiner durchaus spektakulären Experimentalphysik eng verbunden ist. 4

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unterzeichnen und uns der schwungvolle Namenszug in der Entscheidung bestätigt, während die vermurkste Unterschrift ein schlechtes Omen wäre. Diese Freude an technischer Beherrschung und Aneignung des Phänomens bedeutet für Lichtenberg und für Eigler jedoch etwas sehr Unterschiedliches. Wer heute die Webseite des Almaden Laboratoriums von IBM besucht, tritt dort in eine virtuelle Galerie. Von der Eingangshalle aus kommt der Besucher in einen Saal, in dem ein extrem gesteigerter Pointilismus, nämlich der »Atomilismus« ausgestellt wird, triff t dort auf das nunmehr bekannte Porträt der Firma IBM und entdeckt, dass es den Titel »The Beginning« trägt. 5 Markiert für Lichtenberg das schließlich nur noch narzisstische Verhältnis zu den Staubfiguren die Erschöpfung seiner theoretischen Neugier, fängt somit für Eigler der Spaß überhaupt erst an. Ob wir einen Brief schreiben, einen Vertrag unterzeichnen oder ein Gemälde signieren, kommt nun aber die Unterschrift nicht am Anfang, sondern immer erst zum Schluss. Angesichts Eiglers »Beginning« gilt es also zu verstehen, inwieweit die Signaturen nanotechnologischer Forschergruppen einen Anfang markieren können. Ein Stichwort hierfür liefern die von Marcel Duchamp signierten ›gefundenen Gegenstände‹. Wilfried Dörstel identifi ziert Aspekte von Duchamps Praxis, die auf Aspekte der nanotechnischen Praxis verweisen. Da Duchamp den signierten Gegenstand nicht selbst hergestellt hat, so Dörstel, »[…] kann man seine Signierung als Anmaßung […], gar als Verletzung des Urheberrechts bezeichnen oder als Regelverstoß verstehen. Die Signatur verschaff t dem Objekt einen Urheber, der nicht der (eigentliche) Urheber ist. Es sei denn die Signatur verweist auf den Schöpfer, Autor und Urheber der Hinzufügung. […]; es sein denn, sie signiert den Akt der Hinzufügung, nicht das Objekt.« (Dörstel 2001, 311) Im Zusammenhang eines kontrollierten wissenschaftlichen Experiments, einer gezielten Intervention und der Beobachtung ihrer Folgen mit Hilfe eines klassischen Mikroskops würde als Urheber des Gesehenen nie der Beobachter gelten, sondern immer nur die Natur. Auf das klassische wissenschaftliche Interesse an Erforschung und Erklärung bezogen, wäre auch Eiglers Schriftzug ein anmaßender Regelverstoß, ein Verstoß zugleich gegen den Bescheidenheitsethos traditioneller Naturwissenschaft, demzufolge einzelne Forscher zwar Anerkennung verdienen, ihre Entdeckungen und Ergebnisse aber nicht als Privateigentum reklamieren dürfen. 6 Der scheinbare Regelverstoß Eiglers ist schon im STM vorgezeichnet, dem Mikroskop als bescheiden-distanziertes Beobachtungsinstrument, das sich ab jetzt vor allem als Gestaltungswerkzeug anbietet. Für den Forscher am STM lässt sich sagen, er maße sich die Arbeit der Natur als seine eigene Arbeit an – es sei denn sein Schriftzug verweise auch hier auf den Akt des Schreibens selbst. Vgl. www.almaden.ibm.com/vis/stm/gallery (Zugang am 25. August 2005). Diese Ambivalenz wurde insbesondere in zahlreichen Schriften von Robert K. Merton ausgelotet, z. B. Merton 1980. 5 6

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Als Urheber der Hervorbringung und der ihr zu Grunde liegenden technischen Methode haben Eigler und IBM einen Anfang gemacht. Die Signatur beglaubigt sich selbst und damit ihren Anspruch darauf, den Nanokosmos auf eine bestimmte Weise zu besiedeln. Wie der Wissenschaftsforscher Cyrus Mody betont, etablierte sich Don Eigler mit seinen spektakulären Visualisierungen – von denen »IBM« wirklich nur der Anfang war – als Mitglied einer Handwerkerelite, die eine Führungsrolle innerhalb der Sondenmikroskopie beanspruchte (Mody 2004). Einen Anfang, der die Zukunft vorweg nimmt, macht in diesem Zusammenhang ein Schriftzug, der etwas bezeugen soll, aber kein Zeugnis etwa zu Wahrheit oder Falschheit einer Hypothese abgibt, sondern nur die Authentizität seiner eigenen Erzeugung beglaubigt. Die Führungsrolle Eiglers entspricht etwa der des Siedlers im wilden Westen, der erst das Schild mit dem Ortsnamen hinstellt und auf dem so beanspruchten Gebiet dann eine Stadt in der Wüste entstehen lässt. Nicht umsonst wird die Nanotechnologie immer wieder als Versuch beschrieben, an der allerletzten Siedlungsgrenzen – der »last frontier« im westlichen Expansionsstreben – neues Territorium zu erobern (vgl. Nordmann 2004).

III. Umwertungen Eine weitere Bemerkung Dörstels über Duchamp vertieft und verdeutlicht dies. Sie belegt, wie die Signatur eines gefundenen Gegenstands nicht etwa das Ende des künstlerischen Prozesses markiert, sondern ihn überhaupt erst eröff net: Duchamps Signatur werte um – ein Gebrauchsgegenstand wird zum Kunstgegenstand, er wird entwertet und neu bewertet, vielleicht aufgewertet (Dörstel 2001, 312). Auch in der eigenen Erfahrung wertet die Unterschrift um, indem sie etwa eine bloße Behauptung, einen Textvorschlag zur eigenen Aussage macht – ab jetzt, mit meiner Unterschrift bin ich darauf festgelegt. Entsprechend wurde ein einzelnes Atom durch Eiglers Schriftzug vom Erkenntnisgegenstand zum Gestaltungselement umgewertet. Was vorher außerhalb aller Wertschöpfungszusammenhänge stand und dafür vielleicht einen Erklärungswert besaß, soll nun gar nichts mehr erklären, dafür die Aufwertung von IBM bewirken, indem es beispielsweise in der Werbung von IBM auftaucht oder indem es sich als Baustein für eine Neuschöpfung oder Umgestaltung der Welt (»atom by atom«) anbietet. Diese durch die molekulare Signatur bewirkten Umwertungen werden in einem kurzen Film dramatisiert, der sich auf Bildmaterial des Münchner Nanoforschers Wolfgang Heckl stützt. Der Film erläutert die Funktionsweise eines STM , zeigt in der Nahaufnahme, dass seine Spitze wie eine Gravurnadel benutzt werden kann.7 Zunächst sieht der Zuschauer, wie sich die Nadel durch eine Reihe von Der 2003 vom Bayrischen Rundfunk produzierte und gesendete Dokumentarfi lm trägt den Titel Das Nanoschnitzel - Vision und Wirklichkeit in der Nanotechnologie. 7

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Atomen pflügt, dann fährt die Kamera zurück und enthüllt, dass hier gerade in monumentalen Blockbuchstaben das Wort »Nano« geschrieben wurde. Dass von Wolfgang Heckl hier ganz allgemein »Nano« 8 und nicht etwa der Name eines bestimmten, vielleicht seines Labors oder seiner Universität gewählt wurde, verallgemeinert zunächst einmal eine bereits angestellte, von Beatrice Fraenkel entlehnte Beobachtung (Fraenkel 1992). Der machtvoll sich selbst beglaubigende Schriftzug »Nano«8 verleiht diesem Gebiet seine Identität, defi niert die Nanotechnologie als das mittels des Schriftzugs immerhin schon einmal vollbrachte Projekt, etwas aus einzelnen Atomen willkürlich zu gestalten. Die Umwertung des allenfalls erklärenden Erkenntnisgegenstands zum wertschöpfenden Gestaltungselement fi ndet in dem Film seine visuelle Entsprechung in der Umwertung des verschwindend Kleinen in ein überwältigend Großes. So groß und beispielsweise wirtschaftlich bedeutend ist, was die Nanotechnologie erreichen kann, dass wir bzw. die angenommene Kamera ganz weit zurückweichen müssen, um es überhaupt in den Blick zu bekommen. Dieser rasche Schritt zurück, die bildlich verblüffende Enthüllung hat die Dramatik eines Zaubertricks. Hier wird nicht nur die Materie in kleinster Dimension mit größtem Effekt manipuliert, sondern auch mit dem Betrachter gespielt. Das Verhältnis von Mensch, Technik, Natur erscheint nicht als Zuhandensein eines Werkzeugs zur rationalen Naturbeherrschung – stattdessen arbeitet die fi lmische Sequenz mit einem von Science Fiction Autor Arthur C. Clarke formulierten »Gesetz«, das manche Nanotechnologie Webseite ziert: »Jede hinreichend fortgeschrittene Technologie lässt sich von Magie nicht mehr unterscheiden«.9 Hier fi ndet also auch eine Umwertung des Technikbegriffs statt. Statt uns vor Überraschung zu schützen und die Welt zu entzaubern, lebt die Nanotechnologie von der Überraschung, die sich hinter unserem Rücken in einer nicht erfahrbaren Größenordnung selbst-organisierend entwickeln soll (vgl. hierzu Dupuy 2004, Hett 2004, Nordmann 2005). IV. Weltgestaltung Die beschriebene Filmsequenz dramatisiert und verallgemeinert also, was auch für andere Nanoschriftzüge gilt. Trotzdem ist es keineswegs so, als folge Heckl bloß dem Beispiel Eiglers. Er tut dies ebenso wenig, wie Miro mit seiner Signatur etwa dem Beispiel Picassos folgt. Es gilt, den unverwechselbaren Namen auch unverwechselbar zu schreiben. Nicht nur dass, sondern auch wie wir unseren Namen schreiben, soll bedeuten, wer wir sind. Eigler hat einzelne Atome bewegt und 8 Fraenkels Geschichte der Unterschrift identifi ziert als einen Wendepunkt in der frühen Neuzeit, dass eine Unterschrift in der Regel nicht mehr offi ziell beglaubigt werden muss, sondern sich durch die Authentizität ihres Vollzugs selbst beglaubigt. 9 Für diesen Hinweis danke ich Arie Rip (vgl. Rip 2005).

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Abb. 4: Der Bayerische Rundfunk hinterläßt eine Spur in der Nanowelt.

»IBM« nicht etwa digital, sondern weitergehend atomar aus diskreten Teilen zusammengesetzt. Dagegen ritzt Heckl zunächst das Wort »Nano« und danach auch noch die Initialen des Bayerischen Rundfunks in eine Oberfläche. Heckls Initialen ergeben sich aus keiner konstruktiven Leistung, die mit der Kombinierbarkeit von Elementen spielt, sie sind vielmehr eine Spur, die Anwesenheit und Tätigkeit bezeugt (Abb. 4). So etwas wie »Killroy was here« steht da und mit Hilfe Heckls hat der Bayerische Rundfunk nicht nur aus der Ferne in die Nanowelt hineingelugt, sondern war wirklich dort. Zum Beweis und mit Heckls Hilfe hat er seinen Namen in so etwas wie eine Baumrinde gekratzt, einen Schnappschuss gemacht und ihn als Souvenir in die makroskopische Erfahrungswelt mitgebracht. Was ist damit erreicht? Wie gut hat sich Killroy auf der Durchreise einrichten können? Nachdem der Name in die Rinde gekratzt, die Fahne aufgestellt, das Territorium reklamiert und ein Anfang gemacht wurde, ist angesichts der Filmsequenz von Heckl immer noch offen, was auf dieser Grundlage konstruktiv geleistet, technisch realisiert, erfolgreich besiedelt werden kann. Stärker sogar noch als bei Eigler kommt mit diesem Film der Entwurfscharakter der Nanotechnologie ins Spiel – das Wort »Nano« ist Programm für das, was kommen soll. Der ersten, visuell verblüffenden Überraschung folgt im Film des Bayerischen Rundfunks nämlich eine zweite, ernüchternde. Der monumentale Schriftzug aus klaren, dreidimensionalen Blockbuchstaben entstand offenbar in einer Simulation, während die unmittelbar darauf folgenden, krakelig bescheidenen Initialen »BR« materiell realisiert wurden. Die Simulation tritt hier gegenüber der Wirklichkeit als Vorschrift oder Gestaltungsnorm auf. Die Simulation, das bereinigte Bild, auch die extreme Ausnahmesituation, unter der Eiglers Schriftzug entstand, drücken ein Ideal technischer Präzision und somit das Ideal einer Nanotechnologie aus. Die Initialen des Bayerischen Rundfunks legen dagegen Zeugnis ab von der komplexen, schwer beherrschbaren Nanowelt. Von einem Entwurf, einer Vorschrift oder Norm geleitet produziert der Nano-

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forscher Heckl Spuren in der Nanowelt und versteht dies als gestalterische, geradezu künstlerische Tätigkeit. In einem Interview mit dem Bayerischen Rundfunk am 29. Januar 2003, möchte er »auch noch daran erinnern, dass molekulare Kunst mein Hobby ist: Das heißt, wir zeichnen bereits mit einzelnen Molekülen, wir machen Gemälde damit«.10 Nachdem sich schon Don Eigler als Künstler und nicht als Wissenschaftler bei seinem Mäzen IBM bedankte, begegnen wir hier dem Hobbykünstler Heckl, der sein Hobby auch im Wissenschaftsberuf verfolgt.11 Interessant daran für den Zusammenhang von Ästhetik und den weltgestaltenden Technowissenschaften ist vor allem, wie stark dies dem Selbstverständnis dieser Wissenschaften entspricht. Die Signatur des Visualisierungskünstlers weist ihn als Schöpfer neuer Welten aus. Gerburg Treusch-Dieter hat in diesem Zusammenhang hervorgehoben, dass auf die Nanotechnologie buchstäblich zutriff t, was Kant über die Kunst sagt – sie sei »sehr mächtig in Schaff ung gleichsam einer andern Natur, aus dem Stoffe, den ihr die wirkliche gibt«.12 Wenn Atome und Moleküle das Alphabet sind, mit dem das Buch der Natur geschrieben ist, dann setzt die atomar verfasste Schrift eine zweite, technisierte, willkürlich gestaltete Natur an die Stelle der ersten.

V. Gegenwelt Nun führt aber noch ein ganz anderer Weg von der Nanotechnologie zur Kunst. Er nimmt seinen Ausgang nicht bei dem Ideal absoluter Kontrolle, der Unterschrift als Vorschrift. Er unterläuft dieses Ideal, in dem er seinen Ausgang bei den undeutlichen Ahnungen der Nanowelt nimmt, wie sie sich den wissenschaftlichen Instrumenten zunächst ankündigt. Statt die unsicheren, tastenden, fast schon verblassenden Initialen des Bayerischen Rundfunks als defi zitär gegenüber der technischen Vision zu begreifen, sieht dieser Ansatz darin die anerkannte, verdeutlichte Materialität einer widerständigen Struktur. Die Unbeständigkeit der Linie, die Fragwürdigkeit und Fragilität der Zeichnung erinnert an Tapies oder Twombly, an Hingabe und nicht Selbstbehauptung des Subjekts, das sich der Natur und der Geschichte überantwortet weiß.

Siehe www.br-online.de/alpha/forum/vor0301/20030129_i.shtml (Zugang am 4. September 2005) mit Durchschrift der Sendung AlphaForum, Sendetag: 29. 01. 2003, 20.15 Uhr. 11 Andere Namen ließen sich hier anführen, allen voran Jürgen Brickmann und Eric Heller, die ihre wissenschaftlichen Visualisierungen, bzw. nach analogen Verfahren erstellten Kunstwerke erfolgreich ausstellen und verkaufen. 12 Gerburg Treusch-Dieter zitierte die berühmte Passage aus Kants Kritik der Urteilskraft in Bezug auf künstlerische Visualisierungen des im Nanobereich tätigen Physikers Jürgen Brickmanns, vgl. ihren Vortrag im Mai 2005 auf der Tagung Imaging Nanospace am Zentrum für interdizsiplinäre Forschung, Bielefeld. 10

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Dieser Ansatz tritt an die Stelle einer narzisstischen Bemühung, sich selbst, die eigene Kunst oder den eigenen Plan in den Dingen gespiegelt zu sehen. Wie eingangs angedeutet wurde, erscheinen dem STM die Atome nicht als deutlich individuierte Körper sondern als bloßer Vorschein oder Andeutung. In dem mit einem STM gewonnenen »ersten Blick in das Innere eines Atoms« erschien daher weder das Atom noch sein Inneres als technisch verfügbares Gestaltungselement, sondern unscharf, ungreif bar – wie eine Seelandschaft von Gerhard Richter. Gerhard Richter begegnete diesem »ersten Blick« in der FAZ vom 26. Juli 2000. Er nahm sich des Bildes mit dem dazu gehörigen Text an und verarbeitete sie zu einem Off setdruck mit dem Titel »Erster Blick« (vgl. Soentgen 2006). Dass wir an den äußersten Grenzen instrumenteller Vorstöße auf eine konturlose, nurmehr ästhetisch wahrnehmbare Schattenwelt stoßen, muss insbesondere den Künstler beeindrucken, der den technisierten, machtergreifenden, schneidend-scharfen Blick immer wieder zu desillusionieren suchte. So nimmt Gerhard Richter das Geschenk von Natur und Technik dankend an. Wie beim Rennen von Hase und Igel ist er schon längst da. Das narzisstische Moment der Nanotechnologie wird ironisiert, wenn Richters offensichtlichster Eingriff in das vorgefundene Bild darin besteht, seine Signatur hinzuzufügen. Damit feiert er mit bedächtigem Frohsinn die unverhoff te künstlerische Rückgewinnung einer technisch doch nicht instrumentalisierbaren Natur.13 Diese Betrachtung einer Arbeit Gerhard Richters ermöglicht die abschließende kritische Perspektive auf den Anspruch quasi-künstlerischer, technischer Weltgestaltung. Die Signaturen der nanotechnischen Visualisierungskünstler wurden hier ernst genommen und als aufschlussreiche Gesten ästhetisch gedeutet. Damit sollte aber keineswegs die Nähe von Kunst und Wissenschaft, gar die Überbrückung der zwei Kulturen behauptet oder zelebriert werden. Vielmehr verdeutlicht die Behandlung technowissenschaftlicher Praxis als ästhetischer Praxis die Merkwürdigkeit technowissenschaftlicher Gestaltungsansprüche. Gerade angesichts des technischen Ideals einer willkürlichen Weltgestaltung erhebt sich die Frage nach Differenzen von Kunst und Wissenschaft, darf und muss auf diese Differenz insistiert werden. Eine Technik, die nicht mehr von Magie unterschieden werden kann, sollte uns unheimlich sein – ebenso eine Wissenschaft, die sich unkritisch als Kunst missversteht, gerade indem sie die Reflexionsleistung der Kunst nicht mit vollzieht.

Im Gegensatz zu Duchamp wertet also Richters Unterschrift nicht einen gefundenen Gegenstand in ein Kunstwerk um, sondern erkennt ein gefundenes Bild als das seine. 13

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K nowledgeDesign – die Ästhetische Darstellung der Welt Von Torsten Meyer

Vor 200 Jahren schrieb Johann Friedrich Herbart seine Abhandlung »Über die ästhetische Darstellung der Welt als Hauptgeschäft der Erziehung.« Was neuerdings und mit einigem Tamtam »Wissens-Design« genannt wird, ist insofern für die Erziehungswissenschaft ein relativ alter Hut. Insbesondere in der Didaktik ist es eine alte Weisheit, dass das, was vermittelt werden soll, in eine für die Wahrnehmung optimierte Form gebracht werden muss. Herbarts Grundüberzeugung, dass – prinzipiell – das Schöne dem Guten dienlich sei, muss dabei relativ, d. h. vor dem kulturhistorischen Hintergrund – etwa Schillers wenige Jahre zuvor erstmalig publizierten »Briefen über die ästhetische Erziehung des Menschen« – gesehen werden. »Machen, dass der Zögling sich selbst fi nde, als wählend das Gute, als verwerfend das Böse: dies […] ist Charakterbildung.« – so formulierte Herbart sein Bildungsziel. Als Mittel, dieses Ziel zu erreichen, schien ihm die Kunst, die Literatur als geeignet: das Schöne also für das Gute – nach damaligen Maßstäben. Die Frage nach dem Verhältnis von Ästhetik und Wissenschaft könnte dem entsprechend ähnlich gestellt werden: Kann man grundsätzlich davon ausgehen, dass das Schöne dem Wahren dienlich ist? Oder muss möglicherweise auch diese Frage durch relativierende Brillen epochenspezifi scher Wissens- und Denkformationen – »Denkstile « im Sinne Ludwik Flecks vielleicht – gesehen werden? Ob meine hier vorgenommene Unterstellung der Koppelung der drei traditionellen Großdiskurse – das Wahre, das Schöne, das Gute – an Wissenschaft, Kunst, Religion aktuell noch Gültigkeit hat, eindeutig ist und überhaupt sinnvoll erscheint, sei für den Moment dahingestellt. Es sind Überlagerungen spürbar, Uneindeutigkeiten. Dass ich meine Disziplin, die Erziehungswissenschaft, hier – vermittelt über die Frage nach dem Guten – in die Tradition des Religionsdiskurses stelle, mag manchem ungewöhnlich erscheinen. Es hat seine Gründe in der Genese der Disziplin, erscheint aber vor dem Hintergrund der Tatsache, dass es vor allem eine » Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung « ( OECD ) ist, die durch ihre an Effi zienzkriterien (und eben nicht ethischen Kriterien) ausgerichteten PISA-Studien die Erziehungswissenschaft in die öffentliche Diskussion bringt, mehr als befremdlich. Auch die Frage, ob sich das Ästhetische im Schönen erschöpft, ist im Hinblick auf gegenwärtige Wissens- und Denkformationen nicht (mehr) so ganz selbstverständlich zu beantworten. Aktuelle Ästhetikdiskurse lassen hier heftig zweifeln. Der Begriff der Schönheit wurde in den letzten Jahrzehnten in der Kunst zum Beispiel ein bisschen korrumpiert. Gespannt darf man allerdings auf die nächste

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Documenta 2007 in Kassel sein: Roger M. Buergel, der künstlerische Leiter, verspricht: »Die nächste documenta wird schön werden.« (Buergel 2005, 11) Ungeachtet dieser Klärungsbedarfe verstehe ich das Ästhetische zunächst einmal als Frage nach Darstellung und nach Darstellbarkeit – im Kontext einer Ästhetik der Wissenschaften als Frage nach der Darstellung und Darstellbarkeit von Wissen.

Darstellung und Herstellung von Wissen – »Wissensmanagement« Fragen nach dem Verhältnis von Ästhetik und Wissenschaft stellen sich ganz praktisch, wenn es darum geht, ein Wissensmanagement-System zu konzipieren. Vor dem Hintergrund eines solchen Vorhabens will ich mich vor allem den Bedingungen der Darstellung und Herstellung von Wissen annähern. Dabei betrachte ich – das legt meine Disziplin nahe – die Darstellung und Herstellung von Wissen zunächst einmal als eine didaktische Herausforderung. Kurz gesagt ist es der Job des Lehrers, Wissen in den Köpfen seiner Schüler herzustellen. Und die Qualität seiner Lehre wird direkt mit seinen Fähigkeiten zur Darstellung des Wissens in seinem eigenen Kopf zusammenhängen. Ich gehe jedoch davon aus, dass diese Fragen um Dar- und Herstellung von Wissen nicht nur für didaktische, sondern ebenso für heuristische Prozesse interessant sind – ja, dass es hier auf struktureller Ebene einige Gemeinsamkeiten gibt. Das Wissensmanagement-System, an dessen Konzeption und Realisierung ich zurzeit mit meinen Mitarbeitern im MultiMedia-Studio am Fachbereich Erziehungswissenschaft der Universität Hamburg arbeite, haben wir study.log getauft.1 Es ist ein so genanntes KnowledgeDiscoveryTool, das insbesondere auf die Erfordernisse eines (geisteswissenschaftlichen) Hochschulstudiums abgestimmt ist. study.log soll Studierenden (aber auch Lehrenden und Forschenden) die Möglichkeit bieten, Lern- und Studienmaterialien, die ihnen im Verlauf ihres Studiums begegnen, in einer Weise zu organisieren, die insbesondere der veranstaltungsübergreifenden, interdisziplinären semantischen Vernetzung förderlich ist. Die aus dem aktuellen, von wenig Auseinandersetzung mit den Grundlagenforschungen getragenen Sprachgebrauch im Kontext von DataMining und KnowledgeManagement übernommene Bezeichnung als KnowledgeDiscoveryTool ist dabei allerdings irreführend. Strenger genommen wäre KnowledgeConstructionTool zutreffender und unserem erkenntnis- und bildungstheoretischen Grundverständnis weitaus angemessener.

1 Das Projekt wird gefördert im Rahmen des Hamburger Sonderprogramms »E-Learning und Multimedia in der Hochschullehre «. Geplant ist außerdem eine Weiterentwicklung im Rahmen des BMBF -Programms » e-science und vernetztes Wissensmanagement«. Für nähere Informationen siehe auch http://www.studylog.de.

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Wissen ist keine Sache, die man irgendwie, irgendwo entdecken könnte. Wissen ist vielmehr ein immer prozessgebundener Systemzustand. Eine direkte Übertragung von Wissen aus dem einen Kopf in den anderen ist darum völlig unmöglich. Trotz der derzeit getätigten, ganz erheblichen (vor allem fi nanziellen) Anstrengungen im Bereich des eLearning (von dem einige genau dies erhoff t hatten) bleibt der Nürnberger Trichter vorläufig ein alter didaktischer Wunschtraum – ein Wunschtraum allerdings, der dringend die Frage aufwirft, wie überhaupt Wissen transportierbar ist oder transportierbar gemacht werden kann. Dies ist gewissermaßen die Masterfrage, die uns bei der Konzeption des Wissensmanagement-Systems study.log umtreibt: Wie kann Wissen transportiert werden? Und wie kann Wissen gespeichert, abgelegt (und wieder hergestellt) werden, wenn der unmittelbare, also medienfreie Transfer von Wissen bis auf weiteres nicht möglich ist, weil Wissen immer eine Form in einem Medium 2 annehmen muss, damit es kommunizierbar wird? Wenn Wissen nur über ein oder in einem Medium kommuniziert werden kann, dann spielt das Medium, in dem oder über das kommuniziert wird, eine wesentliche Rolle. Ich vermute, die Beschaffenheit dieses Mediums muss als Bedingung des Transports und somit auch des Erwerbs von Wissen angesehen werden. Wenn wir es dabei, wie momentan, mit »Neuen Medien« zu tun haben, dann wäre zu schließen, dass wir es auch mit »Neuen Bedingungen« der Transportierbarkeit und des Erwerbs von Wissen zu tun haben. Mit diesen Andeutungen (die später noch vertieft werden) sei der gedankliche Rahmen skizziert, der uns bei der Konzeption eines KnowledgeConstructionTools geleitet hat. Im folgenden Abschnitt werden zunächst dessen Grundfunktionalität und die Metaphorik der Benutzerschnittstelle vor dem Hintergrund der Anforderungen an ein Werkzeug zur Unterstützung vorwiegend geisteswissenschaftlichen Arbeitens und vor dem Hintergrund oben vermuteter »Neuer Bedingungen« der Transportierbarkeit und des Erwerbs von Wissen vorgestellt.

study.log: Kontextualisierungen 3 Wissenschaftliches Arbeiten in den Geisteswissenschaften bedeutet zunächst Umgang mit Kulturinhalten. Kulturinhalte sind körpergebundene oder externalisierte, d. h. abgelegte, aufgezeichnete und archivierte Wissensbestände, die in lesbaren Dokumenten, oder allgemeiner: in Bedeutung tragenden Materialien, vorliegen. Hierzu zählen Bücher, Zeitschriftenartikel, Vortragsmanuskripte, Forschungsberichte, Literaturverzeichnisse, historische Quellen, InterviewtranskripZur Distinktion Medium/Form vgl. z. B. Luhmann 1997, 165 f. Der folgende Abschnitt basiert auf einem Text, den Stephan Münte-Goussar zwecks Dokumentation des study.log verfasst hat. 2 3

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Abb. 1: Beispiele für Kulturinhalte, die in Bedeutung tragenden Materialien vorliegen. Hierzu zählen beispielsweise Bücher, Zeitschriftenartikel, Vortragsmanuskripte, Forschungsberichte, Literaturverzeichnisse, historische Quellen; ebenso auch Bilder, Videomitschnitte und Filme.

tionen, Beobachtungsprotokolle; ebenso auch Bilder, Videomitschnitte und Filme; weiterhin Architektur und die Konstruktion technischer oder ästhetischer Objekte und Relationen. Sie werden gelesen, exzerpiert, kommentiert, analysiert, interpretiert, dekonstruiert. Sie werden gespeichert, indiziert, sortiert, katalogisiert, kanonisiert, strukturiert, mit Notizen versehen, zitiert, be- und fortgeschrieben usw. – kurz: Die Materialien werden kontextualisiert (Abb. 1). Studierende wie Lehrende und Forschende der Geisteswissenschaften verwalten diese Arbeitsmaterialien – das haben wir in der Vorbereitung der Konzeption erhoben – in Bücherregalen, Aktenordnern, Fotokisten, Zettelkästen, als Loseblattsammlungen, auf gelben Klebezetteln, unterm Bett oder auf dem Dachboden der Eltern … Zunehmend liegen diese Materialien in digitaler Form vor und müssen organisiert werden – mit den Möglichkeiten des jeweiligen Betriebssystems oder mit auf bestimmte Materialtypen spezialisierter Programme. In beiden Fällen werden die Materialien oft weg-sortiert. Es fehlen ein nachhaltiger Zugriff, die Möglichkeit des effektiven Stöberns, des gezielten Suchens und insbesondere der dauerhaft überschaubaren Darstellung bzw. Herstellung von Zusammenhängen. Hier setzt study.log an: Es ist ein Datenbank-basiertes, digitales StudienmaterialOrganisations-System. Es soll durch intuitive, per drag & drop zu handhabende Interfaces verschiedene assoziative, systematische und themenbezogene Darstellungen der digitalen Studien-Materialien in wechselnden Kontexten zulassen. Auf diese Weise soll ein interaktives Logbuch des individuellen Studien- oder Forschungsgangs möglich werden, das dauerhaft die Funktion eines um neue mediale Möglichkeiten erweiterten Zettelkastens erfüllen kann. Grundlegend für das Design der Benutzeroberfl äche sind die Metaphern Material und Kontext. Für study.log ist ein Material alles, was in gängigen Formaten digitalisierbar ist. Materialien lassen sich beliebig kombinieren und zu kleinen Collagen zusammenstellen: Ein Bild mit beschreibendem Text; ein Text, dessen These von einem Video illustriert wird; ein Dialog zwischen zwei Bildern. Einzelne Materia-

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Abb. 2: Von der Software produzierte Bilder der eigenen Denk-, Forschungs-, Bildungs- und Wissensgenerationsprozesse.

lien können untereinander verknüpft werden. Materialien stehen so in einem assoziativen, netzwerkartigen Zusammenhang zu anderen Materialien. Diese Materialien lassen sich in verschiedene Kontexte stellen. Ein Kontext ist dabei zunächst ein Set von Metadaten, die in einer Datenbank verwaltet werden. Sichtbar wird diese Metadatierung durch die Bildung von Clustern, Verdichtungen, signifi kanten Figurationen der Materialien auf der Arbeitsfläche. Auf diese Weise entstehen Mind-Map-ähnliche Gebilde, die die komplexen Strukturen und semantischen Relationen der einzelnen Kontexte visuell wahrnehmbar machen. Die Visualisierung dieser semantischen Arrangements ist an memotechnischen Grundsätzen orientiert, die trotz der vielbeschworenen Informationsflut so etwas wie einen hypermedialen Überblick – einen Hyperblick gewissermaßen – erlauben. Die Software produziert Bilder der eigenen Denk-, Forschungs-, Bildungs-, Wissensgenerationsprozesse, hält diese im Gedächtnis und macht sie nachvollziehbar (Abb. 2). Es können beliebig viele solcher Kontexte angelegt werden. Jeder Kontext ordnet die Gesamtheit der Materialien unter einer jeweils anderen Perspektive. Jedes Material zeigt sich somit innerhalb einer Vielzahl verschiedener Kontexte. Erst diese Kontextualisierungen geben dem einzelnen Material Bedeutung. Durch fortschreitende Konnexion, d. h. im Prozess der De- und Rekontextualisierung der Wissensfragmente kommt es zur spontanen Neustrukturierung bekannter Strukturen, in diesem Sinne zu bis dahin ungewusstem Wissen – zu neuen, weiterführenden Ideen, Assoziationen, Anknüpfungspunkten und Erkenntnissen. Diese für den Forschungs- oder Lernprozess entscheidende Herstellung von Relationen – das eigentliche forschende Tun – wird von der Software memoriert, sichtbar, greif bar und dem Fortschreiben verfügbar gemacht. 4 4 Die Screenshots können das nur unzureichend wiedergeben (Abb. 2). Es sei hiermit ein Blick auf http://www.studylog.de empfohlen. Dort kann die Software in Aktion innerhalb eines Video-Previews angesehen oder eine erste Beta-Version (für Macintosh OS X und Windows XP) herunter geladen werden.

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Wissen versus Information Die Konzeption von study.log ist getragen von einem konstruktivistischen Verständnis von Wissen, das dieses deutlich von Information unterscheidet. study.logMaterialien gewinnen ihren erkenntnistheoretischen Wert erst durch die Zuordnung zu Kontexten. Als die »Neuen Medien« noch wirklich neu waren, war diese Einsicht keineswegs selbstverständlich. Das sei hier mit einem kleinen Rekurs in die Frühzeit der »Neuen Medien« dargestellt. In einer Werbeanzeige (Abb. 3) aus den späten 1990er Jahren versprachen die Betreiber der Internet-Suchmaschine Lycos »Das ganze Wissen der Welt. Einfach per Mausklick! « Und so ähnlich frohlockten auch viele andere, die mit dem »Neuen Medium« Geld verdienen wollten oder überzeugt waren, dass mit dem WorldWideWeb berechtigte Hoff nungen auf Demokratisierung des Wissens und grenzenlose Auf klärung zu verbinden wären: »Das ganze Wissen der Welt – einfach per Mausklick! […] Aktuelle Informationen, neuste Nachrichten, grenzenlose Kommunikation und das komplexe Wissen der Menschheit – jederzeit für Jedermann.« Zugrunde gelegt war dabei trotz aller dem Cyberspace unterstellten Virtualität ein recht ding-ontologisches Verständnis von Wissen, das sich recht schnell als dem »Neuen Medium« und den mit ihm verbundenen »Neuen Bedingungen« der Transportierbarkeit und des Erwerbs von Wissen als relativ unangemessen herausgestellt hat. Aus vielfacher eigener Erfahrung muss ich zugeben, dass ich mich nicht immer vom »Lichte der Auf klärung « beschienen fühle, wenn ich das WorldWideWeb als »Archiv des Wissens der Welt« zu gebrauchen versuche. Als ich irgendwann im Jahr 1998 bei der Recherche im Internet mal wieder den Überblick verlor, fragte ich mich, ob es wohl irgendwo in den semantischen Weiten der damals mit nur 50 Mil-

Abb. 3: Werbeanzeige aus den späten 1990er Jahren der InternetSuchmaschine Lycos.

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lionen noch relativ überschaubaren Web-Seiten ein Zentrum gibt. – Ein Zentrum des Internets, von dem aus so etwas wie Überblick zu erwarten wäre. Ich tippte darum » center of the internet« in eine Suchmaschine ein und wurde – zu meiner großen Überraschung – fündig (Abb. 4). Unter www.uni-kassel.de/f b22 fand ich »the official center of the internet.«

Abb. 4: »the official center of the internet« unter www.unikassel.de/f b22

Die beiden Studenten der Kunsthochschule Kassel, Oliver Schulte und Maik Timm, hatten dort sogar einen Rundumblick – »a view from the center« – installiert. 5 Die Übersicht, die man von dort aus hat, bleibt allerdings unbefriedigend. Zwar hat man dank Quicktime-VR-Technik einen wirklichen Rundumblick. Was man sieht, bleibt aber, wenn auch in 3-D, visuelles Rauschen … Mike Couzens hat das Problem mit einem anderen Bild auf den Punkt gebracht. Auf die Frage, ob das WorldWideWeb mit der Metapher der Bibliothek annähernd zu fassen sei, antwortete er: »Maybe, but if so: 1. the librarians have gone home, 2. all books are on the floor, 3. the lights are off.« 6 Wenn das WorldWideWeb eine solche dunkle Bibliothek ist, in der die Bücher auf dem Boden verstreut sind und auch das Auskunftspersonal gegangen ist, und wenn es – das hat Couzens gar nicht erwähnt – auch keinen Katalog gibt, der für irgendeine Art von Ordnung oder Orientierung sorgen könnte, dann wird die Rede vom WorldWideWeb als »Archiv des Wissens der Welt« irgendwie abstrus. Angemessener scheint mir, hier nicht von Wissen zu reden, sondern von Information. Wissen, strenger genommen, ist nicht eine Sache, die in bytes quantifi ziert werden könnte, die transportiert und irgendwo abgelegt, gespeichert werden kann. Man kann Wissen nicht » downloaden« zum Beispiel (wie das scheinbar so mancher eLearning-Konzeption zugrunde liegt). Mit Platon könnte man sagen, Wissen ist etwas, das in die Form von Sätzen gebracht werden kann, das also immer angewendet werden muss – auf irgendetwas, das immer in einem Zusammenhang stehen muss, in einem Kontext (vgl. von Hentig 1996, 329 f.). Kontextfreies, subjekt-loses – in diesem Sinne also objektives – Wishttp://www.uni-kassel.de/f b22/home/candela2/center/main.html (7. Mai 1999) Mike Couzens, Manager der Computerfi rma Cisco, bei seinem Eröff nungsvortrag auf der » Online Educa Berlin 2000 «. Ich danke Joeran Muss-Merholtz für diesen Hinweis. 5 6

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sen gibt es nicht. Ungelesene Bücher (auf dem Fußboden einer dunklen Bibliothek im Besonderen) enthalten kein Wissen – bestenfalls im Potentialis.

Medium / Form, symbolische Form, historisches Apriori Wissen im Potentialis ließe sich mittels der systemtheoretischen Abstraktion, die Niklas Luhmann und Dirk Baecker 7 dem Begriff Medium zukommen lassen, als Wissen im Aggregatzustand loser Kopplung beschreiben. Luhmann und Baecker schließen damit an Fritz Heiders (vgl. Heider 1926) wahrnehmungspsychologisch entwickelte Distinktion Medium/Form an. Formen lassen sich nach Heider nur in einem Medium unterscheiden, das aus gleichen Elementen besteht, wie die Formen selbst. Ein Medium besteht aus einer großen Menge locker verknüpfter Elemente, während Form durch mehr oder weniger feste Koppelungen dieser Elemente bestimmt ist. Medium und Form unterscheiden sich demnach nur im Aggregatzustand dieser Elemente. In Bezug auf die Schriftsprache hieße das zum Beispiel, dass das Medium der lose gekoppelten Worte sich in die Form von fester gekoppelten Sätzen überführen lässt. Die Ordnung der festen Kopplung in den Sätzen wird bestimmt durch die Syntax der Sprache, während der Pool der potentiell verknüpf baren Worte als ein Medium zu sehen wäre, als ein »Behälter« von Möglichkeiten gewissermaßen (vgl. dazu ausführlicher Meyer 2002, 33 ff.). Die Unterscheidung Medium / Form dient hier dazu, das ding-ontologische Konzept, die Unterscheidung Substanz / Akzident oder Ding / Eigenschaft zu ersetzen. Das » ganze Wissen der Welt« aus der Lycos-Anzeige ist nach dieser Konzeption (lediglich) ein Medium lose gekoppelter Sinn-Elemente, die man als Informationen bezeichnen könnte. Das WorldWideWeb ist lediglich der Pool der Möglichkeiten, das Wissen im Potenialis. Es bedarf der Anwendung, der Kontextualisierung durch den user, der dieses Potential in die von Platon geforderte Form von Sätzen (verstanden als Sinn-Zusammenhänge, Thesen), in die Wirklichkeits-Form bringen muss. Nach eingehender theoretischer wie praktischer Auseinandersetzung mit den Substrukturen der so genannten »Neuen Medien« halte ich es für ein gewinnbringendes Gedankenexperiment, einen solchen Begriff, von Medium als einem Behälter von Möglichkeiten auch zugrunde zu legen, wenn wir von diesen »Neuen Medien« sprechen. Insbesondere, wenn es um Klärung der Frage geht, was das spezifi sch Neue ist, das die Behauptung »Neuer Medien« impliziert. Zumindest dürfte damit sichergestellt sein, dass Medium nicht als Gerät missverstanden werden kann, das man an- und auch ausschalten könnte (wie das z. B. in der Medienpädagogik relativ weit verbreitet ist).

7

Vgl. z. B. Luhmann 1997, 165 f., aber auch Baecker 1992, 246 ff.

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Wenn von »Neuen Medien« die Rede ist, dann sollten wir, um der Tragweite hinsichtlich der Bedingungen der Transportierbarkeit und des Erwerbs von Wissen gerecht zu werden, versuchen, Medium konsequent im Singular zu denken als ein Medium psychischer und sozialer Prozesse, als einen »Behälter« von Möglichkeiten zur Konstruktion von Wissen, zur Konstruktion psychischer und sozialer Wirklichkeiten. Es ist dann eher von einer Art epistemischer Grundstruktur die Rede, etwa im Sinne des auf Ernst Cassirer zurückgehenden Begriff s der Symbolischen Form (vgl. Cassirer 1924). In Anführungszeichen könnte man ein solches Medium, die Symbolische Form auch als »Wissensmanagement-System« beschreiben, weil es die Möglichkeiten zur Konstruktion von Wissen defi niert. Es bestimmt, was wir und wie wir und was wir wie wissen können. Auf begriff s-konzeptioneller Ebene wäre das auch vergleichbar dem historischen Apriori, das Michel Foucault in seiner »Archäologie des Wissens« (Foucault 1997) den einzelnen untersuchten Epochen unterstellt. Die Symbolische Form ist gegenüber dem Foucaultschem historischen Apriori jedoch in größeren Maßstäben gedacht. Während Erwin Panofsky zum Beispiel die These aufstellt, die Neuzeit sei durch die Symbolische Form der Zentralperspektive (vgl. Panofsky 1927) geprägt, und damit also den Zeitraum von der Renaissance bis zur Moderne abdeckt, macht Foucault für den gleichen Zeitraum verschiedene historische Apriori geltend. Foucault nennt das – die je zeitspezifi schen Umgangsform mit dem Wissen bestimmende – historische Apriori auch Archiv: »Das Archiv ist zunächst das Gesetz dessen, was gesagt werden kann. […] es ist das, was an der Wurzel der Aussage selbst als Ereignis und in dem Körper, in dem sie sich gibt, von Anfang an das System ihrer Aussagbarkeit defi niert. […] es ist das, was den Aktualitätsmodus der Aussage als Sache defi niert; es ist das System ihres Funktionierens.« (Foucault 1997, 187 f.) Das heißt, die epochenspezifi schen Diskursinhalte sind nicht in erster Linie Ergebnisse rationaler Denkprozesse, sondern vielmehr Resultat dessen, was zu einem bestimmten Zeitpunkt als sagbar und denkbar gilt. Foucaults Archiv operiert jedoch nicht auf einer abstrakt medientheoretischen Ebene, die etwa lediglich defi nieren würde, welche Satzbildungen der Pool der z. B. während der Epoche des klassischen Rationalismus gebräuchlichen Worte erlaube. Vielmehr ist damit der Versuch unternommen, den praktizierten Metadiskurs einer Epoche zu fassen: »Zwischen der Sprache, die das Konstruktionssystem möglicher Sätze defi niert, und dem Korpus, das die gesprochenen Worte passiv aufnimmt, defi niert das Archiv eine besondere Ebene: die einer Praxis.« (Ebd., 188) In Analogie zur Medium / Form-Unterscheidung könnte hier das historische Apriori als Medium der Möglichkeiten und das Archiv als Form der Wirklichkeiten gedacht werden.

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Medieninduzierte Wissensformationen Insbesondere Erwin Panofskys These von der Zentralperspektive als Symbolische Form der Neuzeit legt die Vermutung nahe, dass die epochenspezifi schen Wissensformationen bezüglich der jeweiligen Möglichkeitsbedingungen stark abhängig sein könnten von den jeweils vorwiegend verwendeten kommunikativen (und damit auch kommunionalen) Mittlern. Panofsky sieht in der zu Beginn der Renaissance entwickelten zentralperspektivischen Abbildungstechnik nicht nur eine neue Darstellungsmethode, sondern eine neue Grundstruktur kommunikativer Prozesse und ein neues Modell psychischer Wahrnehmung, zunächst visueller Art. Die Zentralperspektive ermöglicht es, Erfahrung zu wiederholen, die unbekannte Betrachter irgendwann irgendwo gewonnen haben. Sie ermöglicht es, visuelle Informationsverarbeitung zu kopieren und dadurch »Standpunkt und Perspektive von anderen Menschen zu programmieren« (Giesecke 1998, 103). Michael Giesecke zur Folge erlang im 14. Jahrhundert die Frage, »wie man individuelle Wahrnehmung verallgemeinern, individuelles Wissen nicht nur einem leiblichen Gegenüber sondern vielen, auch unbekannten Menschen zur Verfügung stellen kann, große Bedeutung. Und die Maler und Architekten, die sich mit perspektivischen Konstruktionen befassten, lieferten hier die besten Antworten« (ebd.). Die neue kommunikative Grundstruktur wird sehr deutlich mittels eines Experiments, das einer jener Maler und Architekten, Filippo Brunelleschi in Begeisterung für sein eigenes Werk erdachte. Es sollte sich als eines ungeheurer Tragweite herausstellen: Brunelleschis perspektivische Abbildung des Baptisteriums in Florenz schien ihm selbst so überwältigend, dass er zwecks intersubjektiver Überprüfung vorschlug, der Betrachter solle sich in der Mitteltür des dem Baptisterium gegenüberliegenden Doms, dem Projektionspunkt der Abbildung, aufstellen und den Blick, den er von dort aus hatte, mit dem Blick auf Brunelleschis Bildtafel vergleichen. Jeder Betrachter würde das Baptisterium von dort aus so sehen, wie es Brunelleschi gesehen hat. Der Betrachter sollte durch ein kleines Loch in der Mitte der Bildtafel, die er umgedreht zwischen sich selbst und das Baptisterium halten sollte, zunächst das Baptisterium im Original ansehen und dann einen Spiegel zwischen die Abbildung und das Original halten, um so das Gemälde anstelle des Baptisteriums zu sehen. 8 (Abb. 5, S. 141) Der subjektive Blick wurde damit transportabel und verallgemeinerbar. Alle Menschen, die den Standpunkt des Malers – oder vielleicht besser: des perspektivischen Konstrukteurs – vor der Bildtafel einnahmen, unabhängig davon, wo sich diese befand, konnten das Baptisterium wieder so sehen, wie Brunelleschi es gesehen hat, weil der Standpunkt des Konstrukteurs (das Guckloch in der Bildtafel) Vgl. dazu auch, insbesondere zur hier nicht weiter ausgeführten Funktion des Spiegels: Pazzini 1992, 58 ff. 8

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Abb. 5: Filippo Brunelleschis Experiment zur perspektivischen Abbildung.

dank unabhängig vom konkret Abgebildeten beschreibbarer Konstruktionsregeln von der Abbildung selbst mitkommuniziert wird. »Was« – so Giesecke – »ist dies für ein Gemeinschaftserlebnis – und nicht bloß ein Erlebnis, sondern eine Gewißheit, die sich experimentell bestätigen läßt?! « (Giesecke 1998, 106) Dass diese neue Gemeinschaftsgewissheit überaus erfolgreich war und erhebliche Folgen nicht nur als visuelle Kommunikationstechnik hatte, lässt sich kaum bestreiten. Beispielsweise basiert der kartesische Raum in mehrfacher Hinsicht auf der Abbildungstechnik der Zentralperspektive. Die analytische Geometrie bildet quasi das Umkehrverfahren zur Konstruktion der zentralperspektivischen Abbildung. Und als René Descartes den November 1619 in seiner warmen Ofenstube nahe Ulm verbrachte, erfand er nicht weniger als die Metatheorie zur neuen Gemeinschaftsgewissheit, die gewissermaßen für die Formatierung des Wissens der gesamten Neuzeit verantwortlich ist. Der Projektionspunkt der zunächst nur visuellen Informationsverarbeitung der Zentralperspektive wurde gewissermaßen aus dem Auge des Betrachters ein paar Zentimeter nach hinten, weiter in dessen Kopf verlagert und dadurch zum universalen Projektionspunkt jeglichen Denkens. Mit der Selbstgewissheit des cogito konnte fortan die beginnende anonyme Massenkommunikation, zu der Buchdruck und freie Warenwirtschaft seit dem 15. Jahrhundert weitere technische und ökonomische Voraussetzungen lieferten, methodologisch fundiert werden. Die durch massenhaft produzierbare Bücher technisch zu bewerkstelligende, intersubjektive Verständigung (und damit die Akkumulation von Wissen) über die Umwelt zwischen einem Autoren und all seinen Lesern ohne direkte Interaktion wurde möglich, wenn sich nur Autor und Leser am gemeinsamen Projektionspunkt des denkenden Ich versammelten – ganz so, wie sich der perspektivische Konstrukteur und der Betrachter im Experiment Brunelleschis am Guckloch in der Bildtafel versammelten. Allerdings ist mit der auf zentralperspektivischen Prinzipien beruhenden sozialen Akkumulation von Wissen ein Verständnis von Kommunikation zugrunde gelegt, das diese als die Wiederholung der Informationsverarbeitung des Autors durch den Leser sieht. Auf diesem Verständnis basiert der Mythos, man könne Wissen wie Waren (z. B. Bücher) an andere weitergeben. »Kommunikation erscheint

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in Analogie zum Warentausch als Informationsaustausch.« (Ebd., 108). Dieser Mythos erst macht Behauptungen möglich wie, » das ganze Wissen der Welt« liege im Internet. »Database« als eine symbolische Form Als ein Gegenmodell zur Symbolischen Form der Perspektive – vielleicht auch nur modifi ziertes, darauf auf bauendes, aber es prinzipiell umbauendes Modell (vgl. dazu Meyer 2005) – hat Lev Manovich das Denkmodell der database als Symbolische Form entworfen: »Indeed, if after the death of God (Nietzsche), the end of grand Narratives of Enlightenment (Lyotard) and the arrival of the Web (Tim Berners-Lee) the world appears to us as an endless and unstructured collection of images, texts, and other data records, it is only appropriate that we will be moved to model it as a database.« (Manovich 2001) Manovich behauptet die database als aktuelle »key form of cultural expression.« Die epistemische Struktur der database würde bedingen, wie wir und was wir und was wir wie sehen, verstehen, wissen können. Diese These stand bei der Konzeption von study.log im Hintergrund, sie ist in gewisser Weise sogar grundlegend für das Visualisierungsprinzip: Wie kann man das Prinzip database ins Bild setzen (Abb. 6)?

Abb. 6: Visualisierungsprinzip database

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Die Benutzerschnittstelle zeigt eine database. Aber, ähnlich einem Kunstwerk, dem man nachsagt, es zeige sich selbst und seine Selbstbeschreibung zugleich, zeigt das visuelle Interface auch das Prinzip database. Ist kein Kontext ausgewählt, die Gesamtheit der Materialien also semantisch amorph, dann zeigt study.log einen unförmigen Informationsklumpen am rechten Bildschirmrand. Das ist der gesamte Inhalt der database, hier jedoch – ohne Suchanfrage, d. h. ohne Anwendung – lediglich im Potentialis. Im Gegensatz zu üblichen Benutzerschnittstellen einer database ist also auch das sichtbar, nach dem nicht gesucht oder gefi ltert wurde. Erst wenn eine Anfrage an die database gestellt wird, ein Kontext gewählt wird, ändert der amorphe Informationsklumpen seine Form und bekommt Struktur: In der Mitte der Arbeitsfläche bilden sich Cluster, Verdichtungen, signifi kante Figurationen. Was in diesem Kontext keine Rolle spielt, verbleibt im unstrukturierten Haufen am rechten Rand. Die Materialien werden immer in ihrer Gesamtheit dargestellt. Die database »an sich« ist amorph, sie hat keine Form, die database »an sich« ist lediglich ein Medium lose gekoppelter Informations-Partikel. Sie hat keine Form, kann aber in alle möglichen Formen gebracht werden. Sie ist ein Potential an Formen. Eben dieses Prinzip ist bei study.log ins Bild gesetzt: Die Formlosigkeit der database wird in eine Form gebracht. Das Interface zeigt das Prinzip database, es zeigt, dass die database »an sich«, d. h. ohne konkret formulierte query, ohne Anwendung, nur eine »unstructured collection of images, texts, and other data records« ist. Eine Erzählung ohne Anfang und Ende, eine Erzählung ohne Thema, ohne » story«, erst recht ohne »Moral« … anything goes … – potentiell. Was wirklich geht, zeigt sich erst in der Überführung in den Aktualitätsmodus, in der Anwendung. Es ist vielleicht zu früh, um zu beurteilen, ob study.log (oder ähnliche Lösungen) als Wissensmanagement-System funktioniert. Der Umgang damit ist ohne Frage gewöhnungsbedürftig. Und es ist vielleicht viel zu früh für eine Beurteilung von Manovichs Hypothese der database als Symbolische Form. Meine medienhistorischen Ausführungen zur Zentralperspektive waren wesentlich motiviert durch die Frage, wann eigentlich das letzte Mal von so genannten »Neuen Medien« die Rede war oder die Rede hätte sein können – und was man daraus möglicherweise für die Wirkungen der aktuell »Neuen Medien« würde lernen können. Die Analyse der Zentralperspektive als Symbolische Form durch Erwin Panofsky wurde möglich etwa 500 Jahre nach der Erfi ndung dieser Medientechnologie.

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Literatur Baecker, Dirk (1992): Die Unterscheidung von Kommunikation und Bewußtsein. In: Krohn, Wolfgang; Küppers, Günter (Hrsg.): Emergenz: Die Entstehung von Ordnung, Organisation und Bedeutung. Frankfurt/M., 217–268. Buergel, Roger M. (2005): Man muss sich klarmachen, dass Kunst nicht mit Wissen zu tun hat. Interview mit Bernhard Balkenhol und Heiner Georgsdorf in BDK-Mitteilungen 2/2005, 10 –14. Cassirer, Ernst (1924): Philosophie der Symbolischen Formen. Darmstadt. Foucault, Michel (1997): Archäologie des Wissens. Frankfurt/M. Giesecke, Michael (1998): Der Verlust der zentralen Perspektive und die Renaissance der Multimedialität, In: Kemp, W. et al. (Hrsg.): Vorträge aus dem Warburg-Haus. Berlin, 85–116. Heider, Fritz (1926): Ding und Medium. In: Symposion. Philosophische Zeitschrift für Forschung und Aussprache, Nr. 1, 109–157. Hentig, Hartmut von (1996): Die Flucht aus dem Denken ins Wissen. In: Medien + Erziehung, Nr. 40, 6/1996, 327–330. Herbart, Johann Friedrich (1804): Über die ästhetische Darstellung der Welt als Hauptgeschäft der Erziehung. In: Brenner, Dietrich; Schmied-Kowarzik, Wolfdietrich (Hrsg.): Johann Friedrich Herbart: Systematische Pädagogik. Stuttgart, 59–70. Luhmann, Niklas (1997): Die Kunst der Gesellschaft. Frankfurt/M. Manovich, Lev (2002): Database as a Symbolic Form. http://www.manovich.net/docs/database.rtf. (31.5.2002). Siehe auch Ders.: (2001): The Language of New Media. Cambridge London. Meyer, Torsten (2002): Interfaces, Medien, Bildung. Paradigmen einer pädagogischen Medientheorie. Bielefeld. Meyer, Torsten (2005): Wahn(-) und Wissensmanagement.Versuch über das Prinzip Database. In: Pazzini, Karl-Josef; Schuller, Marianne; Wimmer, Michael (Hrsg.): Wahn – Wissen – Institution. Undisziplinierbare Näherungen. Bielefeld, 221–246. Panofsky, Erwin (1927): Die Perspektive als ›symbolische Form‹. Berlin. Pazzini, Karl-Josef (1992): Bilder und Bildung. Vom Bild zum Abbild bis zum Wiederauftauchen der Bilder. Münster/Hamburg.

III. NATURWISSENSCHAFTLICHE SICHTWEISEN

Wissenschaft und Kunst Zwischen beharrender Harmonie und unstetem Streben nach Neuem Von Holk Cruse

Wissenschaft ist charakterisiert durch den Einsatz rationalen Denkens, das den Regeln der Logik folgt, Kunst hingegen ist gekennzeichnet durch Emotionalität, durch ästhetisches Empfi nden, dem Streben nach ästhetisch Interessantem, sei es Schönheit oder gerade deren Negation. So gesehen, erscheinen beide Bereiche geradezu als Antipoden. Ich versuche hier zu begründen, dass beide Bereiche, ästhetisches Empfi nden und rationales Denken, und damit Kunst und Wissenschaft, einschließlich der Naturwissenschaften, in einem zentralen Aspekt demselben Prinzip folgen. Das Prinzip, das beiden Phänomenen zugrunde liegt, kann mit dem Streben nach einem Harmoniezustand beschrieben werden. Was ist damit gemeint? Um dies zu erläutern, müssen wir zumindest kursorisch auf die Funktionsweise des Gehirns eingehen, also des Organs, das die Grundlage darstellt sowohl für unsere Fähigkeit, denken sowie empfi nden zu können. Das Gehirn, das aus einer Vielzahl sich gegenseitig beeinflussender Nervenzellen besteht, wird oft in folgender Weise charakterisiert: Es handelt sich um ein System, das sensorische Meldungen empfängt, diese dann, auf mehr oder weniger komplexe Weise, verrechnet und über die dabei entstehenden neuronalen Erregungen ein bestimmtes Verhalten auslöst. Kurz gesagt, das Gehirn kontrolliert den Output. Das Gehirn ist, so gesehen, ein »reaktives« oder sensorgetriebenes System – eine Sichtweise, die in vielen Situationen durchaus zweckmäßig sein mag. Allerdings gibt es auch eine andere Betrachtungsweise. Diese besagt, dass die wichtigste Aufgabe des Gehirns nicht darin besteht, den Output, sondern vielmehr den Input zu kontrollieren. Ich will dies an einem einfachen Beispiel erläutern. Betrachtet eine Versuchsperson einen Necker-Würfel (Abb. 1), so sieht sie in jedem Moment eine von vermeintlich zwei möglichen Interpretationen. Die eigentlich zweidimensionale Strichfigur wird räumlich gesehen, wobei von den beiden im zentralen Bereich der Figur liegenden Ecken eine, zum Beispiel die obere, nach vorn, zum Betrachter hin weist, während die andere Ecke in die Tiefe des Raumes ragt. Genauso könnte aber auch die untere der beiden Ecken nach vorne schauen und die obere nach hinten. Beide Interpretationen sind gleich wahrscheinlich und wechseln Abb. 1: Necker-Würfel

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sich, bei entspannter Betrachtung, in unregelmäßig rhythmischer Folge sogar ab. Gibt es tatsächlich nur diese beiden Interpretationen? Keineswegs, eine dritte ist die schon erwähnte Möglichkeit, das Bild als zweidimensionale Strichfigur zu sehen. Man könnte diese Figur aber auch als räumlich inkonsistentes Muster, bei dem zum Beispiel beide zentrale Ecken nach vorne ragen, sehen usw. Wir sehen also in einem bestimmten Moment nur eine aus einer Vielzahl möglicher Interpretationen. Das Gehirn lässt offensichtlich nur eine der möglichen Interpretationen zu und bevorzugt dabei, wie sich zeigt, auch ganz bestimmte Lösungen. Wodurch ist diese bevorzugte Lösung gekennzeichnet? Es ist, qualitativ gesagt, diejenige Interpretation, die am besten zu den sensorischen Gegebenheiten einerseits und zu gespeicherten Regeln andererseits passt. Was den Neckerwürfels betrifft, sind dies angeborene Regeln, nämlich Regeln, die uns dazu befähigen, ein zweidimensionales, also zum Beispiel nur mit einem Auge gesehenes Bild räumlich interpretieren zu können. Im Prinzip sind viele Interpretationen möglich, aber das Gehirn wählt nur jeweils eine davon aus. Der Neckerwürfel stellt den seltenen Sonderfall dar, dass zwei Interpretationen genau gleich wahrscheinlich sind. Das Gehirn kann sich daher nicht für eine Lösung entscheiden und wechselt ständig zwischen beiden Interpretationen hin und her. Das aktive Auswählen einer Interpretation ist gemeint, wenn man davon spricht, dass das Gehirn den Input kontrolliert. Warum tut es das? Solange ein Tier nur ein fache Muster, zum Beispiel hell und dunkel, zu unterscheiden braucht, ist eine derartige, aktive Auswahl nicht notwendig. Die visuelle Welt eines solchen Tieres besteht nur aus zwei Zuständen, die, abgesehen von Übergängen, leicht zu unterscheiden sind. Sollen jedoch komplexe Bilder, etwa ein Tiger in einer Savannenlandschaft, erkannt werden, so ergibt sich, wie bereits im vergleichsweise einfachen Fall des Neckerwürfels, das Problem, dass das gesehene Muster viele Interpretationen erlaubt. Die Situation ist praktisch nie eindeutig. Sie ist, wie man sagt, unterbestimmt. Maler wie Magritte oder Escher haben mit diesem Phänomen gespielt. Mehrdeutigkeit ist ein Problem, das in jeder auch nur minimal komplexen sensorischen Situation auftritt. Es wäre natürlich wenig sinnvoll, wenn das Gehirn alle denkbaren Interpretationen der Reihe nach abarbeiten würde. Es löst das Problem offenbar auf eine andere Weise. Dabei fi ndet das Gehirn die (zumeist) richtige Interpretation so schnell, dass uns die möglichen Alternativen gar nicht bewusst werden. Wie geschieht dies? Das Gehirn sucht, wie bereits erwähnt, nach der Lösung, bei der der sensorische Input am besten zu der gespeicherten Information passt. Diese gespeicherte Information repräsentiert eine Hypothese über die Art der äußeren Situation. Das Gehirn stellt also, mit anderen Worten, eine »Vermutung« darüber an, was tatsächlich der Fall ist. Diese Hypothese speist sich aus angeborenem und erlerntem Wissen. Zwei weitere Beispiele sollen dies verdeutlichen. So beschreibt Daniel L. Schacter (Schacter 1996) einen etwa 60-jährigen Patienten, der als Folge einer Alkoholabhängigkeit unter dem Korsakof-Syndrom leidet. Eine Wirkung dieser Krankheit besteht darin, dass sich dieser Patient selbst

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gelegentlich als jungen Mann erlebt. Wenn man ihm dann zu Bedenken gibt, dass er Kinder in etwa demselben Alter habe, versucht er diese Inkonsistenz durch Aussagen zu lösen wie »ich habe sie adoptiert« oder dadurch, dass er das Problem bemüht humorvoll zu überspielen versucht mit »nicht schlecht für mein Alter, eh?«. Der Patient sieht offenbar die Widersprüchlichkeit der Situation und versucht, sie so gut es geht passend zu machen. Offenbar macht sich der Patient seine Interpretation ganz und gar zu eigen. Sein Gehirn versucht, die Passung herzustellen, worauf er das stimmige Resultat erlebt. Ein noch anschaulicheres Beispiel liefert der so genannte Pinocchio-Effekt. Wenn bei einer Versuchsperson die Muskulatur des rechten Oberarmes mit einer hochfrequenten Vibration gereizt wird, ruft dies bei ihr die Illusion hervor, dass das Ellbogengelenk gestreckt wird, ein als solches schon länger bekanntes Phänomen. James R. Lackner (Lackner 1988) hat das Experiment so erweitert, dass die Versuchsperson dabei außerdem ihre Nase zwischen Daumen und Zeigefi nger der rechten Hand festhalten muss. Dann erlebt die Versuchsperson zugleich die Illusion, dass sich ihre Nase um bis zu 30 Zentimeter verlängert, daher der Name des Effekts. Auch diese Beobachtung kann als Resultat der Suche nach bester Passung interpretiert werden. Das Ellbogengelenk erscheint gestreckt, was geometrisch nur möglich ist, wenn an anderer Stelle eine passende Änderung eingeführt wird. Offenbar ist die Länge der Nase nicht so explizit festgelegt wie die Geometrie des Armes und der Hand, so dass das Gehirn eine Passung am einfachsten durch Anpassen der Nasenlänge fi ndet. Das ist es, was die Person erlebt. Man könnte in einem übertragenen Sinn auch davon reden, dass das Gehirn versucht, eine Harmonie zwischen verschiedenen Informationen, nämlich zwischen sensorischen Eingängen und gespeicherter Information herzustellen. Auf diese Weise wird eine, wenn auch vielleicht nicht immer richtige, aber doch zumindest stets eindeutige Interpretation einer im allgemeinen unterbestimmten Situation erzeugt. Dies ist eine ganz grundlegende Fähigkeit von Gehirnen. Nur deshalb kann unser Gehirn, um einen weiteren Bereich anzusprechen, im Unterschied zu den verschiedenen computerbasierten Lösungsversuchen, Sprache so problemlos verstehen. Ein gesprochener oder gelesener Satz wird von unserem Gehirn nicht Wort für Wort abgearbeitet. Vielmehr baut das Gehirn aus wenigen Stützinformationen und dem Kontext eine Hypothese, eine Erwartungshaltung auf. Dann versucht es, diese Hypothese mit der ankommenden und keineswegs immer eindeutigen Information – wir verstehen problemlos auch grammatisch ziemlich falsche Sätze – zur Passung zu bringen. Gelingt dies in ausreichendem Maße, so hat man den Eindruck, den Satz verstanden zu haben. Etwas plakativ wurde dies gelegentlich so formuliert: »Man erkennt nur, was man erwartet«. Weitere eindrucksvolle Beispiele aus dem visuellen Bereich stellen die Experimente zur change blindness dar.1 Siehe unter http//:www.usd.edu/psyc301/Rensink.htm und http//:viscog.beckman.uiuc. edu/djs_lab/demos.html 1

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Das Streben nach bester Passung oder größter »Harmonie« liegt nicht nur unserem Wahrnehmungssystem zugrunde. Vermutlich ist auch das Ausführen von Bewegungen von diesem Prinzip bestimmt. 2 Auch hier hat das Gehirn das Problem, dass zum Erreichen eines bestimmten Zieles, und sei es nur das Ergreifen einer Tasse, in der Regel verschiedenste Möglichkeiten (Gelenkbewegungen, Muskeleinsatz) zur Auswahl stehen. Das Gehirn muss sich für eine unter ihnen entscheiden. Auch hier wird vermutlich die Passung zwischen äußeren Bedingungen (Armgeometrie, Position der Tasse und des Körpers) und vorgegebenen Regeln (etwa Vermeidung unnötiger starker Kräfte) gesucht (Cruse 2003). Nun stellt sich natürlich die Frage, was, aus der Sicht eines in quantitativen Bezügen denkenden Naturwissenschaftlers, mit dem zunächst sehr qualitativen Begriff Harmonie gemeint sein könnte. Konkreter, wie könnte ein aus Nervenzellen bestehendes System, ein »neuronales Netz«, Zustände niedriger und höherer Harmonie annehmen oder, anders gesagt, wie könnte ein solches Netz Zustände bester Passung auffinden? Die Beantwortung dieser Frage bedarf eines kurzen technischen Ausflugs. Abbildung 2 zeigt das denkbar einfachste Beispiel eines neuronalen Netzes mit Rückkopplung. Es besteht aus nur zwei Zellen, die hier als Kreise dargestellt sind. Jede Zelle erhält einen Input (x1, x 2 ) und kann über einen Output (y1, y2 ) Information über ihre Erregungsstärke nach außen liefern. 3 Zusätzlich und vor allem sind die Nervenzellen untereinander und auch mit sich selbst verknüpft. In Abb. 2 sind diese Verknüpfungen durch die Buchstaben w ij gekennzeichnet. Wird dieses kleine Netz durch Stimuli von außen erregt, so zeigen sich natürlich entsprechende Aktivierungen an den beiden Ausgängen. Zusätzlich wirken diese aber zurück auf die Nervenzellen, was deren Erregung verändert, was wiederum die Ausgänge y1, y2 beeinflusst, worauf wiederum Rückwirkungen auftreten usw.

Abb. 2: Ein einfaches rekurrentes neuronales Netz. Die beiden Kreise stellen je eine Nervenzelle dar. Die Symbole w ij bezeichnen die Verknüpfungen zwischen den Zellen. In diesem Beispiel sind w11 = w22 = 1, w12 = w21 = -1 angenommen. Die Eingänge sind mit x1, x 2 bezeichnet, die Erregungsstärken der Zellen und damit der Zustand des Netzes mit y1 bzw. y2.

Dass Wahrnehmen und Bewegen denselben Prinzipien gehorchen, ist vermutlich auch der Grund dafür, dass wir harmonische Bewegungen als schön, als elegant empfi nden. 3 Diese Erregungswerte können, ein eher technisches Detail, eine bestimmte obere oder untere Grenze nicht über- bzw. unterschreiten. Dies ist in der Abbildung durch die in Rechtecken eingetragenen Kennlinien angedeutet. Als obere bzw. untere Grenze ist hier 1 bzw. -1 angesetzt. 2

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Abb. 3: zeigt als Beispiel eine graphische Darstellung der Funktion H(y1, y2 ) des in Abb. 2 dargestellten Netzes. Die Seiten y1 und y2 des Quadrates stellen die Erregungen der beiden Nervenzellen dar. Jeder mögliche Zustand des Netzes ist also durch einen Punkt dieser Ebene repräsentiert. Auf der vertikalen Achse ist der für den jeweiligen Netzzustand berechnete Wert H dargestellt. Man beachte, dass zunehmende Werte von H nach unten aufgetragen sind. Wie man erkennen kann, ist H groß (H = 4) für den Zustand (y1 = 1, y2 = -1) und auch für den Zustand (y1 = -1, y2 = 1). Besonders niedrig, nämlich Null, ist H für Zustände, die genau auf der Diagonalen von (-1/-1) nach (1/1) liegen, also für y1 = y2.

Je nach Art der Stimulation und der Stärke der Verknüpfungen kann also ein komplexer zeitlicher Verlauf der Ausgangsaktivitäten beobachtet werden. Unter bestimmten technischen Randbedingungen 4 kann man jedem möglichen Zustand dieses Netzes eine Zahl H zuordnen, die sich nach einer einfachen Formel berechnen lässt. Warum sind diese technischen Details in unserem Zusammenhang interessant? H steht für Harmonie. Mit Hilfe der Harmoniefunktion H(y1, y2 ) lässt sich das Verhalten dieses Netzes veranschaulichen. Der Leser möge sich die in Abb. 3 dargestellte Harmoniefunktion als Gebirge vorstellen. Bringt man das Netz durch äußere Stimuli (x1, x 2 ) in einen entsprechenden Anfangszustand, so verhält sich das Netz so, wie wenn man auf dieses »Harmoniegebirge« eine Kugel legen würde, und zwar an der Position (y1, y2 ), die dem aktuellen Zustand des Netzes entspricht. Was passiert dann? Die Kugel rollt in den tiefsten Punkt und bleibt dort liegen. Wird also die Kugel irgendwo diesseits der genannten Diagonalen positioniert, so rollt sie stets in den vorderen Tiefpunkt. Ein Startzustand hinter der Diagonalen lässt die Kugel in den gegenüberliegenden Tiefpunkt rollen. Einem Tiefpunkt in der Graphik entspricht als Zahlenwert ein Maximum an Harmonie (im Beispiel H = 4). Die Kugel fi ndet also einen Zustand höchster Harmonie. Dem Verhalten der Kugel entspricht das Verhalten des Netzes. Überlässt man das Netz sich selbst, so sucht und fi ndet es eine Lösung, die einem der zwei möglichen Zustände maximaler Harmonie entspricht. Was hier anthropomorph mit »Suchen nach einer Lösung« bezeichnet wird, stellt also einen deterministischen Prozess dar. Diese Zustände maximaler Harmonie nennt man auch Attraktorzustände. Bei einem derartigen, rückgekoppelten Netz ändert sich der Zustand solange, bis es in einem Attraktor zur Ruhe kommt. Netze mit mehr als zwei Zellen können viel kompliziertere Attraktorlandschaften mit vielen, auch unterschiedlich tiefen AtEs handelt sich um ein so genanntes Hopfield-Netz, das durch symmetrische Verknüpfungen charakterisiert ist. Dann gilt: H = ∑ wij y i y j (Cruse 1996). 4

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traktoren besitzen. 5 Welchen Attraktorzustand ein Netz annimmt, hängt also zum einen von dem sensorischen Stimulus, zum anderen aber auch von der in Form der Verknüpfungsstärken w ij gespeicherten Informationen ab, da diese Werte die Form der Attraktorlandschaft bestimmen. Die beste Passung wird sofort erreicht, wenn der Stimulus genau mit einem der Attraktoren übereinstimmt. Dann wird, in unserem Bild, die Kugel direkt in den entsprechenden Tiefpunkt gelegt. In diesem Fall stimmt also der äußere Stimulus mit der gespeicherten Information exakt überein, man erreicht die höchste Harmonie zwischen Reiz und »Erwartung«. Passt der Stimulus nicht exakt zu dem Attraktor, so benötigt das Netz eine gewisse Zeit, um den passenden Attraktor zu fi nden. Die Wahrnehmung, um die es hier geht, ist die wörtliche Bedeutung von aisthesis. Ästhetik in diesem ursprünglichen Sinn kann in dieser Weise also auf die Suche nach bester Passung zurückgeführt werden (»wir erkennen, was wir schon ken nen«). In unserem Sprachgebrauch hat Ästhetik eine weitergehende Bedeutung. Auch diese kann jedoch als Passung interpretiert werden, nun als Passung zwischen einem Stimulus und abstrakten, mit im Nervensystem gespeicherten Regeln, etwa der Erfüllung bestimmter Proportionen wie dem goldenen Schnitt oder bestimmter Farbkombinationen. Solche Regeln sind, in Form der Verknüpfungen wij, teils angeboren – wie zum Beispiel vermutlich einige der so genannten Gestaltgesetze –, zum großen Teil aber auch gelernt. Eine Suche nach bester Passung liegt aber nicht nur Wahrnehmungsvorgängen, sondern auch Denkprozessen zugrunde. Dies machen viele der so genannten kognitiven Illusionen deutlich. Ein Beispiel (Cruse et al. 1998): Versuchspersonen erhalten die folgende Personenbeschreibung: Linda ist 32 Jahre alt, nicht verheiratet, intelligent und sehr aufgeschlossen. Sie hat Philosophie studiert, hat sich im Studium sehr für Fragen der sozialen Diskriminierung engagiert und an Anti-Atomwaffen-Demos teilgenommen. Anschließend sollen die Versuchspersonen die folgenden sechs Aussagen nach zunehmender Wahrscheinlichkeit anordnen. a. b. c. d. e. f.

Linda ist Lehrer in einer Grundschule Linda arbeitet in einer Buchhandlung und nimmt Yoga-Kurse Linda ist aktives Mitglied einer feministisches Gruppe Linda arbeitet in einer Bank, Linda ist Versicherungsverkäufer Linda arbeitet in einer Bank und ist Mitglied einer feministischen Gruppe

Es gibt darüber hinaus auch Attraktoren mit komplexeren Dynamiken, was hier jedoch nicht betrachtet werden soll. 5

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Auch der Leser möge versuchen, diese Aufgabe vor dem Weiterlesen zu lösen. Für eilige Leser sei eine Vereinfachung angeboten, die allerdings auch zu einer Verfälschung des Ergebnisses führen kann: Man kann die Frage auf die beiden Alternativen d) und f ) einschränken. Welche dieser beiden Aussagen ist wahrscheinlicher? In Experimenten gibt die überwiegende Zahl der Versuchspersonen an, dass f ) wahrscheinlicher sei als d). Dies kann, wie kurzes Überlegen zeigt, aber nicht richtig sein. Bei f ) erfüllt Linda bereits die Bedingung von d), muss aber darüber hinaus noch eine weitere Bedingung erfüllen. f ) kann also nicht wahrscheinlicher sein als d). Warum geben die meisten Versuchspersonen dennoch die falsche Antwort? Dies kann damit erklärt werden, dass beim Nachdenken versucht wird, die Formulierung zu fi nden, die die beste Passung mit der Beschreibung von Linda liefert. Formulierung f ) passt eben besser als Formulierung d). Auch bei wissenschaftlichem Arbeiten suchen wir Erklärungen, die als beste Passung zwischen zwei gegebenen Informationspaketen beschrieben werden können. Beim Finden eines mathematischen Beweises sind ein Istzustand und ein Zielzustand gegeben und man sucht einen Weg, mit dessen Hilfe beide in Passung gebracht werden können. Ein anderes Beispiel: Carrier (2001) zeigt, dass sich Kopernikus, anders als wir ihn heute sehen, keineswegs als Revolutionär, sondern als Bewahrer verstanden hat. Er versuchte, das bekannte Wissen und die bekannten Hypothesen in einem System bei größtmöglicher Passung zusammenzuführen. Dass das Resultat von revolutionärer Wirkung war, lag nicht in seiner Absicht. Wie dieses Beispiel zeigt, kann trotz der Formulierung »beste Passung zwischen gegebenen Informationen« mit diesem Prinzip auch Neues gefunden werden. Neues im Sinne von Neukombination bekannter Elemente, die dann zusammen eine bessere Passung ergeben. Alternative Erklärungen für ein gegebenes Problem, also neue Passungen fi ndet man zum Beispiel auch dann, wenn eine Kontextänderung vorgenommen wurde. Wenn etwa bei der Linda-Aufgabe die Versuchspersonen zuvor darauf hingewiesen werden, dass es sich um eine Aufgabe aus der Wahrscheinlichkeitsrechnung handelt, werden sie mit größerer Häufigkeit die richtige Antwort d) geben. Dieses auch mit framing bezeichnete Phänomen lässt sich damit erklären, dass über den Kontext die entsprechenden Attraktoren bereits voraktiviert sind, daher »näher liegen« und deshalb auch mit größerer Wahrscheinlichkeit aufgefunden werden. (Gute) Passung zwischen sensorischem Input und gespeicherter Information kann deshalb auch dadurch erzielt werden, dass die Repräsentationsform dieser Informationen geändert wird. So ist die Aufgabe, die Zahl 1,41421 zu quadrieren, nicht so schnell zu lösen wie die Aufgabe, die Zahl √2 zu quadrieren. Neue Ideen können also auch dadurch entstehen, dass mit der Darstellungsform des Problems gespielt wird. Attraktoren können auch neu gelernt werden. Dies gilt nicht nur für neue Stimuli, etwa ein zum ersten Mal gesehenes Bild, sondern auch für selbst erzeugte mentale Situationen. Wurde ein mathematischer Beweis, ein neuer Ge-

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samtattraktor für Anfangs- und Endzustand gefunden, kann dieser seinerseits im Gedächtnis abgespeichert werden. Die Suche nach der besten Passung, so wird hier angenommen, stellt also die Grundlage sowohl von Wahrnehmung als auch für das Denken dar. Dies erstaunt nur, wenn man Wahrnehmen als passiven Prozess missversteht. Bei jedem Wahrnehmungsvorgang, sei es beim Betrachten eines einfachen Bildes wie dem NeckerWürfel oder eines komplexen Kunstwerkes wie dem Bild von Man Ray (Abb. 4, s. a. Farbteil, S. 299), entstehen Unklarheiten, wodurch unvermeidbar Prozesse ausgelöst werden, die eine Lösung des Rätsels, also Passung suchen. Diese Prozesse sind, was die zugrunde liegenden neuronalen Mechanismen betrifft, nicht grundsätzlich ver- Abb. 4: Man Ray, La Rue Ferou (1952). schieden von Denkprozessen, wie sie beim Lösen einer mathematischen Aufgabe ablaufen. 6 Und es gibt, wie angedeutet, auch erste Ideen dazu, wie die zugrunde liegenden Mechanismen aussehen könnten. Neuronale Netze reagieren also nicht nur auf äußere Stimuli, sondern leisten dabei auch einen eigenen Beitrag, indem sie »zielstrebig versuchen«, beste Passung zwischen Input und inneren Zuständen herzustellen. Das Finden einer guten Passung scheint notwendig für das Wahrnehmen und für das Denken zu sein. Es stellt somit ein zentrales der Funktionsweise eines Gehirns zugrunde liegendes Prinzips dar. Ein Aspekt blieb bisher unberücksichtigt. Wir haben Denkprozesse und Wahrnehmungsprozesse als mechanistisch funktionierende Prozeduren beschrieben. Nun ist aber, insbesondere das Wahrnehmen ästhetisch befriedigender Situationen, etwa das Hören schöner Musik, das Betrachten eines interessanten Kunstobjektes, mehr als ein abstrakter, seelenloser Mechanismus. Wir erleben hierbei angenehm wie auch unangenehm berührende Empfi ndungen. Wie ist dieser subjektive Aspekt in diese Betrachtungen einzubeziehen? Eine von Dörner (1999) formulierte Hypothese besagt, dass Wohlbefi nden dann eintritt, wenn, übertragen auf die hier verwendeten Modellvorstellungen, der Harmoniewert eines Netzes zunimmt. Wohlgemerkt, nicht hohe Harmoniewerte erzeugen Wohlbefi nden, sondern die Zunahme des Harmoniewertes (das Rollen der Kugel). Ein statischer Harmoniewert, auch wenn er hoch ist, wäre diesbezüglich 6

Unterschiedlich ist die Zeit, die zum Finden der Lösung benötigt wird.

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neutral. Das Finden einer Passung wird als angenehm empfunden. Hat man die Passung, den Attraktor erreicht, lässt das Wohlbefi nden nach, die Situation wird uninteressant. Um zu vermeiden, dass das Gehirn in einem einmal gefundenen Attraktor hängen bleibt (»Verweile doch, …«), wird ein weiterer Mechanismus angenommen, der die Attraktivität eines einmal erreichten Attraktors allmählich verringert. Dies könnte technisch so gelöst werden, dass bei zulange andauerndem statischem Zustand der Harmoniewert dieses Attraktors kurzzeitig abgesenkt wird, so dass, in unserem Bild, die Kugel die Gelegenheit bekommt, in einen anderen, nahe gelegenen Attraktor zu rollen und damit erneut Wohlbefi nden auszulösen. Man könnte diesen zusätzlich eingeführten Mechanismus auch als Neugiersystem bezeichnen (»Faustregel«). Das Wechseln der Interpretation des Neckerwürfels illustriert dies. Fausts ewiges Streben ebenso. Dass die Zunahme des Harmoniewertes Freude bereitet, führt Dörner zu einer aparten Theorie des Witzes. Danach ist ein guter Witz dadurch gekennzeichnet, dass vom Erzähler zunächst eine Situation aufgebaut wird, zu der der Zuhörer ein inneres Bild erzeugt. In unseren Worten, sein Gehirn erzeugt einen entsprechenden Attraktor. Anschließend triff t der Erzähler eine neue Aussage, die in keiner Weise zu dem bisherigen Attraktor zu passen scheint, d.h. es kann vom Zuhörer kein für beide Aussagen gemeinsamer Attraktor gefunden werden. Bis plötzlich, indem er den Witz versteht, eine neuer Attraktor entsteht. Das Gehirn des Zuhörers erzeugt ein inneres Bild, in dem die beiden verschiedenen Aussagen zusammenpassen. Die Kugel rollt in diesen neuen Attraktor. Entsprechend nimmt das Wohlbefi nden zu. Da das Erreichen des neuen Attraktors bei einem guten Witz sehr schnell geht, ist das Wohlbefi nden besonders sehr groß, man muss lachen. Witze, bei denen die Pointe langsam und umständlich erklärt wird, sind keine. Folgendes Beispiel lässt uns das Entstehen eines neuen Attraktors an uns selbst beobachten: Was stellen Sie sich unter der Aussage »Der Heuhaufen war wichtig, weil das Tuch zerrissen war« vor? Der Satz macht keinen rechten Sinn. Das ändert sich jedoch schlagartig, wenn das Wort ›Fallschirm‹ hinzugefügt wird. Erlebt man Situationen, für die man keinen passenden Attraktor besitzt, für die man keine passende Regel zur Verfügung hat, stellt sich kein Wohlbefi nden ein. Dies mag der Fall sein, wenn man als Kenner und Liebhaber von Barockmusik zum ersten Mal Beethoven hört. Man fi ndet zunächst, oder auch für längere Zeit, keine Regeln. Sind die Regeln der neuen Situation jedoch bekannten Regeln ähnlich und daraus ableitbar, so wird das nach Passung suchende System diese allmählich fi nden. Mit der Zeit stellt sich Wohlbefi nden ein. Wird dieser Person jedoch ein Stück von Schönberg präsentiert, so sind die der neuen Situation zugrunde liegenden Regeln von den bisher bekannten zu weit entfernt, und es wird auch nach längerem Suchen kein Wohlbefi nden eintreten. Die Lage könnte sich aber dann verändern, wenn ein Lehrer die neuen Regeln erläutert und so für diese einen Attraktor schaff t. Der Bereich, in dem man sich wohl fühlt, hängt also sehr vom jeweiligen Kenntnisstand ab. Wohlbefi nden wird

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sich also erst einstellen, wenn das nach Passung suchende System Ähnlichkeiten zwischen Neuem und abgespeichertem Bekannten entdeckt. Wir haben festgestellt, dass rückgekoppelte neuronale Netze (Abb. 2, S. 148) die Eigenschaften besitzen, auf die Umwelt reagieren zu können. Sie leisten dabei einen eigenen Beitrag, indem sie »zielstrebig versuchen«, beste Passung zwischen Input und inneren Zuständen herzustellen. Diese innern Zustände resultieren aus angeborenen und erlernten Informationen. Das Finden einer guten Passung scheint notwendig für das Wahrnehmen und für das Denken zu sein. Es könnte als ein zentrales Prinzip zur Erläuterung der Funktionsweise eines Gehirns bezeichnet werden. Gehirne sind in diesem Sinne harmoniesüchtig. Dies wirkt sich sowohl im Bereich der Kunst als auch der Wissenschaft aus. Das Finden guter Passung schaff t Wohlbefi nden. Weiterhin wird die Existenz eines Mechanismus vermutet, der bewirkt, dass das Gehirn stets nach neuen Passungen sucht. Daher streben Gehirne unstet nach Neuem. Kunst und Wissenschaft schreiten immer weiter voran, allerdings ohne Garantie dafür, dass mit der Quantität auch Qualität zunimmt.

Literatur Carrier, Martin (2001): Nikolaus Kopernikus. München. Cruse, Holk (2003): The evolution of cognition – a hypothesis. In: Cognitive Science 27, 135–155. Cruse, Holk (1996): Neural networks as cybernetic systems. Stuttgart. Cruse, Holk / Dean, Jeffrey / Ritter, Helge (1998): Die Erfindung der Intelligenz oder können Ameisen denken? München. Dörner, Dietrich (1999): Bauplan für eine Seele. Reinbek. Lackner, James R. (1988): Some proprioceptive influences on the perceptual representation of body shape and orientation. In: Brain 111, 281–297. Schacter, Daniel L. (1996): Searching for memory. New York.

– Diskurs – Ästhetik zwischen Harmonie und Neugier Friedmar Apelt: Ist die Kategorie der Disharmonie oder Nichtpassung eine direkte Negation der Harmonie oder Passung, oder sehen Sie darin eine eigene Funktion? Holk Cruse: Zur Beschreibung eines Hopfield-Netzes oder ähnlicher rekurrrenter Netze mit Attraktoreigenschaften wird nur ein Parameter eingeführt: Die Harmonie nimmt zu beziehungsweise die Energie nimmt ab. Die entsprechende Formel beschreibt also den Zustand des Netzes, indem diesem genau eine Zahl zugewiesen wird. Alfred Nordmann: Zunächst möchte ich zustimmen, dass Sie eine Schnittstelle aufgewiesen haben, an der rationales Denken und eine ästhetische Einfärbung des Erkennens aufeinander treffen. Sie haben den Begriff Harmonie dem des energetischen Zustands vorgezogen. Trotzdem wirkt es, als ob es darum geht, einen energetischen Zustand zu optimieren. Man kann den Prozess auch als Suche nach dem Weg des geringsten Widerstands beschreiben. Die angestrebte Eigenlösung ist – um Peirce zu zitieren – »the settled opinion«. Eine Lösung ist gefunden – man lässt sich nieder. Jedoch in der Anwendung auf die Wissenschaft müsste man feststellen: Es gibt sehr spannende Lösungen, die nicht unbedingt einen Endzustand beschreiben. Man erfi ndet beispielsweise eine Hypothese, die eine gute Passung hat, dennoch wäre es ein großes Risiko, diese bereits für wahr zu halten. Also glaubt man sie und auch wieder nicht – man kann in der Schwebe bleiben. Kann dieser Zustand nun eine Lösung sein? In der Wissenschaft sicherlich, aber sie hat dann nicht dieses wunderbare Telos eines Endpunktes, an dem man sich niederlässt. Holk Cruse: Das ist völlig richtig. Ich möchte zwei Dinge dazu sagen. Ich habe den Energiebegriff durch den Harmoniebegriff ersetzt. Dies ist angeraten, weil bei der Anwendung auf ein Nervennetz der physikalische Energiebegriff zu Missverständnissen führen kann. Wenn ich sage, dass das Netz einen Zustand niedriger Energie annimmt, so können dennoch die einzelnen Nervenzellen sehr stark aktiviert sein, also viel Energie verbrauchen. Trotzdem ist es in diesem abstrakten Sinne ein Zustand minimaler Energie. Man hat sich deshalb entschieden, den Harmoniebegriff zu verwenden, weil dieser das Bild der ›Entspannung‹ recht schön einfängt. Und nun zur eigentlichen Frage: Die Harmonielandschaft sieht nicht immer so einfach aus wie in der Abb. 3 (S. 151) dargestellt, in der es nur zwei Maxima gibt. Wenn Sie sich den vieldimensionalen Raum eines etwas größeren Netzes vorstel-

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len, so ist das eine ziemlich unübersichtliche Landschaft. Da gib es auch Nebenmaxima, auf denen man verharren kann oder die man mit Schwung überfahren kann. Wenn man Glück hat, gelangt man über ein kleines Tal auf ein höheres Maximum. In dem ganz ein fachen System, wie ich es beschrieben habe, trifft zu, was Sie sagen: Der Prozess relaxiert an einer Stelle. Das ist natürlich langfristig uninteressant. Dennoch ist zunächst wichtig zu sehen, dass man den Erkenntnisprozess in solchen Vorstellungen denken kann, dass ich ihn in diesen hochdimensionalen Räumen erfassen und seine Dynamiken modellieren kann. Ich gebe zu, dass das Netz, so wie hier beschrieben, zu einfach ist. Die Annahme, dass unsere Gehirne genau nach dieser Art von Netzen strukturiert seien, ist – wie bei jedem Modell – falsch. Dies ist schon deswegen so, weil man mit einer problematischen Symmetrieannahme arbeitet: Bei Hopfield-Netzen müssen zwei Gewichte zwischen zwei Neuronen genau gleich sein – das ist mit großer Wahrscheinlichkeit in Gehirnen nicht der Fall. Sobald man diese Annahme fallen lässt, erhält man Netze mit im Allgemeinen unvorhersehbarer Dynamik. Der positive Aspekt dabei ist, dass damit die von Ihnen gewünschten Dynamiken im Prinzip möglich sind. Man braucht solche Dynamiken auch schon, um das abwechselnde Verschwinden und Wiederauftauchen der beiden räumlichen Interpretationen des Neckerwürfels simulieren zu kön nen. Allerdings ist es noch Thema aktueller Forschung, Regeln zu fi nden, die es erlauben, diese dynamischen Eigenschaften zu zähmen. Ein zweiter Aspekt sollte hinzugefügt werden. Ich habe, um das Prinzip zu erklären, immer von einem Netz gesprochen. Tatsächlich besteht unser Gedächtnis vermutlich aus vielen Netzen. Dabei ist es denkbar, dass ein ungelöstes Problem als Netz in einem Zustand abgespeichert wird, der einem niedrigen Harmoniewert entspricht. Das Netz harrt also noch der Lösung. Möglicherweise taucht diese Situation immer wieder im Bewusstsein auf, wir erinnern uns an das noch ungelöste Problem, oder es wird außerhalb des Bewusstseins eine Lösung gefunden: Plötzlich fällt uns die Antwort auf die Frage ein. Joachim Schummer: In ihrem Modell versuchen Sie drei Ebenen miteinander zu verknüpfen: die mathematische, die neuronale und die subjektive Ebene. Diese drei Ebenen sind bei der These, dass die Steigerung von Harmonie Wohlgefühl hervorruft, beteiligt. Ich habe jedoch zwei Schwierigkeiten. Zum einen erscheint mir der Austausch von Harmonie gegen Energie als ein Trick, zum anderen vermisse ich eine genaue Erklärung, wie dabei die neuronale Ebene zwischen den beiden anderen vermittelt. Auch bei dem Neugiersystem ist mir das neuronale Analogon nicht ganz klar geworden. Holk Cruse: Zum Trick mit der Harmonie: Dies ist kein Trick. Der Harmoniebegriff wurde eingeführt, um Missverständnisse zu vermeiden. Formal ist es, abgesehen vom Vorzeichen, dieselbe Zahl. Die so eingeführte Harmonie hat aber noch nichts mit dem Wohlbefi nden zu tun. Die hier formulierte Hypothese geht auf

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einen Gedanken von Dietrich Dörner zurück. Er nimmt an, dass Wohlbefi nden dann eintritt, wenn, in der neuronal-mathematischen Sichtweise, der Zustand des Netzes sich so ändert, dass der Harmoniewert zunimmt. Wohlbefi nden entspricht also eher der mathematischen Ableitung des Harmoniewertes. Ich würde es nicht so sehen, dass die neuronale Ebene zwischen der mathematischen und der subjektiven Beschreibungsebene vermittelt. Es handelt sich um ver schiedene Beschreibungen desselben Systems. Die neuronale Betrachtung beschreibt sozusagen die Hardware, die mathematische die dynamischen Eigenschaften, aus der Außenperspektive gesehen. Die subjektive Ebene beschreibt die Eigenschaften des Netzes aus der Innenperspektive. Zum Neugiersystem: Man könnte sich verschiedene Ansätze denken, wie das Neugiersystem in dem Netz untergebracht werden könnte. Eine Möglichkeit wäre, dass das Neugiersystem die Gewichte so beeinflusst, dass der bisherige Attraktor verschwindet und das System nach neuen Attraktoren suchen muss. Thomas Loer: Können Sie etwas mehr dazu sagen, wie in Ihrem Modell die ›Gewichte‹ hineinkommen? Ich erinnere mich an einen Vortrag von Wolf Singer, in dem einem Laienpublikum die Gewichtung anhand von synaptischen Multiplikatoren dargestellt wurde. Ich fand höchst spannend, dass er als Zusatzannahme brachte, dass schon bei Katzen eine heterospezifische Kontrolle dieser Situation stattfi ndet. Die Situation kreiert einen Spannungszustand, der für die Gewichtung mit verantwortlich ist. Ich habe als Soziologe sofort vermutet: Hier kann die soziale Umwelt in die Gestaltung der neuronalen Muster eingreifen. Ich möchte wissen, wie hier der Stand der Dinge ist, da ich an dieser Stelle eine mögliche Zusammenarbeit zwischen Neuro- und Kulturwissenschaften für fruchtbar und reich an Perspektiven halte. Eine zweite Frage bezieht sich auf Ihre Einführung des Neugierprinzips. Wenn beide unabhängige Prinzipien von Hirnstrukturen sind, dann kann man die Differenzen relativ schlecht erklären. Es gibt aber offenbar sehr neugierige Menschen, die anstreben revolutionär zu sein; andere hingegen streben an, konservativ zu sein. Es gibt auch solche, die konservativ bleiben wollen und revolutionär werden. Es gibt individuelle und soziale Differenzierungen, die offensichtlich darauf beruhen, dass diese Prinzipien unterschiedlich wirksam werden. Für mich stellt sich die Frage, ob das Neugierprinzip als ein neuronales Prinzip ausreicht oder ob damit nicht auf einer Ebene, in der Differenzierung erforderlich wäre, eine Einheitlichkeit eingeführt wird, die empirisch so nicht beobachtbar ist. Holk Cruse: Möglicherweise aktualisieren wir hier gerade ein generelles Problem, das auftritt wenn Naturwissenschaftler und Geisteswissenschaftler miteinander reden. Der Geisteswissenschaftler sieht mehr das Individuum oder fokussiert darauf, d. h. auf die Unterschiede zwischen den Individuen, wohingegen der Naturwissen schaftler eher die durchgängig bestehende, generelle Struktur sieht. Es gibt hier allerdings keinen Widerspruch. Die Wissenschaftler konzentrieren

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sich nur auf verschiedene Aspekte. Sie haben völlig Recht, dass es individuelle Unterschiede gibt. Das Neugierprinzip als solches sehe ich als ein unabhängiges Prinzip. Die zugrunde liegenden Regeln sind aber zum Teil angeboren und zum Teil erlernt. Nehmen wir an, es gibt ein Neugierprinzip auf neuronaler Ebene, auch wenn wir es nicht im Detail spezifi zieren können. Dann können angeborenermaßen bei der einen Person bestimmte Synapsen etwas stärker oder weniger gewichtet sein als bei einer anderen. Es könnten auch im sozialen Umfeld gelernte Einflüsse vorhanden sein, die im Lauf des Lebens bei der einen Person ein wenig an den Gewichten ›gedreht‹ haben, bei der anderen aber nicht. Prinzipiell gibt es bei jedem Menschen ein Neugiersystem, das aber im Einzelfall unterschiedlich ausgebaut ist. Als Lieblingsbeispiel zur Illustration dieses Standpunktes verwende ich gerne die Fallgesetze von Galilei. Auch bei ihnen könnte man sagen: welch ein Unsinn. Viele fallende Objekte, denken Sie an einen Vogel, richten sich offenbar überhaupt nicht nach den Fallgesetzen. Das Prinzip ist trotzdem richtig. Die individuelle Ausprägung kann aber sehr unterschiedlich sein. Deshalb muss man mit dem von Geisteswissenschaftlern oft vorgebrachten Argument, dass in Wirklichkeit alles viel kompli zierter ist, vorsichtig umgehen. Natürlich ist es so. Aber daraus folgt nicht, dass in einem Prinzip nicht doch gewisse Wahrheiten stecken könnten. Ob sich das dabei entdeckte Prinzip dann wirklich bewährt, ist eine zweite Frage. Bei den Fallgesetzen gehen wir davon aus. In der Hirnforschung ist man noch relativ frisch bei der Sache und die Hypothesen müssen sich erst noch als beständig erweisen. Zum Teil werden sie sich sicherlich nicht bewähren können. Nun zu den Gewichten: Dazu hätte eigentlich Helge Ritter einen Vortrag halten müssen, da es sein Spezialgebiet ist. Wichtig dabei ist, auf welchem Komplexitätsniveau man sich bewegt. Betrachtet man nur ein einzelnes Netz, so ist dies ganz einfach. Gibt man dem Netz die gewünschte Reizsituation, so könnten sich die Gewichte (biologisch: Synapsenstärken) nach der so genannten Hebbschen Regel, die auch biologisch gut begründet ist, ändern. Nach einiger Zeit stellen sich auf diese Weise die Gewichte von selbst ein. Im wirklichen Leben ist es komplizierter. Im Gehirn gibt es nicht nur ein Netz, sondern ganz verschiedene Bereiche. Gesichter werden in einem Areal abgespeichert, motorische Aktivitäten in einem anderen. Dann muss es zusätzliche Systeme geben, die diese Aufteilung vornehmen. Dies sind Probleme aktueller Forschung. Helge Ritter hat das Thema intensiv untersucht. Bestimmte neuronale Netze geben uns ein sehr einfaches und leistungsfähiges Lernprinzip an die Hand. Bei diesen so genannten Kohonen-Netzen gibt man nur die Daten ein und sie ordnen sich im Netz wie von selbst. Schaut man sich diese Ordnung das erste Mal an, so traut man seinen Augen nicht. Man glaubt wahrhaftig, das System habe Zugang zur Semantik. Man gibt kurze Sätze als Input und beobachtet nach einiger Zeit den Inhalt des Speichers: Die Bezeichnungen für Personen stehen in einer Ecke, die für Getränke in einer anderen Ecke, Verben unten links, Substantive oben rechts und Adjektive wieder anderswo. Das Netz macht

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dies von selbst. Das sind ganz erstaunliche Effekte, erzielt mit einem verhältnismäßig einfachen Lernsystem. Veronika Hofer: Noch einmal zum Neugierprinzip. Ich frage mich, ob man darin eine Entsprechung oder ein Analogon für das biologische Prinzip sehen kann, das wir uns immer für die Zukunft entwerfen müssen. Dies ist keine spielerische Zugabe, sondern eine biologische Verfasstheit. Ist diese hinreichend eingefangen mit den Grundmustern der Harmonie und der Neugierde? Holk Cruse: Sie sprechen, wenn ich das richtig verstehe, von unserer Fähigkeit, vorausplanen zu können. Dies ist sicher etwas anders als das Neugiersystem, das dabei allerdings eine wichtige Rolle spielt. Wahrscheinlich plant man deshalb voraus, weil das Neugiersystem angeschaltet ist. Aber Vorausplanung benötigt ein eigenes System. Aus Sicht der Forschung stellt sich hierbei die Frage, ob man sich ein neuronales Netz vorstellen kann, das die Vorausplanung leisten kann. Ich sage – in aller Vorsicht – ja, zumindest für einfache Fälle, zum Beispiel bezogen auf die Motorik. Ich kann ein neuronales Netz entwerfen, das den Griff zu einem sichtbaren Gegenstand repräsentiert, ohne dass ich ihn tatsächlich greife. Es spielt in meinem Gehirn ein ›Püppchen‹, das wir in Form eines neuronales Netz realisieren. Es repräsentiert die gesamte Geometrie und kann dann intern den Griff zum Gegenstand simulieren. Wir vermuten sogar, dass das Greifen, das Wahrnehmen, und sogar das Vorstellen einer Greif bewegung auf ein und demselben System basieren. Es gibt bereits eine Vielzahl von Experimenten, die für diese Annahme sprechen. So zeigen verschiedene Experimente, dass für die Wahrnehmung von Körperbewegungen das innere Modell des eigenen Körpers verwendet wird. Deshalb machen wir wahrscheinlich einen grundsätzlichen Fehler, wenn wir zwischen sensorischem und motorischem System trennen. Wolfgang Krohn: Ich möchte nachfragen, wie genau das Harmoniesystem und das Neugiersystem miteinander kooperieren – harmoniesüchtig oder neugierig? Ich erinnere mich, dass dieses Zusammenspiel ein Ausgangspunkt der formalen Ästhetik bereits bei Max Bense gewesen sind. Er war von demselben Phänomen ausgegangen, dass Harmonie als solche ziemlich schnell langweilig wird und daher trotz der ganzen ehrwürdigen Tradition Proportion und Symmetrie eigentlich nicht die Basis für Ästhetik sein kann. Warum? Es fehlt die Attraktivität. Neugier allein, also die Aneinanderreihung von Überraschungen funktioniert auch nicht, weil sie der Aufmerksamkeit keinen Halt bietet. Bense und seine Schüler haben experimentell untersucht, ob es zwischen Überraschung und Harmonie eine Art Optimalität gibt. Nach diesen Experimenten ist der Bolero von Maurice Ravel nach dem dritten Anhören ziemlich langweilig, weil er überharmonisch ist, wohingegen das 2. Brandenburgische Konzert von Johann Sebastian Bach nie langweilig wird, weil die innere Synkopik einen optimalen Wert zwischen der getak-

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teten Rhythmik und der – wenn man so sagen darf – off beat-Rhythmik bietet. Die Spannung der Jazzrhythmik beruht auf derselben Ausnutzung dieser Optimalität. Aufgrund dieser Untersuchungen könnte man vermuten, dass beide Systeme systematisch zusammenarbeiten. Es könnte aber auch sein, dass sie völlig kontingent operieren. Was wäre Ihre Spekulation? Holk Cruse: Sie haben schon Recht, ich kann nur spekulieren. Um wiederum das Problem zunächst auf ein überschaubares Modell zu vereinfachen, ziehe ich die Kippfigur des Necker-Würfels heran. Zunächst sucht und fi ndet das Gehirn eine plausible Interpretation. Diese eine Situation ist harmonisch, alles passt. Aber offenbar ist es dem Hirn zu statisch, es verliert das Interesse und sucht daher nach einer neuen Interpretation. Man könnte daraus ableiten, dass sich das Gehirn nicht für den absoluten Harmoniewert interessiert, sondern für die Zunahme des Harmoniewertes. Das Neugiersystem könnte also darin bestehen, dass es den Netzzustand so ändert, dass bei einem erreichten statischen Zustand die Harmonielandschaft geändert wird. So könnte ein anderer Harmoniegipfel, der bisher nur ein Nebenmaximum darstellte, nun zum Hauptmaximum werden. Entsprechend würde das Netz nun diesen neuen Zustand anstreben. Es könnte auch sein, dass in den Netzen die Neuronen selbst eine Dynamik besitzen, die ihren Wert absacken lassen. Vielleicht hat Helge Ritter darauf eine bessere Antwort. Helge Ritter: Ähnliche Probleme hat man auch beim maschinellen Lernen, wenn aus einer Anzahl von Beispielen eine Regel bestimmt werden soll, die neue Vorhersagen ermöglicht und damit auch so etwas wie Erwartungen formulierbar macht. Hier muss man einen Kompromiss zwischen Harmonie und Spannung eingehen. Ein Extrem ist, dass man alle Beispiele ganz klein ansetzt und dann viele Para meter in das Modell hineinsteckt. Nur hat man so eine sehr geringe Vorhersagekraft. Wenn man jetzt aber mehr Spannung aushält und zwischen den Beispielen Kurven schneidet, um das Gemeinsame oder Wesentliche heraus zu abstrahieren, dann zahlt man den Preis einer gewissen Vergröberung. Diese Spannung ermöglicht aber bessere Vorhersagen. Das kann man mit einem mathematischen Apparat unterlegen. In dieser Richtung würde ich nach einer Theorie einer systematischen Verknüpfung suchen. Wolfgang Braungart: Ich habe vor drei oder vier Wochen Peter Finke eingeladen und wir sprachen über sein Konzept der evolutionären Kulturtheorie. Könnten Sie sich vorstellen, dass sich Ihre neuronale Theorie mit kulturökologischen Theorien verschränken kann, um großräumige Prozesse zu erklären? Holk Cruse: Die Großräumigkeit ist sicherlich ein Problem, aber möglicherweise gibt es Mittel der Überbrückung. Das Netz, das wir hier diskutiert haben, war ein relativ kleines. Das Gehirn eines Menschen ist deutlich größer. Man kann also das

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Gehirn nicht mit nur einem Netz erklären. Es existiert eine Vielzahl von Netzen mit Hierarchien und übergeordneten Ordnungsprinzipien, die weitgehend unbekannt sind. Darüber, wie die Strukturen untereinander verknüpft sind, weiß man wenig oder gar nichts. Aber ich würde in dieser Richtung suchen. Wie es auf der unteren Ebene diese zwei Interpretationen des Neckerwürfels gibt, könnte es auf einer höheren Ebene zwei abstrakte Zustände, etwa »angenehm« und »abstoßend« geben, die sich gegenseitig »bekämpfen«. Dies geschieht nach dem Motto the winner takes all. Wenn das eine System hochgefahren wird, so verliert das andere an Intensität. Solche Dynamiken laufen in unserem eigenen Gehirn in Sekunden ab, könnten aber möglicherweise auch für längerfristige sozio-kulturelle Entwicklung funktionieren. Bei den neuronalen Netzen sind die Nervenzellen das Grundelement des Netzes. Sozialstrukturen erhielte man, wenn man eine einzelne Person als Element verwenden würde. Tatsächlich wendet man auch bei sozialen Tieren wie Insektenstaaten genau dieselben Formalismen an und kann längerfristig ablaufende Strukturen und Dynamiken bei Bienen und Ameisen darstellen. Ich kann mir also schon vorstellen, dass auch eine Erweiterung auf die kulturellen und historischen Prozesse möglich ist. Johannes Lenhard: Es geht mir um das, was Herr Nordmann ›ästhetische Färbung‹ genannt hat. Ihr Modell enthält, glaube ich, einen ganz subtilen Wechsel zwischen dem was man eher ›aisthetisch‹ im Sinne von Gestaltzwang nennen würde und dem, was eher ›ästhetisch‹ im Sinne der Sicht künstlerischer Ästhetik wäre. Sie haben beides häufig 1:1 ineinander übersetzt. Auch die ›Harmonie erscheint teils als ›Suchzwang‹, teils als etwas ästhetisch viel Reichhaltigeres. Der erste Sinn, die aisthetische Interpretation des neuronalen Modells klingt für mich einleuchtend, aber wieweit möchten Sie starke Behauptungen für die ästhetische Interpretation machen? Holk Cruse: Sprechen Sie mit der zweiten Interpretation das subjektive Empfi nden an? Johannes Lenhard: Ja, Harmonie als Interpretation der negativen Energie. Man hätte dieses Minimum mit beliebig anderen Begriffen belegen können. Holk Cruse: Simulationsmodelle haben den Vorteil, dass sie klare Aussagen erlauben. Man benutzt Formeln und erhält quantitative Werte. Die Entscheidung, gewisse Zustandswerte mit dem Harmoniebegriff zu belegen, dient zunächst lediglich der Veranschaulichung. Erst dann kommt der spekulative Sprung: Als Verhaltensforscher oder Psychologe beobachte ich bestimmte Eigenschaften, natürlich auch bei mir selbst, und gehe davon aus, dass das von mir und an mir Beobachtete mit meinem Gehirn zu tun hat. Ich versuche nun, eine Brücke zum Modell zu fi nden. Jetzt spekuliere ich und sage, wenn ich hier einen mathematisch

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beschreibbaren Zustand fi nde, den ich Harmonie nenne, dann entspricht dies möglicherweise dem Gehirnzustand, der bei mir das Empfi nden von Harmonie auslöst. Ich blicke mit einer anderen Blickrichtung auf dasselbe Phänomen – das sind die zwei Seiten einer Medaille. Ich schaue sowohl von außen als auch von innen. Die Vermutung, dass dasselbe Phänomen vorliegt, ist jedoch nur eine Hypothese. Ich würde hier keine starken Behauptungen machen wollen. Es ist jedoch attraktiv, sich als materialistisch eingestellter Biologe Gedanken in diese Richtung zu erlauben. Warum machen das die Biologen und werden dann in den Feuilletons dafür kritisiert? Hundert Jahre lang gab es in der Biologie eine strenge Erziehung, genau dies nicht zu tun. Bloß keine Anthropomorphismen verwenden – das Wort belegte ein Tabu und Biologen haben dies verinnerlicht. Seit vielleicht 10 oder 15 Jahren gibt es jedoch die Erwartung, hier ließe sich vielleicht doch etwas machen. Manche stellen sich inzwischen gern vorn auf die Bühne und tönen vielleicht ein bisschen zu sehr – aber es ist eben sehr attraktiv und es macht Spaß, Brücken zu bilden, die vorher undenkbar waren. Meine Werbung an dieser Stelle geht dahin, dass beide Seiten – Biologen und Geisteswissenschaftler – aufeinander zugehen müssen. Die meisten Diskussionen, die in der Öffentlichkeit ausgetragen werden, sind gegeneinander angelegte Positionskämpfe. Das ist schade, da unproduktiv. Denn es ist für die Naturwissenschaftler wichtig, Rückmeldungen von Personen zu erhalten, die in geisteswissenschaftlichem Denken und den dazugehörigen Ausdrucksformen geschult sind und uns vor unhaltbaren und vielleicht naiven Formulierungen warnen. Die Bitte, sich auf die Denkweisen der anderen Seite und deren wissenschaftliche Erkenntnisse einzulassen, gilt natürlich für beide Seiten. Klaus Hentschel: Ich möchte ein Problem aufwerfen, das zurückführt auf die verhandelte Frage über die biologische versus kulturelle Bedeutung von Schönheit. Es geht um die Mustererkennung. Ich greife Ihr Beispiel von den Zipfelmützen auf: Projiziere ich den oberen Teil der Mütze, so erhalte ich automatisch das untere Bild. Dies gilt leider nicht skalenunabhängig. Wenn ich den Input z. B. um den Faktor fünf vergrößere oder auch um 90 Grad drehe, wird das System dies nicht mehr reproduzieren, im Unterschied zu anderen Formen der Gestalterkennung. Alle ästhetischen Präferenzen, die wir in unserer westlichen Kultur haben, sind solche skalenunabhängigen. Das gilt für den goldenen Schnitt, das gilt für die Proportionen. Ich behaupte nun als Gegenthese, dass sie dies schon im Ansatz nicht in den Griff bekommen, da Sie immer skalenunabhängige Präferenzen haben müssten, aber nicht so leicht erhalten. Wenn jetzt Ihre Antwort darauf wäre, dass es sich dabei um Hardware auf höherer Hierarchieebene handelt, dann habe ich ein Problem als Historiker, weil ich nicht verstehe, warum andere Kulturen diese skalenunabhängigen Präferenzen nicht haben. Der goldene Schnitt ist für die westliche Kultur eine allgemein verbreitete Präferenz, aber in anderen Kulturen eben nicht. Wie entscheiden Sie sich hier, ist es hardwired oder nicht?

Ästhetik zwischen Harmonie und Neugier

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Holk Cruse: Sie haben meine Antwort bereits vorweggenommen, dass es hier Hierarchien gibt. Ich möchte noch eine Zusatzantwort geben. Unser Gehirn, ich sagte es schon, ist mit Sicherheit kein Hopfield-Netz, die Struktur ist anders. Der Vorteil des Hopfield-Netzes besteht darin, dass es als einziges wirklich intensiv untersucht ist. Mit ihm kommt man im Prinzip überhaupt erst einmal an das Verhalten der Dynamiken von rekurrenten Netzen heran. Meine spontane Antwort wäre, dass Hierarchien eingebaut werden müssen um Skalenunabhängigkeit hinzubekommen. In der Tat gibt es hierzu auch gut ausgearbeitete Modellvorstellungen. Klaus Hentschel: Dann wäre es auf einer ganz hohen Hierarchieebene hardwired. Holk Cruse: Nein, dass muss überhaupt nicht sein. Niemand sagt, dass es fest verdrahtet ist. Was davon gelernt oder angeboren ist, können wir nicht sagen. Manche Dinge sind kulturabhängig. Nehmen wir für diese Diskussion an, der goldene Schnitt sei kulturabhängig. Dann müsste man daraus schließen, dass er etwas Gelerntes ist. Bei anderen Dingen, etwa dem Neckerwürfel, den man dreidimensional sehen muss, damit der Kippeffekt eintritt, will ich einmal annehmen, dass das entsprechende Netz kulturunabhängig sei, dann wäre es also angeboren. Diese Alternative ›angeboren‹ oder ›nicht angeboren‹ ist jedoch eine relativ artifizielle Alternative. Meistens haben wir es mit Mischungen zu tun. Auch beim Gedächtnis redet man vom Artgedächtnis und vom Individualgedächtnis. Auch da wäre es irreführend zu sagen, an der einen Stelle des Gehirns fi ndet man das Artgedächtnis und an einer anderen das Individualgedächtnis. Es ist ein und dieselbe Struktur. Allerdings sind manche der Synapsen bereits festgelegt und ändern sich im Laufe des Lebens nicht mehr, andere ändern sich vielleicht noch ein wenig, andere sind überhaupt nicht festgelegt. Das Individualgedächtnis überlagert sozusagen das Artgedächtnis im Sinne eines fine tuning. Ich möchte also Ihren Einwand Ernst nehmen, aber die Alternative hardwired oder ›kulturell gelernt‹ führt nicht weiter. Beides spielt zusammen. Ich würde die Erklärung von der anderen Seite her aufziehen: Wenn ich sehe, dass etwas kulturabhängig ist, dann muss ich annehmen, dass es gelernt ist. Klaus Hentschel: Wenn etwas jedoch kulturindifferent ist, dann ist es angeboren. Holk Cruse: Ja, so muss man vermuten.

Chaotische Bemerkungen eines theoretischen Ph ysikers zur Ästhetik 1 Von Philippe Blanchard

I. Rückblick und Ausblick Im Vorfeld dieses kurzen, zügellosen Vortrags habe ich mir die Frage gestellt: Was hat mich eigentlich bewegt, theoretischer Physiker zu werden? Die erste Antwort, die ich hierauf fand, war die Bemerkung eines Jesuitenpaters. Als ich letzte Woche im Schrödinger-Institut, im alten Priesterseminar, in Wien war, musste ich an meine Jahre im Jesuiteninternat denken. Mein Physiklehrer war ein sehr sympathischer und intelligenter alter Pater, der mindestens zwei Leidenschaften hatte: die Physik und die Musik. Eines Tages sagte er mir, ich müsse verstehen: In der Physik würde nie eine Berechnung angefangen werden, wenn nicht von vornherein ungefähr das Ergebnis bekannt wäre. Daraus habe ich für mich geschlossen, dass Physik eine Kunst sein muss, aber eine Kunst im einfachsten Sinn des Wortes wie Kochkunst. Denn auch wenn man anfängt zu kochen, weiß man ungefähr, was man erhalten wird. Das war einer der Gründe, weshalb ich die Physik sympathisch fand und beschlossen habe, das Fach zu studieren. Eine andere starke Motivation lag in der ›romantischen Komponente‹. Mit zwei Versen von Baudelaire aus der »Voyage« lässt sich diese gut beschreiben. Er schrieb »Plonger au fond du gouff re, Enfer ou Ciel qu’importe? Au fond de l’inconnu pour trouver du nouveau«

und lautet übersetzt: »Zur Tiefe des Abgrunds tauchen, Himmel oder Hölle egal Auf den Grund des Unbekannten, um Neues zu fi nden.«

Ich wollte sehen, was jeder sieht, dabei aber denken können, was noch keiner gedacht hat und die Macht der Gewohnheit durchbrechen. Eine weitere Motivation, auch das habe ich bei dem guten Pater gelernt, das war die Neigung zum Spielen. Spielen weckt die schöpferischen Kräfte, schärft den Verstand und schaff t eine emotionale Verbindung mit dem Fach. Um ein Meister eines Faches zu werden, muss das Spielen ständig die Erziehung begleiten. Schiller hat dieses Prinzip sehr schön im 15. Brief seiner »Ästhetischen Erziehung des MenMein Dank gilt Ludwig Streit für die Gastfreundschaft im Centro de Ciências Matemáticas (CCM) der Universität von Madeira während der Bearbeitung der Tonbandaufzeichnung dieses Vortrags und Wolfgang Krohn für konstruktive Kritik und Anregungen. 1

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Philippe Blanchard

schen« formuliert: »Der Mensch spielt nur, wo er in voller Bedeutung des Worts Mensch ist und er ist nur da ganz Mensch, wo er spielt.« Was hervorragende Lehrer auszeichnet, ist gerade diese emotionale Verbindung mit ihrer Disziplin, die sich in ihrem Enthusiasmus widerspiegelt, wenn sie unterrichten. Lehren und den Nachwuchs ausbilden ist ein großes Glück. Man hat dabei stets mit jungen Leuten zu tun. Bei ihnen ist die Intelligenz frisch, froh, begeistert, kühn und großzügig. Dank ihnen wagt man es, noch »Schwieriges« anzupacken. Die Frage ist, was tut ein theoretischer Physiker: Er will ein Problem verstehen, versucht ein Modell – eine Art Karikatur in vereinfachter Form - zu entwickeln und spielt mit diesem. Das Wesentliche wird betont und aller unnötige Ballast weggelassen. Die Strategie lautet: genau hinsehen, weglassen und übertreiben! Das Modell muss so einfach wie möglich, aber nicht zu einfach sein. Das Grundprinzip der Statistischen Physik kann man zum Beispiel Kindern spielerisch erklären: Man hat zwei Hunde mit vielen Flöhen. Indem jede Sekunde ein zufällig gewählter Floh vom einen Hund zum anderen Hund hinüber springt, stellt sich nach einiger Zeit ein Gleichgewicht ein. Ludwig Boltzmann, einer der Gründer der Statistischen Physik, hat geschrieben: »Die Wiege der Theorie ist immer die Phantasie« – das fand ich sehr sympathisch und attraktiv in der Physik. Ein anderer wichtiger Aspekt ist die Freiheit. Man kann alles probieren: die verrücktesten Ideen und die kompliziertesten Kombinationen. Auch bei der Wahl der Problemstellung ist man frei. Man kann sich das Problem aussuchen und sich in dies verlieben. Oft ist dies im jungen Alter die Brücke zur Wissenschaft. Man verliebt sich in ein Problem und macht diesem Problem Kinder. Man kann das Problem auch heiraten und sich später scheiden lassen. Weiterhin kann man in der Theoretischen Physik das Fachgebiet frei wählen und ist nicht lebenslänglich verurteilt, im gleichen Gebiet zu forschen. Ich glaube auch, eine kindliche Faszination, die Welt zu verstehen, ist unerlässlich. Das hat sicherlich wiederum mit dem Spielen zu tun: Man braucht, um wirklich ganz neue Dinge anzugehen, eine gewisse Naivität, wie sie eben Kinder haben. In der kindlichen Faszination gegenüber der Welt, so wie sie ist, schwingen allerdings immer auch Imagination und Phantasie mit. Ebenso verlangt die theoretische Grundlagenforschung, die sich ihre eigenen Methoden und Ziele schaff t, nicht nur nach Logik, sondern auch nach Vorstellungskraft und sogar Imaginärem. Es gibt keine Wissenschaft ohne Phantasie und keine Kunst ohne Fakten. Dennoch ist theoretische Forschung schwer, intellektuell qualvoll, auch wenn sich der Aufwand am Ende lohnt. Es gibt auch steile und universale Wände, die mühsam zu erklettern sind. Die theoretischen Physiker sind entsprechend etwas komisch. Allerdings verlieren viele unter ihnen in frühen Jahren das Interesse an der Physik und werden, wie mein alter Freund David Ruelle bemerkt, »hoffnungslos normal!« Die Leidenschaft ist der Hauptmotor der Forscher und der Künstler. Mit dem Alter gewinnt man wie in jedem Beruf eine Erfahrung, die sehr hilfreich ist, um

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den Versuch zu wagen, schwierige Probleme in Zusammenarbeit mit seinen jüngeren begeisterungsfähigen Mitarbeitern zu lösen. Die Reife kann ein Vorteil sein, aber dafür muss man viel von sich selbst verlangen. Wie ein Bergsteiger und Bergführer darf man nie auf hören zu trainieren und wie Schiller in der letzten Strophe seines Gedichts »An die Freunde« schrieb: »Ewig jung ist nur die Phantasie«! Kreative Menschen können das Gegenteil ihrer eigenen Meinung problemlos durchdenken. Sie fürchten weder Widersprüche noch Ambivalenz und werden im Gegenteil von diesen Schwierigkeiten stimuliert. Sie sind keine Extremisten, die bei zuviel Komplexität Zuflucht in groben Vereinfachungen suchen, oder wie Lichtenberg es schön formuliert hat, zu allem fähig sind, aber sonst zu nichts. Die Schönheit potentieller Entdeckungen hat in der Forschung auch eine gewisse Anziehungskraft. Es gibt Arbeiten, die technisch brillant und sehr schwierig sind, aber oft haben sie nicht die Schönheit von Arbeiten, in denen sich, ausgehend von einer ganz einfachen Idee, plötzlich etwas Neues, im Grunde genommen vielleicht etwas Bekanntes, vor den Augen des Forschers auftut. Entdeckungen können, vom Standpunkt der mathematischen Formulierung aus betrachtet, elegant sein wie die vier Maxwell-Gleichungen. Die riesige Anzahl von Anwendungen und die Kompaktheit faszinieren mich hier. Summa summarum sieht man, wenn alle Auswahlkriterien für die Theoretische Physik, die für mich relevant waren, addiert werden, dass meine Wahl ›ästhetischer Natur‹ war. Auch die Erfolgskriterien sind ›ästhetischer Natur‹: Freude, Zweifel, Muße, Ambivalenz, Irrtümer, unerwartete Einfachheit, Neugier, Staunen, Emotion, Faszination, Chaos zwischen Zufall und Einfall, Mischung aus Erwartung und Erkenntnis, Phantasie, Überraschung, Abstraktion und Wirklichkeit spielen eine bedeutende Rolle. Ziele, Mittel, Methoden und Ergebnisse sind verschieden, aber die Fragen sind dieselben und werden immer vor demselben Abgrund des Unbekannten gestellt. II. Verwirrende Weltbilder Der menschliche Geist hat immer nach einer kohärenten und vereinheitlichten Darstellung der Welt gestrebt. Mythen und die wissenschaftlichen Theorien haben zum Ziel, Sichtbares durch Unsichtbares zu erklären, und das Unsichtbare ist das Produkt unserer Vorstellungskraft. Die Mythen sind meistens für die Ewigkeit fi xiert. Die Theorien werden modifi ziert, verbessert und, falls nötig, in den Mülleimer geworfen. Die Physik der Neuzeit begann im 17. Jahrhundert mit dem Beitrag von Galilei und gipfelte in der Mechanik Isaac Newtons, die für zwei Jahrhunderte richtungweisend blieb. Der Erfolg der klassischen Mechanik verführte zu einer mechanistischen und deterministischen Weltauff assung. Laplace brachte diese mit dem Gedanken zum Ausdruck, dass ein intelligenter Dämon, der fähig wäre, den aktuellen Zustand jedes Partikels in der Welt zu kennen, Vergan-

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genheit und Zukunft jedes Systems aus den Gesetzen der klassischen Mechanik berechnen könnte. Im Rahmen der Quantentheorie sieht es ganz anders aus. König ›Zufall‹ regiert tatsächlich im Reich der Atome! Keine physikalische Theorie ist präziser als die Quantentheorie, aber keine wirft zur Frage, was eigentlich gemessen wird, ähnlich delikate Interpretationsprobleme auf. Aufgrund neuer Experimente und Anwendungen in der Informationstheorie ist die Diskussion über die Grundlagen der Quantentheorie interessanter und lebendiger denn je. Die Kopenhagener Deutung liefert ein sehr erfolgreiches Rechenrezept, das bis jetzt alle experimentellen Ergebnisse richtig wiedergegeben hat. »Wenn die Quantentheorie recht hat, ist die Welt verrückt«, soll Einstein gesagt haben. Er dachte dabei an die Rolle des objektiven Zufalls und an die spukhaften Fernwirkungen. Trotz ihrer Bestätigung in sehr zahlreichen, immer genaueren Experimenten entwirft die Quantenphysik ein Weltbild, das unserer Erfahrung fundamental widerspricht. Einige Experten sind der Meinung, dass die Kopenhagener Interpretation versagt, wenn es um ein akzeptables Bild der Wirklichkeit geht. Auch die Kunst kann uns solche, für die Mehr zahl der Leute verwirrende Weltbilder anbieten. In der Tat gleicht die Quantentheorie dem Impressionismus und zeigt zugleich eine gewisse Verwandtschaft zum Surrealismus. Es ist bemerkenswert und lustig, dass Breton 1925, in dem Jahr als Schrödinger seine berühmte Gleichung – eine der Säulen der Quantenmechanik – entwickelte, einen kleinen Text schrieb, in dem er im gewissen Sinne den »Quantenfi sch« erfunden hat. Er schrieb von löslichen Fischen. Sie sind nicht wie der »klassische« Fisch perfekt lokalisiert, sondern im Teich verteilt, nur ihre Aufenthaltswahrscheinlichkeiten sind bekannt. Und plötzlich, wenn er Glück hat – das ist die berühmte Reduktion der Wellenfunktion –, kann der Angler den »Quantenfisch« herausziehen und sehen. Der Physiker und der Künstler versuchen, die Realität jenseits des Anscheins darzustellen. Einstein und Picasso wollten die Eigenschaften des Raumes besser ver stehen. Es ging für beide auch darum, die Frage zu klären, wie der Raum von verschiedenen Beobachtern wahrgenommen wird. Die Relativitätstheorie und der Kubismus sind fast gleichzeitig entstanden. Der Kubismus hat auch Bohr bei der For mulierung des Dualismus von Welle und Teilchen in der Quantentheorie beeinflusst. Der Maler versucht eine Szene von allen möglichen Standpunkten aus zu veranschaulichen. Elektronen, Photonen, Neutronen und Quarks verhalten sich je nach den Versuchsbedingungen als lokalisierte Teilchen oder als ausgedehnte Wellen. Die Quantenmechanik ist eine sehr künstlerische Wissenschaft oder wie der Wissenschaftshistoriker Michel Serres sich ausdrückt: »Die Mythen sind voller Wissen und das Wissen voller Träume und Illusionen.« Ich fi nde, das passt ziemlich gut, denn auch in der Quantenmechanik gibt es diese Mythen. Mit Mythen meine ich nicht die Sagen von Zeus und dessen wilder Familie, sondern ein Erklärungsschema, das auch die Vorstellungskraft der Laien anspricht und sie beeinflussen kann. Was zieht die Aufmerksamkeit an? In erster Näherung gibt es zwei Kate-

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gorien: Die eine, das ist das sehr Regelmäßige, zum Beispiel verknüpft mit der Struktur, Ordnung, Wiederholung, Periodizität, Mustern, in dem wir Schönheit entdecken. Die andere Quelle der Inspiration ist das völlig Unerwartete: der Abbruch, die Ausnahme, das Atypische, die Lawinen, die Phasenübergänge. Dieses Unerwartete wird auch von schönen, mathematisch formulierten Gesetzen erfasst. In seiner Autobiographie »A Mathematician’s Apology« schreibt Hardy: »Ein Mathematiker schaff t, ähnlich wie ein Maler oder ein Dichter, Strukturen, die schön sein müssen. Schönheit ist der erste Test: Für hässliche Mathematik gibt es keinen dauerhaften Platz auf der Welt.« Mathematik ist die Sprache der Physik und wie Poincaré schrieb: »Sie ist die Kunst, verschiedenen Dingen den gleichen Namen zu geben.« Diese Eigenschaft ist der Ausdruck ihrer schöpferischen Freiheit. Der Mathematiker hat die Freiheit, ein Problem anzugehen, oder es zu ignorieren. In der Physik entsteht oft ein bedeutendes Problem aus einem Konfl ikt oder sogar einem Widerspruch. Es sind die offenen Fragen und die Kontroversen, die sofort fesseln und den besten Zugang zu einem Problemkreis eröff nen. Bleibt nur mit Hölderlin zu hoffen, »wo Gefahr ist, wächst das Rettende auch«. Ich möchte auch noch erwähnen, dass die Theoretische Physik früher ganz anders als heute praktiziert wurde. Als ich damals am Seminar für Theoretische Physik an der ETH in Zürich als Assistent zu arbeiten angefangen habe, gab es eine Gemeinschaft von Einsiedlern, die eng befreundet waren, aber dennoch für sich allein arbeiteten. Ich traf meinen Doktorvater Res Jost mindestens einmal in der Woche, und er pflegte lachend zu sagen: »Denken tut weh!« »Der Stil ist der Mensch selbst« hat Buffon 1753 am Ende seiner Antrittsrede »Discours du style« in der Académie française behauptet, und diese Aussage triff t auf ihn im besonderen Maße zu. Josts Ausstrahlungskraft, seine Intelligenz, sein Humor, seine Bescheidenheit, sein Blick für das Entscheidende und seine weit gefächerte Bildung waren einzigartig. Seine Erfolge als Lehrer waren ihm mindestens so wichtig wie seine wissenschaftlichen Erfolge. Jede Vorlesung und jeder Vortrag waren sorgfältig vorbereitet, wie ein Kunstwerk. Für mich waren diese Vorlesungen und später unsere Gespräche über Physik, Mathematik, Gott und die Welt ein betäubender Genuss. Für viele seiner Schüler wurde er ein väterlicher Freund. Moderne Physiker entsprechen dem Klischee Einsteins nur wenig und selten. Heute steht Teamwork viel stärker im Vordergrund des wissenschaftlichen Arbeitens. Die Zurückgezogenheit wird ersetzt durch anregende Gespräche in kleinen Gruppen. Durch den Einsatz von immer leistungsf ähigeren Computern ist es möglich geworden, immer kompliziertere Systeme und mathematische Modelle numerisch zu behandeln. Neben Theorie und Experiment bildet Simulation heute die dritte Säule physikalischer Forschung. Moderne Computer können blitzschnell Bilder in Zahlen und Zahlen in Bilder umwandeln. Dadurch werden neue ›virtuelle Welten‹ erzeugt, in denen die Ergebnisse jeder Simulation dank einer Visualisierung sichtbar werden. Und wo Bilder ins Spiel kommen, sind ästhetische Aspekte fast immer in Reichweite.

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Jean-Marc Lévy-Leblond, ein Freund von mir, sagt stets, dass er theoretischer Physiker und experimenteller Philosoph sei. Eine seiner Lieblingsbehauptungen ist »La langue tire la science«. La langue, das ist die Zunge, die auf französisch auch die Sprache meint. Sie zieht die Wissenschaft. Er meint, dass die Sprache, also die Formulierungen mit Worten, in der Wissenschaft eine sehr große Rolle spielt. In der Sprache konstruieren wir unsere Realität. Sie schaff t eine Welt der Bedeutung, die wir mit unserer Umgebung teilen. Die Sprache ist die Sexualität der Natur. Dabei spielen Ideen, Zeichen, Symbole und Begriffe die Rolle der Gene. Wie Virchow es bemerkt hat: »Ist es nicht das erste Zeichen eines wissenschaftlichen Mannes, dass er die Sprache der Wissenschaft zu reden versteht.« Es ist traurig zu sehen, dass überall auf der Welt eine minimale Version der englischen Sprache gebraucht wird – eine wahrhaftige Qual für jeden Engländer. Das Englische ist heute schlechthin die Wissenschaftssprache und hat die Stellung des Wissenschaftslateins im Mittelalter geerbt. Das hat zur Folge, dass das Sprachniveau, ich will nicht sagen gegen Null tendiert, aber auf jeden Fall sinkt. Nun möchte ich noch eine Sache anmerken. Kritik ist ein Zeichen der Moderne. Es gibt Kritikpunkte und Krisen in der Hochschulwelt. Es existieren Literaturkritiker, Kunstkritiker, Gastronomiekritiker und sogar Sportkritiker, aber es gibt leider kaum Wissenschaftskritiker. Die Frage ist, was könnte ein Wissenschaftskritiker leisten. Das Gedächtnis der Naturwissenschaft, das heute so kurzlebig ist, rückt hier in das Interessenfeld. Wenn man heute Publikationen durchschaut, entdeckt man mehrmals hintereinander das Gleiche. Ältere Arbeiten, die vielleicht fünf Jahre alt sind, werden ausrangiert. Ergebnisse geraten in Vergessenheit und werden so viel eher neu fabriziert, ohne sich dessen bewusst zu sein. Die Wissenschaftler lesen immer weniger was andere schreiben. Mit Arbeiten von Kollegen haben sie, wie Thomas Mann zu sagen pflegte, oft nur »Kontakt aufgenommen«. Paradoxerweise spielt das Publizieren in angesehenen wissenschaftlichen Zeitschriften eine immer größere Rolle in der Forscherlauf bahn. Hier liegt ein potentielles Aufgabenfeld für den Wissenschaftskritiker. Zum Abschluss sei noch die dringliche und spannende Frage der Entstehung des Neuen erwähnt. Je größer die Überraschung, desto innovativer ist der Gedanke oder die Idee. Das Gleiche gilt in der Kunst, und das ist kein Zufall. Die Kreativität, in der Kunst wie in der Wissenschaft, ist der Ausdruck unserer Individualität. Grundlegend neue Ideen stammen fast nie von organisierten Gruppen, sondern von einzelnen begabten Persönlichkeiten. Innovative Grundlagenforschung ist genau das Gegenteil eines pedantischen Prozesses mit einer genau vorgezeichneten Planung. Die Physik ist nicht so, dass man jetzt sagt, erst diesen Schritt und dann jenen Schritt. Wenn es so ginge, könnte jeder das Problem lösen! In der Tat ist wirkliche Innovation voller Überraschungen, höchst intuitiv und fast immer chaotisch, genau wie innovative Kunst, oder wie Nietzsche sagt, »man muss noch Chaos in sich haben, um einen tanzenden Stern gebären zu können.«

Bemerkungen eines theoretischen Physikers zur Ästhetik

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Wäre unsere Welt nur chaotisch, so wäre sie hoff nungslos. Wäre unsere Welt nur deterministisch, so wäre sie langweilig. Es ist das harmonische Zusammenspiel von Gesetz und Chaos, was die Ordnung, die Vielfalt und den Reichtum des Universums, der Wissenschaft und der Kunst ermöglicht. Und genau wie Kunst gleicht Wissenschaft der Verliebtheit!

Schönheit als A ntriebsfeder der Erk enntnis Von Helge Ritter

Was könnte es heißen, Schönheit ›zu verstehen‹? Ich möchte einige Gedanken zur Diskussion stellen, die eine Brücke zwischen Schönheit und Erkenntnis anbieten können. Dabei liegt mir naturgemäß die Perspektive der Neuroinformatik am nächsten. Welche Fragen ergeben sich aus dieser Sicht? Als Informatiker frage ich zu allererst, was Schönheit mit Information zu tun haben könnte, was uns Schönheit mitteilt und ob man Schönheit messen kann. Interessant ist auch der Blick darauf, wie Schönheit transportiert wird und welche Medien sich hierfür anbieten. Tiefer gehende Fragen sind: Ist Schönheit ›objektiv‹ messbar, etwa auf einer numerischen Skala zwischen 0 und 1 – und kann so etwas überhaupt sinnvoll sein? Inwieweit existiert Schönheit überhaupt ›objektiv‹? Oder entsteht jedwede Form von Schönheit erst im Auge des Betrachters und ist ihrer Natur nach etwas genuin Subjektives? Was kann uns Schönheit dann über das Wesen von Subjektivität, ja vielleicht auch über Bewusstsein sagen? Wie erzeugt unser Gehirn das Empfi nden von Schönheit? Möglicherweise haben andere Lebewesen gänzlich andere Auffassungen von Schönheit. Können wir uns dennoch Arten von Schönheit vorstellen, die von vornherein universell gegeben sind? Obwohl ich zu keiner dieser Fragen im Folgenden eine befriedigende Antwort geben kann, möchte ich diese zumindest in den Raum stellen und einen Versuch wagen, einige Bemerkungen und Spekulationen in Richtung auf mögliche Antworten vorzubringen. Schönheit hat sicherlich häufig etwas mit Mustern zu tun. Man könnte argumentieren, dass Muster wichtige Träger von Schönheit sind. Mit schönen Mustern wird in der Regel eher etwas Positives assoziiert. Dabei verlangt die Schönheit eines Musters vielfach eine gute Balance zwischen einer langweiligen Regelmäßigkeit und einer gewissen kontrastierenden Unordnung. Ohne die Forderung nach Schönheit genügt bereits Regelmäßigkeit allein um ein Muster zu defi nieren. Jedoch empfi nden wir Schönheit meist erst dann, wenn Regelmäßigkeit durch zusätzliche Elemente der Spannung bereichert ist. Hierzu biete sich an, die Regelmäßigkeit an einzelnen Stellen zu durchbrechen. Ein anderer Weg wäre, wenn sich uns eine weniger offensichtliche Regelmäßigkeit anbietet, die uns durch ihre Entdeckung in einen Zustand gespannter Aufmerksamkeit versetzt. Damit berühren wir die Frage des Zusammenhangs von Schönheit und Komplexität: Sehen wir davon ab, dass Komplexität wiederum kein leicht zu defi nierender Begriff ist, so haben wir doch vielleicht den Eindruck, dass Schönheit erst durch eine gut abgewogenes Maß an Komplexität zustande kommt – manifestiert in der gelungenen Balance zwischen offensichtlicher Regelmäßigkeit und dazu kontrastierenden Elementen.

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Helge Ritter

An dieser Stelle möchte ich eine Annahme der Neuroinformatik einführen. Wir neigen dazu, Muster – und damit einen Teil von Schönheit – als Betrachter erst zu schaffen. Wir nehmen die Welt um uns herum in Form von Mustern auf. Muster sind die Sprache des Gehirns. Selbst wenn wir auf etwas wenig Strukturiertes blicken, versucht unser Gehirn darin Muster zu erkennen und zu deuten. Im Gegensatz zu heutigen Computern, die mit Mustern gerade erst mehr schlecht als recht zurechtzukommen beginnen, ist unsere Wahrnehmung ein ständiger, aktiver Organisationsprozess. Computer funktionieren im Gegensatz zu unserer Sehnsucht nach Balance zwischen Monotonie und Abwechslung umso besser, je monotoner die Muster sind, auf denen sie operieren sollen. Den Geschöpfen der Natur sind dagegen augenscheinlich Muster als Formen zur Wahrnehmung der Welt mitgegeben. Der Wahrnehmungsforschung ist es im vorigen Jahrhundert gelungen, einiges von der Struktur unserer Wahrnehmung durch ›Gestaltgesetze‹ (auch ›Wahrnehmungsgesetze‹ genannt) näher zu beschreiben. Diese Gesetze sind zwar nicht so scharf wie etwa die Gesetze der Physik oder die Gleichungen der Mathematik. Sie beschreiben dennoch in nützlicher Genauigkeit, zu welchen Arten von Mustern unser ›Wahrnehmungsapparat‹ beim Ordnen der Welt besonders neigt. So fassen wir beispielsweise räumlich nahe gelegene oder gleichartig bewegte Stimuli unwillkürlich zu Gruppen oder Scharen zusammen. Andere bevorzugte Muster sind Symmetrien oder die Geschlossenheit von Umrissen, die uns etwa helfen, visuelle Eindrücke zu Figuren zusammenzufassen und von ihrem Hintergrund zu unterscheiden. Wir beginnen heute mehr und mehr zu ver stehen, wie diese Gesetze unserem visuellen System helfen, die zweidimensionale visuelle Welt so in Figuren zu zerlegen, dass diese auch unter schwierigen Licht- und eingeschränkten Betrachtungsbedingungen eine gute Chance haben, realen Objekten im dreidimensionalen Raum zu entsprechen. Viele der dabei gewonnenen Erkenntnisse sind übrigens im Zusammenhang mit der Entwicklung künstlicher Computersehsysteme gewonnen worden. Von dem ständigen aktiven Konstruktionsprozess der Muster, die wir wahrnehmen, bekommen wir kaum etwas mit. Nur in besonderen Situationen, wenn z. B. der Konstruktionsprozess ausnahmsweise in die Irre führt, bemerken wir etwas. Dies ist beispielsweise bei optischen Täuschungen der Fall. So empfi nden wir aufgrund des Gesetzes der Perspektive bei Längenschätzungen zwei horizontale Balken vor einem Fächer auseinander laufender Strahlen als unterschiedlich lang. Diese Illusion verdanken wir der starken Neigung unseres visuellen Systems, Muster nach Möglichkeit perspektivisch wahrzunehmen, um damit Tiefe zu schaffen und unsere Größenwahrnehmung unwillkürlich darauf abzustimmen. Eine andere Form visueller Täuschungen sind Ambiguitäten. Die bereits erwähnte Figur-Hintergrund-Trennung gibt z. B. Anlass zu der bekannten Zweideutigkeit, eine schmale symmetrische Fläche als Vase oder als Hintergrund zwischen zwei einander anblickenden Gesichtern zu deuten. Manchmal können wir den aktiven Musterbildungsprozess in unserem Gehirn auch bewusst beobachten, z. B. wenn sich

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die Umorganisation des Gesehenen in ein neues Muster erst nach einiger Zeit einstellt. Die Abbildung unten bietet eine solche Gelegenheit: Zu Beginn sehen wir lediglich unregelmäßige, weiße Flecken auf schwarzem Grund. Betrachten wir das Bild länger, so tritt nach kurzer Zeit eine neue Gestalt hervor. Von diesem Moment an ist unsere Wahrnehmung wie auf einer neuen Ebene ›eingerastet‹ und eine Rück kehr zur Wahrnehmung der ursprünglichen weißen Flecken ist kaum noch möglich. Dabei können wir die Gestalt nur deshalb erkennen, weil wir zuvor viele andere Muster dieses Typs gesehen haben und damit über ein entsprechendes visuelles Wissen verfügen. Lebewesen, die niemals mit Gesichtern zu tun hatten, können das Bild nur auf der Ebene weißer Flecken ›erleben‹ (vielleicht mit der Chance, nach einiger Zeit darin Muster aus ihrer spezifi schen Erfahrungswelt aufscheinen zu sehen). Die Musterbildungsprozesse unserer Wahrnehmung sind dabei nicht auf den Raumaspekt begrenzt, sondern sie wirken auch entlang der Zeitdimension. So befestigte der schwedische Psychologe Gunnar Johannson vor mehr als 30 Jahren in einem berühmt gewordenen Experiment kleine Lichtquellen an den Gelenken von Versuchspersonen und ließ diese im Dunklen gehen oder andere Alltagsbewegungen ausführen. Damit konnte er demonstrieren, dass bereits allein der Anblick einer Handvoll geeignet kohärent bewegter Lichtpunkte einen höchst klaren Eindruck von der Handlung einer Person ver mitteln kann, ja dass ein geübter Betrachter sogar unterschiedliche Personen am dynamischen Lichtpunktmuster ihres Gangs ohne allzu große Mühe unterscheiden kann. Obwohl die dabei dargebotene Information eigentlich außerordentlich spärlich ist, füllt unser Gehirn diese zu einem wesentlich reichhaltigeren Wahrnehmungsbild auf. Es ›halluziniert‹ die fehlenden Bestandteile unwillkürlich hinzu. Diese Beispiele verdeutlichen ein wichtiges Prinzip unserer Wahrnehmung: Sie ›gießt‹ das Bild, das unsere Sinnesorgane von der Welt anliefern in idealisierte, vielfach angereicherte Formen, die so beschaffen sind, dass sie uns unter normalen Bedingungen eine möglichst gute Orientierung in der Welt bieten können. Wäre es möglich, dass Schönheit im Ein Beispiel visueller Gestaltbildung. Dienste dieses Prinzips steht? Um diesen

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Gedanken weiter nachgehen zu können, müssen wir zunächst nach den Trägermedien, die Schönheit transportieren, fragen. Bereits die soeben besprochenen Lichtpunkt-Bewegungsmuster können etliches von der Anmut und Schönheit einer Bewegung, z. B. eines Tanzes, vermitteln. Schönheit kann aber auch durch Musik, Klänge, Geruch oder Geschmack vermittelt werden. Wenn wir zum Beispiel in ein gutes Restaurant gehen, dann hoffen wir dort auf einen schönen Genuss. Weiterhin können auch Denkfiguren und überzeugende, klare Argument schön sein. Oft ist man erstaunt und glücklich, dass sich ein vermeintlich komplexes Geschehen in eine prägnante und vielleicht als ›elegant‹ empfundene Form zusammenfassen lässt. Solche Schönheit der Erkenntnis wohnt z. B. vielen Naturgesetzen inne und trägt nicht unerheblich zur Motivation vieler Wissenschaftler bei. Eine wiederum andere Schönheit fi nden wir in der Welt der Sprache, etwa in der Literatur oder in der Poesie. Besonders zieht uns die Schönheit menschlicher Gesichter an. Über viele Jahrhunderte beschäftigten sich Künstler mit dem Versuch, diese Form der Schönheit einzufangen und in ihren Werken zu bewahren, ja sogar auch ein Stück weit zugunsten der Qualität ihres Handwerks zu verstehen. Erst in jüngerer Zeit ist ihnen dabei die Wissenschaft an die Seite getreten und versucht, die genauen Faktoren zu klären, die uns ein Gesicht als schön erscheinen lassen. Man weiß zum Beispiel inzwischen, dass sich bei Kindern bereits im Verlauf des ersten Lebensjahres eine Präferenz für attraktive Gesichter entwickelt und dass hierbei große interkulturelle Übereinstimmungen existieren. Prototypische Durchschnittsgesichter werden dabei anscheinend bevorzugt. Diese Präferenz bewirkt, dass bestimmte Unregelmäßigkeiten zugunsten einer idea lisierten Form herausgemittelt werden. Symmetrie in Gesichtern wird demnach positiv bewertet. Künstler wie etwa Raphael, die schöne Gesichter dargestellt haben, sind sich dessen seit jeher bewusst gewesen und haben demzufolge zum Teil über natürlich symmetrische Gesichter gemalt. Diese werden heute nach ihren Proportionen untersucht, um so das handwerkliche Wissen vergangener Künstler für Erkenntnisse über die Schönheit von Gesichtern ›anzuzapfen‹. Dabei spielen neben Geometrie natürlich auch nichtgeometrische Attribute wie Licht, Hautstruktur und Hautfarbnuancen eine wichtige Rolle. Letztlich interessiert uns die Frage, wie und wonach unser Gehirn Schönheit bewertet. Gibt es vielleicht sogar naturwissenschaftlich fassbare Determinanten, die mit der Wahrnehmung von Schönheit korrelieren? Diese Frage ist sicherlich zu ehrgeizig, um heute umfassend beantwortbar zu sein. Aber immerhin verfügen wir über einige Teileinsichten, aus denen wir Antwortfragmente gewinnen können. Symmetrie ist dabei eines der vielleicht am besten untersuchten Merkmale, insbesondere, weil Symmetrie nicht nur für unsere eigene Wahrnehmung, sondern auch bereits in der Wahrnehmung vieler Tiere, bis hinunter zu Insekten, eine wichtige Rolle spielt. In der Natur treffen wir auf zahlreiche Beispiele von Symmetrien, denken wir etwa an Wassertropfen, Schneekristalle oder Blüten. Zweifellos sind sym-

Schönheit als Antriebsfeder der Erkenntnis

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metrische Blüten schön: Die Natur setzt die Symmetrie als Attraktivitätsfaktor für Mensch und Tier ein. Flügelzeichnungen von Schmetterlingen sind rein funktionell gesehen überflüssig. Ein Ingenieur, der einen künstlichen Schmetterling baut, würde die Flügel vielleicht erst dann einfärben, wenn es auf das erfolgreiche Vermarkten des Produktes ankommt. Welche Rolle hat dann die natürliche Flügelzeichnung eines Schmetterlings? Schmetterlingsaugen auf den Flügeln dienen in der Natur der Tarnung oder der Abschreckung von Feinden und erhöhen somit die Sicherheit des Tieres. Die Entwicklung solcher Muster ist bis auf die genomische Ebene hinab mittlerweile ein intensiv beforschter Gegenstand geworden. Diese Arbeiten können Erkenntnisse zu der Frage beisteuern, weshalb Lebewesen Symmetrie, ein zunächst rein mathematisches Konzept, überhaupt favorisieren. Ein Mechanismus liegt sicherlich in den Bildungsbedingungen für komplexe Organismen: viele selbstorganisierende Prozesse neigen zur Herausbildung symmetrischer Strukturen. Dies hängt zum Teil damit zusammen, dass symmetrische Anordnungen häufig mit optimalen Lösungen einhergehen (z. B. besitzt von allen umfangsgleichen Rechtecken das Quadrat die größte Fläche, von allen Körpern nutzt die Kugel ihre Oberfl äche am besten, um ein Volumen zu umschließen). Neben derartigen allgemeinen Optimalitätseigenschaften werden weitere interessante Vorschläge für die Rolle von Symmetrie diskutiert. Einer davon besagt, Symmetrie bildet oft einen Indikator für höhere ›Fitness‹. Daher würden wir Symmetrie sowohl in Gesichtern als auch im Körperbau vorziehen, um so die Chance auf Nachkommen und deren Durchsetzungsvermögen zu erhöhen. Ein anderes Argument postuliert, dass Symmetrie die Wiederkennung erleichtert. Hat man eine Anzahl von Mustern, von denen jedes einzelne aus zwei ähnlichen, näherungsweise (aber nicht genau) zueinander symmetrischen Teilen besteht, so ist (wie schon zuvor bei den Gesichtern!) das mittlere Muster in der Regel wesentlich symmetrischer. Dank der Mittelung ist die Übereinstimmung des Musters mit einem zufällig herausgegriffenen Vergleichskandidaten im Mittel zudem besser, als die zwischen zwei zufällig herausgegriffenen Vergleichskandidaten. Dieser ›Wiedererkennungsvorteil‹ kann ein weiterer Grund dafür sein, warum wir so viele symmetrische Muster bei Lebewesen antreffen. In einer etwas suggestiveren Form könnten wir dieses Argument auch so fassen: Aufgrund seiner größeren Übereinstimmung mit den anderen Mustern liegt das symmetrische Muster näher an der Wahrheit die sich in diesen Mustern ausdrückt. Ein Erkennungssystem, das diese Eigenschaft nutzt, wird durch eine höhere Erkennungsleistung ›belohnt‹. Von dieser Sicht ist es nur noch ein kurzer gedanklicher Schritt zu folgender Frage: Gilt etwas Ähnliches vielleicht nicht nur für Sym metrie, sondern auch für das weiterreichende Konzept Schönheit? Steht Schönheit im Dienst der Hervorhebung wertvoller, weil Wahrheit anzeigender In formation? Könnte ein Sinn für Schönes aus einem solchen Grund Überlebensvorteile für den Betrachter bieten? Wir alle haben den Eindruck, wenn man der Wahrheit nahe ist, verbessern sich die Chancen richtig zu handeln, wie etwa bei

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Helge Ritter

der Einschätzung der Tragfähigkeit eines Astes, der Essbarkeit einer unbekannten Frucht oder der Voraussicht des morgigen Wetters. Daher bietet uns alles, was uns wertvolle Informationen stärker verdeutlichen kann, Überlebensvorteile. Demnach würde es für die Evolution Sinn machen, für Lebewesen überlebensfördernde Wahrheiten leichter erkennbar zu machen – also vielleicht auf besondere Art in der Wahrnehmung hervorzuheben. Zweifellos wäre es eine elegante Lösung, eine solche Hervorhebung gleich in die Wahrnehmungsmechanismen, mit denen die Geschöpfe die Welt erblicken, einzubauen wie durch Bereitstellung einer besonderen ›Farbe für Wahrheit‹. Es ist eine reizvolle Spekulation, dass Schönheit gerade diese Farbe sein könnte: Schönheit als Signalfarbe der Natur für Wahrheit! Wie gut könnten wir eine solche These untermauern? Wie wir gesehen haben, gibt es in der Biologie gute Anhaltspunkte für eine Korrelation zwischen wahrgenommener Schönheit und positiven Eigenschaften der ›Fitness‹ – also Kraft, Gesundheit oder Fruchtbarkeit. Dies ist zumindest verträglich mit einer Interpretation, dass Schönheit in diesem Fall im Dienste des Hervorhebens wichtiger ›Wahrheiten‹ steht (und deswegen auch gleich für Täuschungsstrategien instrumentalisiert werden kann!). Ein zweiter Punkt ist, dass ›organisch‹ gewachsene Dinge uns meist schöner erscheinen als künstliche, meist eher ›hastig‹ geschaffene Dinge. Organisches Wachstum bietet mehr Gelegenheiten, um Gleichgewichtszustände zu erreichen und ermöglicht daher eine harmonischere Abstimmung der beteiligten Komponenten, worin man einen besseren Ausdruck der zugrunde liegenden Wahrheiten sehen kann. Auch hier fi nden wir Beispiele, die vom langsamen Wachstum anorganischer Kristalle (im Vergleich zur schnelleren Bildung amorpher Ablagerungen derselben Substanz) bis hin zu historischen Stadtkernen (versus schnell entwickelter Reißbrettarchitektur) reichen. Zudem haben wir auch in der Wissenschaft nicht selten den Eindruck einer positiven Korrelation von Wahrheit und Schönheit. Angesichts der Komplexität der Welt sind die Naturgesetze von geradezu überwältigender Eleganz und Schönheit, und es erscheint als ein Wunder, dass sich soviel Wahrheit in so kompakter Form konzentrieren lässt. Symmetrie lebt darin als eine Teilfigur, sozusagen als ein minimalistisches Modell von Wahrheit, dessen Wesen in der Verdichtungsmöglichkeit einer größeren Struktur auf engeren Raum besteht. Viele Fragen bleiben hier ungeklärt. Gewiss ist, dass uns die Frage nach dem Wesen von Schönheit noch lange beschäftigen wird. Gleich zu welchen Auffassungen uns die Auseinandersetzung auch führen mag – eine letztumfassende Antwort wäre vielleicht doch zu schön, um wahr zu sein!

Computersimulation Über einen Umbruch in der ästhetischen Konstitution der Mathematik Von Johannes Lenhard

Ich möchte versuchen, den Titel »Zur Kontinuität und Diskontinuität ästhetischer Erkenntnistheorie« ganz wörtlich aufzufassen. Mein Thema ist die Mathematik und es wird demnach um die Kontinuität und Diskontinuität der ästhetischen Erkenntnistheorie der Mathematik gehen; und zwar um eine ganz bestimmte Diskontinuität, die mit dem modernen Computer und der Simulationsmethode in Verbindung steht. Zunächst möchte ich mich von einem nahe liegenden Verständnis dessen, was Ästhetik mit Mathematik zu tun haben kann, distanzieren, welches einem gewissen schöngeistigen Ästhetizismus nachhängt. Diese Sicht, der es um so genannte mathematische Schönheit geht, hat eine lange Tradition, die sogar in der Benennung als ›reine‹ Mathematik zum Ausdruck kommt. Als schön können zum Beispiel Theoreme gelten, deren hoher Grad an innerer Symmetrie nicht durch externe Bedingungen beeinträchtigt wird, die aus Gründen der Anwendbarkeit nötig wären. Angewandte Mathematik erscheint aus dieser Perspektive als hässlich und ›unrein‹. Ich möchte dagegen eine sehr viel stärker an der Wahrnehmung orientierte aisthetische Komponente ins Spiel bringen, ohne freilich deren ästhetische Züge zu negieren. Es soll um die tief greifenden Veränderungen gehen, die der Gebrauch des Computers als mathematisches Instrument bedeutet. Eines der auff älligsten Merkmale dieser Entwicklung stellt das Auftauchen der Bilder in der Mathematik dar. So ist zum Beispiel der Rummel um die Chaostheorie, der vor etwa zwei Jahrzehnten begann, maßgeblich von Bildern ausgelöst worden. Tatsächlich haben damals ›Bilderbücher‹ in die Mathematik Einzug gehalten. Natürlich sind solche Darstellungen – ich erinnere an die populären Fraktale wie etwa das ›Apfelmännchen‹, das in Abbildung 1 zu sehen ist – stark ästhetisch aufgeladen. Ich teile die Ansicht, dass derlei Bilder kaum Material für einen gehaltvollen Diskurs über Ästhetik und Schönheit hergeben. Das soll aber gar nicht mein Thema sein. Vielmehr geht es um einen anderen Aspekt, der sich anhand Abb. 1: ›Apfelmännchen‹.

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Johannes Lenhard

Abb. 2: Phasenraum des Lorenz-Attraktor.

Lorenz-Attraktor für r = 28, o = 10 und b = 8/3. Der Trajektorienbereich, den die Ebene Z = r – 1 = 27 verdeckt, ist punktiert. (Lanford, 1977)

der Chaostheorie illustrieren lässt. Abbildung 2 zeigt den so genannten LorenzAttraktor (genauer: dessen Phasenraum), der ein so genanntes chaotisches dynamisches System charakterisiert. Solche Systeme können eine sehr einfach erscheinende Beschreibung mittels weniger partieller Differentialgleichungen besitzen. Ihr Verhalten ist jedoch in einem bestimmten Sinne sehr komplex: Eine kleine Modifi kation beim Start der Dynamik verursacht nach einer gewissen Laufzeit der Dynamik einen völlig anderen Zustand. Diese Eigenschaft macht das Verhalten unvorhersagbar, da man in der Praxis Anfangszustände nie absolut genau kennt und gleichzeitig jede kleinste Abweichung zu großen Veränderungen führt. Man hat das als mathematisches Chaos bezeichnet. Die traditionellen Methoden der Differentialrechnung versagen bei der Analyse solcher komplexer Systeme. Um einen Überblick über das Verhalten dieses Systems zu erreichen, waren tatsächlich die vom Computer erzeugten Bilder wesentlich. Man kann erkennen, dass die dargestellten Trajektorien, die an einer Stelle eng benachbart sind, später zu völlig anderen Stellen führen. Es kommt darauf an zu verstehen, dass die Mathematik chaotischer Systeme sehr stark auf der visuellen Einsicht, die Bilder vom gezeigten Typ bieten, basiert. Das stellt etwas fundamental Neues dar: Der mathematische Einblick fußt nicht auf einer durch-

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schaubaren formalen Darstellung, sondern auf der Kombination von undurchschaubarer formaler Darstellung, deren algorithmischer Implementierung und der Transformation der Resultate, d. h. des Verhaltens des Systems, in ein Bild. Kurz: die Computervisualisierung macht solche Systeme erst aisthetisch zugänglich. Darin liegt eine fundamentale Bedeutung des Computers als ein neues Instrument der Mathematik. Die spezifi schen Eigenschaften dieses Instruments treten durch den Vergleich mit einem anderen Instrument hervor, nämlich dem Differentialkalkül – dem entscheidenden neuen Instrument auf mathematischer Seite zur Zeit der Entstehung der modernen Naturwissenschaft im 17. Jahrhundert. Die Differentialrechnung wurde durch die unabhängigen Leistungen von Leibniz und Newton begründet. Der Vergleich dieser beiden Ansätze weist auf interessante ästhetische Komponenten hin. Während Newtons Ansatz dem zeitgenössischen Ideal geometrischer Strenge verpfl ichtet blieb, verfolgte Leibniz einen anderen Weg. Er war im Gegensatz zu Newton nicht in den stilbildenden Rahmen der universitären Wissenstradition hineinsozialisiert, vermochte sich daher von den Restriktionen der geometrischen Argumentation frei zu machen und verfolgte sein Ziel eines universalen Kalküls auf eine stärker algebraische Weise. Die Anwendbarkeit des Instruments hatte sozusagen Vorrang gegenüber der Strenge seiner Begründung. Wichtig für unseren Zusammenhang ist, dass die Differentialrechnung den Umgang mit einer neuen Klasse mathematischer Objekte, den Kurven (die wiederum funktionale Zusammenhänge beschreiben), ermöglicht. Die langwierige geometrische Argumentation wird überflüssig durch den überschaubaren und sehr ökonomischen Ansatz des Differentialkalküls. Dessen Wirkung ist ganz gut mit derjenigen von Korff s Brille vergleichbar, wie sie von Christian Morgenstern beschrieben wird. Korff kreiert sozusagen ein Instrument gegen allzu lange Texte: »Es erfi ndet drum sein Geist Etwas, was ihn dem entreißt, Brillen, deren Energien Ihm den Text – zusammenziehen!« (aus: Die Brille)

Der Differentialkalkül erbringt genau diese Leistung, indem er die geometrischen Verhältnisse zu einer knappen algebraischen Darstellung zusammenzieht und auf diese Weise insbesondere epistemisch transparent macht. Überdies ist seine Herleitung und Arbeitsweise tatsächlich stark an einem geometrisch aufgefassten Zusammenziehen von Diagrammen orientiert. Ins Infi nitesimale schrumpfende Dreiecke und sich immer enger an Kurven anschmiegende Polygone sind vielen ver mutlich noch aus der Schulzeit erinnerliche ›Bilder‹. Selbst in der Schreibweise des Integrals mit einem gedehnten ›S‹ für infi nitesimale Summe und der geschrumpften Differenz ›d‹ des Differentials ist dieser Umstand enthalten. Der bahnbrechende Erfolg des neuen Instruments war eine starke Motivation für Leibniz, das Kontinuumsprinzip als grundlegendes methodologisches Prinzip für

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die gesamte Naturphilosophie anzusehen. Ausgangspunkt dieser weitreichenden Konsequenzen war – darauf möchte ich hier besonders hinweisen – die Betrachtung von Diagrammen im Kontinuum. Dieser Ansatz war und ist extrem wirkungsvoll; als Beispiele mögen genügen: Die Spektralanalyse nach Balmer (vgl. den Beitrag von Klaus Hentschel in diesem Band), die anschauliche Mathematik und Felix Kleins so genanntes Erlanger Programm (Hiroshi Sugimoto reflektiert auf die daraus entstandenen ästhetischen Objekte, vgl. der Beitrag von Thomas Kellein in diesem Band) und schließlich die semiotisch orientierte Philosophie von Charles Sanders Peirce, für den jedes notwendige Schließen »diagrammatisch« vorgeht und der dem Kontinuitätsprinzip eine ähnliche Rolle wie Leibniz zuschrieb. Soviel zum Differentialkalkül als einem mathematischen Instrument, das auf dem Kontinuum basiert. Dieses Instrument soll die Kontrastfolie bilden, um den Bruch zu verdeutlichen, den der Einsatz des Computers bedeutet. Zunächst einmal kennt die Logik des Computers nur diskrete Zustände (binäre Kodierung) und kein Kontinuum. Wir haben es also mit einer Diskontinuität (einem Bruch) zu tun, der selbst wiederum auf die instrumentell zugänglich gemachte Diskontinuität (als Diskretheit) zurückgeht. Kehren wir zurück zur anfänglichen Diskussion der Computervisualisierung. Zwei Eigenschaften der Computer- und Simulationsmethoden sind essentiell: - Erstens dienen in der Regel komplexe und undurchschaubare Modelle als Grundlage für Simulationen. Komplexität ist geradezu durch das Versagen der traditionellen mathematischen Instrumente defi niert. Die ›Brille‹ der Differentialrechnung ist untauglich. Aber mit der Computersimulation wird ein alternatives Instrument verfügbar. Es macht aber nicht epistemische Transparenz nun doch noch möglich, sondern kann es bei der epistemischen Opakheit der Modelle belassen, weil die Maschine den Algorithmus ausführt und weil, - zweitens, die Resultate in der Visualisierung ästhetisch zugänglich gemacht werden können. Ich möchte das anhand eines Beispiels erläutern. Vor zehn Jahren ist der Hurrikan »Opal« über Teile Mittelamerikas und den USA hinweg gezogen und hat eine Spur der Verwüstung hinterlassen. Man hat das in der meteorologischen Forschung zum Anlass genommen, die Dynamik von Hurrikans genauer zu erforschen mit dem Ziel, einer Vorhersage ihres jeweiligen Weges, ihrer Geschwindigkeit und ihres Niederschlags näher zu kommen. Der tatsächliche Verlauf war (im Nachhinein) genau bekannt und in Kooperation zwischen US-amerikanischen Klima- und Supercomputing-Instituten wurde ein Simulationsmodell konstruiert, das den Verlauf von »Opal« möglichst gut reproduzieren sollte. Die Basis dieses Modells waren allgemeine physikalische (hydrodynamische) Gesetze, formuliert als ein System partieller Differentialgleichungen, aber die tatsächliche Anpassung lief über ein typisches iteratives Verfahren: Die Forscher beobachteten den simulierten Verlauf

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des Hurrikans und justierten dann verschiedene Parameter und Submodelle so lang bis der simulierte und der tatsächliche Verlauf gut übereinstimmten. Dabei erwiesen sich gerade Parameter von unklarer physikalischer Interpretation als besonders erfolgreich. Letztlich eröff nete die Visualisierung einen Zugang zum Modellverhalten, während das Modell selbst epistemisch opak blieb! Der simulierte Hurrikan konnte sogar als Animation ablaufen unter Hervorhebung verschiedener interessierender Aspekte, wie zum Beispiel der Regendynamik. Mehrere Schnappschüsse der simulierten Dynamik sind in Abbildung 3 (siehe auch Farbteil, S. 299) zu sehen, die von links nach rechts Wasser in Wolken, den Verwirbelungsgrad und Regenwasser zeigt.

Abb. 3: Simulierte Regendynamik eines Hurrikans. Zu sehen sind mehrere Schnappschüsse der Animation, die Wasser in Wolken, den Verwirbelungsgrad und Regenwasser zeigen (von links nach rechts).

Die Forscher können sich praktisch in den Hurrikan hineinversetzen und die Dynamik miterleben, um so eine Orientierung im ansonsten kaum zugänglichen Modell zu erzielen. Das läuft darauf hinaus, dass die ästhetische Entfaltung der Modellresultate die epistemische Opakheit der Modelle selbst auf hebt. Ich denke, dass bei der Analyse der Computerrevolution, bei der Explikation ihrer Kontinuitäten und Diskontinuitäten, der ästhetischen Erkenntnistheorie eine hervorragende Rolle zukommt. Die Aufgabe würde sowohl eine Bestimmung der methodologischen Funktion von Bildern in Simulationen umfassen, als auch die stilbildende Wirkung der visuellen Resultate in ihren Effekten auf die Organisation der Wissenschaften.

– Diskurs jenseits der Fachgrenzen – Über die (Dis-)Kontinuität des Begriffes der Schönheit Ein interdisziplinäres Symposium zur Ästhetik lässt hoffen, dass die Spannungen zwischen den disziplinären Sichtweisen weder höfl ich übergangen werden noch zum unverständigen Streit führen. Leitmotiv der Diskussion, die sich im Anschluss an die Statements von Cruse, Blanchard, Ritter und Lenhard entspann, war Neugier. Der alte Graben zwischen den Kulturwissenschaften und den Naturwissenschaften besteht noch immer, aber die Teilnehmer waren bereit, herüber und hinüber zu klettern, um zu sehen, was auf der anderen Seite geforscht wird – und was man damit anfangen könnte. Während auf Seiten der Naturwissenschaftler, Informatiker und Mathematiker im Zentrum des Interesses die kognitiven und emotionalen Funktionen eines durch Ordnung und Komplexität bestimmten Schönheitsbegriff s stehen, ist der kulturwissenschaftliche Ausgangspunkt die ästhetische Gebrochenheit der Moderne, die auch das Hässliche und Abschreckende kultiviert. Die folgende – ästhetisch redigierte – Transkription macht in Umrissen die Fragen sichtbar, die eine interdisziplinäre Erforschung des Ästhetischen aufwirft. Veronika Hofer: Ich möchte mit zwei kurzen Nachfragen beginnen. Herr Blanchard, wie hängen nach ihrer Ansicht Forschritt und Schönheit im Bereich der Physik zusammen? Kann man eine Vermutung äußern, nach der der Fortschritt des Erkennens selbst einem Muster der Schönheit folgt? An Herrn Lenhard möchte ich die Frage richten: Wie prägend wirken Denkstile letztendlich? Wir haben mit Blick auf das wissenschaftliche Denken immer zugleich ein Bild des Wandels vor Augen und verstehen Denken immer als veränderungsbereit. Welche Spannungen gibt es zwischen der Stilbindung und Denkentwicklung? Philippe Blanchard: Ich formuliere eine mögliche Antwort: Wie entsteht eine physikalische Theorie? Man fängt häufig mit vielen unterschiedlichen Modellen an. Dies sind Spielzeuge der Forschung. Wenn man Glück hat, entsteht aus einer Sammlung und Koordinierung von Modellen eine Theorie. Bereits in der Tatsache, dass man verschiedene Modelle in eine Theorie zusammenpacken, also in eine kompakte Formulierung überführen kann, liegt nicht nur Fortschritt, sondern auch Eleganz. Ich war als Student einmal einer Schnapsidee meines Lehrers Markus Fiertz ausgesetzt. Er hatte einmal die Mechanik streng à la Newton gelesen und wir sollten die Übungen a la Newton durchführen. Das war schrecklich, weil Newton nur mit geometrischen Methoden gerechnet hat. Er ist zwar mit Leibniz der Erfi nder der Differentialrechnung, aber sein Denkhorizont war dabei noch ganz und gar geometrisch. Wenn man die geometrischen Verfahren alle in eine einzige Formel packen kann, ist das ein großer Gewinn. In seiner solchen Formulierung liegt die Eleganz des Fortschritts.

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Veronika Hofer: Wenn man einen solchen Fortschritt beobachtet, ist dies ein Feedback für das Schönheitsempfi nden? Philippe Blanchard: Bevor man zwischen Schönheit und Fortschritt eine Korrelation im strengen Sinne ausprobieren würde, hätte man beide Begriffe schärfer zu defi nieren, was sicherlich nicht ganz einfach ist. Dann würde für einen Mathematiker oder theoretischen Physiker zunächst eine Phase des Bastelns beginnen, die viel leicht verschiedene Modelle der Beziehung hervorbringt. Ich ziehe ein Beispiel heran. Gegen Ende des 18. Jahrhunderts und Beginn des 19. Jahrhunderts gab es in Deutschland, England und Frankreich viele Untersuchungen der Elektrodynamik etwa von Gauß, Ampére, Faraday. Sie wendeten recht unterschiedliche Methoden an. Faraday hatte sehr wenig Ahnung von Mathematik aber eine sehr physikalische Nase. Ampére war ein stärkerer Mathematiker, Gauß ohnehin. Und dann hatte Maxwell begriffen, dass man alle diese Modelle in vier Formeln fassen kann, die bequem auf einem Bierdeckel Platz haben. Mit diesen Formeln können Sie, wenn Sie wollen, einen Fernsehsender basteln. Helge Ritter: Ich möchte hierzu etwas ergänzen. Fortschritt zielt häufig auf Effizienz. Effizienz gewinnt man häufig durch Verdichtung. Verdichtung erzeugt Überschaubarkeit und damit einen gewissen ästhetischen Zugang. So kann ein Modell des Zusammenhangs von Fortschritt und Schönheit aussehen. Philippe Blanchard: Man kann – vielleicht etwas unvorsichtig – verallgemeinern, dass es häufig eine Entwicklung gibt, die von Entwürfen über Modelle zu Rohbauten von Theorien reicht. Diese werden dann von denjenigen, die mathematische Physik machen, in verschiedenen Stufen vereinfacht, verallgemeinert und so elegant wie möglich formuliert. Alle diese Forschritte sind Iterationsprozesse der Erkenntnis. Wolfgang Braungart: Ein kleiner Einwurf. Ich muss ehrlich bekennen, ich habe mich immer und auch hier über die reduktionistischen Vorstellungen von Ästhetik geärgert, die man häufig aus den Naturwissenschaften hört: die Gleichsetzung von Ästhetik mit Schönheit. Dies ist jetzt auch hier ein paar Mal passiert. Nun hat uns Holk Cruse in seinem Beitrag eine Erklärung dafür gegeben. Sie hängt mit unserer ›Harmoniesucht‹ zusammen, die er ja eindrucksvoll erläutert hat. Wenn ich aufnehme, was Sie, Herr Blanchard, gerade gesagt haben, dann scheint mir allerdings die Harmoniesucht eher ein Fortschrittshemmer zu sein. Auch darauf hat Herr Cruse hingewiesen, wenn auch bei ihm letztlich offen geblieben ist, wie Harmoniesucht und Neugier wirklich zusammen passen und zusammen spielen. Was die Naturwissenschaftler vertreten, ist im Grunde eine Ästhetik der Vormoderne, die ganz zentral auf Schönheit setzt. Ich möchte dafür plädieren – ein Motiv des Vortrags von Herrn Lenhard aufnehmend – eine Kategorie der ästhetischen Moderne

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stärker zu berücksichtigen, die Diskontinuität. Sie haben betont, dass technischer Fortschritt mit ästhetischer Diskontinuität einhergeht. Ich möchte nun fragen, ob es für die Naturwissenschaft nicht höchste Zeit wäre, in ihren ästhetischen Konzeptionen sich dem Weg der Ästhetik der Moderne zuzuwenden. Auch sie würden davon profitieren, alle diese Momente – das Fragmentarische, das Diskontinuierliche, womöglich auch das Hässliche, das Abstoßende, das Ekelerregende – fruchtbar zu machen im Hinblick auf eine Ideengewinnung für Fortschritt, damit man endlich aus diesem konservativen, längst veralteten Konzept von ›Ästhetik ist gleich Schönheit‹ herausfi ndet. Johannes Lenhard: Ich stimme Ihnen zu, nur ist die Sache nicht so einfach. Herr Ritter sagte, etwas wird verdichtet um es überschaubar zu machen. Das ist bei dem was ich vorgestellt habe ebenso der Fall. Man muss bei den von mir erwähnten physikalischen Problemen etwas überschaubar machen, was man nicht in der Weise überschauen kann, wie Newton es bei seiner Theoriekonstruktion noch konnte. Dies geht nicht. Man verlässt sich letztlich sehr stark auf ein neues Instrument, den Computer. Man kann damit einen Modus fi nden, einen Gegenstand überschaubar zu machen, der vielleicht vor hundert Jahren als ›ekelerregend‹, oder zumindest verwirrend als nicht zur Wissenschaft gehörig abgetan worden wäre – hätte abgetan werden müssen! Es ist eine interessante Tatsache, dass man bei diesem durch und durch ästhetisch gef ärbten Problem der Überschaubarkeit immer auch ein Instrument mit im Boot hat, von dem man die Theorie nicht abtrennen kann. Ein solcher Einfluss des Instruments auf das, was die Theorie zeigt, geht zwar auf breiter Front, aber nicht unbedingt plötzlich vor sich. Joachim Schummer: Ich möchte gern aus einer historischen Perspektive zum Thema Diskontinuität der ästhetischen Erkenntnistheorie sprechen. Ich gehe davon aus, dass ästhetische Kriterien für Geltungsansprüche von Erkenntnissen herangezogen werden. Das was schön ist, ist auch wahr. Das ist, wenn man die Zäsur zwischen modern und vormodern anerkennt, ein Teil des gesamten vormodernen Pakets, in das das Gute, das Wahre und das Schöne geschnürt ist. Die Prädikate werden aufeinander bezogen und dienen wechselseitig als Kriterien. Man muss in diesem Zusammenhang Kant erwähnen. Ob man seiner Lösung zuneigt ist oder nicht – sein großes Programm ist die Trennung dieser Kategorien. In meinem eigenen Entwurf spielt die Symmetrie nicht wegen der Schönheit, sondern der Erleichterung der Wiedererkennung eine herausragende Rolle. Dies ist eine uralte Idee. Bei Kant wird dies aufgegriffen, um zu argumentieren, das Symmetrische ist nicht schön, es ist vielmehr langweilig. Es ist Hilfsmittel der Wiedererkennung. Haben wir es erkannt, so interessiert es uns schon nicht mehr. Die ästhetische Attraktion zieht uns dagegen dadurch in den Bann, dass die Wahrnehmung immer wieder herausgefordert wird. Aus dieser Differenz entwickelten sich die Aufteilung, nach der es auf der Wahrnehmungsebene ein epistemisches Wohlgefallen etwa der Mus-

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tererkennung gibt und ein ästhetisches Wohlgefallen, das die Unruhe einschließt. Was wir nun durch den verstärkten Einsatz von Mitteln der Visualisierung in den Wissenschaften erleben, ist eher als eine Rehabilitierung der vormodernen ästhetischem Erkenntnistheorie zu verstehen. Helge Ritter: Die Verknüpfung von Symmetrie und Langeweile drängt sich wohl auf, wenn man unter Symmetrie simple Strukturen versteht. Wir versuchen jedoch auch, über die mathematischen Eigenschaften die weiten Umrisse des Symmetrischen zu erfassen. Das Werkzeug dazu ist die Gruppentheorie. Das führt dann auf recht komplexe Strukturen, deren Komplexität sich eben darin manifestiert, dass die Regeln, die hier gelten, nur sehr mühsam zu fi nden sind. Es gibt also neben den langweiligen auch ausgesprochen interessante Symmetrien. Die Frage, die uns meines Erachtens beschäftigt, ist diese: Wie ist das, was unser besonderes Interesse erregt, eingeordnet zwischen langweiliger Uniformität und dem ebenfalls nicht aufregenden Nicht-Vorhersagbaren? Welche Strukturen von Vorhersagbarkeit sind benachbart an der Möglichkeit der Überraschung? Hier versucht man, Strukturarchetypen zu fi nden, zu denen Symmetrie als ein Typus gehört, der zwar eine gewisse Reichhaltigkeit besitzt, aber nicht der einzige ist. Dennoch veranlasst mich die Bemerkung von Herrn Braungart, auch in eine andere Richtung zu blicken. Mir ist bewusst geworden, dass man von der Wissenschaftsseite kommend mit einer Harmonie der Schönheit indoktriniert oder ausgestattet wurde. Dies veranlasst mich, gewissermaßen nach der Komplementärmenge zu suchen und hier – Herrn Braungart folgend – ein potenzielles Reservoir für neue Ideen zu vermuten. Mich würde als Laie in diesem Zusammenhang interessieren, wie der Stand der Analyse von Ästhetik ist, der sich nicht auf Kategorien der Schönheit bezieht sondern eher auf die Komplementärmenge des Nicht-Schönen oder Hässlichen. Wolfgang Braungart: Oh (allgemeine Heiterkeit) –, das kann man nicht ganz so einfach sagen. Es gibt seit der Romantik den fortwährenden Versuch, Kriterien dafür anzugeben. Diese beziehen sich teils auf die formale Ebene, teils auf die inhaltliche. Formal wären da beispielsweise das Arhythmische und das Asynchrone zu nennen, inhaltlich das Fragment anstatt des Ganzen. Man hätte zu dem, was aus der klassischen Ästhetik kommt, jeweils die Gegenbegriffe aufzusuchen. So hätte man einen Entwurf der Ästhetik der Moderne oder des Diskontinuierlichen im Gegensatz zu dem – wie ich es nennen möchte – latenten Klassizismus der Naturwissenschaften. Helge Ritter: Ihre Beispiele legen nahe, dass es auf die Gegensatzpaare ankommt, deren einzelne Konstituenten jeweils nicht lebensfähig sind, so dass es darauf hinausliefe, auf die Interaktion der beiden Pole zu achten und den Blick nicht auf die Pole selbst zu verengen.

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Wolfgang Braungart: Aber in Ihrer Bemerkung klang auch mit an, was auf verschiedenen Ebenen gut untersucht ist, dass Wiedererkennen auch Spaß macht. Nur das Wiedererkennen als mechanische Repetition ist langweilig. Der Zusammenhang von Wiedererkennen, Wiederholung und Variation drückt ein elementares ästhetisches Prinzip aus. Es ist auch ein Prinzip der ästhetischen Innovation. Die Weise, in der die Innovation sich abspielt – darauf hatte Friedemar Apel hingewiesen –, ist dann entweder näher am Klassizismus oder an weiterführenden Formen orientiert. Herr Cruse hatte auch betont, dass Variation durch ständige Überbietung oder Durchbrechung ebenfalls langweilt, weil man keine Möglichkeit hat, einen Halt in dem Wechsel zu fi nden. In dieser Spannung bewegt sich das Ästhetische. Deswegen meine ich, die Gegensatzpaare bestehen in einer begriffl ichen Modellierung, die Praxis fi ndet auf einem Kontinuum statt. Joachim Schummer: Dies entspricht im Übrigen auch vielen psychologischen Ansätzen zum ästhetischen Empfi nden: eine Ordnungsstruktur als Grundlage für die Anregungen, die die Variationen bieten. Natascha Adamowsky: Meine Überlegungen zu dem Paar ›Wahrheit und Schönheit‹ gehen davon aus, dass es bei dem Wahren um etwas geht, das ewige Geltung haben soll, und das Schöne eine Kategorie der historischen Veränderung und interkulturellen Verschiebung ist. Ich kann sehr gut verstehen, dass ein Wissenschaftler seine Ideen, Erkenntnisse und Ergebnisse auch gern schön darstellen möchte. Für mich als Kulturwissenschaftlerin wäre dann die Frage interessant, was genau denn an einer wissenschaftlichen Idee schön ist. Ich würde also nicht die Gleichsetzung von vornherein verwerfen, sondern historisch fruchtbar machen wollen. Was können wir alten Theorien, die heute nicht mehr als wahr gelten, an Schönheit abgewinnen? Also durchaus die Wissenschaft noch einmal darauf befragen, welche Eigenschaften dieses Schöne hat, mit dem wir eine Form der Wahrheit zu erfassen versuchen. Das Hässliche kommt dann vielleicht dadurch hinein, das gerade neue Ideen manchmal nicht schöner sondern eben hässlicher sind als die Gewohnten. Dies ist ja die Grundthese von McAllister. Denn in dem Groben und Unfertigen liegt eben auch eine ganz besondere ästhetische Attraktivität, die auch die wissenschaftliche Aufmerksamkeit auf sich zieht. Ich habe in meinem Vortrag über die Ästhetik des Rätselhaften und Geheimnisvollen auf die plötzliche Meerespassion hingewiesen. Um 1840 gehen die Leute an den Strand, untersuchen die Grotten und Höhlen und entdecken Lebewesen, die schon da waren, bevor die Leute sesshaft wurden. Nun erst fangen sie an, die Lebewesen zu sehen und sie sind begeistert, entzückt, hingerissen. Das scheint mir ein interessanter Vorgang zu sein, um der Frage nachzugehen, inwieweit wissenschaftliche Erkenntnisse und ästhetische Erfahrungen zusammengehen. Noch eine Anmerkung zu der Frage, wozu Schönheit ›gut‹ sei. Ich glaube, dass

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Fragen dieser Art gar nicht so gute Fragen sind. Ich als Spielforscherin werde gerne gefragt, wozu ist das Spiel gut und was ist der Sinn des Spielens? Ich frage dann gern zurück: Was ist der Sinn der Lebens? Ich weiß es nicht. Diese ›wozu‹-Fragen sind problematisch und man tut sich als Wissenschaftler oftmals keinen Gefallen, darauf zu antworten. Berge haben auch nicht den Zweck, dass man herauf klettert. Man wird verführt, sich diesen Schuh anzuziehen, und muss es vielleicht gar nicht. Helge Ritter: Wozu Schönheit gut ist? Die Frage habe ich nicht im Sinne einer teleologischen Erklärung aufgeworfen. Sie ist eine verklausulierte Form der Frage, was könnte eine evolutionäre Triebfeder dafür sein, dass eine Erfahrung wie Schönheit überhaupt in uns angelegt ist? Dies müsste ja nicht so sein. Geht man verschiedenen Gründen, die sich anbieten nach, kommt man auf den Verdacht, dass Schönheit aus mehreren Komponenten besteht, wie Sie, Frau Adamowsky es angedeutet haben. Es gibt sicherlich kulturelle Komponenten. Aus den Untersuchungsergebnissen mit Kindern über die Gesichtswahrnehmungen wird allerdings auch nahe gelegt, es gibt kulturübergreifende Komponenten. Man kann darüber hinaus erwarten – für diese Erwartung ist dann auch die Physik ein Stück verantwortlich, dass es auch artübergreifende oder recht universelle Komponenten von Schönheit gibt. Warum fi nden wir beispielsweise Vogelgesänge schön, obwohl wir keine Vögel sind? Warum fi nden wir Blüten schön, obwohl wir keine Bienen sind? Warum fi nden wir Sonnenlicht schön, das herunterfällt und sich auf einer Lichtung bricht – obwohl das ein astronomischer oder meteorologischer Vorgang ist? Ich glaube, es läuft darauf hinaus, dass wir alles schön fi nden, das lebensfreundlich ist. Somit kommt eine gewisse Absolutheit in den Begriff, weil das Leben auch ein Stück mit Wahrheit zu tun hat. In diesem Sinne glaube ich, dass Schönheit auch mit Wahrheit verbunden ist. Alfred Nordmann: Ich stimme mit Joachim Schummer nicht überein, dass wir es heute mit einer Rehabilitation eines vormodernen Ästhetikbegriff s zu tun haben, der das Wahre und Schöne gleichsetzt. Ich glaube es ist ein Zeichen dafür, dass – egal was in der Ästhetik passiert ist – dieser vormoderne Begriff einen enormen sowie langfristigen Einfluss hat und auch auf unsere Diskussion nachwirkt. Es ging auch bei den empirischen Belegen der naturwissenschaftlichen Beiträge gar nicht mehr um eine Gleichsetzung des Wahren und Schönen. Sondern es besteht der Anspruch, Herr Ritter hat dies gerade noch einmal betont, den Eindruck der Schönheit selbst zum Gegenstand einer naturwissenschaftlichen Theorie zu machen (die dann vielleicht eine wahre Theorie ist). Wenn man diese Anstrengung wahrnimmt und zugleich sich wieder gewahr wird, das der Versuch hier ästhetische Begriffe ins Spiel zu bringen, auch ein Versuch ist etwas zur Sprache zu bringen, für das es keine wirklich wissenschaftliche Sprache gibt, weil der Schönheitsbegriff keiner wissenschaftlichen Defi nition unterzuordnen ist , dann stoßen nun die evolutionären Erklärungsmittel und die Sprachlosigkeit hart aufeinander. Das

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setzt bei mir die zugegeben polemische Frage frei: Warum ersetzen wir nicht das Wort Schönheit durch Erfolg? Warum sprechen wir statt von ästhetischen Aspekten nicht einfach von Erfolgserlebnissen oder vom Gelingen und Nicht-Gelingen? Was zwingt uns eigentlich über die Sprache des Erfolg und Misserfolgs, des Gelingens und Nicht-Gelingens hinauszugehen? Was bietet die Ästhetik, was man nicht auch ohne sie haben könnte? Oder ist es nur die schönere Sprache, mit der wir über unsere eigenen Erfolgserlebnisse sprechen? Holk Cruse: Als Biologe möchte ich dazu sagen: Multipler Erfolg wird nicht nur durch Schönheit gemessen, wir können sie daher nicht durch Erfolg ersetzen. Denn wenn wir Schönheit, so wie eben diskutiert wurde, ernst nehmen, dann ist sie ein Aspekt von Erfolg. Es gibt daneben auch andere, die etwa den Fortpfl anzungserfolg garantieren. Schon deshalb würde ich eine simple Gleichsetzung nicht gut fi nden. Wolfgang Krohn: Ich versuche, durch den Begriff der Attraktivität einen anderen ästhetischen Grundbegriff als den der Schönheit zu fi nden. Es ist auff ällig, dass Wissenschaftler immer die gleichen Beispiele für ästhetische Phänomene in der Wissenschaft im Sinn haben: Die klassischen Gleichungssysteme wie die von Maxwell, das axiomatische Theoriegebäude der klassichen Mechanik, das Heisenberg eine nicht mehr verbesserungsfähige ›abgeschlossene Theorie‹ genannt hatte, die Gesetze der einfachen und multiplen Proportionen von Dalton, die der Chemie eine neue Grundlage zur Strukturierung einer unendlichen Menge von chemischen Beziehungen gab. In diesen Beispielen zeigt sich die – wie Herr Nordmann sagt – klassizistische Welt der Ästhetik, die ihren Reiz aus der unwahrscheinlichen und überraschenden Reduktion des Komplexen auf das Einfache bezieht. Jedoch könnte man auch einmal probieren, einen ganz anderen Grundzug der modernen Wissenschaft einzubeziehen, nämlich ihre zunehmende Fähigkeit das Komplexe und Verworrene zur Sprache zu bringen und zu modellieren. Ich wandle hier auf Herrn Lenhards spuren. Das Ziel ist dann gar nicht unbedingt die Vereinfachung und die bedingte Prognose, sondern eher im Gegenteil die Präzisierung dessen, was als irreduzibel komplex, als unvorhersehbar und als lokal singulär erscheint. Mit diesen neuen Leistungen der Wissenschaft – Herr Lenhard betont meines Erachtens völlig zurecht, dass sie stark an das Instrument des Computers gebunden sind – kommt man vielleicht dem Wandel, den die Ästhetik in der Kunst am Ende des 19. Jahrhunderts begann, näher. Jedenfalls erscheint mir dasjenige, was hier als ästhetisch attraktiv an der Wissenschaft erscheint – das Komplexe und Verworrene zur Sprache zu bringen –, nicht direkt an die klassische Kategorie der Schönheit gebunden zu sein. Die Wissenschaftstheoretikerin und Philosophin Nancy Cartwright hat vor Jahren (1984) ein einflussreiches Buch mit dem Titel How the laws of physics lie geschrieben und 2002 mit einem neuen Buch The Dappled World (Die gescheckte Welt) ihr altes Thema untermauert. Cartwright versucht, gegen den an

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die einfache Gesetzmäßigkeit gebundenen Ästhetisizmus der Naturwissenschaft anzutreten, indem sie herausstellt, dass die Welt in ihrer wahrnehmbaren Erscheinung völlig anders gestrickt ist. Was uns an der Welt und an den Menschen in ihrer Lebenswelt fasziniert, ist gerade nicht dass, was uns die Gesetze sichtbar machen, sondern was sich der Vereinfachung und Vorhersage entzieht. Das herausragende Paradigma dafür ist vielleicht der wissenschaftliche und mediale Erfolg der Chaosforschung. Chaos wurde früher eher mit jenen Prädikaten des Abschreckenden und Abscheulichen assoziiert, die der Vormoderne als Gegenbegriff des Ästhetischen galten, aber unser Erwartungsstil mit Blick auf chaotische Ästhetik, auf die neue Sichtbarkeit der chaotischen Undurchsichtigkeit hat sich gewandelt. Hier sehe ich Anknüpfungspunkte zwischen wissenschaftlicher und moderner künstlerischer Ästhetik, die nicht von den klassischen Harmonievorstellungen bestimmt sind. Die Hochglanzbilder der fraktalen Geometrie sind hier eher irreführend. Wir haben hier am Institut für Wissenschafts- und Technikforschung in verschiedenen Projekten, an denen auch Johannes Lenhard und Michael Stöltzner beteiligt sind, untersucht, wie Wissenschaft in Bereiche vordringt, die verwirrend komplex sind und um die der klassische Naturwissenschaftler einen weiten Bogen gezogen hätte, weil sie seiner Idee einer überschaubaren experimentellen Situation oder theoretischen Modellierung zuwider gewesen wären. Ich habe rekonstruiert, wie in der Nachkriegszeit Mülldeponien, die auch Wissenschaftler solange wie möglich aus ihrem Blickfeld verbannen wollten, zu Gegenständen seriöser Forschung avancierten. Sie wurden zunächst von Fachleuten ›wilde biochemische Reaktoren‹ genannt, in denen alles Mögliche Unvorhersehbare ablief. Aber es nützte nichts, die Gefahren für Gesundheit und Umwelt zwangen zu Forschung. Ein klassischer Wissenschaftler hätte die Nase gerümpft und gesagt: »Das ist nicht unsere Welt.« Aber der Zwang zur Sanierung zwingt zum wissenschaftlichen Verständnis. Wiederum helfen die modernen Simulationstechniken, lokale situationsspezifische Modelle zu entwickeln. Die Frage ist, ob in diesen anwendungsnahen Forschungen die Wissenschaften sich ästhetischen Sichtweisen öffnen, die wegen ihres wilden Durcheinanders keine besondere Attraktivität im Sinne kanonischer Schönheit besaßen, aber mit Blick auf die moderne Attraktivität der Undurchschaubarkeit, Kontingenz und Unvorhersehbarkeit einigen Entwürfen moderner künstlerischer Ästhetik nahe stehen. Holk Cruse: Ich möchte noch einmal auf die Diskontinuität zurückkommen und etwas nachtragen, was ich in meinem Vortrag aus Zeitgründen übergangen habe. In dem Gedankenmodell, das ich entwickelt habe, ist Diskontinuität auf jeden Fall enthalten. Sie gehört dazu. Ich kann dies an dem Phänomen des Witzes illustrieren. Was macht einen Witz aus? Die Grundidee des Witzes ist: Man bekommt eine Story erzählt und baut ein passendes mentales Modell auf. Man gerät in einen Harmoniezustand und ist darin für den Moment glücklich, da man die Story soweit verstanden hat. Dann kommt eine Zusatzaussage, die nicht in die Story passt. Die Disharmonie ist groß bis man plötzlich merkt, dass es anders interpretiert, doch

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passt. Durch diesen Standpunktwechsel entsteht plötzlich auf andere Weise eine Harmonie und das Wohlbefi nden wächst dadurch. Dem liegt eine ›Kippvorstellung‹ zu Grunde: Man ›kippt‹ sehr schnell in den Harmoniezustand, das heißt, das Wohlbefi nden wird sehr groß und man muss lachen. In dieser Interpretation ist auf jeden Fall die Disharmonie eingeschlossen, denn sie stößt ja den Witz erst an. Aus diesem Grund habe ich auch Bilder von Nikolaus List, die im Bielefelder Kunstverein 2004 ausgestellt waren, gezeigt. Der erste Eindruck ist vielleicht, das sind hässliche Bilder. Wenn man sich genügend in die Bilder hineinarbeitet, entsteht Harmonie, nicht in dem vordergründigen Sinn der Schönheit, sondern der Harmoniewert nimmt zu. Vielleicht sollte man ihn angesichts der Einwände der Kulturwissenschaftler anders benennen – vielleicht Spannungswert. Aber das Konzept passt doch schon recht gut zu den Überlegungen der polaren Grundbegriffe der Ästhetik zwischen Harmonie und Disharmonie. Klaus Hentschel: Ich will die Seiten wechseln und Herrn Cruse und Herrn Ritter gegen die Angriffe der Kulturwissenschaftler verteidigen. Es gibt ein Element, das mir als Historiker kontinuierlich auff ällt. Dies bekommt man allerdings nur heraus, wenn man das Attribut ›schön‹ ersetzt durch ›ästhetisch interessant‹, oder ›ästhetisch markant‹. Das ästhetisch Markante besitzt vor allem einen emotiven Wert, der positiv oder negativ ausschlagen kann. Es erstreckt sich auf Ekel genauso wie auf das positive Schönheitsideal. Beide diese Pole sind nie für sich selbst ästhetisch interessant. Dass eine Position dazwischen plötzlich einen hohen emotiven Wert besitzt – der in positiver Besetzung und in der naiven, altmodischen Sprache der Naturwissenschaftler ›Schönheit‹ genannt wird –, beruht auf dem Spannungsverhältnis, das auch noch für die modernsten und avanciertesten Künste interessant ist. Ich möchte dafür ein Beispiel bringen. Der Komponist Ligetti hat ein Stück für hundert Metronome geschrieben. Dessen Reiz beruht genau auf der Ausnutzung dieser Spannungsskala. Hundert Metronome mit leicht verschiedenen Schwingungszeiten werden gleichzeitig angestellt. Das ist zunächst so chaotisch, dass man nur ein Rauschen hört – völlig uninteressant, nicht viel besser als das Rauschen eines schlecht eingestellten Radios. Am Ende tickt nur noch ein Metronom. Dessen Gleichförmigkeit ist genauso uninteressant. Jedoch irgendwo dazwischen, wenn schon 75 Metronome ausgeschaltet sind und noch 25 auf leicht verschiedenen Zeitskalen ticken, da wird der hohe emotive Wert erreicht. Wie das Stück diesen Prozess zwischen Chaos und Gleichförmigkeit selbst vorführt, das ist ästhetisch hochwertige, spannende, interessante Musik, nennen wir sie ›schön‹ oder ›ekelerregend‹ oder irgendwie anders. Sie ist etwas besonderes, die etwas heraushebt, was sie interessant macht. Dies ist ein Strukturmoment, das in der Kunst immer wiederkehrt, wenn auch mit immer anderen Vokabeln belegt. Wolfgang Braungart: Darüber können wir diskutieren. Aber man kann Schönheit nicht einfach umsemantisieren. Wir müssen uns dann auf die Geschichte des

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Redens über Schönheit einlassen. Diese nicht einfach beliebig. Wenn wir unseren Bielefelder Kollegen, den Chemiker Arnim Müller hier dabei gehabt hätten, dann hätten wir erlebt, wie er mit seinen Symmetrien hausieren geht. Das ist das blödeste, was es gibt, aber für ihn geradezu das Telos naturwissenschaftlicher Forschung. Die Form – man verzeihe mir – ›blöder Schönheit‹ ist längst nicht vom Tisch. Silke Jacobs: Grundsätzlich stimme ich den Positionen von Herrn Schummer und Herrn Braungart zu. Dennoch plädiere ich dafür, den Vorschlag von Herrn Ritter Ernst zu nehmen, Schönheit als Signal für Wahrheit, für etwas das so wie es ist, gut getroffen ist, zu betrachten. Herr Ritter hat dafür vor allem visuelle Beispiele gebracht, die er anthropologisch oder evolutionstheoretisch begründet hat, jedoch gibt es auch ähnliche Beispiele auf anderen als den visuellen Gebieten. Wenn etwas bitter schmeckt oder merkwürdig verdorben riecht, sind dies ja auch Signale, dies nicht zu essen oder zu trinken. Auch Partnersuche fi ndet zum Teil über Gerüche statt, über die mögliche genetische Vorteile signalisiert werden. Es scheint so zu sein, dass das, was angenehm, attraktiv, schön ist, in irgendeiner Form für den Träger gut zu ist. So etwas wie die Ästhetik des Hässlichen, des Ekelerregenden und Grauenvollen kann nur dann relevant sein, wenn man sie aus einer Art sicheren Position heraus besieht. Wenn der erste Zugang zum Ästhetischen über die Schönheit verläuft, weil es eng verknüpft ist mit dem, was richtig und gut ist, und damit eine anthropologische Grundlage hat, und wenn sich dies vielleicht sogar auch auf kulturelle und soziale Phänomene erstrecken sollte, dann ist es fraglich, warum ausgerechnet in der Wissenschaft als kulturellem Teilsystem dieser Zusammenhang nicht mehr stimmen sollte. Warum sollte er hier ausgehebelt werden? Michael Stölzner: Ich möchte zunächst Herrn Braungart beruhigen – es ist in den Wissenschaften doch auch viel Hässliches unterwegs, zum Beispiel in der Elementarteilchenphysik. Was gruppentheoretisch dieselbe Masse haben sollte, hat bei den Quarks die Masse 1, 1000 und dazwischen noch 100. Das interessante Spiel zwischen Symmetrie und Symmetriebrechung lässt die Aussage nicht zu, das Schöne ist die Struktur, die einfach da ist, wie die Anordnung eines klassischen Barockgartens. Man erwartet von der Struktur geradezu, dass sie eine gewisse Dynamik zwischen Symmetrie und Symmetriebrechung besitzt. Zum Thema ›Schönheit und Erfolg‹ möchte ich noch nachtragen, dass eine Gleichsetzung nicht mehr erklären könnte, warum es verbesserte Beweise in der Mathematik gibt. Häufig sind die ersten Beweise grauenvoll, aber da sie Beweiskraft besitzen, ist der Erfolg eingelöst. Die Wissenschaftstheorie im Stil der Problemlösungskonzeption wäre damit auch befriedigt. Aber offensichtlich konkurrieren mathematische Forschungsprogramme auch noch um höhere ästhetische Werte, und dann wird Schönheit in einem ganz spezifischen Sinne eines mathematischen Empfi ndens von Kürze, Eleganz und Strukturiertheit, zusammen mit

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anderen Kriterien ein eigenes Erfolgskriterium. Auch bei den Physikern hat es sich immer wieder bewährt, sich auf die Suche nach den einfachen Prinzipien zu begeben. Möglicherweise widersetzt sich dem die Stringtheorie, aber es hat lange funktioniert. Johannes Lenhard: Ich fi nde Herrn Hentschels Ansatz, einen weiteren, emotionalen Begriff des ästhetischen Werts einzuführen hilfreich. Dennoch bedeutet von Schönheit zu reden etwas Spezielleres, das zu erfassen versuchen man nicht vernachlässigen sollte. Mit den biologischen Analysen über die Gründe, warum überhaupt etwas als schön empfunden wird, ist noch gar kein Argument darüber verbunden, was schön und was hässlich ist, sondern nur das man emotional beladene ästhetische Erfahrungen hat. Die emphatische Rede von Schönheit meint jedoch etwas sehr viel Spezielleres, das historisch entstanden ist und sich differenziert entwickelt hat. Ich vermute, dass sich dies Historische kaum auf eine Biologie der Ästhetik zurückführen lässt. Es liegen da ganz unterschiedliche Entwicklungsmuster zugrunde. Vielleicht wird es einen Diskurs der ästhetischen Erkenntnistheorie geben, der für diese Differenzen offen ist. Helge Ritter: Ich habe das Bedürfnis noch ein persönliches Wort zu Schönheit zu sagen. Der Umstand, dass man klassische Schönheit vielleicht negieren sollte, gibt mir zu denken. Vielleicht ist es eine gewisse Angst vor der Naivität, Schönheit zu denken und Schönheit schön zu fi nden. Ich kann verstehen, dass aus ihrer langen Historie eine gewisse Ermüdung in der Kunst oder Ästhetik der Schönheit resultiert. Ich vermute nur, eine solche Ermüdung wird auch mit dem Nicht-Ästhetischen oder der Hässlichkeit eintreten. Dann ist die Frage, zu was werden wir dann zurückkehren? Wolfgang Braungart: Ich habe etwas anderes gemeint. Die Naturwissenschaften haben, etwas grob gesprochen, noch ein vormodernes ästhetisches System, die Geisteswissenschaften haben ein modernes System des Ästhetischen und beides könnte man versuchen in eine Korrespondenz bringen. Helge Ritter: An dieser Stelle fallen wir leicht der Versuchung anheim zu mutmaßen, dass unsere jeweiligen Wissenschaftsfelder jeweils moderner sind in ihren Begriffen. Wenn Naturwissenschaftler über Ästhetik als Schönheit und Symmetrie sprechen, kommt vermutlich auch nicht vollständig das herüber, was wir damit verbinden, wenn wir uns an jemanden richten, der nicht aus dem Gebiet ist. Ich bin sicher, wenn Sie etwas über Ästhetik in ihrem Gebiet sagen, dann kommt bei mir auch nur die Hälfte an. Es ist doch eine gute Übung, sich etwas länger darüber zu unterhalten, bevor man beginnt, auf der Modernitätsachse Gradienten zu zeichnen, die dann mindestens Anlass für Missverständnisse sind.

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Holk Cruse: Typischerweise taucht bei einer interdisziplinären Diskussion die Problematik auf, dass dieselben Begriffe verwendet werden, aber mit verschiedenen Bedeutungen ausgestattet sind. Wir haben es hier in der Umgebung des ›Zentrums für interdisziplinäre Forschung‹ häufig erfahren, dass Gruppen zwei bis drei Monate brauchen, bis sie überhaupt merken, dass die beteiligten Forscher etwas anderes meinen. Wenn sie unterschiedliche Begriffe verwenden, geht es noch, aber wenn sie dieselben verwenden, wird es gefährlich. Der Begriff Schönheit unterliegt offenbar in den Kulturwissenschaften einer historischen Entwicklung und er wird relativ speziell angewendet. Die Naturwissenschaftler sind dagegen naiv, aber auch wieder nicht ganz naiv. Wolfgang Braungart: Ich versuche noch einmal zu klären, worauf ich eigentlich hinaus will. Ich plädiere seit Jahren dafür, dass die Geisteswissenschaften in der Epoche der Moderne die Kategorie der Schönheit wieder entdecken müssen. Die Naturwissenschaften müssen die Ästhetik der Moderne für sich entdecken, so wie wir die Ästhetik des Schönen entdecken müssen.

IV. HISTORISCHE BLICK E

Staunen und Hingabe Zur Ästhetik des Wissens seit dem 18. Jahrhundert Von Wolfgang Braungart und Silke Jakobs

I. Aisthesis, Ästhetik Alle empirisch erfahrbaren Phänomene der kulturellen und natürlichen Umwelt, denen wir begegnen und mit denen wir uns auseinandersetzen, sind für uns immer auch ›aisthetische‹ Phänomene: weil sie unsere Sinne ansprechen, unsere Sinnlichkeit berühren und so unsere Einbildungskraft als das Vermögen, sie uns zu vergegenwärtigen, und unseren Verstand als das Vermögen, sie zu beurteilen und zu kategorisieren – mehr oder weniger – beschäftigen. Auch Atommodelle und mathematische Gleichungen sind keine gänzlich un-aisthetischen Phänomene. Auch abstrakte Sachverhalte können unsere Einbildungskraft stimulieren. Denken ist anschaulich. Rudolf Arnheim hat darauf schon hingewiesen, lange bevor die Wissenschaftsforschung sich Fragen der Ästhetik zuzuwenden begann (Arnheim 1974). Das Unendliche wird zwar durch keine unserer Vorstellungen erreicht; wir stellen es uns aber dennoch vor – ›irgendwie‹ und mehr oder weniger intensiv. Diese aisthetische Dimension des Denkens, des Wissens und der Wissenschaft ist nicht Abirrung; sie geht dem wissenschaftlichen Zugang nicht bloß nur voran. Das Ästhetische ist auch nicht bloßer Schmuck, dekorative Zutat der phänomenalen Welt, sondern eher ihr von uns als gestalthaft erfahrenes Zur-Erscheinung-Kommen. In Gestaltung und Gestalthaftigkeit zeigt sich uns die Bedeutung der Phänomene. Wir nehmen sie als bedeutsam für uns in Anspruch, wenn wir uns nur ansprechen lassen und wenn wir sie denkend konstituieren (Braungart 2001). Grundlegend für alle Wissenschaft ist die Beobachtungsperspektive, die ebenso die Beobachtung der Beobachtung einschließt. (Das ist auch im Hinblick auf die Ästhetik der Wissenschaften von Luhmann zu lernen.) Die Beobachtung des wissenschaftlichen Gegenstandes konstituiert ihn für den Beobachter.1 Beobachtung ist generell aktiv, produktiv, nicht bloß rezeptiv. Wissenschaft schaff t Wissen durch Beobachtung, was auch immer unter ›Wissen‹ verstanden und wie auch immer Wissenschaft konzipiert wird (z. B. eher geistes- oder eher naturwissenschaftlich). Sie schaff t Wissen, indem der Gegenstand uns ›aisthetisch‹ affiziert und wir sowohl auf ihn aufmerksam werden als auch uns dabei selbst beobachten. So schwierig es ist, nun stets genau zu sagen, was denn ästhetische Erfahrung – auch in den Wissenschaften – sein soll (z. B. wie sehr dem Gegenstand selbst geOhne dass damit ein radikaler Konstruktivismus behauptet werden soll. Ein radikaler Konstruktivismus ist unhaltbar, weil er in performative Selbstwidersprüche führt. 1

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schuldet, wie sehr der ästhetischen Erfahrungskraft des Subjekts), so ist der Begriff doch unvermeidlich, wenn es um die Ästhetik der und in den Wissenschaften geht. Ein Aspekt der Diskussion, den die philosophische Ästhetik der letzten Jahre immer wieder aufgegriffen hat, soll hier nur kurz erwähnt werden: Man kann die Auffassung vertreten, dass von ästhetischer Erfahrung sinnvoll nur dann zu sprechen sei, wenn sich interesselose Aufmerksamkeit allein auf die ästhetische Erscheinung richte. Man kann aber auch mit guten Gründen betonen, dass ästhetische Erfahrung ein Moment aller Erfahrung sei und unabdingbar verbunden mit verschiedensten sonstigen Interessen. 2 Ästhetische Erfahrung vollzieht sich an ästhetischen Gegenständen im engeren Sinne: also an Gegenständen der Kunst, und an der phänomenalen Welt generell, also an allem, was der menschlichen Aisthesis zugänglich ist. Das »interesselose Wohlgefallen« wäre demnach ein Konstrukt, um das spezifisch Ästhetische an der ästhetischen Erfahrung zu fokussieren. Die Praxis der Wahrnehmung und Erfahrung ist aber immer von Interessen geleitet und immer auf Sinn und Bedeutung hin orientiert. Sie ist immer auch ›je-meinige‹ bzw. ›je-unsrige‹ Erfahrung. Obwohl sich die ›ästhetische‹, aisthetische Affi ziertheit des Menschen grundsätzlich keinem theoretisch-begriffl ichen Konzept fügen kann, beschäftigt sie uns doch. Kant hat vom freien Spiel unserer Erkenntniskräfte gesprochen, aus dem heraus sich in der ästhetischen Erfahrung das ästhetische Urteil bilde. ›Frei‹ von partikulären Interessen muss das ›Spiel‹ sein, wenn daraus ein ästhetisches Urteil entstehen soll, das dem anderen zugemutet werden kann. Das wäre die transzendentalphilosophische Perspektive. Ob es in der Praxis der Wahrnehmung tatsächlich so frei ist, ist allerdings eine andere Frage. Das wäre dann die uns hier interessierende Perspektive, die nach der Rolle der konkreten ästhetischen Erfahrung im Wissenschaftsprozess fragt. Also zugespitzt: Die Gegenstände, die uns wissenschaftlich beschäftigen, beschäftigen uns auch deshalb, weil sie für uns aisthetische sind. Dass diese Beschäftigung je nach kulturell-semiotischem Zeichen- und Ausdruckssystem auch unterschiedlich ausfallen muss, liegt auf der Hand: Ein Musikstück beschäftigt uns anders als ein schriftlicher Text; die Gegenstände ›erscheinen‹ uns jeweils anders. Ästhetik der Wissenschaften und in den Wissenschaften soll und kann hier demnach nicht auf die Natur-Wissenschaften eingeschränkt werden. Und sie soll und kann erst recht nicht verkürzt werden auf das Problem der Schönheit in den Wissenschaften. Dieses reduktionistische Verständnis von Ästhetik (als Wissenschaft vom Schönen) spielt freilich in der Debatte um die Bedeutung der Ästhetik und des Ästhetischen in den Wissenschaften noch immer eine wichtige Rolle. Unsere Sprache hat viele Ausdrücke dafür, dass und wie uns der ›aisthetische‹ Gegenstand auf jeweils unterschiedliche Weise beschäftigt, anzieht, vielleicht sogar in den Bann schlägt. Staunen ist ein Modus ästhetischer Erfahrung, Hingabe eine 2

Vgl. hierzu einerseits Seel 2000, andererseits Welsch 1996.

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mögliche Konsequenz für unser Verhältnis zu unserem Gegenstand. Wenn es nun um Staunen und Hingabe als zwei Dimensionen ästhetischer Erfahrung gehen soll, so wird damit implizit auch für eine Phänomenologie ästhetischer Erfahrung plädiert, die die ästhetische Erfahrung in den Wissenschaften einzuschließen hat. Es gibt keinen Grund, dieses Erfahrungsmoment auszuklammern, es sei denn, man wollte ästhetische Erfahrung auf das Feld der Künste beschränkt wissen. Deshalb soll auch keine Ideengeschichte des Staunens skizziert werden. Das hat in ›staunenswerter‹ Klarheit und Übersichtlichkeit bereits vor einigen Jahren Stefan Matuschek geleistet (Matuschek 1991). 3 Nur einige Hinweise, die heuristisch für das Problem ästhetischer Erfahrung in den Wissenschaften wichtig sind: Bei Platon hat das Staunen einen ontologischen Grund; es ist die Haltung des Subjekts, in der sich die Einsicht in die unüberbietbare Größe des Ideellen ausdrückt. Für Aristoteles beginnt, bis heute viel zitiert, alle Erkenntnis und also auch alle Philosophie mit dem Staunen. Das Staunen kennzeichnet damit ein anfängliches Weltverhältnis und die psychische Haltung des Subjekts in seinem Wissensbedürfnis. Staunen kann man generell über etwas in seiner Größe und Erhabenheit. Dann ist das Staunen der Bewunderung eng verwandt. Das verweist auf die Problemgeschichte des Erhabenen. Angesichts des beeindruckend Großen, ja insbesondere des Unbegreifl ichen, Unfasslichen, das Subjekt schlechthin Übersteigenden, etwa der Größe und Herrlichkeit Gottes oder der Natur, geht das Staunen sogleich in Bewunderung über. Staunen kann also philosophische, psychologische, ästhetisch-poetologische, theologische Aspekte haben. Das naive Staunen, aus dem nicht unbedingt etwas resultiert, soll hier beiseite bleiben (auch wenn es der Wissenschaft durchaus nicht fremd ist). Interessieren soll nur das Staunen als ein gewissermaßen anfängliches Weltverhältnis, das Wissen (in einem weiteren Sinne) schaff t: es initiiert und motiviert. Staunen ist dann der Affekt, der Erklärung fordert, also Überführung in Wissen. – Goethe wird genau dies umdrehen und die mit Newton anbrechende moderne Natur-Wissenschaft kritisieren, weil sie sich ihren Gegenstand aneignet und unterwirft und entzaubert. Staunen kann man freilich nur, wenn von dem Objekt, das das Staunen veranlasst, keine unmittelbare, existenzielle Bedrohung und Gefahr ausgeht. (Die staunenden Beobachter der ersten Zündung einer Atombombe wussten nicht in vollem Umfang, welche Gefahr von der Kernspaltung auch für sie selbst ausgehen konnte.) Deshalb wird durch dieses Staunen, wie bei der Erfahrung des Erhabenen und des Schönen generell – zunächst – kein primär pragmatisches, sondern eben ein ästhetisches Weltverhältnis beschrieben. In diesem Sinne ist auch das Staunen ein ästhetischer Affekt; es ruft das Gefühl von Evidenz hervor.4 Das Staunen unterbricht die Außerdem, populär geschrieben: Hirsch 1981, Gargani 1990. Vgl. transkriptionen. Newsletter des Kulturwissenschaftlichen Forschungskollegs ›Medien und kulturelle Kommunikation‹. 5/2005, Schwerpunkt ›Evidenz‹; Cuntz/Nitsche/Otto/ Spaniol 2006 (in Vorbereitung). 3 4

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Kontinuität der Zeit; es ist erlebnishaft und verbindet Faszination und Distanz zugleich. Auch darum ist es ›theoretisch‹, betrachtend, und nicht praktisch; und darum kann es weitere Betrachtung, Analyse, Reflexion in Gang setzen. Staunen, dies ist die leitende These, ist eine grundlegende Möglichkeit unseres ästhetischen BezogenSeins auf die Welt und einer jeden Ästhetik, auch einer Ästhetik der Wissenschaften. Reflexion des Staunens muss zur Refl exion des Wissens führen, das die jeweilige Wissenschaft schaffen will. Diese Überlegung soll nun an verschiedenen literarischen und naturwissenschaftlichen Beispielen knapp konkretisiert werden. Es handelt sich hierbei um Texte von Barthold Heinrich Brockes (1680–1747) und Johann Wolfgang von Goethe, sowie um verschiedene autobiographische Schriften von Naturwissenschaftlern. Dass dabei die theologischen bzw. sakralen Momente betont werden, ist kein Zufall. II. Brockes: Theologie und Natur-Wissenschaft 1727 veröffentlicht Barthold Heinrich Brockes das folgende kleine Gedicht: Frühlings-Seufzer Großer GOtt, in dieser Pracht Seh’ ich Deine Wunder-Macht Aus vergnüg’ter Selen an. Es gereiche Dir zu Ehren, Daß ich sehen, daß ich hören, Fülen, schmecken, riechen kann! (Brockes 1977, 106)

Das Weltverhältnis, auf das dieses lyrische Subjekt seinen »GOtt« anspricht, ist ein radikal ›aisthetisches‹: Alle fünf Sinne werden hier angeführt als die ›Organe‹, mit denen die »Pracht« des »Frühlings« erfahren werden kann. Das Sehen scheint dabei aber privilegiert. Es wird schon am Anfang des zweiten Verses genannt. In der Ästhetik des Wissens und der Wissenschaften ist das Sehen grundsätzlich privilegiert; auch die poetologisch-ästhetische Diskussion der Sinne im 18. Jahrhundert betont dies (Utz 1990; Naumann-Beyer 2003). Je unanschaulicher das moderne chemische und physikalische Wissen im 20. Jahrhundert wird, desto wichtiger werden Strategien der Sichtbarmachung. Für die Durchsetzung neuer wissenschaftlicher Forschungsgebiete, für ihre politisch-soziale Geltung sind Modellbildungen und Visualisierungen absolut notwendig. 5 Man kann dies sehr gut z. B. an der Genforschung oder an der Nanotechnik studieren. 5

In der modernen Chemie reflektieren dies z. B. Hoff mann und Lazlo 1991.

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In der Möglichkeit einer aisthetischen Erfahrung der Welt sieht das lyrische Subjekt bei Brockes die eigentliche »Wunder-Macht« des großen Gottes. Das Wissen, das aus dieser Ein-Sicht des Subjekts resultiert, ist ein ›physikotheologisches‹ Wissen. Die Erkenntnis der physischen Welt verweist zwingend auf die transzendente Instanz, der sie sich verdankt: ein Argument, das aus der ›Theologie‹ moderner Naturwissenschaft nicht mehr verschwinden wird. In einer Epoche, die philosophisch zu der Auffassung kommen wird, dass es eine theoretische Erkenntnis von Gott nicht geben kann, formuliert die poetische Physikotheologie die Behauptung, dass die Erkenntnis Gottes dennoch ästhetisch, betrachtend, schauend (im ursprünglichen Sinne von ›theoria‹) möglich sei. Der vierte Vers des kleinen Gedichtes ist interessant, weil er so lesbar ist, dass Gott sich in der menschlichen ›Aisthesis‹ selbst ehre, aber auch so, dass der Sinn der menschlichen Aisthesis die Ehre Gottes sei. Höher kann man im frühen 18. Jahrhundert kaum greifen. Damit solches Wissen über die wunderbare Einrichtung der Welt durch die göttliche Allmacht überhaupt möglich wird, braucht es ein »betrachtende[s] Gemüte«. Es braucht in der staunenden Aisthesis den meditativen Abstand, also auch eine gewisse Zweckfreiheit der Betrachtung. (›Betrachtung‹ ist in der Frühen Neuzeit eine verbreitete Bezeichnung für einen erbaulich-meditativen Text.) Die Betrachtung einer »Kirsch-Blühte bey der Nacht« (Brockes 1977, 105 f.) – so der Titel eines weiteren, bekannten Gedichtes von Brockes – darf nicht nur Gedanken wecken an die saftigen Kirschen, die bald zu verschlingen sind. Diese aus der ›rohen Sinnlichkeit‹, wie Schiller später sagen wird, resultierende ›Erkenntnis‹ würde nicht lange vorhalten. Einbildungskraft und Verstand wären kaum längere Zeit beschäftigt. Ein solches ästhetisches Urteil hätte kein Anrecht auf intersubjektive Geltung und Verallgemeinerung. Wo bei Brockes die Erkenntnis des gütigen Schöpfergottes noch das eigentliche Ziel der Aisthesis ist und die sinnliche Wahrnehmung gewissermaßen ›veredelt‹ und auf Dauer stellt, ist es bei Schiller, Moritz und Kant mehr als ein halbes Jahrhundert später die Selbstzweckhaftigkeit der ästhetischen Wahrnehmung und Erkenntnis allein, auf die es ankommt. Sie darf ihr Ziel deshalb ebenfalls nicht in der Befriedigung der Sinnlichkeit allein haben. Mit der staunenden Betrachtung ist bei Brockes zugleich ein Reflexionsmoment gegeben, das auf Wissen zielt: »Wie sehr ich mich an GOtt im Irdischen ergetze, Dacht’ ich, hat Er dennoch weit grös’re Schätze. Die gröste Schönheit dieser Erden Kann mit der himmlischen doch nicht verglichen werden.« (Ebd.)

Das »betrachtende Gemüte« sieht also »GOtt in allem, was wir sehen« (›Das Blühmlein: Vergiß mein nicht‹, Brockes 1970, 77 f.), wenn es nur richtig sieht. Das Wissen ist hier zwar noch hierarchisch aufgebaut: auf eben diesen »Gott« hin strukturiert

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und letztlich zu seiner Erkenntnis führend. Das System der Wissenschaften ist in der Phase, in der sich die Experimentalwissenschaften horizontal auszudifferenzieren beginnen, noch stratifi katorisch geschichtet. Das wird sich ändern. Die Theologie ist für den poetischen Naturkundler Brockes noch Leitdisziplin. Und doch ist sie eben Physiko-Theologie: also eine Theologie, die die Institution Kirche und die wissenschaftliche Theologie der Universitäten nicht mehr braucht, weil sie sich ganz auf die Natur-Anschauung des Subjekts stützt und verlässt. 6 Am Beginn moderner Naturwissenschaft erscheinen die Ästhetik der Natur und Staunen und Bewunderung des Subjekts in einer signifi kanten Ambiguität.

III. Goethe: Staunende Erkenntnis der ganzen Natur In den ›Maximen und Reflexionen‹ (Nr. 417) schreibt Goethe: »Die Wissenschaft hilft uns vor allem daß sie das Staunen, wozu wir von Natur berufen sind, einigermaßen erleichtere; sodann aber, daß sie dem immer gesteigerten Leben neue Fertigkeiten erwecke, zu Abwendung des Schädlichen und Einleitung des Nutzbaren.« 7 Für Goethe ist das Staunen das uns selbst Angemessene, uns Zukommende, gleichsam unser natürliches Ziel, zu dem wir »berufen« sind. Wissenschaft ist darum nicht die Konsequenz bzw. das Resultat des Staunens, sondern sein Vehikel. Staunen ist das Weltverhältnis, zu dem uns die Wissenschaft verhelfen soll. Denn Ziel der Wissenschaft ist nicht abstrakte Erkenntnis, sondern ganze Naturerkenntnis und das ganze, gesteigerte Leben, dem alle Pragmatik (die »Abwendung des Schädlichen und Einleitung des Nutzbaren«) zu dienen hat. 8 1820 veröffentlicht Goethe das Gedicht ›Parabase‹, also ein Gedicht, dessen Titel auf die antike griechische Komödie anspielt. Dort meint die ›Parabase‹ eine direkte Ansprache des Chores an das Publikum außerhalb der Handlung, ein Heraus-Treten, durch das die Handlung unterbrochen wird (Zimmermann 1998, 37–42).

6 Einführend zu Brockes und zu seiner lyrikgeschichtlichen Bedeutung vgl. Kemper 1991, bes. 109 ff. 7 Goethe: Aphorismen (I. 86). In: Fricke (Hrsg.) 1993, 20. 8 Goethes ganzheitliches Natur- und Naturwissenschafts-Verständnis ist vielfach diskutiert worden, auch die auf klärungskritische Perspektive, die es enthält. Vgl. etwa Schmidt 1984.

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Parabase 9 Freudig war, vor vielen Jahren, Eifrig so der Geist bestrebt, Zu erforschen, zu erfahren, Wie Natur in Schaffen lebt. Und es ist das ewig Eine, Das sich vielfach offenbart; Klein das Große, groß das Kleine, Alles nach der eignen Art. Immer wechselnd, fest sich haltend. Nah und fern, und fern und nah; So gestaltend umgestaltend – Zum Erstaunen bin ich da.

Ziel der Naturforschung ist, so dieses Lehrgedicht, die Erfahrung der lebendigen Natur. Lebendig ist sie, diesem Gedicht zufolge, wenn sie ›schaff t‹, wenn sie produktiv ist. Diesen Gedanken hat schon der junge Goethe entwickelt (Braungart 1988). Er begleitet ihn durch sein ganzes Leben; er ist Kern seiner Konzeption von Naturwissenschaft. Von ihm aus erklärt sich die scharfe Kritik jeder nur analytisch-sezierenden Wissenschaft, deren Paradigma für Goethe die newtonsche Physik ist.10 Naturforschung, wie sie sich Goethe vorstellt, »offenbart« »das ewig Eine« in seiner empirischen Vielheit. Darum gibt es auch keine hierarchische Struktur in dieser Natur. Alles ist in seiner je »eignen Art« groß und klein, »gestaltend« und »umgestaltend«, sich verändernd und stabil zugleich. Erst mit dem Schlussvers kommt ein lyrisches Subjekt ins Spiel. Es ist aber überhaupt nicht klar, wer dieses ›Ich‹ denn sein könnte: Die Natur? Das ewig Eine? Der forschende und erfahrende Geist? Wer staunt hier über was? Das Ich über sich selbst? Ist das seine existenzielle Aufgabe, zu »erstaunen« (»Zum Erstaunen bin ich da.«)? Oder ist es nicht vielmehr staunenswert, dass das Ich überhaupt ist, existiert? Erstaunt das Ich das Publikum, vor das es in seiner Parabase hintritt? Erstaunt das Ich also die anderen? All dies ist nicht wirklich zu entscheiden. Eine ›Parabase‹ ist hier demnach, bei aller Vieldeutigkeit, die erstaunende Einsicht, die die ›eifrigen‹ Naturforschungen unterbricht und in der sich zugleich die forschende Erfahrung des Schaffens der Natur darstellt. Dieses Gedicht ist also selbst eine Parabase, ein Heraustreten, ein reflexiver Akt, den das Erstaunen initiiert und der das Erstaunen selbst braucht. – Das Gedicht provoziert übrigens eine Nebenbemerkung: Als »permanente Parekbase« (bzw. Parabase) bezeichnet FriedGoethe: Die Sammlung von 1827. Gott und Welt. In: Eibl 1988, 495. Wie poetisch produktiv diese Auseinandersetzung für Goethe ist, hat jüngst Holger Helbig an der ›Farbenlehre‹ gezeigt. Vgl. Helbig 2004. 9

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rich Schlegel bekanntlich die Ironie (Schlegel 1963, 668). Darin ist sie für Schlegel die genuin moderne Haltung zur Welt. Staunen statt Ironie: Das ist Goethes Kommentar zur Romantik in ihrer selbstbewussten urbanen Modernität! Moderne Naturfrömmigkeit statt moderne ›eironeia urbana‹ (Braungart 2005)! Goethes ›Faust‹ wird man in einem solchen Problemzusammenhang, wie er hier von uns angerissen wird, wohl am ehesten erwarten. Das Drama handelt auch von dem Bedürfnis des Gelehrten nach dem Staunen, das in all den wissenschaftlichen Studien verloren gegangen ist. Wie unzufrieden Faust selbst mit seiner eigenen Gelehrsamkeit ist, drückt er in seinem bekannten ersten Monolog aus. »Habe nun, ach ! Philosophie, Juristerei und Medizin, Und leider auch Theologie! Durchaus studiert, mit heißem Bemühn.« (Goethe 1999, 33)

Warum eigentlich »leider auch Theologie«? Den anderen Disziplinen gilt Fausts Bedauern nicht in derselben Weise. Die Theologie bringt Faust nicht mehr die Einsicht, die die auf Naturforschung aufruhende, poetische Physiko-Theologie eines Brockes noch vermitteln konnte. An ihre Stelle tritt eine Naturwissenschaft, die sich von der akademischen Theologie lossagt, um zu einer neuen Natur- und Weltfrömmigkeit zu fi nden. Faust verfügt über das Wissen seiner Zeit. Er hat nicht nur eines der grundlegenden Fächer studiert, denen das propädeutische Studium der ›sieben freien Künste‹ vorausgeht und denen die vier Fakultäten – vor Einführung der naturwissenschaftlichen Fakultät – entsprechen, sondern alle vier. Faust ist ein Universalgelehrter. Dennoch ist er mit einer reinen Ansammlung von Wissen nicht zufrieden. Was ihm fehlt, ist die tiefere Einsicht in die Zusammenhänge, in das, »was die Welt / Im Innersten zusammenhält« (ebd., 34). Der Weg dorthin soll nicht mehr über Buchwissenschaften gehen, sondern über sinnliche Vermittlung und die Anspannung der sinnlichen Vermögen des Menschen: »Schau‹ alle Wirkenskraft und Samen, / Und tu‹ nicht mehr in Worten kramen« (ebd.). Das weltferne, gar nicht erlebnishafte Studium der gelehrten Schriften in seinem Studierzimmer erscheint Faust als Gefangenschaft, als Leben im »Kerker« (ebd.), das keinen Bezug zur Wirklichkeit, zur »lebendigen Natur« (ebd.) bietet. Faust will sich nun mit der Magie bzw. der Alchemie beschäftigen, um der Natur wieder staunend begegnen zu können. Er erblickt das alchemistische Zeichen für den Makrokosmos und fühlt sich gleich angesprochen: »Ha! welche Wonne fl ießt in diesem Blick Auf einmal mir durch alle meine Sinnen! Ich fühle junges, heil’ges Lebensglück Neuglühend mir durch Nerv’ und Adern rinnen.

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War es ein Gott, der diese Zeichen schrieb, Die mir das inn’re Toben stillen, Das arme Herz mit Freude füllen, Und mit geheimnisvollem Trieb Die Kräfte der Natur rings um mich her enthüllen?« (Ebd., 35)

Dieses Staunen hält jedoch nicht lange an. Faust enttarnt das Zeichen als »Schauspiel« (ebd., 36) und nicht als die Möglichkeit, die »unendliche Natur« (ebd.) zu fassen. Mephisto hat nun leichtes Spiel mit Faust, der die Natur sinnenhaft und staunend erleben will. Genau dies offerieren ihm die »Künste« (ebd., 68) des Teufels: »Du wirst, mein Freund, für deine Sinnen, In dieser Stunde mehr gewinnen, Als in des Jahres Einerlei. Was dir die zarten Geister singen, Die schönen Bilder die sie bringen, Sind nicht ein leeres Zauberspiel. Auch dein Geruch wird sich ergetzen, Dann wirst du deinen Gaumen letzen, Und dann entzückt sich dein Gefühl.« (Ebd., Hervorh. von uns)

Hier werden also auch – bis auf den Tastsinn – alle Sinne angesprochen. Mephisto verspricht – mit Baumgartens berühmter Formel – eine wirklich »cognitio sensitiva perfecta«. Faust lässt sich auf Mephistos Pakt ein, weil seine Weltneugierde auf die sinnliche Erfahrung von Welt, mehr noch, auf den sinnerfüllten Augenblick zielt: »Werd’ ich zum Augenblicke sagen: / Verweile doch! du bist so schön! / Dann magst du mich in Fesseln schlagen, / Dann will ich gern zu Grunde gehen!« (ebd., 76). Der sinnenhafte und dadurch erst wirklich sinnhafte Augenblick, der zugleich ein religiöser ist, weil er nicht überboten und nicht mehr abgeleitet werden kann, ist Fausts eigentliche wissenschaftliche Motivation. Der Antrieb des Gelehrten ist hier nicht allein die Erweiterung seiner Wissensbestände, sondern vielmehr die Sehnsucht nach dem ganz und gar sinnerfüllten Staunen. Das macht nun deutlicher, inwiefern Goethes naturwissenschaftliches Staunen ähnlich modern ist wie Friedrich Schlegels kommunikativ-urbane Ironie: In der historischen Phase, in der sich die Natur-Wissenschaften als eigene Wissenschaftssysteme ausdifferenzieren und etablieren mit eigenen Standards und eigenen Kommunikationsregeln, wird auch sichtbar, wovon sie – so scheint es zunächst – nicht handeln und was sie nicht leisten wollen und können. Dem Staunen kommt nun, bei Goethe deutet es sich an, eine emphatische Funktion zu. Schon in Goethes berühmtem Gedicht ›Die Metamorphose der Pflanzen‹ von 1798 (1800, 1827) ist das Staunen Kennzeichen der vollen Einsicht in das grundlegende Entwicklungsprin-

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zip der Natur: »Immer erstaunst du aufs neue sobald sich am Stengel die Blume, / Über dem schlanken Gerüst wechselnder Blätter bewegt.« (Goethe 1988, 640) Es ist kein Zufall, dass sich die moderne Naturwissenschaft immer dann, wenn es um Legitimation und Selbstreflexion geht, gerne auf Goethe beruft. Gerade sie, die modernen Naturwissenschaften, werden im 20. Jahrhundert zum Refugium des Staunens, das aus der literarisch-ästhetischen Erfahrung eher verschwindet. Die nicht mehr schönen Künste ( Jauß 1968), die beanspruchen, sich aus der Symbiose mit dem Moralischen zu lösen (wie insbesondere noch bei Schiller), und das Hässliche, ja den Ekel als ein besonders ›starkes Gefühl‹ (Menninghaus 1999) für sich entdecken, wollen nicht mehr Einsichten in eine zu bestaunende Weltordnung vermitteln, sondern viel eher in das Gegenteil: in ihren unauf hebbar fragmentarischen, ›heillosen‹ Charakter.

IV. Autobiographien von Naturwissenschaftlern des 20. Jahrhunderts 11 Es ist bezeichnend, dass für das hier skizzierte Problem die Belege aus naturwissenschaftlichen Autobiographien des 19. Jahrhunderts eher spärlich sind. Diese Autobiographien sind eigentlich noch keine. Sie sind eher chronikalisch oder protokollarisch angelegt und dienen weniger einer wirklichen Selbstbeobachtung im wissenschaftlichen Prozess. Sie haben Subjektivität noch nicht als relevant für moderne Naturwissenschaft entdeckt. Dafür kann man verschiedene Gründe in Betracht ziehen, etwa den, dass es zunächst einmal um die Etablierung ›normaler‹ (Natur-)Wissenschaft geht.12 In den Autobiographien des 20. Jahrhunderts beschreiben Naturwissenschaftler dann allerdings zentrale naturwissenschaftliche Erfahrungen als ästhetische Erfahrungen, naturwissenschaftliche Prozesse als ästhetische Prozesse. Die naturwissenschaftliche Forschung ist für sie insofern ein ästhetischer Prozess, als hier die menschliche Aisthesis in Anspruch genommen wird. Die Faszination, die davon ausgehen kann, lässt sich als Staunen beschreiben. So reflektiert z. B. der Physiker Max von Laue um 1950 die Faszination, die mathematische Theorien auf ihn ausübten: »Der entscheidende Eindruck war das Staunen.« (von Laue 1952, 201, Hervorh. von uns.) Viele Naturwissenschaftler setzen Schönheit als Telos der Natur voraus und erwarten, diese auch in ihrer Forschung zu fi nden. Diesen Zusammenhang stellt z. B. Werner Heisenberg her: »Die Schönheit der Natur spiegelt sich auch in der Schönheit der Naturwissenschaft.« (Heisenberg 1971, 288) Die ›schöne‹ Naturwissenschaft ist Mimesis der ›schönen‹ Natur. Dieser Abschnitt unseres Versuchs stützt sich auf die noch unveröffentlichte Bielefelder Dissertation von Silke Jakobs aus dem Jahr 2004. Vgl. Jakobs 2004/2006. 12 Im Sinne von Kuhn 2001. 11

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Bei den naturwissenschaftlichen Erfahrungen, die als ästhetische Erfahrungen beschrieben werden, handelt es sich – mit einem für die ästhetische Diskussion des 18. Jahrhunderts wichtigen Begriff – um ›gemischte Empfi ndungen‹: Einerseits werden Erfahrungen von Schönheit und Harmonie geschildert, andererseits aber auch Verblüff ung und Erfahrung des Erhabenen. Die Komplexität dieser gemischten Empfi ndung beschreibt Heisenberg 1969 in seiner Autobiographie ›Der Teil und das Ganze‹ und reflektiert sie später in seinem bekannten Vortrag ›Die Bedeutung des Schönen in der exakten Naturwissenschaft‹ von 1970. Heisenberg berichtet von seiner Rechenoperation zur »Gültigkeit des Energiesatzes« (Heisenberg 1998, 77), die die »mathematische Widerspruchsfreiheit und Geschlossenheit der damit angedeuteten Quantenmechanik« (ebd., 78) beweisen soll, als einer Erfahrung von Schönheit und Erhabenheit: »Im ersten Augenblick war ich zutiefst erschrocken. Ich hatte das Gefühl, durch die Oberfl äche der atomaren Erscheinungen hindurch auf einen tief darunter liegenden Grund von merkwürdiger innerer Schönheit zu schauen, und es wurde mir fast schwindlig bei dem Gedanken, daß ich nun dieser Fülle von mathematischen Strukturen nachgehen sollte, die die Natur dort unten vor mir ausgebreitet hatte.« (Ebd., Hervorh. von uns.) Heisenberg beschreibt den Moment der Erkenntnis als ästhetische Erfahrung und als hermeneutischen Akt: von der Oberfl äche in die Tiefe, in der sich die innere Schönheit, die man nicht sofort sehen kann, offenbart. Er nimmt eine Schönheit wahr, die ihn erschrecken und schwindeln lässt. Nicht nur fühlt man sich an den Diskurs um das Erhabene erinnert. Rudolf Ottos Phänomenologie des Heiligen von 1914, die Schleiermachers Theologie ästhetisch reformuliert, bestimmt, wirkungsmächtig bis heute, das Heilige gerade so: Es sei für das Subjekt, das das Heilige erfährt, faszinosum und tremendum.13 An anderer Stelle diskutiert Heisenberg diese ästhetische Erfahrung als Staunen, genauer: als »staunendes Erschrecken«: »In dem Moment aber, in dem die richtigen Ideen auftauchen, spielt sich in der Seele dessen, der sie sieht, ein ganz unbeschreiblicher Vorgang von höchster Intensität ab. Es ist das staunende Erschrecken, von dem Plato im ›Phaidros‹ spricht, mit dem die Seele sich gleichsam an etwas zurückerinnert, was sie unbewußt doch immer schon besessen hatte.« (Heisenberg 1971, 304, Hervorh. von uns.) Der Physiker als anamnetischer Platoniker, der fi ndet und wiederfi ndet, was er längst schon in sich hat. In der aisthetischen Naturerfahrung re-sakralisiert sich für ›den Herrn und Meister der Natur‹ (Descartes) das Objekt seiner Unterwerfung und bindet ihn an sich. Das Staunen als eine Dimension ästhetischer Erfahrung leitet den Prozess der wissenschaftlichen Erkenntnis ein; gleichzeitig führt solche Erkenntnis zu weiterem Staunen. Ähnliche Beschreibungen lassen sich auch in anderen autobiographischen Texten von Naturwissenschaftlern fi nden. Oft sind gerade die wissenschaftlichen Schlüsselerlebnisse mit der Erfahrung des Staunens verbunden. 13

Otto 1991, bes. Kap. 4, S. 13 ff.: Mysterium tremendum.

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Bei Richard Willstätter hat das Staunen in der Wissenschaft – in seinem Falle in der organischen Chemie, in der er sich mit seinen Untersuchungen zum Chlorophyll einen Namen gemacht hat – eine ästhetische wie eine poetisch-religiöse Dimension. Die ihn »wunderbar« anmutende Situation, in der sich ihm sein Habilitationsprojekt erschließt, kann er 1940 rückblickend nur metaphorisierend fassen: »Man muss Chemiker sein und in der organischen Chemie recht zu Hause sein, um sich vorzustellen, daß dies ein neuartiges und aussichtsreiches Phänomen war, daß es für meinen bescheidenen Horizont und Maßstab etwas Wunderbares bedeutete, das nicht nur das Schicksal eines jungen Gelehrten entschied, vielmehr ihm den Schlüssel in die Hand drückte, um die Schlösser zu Märchengärten der organischen Chemie zu öff nen.« (Willstätter 1949, 66, Hervorh. von uns.) Die naturwissenschaftliche Erfahrung wird hier in den gleichen Kategorien beschrieben wie die Erfahrung der Kunst – als Erfahrung des Wunderbaren, die nur (freilich rhetorische) humilitas zur Folge haben kann.14 Die Metapher des »Märchengartens« poetisiert die naturwissenschaftliche Erfahrung. Naturwissenschaft soll verzaubern; sie ist demnach gerade nicht das Vollzugsorgan von Rationalisierung, der Henker, der die ›Entzauberung der Welt‹ vollzieht, wie man gerne in allzu einfacher Anlehnung an Max Weber behauptet. Die stilistische Spannung in seiner Rhetorik fällt Willstätter aber gar nicht auf: Die Feststellung eines »neuartige[n] und aussichtsreiche[n] Phänomen[s]« (Willstätter 1949, 66) ist es, die für Willstätter den Zugang zu den »Märchengärten« eröff nen soll. Neben der kognitiven ist die ästhetische Wahrnehmung und Erfahrung genauso wichtig bzw. während des Forschens sogar übergeordnet; »die Schönheit wird erlebt« (ebd., 68). Die Situation wird als wunderbar charakterisiert und das Phänomen selbst als »Wunder«, das ihn »erfüllte und […] zu sich rief« (ebd., 67). Das impliziert verschiedene Konnotationen, ästhetische wie religiöse. Die naturwissenschaftlich-ästhetische Erfahrung wird auch in die Nähe der religiösen Erfahrung gerückt. Am Rande sei angemerkt, dass der Diskurs um das Wunderbare für die Poetik der Frühauf klärung und später dann für die Romantik von besonderer Bedeutung war. Das Wunderbare eröff nete neue poetische Lizenzen und forderte die rationalistische Poetik heraus. (Stahl 1975, Horch / Schulz 1988) Der Eindruck des Wunderbaren begleitet auch den Biochemiker Erwin Chargaff bei seiner Zellforschung: »Alles, was ich tat, geschah unter dem Eindruck des Wunders, das die Zelle ist; hier sah ich nichts als Ordnung und Schönheit. Für mich war sie im Kleinsten der Kosmos, ›die ewige Zier‹.« (Chargaff 2002, 11, unsere Hervorhebung.) Die Emphase, mit der Chargaff Ende der siebziger Jahre die Zelle beschreibt und Ordnung und Schönheit, Mikrokosmos und Makrokosmos aufein14 Auch andere Naturwissenschaftler bringen die Wissenschaft mit der Welt der Märchen in Verbindung: Hermann von Helmholtz fi ndet in den Naturgesetzen einen »Zauberschlüssel« (von Helmholtz 1966, 19). Max Born vergleicht Ladenburgs Labor mit der »Höhle eines Zauberers« (Born 1975, 183).

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ander bezieht, erinnert an die Haltung des lyrischen Ichs in den Gedichten von Brockes. Das Lied des Türmers Lynkeus aus ›Faust II‹ (Vers 11297) wird anzitiert (›die ewige Zier‹), das ein Hymnus auf die Schönheit der Welt ist, die sich im betrachtenden Schauen erschließt. Das Staunen in der Wissenschaft zeugt im 20. Jahrhundert zwar nicht unbedingt, wie noch bei Brockes, von einem geordneten physiko-theologischen Weltbild. Es verrät aber an der naturwissenschaftlichen Erfahrung dennoch ein Moment religiöser Erfahrung. Dafür zunächst ein Beleg aus der Autobiographie des Atomphysikers Victor Weisskopf. Weisskopf war als Emigrant in den USA an der Entwicklung der Atombombe beteiligt. Schon der Name des Bombentests in Los Alamos, ›Trinity‹ – also ›Dreifaltigkeit‹ –, stellt einen religiösen Bezug her (Canaday 2000, 196).15 In seiner Autobiographie schildert Weisskopf ausführlich die erste Testexplosion als »ein überwältigendes, Ehrfurcht einflößendes Schauspiel« (Weisskopf 1991, 178), als dessen Ouvertüre Tschaikowsky dient: »Der Countdown war über Radio zu hören – fünf, vier drei, zwei eins, mit Tschaikowsky im Hintergrund. Dann erstrahlte der Himmel unwahrscheinlich hell, als die Berge unter einem Licht zwanzigmal so stark wie die Mittagsonne aufglühten. Durch dunkle Brillen sahen wir eine weiße Halbkugel, […]. Die Halbkugel wuchs, wurde zu einem weißen Ball, der sich vom Boden löste und langsam emporstieg. All das fand in lautloser Stille statt. Fünfzig Sekunden später erdröhnte ein Donnern, das mehrmals von den umliegenden Hügeln widerhallte. […] Der Feuerball wurde größer […].« (Ebd., 177 f.) Die Explosion wird als synästhetische Erfahrung beschrieben, als Erfahrung von außerordentlicher, geradezu monumentaler Erhabenheit. Der naturwissenschaftlich-messende Zugang, den die Wissenschaftler zu diesem Ereignis haben – sie messen u. a. den »Wirkungsgrad der Detonation« (ebd., 178) –, verhindert nicht ihr überwältigendes ästhetisches Erlebnis. Für Weisskopfs Wahrnehmung verbinden sich ästhetische Erfahrung und eine religiöse Dimension in der Assoziation eines großen Kunstwerkes: »Als die Leuchtkraft nachließ, sahen wir einen blauen Ring, der die gelbe und orangenfarbene Kugel umschloß, eine Aureole aus bläulichem Licht rings um den Ball. […] Das Auftreten dieses unheimlichen blauen Lichts machte einen tiefen Eindruck auf mich. Es erinnerte mich, so sehr mir eine solche Analogie innerlich widerstrebte, an ein Gemälde von Matthias Grünewald. Es gehört zum Isenheimer Altar in Colmar und zeigt die Himmelfahrt Christi in einer leuchtendgelben, emporsteigenden Kugel, die von einem blauen Ring umgeben ist. Die Explosion einer Atombombe und die Auferstehung Christi – was für eine widersinnige und beunruhigende Assoziation!« (Ebd.) Zerstörung und Auferstehung werden aufeinander bezogen, auch wenn Weisskopf selbst diese Assoziation irritiert. Der zerstörerischen Kraft der Bombe wird zugleich eine soteriologische zugesprochen. 15

Ausführlich zu den religiösen Metaphern der Physiker in Los Alamos vgl. ebd., 193-203.

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In ausgeprägt religiöser Metaphorik beschreibt Wilhelm Ostwald sein wissenschaftliches Schlüsselerlebnis als paradiesische Szene bzw. Pfi ngstszene. Ostwald, Chemiker und Mitbegründer des Monistenbundes, erinnert sich 1927 an die »Geburtsstunde der Energetik« (Ostwald 1926–1927, Teil 2, 161) »mit bildhafter Anschaulichkeit« (ebd., 158). Man könnte auch sagen – in schönstem Kitsch: »Die Vögel zwitscherten und schmetterten von allen Zweigen, goldgrünes Laub glänzte gegen einen lichtblauen Himmel, Schmetterlinge sonnten sich auf den Blumen, indem sie die Flügel öff neten und schlossen und ich selbst wanderte in wunderbar gehobener Stimmung durch diese frühlingshafte Natur. Alles sah mich mit neuen, ungewohnten Augen an und mir war zumute, als wenn ich zum ersten Male alle diese Wonnen und Herrlichkeiten erlebte. […] Der Denkvorgang für die allseitige Gestaltung der energetischen Weltauffassung vollzog sich in meinem Gehirn ohne jegliche Anstrengung, ja mit positiven Wonnegefühlen. Alle Dinge sahen mich an, als wäre ich eben gemäß dem biblischen Schöpfungsbericht in das Paradies gesetzt worden und gäbe nun jedem seinen wahren Namen.« (Ebd., 160 f., Hervorh. von uns.) 16 Von moderner, durchrationalisierter Lebenswelt, von einem rationalen Weltzugang keine Spur: Die ›frühlingshafte Natur‹ regt den wissenschaftlichen Erkenntnisprozess an, der selbst wiederum auf die Wahrnehmung der Natur zurückwirkt. Das Staunen über die Erkenntnis wird zum Staunen über die Natur. Sie scheint nun eine neue und andere zu sein. Das ist gar nicht so weit weg von Goethe. Die Naturauff assung dieses Naturwissenschaftlers ist geradezu volksliedhaft jugendbewegt. In der staunenden ›Verklärung‹ der Welt zum Paradies eröff net sich für Ostwalds naturwissenschaftliche Erkenntnis eine neue religiöse Dimension. Ostwald beschreibt sein Erlebnis »im Sonnenschein eines wundervollen Frühlingsmorgens« als »ein wahres Pfi ngsten, eine Ausgießung des Geistes über mich« (Ostwald 1926–1927, Teil 2, 160). Den Zusammenhang von Sakralität und Wissenschaft formuliert ganz explizit der Physiker Hermann von Helmholtz Ende des 19. Jahrhunderts (1891): Der Forscher »sieht sich mit seinen kleinen Beiträgen zum Auf bau der Wissenschaft in den Dienst einer ewigen heiligen Sache gestellt, mit der er durch enge Bande der Liebe verknüpft ist. Dadurch wird ihm seine Arbeit selbst geheiligt.« (von Helmholtz 1966, 32, unsere Hervorhebung). Das Staunen eröff net dem Wissenschaftler einen Weg zum Sakralen. Die Naturwissenschaft selbst wird im Staunen sakralisiert. Albert Einstein schätzt 1930 die Religiosität des Forschers folgendermaßen ein: »Seine Religiosität Die religiöse Dimension von Ostwalds Wissenschaftsverständnis erklärt sich auch aus seiner monistischen Weltanschauung. Er begreift die Wissenschaften als Alternative zu tradierten religiösen Sinnangeboten. So behauptet er z. B. »daß der Mensch […] nach geistiger Nahrung verlangt, an welcher Gemüt und Verstand wachsen können. In den alten Formen der kirchlichen Überlieferung fi ndet er diese Nahrung nicht mehr, wohl aber darf er sie von der Wissenschaft erhoffen, und hier liegt die Aufgabe des Monistenbundes.« (Ostwald 1926-1927, Teil 3, 231). Grundlegend zur literatur-, geistes- und wissenschaftsgeschichtlichen Bedeutung des Monismus um 1900 vgl. Fick 1993 und Ziche 2000. 16

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liegt im verzückten Staunen über die Harmonie der Naturgesetzlichkeit, in der sich eine so überlegene Vernunft offenbart, daß alles Sinnvolle menschlichen Denkens und Anordnens dagegen ein gänzlich nichtiger Abglanz ist. Dies Gefühl ist das Leitmotiv seines Lebens und Strebens, insoweit dieses sich über die Knechtschaft selbstischen Wünschens erheben kann. Unzweifelhaft ist dies Gefühl nahe verwandt demjenigen, das die religiös schöpferischen Naturen aller Zeiten erfüllt hat.« (Einstein 2001, 22.) V. Kurzes Fazit Die Hingabe ist ein wenig auf der Strecke geblieben; sie ist aber, wie die Faszinationsmomente naturwissenschaftlicher Aisthesis gerade zum Schluss zeigen, sozusagen impliziert. Staunen ist auch in den Naturwissenschaften eine grundlegende Kategorie ästhetischer Erfahrung, die zu Affi rmation ermuntert, ja verlockt. Hingabe ist Zustimmung zur eigenen Aufgabe, womöglich bis zur Devotion – ein Aspekt übrigens, der dagegen in allen ästhetischen Entwürfen der Moderne, seit die Künste nicht mehr schön sein müssen, so gut wie unbeachtet bleibt (Braungart 2004). Die Naturwissenschaften leisten etwas, was die Künste nicht mehr leisten (wollen). Staunen und Hingabe bleiben auch und gerade für die moderne Naturwissenschaft, die sich aus ihren institutionell-religiösen und theologischen Legitimationen vermeintlich befreit hat, leitende ästhetische Erfahrungsdimensionen. (Wer nimmt noch explizit in Anspruch, die artes mechanicae glichen die Mängel des gefallenen Adam aus und führten ins Paradies zurück?17 Implizit freilich geht es noch immer um menschliche Selbstermächtigung.) Staunen und Hingabe initiieren Wissenschaft und sind zugleich ihr Ziel. Und sie eröff nen schließlich eine spezifi sch moderne naturwissenschaftliche Sakralität, über die eigens zu sprechen wäre. In der ›profanen‹, scheinbar säkularisierten Welt moderner Naturwissenschaft restituiert sich mit der ästhetischen Erfahrung des Staunens ein sakraler, transzendenter Sinnhorizont, gegen den sich die Naturwissenschaften doch einstmals etabliert hatten.

Für die Frühe Neuzeit vgl. Stöcklein 1969. Die oben zitierte ›Paradiesesszene‹ Ostwalds kann aber durchaus so gelesen werden: Seine naturwissenschaftliche Erkenntnis vertreibt ihn nicht etwa aus dem Paradies, sondern bringt ihn erst hinein. Naturwissenschaftliche Forschung gewinnt hier den paradiesischen Zustand zurück. Das Erlebnis lässt Ostwald zugleich zum ›neuen Adam‹ und zum Propheten werden. Auf seine Kollegen macht er später »den Eindruck eines Inspirierten oder Propheten« (Ostwald 1926–1927, Teil 2, 162). 17

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A nnäherungen an eine Ästhetik des Geheimnisvollen Beispiele aus der Meeresforschung des 19. Jahrhunderts Von Natascha Adamowsky

»Das Meer birgt in seinen Tiefen Geheimnisse, die kein Blick zu ahnen vermag […]. In der Land- und Luftwelt und selbst in den Himmelsräumen entrollt die Natur in freigebigster Weise ihre wunderbaren Gemälde; von einem Pole zum andern können wir alle Theile unseres Bereichs durchforschen […]. [V]on dem Ocean [ jedoch], dieser dünnen Wasserschicht von einigen Tausend Metern Dicke, die auf unserm Planeten ausgebreitet ist, kennen wir durch Anschauung nur die Oberfl äche und die Ränder« (Mangin 1864, dt. 1866, 141). »Wie viele derjenigen, welche ihre Räthsel zu lösen und in ihre Mysterien einzudringen versuchten, hat die ungeheuere Sphinx nicht schon verschlungen! Gleichviel, das Werk wird fortgesetzt und schreitet weiter. Das menschliche Auge ist in diese grausige Nacht eingedrungen.« (Ebd., 3) Mit diesen Worten beginnt der französische Naturforscher, Arthur Mangin, 1864 sein außerordentlich erfolgreiches Buch »Les Mystères de l’Océan« (»Der Ocean, seine Geheimnisse und Wunder«, dt. 1866). Dieser Titel bildet gleichsam die Überschrift für die folgenden Überlegungen, die sich einer Ästhetik des Geheimnisvollen in der Meeresforschung des 19. Jahrhunderts beschreibend nähern wollen. Die Beobachtung ist folgende: Die Rede von wunderbaren wie schrecklichen Geheimnissen, von merkwürdigen Rätselhaftigkeiten und mysteriösen Begegnungen hat im 19. Jahrhundert eine besondere Konjunktur. Ein Zentrum dieser modernen Geheimnislust war die unterseeische Welt mit ihren verborgenen Tiefen und seltsamen Lumineszenzen, scheinbar überbordend mit verborgenen Bedeutungen. Die weiteren Ausführungen werden versuchen, einen möglichen Zusammenhang zwischen dieser Meerespassion und der Vorliebe für das Geheimnisvolle zu skizzieren. Es geht um ein Porträt der wissenschaftlichen Leidenschaften und kulturellen Obsessionen vom Meer, die im Verlauf des 19. Jahrhunderts eine überaus beliebte Dramaturgie des Rätselhaften und Geheimnisvollen entfalteten; es geht darum, den Blick zu schärfen für jenes Reservoir an ästhetisch-performativen Energien, welche im Zentrum wissenschaftlicher Diskurse generiert wurden und dabei vordergründig doch wissenschaftlichen Prinzipien und Methoden zu widersprechen scheinen. Anders gesagt: Was hat das Geheimnisvolle im Herzen der großen Geheimnisvernichterin, der modernen Wissenschaft, verloren? Das Geheimnis ist selbstverständlich keine Erfi ndung des 19. Jahrhunderts. Der Topos der geheimnisvollen Natur und die ikonografischen Spuren einer verschlei-

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erten Isis durchziehen die gesamte abendländische Ideengeschichte (vgl. Hadot 1982). Neben den Versuchen, die Geheimnisse der Natur in einem emphatischen Sinne zu enthüllen, steht ein Verständnis, das den Schleier der Isis weniger als Aufforderung zur Enthüllung begreift denn als Hinweis auf die Tiefe, die sich hinter ihm eröff net. Eine solche grundlegende Ambivalenz des Geheimnisses von Naturzusammenhängen charakterisiert auch den Umgang mit dem Verborgenen im 19. Jahrhundert. Allerorten werden Siege des wis- Abb. 1: Widmungsblatt in Humboldts »Ideen senschaftlichen Fortschritts verkündet, zu einer Geographie der Pflanzen«; ZeichRätsel gelöst und Geheimnisse gelüftet. nung von Thorwaldsen. Unerschüttert werden die verbleibenden Geheimnisse von heute als die Gewissheiten von morgen angekündigt, und es ist geradezu banal, dass das 19. Jahrhundert dabei einer Binsenweisheit erliegt: Je mehr man weiß, desto mehr weiß man, wie viel man nicht weiß. Schließlich ist das Geheimnis, wie Hartmut Böhme schreibt, »nicht ein Effekt des Nicht-Wissens, sondern bildet sich immer erst auf der Höhe des Wissens und trotz seiner. Zu wenig wissen, heißt immer auch, nichts um das Geheimnis zu wissen« (Böhme 1997, 65). Im Zuge dieser produktiven Dynamik des Enthüllens entwickelt sich das 19. Jahrhundert zu einem Jahrhundert der Geheimnisse und Rätsel. Es gibt eine besondere Konjunktur der Rede vom geheimnisvoll Verborgenen, die sich aus Erfolgsgeschichten einer Naturwissenschaft, die Geheimnisse entdeckt und dabei mit jeder Entdeckung neue Geheimnisse produziert, und aus Diskussionen um die letzten Grenzen eines prinzipiell nicht Wissbaren speist.1 Neben diesen zwei großen Trends einer expansiven und restriktiven Qualität des Geheimnisvollen scheint es allerdings noch ein weiteres Moment zu geben, das an die eben erwähnte Ambivalenz des Isisschleiers anschließt. Denn damit eine Entdeckung sich auch als eine Entdeckung ausweisen kann, ist sie konstitutiv auf die Darstellung des entschleierten Geheimnisses bzw. den Akt der Enthüllung angewiesen. Gleichsam aber ist es gerade der verhüllende, eine Tiefe evozierende Schleier, der für die Unentscheidbarkeit der Frage steht, ob das Enthüllte mit dem vormals Verborgenen auch übereinstimmt. Das sichtbar gemachte Unsichtbare ist schließlich nicht identisch mit dem unsichtbaren Unsichtbaren. Medien als Werkzeuge der Sicht1 Letztere fi nden sich beispielhaft in den Debatten um die Grenzen des Naturerkennens, die unter dem Titel der Welträtsel oder Lebenswunder geführt wurden und in Auseinandersetzung mit den gleichnamigen Schriften von Emil du Bois-Reymond und Ernst Haeckel entstanden.

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barmachung stellen das zu Transformierende unter Bedingungen, die sie selbst schaffen und sind. So ist jede Entschleierung letztlich immer auch ein Medienkunststück mit dem Geheimnis, welches – seltsamerweise – im Falle einer Enthüllung auf das Enthüllte übergehen oder ihm eine Weile anhaften kann. Zumindest ist dies eine Hypothese für die häufig zu machende Beobachtung in der Naturforschung des 19. Jahrhunderts, dass das Entdeckte seine vormalige Rätselhaftigkeit für seine Entdecker häufig nicht ganz zu verlieren scheint. Die Vermutung ist, dass dies mit einer besonderen Erfahrung der Untersuchungsgegenstände als ästhetische Objekte verbunden ist, die in der Entdeckung das Rätselhafte nicht vernichtet, sondern mittransportiert. Klar scheint hingegen, dass die geheimnisvolle Ausstrahlung des Präsentierten u. a. auf seine Außerordentlichkeit und Bedeutsamkeit verweist. Zwei kurze Beispiele sollen dies exemplarisch illustrieren: Sieht man sich den Weg des Physiologen, Anatomen und Meeresforschers Johannes Müller (1801– 1858) zur Entdeckung des Planktons an, kommt man nicht umhin, die Betonung der Rätselhaftigkeit seiner mikroskopischen Präparate zu bemerken. Wiederholt bezeichnet Müller seine Untersuchungsmaterialien als »[r]ätselhafte Unbekannte des Meeres«, die auch nach ihrer Identifi zierung als schwebende Lebensform »durchaus dunkel und rätselhaft« bleiben (zitiert nach Lohff 1992, 38). Rätselhaftes und Merkwürdiges durchzieht auch die Arbeiten von Müllers Schüler Ernst Haeckel. In der »Natürlichen Schöpfungsgeschichte« von 1867 heißt es beispielsweise, dass Abstammungs- und Entwicklungslehre das Rätselhafte der Urzeugung wie der lebendigen Formenwelt ein- für allemal zerstört hätten. Natürlich: Einiges wie der Stammbaum des Protistenreichs sei »noch in das tiefe Dunkel gehüllt« (Haeckel 1867, 376) und einiges wird wohl auch in ewigem Dunkel verharren, weil uns »die letzten Ursachen […] freilich verborgen bleiben« (ebd., 295). Das auf ewig Unentdeckbare ist jedoch kein Grund zu Frustrationen, denn das Entdeckte ist doch so herrlich und wunderschön. Haeckel schreibt von der zweifelhaften Natur der Geißenschwärmer (ebd., 382), vom wunderbaren wie »merkwürdigen Bathybius« (ebd., 165), von der »räthselhaften Natur« der Protisten (ebd., 383). Haeckels Welt erscheint als eine Natur der ans Licht gezogenen Geheimnisse, die erst im klaren Glanz der fortschrittlichen Vernunft ihre ganze wunderbare Rätselhaftigkeit entfaltet. Solche und weitere Reden von wunderbaren wie merkwürdigen Geheimnissen durchziehen die wissenschaftlichen, amateur- wie populärwissenschaftlichen Texte des 19. Jahrhunderts. Einen Brennpunkt der Erregung bildete das Meer mit seinen unvorstellbaren Tiefen und außerordentlichen Verborgenheiten. Die submarine Fauna und Flora erschien als vom Geist der Metamorphosen geprägt. Insbesondere hybride Lebewesen wie Medusen oder Seeanemonen konfrontierten die herrschende Ordnung der Gattungen und Geschlechter mit einem Reich der Phantasmagorie und des Traumes. Tierisches, Pfl anzliches und Mineralisches schienen ineinander übergehen zu können, dem Tod entkam man durch Gestaltwandel. Kurz: Das Meer wurde im 19. Jahrhundert zum Paradigma für die geheimnisvolle Wun-

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derwelt der Naturwissenschaft, das Lüf ten sei ner Geheimnisse zum festen Topos. Die Gründe für diese moderne Meerespassion sind außerordentlich vielfältig. Sie haben natürlich zuallererst mit neuen Entwicklungen in den Wissenschaften und Erfi ndungen und Verbesserungen auf dem Gebiet der Forschungsinstrumentarien zu tun (vgl. Deacon 1997). Warum sich jedoch das Meer im Zuge dieser verschiedenen ineinander greifenden Wissensprozesse als ideales und offenbar dauerhaft resistentes Refugium des Geheimnisvollen und mächtige Evokationsquelle überwältigender Phantasien etablieren konnte, geht daraus nicht zwingend hervor. Man hat es vielmehr mit einer neuen Wahrnehmung des Meeres zu tun, mit bemerkenswerten Aufmerksamkeitsverschiebungen, die auf ein Element treffen, das offenbar für die besonderen Interessen und Stimmungen der Zeit absolut Abb. 2: »Koralle« aus Brehms Tierleben absorbierend gewesen sein muss. (1882–1887). Siehe auch Farbteil, Jahrhunderte lang war das Meer eine flüs- S. 300. sige Oberfläche über dem nachtschwarzen Abgrund. Mit Geschick und Verstand konnte man das Reich der Wellen zwar befahren, in der Tiefe jedoch wartete nichts anderes auf einen als der Tod. Die Zahl der Naturforscher, die sich vor 1800 mit den Meerestiefen beschäftigten, ist verschwindend klein. Die Kultur der Unterhaltung kannte zwar Grotten, Wasserspiele und Fischteiche, narrative oder visuelle Formen einer maritimen Perspektive waren jedoch in die allgemeine Weltsicht nicht integriert. Mit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts entfaltete sich dann ein imaginatives Potential einer nach innen wie in die Tiefe expandierenden Meeresnatur in voller kultureller Breite. Exemplarisch lässt sich dies an Werken wie Victor Hugos »Die Arbeiter des Meeres« (1866), Jules Vernes »Zwanzigtausend Meilen unter dem Meer« (1870), Gustave Flauberts »Die Versuchung des Heiligen Antonius« (1874), vor allem aber an Jules Michelets Evangelium des Meeres, »La Mer« (1861), ablesen. Sie alle zeigen das Meer als Materialisation des Infi niten und Abundanten, als Ursprung allen Lebens gleichsam wie als eine dem Menschen unerreichbare Totalität des ganz Anderen. Das Sehen und Erkennen dieser Welt, kann, weder bei Johannes Müller noch bei Ernst Haeckel, das Geheimnis vollständig auflösen; bei Jules Verne versetzt es in Ekstase: »Wir blieben stumm und rührten uns nicht […]. Auf einmal brach taghelles Licht durch zwei längliche Öff nungen zu beiden Seiten des Salons. Das Wasser des Ozeans war

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zu sehen, lebhaft beleuchtet durch einen elektrischen Schein. Zwei Glasscheiben nur trennten uns vom Meer. […] Welch ein Anblick! […] Auf jeder Seite blickte ich durch ein Fenster in unerforschte Abgründe. Das Dunkel im Salon machte die Helle draußen noch lichter, und wir schauten hinaus, als wäre das blanke Glas die Scheibe eines gewaltigen Aquariums […].« (Verne 1976, 192–194) »›[Da] ein Hornfi sch‹, rief ich aus. ›Und zwar ein chinesischer Hornfi sch‹, fügte Ned Land hinzu. ›Art der Hornfische, Familie der Scleroderme, Ordnung der Haftkiefer‹, murmelte Conseil. […] Inmitten der spielend hin- und herschnellenden Scharen, die an Schönheit, Glanz und Schnelligkeit wetteiferten, erkannte ich den grünen Lippfi sch, […] eine Meergrundel mit runder SchwanzAbb. 3: Jules Verne: »Zwanzigtausend Mei- flosse, von weißer Farbe und violett gesprenkelt auf dem Rücken, […] leuchlen unter Meer« (1870), Illustration: de tende Azuras, deren Name allein schon Neuville. eine Beschreibung ist. […] Unsere Bewunderung wollte nicht nachlassen. Entzückte Ausrufe rissen nicht ab. […]« Plötzlich schlossen sich die eisernen Luken wieder. »Das bezaubernde Bild verschwand. Aber noch lange war ich wie im Traum.« (Ebd., 201–203) Hier haben wir auf kleinem Raum alles beisammen: das geheimnisvolle Dunkel und die wundersame Erleuchtung, die unendliche Fülle und das infi nit Unbekannte, grenzenloses Staunen und eine klassische wissenschaftliche Reaktion darauf, das Klassifi zieren. »Zwanzigtausend Meilen unter Meer« ist ein sorgfältig recherchiertes Biologiebuch, das das Meeresleben bis in die kleinsten Farbnuancen und taxonomischen Besonderheiten verfolgt. 2 Verne benutzt den Jargon der Handbücher und Lexika, der Tabellen und wissenschaftlichen Zeitschriften ebenso wie die Poesie und Metaphorik einer sich neu formierenden maritimen Wissenschaftssprache. Deren besondere Artifi zialität lag einerseits in der nüchternen Künstlichkeit im Sinne eines objektiv Abstrakten, das man noch heute allgemein von wissenschaftlichen Texten erwartet, andererseits in der kunstvollen Schilderung wunderbarer Geheimnisse. Die meeresbiologisch forschende scientifi c community des 19. JahrDies ändert allerdings nichts an der Tatsache, dass Verne viele Irrtümer unterliefen; vgl. dazu Ellis 1997. 2

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hunderts war überaus erfi ndungsreich bei der Benennung und Beschreibung ihrer frisch entdeckten Wassergeschöpfe und schwankte zwischen einem prachtentfaltenden Stil der Wunderkammer und den traumwandlerischen Lyrismen einer Milchblutnacht. Zum Vergleich hier eine Stelle aus Matthias Jakob Schleidens Abhandlung »Die Pfl anze und ihr Leben« von 1848, die Verne als Vorlage diente: »Wir tauchen nieder in den flüssigen Krystall des indischen Meeres, und es eröff net sich uns der wunderbarste Zauber aus der Märchenwelt unserer Kinderträume. Die seltsam verästelten Gebüsche tragen lebendige Blumen. […] Das Colorit ist unübertreffl ich […]. Wenn nun der Tag sich neigt und die Schatten der Nacht auch in die Tiefe greifen, da leuchtet dieser phantastische Garten wieder auf in neuer Pracht, Millionen glühender Funken, mikroskopisch kleine Medusen und Krebse tanzen wie Leuchtwürmchen durch das Dunkel, in grünlichem Phosphorlicht schwankt die am Tage zinnoberrote Seefeder (Veretillum cynomorium) […] und um die Wunder dieser Zaubernacht zu vollenden, zieht sanft leuchtend eine sechs Fuß große Silberscheibe, der Mondfisch (Orthagoriscus mola) durch das Gewimmel der kleinen funkelnden Sterne.« Wie diese beiden Beispiele exemplarisch illustrieren scheint im 19. Jahrhundert eine besondere Regie des Geheimnisvollen verbreitet, die den Eigenarten des Meeres perfekt angepasst war. Dieses maritime Geheimnisvolle inszenierte sich mit bizarren, grazilen, grotesken und monströsen Formen, Farbarrangements und Farbmetamorphosen sowie als eine gekonnte Symbiose aus Licht und Schatten. Licht fällt auf das Meer und verwandelt es im Glanz der Erkenntnis in ein Paradies aus Licht und Liebe. 3 Je mehr Licht die Forscher jedoch in diese lebendige Unendlichkeit sendeten, desto mehr erschloss sie sich als eine der letzten und dunkelsten Unbekannten, die die Welt im ausgehenden 19. Jahrhundert kannte. Die große Meerespassion lebte zwar von den Visionen himmlischer Gärten des Ozeans, doch diese konnten jederzeit von einer Dramaturgie des Abgrunds und des Abgründigen heimgesucht werden. Das menschliche Auge, so wurde Arthur Mangin eingangs zitiert, war in diese grausige Nacht eingedrungen. Die emotionale bzw. ästhetische Ambivalenz des Meeres ist von einer interessanten gleichfalls ambivalenten Projektion begleitet. Einerseits erscheint das Meer als ideales Reservoir für alle imaginativen Tauchgänge in nächtlich-schwarze Ungewissheiten. Das Meer war so groß und so unbekannt: Was konnte nicht noch alles in seinen Tiefen, in ewigem Dunkel verborgen sein? Monster, Urtiere, Giganten, unvorstellbare Alpträume – die Meeresnacht schien alle Fragen verschlingen zu können, die sich ein vernünftiger Geist nicht stellen konnte. Andererseits und gleichzeitig avancierte das Meer zum Ort der Offenbarung, zu einem Schrein, der alle Antworten zu enthalten schien. Wo liegt der Ursprung des Lebens? Wie Wahrhaft verehrungsvoll beschreibt Jules Michelet den Ocean in seiner Fruchtbarkeit und schöpferischen Größe als geheimnisvolle Persönlichkeit, in dessen friedlicher Nacht das Leben heranschwimmt wie im Traum (Michelet 1987, 55, 90). 3

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kommt es zum Übergang von Materie zu Geist? Wie entsteht die Vielfalt der Arten? Im Verlauf des 19. Jahrhunderts – und zwar schon vor Darwins »Origin of Species« (1859) – formierte sich eine Suche nach den Urgestalten, die das Geheimnis des Lebens enthielten, nach dem Bild eines uranfänglichen Meeres, in welchem die Erstgeborenen der Schöpfung wandelten. Mit der Meerespassion erhielt das letzte aller Geheimnisse, dieses größte aller Mysterien zumindest für einige Jahrzehnte einen festen Ort: den Meeresboden, auf dem sich alle Antworten nach dem Beginn der Zeit fi nden lassen würden. Zusammenfassend ist festzuhalten, dass sich im 19. Jahrhundert vielfältigste Verbindungen zwischen der Konjunktur eines wissenschaftlich Geheimnisvollen und der Entdeckung des Meeres und dem Beginn der Meeresforschung entfalteten. Für den hier verhandelten Zusammenhang sind insbesondere die Strategien der Ästhetisierung von Wahrnehmungsbedingungen und Präsentationsformen einer im Prinzip nicht zugänglichen Natur interessant. Alles, was dennoch einen Blick in diese Unterwasserwelt verschaff t, ist entweder ein immersives Simulationsarrangement oder verlangt die Einkapselung des menschlichen Beobachters in einen wasserabweisenden und damit letztlich immer wasserfremden Kokon. So stehen alle Berichte und Darstellungen vom Meer und seinen Bewohnern unter dem Einfluss einer spezifischen Medialität der maritimen Observationsbedingungen und Forschungsinstrumentarien, die jeder virtuellen wie realen Tauchfahrt sowohl einen Überschuss als auch ein Defi zit an sinnlichen Dimensionen einschreiben. Zwei Gegenstände, die diese medialen Bedingungen musterhaft vorführen, sind das Aquarium und die Tauchgeräte. Beide ermöglichen ein unmittelbares Eindringen des menschlichen Auges in eine vormals undurchdringliche Nacht oder simulieren sie zumindest. Mit beiden ist ein wissenschaftlicher Paradigmenwechsel verbunden, der die Aufmerksamkeit vom Klassifi kationsbedürfnis toter Präparate zum Studium des Lebendigen in seiner eigenen Umwelt verschiebt. Der entscheidende Unterschied zwischen beiden besteht darin, dass das Aquarium in kürzester Zeit zu einem Bestseller der Unterhaltungskultur avancierte (vgl. Brunner 2003), während die leibliche Anwesenheit unter Wasser lange wenigen Menschen vorbehalten blieb. Wenn man von Aquarien spricht, muss man zwei Formen unterscheiden. Zum einen die großen Aquariumshäuser, denen nicht selten wichtige Forschungsstationen angegliedert waren, zum anderen die kleineren Glaskästen, die Forschern wie Amateuren zur Beobachtung von Fischen oder als Raumdekoration dienten. Von ihrer Funktion her, wissenschaftliches Experimentallabor, Besucherattraktion oder modisches Salonstück, lassen sich diese Formen zweifellos trennen. Was jedoch die Produktions- und Rezeptionsbedingungen angeht, gibt es eine Reihe von Korrespondenzen, die auch die wissenschaftliche Aquaristik mit Aspekten einer dem Vergnügen verbundenen Sensationsästhetik verbinden. Diese Sensationsästhetik basiert u. a. auf einer den Blick mobilisierenden theatralen wie kinematischen Inszenierung des Observationsraumes.

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Mit dem Begriff der Inszenierung ist keineswegs die Decouvrierung einer verfälschten bzw. verfälschenden Sichtweise angestrebt. Gemeint ist lediglich, und das liegt auf der Hand, dass der Blick in eine bislang verborgene Unterwasserwelt via Aquarium eine komplexe kulturelle Konstruktion verlangt. Aquarien sind moderne technische Medienarrangements und bringen, wie Medien dies eben tun, eine Form gesteigerter Erfahrung mit sich. 4 Aquarien verdichten und vervielfältigen das vermeintlich ›nur‹ Observierte zu einer Form erlebter, erregender Wirklichkeit, in der sich natürlicher und medialer Raum derart verflechten, dass sich klassische Differenzen zwischen einem so genannten Realen und Fiktiven vergleichgültigen. Eine Konsequenz davon ist, dass man immer wieder auf renommierte Naturwissenschaftler wie Amateurforscher und Meereskünstler triff t, die eins ums andere Mal, vor ihren Abb. 4: »The Plumose« (Seeanemone) kleinen Glaskästen sitzend, von den Wun- aus Philip Henry Gosse, The Aquarium (1854). Siehe auch Farbteil, S. 301. dern des Meeres raunen. 5 Eine andere Konsequenz ist, dass sich die Imagination des Beobachters von ihrem panoramatischen Stammplatz löst und zu wandern beginnt. Aquarien stellen in Aussicht, Szenen einer unterseeischen Welt beiwohnen zu kön nen. Das Versprechen, eine geheimnisvolle Welt zu entdecken, geschieht um den Preis einer Vertikalisierung des Blickes, eine ästhetischen Erfahrung, mit der die wissenschaftliche Wahrnehmung zusammenfällt. Man ist auf Augenhöhe mit dem Unbekannten, seiner eigenen empirischen Örtlichkeit seltsam entkleidet. Ein Beispiel für die Bedeutsamkeit und kulturelle Reichweite dieser virtuellen Taucherfahrung ist die Etablierung genuin maritimer Perspektiven in wissenschaftlichen Illustrationen. Wie Stephen Jay Gould in Anlehnung an Martin Rudwick bemerkt, geht die Verbreitung des Aquariums mit dem Entwurf von neuen Unterwasseransichten einher (vgl. Gould 1998, 57–73). 4 Medien sind nach der Defi nition K. Ludwig Pfeiffers, der diese Arbeit folgt, Ermöglichungsformen gesteigerter Erfahrung; vgl. Pfeiffer 1999. 5 Ein exemplarisches Beispiel bieten die Arbeiten von Philip Henry Gosse (1854, 1856, 1860, 1865), der eine maßgebliche Rolle bei der Verbreitung der Aquariumsbegeisterung spielte.

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Abb. 5: »Unterseeische Landschaft« aus Georg Hartwig, Das Leben des Meeres (1862).

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Abb. 6: Eine typische Prä-Aquariumsperspektive aus Johan Jakob Scheuchzer, Physica Sacra (1730).

Das innovative Potential des aquaristischen Visualisierungsstils erschließt sich allerdings nur im historischen Rückblick, denn uns Heutigen erscheint eine Unterwasserwelt gar nicht anders darstellbar, als eben unter Wasser. Der Prä-Aquariumsstandard wissenschaftlicher Darstellungen von Meerestieren jedoch sah vor, diese außerhalb oder auf dem Wasser anzuordnen, sie also aus der Perspektive eines Beobachters, der sich auf dem Strand befi ndet, zu zeigen. Offenbar bereitete es große Schwierigkeiten, eine Perspektive einzunehmen, die nicht den menschlichen Lebensbedingungen entsprach, und interessanterweise erschien gerade diese ›nicht-menschliche‹ Perspektive, nachdem sie erst einmal verbreitet war, allgemein als die einzig natürliche. Festzuhalten ist in diesem Zusammenhang, dass Aquarien einen Untersuchungsraum generierten, der von Beginn an ein epistemisches Eigenleben führte und dies nicht nur, weil dem Betrachter sein ›Ort‹ entzogen wurde, indem sich seine Sichtachse vertikalisierte. Hinzu kam vielmehr auch eine Verzeitlichung des Wahrnehmungsbildes, mit der die Aquariumsästhetik an die Bilderfahrung der vorkinematografi schen Künste anschloss. Die Farbspiele und Bewegungsbilder der Aquarien waren in erster Linie Zeiterfahrungen, die mit den künstlerischen wie wissenschaft-

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Abb. 7: Aquarien als »lebende Bilder«, aus La Nature 583 vom 2. August 1884, 144.

lichen Bestrebungen des 19. Jahrhunderts, die Bewegung als universelles Lebensprinzip in all ihren Dimensionen zu ergründen, perfekt konvergierten. ›Tableaux Vivantes‹ wurden Aquarien auch genannt, lebende Polyramen. Dem Verlust der selbstbestimmten Zeit der Bildbetrachtung stand die Intensität des Gesehenen gegenüber, das eine kinematische Magie avant la lettre entfaltete. 6 Der kinematische Effekt der Aquariumsästhetik passte kongenial auf das große Mysterium der Meeresfaszination, seine metamorphotische Kraft. Sie wurde gesteigert durch die jedem bewegten Bild inhärente Eigenschaft, unfassbar zu sein. So lösen die Aquariumsbilder bemerkenswerte Irritationen aus, die teilweise an hypnotische Zustände zu grenzen schienen. Der »Ozean auf dem Tische«, so lässt sich begründet vermuten, ist nur zum Teil beschrieben als mobile Forschungsstation oder Natur im Glase. Vor allem erweist er sich als ästhetische Inszenierung einer unendlichen Leerstelle, als ein Nicht-Ort, der sich in dem Moment, in dem er für die menschlichen Sinne wahrnehmbar wird, in ein Spielfeld der Imaginationen verwandelt. Diese wissenschaftsästhetische Transformationsleistung ist eng mit der bereits erwähnten Hell-Dunkel-Regie verbunden. Sie entwirft, so die These, eine Art Schlüsselparabel auf die Theatralisierung jener unzugänglichen Fremdheit, die das Geheimnis im Zentrum der Fackeln tragenden modernen Wissenschaft verankert. Zum Abschluss sei ein kurzer Ausblick auf die Meeresforschung im 20. Jahrhundert skizziert. Seit knapp hundert Jahren versuchen sich Meeresforscher mithilfe verschiedenster Tauchgeräten die Meerestiefen zu erschließen. Doch trotz millionenfacher Tauchgänge betonen Meeresforscher nach wie vor, dass der Wasserpla6

Zur Magie des Kinos vgl. Morin 1958.

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net Erde weitgehend unerforscht sei. Im Jahre 2005 kennen wir vom Meeresgrund nicht viel mehr als ein Territorium von der Größe einiger Fußballfelder; die Tiefsee mag 500.000 oder auch zehn Millionen verschiedene Arten beherbergen, wir wissen es nicht.7 So war und bleibt das Meer einer der größten Geheimnisräume, ästhetisch verbunden und imaginär verschmolzen übrigens mit jener anderen großen ungeheuerlichen Finsternis, dem Weltraum. Die Wissenschaften vom Meer haben nie aufgehört, Geheimnisse zu lüften. Sie durchforschen ein Infi nites und Abundantes, dass, auch wenn man ihm mit Tiefseeschnellbooten und 1000-WattLampen auf den Leib rückt, nichts von seiner rätselhaften Magie verliert. In ihrem völligen Anderssein ist die neu eroberte Welt wirklich und unwirklich zugleich. Eine besondere Pointe besteht nun darin, dass Meeresforschung wie alle modernen Wissenschaften eine entschleiernde Tageswissenschaft ist: Sie bringt Licht in die Nacht des Unwissens und lüftet Geheimnisse. Dementsprechend ist sie ein »Wissenstyp, der sich dem Licht verschrieben hat«, dies allerdings auch in einem ganz handfesten Sinne: Ihr Forschungsgebiet liegt nicht nur in symbolischer Dunkelheit, sondern zu 78,5 % in schwärzester Nacht. 8 Wenn es jedoch um das Erkennen des Dunklen geht, so Hartmut Böhme, bringt es nichts, die Fackel der Aufklärung ins Dunkle zu bringen, da diese das Dunkle nicht erkennt, sondern nur vertreibt: »Wir ahnen kaum, was das Wissen des Dunklen sein könnte, weil wir Wissen mit Licht identifi ziert haben. […] Das Geheimnis ist aber nicht der Gegensatz zur Auf klärung, sondern ihr Anderes. Das Dunkle ist nicht die Abwesenheit des Lichtes, sondern eine andere Wesenheit und Qualität. Für das Geheimnis heißt das: um es zu erkennen, benötigen wir eine Form des Wissens, die das Geheimnis im Akt des Erkennens anerkennt und wahrt, aber nicht beseitigt. Denn das Tageswissen ist immer dort, wo das Geheimnis gerade nicht ist. Und rückt das Wissen in das Geheimnis ein, ist dieses schon wieder fort. Die große Frage ist: Kann es ein Wissen der Nacht und des Geheimnisses geben, worin diese zugleich begriffen und gewahrt, erklärt und anerkannt werden?« (Böhme 1997, 66). Das Meer, so könnte man Böhmes Frage abschließend wenden, kann als ein prädestiniertes Medium gesehen werden, das diese Bedingungen oder Bedingtheit moderner Erkenntnis bei jedem Tauchgang performativ vorführt. Ebenso wenig, wie sich das dunkle Geheimnis als solches an den Tag bringen lässt, erkennt man die unterseeische Welt, indem man das Licht einschaltet. In den Weiten der Tiefsee regiert eine ganz eigene Licht- und Farbenwelt, die man in ihren genialen Eigenarten wohl nur im Dunkeln sehen bzw. eben nicht sehen kann. Interessanterweise ist nämlich auch im Dämmerlicht des Meeres, ja sogar in den tiefsten Schichten der 7 Zum aktuellen Forschungsstand vgl. u.a. die Web-Sites von CeDAMAR (Census of the Diversity of Abyssal Marine Life) und Census of Marine Life International. 8 Von der gesamten Biosphäre der Erde liegt nur ein halbes Prozent auf dem Land und in der Luft. Flachwasser bis 200 Meter Tiefe stellt 21 % des natürlichen Lebensraums, die Tiefsee aber 78,5 %.

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unterseeischen Welt, Tarnung angesagt (vgl. Kinzer 1999, 36 ff.). Aus diesem Grund dominieren bei den Tiefseebewohnern schwarze und silbrige Farben, bei den Garnelen hingegen rote ›Kleidung‹, denn Meerwasser absorbiert Rot schon in einer Tiefe von nur zehn Metern aus dem Farbspektrum des Lichts. Das samtige, kein Licht reflektierende Schwarz hingegen fi ndet sich oft nur auf dem Rücken der Tiere, während die Seiten silbrig schimmern. So wirken die Flanken wie Spiegel, die das restliche Licht der Dämmerzone oberhalb von 800 Meter Tiefe in gleicher Helligkeit und Farbe reflektieren – ein wahres Zauberkunststück: der Fisch erscheint unsichtbar! Aus einem ähnlichen Grund ist die Bauchseite vieler Tiefseefische stark aufgehellt. Ihre oft unter ihnen schwimmenden Jäger suchen ihre Beute als Schattenriss gegen das von oben einfallende Dämmerlicht; ein heller Bauch jedoch verbirgt das Tier vor seinem in der Tiefe lauernden Feind. Die Lichtregie der Tiefseebewohner kennt jedoch nicht nur die Verschmelzung mit Licht- und Schatteneffekten, sondern auch die Blendung. So wehren zahlreiche Garnelen und Tintenfi sche, aber auch der Leucht-Hering Searsia ihre Angreifer dadurch ab, dass sie zum ›Flammenwerfer‹ werden. Sie stoßen ein Leuchtsekret aus, das bis zu vier Sekunden leuchten kann, während sie in die lichtlosen Weiten entschwinden. Die unterseeische Welt ist also nicht für den Menschen und sein bevorzugtes Erkenntnisorgan, das Auge, gemacht. Im kalten Licht unserer Scheinwerfer verwandeln sich die Geschöpfe der Tiefsee in fahle Gespenster, blutrote Tiefseewölfe und andere Horrorgestalten. So zumindest schildert der amerikanische Naturforscher William Beebe seine Erfahrung, als er 1934 als erster Mensch in einer 1,50 Meter großen Kugel in eine Tiefe von 923 m vordrang. Die Farbtafeln, die nach seinen Skizzen und den Mitschriften seiner Telefonate mit dem Mutterschiff angefertigt wurden, zeigen eine seltsame Traumwelt. Sie erscheint als der eingefrorene Moment, an dem das Unbekannte erscheint und wir dennoch nicht wirklich wissen, was wir sehen. Beebe spricht davon, wie schwer es für ihn gewesen sei, die Welt, die sich ihm in der Tiefe bot, für die über Wasser Gebliebenen zu übersetzen (Beebe 1934, 675, orig. translate). Sein Bericht zeigt jedoch aufs deutlichste, wie stark er selbst auf eine Übersetzung angewiesen war, um die Bilder, die vor seinem Bullauge vorbeizogen, überhaupt realisieren zu können. Beebe erleidet im Tauchgang eine eklatante Sehstörung, die seine Wahrnehmung auf den Vorstellungskreis einer düsteren Unterwelt ausrichtet: »As I have said, the fi rst plunge erases to the eye all the comforting warm rays of the spectrum. The red and the orange are as if they had never been, and soon the yellow is swallowed up in the green. Although the cheerful rays are only one-sixth of the visible spectrum, yet, when they are winnowed out at a hundred feet or more, all the rest belongs to chill and night and death […]« (Ebd., 676, Hervorh. von mir.) Farbtafel XV (Abb. 9, S. 231 u. S. 300) fasst diesen Eindruck zusammen: »Big Bad Wolves of an Abyssal Chamber of Horrors« heißt die Überschrift, dann geht es

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Abb. 8: »Geisterfi sch«, in: William Beebe, A Half Mile Down, National Geographic Dec. 1934. Siehe auch Farbteil, S. 300.

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Abb. 9: »Tiefseewölfe« und andere Horrorgestalten« (Carnivores of a Lightless World), in: Beebe (1934). Siehe auch Farbteil, S. 300.

weiter: »Often absurdly grotesque are the creatures seen from the Bathysphere. The Telescope-eyed Fish (Opisthoproctus [o. re.]) suggests an aquatic baboon; while the Shining-toothed Angler (Dolopichthys, [u. li.]) recalls the Cheshire Cat in ›Alice in Wonderland‹ whose grin was the last part of it to disappear!« (Ebd., 699) Trotz der Möglichkeit, diese fremden Fische korrekt klassifi zieren und benennen zu können, ist nicht ganz klar, was vor uns eigentlich abgebildet wurde: ein Wunderland böser Wölfe, afrikanische Fischmasken, ein Kabinett mittelalterlicher Höllenausgeburten oder das Personal einer Schauergeschichte? Für welche ästhetische Vorlage man sich auch immer im Einzelnen entscheiden mag, bemerkenswert ist, dass der Lichtstrahl der Bathysphere kein Rätsel enthüllt, sondern die Um risse eines neuen ergreifenden Geheimnisses zeigt. Dieses Geheimnis eröff net eine neue Kategorie: Es ist nicht von dieser Welt. So schließt denn auch Beebe seinen Bericht: »The only other place comparable to these marvelous nether regions must surely be naked space itself, out far beyond atmosphere, between the stars, where sunlight has no grip upon the dust and rubbish of planetary air, where the black nessof space, the shining planets, comets, suns, and stars must really be closely akin to the world of life as it appears to the eyes of an awed human being in the open ocean a half mile down.« (Ebd., 704)

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Natascha Adamowsky

Literatur Beebe, William (1934): A Half Mile Down. Strange Creature, Beautiful and Grotesque as Figments of Fancy, Reveal Themselves at Windows of the Bathysphere. In: The National Geographic Magazine,Vol. LXVI., 6, 661–704. Böhme, Hartmut (1997): Das Geheimnis. In: Neue Züricher Zeitung vom 20./21. Dezember 1997, 65–67. Brunner, Bernd (2003): Wie das Meer nach Hause kam. Berlin. Deacon, Mararet (1997): Scientists and the Sea 1650–1900. A Study of Marine Science. ed. Aldershot. 2. Auflage (zuerst 1971). Ellis, Richard (1997): Seeungeheuer. Mythen, Fabeln, Fakten. Basel, Boston, Berlin. Gosse, Philip Henry (1854): The Aquarium: An Unveiling of the Wonders of the Deep Sea. London. Gosse, Philip Henry (1860): The British Sea-Anemones and Corals. London. Gosse, Philip Henry (1859): Evenings at the Microsope; or, Researches among the Minuter Organs and Forms of Animal Life. London. Gosse, Philip Henry (1856): Tenby: A Sea-Side Holiday. London. Gosse, Philip Henry (1865): A Year at the Shore. London. Gould, Stephen Jay (1998): Leonardo’s Mountain of Clams and the Diet of Worms. Essays on Natural History. London. Hadot, Pierre (1982): Zur Idee der Naturgeheimnisse. Beim Betrachten des Widmungsblattes in den Humboldtschen› Ideen zu einer Geographie der Pflanzen. In: Abhandlungen der Geistesund Sozialwissenschaftlichen Klasse 8. Kinzer, Johannes (1999): In ewiger Nacht und Kälte. Sehen, Riechen, Hören, Sex: Die Lebensund Überlebensstrategien der Tiefseebewohner wirken grotesk, sind aber effizient. In: mare No. 13, April/Mai 1999, 36–44. Lohff , Brigitte (1992): Die Entdeckung Der Welt Des Planktons. In: Historisch Meereskundliches Jahrbuch. Ed. e.V., Deutsche Gesellschaft für Meeresforschung. Berlin, Hamburg, 35–44. Mangin, Arthur (1866): Der Ocean, seine Geheimnisse und Wunder. Berlin. (Originalausgabe: Les Mystères de l’Ocean, 1864) Michelet, Jules (1861): Das Meer. Frankfurt am Main. (Originalausgabe: La Mer, 1987) Morin, Edgar (1958): Der Mensch und das Kino. Eine anthropologische Untersuchung. Stuttgart. (Originalausgabe: Le Cinéma ou l›homme imaginaire). Pfeiffer, K. Ludwig (1999): Das Mediale und Das Imaginäre. Dimensionen Kulturanthropologischer Medientheorie. Frankfurt/M. Simmel, Georg (1992): Das Geheimnis und Die Geheime Gesellschaft. Georg Simmel. In: Rammstedt, Otthein (Hrsg.) Gesamtausgabe Soziologie. Untersuchung über die Formen der Vergesellschaftung., Bd. 11, Frankfurt/M. Vernes, Jules (1976): Zwanzigtausend Meilen unter dem Meer. 2 Bde., Zürich. 1. Auflage franz. (1870).

Zur Rolle der Ästhetik in visuellen Wissenschaftskulturen Das Beispiel der Spektroskopie im 19. Jahrhundert Von Klaus Hentschel

Das Thema dieses Beitrages ist die Rolle von Ästhetik in visuellen Wissenschaftskulturen. Auch wenn ich mich in meinen Beispielen immer wieder auf Episoden aus der Geschichte der Spektroskopie im 19. Jahrhundert beziehen werde, möchte ich doch mit einigen allgemeiner gehaltenen Reflexionen darüber beginnen, was es heißt, von visuellen Kulturen in Naturwissenschaft und Technik zu sprechen. Auf die historiographischen Implikationen dieses Ansatzes werde ich am Ende zurückkommen. Damit wird hoffentlich auch ein Bogen zu anderen Beiträgen gespannt, in denen es immer wieder auch um solche visuelle Wissenschafts-Kulturen in anderen Kontexten und Zeiten gehen wird.

I. Begriffsklärung zu ›Ästhetik‹ und ›Visuelle Wissenschafts-Kultur‹ ›Ästhetik‹ wird bekanntlich in zwei ganz verschiedenen Kontexten gebraucht: a) in der klassischen Bedeutung als ›Lehre vom Schönen‹, aber auch allgemeiner b) in einem breiteren Sinn als Theorie und Philosophie der sinnlichen Wahrnehmung. Statt hier die eine gegen die andere Konnotation auszuspielen, werde ich in meinem Beitrag auf beide Aspekte eingehen: sowohl auf ausdrückliche Vorkommnisse des Prädikats ›schön‹, das gerade in Bezug auf Spektren wegen ihrer überwältigenden Wirkung auf den Betrachter sehr oft angebracht wird, als auch auf das breitere Umfeld kultureller Normen und Praxen, die solche Urteile in bestimmten Wissenschaftsbereichen so häufig machen, während sie in anderen nur schwach ausgeprägt sind. Zur Ästhetik der Wissenschaften in diesem zweiten Sinn gehört etwa auch die Frage, wie die Visualität ihrer Praktiker entsteht und von einer Generation an die andere weitergegeben wird. Welche Prägungen typischerweise vorliegen, wenn Wissenschaftler in stark visuelle Bereiche der Naturwissenschaften gehen oder diese womöglich in ihrer eigenen Arbeit allererst ins Leben rufen, kann man prosopographisch anhand systematischer Suche nach Gruppenmerkmalen und auch biographisch durch Einzelfallstudien untersuchen: von beidem werde ich kurze Ausschnitte geben. Ein Nebenresultat meines Ansatzes ist es, künstliche Grenzen zwischen wissenschaftlicher Praxis und alltagsweltlichen Kontexten der Akteure

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niederzureißen: denn vielfach sind es letztere, die prägend für erstere sind. Am Beispiel von Johann Jakob Balmer, einem Schweizer Mathematiklehrer Ende des 19. Jahrhunderts, werde ich dies exemplifi zieren. Man könnte hier geradezu von einer ›Ästhetik von unten‹ sprechen, unter Anspielung auf Gustav Theodor Fechner (1801–1887), der damit das Schönheitsempfi nden in Bezug auf Gebrauchsgegenstände oder wissenschaftliche Objekte gegen eine schöngeistige ›Ästhetik von oben‹ abgrenzte (Fechner 1876, Allesch 1987, Kösser 2003). Nicht von einer Ästhetik als Teildisziplin der Philosophie, sondern von einer ›Ästhetik außerhalb der Ästhetik‹, mitten in der alltagsweltlichen und alltäglichen wissenschaftlichen Praxis wird mein Beitrag handeln.1 Nun etwas zum zweiten Kernkonzept meines Beitrags: den ›visuellen Wissenschaftskulturen‹. Sie alle werden zwar ein Vorverständnis dieses Konzepts haben, aber bei näherer Befragung würde sich ohne Zweifel eine verwirrende Vielfalt der Bedeutungen zeigen, die auch in diesem illustren Kreis mit dem Stichwort ›visual science culture‹ verbunden werden. Ist damit allgemein das Vorherrschen des Gesichtssinnes gegenüber anderen gemeint oder spezieller die überragende Bedeutung bestimmter Repräsentationsformen wie etwa Tafeln Photographien oder Film, vielleicht sogar nur die digitale Medienbesessenheit der heutigen virtuellen Computerwelten? Bei manchen von Ihnen mag dieser Terminus ›visual culture‹, der in letzter Zeit im Anschluss etwa an Bruno Latour oder Barbara Stafford geradezu inflationär gebraucht wird, 2 einen etwas faden Beigeschmack erhalten haben. Ich möchte dafür plädieren, dass wir zurück zur Kernbedeutung kommen, wie sie schon 1983 von der Kunsthistorikerin Svetlana Alpers am Beispiel der Niederlande des 17. Jahrhunderts so überzeugend exemplifi ziert worden ist. Alpers analysierte eben nicht nur (in traditionell-kunsthistorischer Manier) den Stil der niederländischen Malerei, sondern auch dessen Beziehungen etwa zur Kartographie und Landvermessung, zu den an der Anschauung ansetzenden Ausbildungsidealen eines Johann Comenius, zu den optischen Theorien der Zeit sowie z. B. zu den Experimenten Vermeers mit der camera obscura. 3 In Übertragung dieses integrativen Ansatzes sollte meiner Auffassung nach dann (und nur dann) von einer ›visuellen Wissenschaftskultur‹ geredet werden, wenn folgende vielschichtigen Kriterien erfüllt sind: 1 Vgl. dazu die in ähnliche Richtung gehenden programmatischen Bemerkungen über eine neue zukünftige Form der Disziplin Ästhetik in Welsch 1996, 135-177. 2 Ein trauriges Beispiel dafür ist der Visual Culture Reader (Mirzoeff 1998), in dem visuelle Kultur (miss)defi niert wird als eine »tactic with which to study the genealogy, defi nition and functions of postmodern everyday life« (ebd., 5) und gegen ein angeblich textfi xiertes, »textbound nineteenth century, […] classically represented in the newspaper and the novel« (ebd.). 3 Siehe Alpers 1983, xxv: »What I propose to study then is not the history of Dutch art, but the Dutch visual culture-to use a term that I owe to Michael Baxandall.« Die holländische Landschaftsmalerei folgt (laut Alpers) genauso einem tiefverwurzelten »mapping impulse« wie auch die zeitgenössische Kartographie eines Willem Jansz. Blaeu und die wissenschaftliche Geodäsie eines Snellius. »Used broadly, mapping characterizes an impulse to record or describe

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1. Hochschätzung von Mustererkennung und anderen, nur von geschulten Augen durchführbaren Leistungen, häufig gekoppelt mit einer 2. ästhetisierenden oder gar emotionalen Bindung an das repräsentierte Objekt, sowie oft auch unter 3. großer Aufwand beim Training von Studenten und Anfängern gerade in diesen skills der Gestalt-Erkennung, 4. hoher Rang nicht-verbaler Komponenten im Wertegefüge von Publikationen, 5. geradezu obsessives Bemühen um immer bessere Qualität bildlicher Registriermethoden (z. B. wiss. Photographie) sowie der Tafeln, mit denen diese Befunde präsentiert werden, 6. einem ausgebauten Kontext von Druckwerkstätten o.a. Vervielfältigungstechniken. 7. Einbeziehung sinnesphysiologischer oder psychophysischer Untersuchungen. 4 8. Viele der obigen Charakteristika werden sich auch in der privaten Lebenswelt der jeweiligen Akteure wieder fi nden. In der Spektroskopie sowie der wissenschaftlichen Photographie der ausgehenden 19. und frühen 20. Jahrhunderts, also den beiden Gebieten, anhand derer ich diese Kriterienliste in den vergangenen Jahren in allmählicher Exploration ihrer Facetten herauskristallisiert habe, sind alle diese Kriterien in mustergültiger Form erfüllt. Doch es ist mir wesentlich, hier gleich zu Anfang klarzumachen, dass der intendierte Anwendungsbereich des so defi nierten Konzepts visueller Wissenschaftskulturen viel weiter gespannt ist. Wir könnten genauso die Mineralogie oder Geologie seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert, die Botanik und Zoologie, die Stereochemie oder die Elektronenmikroskopie des 20. Jahrhunderts herauspicken. Bei der Auswahl meiner Beispiele habe ich besonders solche berücksichtigt, an denen sich die ästhetische Dimension der Wissenschaftspraxis gut veranschaulichen lässt.

II. Beispiele für die Facetten visueller Wissenschaftskultur Beginnen wir unser Durchkonjugieren dieser Kriterienliste beim letzten Punkt. Die einer solchen visuellen Kultur zuzurechnenden Personen werden häufi g auch außerhalb des professionellen Bereiches ihrer Wissenschaft ihre Vorliebe, ja Begeisterung für Visuelles pflegen, woraus sich für den Wissenschaftshistoriker übrigens

the land in pictures that was shared at the time by surveyors, artists, and printers, and the general public in the Netherlands.« (Ebd., 147) 4 Diese Dimension beinhaltet Beispiele wie etwa die sinnesphysiologischen Studien vieler Studenten von Helmholtz’, Listings physiologischer Untersuchungen von Augenbewegungen, Fraunhofers Studien zur spektralen Farbwahrnehmung oder Jules Janssens Experimente zur zeitlichen Verschmelzung rasch aufeinander folgender Sinneseindrücke.

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neue Möglichkeiten der Integration bestimmter Hobbys und Nebentätigkeiten in WissenschaftlerInnen-Biographien ergeben. Der ›Astronomer Royal for Scotland‹, Charles Piazzi Smyth (1819–1900), ist ein herausragendes Beispiel für einen solchen Menschen mit visueller Obsession weit über seinen berufl ichen Wirkungskreis hinaus. Sein Nachlass in Edinburgh quillt über von Zeichnungen, Aquarellen und Photographien, die u.a. während seiner wissenschaftlichen Expeditionen nach SüdAfrika, Teneriffa, Portugal, Italien, Ägypten, und Russland, entstanden sind.5 Aber auch zu Hause dokumentierte er fast ununterbrochen, so scheint es, das, was er um ihn herum beobachtete. So gibt es etwa eine umfangreiche Serie von Photographien der Wolkenformationen über seinem Alterssitz. Für diesen ›astronomer-artist‹, wie er zutreffend bezeichnet wurde, bestand ein fl ießender Übergang von der Landschaftsmalerei zur Dokumentation meteorologischer Erscheinungen wie hier des so genannten Zodiakallichts (Reflektion des Sonnenlichts durch feine Staubpartikel) oberhalb von Palermo (Abb. 1, S. 237, siehe auch Farbteil S. 302). Das »wonderfully novel panorama field of spectrum analysis«, war eine ganz normale Fort setzung seines allgemeinen Interesses an visuellen Mustern, wie es sich ebenso auch ausdrückt in seinen Zeichnungen von Mondkratern, Abdrücken von Farnblättern oder photographischen Dokumentationen kultureller Reliquien des alten Ägypten. 6 Allgemein anerkannt war Piazzi Smyths Expertise im astronomischen Zeichnen sowie in der Umsetzung dieser Zeichnungen in die verschiedensten Drucktechniken der Zeit, von Kupferstich über Aquatinta bis hin zur aufwendigen Farblithographie (natürlich auch in zahlreichen Tafeln eigener Publikationen).7 In einem Artikel von 1843 hat er speziell astronomisches Zeichnen und die Vor- und Nachteile der diversen Drucktechniken behandelt. 8 In einer Farbtafel (Abb. 2, siehe auch Farbteil S. 302) entwickelte Smyth eine ganz ausgefeilte Taxonomie verschiedener spektraler Farbwerte in jeweils mehreren Sättigungsgraden (beachte 5 Siehe Brück 1988, 371-408, für eine nützliche Bestandsübersicht; vgl. ferner Warner 1983 sowie Hentschel 2002. 6 Über Smyths Interesse an Meteorologie und sein Photoalbum von ›Clouds that have been at Clova, Ripon‹ (ROE, 20.154), siehe Thomas 1997, 88-91 und 229, sowie ebd., 94-96, und Schaaf 1980/81 über Smyths Photographie des ›Great Dragon Tree‹ auf Teneriff a. 7 In einem Nachruf auf Smyth beschreibt sein enger Freund Alexander Herschel »gift of great artistic skill in committing to paper, canvas, and even to frescoes, beautiful drawings, photographs, and colored paintings of the scenes of travel which he witnessed, and of sights which clouds, the heavens, or his beautiful experiments disclosed to him«. Dieses Talent, so heißt es dort weiter, »led him to leave to others the study of the actinic spectrum-regions with the aid of photography, and to restrict his spectrum-measurements entirely to all that could be seen and measured by the eye alone, of the solar spectrum, or of the characteristic features of gaseous bright-line spectra, in the whole visible portion of the spectrum only.« (Herschel 1900, 161). 8 Für einen Wiederabdruck dieses Artikels über ›astronomical drawing‹, in dem erstmals auch die in diesem Artikel nur erwähnten Abbildungen mit abgebildet wurden, siehe Hentschel/Wittmann 2000, 66-78.

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Abb. 1: Zodiakallicht oberhalb von Palermo, beobachtet und festgehalten von Charles Piazzi Smyth farblithographiert und gedruckt von der Firma W. & A.K. Johnston, Edinburgh, 1877.

Abb. 2: Taxonomie der Farben nach Piazzi Smyth, aus ›Colour in practical astronomy, spectroscopically examined‹, Transactions of the Royal Society of Edinburgh 28 [1879] Tafel 43 (Ausschnitt, gedruckt von der gleichen Firma).

auch die z. T. ungewöhnlichen Farbbezeichnungen wie etwa ›glaucous‹). Für den Druck dieser Tafel beaufsichtigte er einen ganzen Winter lang die Druckerei in jedem Stadium des Drucks, um nach »immeasurable alterations« ein einigermaßen zufriedenstellendes Resultat zu erhalten.9 9 Wie wir einem Briefentwurf von Smyth to Glaisher, 27. April 1882, Royal Observatory Edinburgh (im folgenden abgekürzt ROE, 14.66, folder G) entnehmen, engagierte Smyth für diese chromolithographische Tafel ›Colours, on spectrum principles‹ »Messrs Johnston at my private expense throughout last winter to prepare the colour-system on them under my own eye […until] after immeasurable alterations I thought their work possible«.

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Jetzt zu Punkt (2) dieser Liste, dem für das Rahmenthema dieser Konferenz vermeintlich wichtigsten. Die ästhetische, ja hochgradig emotionale Bindung von Smyth an sein lebenslanges Untersuchungsobjekt wird klar in seiner äußerst expressiven Sprache, in der er über Spektren sprach: Die »most glorious butterflydance of tridents and sextents of needle-like lines that can be imagined«,10 die »strong pharos-like ultra-violet fluting’s« oder der »delicate train of bright lines and linelets« (Herschel 1900, 163, Hervorhebung original). Von anderen Bandenspektren sprach Smyth in Analogie zu einer menschlichen Physiognomie, die einer ebenso sophistizierten Portraitkunst gebühre: »the group-constellation almost-had such a decided and well marked physiognomy, […] harmony and symmetry pervading all its lines of construction« (Smyth 1878, 40) Die »awfully colossal proportions« der Fraunhoferschen A-Linie waren für ihn »something for an intelligent man to have seen once before he dies«. Auch der Pionier der Infrarotspektroskopie, Captain Abney, wählte einen Superlativ zur Beschreibung der Spektralfarben: »Now I never feel as if any lecture is complete when dealing with light unless we introduce the spectrum. Of all beautiful things-including a beautiful face-the spectrum is the most beautiful; it has no form, and is void of artistic properties in many ways, but the colouring is to me an endless source of enjoyment.« (de Wiveleslie Abney et al. 1896, 258) Aber nicht nur diese explizit ästhetischen Urteile, sondern auch die an Metaphern und visuellen Analogien so reiche Sprache verrät die starke Faszination, die diese Untersuchungsobjekte auf Naturforscher mehrerer Disziplinen ausgeübt haben: Hier etwa Smyths Überraschung bei der plötzlichen Intensivierung der Liniengruppe klein-a während eines Sonnenuntergangs vor der Küste von Spanien am 18. Juni 1877): »In the high sun, ›little a‹ is little a indeed, as to its small visibility in any shape; but at set of sun what have we got here? At fi rst I could not believe my eyes, […] But no; […] ›little a‹ had swelled up from the frog size to that of the bull, and had at last become positively elephantine in thickness and ponderosity; or it was even a case of a shrimp that had grown to be bigger than a whale (Smyth 1877, 218).«11 Viele dieser metaphorischen Felder erschließen Analogien zu anderen Künsten und ästhetisieren das Untersuchungsfeld damit noch mehr: eben war es die Portraitkunst; andere wählten eher Metaphern aus der Musik: so etwa der theoretische Physiker Arnold Sommerfeld in seinem Klassiker der Atomphysik, von 1919, wo er vom »mysteriösen Organon [spricht], auf dem die Natur ihre spektrale Musik« spiele (Sommerfeld 1919, viii). Nicht nur die Spektren selbst, sondern auch die zeichnerischen, lithographischen und photographischen Wiedergaben davon wurden mit ästhetisierenden Prädikaten Siehe A. S. Herschel to C. P. Smyth, 1 November 1880 (ROE, 14.64). Über die Bedeutung dieser Beobachtungen für die so genannten rainband spectroscopy siehe Hentschel 2002 b, 104 ff. 10 11

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Abb. 3: Piazzi Smyths Zeichnung der Fraunhofer A-Linie zusammen mit ihrer assoziierten Bande (links) und der Fraunhofer a-Bande (rechts) im Sonnenspektrum, Lissabon, 1877. Gedruckt von W. & A.K. Johnston. Aus: Smyth 1877.

Abb. 4: Photographie eines Ausschnitts des Sonnenspektrums. Aus: George Higgs: Photographic Studies of the Normal Solar Spectrum, 1889.

versehen, obgleich immer wieder klar gemacht wurde, dass keine noch so gute Wiedergabe den vollen Reiz des direkten Sinneseindrucks habe.12 Der Gentlemanscientist William Huggins etwa trennte klar zwischen der »great technical beauty« von George Higgs’ Photographien des Sonnenspektrums und der ›natural beauty‹ der Spektren selbst (Huggins 1893, 71).13 Siehe z. B. A. J. Ångström an Henry Draper, 21 February 1874: »Accept my most hearty thanks for the memoir and the spectrum. It is extraordinarily beautiful and the most perfect I have ever seen«, und erneut am 16. Mai 1874: »The negative is extraordinarily beautiful« (zit. in Reingold 1964, 258, 260). M. C. Campbell an C. P. Smyth, 25. Juni 1880 (ROE, 14.64, Mappe C): »Take the lines of what is usually called the carbon band close to the hydrogen, […] only I have not put half the number [of lines into my drawing] nor can I put before you anything like the beauty of those fi ne lines and such sharp divisions black as your hat.« 13 Siehe zu Higgs’ Tafeln: Hentschel 2002 b, 239 ff . u. passim. 12

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Worin genau bestand für Smyth diese ›Schönheit‹ der Spektren? »[…] it is more the beauty of the B line which has been of late dwelt on by observers possessing very powerful spectroscopes. ›The most beautiful line in the whole solar spectrum‹ is a remark in one of his many optical papers by the accomplished Mr. Rutherfurd, of New York, probably the greatest master of line drawing and most consummate judge of geometrical symmetry and mechanical perfection in the whole world. In what, then, does the alleged beauty of the said B line consist? I presume the answer will greatly depend on the degree of telluric development under which the line may have been viewed by each observer […]. Generally, however, and to all inhabitants of northern countries at least, where the Sun can never be observed very near the zenith, and therefore not through a zenithal minimum thickness of the Earth’s atmosphere, the almost proverbial beauty of the great B line must consist in the rhythmical arrangement of the powerful lines forming the preliminary band to B and its attached band of fi ner, closer-set lines, or even linelets. Forcible, dark lines the former are, clean edged, well defi ned, no one of them exactly like another, either in thickness, or depth of colour, or distance from its neighbour on either side: and yet the whole forming a harmonious group, from which not one element could be taken away, and to which not one could be added, without introducing a discord and spoiling the entire system […].« And pray what formed the beauty of the B line, then and there, do you ask? Unwilling to trust my own eyes alone, I asked my wife to look into the telescope, and immediately came the exclamation: ›Oh! the beautiful double lines!‹ Exactly so! each of the usually seen thick lines was now a double line, or rather showed two lines; so perfectly free from any fi lling up, even with the faintest haze, was the space between the components of any and every pair; while every line was so almost infi nitely fi ne, but at the same time infi nitely sharp, clear, and well defi ned on either side, and such perfect order and symmetry pervaded the whole arrangement, that it was a case par excellence of science and art combined (Smyth 1878, 38 f., Hervorh. original).

Abb. 5: Auflösung der Struktur der Fraunhofer B-Linie in eine regelmäßige Abfolge von Doppellinien. Aus: Ch. P. Smyth (1878): ›Measures of the great B line in the spectrum of a high sun‹, Monthly Notices of the Royal Astronomical Society 39, 38–43.

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Worin also bestand die Schönheit dieser Spektren? Laut einer von mir nur systematisierten Selbstauskunft unserer Akteure, in der Kombination der folgenden Elemente: − nicht-triviale Symmetrie und Harmonie zwischen den Liniengruppen; − klar absehbare, aber nicht langweilige Regularitäten (ebd., 40); − gefällige Balance (Ausgewogenheit) zwischen den »clumsy and coarse lines« und den »feeblest, closest and most uniform lines«; und zugleich − kuriose Abhängigkeiten von der Beobachtungszeit, -höhe u.a. Umständen, die diesen Liniengruppen eine Variabilität der Gestalt verlieh und daher ein vielfaches Beobachten auch der gleichen Liniengruppen unter veränderten Umständen interessant machten. Freilich sind solche explizit ästhetischen Urteile in wissenschaftlichen Artikeln des 20. Jahrhundert weniger häufig anzutreffen, doch dies sollte nicht zu der Illusion führen, dass die dahinter stehende ästhetische Faszination nicht mehr da sei. Wissenschaftssoziologische Untersuchungen von Michael Lynch zur ›representational craft in contemporary astronomy‹ haben z. B. gezeigt, dass Astronomen in zwei bildverarbeitenden Laboratorien der USA sich gezielt auf das ›ästhetische‹ Urteil ihrer Klientel einstellen, und zwar keineswegs nur in Bildern für die Verbreitung und Popularisierung. Ferner werden in der Bildauswahl und -auf bereitung viele subtile Formen von »crafting natural resemblances« eingesetzt, die starke ästhetische Komponenten beinhalten.14

III. Prägende Faktoren (Prosopographie und Beispiele) Vielleicht erscheint Piazzi Smyth Ihnen als ein zwar eindrückliches, aber keineswegs typisches Beispiel (so war er z. B. ein Außenseiter bezüglich der OxbridgeRiege, die es zeitlebens zu verhindern wusste, dass er von der unterfi nanzierten Edinburgher Sternwarte auf besser ausgestattete Posten kam). In Bezug auf viele der bei Piazzi Smyth so auff älligen Eigenheiten stieß ich jedoch auf erstaunliche Parallelen zu anderen Spektroskopikern, die zusammengenommen vielleicht erklären können, was einige der Nachwuchswissenschaftler des 19. Jahrhunderts gerade die Spektroskopie zum Schwerpunkt ihres Wirkens wählen ließ. Das von mir näher untersuchte Kernkollektiv umfasst etwa drei Dutzend Personen, die im hier betrachteten Zeitraum vor 1900 intensiv über viele Jahre hinweg Spektroskopie 14 Siehe Edgerton und Lynch 1988, insbes. 184: »orient explicitly to the ›aesthetic‹ judgments of their audiences when preparing images to promote and popularize their research«, und 205 ff. »for the various stages of image processing«. Gegen Kant und Schummer 2003, 94 würde ich auch behaupten, dass es sich hier nicht um verkappt-epistemische, sondern um genuin ästhetische Urteile handelt.

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betrieben.15 Auff ällig viele davon haben prägende Faktoren in ihrer vita, die vom normalen akademischen Werdegang eines Naturwissenschaftlers dieser Zeit abweichen: Entweder – Eltern oder nahe Verwandte, die im Kunst- oder Kunsthandwerk-Sektor arbeiten oder ausgebildet waren, oder – ein vorgängiges Studium der Architektur bzw. der Ingenieurwissenschaften, deren Curriculum sie mit den Techniken verschiedener angewandter Künste, mit perspektivischem Zeichnen, darstellender Geometrie o. ä. vertraut macht. Dazu jetzt einige Beispiele (vgl. auch Hentschel 2002): Der Freiburger Physikprofessor Johann Heinrich Jakob Müller (1809–1875) z. B. war Sohn des Malers, Kupferstechers und Kunstschriftstellers Franz Hubert Müller (1784–1835), der nach zeitweiser Anstellung am Hof des Prinzen zu Waldeck 1817 zum Inspektor und 1823 zum Direktor der Darmstädter Galerie aufgestiegen war, und in dieser Funktion auch eine von ihm gegründete Zeichenakademie leitete. Zwei seiner anderen Söhne wurden professionelle Kupferstecher und Radierer. Dies erklärt vielleicht den hohen Rang, den Johann Heinrich Jakob Müller den Illustrationen in seiner freien Bearbeitung des Lehrbuches von Pouillet einräumte, dessen deutsche Fassung gerade dank dieser reichhaltigen Bebilderung zu einem insgesamt 10fach wiederaufgelegten Publikationserfolg wurde. Vielleicht macht diese familiäre Prägung es auch verständlich, warum gerade er es war, dem ab 1856 in Zusammenarbeit mit einem Hofphotographen (!) und einem Chemiker Photographien des ultravioletten Teils des Sonnenspektrums gelangen.16 Etliche andere Spektroskopiker erhielten intensiven Zeichenunterricht aufgrund eines (zumindest begonnenen) Studiums der Architektur, des Bau-Ingenieurwesens, oder anderer angewandter Künste, für deren Ausübung die Beherrschung darstellender Geometrie und gewisser graphischer Techniken erforderlich waren. Dies gilt z. B. für Balmer, auf den ich in Teil V eingehen werde, sowie für Johann Benedikt Listing (1808–1882), der aufgrund seines schon in der Schulzeit aufgefallenen Zum folgenden siehe etwa Hentschel 2003, 589-614. Im Unterschied zu dem von Schummer 2003, 78 erwähnten Jacobus Henricus van’t Hoff (1878) in seiner statistisch-biographischen Untersuchung zur Phantasie in den Wissenschaften beziehe ich mein Ergebnis nicht auf alle ›bedeutenden Wissenschaftler‹, sondern nur auf die Angehörigen visueller Wissenschaftskulturen. Kontraststudien zu dezidiert ikonophagen Kulturen wie etwa der analytischen Mechanik oder der Zahlentheorie wären sehr dringend notwendig, um dies zu stützen. 16 Über die Zusammenarbeit Müllers mit dem Chemiker Clemens Heinrich Lambert von Babo (1818-1899) und dem Freiburger Hofphotographen Theodor Hase in der Photographie des Fraunhoferspektrums zwischen den Linien F und N um 1856 siehe Hentschel 2002 b, 212, 465. Über Müllers Ausbildung in graphischen Techniken bei seinem Vater siehe insb. Warburg 1877, 114: »Der Zeichenunterricht seines Vaters ist ihm nach seiner eigenen Aussage für die Illustration seines Lehrbuchs später von großem Nutzen gewesen.«; vgl. auch die Neue Deutsche Biographie 18, 1997, 330 ff. zu Müller und seine Radierer-Brüdern Andreas (1811-1890) und Constantin (1815–1850) sowie dem Kirchen- und Bildnismaler Carl (1818-1893). 15

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Zeichentalents zunächst ein Studium der Architektur aufgenommen hatte, für das er ein Stipendium des Städelschen Kunstinstituts in Frankfurt bekam, bevor er später dann in die Physik wechselte.17 Für sein Lehrbuch über physiologische Optik konnte Listing 1845 dann seine lithographischen Tafeln selber herstellen. Letzteres gilt auch für den Potsdamer Astronomen Hermann Carl Vogel und seinen Assistenten Oswald Lohse (1845–1915), die 1879 zusammen die Tafeln eines Atlasses des Sonnenspektrums im do-it-yourself Verfahren herstellten (Vogel 1879, insbes. 143, 168.).18 Prüft man den Werdegang der beiden Potsdamer Astronomen, so stellt man fest, dass sowohl Vogel, Sohn eines Leipziger Schuldirektors, als auch Lohse, Sohn eines Schneidermeisters, zunächst eine Ausbildung am kgl. Dresdener Polytechnikum erhalten hatten, bevor sie sich entschlossen, dann noch ein Studium der Naturwissenschaften an der Universität Leipzig aufzunehmen. H. C. Vogel hatte schon als Schüler privaten Zeichenunterricht erhalten. Ein anderer Astrophysiker, der für seine fein ziselierten Zeichnungen von Sonnenflecken 19 wahrscheinlich berühmter war als für seine späteren Arbeiten auf dem Gebiet der Infrarot-Spektroskopie, war Samuel Pierpont Langley (1834–1906). Sein Hintergrund bestand ebenfalls in Architektur und Ingenieurwesen, ohne dass er einen universitären Bildungsgang durchlaufen hatte. Vielfach haben übrigens die Betroffenen selbst diesen Zusammenhang zwischen eigener Ausbildung in angewandten Künsten und späterer Tendenz zu anschaulichem Denken schon gesehen und in autobiographischen Texten bekundet. Es steht auch in Resonanz mit dem, was 1977 Eugene S. Ferguson über den drohenden Niedergang des Anschauungsvermögens bei Ingenieuren aufgrund der zu nehmenden Abschaff ung von Kursen in technischem und freiem Zeichnen gesagt hat. Dennoch erfordert diese These natürlich eine weitergehende prosopographische Überprüfung anhand vieler weiterer Fallstudien, möglichst auch zu anderen Wissenschaftskulturen. 20 Deshalb möchte ich Sie (diesen zweiten Punkt abschließend) dazu auffordern, bei den Individuen in Ihren jeweiligen Themenbereichen ebenSiehe insbes. Breitenberger 1993, 6 f. über Listings graphisches Talent und sein Stipendium der Städelschen Stiftung in Frankfurt, das zumeist Studenten der bildenden Künste und der Architektur zugute kam. 18 Im Arbeitsraum des Einstein-Turms in Potsdam hing zumindest bis vor kurzem eine aufregend gute Zeichnung eines Sonnenflecks, die Lohse mit der Technik der Weißhöhung erstellt hatte, über die Lohse 1883 sogar in einer Publikation speziell über die Zeichnung von Sonnenflecken und deren Reproduktion nähere Auskunft gegeben hat. 19 Siehe Wittmann 2000, 86 und das Frontispiece dieses Bandes für einen Vergleich einer Zeichnung von Langley vom Dez. 1873 mit einer modernen CCD-Photographie von 1998 durch Helmold Schleicher mit dem 70 cm Vakuum-Turmteleskop auf Teneriff a. 20 Über interessante Querbezüge zwischen Guido Haucks Lehre in beschreibender Geometrie an der Technischen Hochschule Berlin und von Helmholtz’ Untersuchungen von Augenbewegungen, oder zwischen der Gründung des Wiener Museums für Kunst und Industrie 1863, der gleichzeitigen Einführung von Zeichenklassen als Pfl ichtkursen in Österreichischen Gymnasien und Ernst Brückes Physiologie der Farben siehe Lenoir 1997, 153-161. 17

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falls nach solchen Kopplungen zwischen vorgängiger Architektur- oder Bauingenieurs-Ausbildung und späterer Tendenz zur Wahl eines stark visuell ausgerichteten Forschungsstrangs Ausschau zu halten. So etwa August Kekulé, der in der gleichen Aufsehen erregenden Rede von 1890 über seine traumgeleitete Findung der Struktur des Benzolrings eigenartig starke Betonung auf sein Studium in Architektur vor dem der Chemie legte. Oder etwa John A. Wheeler, der nicht nur zusammen mit Bohr das sehr anschauliche Tröpfchenmodell des Atomkerns entwickelte, sondern in späteren Jahren dann zum Vater der Geometrodynamik wurde und für seine virtuosen Visualisierungen dieses an sich recht formalen Teilgebiets der theoretischen Physik berühmt wurde. 21

IV. Gestalt-Sehen-Lernen Wie kommt es zur Formierung und Stabilisierung solcher visueller Kulturen? Erste Teilantwort auf diese Leitfrage: intensive Verwendung einer großen Spanne visueller Repräsentationen von Spektren im Unterricht. Schon das ist schwierig genug zu belegen, da Poster mit Spektren heute nur noch relativ selten in den Lehrsammlungen vorhanden sind. 22 Es reicht aber nicht aus, Schülern oder Studenten einfach nur »authentische Photographien, Zeichnungen oder Modelle vor die Nase zu setzen«, sondern die wesentlichen Eigenschaften des Bildmaterials müssen anschaulich herausgearbeitet werden, damit ein »aktives Verständnis im Wahrnehmungsbereich selbst« zustande

Über Kekulés Studium der Architektur unter Ritgen (das darstellende Geometrie, Perspektive-Zeichnen, lithographischen Druck beinhaltete) vor seinem Studium der Chemie unter Liebig siehe Kekulé 1890, 1307: »Auf dem Gymnasium meiner Vaterstadt hatte ich mich namentlich in Mathematik und in der Kunst des Zeichnens hervorgethan. Mein Vater, mit berühmten Architekten eng befreundet, bestimmte mich für das Studium der Architectur. […] Ich bezog also die Universität als studiosus architecturae und betrieb, unter Ritgens Leitung, mit anerkennenswertem Fleiss Descriptivgeometrie, Perspective, Schattenlehre, Steinschnitt und andere schöne Dinge«. Über Wheelers ›geometrodynamics‹ siehe z. B. sein berühmtes Lehrbuch Gravitation (1973), zusammen verfasst mit Charles W. Misner und Kip Thorne, und das voller virtuoser Abbildungen zur Visualisierung geometrischer und topologischer Strukturen von Einsteins allgemeiner Relativitätstheorie ist. Über John A. Wheelers Ausbildung, die mit einem ›freshmen course‹ in engineering 1927 begann und einen Kurs in mechanischem Zeichnen sowie einen Ferienjob am National Bureau of Standards 1930 einschloss, wo er mit W. M. F. Meggers über verschiedene Bandenpektra arbeitete, siehe Wheeler und Ford 1998, 86, 97 und 31: »Ever since my mechanical drawing course as an undergraduate at Johns Hopkins University, I have enjoyed being my own artist and draftsman«; vgl. ebd., 73: »I love to illustrate ideas with sketches and diagrams«, und 117, 235, 240, 300, 313, 342 sowie T. III nach 192 für gute Beispiele. 22 Für detaillierte Nachweise des Bildmaterials in Textbüchern etc. siehe Hentschel 1999, 282-327. 21

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Abb. 6: Fotographie eines Vorlesungssaals des MIT um 1890. An den Wänden etliche große Poster von Spektren zur Demonstration; rechts hinten auf einem der Pulte eine altertümliche Form eines Diaprojektors, in den Abzüge von Fotographien auf Glasscheiben eingeschoben wurden.

kommt. 23 Wichtig war deshalb in dem hier betrachteten Zeitraum neben passiver Betrachtung auch das aktive Erzeugen und Registrieren von Spektren wie dies z. B. Zeichnungen aus Laborbüchern etlicher Studentinnen von Sarah Whiting am Wellesley-College nahe Boston zeigen. Durch dieses Nachzeichnen formierte sich eine spezielle Art des Sehens und leichten Wiedererkennens von Liniengruppen – eine spezielle visuelle Domäne, wie ich das in meinem Buch von 2002 genannt habe. 24 Nicht nur für die Schüler und Studierenden waren diese Erfahrungen mit einem visuell orientierten Unterricht prägend. Wie der Fall Balmer zeigt, fi nden wir auch Rückkopplungen dieses Ausbildungsstils auf die Lehrenden. Siehe Arnheim 1969, 290 im Abschnitt ›Erzieherisches Schauen‹: »Die bloße Verwendung von Anschauungsmitteln im Unterricht führt an sich nicht schon zum anschaulichen Denken.« 24 Weitere Beispiele zur Ubiquität von Bildmaterial in den Unterrichtsmaterialien von Praktika und Lehrbüchern fi nden Sie dort sowie in Hentschel 1999. Im Mai 2005 sah ich ganz ähnliche Ausbildungstechniken im studentischen Optik-Laboratorium der Univ. of Dhaka (Bangladesh) noch immer im Einsatz. 23

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V. Balmers Entdeckung der Wasserstoffserie Johann Jacob Balmer (1825–1898) war Mathematik- und Zeichen-Lehrer an der Basler Höheren Töchterschule. Nicht nur in dieser Funktion war er eingebettet in eine visuelle Kultur par excellence (des Zeichnens); als ehemaliger Student des Karlsruher Polytechnikums und der Berliner Baugewerbeschule war er äußerst engagiert im Entwurf von preiswerten Arbeiterwohnungen, einer neuen, leicht schiefen Rheinbrücke, die sehr verschieden hohe Ufer miteinander verband und gerade darum erheblichen Widerstand bei ihrer Realisierung ausgesetzt war, der Rettung einer heruntergekommenen gotischen Kirche in Basel u.a. Architekturprojekten. Weiterhin war einer seiner Brüder Graphiker, einer seiner Söhne wurde Kunstmaler, ein Enkel Bildhauer und etliche andere Familienmitglieder schlugen ebenfalls in künstlerische Berufe. Balmers Visualität kreiste um so disparate Gegenstände wie funktionale Gebäude, Landschaften, Kristalle und mathematische Vielecke, aber es war eine ausgeprägte Ästhetik, die ganz wesentlich mit seiner Lieblingsbeschäftigung zu tun hatte: dem Zeichnen. 1887 publizierte er ein Buch über perspektivisches Zeichnen, 25 aus dem z. B. auch die Abbildung einer Freitreppe (Abb. 7, S. 247) stammt. Nimmt es Wunder, dass der passionierte Mathematik- und Zeichenlehrer Balmer auch ein Phänomen wie die merkwürdig regelmäßig abnehmenden Abstände sogenannter Serienlinien z. B. im Linien-Spektrum von Wasserstoff mit diesen perspektivischen Studien in Zusammenhang brachte? Während in der Standardliteratur zur Vorgeschichte der Quantentheorie Balmers Leistung verschiedentlich als glücklicher Erfolg einer algebraisch-pythagoräischen Suchstrategie gewertet wurde, wie sie auch den erfolglosen Versuchen einer Auffi ndung von Obertonverhältnissen im Spektrum zugrunde gelegen hatte (McGucken 1969, 131–133), 26 behaupte ich, dass Balmers Heuristik sehr viel stärker von visuellen Analogien bestimmt war: Das Wasserstoff spektrum erinnerte ihn sofort an perspektivische Verkürzungen (wie z. B. den abnehmenden Abständen zwischen äquidistanten Säulen von der Seite betrachtet). Vor ihm hatten alle überhaupt an weitergehenden Deutungen Interessierten das Spektrum mit der Brille des Physikers betrachtet und darin immer Obertonreihen zu erkennen geglaubt. Er betrachtete Spektra eben nicht wie eine Fourier-Analyse, sondern mit den Augen des darstellenden Geometers. Deshalb erscheint ihm die asymptotische Konvergenz hin zur kürzesten Wellenlänge l1, analog dem Fluchtpunkt der Perspektive! Es handelt sich hier um eine Art ›Gestaltzwang‹ in Analogie zu Ludwik Flecks ›Denkzwang‹, der mit jedem Denkstil verbunden ist.

Auch die wenigen zeitgenössischen Nachrufe auf Balmer betonen stets die große Bedeutung, die gerade der Unterricht in perspektivischem Zeichnen für Balmer gehabt hat. 26 Siehe zudem die dort genannte Primärliteratur. 25

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Abb. 7: Perspektivische Zeichnung einer Freitreppe. Aus Balmer (1887) Die freie Perspektive, Braunschweig.

Ganz so einfach war es freilich denn doch nicht, aber schon in dieser ersten simplen Analogiebildung stecken wesentliche heuristische Weichenstellungen, die Balmer bei seiner Suche geleitet haben: Denn wenn es sich um etwas zu Längenverkürzungen analoges handelt, dann sollte eine (Wellen-)Längen zugrundelegende Darstellungsform benutzt werden, also ein ›normales Spektrum‹, und nicht, wie von den Oberton-besessenen Physikern bislang präferiert, eine Frequenz-proportionale Darstellung. Wie die einfache Idee sich konkret in eine stimmige Analogie umsetzen lässt, sehen wir vielleicht am einfachsten anhand dieses Diagramms, das Balmer selbst

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1897 in einem zu wenig bekannten englischen Aufsatz im Astrophysical Journal zur Erläuterung der geometrischen Bedeutung seiner Formel publiziert hat (übrigens das einzige Mal, das er überhaupt eine Andeutung seiner wahren Fährte zur Balmer-Formel gegeben hat; vgl. Abb. 8 und 9 auf dieser Doppelseite). Balmer stellt eine aus der Theorie der Kreis-Perspektive, über die er übrigens gerade 1884 in einer Schulschrift einen Aufsatz publiziert hatte, wohlbekannte Frage: Wie breit erscheint eine Säule (mit Radius zweier Längeneinheiten) einem Beobachter, der sich entlang der X-Achse tangential zur Säule von ihr in Längeneinheitsschritten wegbewegt? Wenn wir als Projektionsfl äche die Ebene YY‹ wählen, hat diese Frage eine geometrisch einfache Antwort: Die Abfolge der Strecken l 3, l4, l 5 usw., die Balmer hier links noch mal abträgt. Betrachten wir einen Beobachter, der sich von einer Säule mit Durchmesser AO entlang der X-Achse wegbewegt, die zu dieser Säule tangential liegt. Dann wird die scheinbare Breite der Säule, gemessen durch die Strecke zwischen den Schnittpunkten der beiden tangentialen Geraden durch die Y-Achse, um so kleiner werden, je weiter sich der Beobachter wegbewegt hat. Es ergibt sich also eine kleiner werdende Abfolge von Intervallen l 3, l4, l 5 (gemessen jeweils vom Schnittpunkt 0 der X- und Y-Achse). Diese Abfolge scheinbarer Durchmesser der Säule auf der Projektionsebene YY‹ ›entspricht‹ in dieser Betrachtungsweise den kleiner werden-

Abb. 8: Balmers geometrische Deutung der Serienlinien: aus Balmer (1897) ›A new formula for the wave-lengths of spectral lines‹, Astrophysical Journal 5, T. VIII.

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Abb. 9: Balmers geometrische Deutung der Serienlinien: eine Zeichnung aus seinem Nachlass.

den Wellenlängen l j der Wasserstoff serie (die links noch mal abgetragen sind). Aus dieser Konstruktion wird sofort verständlich, wieso diese Abfolge nicht kleiner werden kann als der tatsächliche Durchmesser der Säule AO, der somit der Grenzwellenlänge l1 gleichkommt. Soweit rein qualitativ die geometrische Idee; was noch folgt ist die numerische Umsetzung und Überprüfung, dass bei Ansetzen des Radius dieser Säule als n = 2 Längeneinheiten und Zunahme der Abstände des Beobachters vom Punkt 0 in ganzzahligen Vielfachen m dieser gleichen Längeneinheit. Diese Streckenabfolge bildete nun im Rahmen der damaligen Messgenauigkeit erstaunlich genau die (Wellenlängen-)verhältnisse ab, die für die ersten Linien der Wasserstoff serie Balmer bis dato bekannt geworden waren. Aus elementarer Geometrie resultiert für das Verhältnis des scheinbaren Säulendurchmessers l m zum Grenzwert des tatsächlichen Durchmessers l∞ die bekannte Balmerformel: l n /l ∞ =

m2

m2 – n2

, mit n = 2 und m < 3. (1)

Nichts an dieser Konstruktion ist mehr willkürlich: Begänne man mit der einfachsten Annahme einer Längeneinheit für den Radius der Säule, so würde am Ende nur jede zweite Wasserstoffl inie erfasst, deshalb war die Annahme von 2 Längeneinheiten heuristisch gesehen die dann nächstliegende. Auch das Anlaufen der

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Intervalle auf der X-Achse beginnend beim Wert 3 ist notwendig, da für den Wert 2 eine Tangente an die Säule ohne Schnittpunkt mit der Y-Achse eine Division durch 0 resultiert. Weil die Formel (1) für die ihm zunächst nur bekannten sechs Wasserstoff-Linien so ausgezeichnet funktionierte, erwog Balmer 1885 übrigens auch, ob auch der Parameter o, (geometrisch interpretiert als der Radius der Säule) nicht auch andere Werte annehmen könne (Balmer 1885, 84): »Von Wasserstoffl inien, welche der Formel für n = 3, 4, etc. entsprächen, und welche man als Linien dritter, vierter Ordnung u.s.w. bezeichnen könnte, fi nden sich in den bis jetzt bekannt gewordenen Spectren keine vor; sie müssten sich etwa unter ganz neuen Temperatur- und Druckverhältnissen entwickeln, um wahrnehmbar zu werden.« Das heißt: schon 1885 hatte Balmer gestützt auf sein geometrisches Verfahren die Möglichkeit weiterer Spektralserien des Wasserstoff s ins Auge gefasst. wie sie später dann von Paschen, Lyman u. Brackett entdeckt wurden! Nur mangels empirischer Daten in diesen damals noch unzugänglichen Wellenlängenbereichen stellte er diesen Gedanken dann wieder zurück und konzentrierte sich auf die Variation von n bei Festhalten von o = 3: l m = h · m 2 / (m 2 – 4). (2)

Dabei kam er dann bekanntlich zu Wellenlängenvoraussagen l m, von denen der mit Balmer befreundete Baseler Physiker Jacob Eduard Hagenbach-Bischof (1833– 1910) dann nach Rückfrage sagen konnte, dass ganz ähnliche Werte von William Huggins und Hermann Wilhelm Vogel bereits gemessen worden waren. Die theoretische Seriengrenze lag bei l ∞ = 3,645.6Å im Ultravioletten, und die Übereinstimmung zwischen Balmers phänomenologischer Formel und den (noch sehr unsicheren) Messergebnissen war besser als 0,1 %. Huggins hatte eben eine solche aus zwölf Linien bestehende Serie Wasserstofflinien im Spektrum von a Lyrae auf seine Gelatine Trockenplatte bannen können, deren regelmäßige Abfolge ihm bereits aufgefallen war, ohne dass er zur gesetzmäßigen Beschreibung hätte vordringen können (Abb. 10). 27 Der Fotochemiker H. W. Vogel hatte ganz ähnliche Serien im ultravioletten Teil von Wasserstoff spektren nachgewiesen, die in Geissler-Röhren zum Leuchten gebracht worden waren. Um sicherzustellen, dass es sich hierbei wirklich nur um Wasserstoff handeln konnte, hatte er den Wasserstoff in der damals reinsten Siehe Huggins 1879 bzw. Philosophical Transactions of the Royal Society of London 171, 669690 u. Tafel 33, Zitat S. 678: twelve »very strong lines«, not only in »remarkable agreement« in appearance, but also in their relative distances which decreased between any two adjacent lines with increasing refrangibility. »The group possesses a distinctly symmetrical character. The suggestion presents itself whether these lines are not intimately connected with each other, and present the spectrum of one substance.« Vgl. auch McGucken 1969, 118f. über Huggins’ Daten und Stoneys Interpretation. 27

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Abb. 10: Die ersten Linien der Wasserstoff serie. Aus: W. Huggins 1879, 270.

elektrolytisch erzeugten Form in die Röhren einfüllen lassen und sorgsam darauf geachtet, jedwede Kontamination mit anderen Materialien zu vermeiden. Der Vergleich mit Vogels Messwerten für die ersten vier neuen Linien ergab Übereinstimmung ± 1.6 Å , und keine der Linien wich mehr als 1Å von Balmers Tabellen ab; Huggins Sternspektren enthielten noch 6 weitere Linien, da Huggins mit einem Quartzprisma gearbeitet hatte und nicht mit einem im UV stark absorbierenden Flint-Glas-Prisma wie Vogel. 28 Auch hierbei blieben die Abweichungen zwischen experimentellen Messungen und den ›Voraussagen‹ Balmers aufgrund der noch sehr spekulativen Formel (1) unterhalb von 3.9 Å. 29 Wohlgemerkt, ich behaupte nicht, dass durch diese visuelle Analogie das »Rätsel der Wasserstoff serie« (wie Balmer das nannte) bereits physikalisch verstanden war; dazu bedurfte es bekanntlich eines Niels Bohr und noch dreier Jahrzehnte. Aber es sollte klar geworden sein, welch große Bedeutung ein in der Mustererkennung behaftetes ›anschauliches Denken‹ in der Spektroskopie des 19. Jhs. gehabt hat.

VI. Anschauliches Denken Das Beispiel der Auffi ndung der Balmerformel des Wasserstoff spektrums ist beileibe kein Einzelfall. Auch Balmers Zeitgenosse Rydberg, der analoge Serienformeln für die Serienspektren von Alkali- und Erdalkalimetallen fand, basierte auf visuell-geometrischen Suchstrategien (in seinem Fall der Aufzeichnung der Wellenlängenverhältnisse auf Millimeterpapier mit nachfolgender geometrischer Suche nach Fitfunktionen. Im Allgemeinen waren diejenigen Forscher erfolgreicher, die sich bei dieser Mustersuche graphischen Methoden bedienten (darunter z. B. Balmer und Rydberg), während stark algebraisch-numerisch angelegte Suchstrategien (wie z. B. bei Kayser und Runge) kaum erfolgreich ausfielen. Dazu bieten sich auch 28 Siehe H. W. Vogel 1880, 194 über die Übereinstimmung ihrer Wellenlängenmessungen sowie ebd. 1879, 116 zur 15-fach höheren Empfi ndlichkeit von Trockenplatten verglichen mit nassem Kollodium. 29 Siehe Balmer 1885, 83 und 86 für einen tabellarischen Vergleich zwischen Theorie und Experiment, sowie 82: »diese Übereinstimmung muss in höchstem Grade überraschen.«

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Parallelen außerhalb des hier betrachteten Feldes der Spektroskopie an: Arthur Ian Miller hat in seinem neuesten Buch u. a. anhand von Bohr, Einstein, Heisenberg, Maxwell, Fermi, Salam und Weinberg gezeigt, dass alle diese Wissenschaftler »strongly prefer the visual mode of thought in their research«, während nur wenige, darunter etwa Henri Poincaré und Paul Dirac, keine solche Präferenz für ›anschauliches Denken‹ hatten (Miller 1996, 281). Was sich in diesen Arbeiten äußert, ist etwas, was wir in Rückgriff auf Rudolf Arnheims bahnbrechende Arbeiten anschauliches Denken nennen sollten. Es lassen sich mindestens folgende Grundtypen unterscheiden: 30 − visuelle Analogien (wir hatten hier das Beispiel von Balmers Analogie des Wasserstoff spektrums zu perspektivischen Verkürzungeffekten, aber darunter fällt z. B. auch die in der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts beliebte Suche nach Homologien zwischen Spektren; ferner ebenso William Harveys Deutung des Herzens als Pumpe, J.A. Roeblings Übertragung der Haltevorrichtungen von Schiff smasten auf die Konstruktion von Hängebrücken wie etwa der Brooklyn Bridge von 1884, Edisons oder Sperrys Analogien zwischen verschiedenen technischen Apparaten, sowie Leonardos Strukturvergleiche von Wasserwirbeln u. Haarzöpfen, Rückenmuskulatur und Schiffsmasten, Adern u. Treppenaufgängen, etc.), − räumliches Denken (z. B. van’t Hoff s Visualisierung der Valenzen eines Kohlenstoffatoms als Seitenkanten eines Tetraeders oder Kekulés berühmt-gewordenes Traumbild eines Kohlenstoff rings), − analytische Zerlegung komplexer Sinneseindrücke in einfache, ›gute‹ Gestalten (neben Alexander Herschels Deutung des CO-Bande als zweier superponierter Serien z. B. auch Leonardos exploded view), 31 − kinematographische Abfolge (Feddersens Photographie von Funkenspektren mithilfe rotierender Spiegel, Muybridges Serienphotographien der Bewegungsabläufe von Tieren und Menschen oder Bjerknes‹ Diagramme zur Entwicklung von Wetterfronten), − Ergänzen des Unvollständigen (beim perspektivischen Sehen etwa das automatische Ergänzen teilweise verdeckter Teile, beim Ingenieurentwurf das Einsetzen fehlender Maschinenelemente, etc.), − Typisierung (z. B. Abgrenzung verschiedener spektraler Sternklassen oder chemisch charakteristischer Spektren), sowie − Schematisierung von Prozessen (prismatische Aufspaltung, Minkowski-Diagramme, Feynman-Diagramme oder Flussdiagramme der Informatiker). Vgl. allgemein Arnheim 1969 und Root-Bernstein 1985, 50-67. Für ein schönes Beispiel eines gestaltpsychologischen Experiments, mit dem der Unterschied zwischen ›guter‹ und ›schlechter‹ (d. h. nicht schnell wieder erkennbarer) Gestalt belegt werden kann, siehe das Diagramm aus Pylyshyn in: Miller 1996, 286. Alexander Herschels Zerlegung der komplexen grünen CO-Bande in zwei superponierte Banden einfacher und ›guter‹ Gestalt wird u.a. behandelt in Hentschel 2002 b, 314 ff. 30 31

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Die vergleichende wissenschaftshistorische und -soziologische Analyse dieser verschiedenen Modi der wissenschaftlichen Bildbe- und -verarbeitung steht erst in ihren Anfängen. VII. Historiographische und erkenntnistheoretische Implikationen Die große Bedeutung, die graphische Methoden der Datenauf bereitung, -präsentation und -diskussion sowie die Einbindung von Repräsentationsformen wie Skizzen, Plots, Radierungen, Photographien, und CCD-Graphiken in den experimentellen Naturwissenschaften in vielen wissenschaftlichen Disziplinen haben, stand zu ihrer Beachtung in der wissenschaftshistorischen Literatur bis vor kurzem in starkem Missverhältnis. Statistische Untersuchungen haben gezeigt, dass mittlerweile zwischen 5 % und 32 % des gesamten bedruckbaren Flächenanteils in naturwissenschaftlichen Zeitschriften allein für Graphiken verwandt wird, die die statistische Analyse von Daten betreffen – andere Typen nicht-verbaler Repräsentation sind dabei noch nicht einmal erfasst. 32 Daher liegt der Verdacht nahe, dass der verstärkte Rekurs auf Graphiken mit dem Ansteigen der Datenmengen über bestimmte Schwellwerte zu tun hat: während Beobachter des 18. Jahrhunderts sich typischerweise noch mit der Angabe einiger weniger Zahlenwerte für einzelne Messungen begnügten (Musterbeispiel Coulomb), werden im 19. Jahrhundert ausgehend von paradigmatischen Fällen (wie Gauß, Bessel und F. Neumann in der Astronomie und experimentellen Physik) immer größere Datenmengen gesammelt, die dann statistisch und zunehmend eben auch mit graphischen Techniken ausgewertet werden. In einem Wechselspiel von graphischer und numerischer Analyse komplexer Datensätze werden Graphen somit zur »key interactive site«, »where different media are transformed into graphs to fi nd patterns in them«: 33 Hinzu kam im 19. Jahrhundert die Entwicklung und zunehmende Verbreitung preisgünstiger und immer effizienterer Drucktechniken wie etwa Lithographie, in den Blocksatz einbindbare Holzschnitte, Photolithographie und schließlich Off setdruck. Reproduktionen visueller Repräsentationen, die früher sehr teuer gewesen waren und darum für wissenschaftliche Zwecke nur ausnahmsweise als Kupferstiche oder -radierungen möglich waren (in ganz seltenen Fällen auch handkoloriert), wurden ab Mitte des 19. Jahrhunderts gängiges Begleitmaterial wissenschaftlicher Publikationen, und auch außerhalb der Publikationen wurden vermehrt Poster, Photographien, Dias u.a. visuelle Materialien in den wiss. Unterricht eingebaut. 34 Siehe z. B. Cleveland 1984, 261-269 – Unter- und Obergrenze werden dabei durch die Zellbiologie bzw. die Geophysik markiert. 33 Zit. aus Krohn 1991, 181-203, Zitat 195. Einen guten Überblick graphischer Analysetechniken geben Funkhouser 1938, 269-404 sowie Tufte 1983. 34 Für eine exemplarische Studie zur Transformation von Forschung und Lehre durch diese Umwälzungen der Reproduktionstechnologien siehe Hentschel 2002 b, insbes. Kap. 4-6 sowie dort genannte weiterführende Literatur. 32

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Seit etwa 20 Jahren haben besonders die Geologie, Medizin- und Astronomiegeschichte, seit etwa 10 Jahren auch andere Sektoren der Wissenschaftsgeschichte sich diesen visuellen Repräsentationen auch verstärkt angenommen. 35 Wir wissen heute sehr viel mehr über die Geschichte einzelner Repräsentationstypen und techniken, aber immer noch zu wenig gerade über die Epistemologie und Ästhetik dieser Verfahren. Was ich hoffe, Ihnen heute anhand einiger Beispiele verdeutlicht zu haben, ist zweierlei: − die enge Interdependenz zwischen Lebenswelt und innerwissenschaftlicher Ästhetik der Akteure, und − die Unentbehrlichkeit eines integrativen Konzepts von visueller Wissenschaftskultur, das alle die anfangs aufgelisteten Facetten umfasst und sich nicht nur auf einige wenige davon beschränkt. Der erste Punkt betriff t neben der konkreten Ausformung visueller Repräsentationen auch die Motivationsbasis für wissenschaftliches Arbeiten überhaupt: Mustererkennung war in der Spektroskopie des ausgehenden 19. Jahrhunderts ein Wert an sich, auch ohne jede (nicht-vorhandene) übergreifende cover-theory, auch ohne jedes tiefere Verständnis dessen, was man da eigentlich vermaß, kartierte, und spektral immer weiter auflöste. Die in beiden Bedeutungen des Wortes ›ästhetische‹ Faszination mit dem Untersuchungsobjekt Spektren stellte ein starkes Motiv an sich dar, das die Akteure immer weiter an ihren Gegenstand fesselte. Das ist übrigens kein Spezifi kum dieses einen Gegenstandsgebiets Spektren: Sie könnten genauso andere Untersuchungs-Objekte wie etwa Mineralien, Kristalle, Wolken, Moleküle, Radiolaren, elektronenmikroskopische Aufnahmen oder CCD-Bilder einsetzen und würden strukturell ähnliche Ergebnisse erhalten. 36 Wenn sie diesen auf viele andere Fälle übertragbaren, strukturellen Kern dessen, was ich gesagt habe, bereits erkennen, würde ich mich freuen.

35 Für einen ersten Überblick und weiterführende Literaturhinweise siehe Hentschel 2000, 11-52. 36 Die Parallele zur Chemie fiel mir in Schummer 2003 auf, der völlig zutreffend (be)schreibt: »that is how aesthetic experience can be a driving force in chemical research«.

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Jakob von Uexkülls Umwelten und das wiedergefundende Staunen Zur neuen Ästhetik des Performativen im Zoo Von Veronika Hofer

Einführung In diesem Beitrag geht es um die moderne Krise der Mensch-Tier-Beziehung seit 1900 aus der Perspektive der Geschichte der Zoos. In diesen Prozess hat Jakob von Uexküll in vielfacher Hinsicht eingegriffen. Während man mit Uexkülls Wirkung auf die Philosophie Heideggers schon lange vertraut ist, auch Uexkülls Einfluss auf die Begründung der Verhaltensforschung als Disziplin immer besser verstanden wird (Hofer 2002), hat man bis auf wenige Ausnahmen von dem Einfluss seiner Umwelttheorie auf den Zoo als die sinnliche Darstellung der neuen Mensch-TierBeziehung wenig Notiz genommen (Hofer 2002). Hier nun soll – nach einer kurzen Erinnerung an Heideggers Verarbeitung des Umweltkonzepts von Uexkülls – seine Wirkungsgeschichte für die Theorie und Ästhetik des Zoos zu Wort kommen. Als Vorspann soll auf Begriffe hingewiesen werden, die für die Analyse der Veränderungen wichtig sind, dem die ästhetischen Phänomene im Zoo im Zuge der Verschiebung von einem traditionellen Ort der Wissensvermittlung, der Forschung und des Spektakels hin zu einem Ort des Staunens und Erlebens unterworfen waren. Der Wandel des Zoodesigns geht einher mit dem Wandel der Rahmenbedingungen des Alltäglichen in einen Spiel-Rahmen des Außergewöhnlichen, das sich nur unter bestimmten Aufmerksamkeitsbedingungen erschließt. Zwei Diskursstrategien möchte ich hier unterscheiden: Zum einen haben in letzter Zeit im Anschluss an Gilles Deleuze und Felix Guattari ästhetische Phänomene wie Ereignis, Erscheinung und Präsenz großes philosophisches Interesse auf sich gezogen (Mersch 2002). Für meinen Zugang sind diese Analysen von Interesse, weil die Inszenierungsgeschichte der Zoos sich in eine Richtung entwickelt, die von der Repräsentanz ästhetischer Phänomene zur Präsenz weist und das Spiel mit der Fülle sinnlicher Kontraste, Interferenzen und Übergängen den Zoobesuch zum Erlebnis macht. Die Zoogestaltung zielt auf das sinnlich Wahrnehmbare, das sich einer am zoologischen oder botanischen Wissen orientierten Bestimmung der Wahr nehmungsgegenstände entzieht. Mit einem Zitat aus Martin Seels hervorragender Analyse »Ästhetik des Erscheinens« möchte ich diesen Punkt fokussieren: »Das Erscheinen ist ein Prozess von Erscheinungen, der nicht zur Anschauung kommen kann, solange ein Gegenstand einer erkennenden oder benutzenden Behandlung unterliegt. Es kommt erst zur Wahrnehmung, wenn wir der sinnlichen Präsenz eines

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Gegenstandes um dieser sinnlichen Präsenz willen begegnen – wenn uns daran liegt, ihn in der augenblicklichen Fülle seiner Erscheinungen wahrzunehmen. Das Erscheinen tritt hervor, wird spürbar und vernehmlich, solange wir einen Gegenstand der Wahrnehmung ohne eine Festlegung auf Aspekte seiner Verfassung oder Funktion zur Wirkung kommen lassen. […] Aber durch sie [die Aufmerksamkeit] zeigt sich etwas an ihrem Gegenstand, das nur vermöge dieser Art der Aufmerksamkeit zugänglich wird. Das ästhetische Verweilen lässt etwas in seiner Fülle sein.« (Seel 2003, 84 f.) Diese Phänomene versucht das immersive Zookonzept zu erzeugen. Zum anderen hat jüngst eine Analyse der Theatralität eingesetzt, die ich konzeptuell nutzen möchte. Obwohl diese neuen Analysen (Fischer-Lichte 2004) nur indirekt über die Rezeption der kulturanthropologischen Arbeiten von Erwin Goff man (Goffman 1977) und George und Margaret Mead an Uexkülls Kommunikationstheorie anschließen, eröff nen sie Lesarten, die den semiotischen Aspekt der Wahrnehmung ästhetischer Gegenstände und szenischer Auff ührungen und grundsätzlicher noch von Spiel überhaupt betonen. Sie weisen damit einen Weg, um die Ästhetik des Performativen im Zoo zu bearbeiten. Hier kann nur kursorisch umrissen werden, was die Analyse dieser Diskurse freilegen kann: Die Performanz ist als sinnliches Präsent-Machen einer Körperlichkeit der Ästhetik des neuen Theaters eingeschrieben. Auch die neueren Entwicklungen von Gestaltungskonzepten der Zoos geben der Pärformativität der Körperlichkeit der kostbaren Wildtiere ästhetisch einen ökologisch ausgewiesenen, besonderen Raum. Die zentralen Momente der Kultur des Performativen mit Bezug auf die Entwicklung der Zoodesigns können in den folgenden Punkten zusammengefasst werden. Der Fokus vom Körper als Zeichenträger, als Ausdruck und Übermittler bestimmter Botschaften, verschiebt sich auf den gegenwärtigen Körper, den »wirklichen Körper«. Indem der Zeichenstatus des Körpers zugunsten seiner Materialität aufgegeben wird, zieht sich das Performance-Konzept vom Konzept der Übermittlung vorgegebener Bedeutungen, die in einem kognitiv dominierten Rezeptionsprozess entschlüsselt werden soll, zurück und öff net sich für eine genuine Konstitutionsleistung des Publikums. Der Begriff Performance als Auff ührung vollzieht auch einen Wechsel vom Werkbegriff in der Kunst hin zum Ereignisbegriff, insofern ihre spezifische Ästhetizität in ihrer Ereignishaftigkeit besteht. Hatte in den 1930er Jahren die Sinnlichkeit betonende Körperverwendung in Max Reinhardts Inszenierungen als »zirkushaft« gegolten, so vollzog sich mit der performativen Wende in den 1960er Jahren eine verstärkte Fokussierung und Ausstellung der körperlichen Materialität als Bewusstsein seiner phänomenalen Leiblichkeit. Wird in der performativen Wende des Theaters die Materialität des menschlichen Körpers in einer Doppelung von LeibSein und Körper-Haben aufgespalten, so vollzieht sich mit der performativen Wende im Zoo eine Wende vom tierischen Körper als Zeichenträger von zoologischem, geographischem und kolonialem Wissen hin zum phänomenalen Leib-Sein und der Möglichkeit seiner Präsenz. Hier soll zunächst nur auf die Gemeinsamkeit

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dieser Entwicklungen unter dem in der Zoogeschichte wechselvoll gestalteten Thema der Authentizität verwiesen werden. Der Schönbrunner Tiergarten in Wien eignet sich zur Bearbeitung dieses TierMensch-Beziehungs-Dispositivs in hervorragender Weise. Zum ersten, weil er als Beispiel einer barocken Gesamtlösung für Gartenanlage und Schloss durch strenge Denkmalschutzaufl agen einem theatralischen Auff ührungskonzept während des gesamten 20. Jahrhunderts verpfl ichtet blieb, auch nachdem er 1918 vom persönlichen Besitzstand des Habsburgischen Kaiserhauses in den der ersten Republik Österreichs wechselte. Zum zweiten, weil sich hier der zeittypische Authentizitätsdiskurs in wissenschaftlich vorausweisender Weise durch die Zusammenarbeit zweier Persönlichkeiten anbahnte. Otto Antonius war einer der wichtigsten Zoodirektoren des 20. Jahrhunderts und ein hoch innovativer Domestikationsforscher; Konrad Lorenz ist der Begründer der Ethologie, dessen theoretische und forschungspraktische Arbeiten direkt auf Uexkülls Umwelttheorie auf bauen. Für Antonius war das Dilemma des authentischen Zoos mit seiner psychisch und körperlich prekären Situation für Wildtiere unter Gefangenschaftsbedingungen praktische Weiterführung seiner paläontologischen Domestikationsforschung. Seine Arbeit als Zoomanager legte ihm auf, immer wieder Kompromisse für die ästhetische Bearbeitung von Authentizität zu fi nden. So verstand er die Gehege im besten Glauben als Wohnungen für die Tiere und als verdichtete Lehrstücke für einen lebendigen zoologischen Anschauungsunterricht. Die Zootiere waren einerseits Repräsentanten einer vorzustellenden, nicht-gegenwärtigen Wirk lichkeit, in diesem Sinne hatten die Zootiere eine vorgegebene Rolle im Wissenskanon zu verkörpern. Als Zoologe, Domestikationsforscher und Verhaltensforscher lag sein Interesse an den Zootieren auf einer wissenschaftlichen Ebene. Das Sammeln von Fakten und die Erstellung von Listen und Protokollen rechtfertigten die Wildtierhaltung im Zoo als einem wissenschaftlichen Institut mit Lehrbefugnis. Die Konzeption des Zoos als eine Begegnung zwischen Mensch und Tier wurde von ihm wie den meisten seiner Kollegen unter der Auf klärungsprämisse entwickelt. Die Tiere im Zoo waren Anschauungsmaterial für ein auf klärungsbereites Publikum. Viele Zoos verstehen sich heute noch als ein »lebendiges Museum«, das seine Sammlung nach bestem zoologischem Wissen zu präsentieren hat. Die Inszenierungsstrategie, die als Masterplan diesem museologischen Konzept eines Zoos unterlegt ist, privilegiert eindeutig die kognitive Ebene. Mit der performativen Wende der 1960er Jahre veränderte sich zögernd der kognitive Anspruch der Zoomanager, unterstützt von der gleichzeitigen ökologischen Wende in der Mensch-Natur-Beziehung. Die Ethik des Zoos erlaubte nun nicht mehr, Zootiere als bildungsbürgerliches Zeichen von Wissen zu präsentieren, sondern in einer altneuen ästhetischen Bedeutung des Gewahrwerdens der puren Körperlichkeit von selten gewordenen Mitgeschöpfen. Das Augenmerk richtet sich zunehmend auf die Authentizität der Pfl anzenwelt und der geologischen Formation in Anpassung an das vor Ort herrschende Klima. Indem immer mehr Landschaft im Zoo kon-

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Abb. 1: Die Familie der Rhinocerotidae in der Ordnung der Perissodactyla im Berliner Zoo 1960. Abb. 2: Indisches Rhinoceros im Zoo von Philadelphia in den 1980ern.

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struiert wird, verlagert sich die Ethik und Ästhetik des Zoos auf eine tierrechtlich (vermeintlich?) unbedenklichere sinnliche Ebene. Die Materialität der authentischen Umwelt im Sinne des ökologischen Habitatkonzeptes steht ästhetisch für die körperliche Erscheinung ein. Konsequent weitergedacht bedeutet dieses Konzept, dass der Zoo nunmehr unterwegs ist zu einer Demonstration von Habitaten, deren Bewohner nur gelegentlich zu sehen sind (falls sie überhaupt darin leben und nicht vielmehr medial durch das Konzept des »elektronischen Zoos« präsent sind). Tatsächlich aber sind die Zootiere meistens immer noch da, wo der Mensch sie leicht gewahr werden kann – auf einer als Naturbühne errichteten Felsanlage oder auf einem Hügel in der Lichtung eines weitläufigen Gorillageheges. Ein ästhetischer Kompromiss wird immer wieder neu gesucht. Die Sinnlichkeit der Auff ührung wird in manchen Zooanlagen heute unterstützt durch eine dichte Bepfl anzung, so dass man erst durch Lücken im dichten Grün die Tiere erspähen kann und so der Illusion erliegt, zwar mit den Tieren in ihrer Umwelt eingebettet zu sein, und doch zugleich mit dieser Blickrahmung symbolisch die Wertschätzung des nicht einfach so dem Blick frei gebotenen Tieres zu genießen. Das ursprüngliche Konzept des Zoogeheges als eine Bühne des Wissens ist im Grunde immer noch lebendig. Der Bühnencharakter wird heute durch verschiedene Inszenierungstechniken bespielt und erreicht dadurch eine (für Zoogegner selbstverständlich nur marginale) Veränderung der Ästhetik. Wird der Illusionismus der Gehegekonstruktionen – wie in Hagenbecks künstlichen Felsanlagen, die der taube Schweizer Wildtierhalter und Bühnenmaler Urs Eggenschwyler für Hagenbecks Tierparadies in Stellingen gebaut hatte – als willkommenes Spiel mit der Ästhetik der Erscheinung aufgefasst, so tritt hier der Spielrahmen-Charakter des Zoos mit seiner Fülle an sinnlichen, gleichzeitig auf den Besucher einströmenden Wahrnehmungen deutlich vor den Repräsentationscharakter der nach dem zoologischen System in einzelnen Reihen geordneten, auf kleinen, konzentrierten Bühnen gezeigten Tieren. Dass sich der Zoo heute als ein symbolischer Ort für Tierschutz und ökologisches Naturverständnis ausweisen kann und die Zoogehege als Territorien für die Tiere und als Habitat im Sinne einer authentischen pfl anzlichen und zoologischen Umwelt defi nieren lassen, ist in wesentlichen Punkten von Jakob von Uexküll und seiner Umwelttheorie vorbereitet worden. Diese Entwicklung ging von seinem Umweltkonzept aus, in dessen Zentrum die artspezifische Eingeschlossenheit der individuellen Tiere sowie die – Mensch und Tiere verbindende – zeichenhafte Kommunikation mit der je eigenen Umwelt. Das Bühnenkonzept des Zoogeheges wurde von Heini Hediger auf der Basis von Uexkülls Umwelttheorie als artgerechtes Territorium umgearbeitet, indem die Gehege-Bühne als Wohnung für die Tiere zeichenhaft angereichert und verdichtet wurde und der Zoowärter als Kumpan ins tägliche Spiel mit den Tieren eingreift. Dieses Konzept hat sich nun weitgehend unter dem Begriff »environmental enrichment« etabliert, auch in zoofremden Kon-

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texten. Die kognitive Ebene der theatralischen Auff ührung und Vorführung im Zoo hat sich seit der performativen Wende langsam zur sinnlichen Botschaft einer Unverfügbarkeit des Animalischen verschoben, um damit schließlich das zivilisierte Dominanzverhältnis nachdrücklich in Frage zu stellen. Mit Uexkülls Umwelttheorie hat ein neues Wissen über die Verschiedenheit der individuellen Umwelten eingesetzt. Die emotionale Botschaft der neuen Inszenierungstechnik will eine neue Art des Staunens und des Respekts vor dieser grundsätzlichen Andersartigkeit herstellen. I. Uexküll und die Phänomenologie Mit der Wirkungsgeschichte von Uexkülls umfassendem Oeuvre befassen sich seit geraumer Zeit Phänomenologen, die in der Tradition der ontologischen Untersuchungen Martin Heideggers an einem Projekt arbeiten, den Abgrund und gleichzeitig die einzigartige Nähe zwischen der animalitas und der humanitas aufzudecken und in einer Überarbeitung des Erbes des Humanismus neu zu denken. Philosophen wie Giorgio Agamben beschäftigen sich damit, in welcher Weise Jakob von Uexküll die Philosophie des 20. Jahrhunderts über Martin Heidegger, Ernst Cassirer und Helmuth Plessner und auch die des beginnenden 21. Jahrhunderts durch Gilles Deleuze, Peter Sloterdijk und seine eigene Philosophie in Ansätzen mitgeprägt hat. Seine Theorie erklärt, dass die Struktur der je nach Spezies verschiedenen tierischen Weise des In-der-Welt-zu-sein nicht zu erfassen ist, ohne die einem einfühlenden Verständnis für immer verschlossene Fremdheit zu akzeptieren. An die Stelle der einheitlichen Welt setzte Uexküll eine unendliche Vielfalt von Wahrnehmungswelten, die alle für sich funktionieren und mit spezifi schen Wahrnehmungs- und Handlungs- oder Wirksystemen ausgestattet sind. Demnach gibt es keinen Wald als objektiv festlegbare Umwelt, sondern nur einen Wald-für-denFörster, einen Wald-für-den-Naturschwärmer, einen Märchenwald-für-das-Kind und einen Blumenstengel-für-einen-nahrungssuchenden-Käfer und einen Blumenstengel-für-eine-Unterschlupf-suchende-Larve. Jede Umwelt ist eine in sich geschlossene Einheit, die sich konstituiert aus bedeutungstragenden Merkzeichen aus der Umwelt. Wie die zeitgenössische Physik, so hat auch Uexkülls Konzept eine radikale Aufgabe der anthropozentrischen Perspektive gefordert. Die Beobachtungsarbeit des Tierforschers besteht nach Uexküll darin, die Bedeutungsträger zu erkennen, die eine Umwelt defi nieren. Diese Merkmale bilden untereinander eine funktionale und – je nach Gestimmtheit des Tieres – variierende Einheit mit dem Bauplan der Rezeptionsorgane des Tieres, die bedeutungstragende Merkmale aus seiner Umgebung wahrnehmen, und mit einem Wirkorgan, das im Hirn als reafferente Kopie im Sinne eines Handlungsplanes das wahrgenommene Objekt mitkonstruiert. Der besondere Witz an Uexkülls Umweltlehre ist dann die Weise, in welcher das Tier von anderen Tieren isoliert, aber wohl abgestimmt mit diesen

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lebt. Die Isoliertheit in der je eigenen Umwelt erlaubt keinem Tier in Beziehung zu einem Gegenstand als solchem zu treten, sondern ausschließlich mit den eigenen Bedeutungsträgern. Die Abgestimmtheit der Fliegenwelt mit der Spinnenwelt wird gewährleistet durch die Eigenart des Fliegenauges, das die Fliegen eben genau für die Fäden des Spinnennetzes blind macht. Umgekehrt ist das Spinnennetz »fl iegenhaft« konstruiert, damit sich die Fliege darin verfangen kann. Beide Tiere kommunizieren nicht direkt miteinander, sondern durch Merkmalsbildung ihrer Umwelten, die sie wie in einer Seifenblase eingefangen halten. Martin Heidegger hat sich in seiner Freiburger Vorlesung 1929/30 »Die Grundbegriffe der Metaphysik: Welt – Endlichkeit – Einsamkeit« eingehend mit der Untersuchung der Beziehung des Tieres zu seiner Umwelt im Vergleich zu derjenigen des Menschen zu seiner Welt befasst. Hier triff t er die Unterscheidung zwischen der »Weltarmut« des Tieres und dem »weltbildenden« Menschen. »Der Stein ist weltlos, das Tier ist weltarm, der Mensch ist weltbildend.« (Heidegger 2004) Unter Rückgriff auf die Arbeiten von Hans Driesch und Jakob von Uexküll bestimmte er, was unter der »Weltarmut« der Tiere zu verstehen ist. Heideggers Wert schätzung Uexkülls wird durch seine Bemerkung unterstützt, dass die Untersuchungen Uexkülls zum Fruchtbarsten gehörten, was die Philosophie sich heute aus der herrschenden Biologie zueignen könne. Agamben stellt Uexkülls Einfluss auf die Konzepte und Begriffe der so wichtigen Vorlesung Heideggers als allgemein unterbewertet dar. Giorgio Agamben führt konsequent Heideggers »Das Enthemmende« auf Uexkülls Bedeutungsträger und Merkmalsträger zurück, sowie Heideggers »Enthemmungsring« auf Uexkülls Umwelt. Und er zeigt weitere Konsequenzen des Uexküll’schen Einflusses auf. Bei Heidegger ist das Tier in seinen Enthemmungsring eingeschlossen, der wie bei Uexküll aus wenigen Elementen besteht, die seine Wahrnehmungswelt ausmachen. Das Wesen des Tieres ist bei Heidegger seine Benommenheit; insofern das Tier vollständig eingenommen vom eigenen Enthemmenden ist, kann das Tier im Gegensatz zum Menschen nicht wirklich handeln, oder sich dem Menschen gegenüber verhalten, sondern sich nur gemäß seinem Instinkt benehmen. Seiendes ist für das Tier nicht offenbar, nicht aufgeschlossen, aber auch nicht verschlossen. Das Seiende ist für das Tier zwar offen, aber nicht zugänglich, es hängt in einer Art Nicht-Beziehung zwischen sich und einem Offensein für … , auf welches für … es sich aber im Gegensatz zum Menschen nicht einlassen kann. In seinem Buch »Das Offene. Der Mensch und das Tier« hat Agamben den Versuch gemacht, die Uexküllsche Umwelttheorie in Verbindung mit der Philosophie Heideggers als Folie seiner eigenen Begriff sbildung herauszuarbeiten. Agamben startet seine Untersuchung mit der Feststellung des ironischen Dispositivs, in dem die »anthropologische Maschine des Humanismus« den Menschen und die Tiere zueinander bestimmt, indem er den Menschen »unentschieden zwischen himmlischer und irdischer Natur, zwischen Animalischem und Humanem in der Schwebe hält, so dass er immer weniger und mehr als er selbst sein muß« (Agamben 2003, 39).

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Damit hat Agamben das Phänomen des Fehlens eines guten, achtungsvollen und stabilen Verhältnisses zwischen Tieren und Menschen gekennzeichnet. Dieses Thema des respektvollen Verhältnisses zur Fremdheit der Tiere als Individuen ist uralt und brandneu. Der Zoo als Kulturinstitution zehrt vom Erbe eben dieses ironischen Dispositivs des Humanismus, wie eben auch von der Möglichkeit, das Offene des Tieres zu erleben. In diesem Zusammenhang ist die Heideggersche Formulierung des Gedankens interessant, dass das Tier, in seiner Angewiesenheit auf Merkzeichen seiner Umwelt doch eine wesenhafte »Erschütterung« erfährt, wenn es gelegentlich auf irgendeine seltsame Weise die Funktion eines Durchgangs zwischen animalischer Umwelt und dem Offenen vernimmt. Diese Erschütterung wird, wenn diese Annahme richtig ist, dann eben nicht nur auf der »weltarmen«, tierischen Seite statthaben, sondern wird möglicherweise als besonderes Ereignis auch seine Resonanz auf der »weltbildenden«, menschlichen Seite fi nden. Durch gegenseitige Aufmerksamkeit – so meinen Tierkenner und besonders natürlich Ethologen wie Lorenz und Hediger – werde das erleichtert. Der Optimismus der Zoomanager zirkuliert um die Annahme, dass man diese attentative Haltung besonders bei gesunden Wildtieren, auch jenen, die im Zoo leben, antriff t. Dass aber im Allgemeinen eine zeichenlesende Verständigung zwischen Tieren und Menschen praktiziert wird, und dass sie im Wesentlichen auf beiden Seiten in einer suchenden und probierenden Interpretationsarbeit besteht, ist sowohl der Kern der Uexküll’schen tierpsychologischen Umweltforschung wie auch der Kinderpsychologie seit Karl und Charlotte Bühler, Egon und Else Brunswik, Fritz Heider und natürlich Jean Piaget. Diese Psychologen haben das probierende Interpretationsverfahren, mit dem sich der Mensch mit seiner Umwelt in aktivem und perzeptivem Austausch konstituiert, mehr oder weniger auf der Basis von Uexkülls Umwelttheorie ausgearbeitet (Hofer 2001).

II. Uexkülls Umwelttheorie und die Erforschung der kommunikativen Vorgänge im Zoo Auf der Basis von Uexkülls Umweltlehre hat der Schweizer Zoologe Heini Hediger seine Forschungen über das Funktionieren oder Scheitern von Interaktionen zwischen Tieren und Menschen im Zoo und in der Tierdressur des Zirkus weiterentwickelt. Mithilfe von Uexkülls Zeichentheorie, die ein zentraler Baustein seiner Umweltlehre ist, hat Hediger die sehr spezifi schen Bedeutungszeichen aus der Umwelt der Tiere in ihrer raum- und weltgenerierenden Qualität im Zoo untersucht. Hedigers Ergebnisse stellen seit Mitte des 20. Jahrhunderts die Basis für ein neues Verständnis von Zoogehegen als Territorium bereit, indem er die Merkmale im Freileben der Wildtiere analysierte und schematisierte. Einer der wichtigsten Schlüsse, die für Landschaftsarchitekten und Zoodesigner aus Hedigers Arbeiten gezogen werden konnte, bestand in der notwendigen Anreicherung von spezies-

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spezifi sch bedeutsamen Merkmalen in der Innenarchitektur der Gehege. Mit Uexkülls Umwelttheorie war also ein neues Verständnis der Ökologie als Semiosphäre im Sinn von Zeichen-Struktur-Korrelation gewonnen. Erst spät, d. h. ab den 1960er Jahren haben die Zoodesigner begonnen, sich der von Uexküll ausgearbeiteten Methode der Umweltanalyse, die besonders für den Anwendungsfall Zoo durch Hediger spezifi ziert wurde, zu bedienen. Das Konzept des »immersed in the landscape« ist die neueste Frucht der Entwicklungsgeschichte des Zoodesigns und verdankt sich vor allem der amerikanischen Kulturbewegung der 1960er Jahre, die das Bewusstsein der postindustriellen Naturbeherrschung aufgebrochen hat. Die kalifornische Kultur der Sensibilisierung für Natur- und Körpererlebnisse und das genaue Studium der Strategien, mit deren Hilfe eingeübte Wahrnehmungsweisen verändert werden können, hatte langfristig auch eine neue Inszenierungsform der Mensch-Tier-Begegnung im Zoo herausgefordert. Eine besondere Gestaltungsmöglichkeit dieser Begegnung ist jene immersive Form. Im Zentrum der Intentionen der Inszenierungspraxis stehen Erlebnisse, die aus dem halb-träumenden Zustand heraus uns unerwartet begegnen sol len. In diesem Zustand der Versunkenheit kann sich etwas ereignen. Dieses Ereignis muss geduldig erwartet werden und ist nicht spektakulär, sondern taucht unvermittelt auf. Die ethische Basis des immersiven Zoos ist Respekt vor der Eigenart der Zootiere, die sich auf der Ebene der Zoogestaltung zuallererst in der Achtung vor ihrem Rückzugsbedürfnis ausdrückt. Die Zooarchitektur dieses Typs erlaubt den Zootieren durch Verstecken, Verkriechen und Flüchten jederzeit den Drang auszuleben, einen Sicherheitsabstand zwischen sich und den Menschen zu bringen. Umgekehrt gibt jetzt auch diese Zoogestaltung endlich das bis vor kurzem unhinterfragte Recht des Besuchers preis, die Tiere vorgeführt zu bekommen. Das wichtigste Gestaltungsprinzip ist hier die Bepfl anzung, die den Unterschied zwischen Innen und Außen des Geheges auf heben soll. Das Gefühl, mit den Tieren in einer gleichartigen Raumsituation zu sein, bestimmt das setting, die Regie der Blickkontakte und das emotionale Gefühl einer allgemeinen ruhigen, aufmerksamen Gestimmtheit durch die gleichen äußeren Umstände. Im öffentlichen Kampf um einen Zoo, der den Wünschen eines sensiblen Umgangs mit der Natur gerecht wurde und eine radikale Abkehr vom taxonomischen Präsentationsstil für die Tiere verlangte, entwickelte der Woodland Park Zoo in Seattle 1976 den ersten Masterplan eines Zoos, der neue Wege der ökologischen Denkweise beschritt. Mit einem zuvor ungekannten wissenschaftlichen Aufwand wurden die ökologischen Gegebenheiten recherchiert, experimentiert und letztlich wurde ein riesiges Areal in zehn verschiedene Bioklimaten eingeteilt. Das Ergebnis war, dass die Vegetation direkt das spezifi sche Mikrohabitat der Gegenden reflektierte, wenn auch das Klima davon abwich. Von den dafür vorgesehenen Tieren konnte dieses Klima durchaus akzeptiert werden, da man über die Spannweite der Akklimatisierung schon lange Bescheid wusste. In Seattle wurde auch das erste Gorilla Gehege als immersion exhibit gebaut.

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VISITOR PATH MARMOT ROCKS

MOUNTAIN GOAT EXHIBIT

Abb. 3: Skizze eines auf dem Habitat-Konzept basierenden Bergziegengeheges für den Woodland Park Zoo von Johnes & Jones.

David Hancock betont in seiner Abhandlung über gelungene und misslungene Zookonzepte besonders die detailgetreue Stimmigkeit und Authentizität, die in dieser Art Gehege ausschlaggebend ist. Der Besucher muss das physisch und psychologisch zusammenstimmende Gefühl haben, in diesen Landstrich tatsächlich eingebettet, versunken zu sein und mit allen Sinnen dieser Umwelt anzugehören. »It appealed, he says, fi rst to the emotion and secondly to the intellect.« (Hancock 2002, 118) Der Appell an die Sinne, an die Körperlichkeit der Vorgänge und des einmaligen, unwiederholbaren Augenblicks ist auch ein Kennzeichen der Performance als bevorzugter Modus der Theatralität seit den 1990er Jahren. Zeitgleich mit den Naturbewegungen hatte sich in den 1970er Jahren eine bemerkenswerte Kultur des Experimentierens mit neuen Formen des Theaters herausgebildet. Raum- und Inszenierungskonzepte der Avantgarde der Jahrhundertwende wurden aufgegriffen und weiterentwickelt, teilweise wurden ganz neue Ansätze gesucht. Ein besonders interessantes Phänomen der neuen Theaterkultur war die Entwicklung des Performativen und seine kulturhistorische Bedeutung. In signifi kanten Passagen passen die Begriffe, mit denen die Ästhetik des Performativen beschrieben wird, mit jenen, die für die Inszenierungspraxis im immersiven Zoo gefunden wurden, insofern überein, als es beiden um die Umkreisung desselben Phänomens geht, um das Phänomen des Ereignisses, um das Glück einer unerwarteten Präsenz.

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III. Das Authentische im Zoo und seine Dilemmata – historisch betrachtet Seit Beginn des 20. Jahrhunderts wurde unter Zoobetreibern, Zoogegnern und Zoobesuchern das Thema der Natürlichkeit, Echtheit, Wildheit, Unverfügbarkeit verhandelt. Die Sehnsucht nach Authentizität stürzten die Zoos in eine Legitimationskrise besonderer Art. Die meisten europäischen Zoos verdankten ihre ökonomische wie soziale Basis dem bürgerlichen wissenschaftlichen Auf klärungspathos. Aus den Arbeiten zur Geschichte der Zoos weiß man, dass die disziplinierte, auf Anschaulichkeit bedachte, wenig raffinierte Vermittlung von zoologischem Wissen in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts solange funktionierte, bis mit 1870 eine heftige Konkurrenz unter den deutschen Zoos ausbrach. Der bevorzugte Stil des englischen Landschaftsgartens und die ungeheuer aufwändigen historischen Tierhäuser trugen den Ruhm der deutschen Tiergärten in alle Welt. Der wissenschaftliche Beglaubigungseifer begann allerdings die ehrgeizigsten Zoos buchstäblich in die Enge zu treiben. Die Tiere, nach taxonomischen Richtlinien gesammelt und präsentiert, fielen einem Vollständigkeitsideal zum Opfer, das nach der Anerkennung des Darwinismus noch gesteigert wurde. Die Raumgröße der Wildtiergehege verkleinerte sich drastisch. Die Tiere wurden in ihren engen Behältern oftmals rabiat oder zeigten apathisches, depriviertes Verhalten. Der akuten Raumnot war nicht leicht abzuhelfen, da sich die an die Tiergärten angrenzenden Areale zu teuren Wohngegenden entwickelt hatten. Dennoch verkündeten der Berliner Tiergartendirektor Ludwig Heck und sein Sohn 1939 stolz, dass der Tiergarten mit seinen 4000 Säugetieren, 1500 Vogelarten und 8300 Reptilien, Amphibien und Fischen der weltweit tierreichste Zoo sei. Dieser Ruf entsprach dem Geltungsbedürfnis Berlins, der Tiergartendirektor und sein Sohn erfreuten sich einer glänzenden gesellschaftlichen Reputation.

1. Hagenbecks Tierparadies – Theatralität im Zoo Hagenbeck stellte dem Zoo die Aufgabe, das Thema der Präsentation emotional und nicht kognitiv zu behandeln. Die ästhetische und raumtheoretische Auffassung des Zoogeheges als Schnittpunkt von animalischem Territorium und Bühnenraum war erst auf der Basis von Uexkülls Umwelttheorie und Heini Hedigers daran anknüpfendes Forschungsprogramm möglich. In meiner historischen Rekonstruktion setze ich die Authentizitätsdiskurse aus der Mitte des vorigen Jahrhunderts mit der verhaltensbiologischen und raumästhetischen Wirkungsgeschichte der Umwelttheorie Jakob von Uexkülls in Verbindung. Die in der Öffentlichkeit und unter Experten diskutierten Probleme über die biologische und ästhetische Stimmigkeit der Repräsentanz von Lebensräumen von Wildtieren im Zoo hat Uexkülls Umwelttheorie in eine neue, lang anhaltende Phase kreativer Zookonzepte geführt. Die Übersetzung der Umweltlehre Uexkülls

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in ein neues ästhetisches Raumprogramm für Zoogehege wurde hauptsächlich vom Schweizer Zoodirektor Heini Hediger geleistet, dessen Zookonzept in der zweiten Jahrhunderthälfte internationaler Standard wurde. Die seit 1915 entwickelte Uexküllsche Umweltanalyse untersucht die artspezifische Konstruktion eines Aktionsund Wirkraums von Mensch und Tier, die das Schutz- und Wohnbedürfnis als biologisches und anthropologisches Grundthema ernst nimmt. Uexküll hatte zusammen mit seinen Mitarbeitern das Institut für Umweltforschung im Hamburger Zoo betrieben. Er hat dort das Zusammenspiel zwischen Zeichenträgern der phänomenologisch, holistisch aufgefassten Außenwelt und dem sinnesphysiologischen Organisationsplan als Matrix der körper-zentrierten Wahrnehmung eines Organismus genau zu bestimmen versucht. Sein langjähriges Forschungsprogramm war die systematische Entschlüsselung der spezifi schen Bedeutung von Zeichenträgern in der jeweiligen Umwelt der Organismen. Hediger hat im Anschluss daran die Zoogehege nach Bedeutungsträgern für die individuellen Tiere in Korrelation zu ihren vitalen Bedürfnissen (z. B. Schutzbedürfnis) abgesucht. Uexkülls Umwelttheorie hat Konrad Lorenz als Verhaltensforscher und Hediger als Zoodirektor stark beeinflusst. Um den Bühnencharakter der urbanen Zoogehege und die sich noch immer verdichtende Präsentationssituation der Zootiere zu rechtfertigen, haben die Zoobetreiber in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts begonnen, die Rhetorik des Zoogeheges als authentisches Territorium seiner Bewohner publikumswirksam in den Vordergrund zu stellen. Die Verschmelzung des Uexküll’schen Umweltbegriff s mit dem »Territorium« als einem der zentralen Begriffe der modernen Verhaltensforschung hat nachhaltig für die biotheoretische, ästhetische und praktische Modifi zierung der Zoos gesorgt. Im Zentrum steht heute die Auff assung vom Zoobesuch als eine Tier-Mensch verbindenden Performance, deren Verhalten einerseits architektonisch mittels Umzäunungen, Verstecken, Plattformen, Rastplätzen und strikter Wegführung kanalisiert wird, andererseits durch einen vorgegebenen Rhythmus die individuelle Aufmerksamkeit der Zootiere genauso wie die kollektiven Erlebnisse der Zoobesucher mittels bestimmter Zeiten für Tierfütterung und Dressurarbeit in einem festen Beschäftigungsregime zusammenbindet. Meine Analyse der Bedeutung von Authentizität für Zoos möchte jene Diskurslinien rekonstruieren, die, angetrieben vom ästhetischen Unbehagen angesichts unglaubwürdig gewordener, nach zoologisch-systematischen Prinzipien geordneten Inszenierungen von Wildtieren hinter engen Gittern in engen Schauräumen, der Thematik von Authentizität neue Bedeutungsfelder eröff neten. Die Präsentation der oft sehr teuren Tiere hatte von jeher mit mehr oder minder aufwändigen Inszenierungen zu tun. Die Art der Inszenierung und ihre zentralen Aussagen haben sich jedoch verändert. Die frühen hocharistokratischen Menagerien waren der eleganten Belehrung und der Symbolik des Beherrschens und Zähmens gewidmet. Dementsprechend wurden nur zahme bis halbzahme Tiere gehalten, die dem gewünschten Bild der polizierten Tieren nicht widersprach. Der Präsentationsstil

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veränderte sich von der streng geometrischen Anlage des Barockgartens mit ihrer die Perspektive und die versteckten Möglichkeiten der Blickkontrolle feiernden Raumordnung, über die romantische Szenografie des englischen Landschaftsgartens. Die fi nanzielle Basis der meisten Zoos bestand Mitte des 19. Jahrhunderts aus Schenkungen und aus Beiträgen von diversen Gelehrten-Gesellschaften, die elitäre Clubs mit einer relativ homogenen Mitgliedschaft und gleichartigen Zielsetzungen waren. Seit etwa 1870 erhöhte die Gründung von Aktiengesellschaften die Zahl der Subskribenten und verbreiterte damit die soziale Zusammensetzung der Eigentümer, ermöglichte die Beschaff ung bedeutenderer Kapitalbeträge und damit die Finanzierung größerer Projekte. Die Richtlinie für die Gartengestaltung orientierte sich im Wesentlichen am englischen Landschaftsgarten und die Tiere wurden je nach den lokalen ökonomischen Verhältnissen in einfachen Häusern oder – wie in Berlin – in »Tierpalästen« präsentiert. Die wissenschaftlich geforderte Veranschaulichung der Darwinschen Evolutionstheorie im Zoo bedeutete für die ausgestellten Tiere – je nach Mitteln und Akribie der Kuratoren verschieden – eine zusätzliche Platzbeschränkung, da der Auf klärungsauftrag die möglichst vollständige Darstellung der Verwandtschaftsreihen der Tiere verlangte. In der Forschungspraxis, im Zoodesign wie in der Managementkultur der Zoobetreiber spiegelt sich seit der 19. Jahrhundertwende das Bewusstsein um die Schwierigkeit wider, das ästhetische Phänomen des Authentischen zu bewahren. Seither ergänzen sich zwei Positionen: Erstens kommunizieren mit Verweis auf die Naturschutzagenden die Zoos ihr Selbstverständnis als Stellvertreter für die eigentlich authentischen Landschaften und Tiere. Zweitens wird für diesen guten Zweck in der Zoogestaltung die Sehnsucht nach Naturnähe stark emotionalisiert. Ein Zoobesuch gilt nicht mehr dem Wissenserwerb, sondern wird dramaturgisch mit großem Aufwand illusionistischer Architektur als Erlebnis einer besonderen MenschTier-Begegnung in Szene gesetzt. Ein beredtes Beispiel für diese Verschiebung bietet David Hancock, Zoodirektor und Landschaftsarchitekt des Victoria’s Open Range Zoo in Werribee, Australien, der 2001 die Ziele eines Zoos defi nierte: »Attempts to conceive zoos of the need to reach visitors at this emotional level have often been derided as romanticicm. Yet if zoos are to help create an informed and aware citizenry that is sympathetic to the increasingly urgent plight of wildlife, they need to be much more effective than they have been in the past. They need to remind their urban visitors of the wildness of the wild animals. Rather than displaying them as aberrant pets, zoos have to fi nd ways to concince people of the splendour, the beauty, the ruggedness, the reality of the wild. A central component of the answer to this problem lies in design and in new ways of presenting animals to urban and suburban audiences increasingly divorced from any daily contact with nature.« (Hancock 2002, 85) Er erzählt ein Erlebnis eines Kollegen, der als Landschaftsarchitekt des Woodland Park Zoo in Seattle eines Abends durch diesen Zoo ging und beim Anblick

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Abb. 4: Hagenbecks Tierparadies.

einer einander jagenden Löwengruppe seine geschützte Situation vergaß und bis in die Knochen erschrak, obwohl er selbst dieses Löwengehege gebaut hatte. Dieser Mann hat die Ziele seiner Arbeit so defi niert: Er beurteile die Effektivität eines Zoodesigns daran, ob die Pulsfrequenz des Zoobesuchers steigt und ob er eine Gänsehaut bekommt, wenn ihm dort Unerwartetes begegnet. Als der anhaltende Erfolg des gitterlosen Haltungs- und Präsentationssystems, das mit Hagenbecks Eröff nung seines »Tierparadieses« 1907 in Stellingen bei Hamburg begonnen hatte, die Frage nach der Authentizität im Sinn von Naturnähe zum ursprünglichen Lebensraum der Zootiere radikalisierte, setzte ein von den deutschsprachigen Zoodirektoren vorangetriebener Prozess der Selbstvergewisserung ein, der erst mit der Etablierung der Tiergartenbiologie als eigene Disziplin durch Heini Hediger um 1950 seinen vorläufigen Abschluss fand. Die Disziplinendynamik der Tiergartenbiologie ist als Beispiel eines vernetzten Strukturwandels von Wissenschaft und Öffentlichkeit beschreibbar, an deren Ausgangspunkt die Verknüpfung der Forderung nach Anschaulichkeit in der Wissensvermittlung stand. Seit Hagenbecks Tierparadies und der dadurch ausgelösten Zookrise setzten die Zoobetreiber Authentizität in den Mittelpunkt ihrer Ästhetik. Die Mittel, deren sie sich bedienen, sind heute noch Naturschutzpropaganda, Illusionismus und individualisierte Forschung des Verhaltens der Zootiere. Seit diesem mit Hagenbeck vollzogenen Paradigmenwechsel in der Konzeption der Zoos hat die geforderte Authentizität nicht aufgehört, das gestalterische Innovationspotential der Zoos auf die Probe zu stellen. Denn Hagenbecks Zoo gab eine

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direkte, sinnlich erfahrbare Antwort auf die Frage, ob das Zoogehege auch ein authentischer Ort für die Wildtiere selbst sein könnte. Viele zoohistorische und kulturhistorische Arbeiten haben das Hagenbeck’sche Displaysystem bereits beschrieben (Rothfels 2002). Im Folgenden konzentriere ich mich darauf, in welcher Weise Hagenbecks Tierparadies den Anstoß gegeben hat, die Frage nach der Authentizität der Räume, in denen Wildtiere im Zoo leben, als Thema der im Entstehen begriffenen Verhaltensforschung sowie der Domestikationsforschung zu behandeln. Unter vielen mög lichen Ursachen der Krise soll hier die zunehmende Verbreitung des Naturschutzgedankens in deutschsprachigen Ländern ernst genommen werden. In diesem Kontext kann die Eröff nung der Hagenbeck’schen Freianlagen 1907 als Anlass zu einer Radikalisierung der Krise des Tiergartens sowie der produktiven Methodenkrise der Tierpsychologie und die damit zusammenhängende Entstehung der Verhaltensforschung als Beginn der Überwindung der Krise verstanden werden. Fotos und Zeitungsberichte geben Auskunft über den massenhaften Zuspruch, dessen sich die Zoos als Orte des Vergnügens erfreuten. Doch auch das Massenpublikum durchlief eine Veränderung. Mit Beginn des stärker einsetzenden Tourismus, mit dem zunehmenden Konsum von Illustrierten, mehr noch mit dem sich entwickelnden Markt für die Massenmedien Fotografie und Film konnte so viel Vorwissen über exotische und sonstige nicht-heimische Tiere erworben werden, dass sich der Erwartungsdruck auf die Ansprüche einer adäquaten Repräsentationsweise der Tiere im Zoo naturgemäß erhöhte. Dem Hagenbeck’schen Tiergarten als Publikumsmagnet war es gelungen, einen Tiergartenbesuch in Stellingen zu einem qualitativ neuartigen Event der TierMensch-Begegnung werden zu lassen, da er die Tiere in weiträumiger Landschaft zeigte, die weder durch Zäune eingesperrt, noch in einfachen oder hochartifi ziellen Tierhäusern wohnlich untergebracht waren, sondern ohne den Schutz von Häusern oder Zäunen, dem klassischen Signum menschlicher Zivilisation, auszukommen schienen. Diese neuartige Qualität der Präsentation der Wildtiere in scheinbar »unzivilisierten« Räumen traf ins Zentrum der Authentizitätsdiskurse, die den Zoologischen Garten von vielen Seiten, besonders von Naturschutzkreisen her umspannt hielten. Mit diesen vorgetäuschten Naturräumen war mit einem Mal Authentizität und Naturnähe des Geheges, zu einer mit allen Sinnen erfahrbaren und überprüf baren Qualität geworden, die das übliche Konzept der »biologischen Behälter«, jener durch Steine oder andere Zitate die typische Landschaft dieser Tiere kennzeichnende Darstellungsmethode, weit hinter sich ließ. Art und Inhalt der lang anhaltenden und kontrovers geführten Diskussionen unter deutschsprachigen Zoodirektoren über Hagenbecks Zookonzept – angeführt vom Berliner Zoodirektor Ludwig Heck, gefolgt vom Dresdener Zoodirektor Gustav Brandes und Kurt Priemel vom Frankfurter Zoo – sind ein Ausdruck dafür, dass sich die Zoodirektoren über die Bedeutungsverschiebungen der Anforderungen, die vom »großen Publikum« an den Zoo gestellt wurden, erst einmal

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Klarheit verschaffen mussten. Eine wichtige Verteidigungsstrategie gegen die zunehmenden Angriffe auf den konventionellen Zoobetrieb war das Bemühen dieser Zoodirektoren, den Zoo als exemplarischen Ort für Forschungsmöglichkeiten vor allem der Tierpsychologie auszuweisen. Als Priemel 1928 in der ersten Nummer der neuen Folge von »Der Zoologische Garten« die Motive für die Neugründung des alten Organs der Tiergärtner referierte, benannte er einerseits die stürmische Entwicklung in der Genetik, der experimentellen Tierzucht und der Tierheilkunde und andererseits die Entwicklung der Tierpsychologie und besonders die durch Wolfgang Köhlers Affenstation in Teneriff a eindrücklich demonstrierte Qualität der mehrjährigen, intensiven und systematischen Forschungen an gefangen gehaltenen Tieren.1 Immer wieder erschienen in den folgenden Jahrzehnten Artikel über die »Forschungsmöglichkeiten der Tierpsychologie in Zoologischen Gärten«, um damit die »Daseinsberechtigung Zoologischer Gärten« (Fischer 1930) zu deklarieren.

2. Die Architektur der Inszenierung vor dem Immersions-Konzept: Wien als Beispiel Man kann an der Dramaturgie der Präsentation der gefangenen Wildtiere im Schönbrunner Tiergarten unter Antonius und Heinrich, dem Schönbrunner Bauamtsdirektor und Architekten aus der Schule des Budapester Historismus, beobachten, wie hier kulturgeschichtliche und naturwissenschaftliche Diskurse ineinander greifen. Die Inszenierung des Schönbrunner Tierbestandes orientierten Hein rich und sein Zoodirektor Antonius aus mehreren Gründen konsequent am Paradigma des Theatralischen. Die denkmalgeschützte Anlage der Menagerie eignete sich für eine modernisierte Umgestaltung der Käfige als bühnenanalogen Raum besonders, weil hier das Ideal der naturnahen Landschaft im Sinne des englischen Gartenkonzeptes keine Rolle spielte. War im übrigen Deutschland jene im Landschaftsgarten ausgedrückte kulturpolitische Opposition des Adels gegen den Absolutismus zum gängigen Gestaltungsideal der Zoologischen Gärten des 19. Jahrhunderts avanciert, so hatte die Schönbrunner Anlage wegen des Fehlens ausgedehnter Vegetationsfl ächen mit malerischen Baumgruppen das barocke, auf einen idealen Einzelbetrachter hin orientierte, zentralperspektivische Blickregime gewahrt, auch dann, als Heinrich den Zoo baute, bzw. umbaute. Daher war der einzelne Besucher eher ein Betrachter einzelner Tiere, ihrer Bewegungen und Verhaltensweisen. Dies stand im deutlichen Gegensatz zu einem Besucher eines Tier parks im Stile Hagenbecks, in dem das zentralperspektivische Erleben von Tieren ersetzt wurde durch ein panoramatisches Raumerlebnis, das Besucher glei1 Zur Entstehungsgeschichte der Anthropoidenstation auf Teneriff a und deren Bedeutung für die Geschichte der Tierpsychologie siehe u. a. Ash 1995, Kap. 11.

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chermaßen wie Tiere in einer Raumerfahrung von großzügiger Landschaft im offenen Horizont quasi-egalitär zusammenbindet. Der Denkmalschutz orientierte die Entwicklungsmöglichkeiten, die von Heinrich und Antonius umzusetzen waren, beinahe unvermeidlich in die Richtung des Theatralischen. Auch wenn in den 1930er Jahren durch die Gestaltung einzelner Anlagen – wie z. B. der Schwimmvogelteich, in den eine Felskulisse mit Wohnhöhlen für Robben gesetzt wurde – eine sinnliche Geste in Richtung Landschaftsraum versucht wurde, blieb das RaumAbb. 5: Junge Löwen in Schönbrunn. Die Büh nenarchitektur der neuen Außenkäfige programm der Schönbrunner Anlage der 1930er Jahre. insgesamt im architektonischen Ausdruck der Dramaturgie der belehrenden Betrachtung und eines dieser Dramaturgie annotierten topologischen Verhältnisses von Tier und Mensch als einem Vis à Vis oder Von-Unten-Hinauf ver pfl ichtet. In Schönbrunn wollte das Publikum die Tiere offenbar vorgeführt bekommen, oder mit den Worten von Antonius ausgedrückt: »Denn es genügt auch dem tierfreundlichsten Besucher nicht, das gesuchte Tier in einem großen Käfig zu wissen, er will es auch sehen.« (Glaser 1990) Mit einer historistischen architekturphilosophischen Orientierung, die Bauen als einen selbstbewussten Akt der Interpretation des eigenen Standortes im Bezugsfeld der Tradition versteht, verband Heinrich die sinnliche Umsetzung der Funktionen des Schönbrunner Tiergartens als Ort der anschaulichen Belehrung, der Wissensvermittlung, des bestmöglichen Anschauungsunterrichts. Wie zuvor, wurden die Käfige und Gehege als verschieden große Bühnen aufgebaut, die die Höhe des Käfigbodens und den Abstand zum Publikum bestimmen. Das Publikum bewegte sich entlang der seriell angeordneten »Guckkastenbühnen«, die es erlauben sollten, sich auf das Wissenswerte ohne Ablenkungen zu konzentrieren, um sich ein Bild und eine Vorstellung vom Aussehen und Gebaren der Tiere zu machen. Erst das heute intendierte Konzept der Immersion, das den Menschen gleich wie das Tier in ein die Ethik der Mitgeschöpfl ichkeit betonendes gemeinsames Raumsystem versetzen will, hebt genau jenes Belehrungsverhältnis auf, das noch Antonius und Heinrich als Träger des Bildungsbürgertums selbstverständlich verfolgten. Besonderes Interesse verdient die Frage, wie Antonius und Heinrich die Inszenierung der Affen lösten. Da der populäre Darwinismus in Wien durch Ernst Häckels Monistenbund stark in der Wiener Volksbildung vertreten war, ist kaum

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denkbar, dass die Affen ohne einen besonderen dramaturgischen Kommentar ausgestellt wurden. Auch das Raumproblem, das sich daraus ergab, dass sich besonders bei den Affen das Publikum drängte, sollte durch das die Schau lust disziplinierende Konzept der Bühne raumorganisatorisch und symbolisch gelöst werden. Im Innenraum des Affenhauses wurde durch das Anbringen einer Zuschauertribüne (Podium genannt), die in einem dem Theatergraben entsprechenden Abstand gegenüber den vergitterten und verglasten Affenkäfigen fi xiert wurde, der Auff ührungscharakter eines Theaterbesuches architektonisch nachgebildet. So drückte sich die Ernst Häckel geschuldete Interpretationsweise des optimistischen, fort- Abb. 6: Zuschauertribüne vis à vis schrittsgläubigen Jahrhundertwende-Darwi- der Affenkäfige in Schönbrunn in nismus in dieser Auff ührungspraxis aus. Der den 1930ern. wissende Kulturmensch der Moderne betrachtete sich selbst als die naturgesetzlich entwickelte Spitze der Evolution und stellte seine mit den Affen gemeinsame Abstammungsgeschichte selbstbewusst aus. Gemessen an der heutigen Präsentationsweise, die vor allem Primaten in Familienverbänden und in möglichst authentischen Vegetationsräumen zeigen, in denen die Tiere sich den Blicken des Publikums weitgehend entziehen können, geht das hier dokumentierte Selbstverständnis des Betrachters von anno 1930 noch von dem uneingeschränkten Recht der Vorführung der Tiere aus. Heinrich und Antonius haben mit den Mitteln der Theaterarchitektur markant zwischen Besucher und Affen unterschieden. Damit hatten sie einen starken Ausdruck dafür gefunden, den evolutionären Übergang doch noch als einen qualitativen Sprung ins Gegenüber zu deuten. So griffen sie mit den Mitteln der Kunst disziplinierend in eine komplexe und öffentlich geführte Debatte ein. Die Raumwirkung des Affenhauses stand – aus der Perspektive heutiger Gestaltungskonzepte betrachtet – klar im Dienste der Demonstration des Unterschiedes und der theatralischen Inszenierung dieses Topos. Dramaturgisch etwas anders ist das Raumsystem in der Abteilung für Menschenaffen gelöst worden. Die Käfige für Menschenaffen wurden nun auch in Wien verglast, damit die Ansteckungsgefahr der empfi ndlichen Tiere durch die Besucher wirksam unterbunden werden konnte. Damit war aber gleichzeitig die Möglichkeit gegeben, den bei den niederen Affen betonten Unterschied symbolisch wieder aufzuheben. Nur durch eine Glaswand getrennt, ermöglichte die Architektur den Kontakt mit diesen das menschliche Empfi nden oft irritierenden Geschöpfen auf einer direkteren Ebene aufzunehmen. In Anlehnung an das Berliner Affenpalmen-

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haus wollte man auch hier durch Vegetation eine symbolische Verbindung zwischen dem Raum für Besucher und dem Raum, in dem die Menschenaffen wohnten, herstellen. Aber mit den Pfl anzen wollte oder musste man in Wien offenbar geizen. Über den oberfl ächlichen Verweischarakter kam dieses Zitieren der Pfl anzen aus dem Heimatland der Tiere nicht hinaus; gemessen am Berliner Pendant oder gar heutigen Erlebnissen in einem Regenwaldhaus jeden beliebigen Zoos blieb es bei einer Geste aus dem Fundus der Innendekoration. Zusammenfassend kann man feststellen, dass Antonius und Heinrich die MenschTier-Begegnung im Schönbrunner Tiergarten architektonisch auf der Basis eines meist unbesprochenen Grundsatzes auf bauten: durch den Abstand sichernde eiserne oder gläserne Absperrungen sollte der Respekt vor den Tieren gewahrt werden und sentimentale (krankmachende) Anbiederungsversuche von Tiergartenbesuchern möglichst verhindert werden. Die Schutzlosigkeit der Tiere gegenüber den oft aufgereizten Empfi ndungen der Tiergartenbesucher sollte mit Hilfe der Bühnenarchitektur aufgehoben werden, indem sie die Würde der Tiere auch hinsichtlich ihrer Rolle für das rezipierende Publikum unterstrich. Auch die heute als bauliche Prunkstücke unter Denkmalschutz gestellten Tierhäuser stehen ganz im Zeichen der kognitiven Präsentationsweise. Für den Historismus der Zoobauten – besonders deutlich an den indischen Pagodennachbauten für Elefanten und an den Bemalungen mit altägyptischen Hieroglyphen des Straußenhauses im Berliner Zoo – galt offensichtlich noch die Regel, dass die Forderung nach Authentizität nicht den authentischen Lebensraum der Tiere meinte, sondern in erster Linie auf das Wissenssystem bezogen blieb. Denn der Historismus war vor allem auch eine Hochkultur komplexer Verweisungsprozesse zwischen Artefakten, ihren beglaubigten Originalen, evidenzerzeugenden Ritualen und ihren symbolischen Repräsentationen. Nietzsche hat dies in furioser Abwehr gegen die Erstarrungen dieses Systems beschrieben. Seine berühmte Kritik betraf die Wissenskultur einer Gesellschaft, der er vorwarf, die offenen Fragen der Menschen zu unterdrücken – ausschließlich im Dienste einer fatalen Ersetzung des Authentischen durch ein unbefriedigendes, aber aufwendig konstruiertes System der Authentifi zierung.

3. Tierpsychologie: Konrad Lorenz, Heini Hediger und Otto Antonius Hagenbecks »Tierparadies« mit seinen Inszenierungen von Landschaftsräumen und mit seiner radikalen Opposition zu den aufwändig gestalteten Tierhäusern durch bewussten Verzicht auf Signaturen europäischer Zivilisation hatte das allgemeine Interesse auf die Authentizität der Lebensräume von Wildtieren gelenkt. Drei Jahrzehnte später ist nun Mitte der 30er Jahre eine Art Antwort darauf von Seiten einiger Zoodirektoren festzustellen. Tierpsychologen und Zooleiter haben teils direkt und teils indirekt darauf hingearbeitet, die neue Sensibilität für Authen-

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tisches erfolgreich umzulenken. Ihre Arbeit setzte folgerichtig nicht an der sinnlichen Darbietung von weiten landschaftsähnlichen Räumen für Wildtiere in der Stadt an, sondern an der Bearbeitung der Frage nach der Authentizität der in Gefangenschaft lebenden Wildtiere selbst. Die eingangs beschriebenen Folgen von Hagenbecks Freianlagen und die durch ein wachsendes Interesse am Naturschutz ausgelösten Zweifel an der Authentizität der Lebensräume von Wildtieren in der bedrängten Enge des urbanen Zoos rückte auf wissenschaftlicher Ebene zwei konkrete Fragen ins Zentrum der Aufmerksamkeit: 1. Wie steht es um die Authentizität der Zootiere selbst? Sind die gefangenen und einer permanenten Ausstellungssituation ausgesetzten Tiere noch Wildtiere oder verändern sie sich durch die Zootierhaltung derart, dass ihre gesamte körperliche und psychische Verfassung einen Zustand annimmt, die auf die biologische Defi nition von Wildtieren nicht mehr passt? 2. Welche Raumgrößen und welche konkreten Qualitäten sind mit welcher Methode exakt zu ermitteln, um den Lebensraum von Zootieren in der Stadt dennoch zu einem authentischen im Sinne von artgerechten und bedürfnisgerechten zu machen. Ausgehend vom Studium der Merkmale für authentisches Verhalten von Wildtieren im Freiland, gelang es Hediger auf der Basis von Uexkülls Umwelttheorie die Bedürfnisse von Wildtieren unter menschlicher Obhut mit einem tragf ähigen theoretischen Konzept und mit kontrollierbaren Prognosen zu eruieren. Mit dem Ergebnis seiner in den 1930er Jahren erarbeiteten Analysen der regelhaft ablaufenden Veränderungsformen im Zähmungsprozess, versuchte Hediger, eine neue Basis für die Tier-Raum-Beziehung im Zoo zu schaffen, um darauf auf bauend das Gehege als authentischen Lebensraum defi nieren zu können. Diese zwei Fragen, die in der Tierpsychologie unter verschiedenen Aspekten aufgegriffen und bearbeitet wurden, erfassten also jene beiden Kernprobleme, deren systematische Bearbeitung seit den späten 30er Jahren das Fundament der Tiergartenbiologie legte. Während die zweite Frage vor allem durch Heini Hediger mit seiner Interpretation des aus der ornithologischen Feldforschung stammenden Konzeptes »Territorium« seit den 1950er Jahren eine bis heute praktikable Lösung gefunden hatte, waren an der Bearbeitung der ersten Frage neben Hediger auch der Domestikationsspezialist Antonius und der junge, ambitionierte Tierpsychologe Konrad Lorenz beteiligt. Lorenz’ Interesse richtete sich allerdings aus anderen Gründen auf den Domestikationsprozess. Zunächst aus zoologischen, dann während des Nationalsozialismus auch zunehmend aus ideologischen Gründen interessierte er sich für eine klare Unterscheidung zwischen ererbtem und erworbenem Verhalten. Die ungelöste Frage nach der Art, der Struktur und der Qualität der Veränderbarkeit des Verhaltens von Wildtieren, die seit je ein offenes Problem der Tierpsychologie war, erfuhr allgemein einen wichtigen theoretischen und methodischen

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Impuls, seit der Hauptvertreter der Berliner Gestaltpsychologie, Wolfgang Köhler, Anfang des 20. Jahrhunderts mehrjährige Untersuchungen in Teneriffa über die Struktur der Intelligenz von Anthropoiden unternommen hatte, indem er die Entwicklungsdynamik ihres Lern- und Sozialverhaltens unter Bedingungen permanenter Interaktion mit den Tieren beobachtete. Das Problemfeld »authentisches Verhalten« dynamisierte sich zusätzlich durch die methodische Kontroverse zwischen tierpsychologischer Beobachtung und Experiment im Labor, der freien Beobachtung im Sinne der Feldforschung und dem systematischen Beobachten und Experimentieren mit gehaltenen Wildtieren in gartenartigen Forschungsstationen. Mit der lebhaften theoretischen und praktischen Entwicklung der Domestikationsforschung, die ihrerseits seit der Jahrhundertwende durch die Genetik wesentliche Impulse erhalten hatte, trat eine zusätzliche Forschungsmöglichkeit in den Kreis dieses Fragenkomplexes: Welche Prozesse bestimmen die erblichen Veränderungen in der Struktur der Morphologie und im Verhalten der Haustiere? Welche Teile der Struktur werden davon betroffen und wie sind die Entwicklungsschritte des Transformationsprozesses von Wildtieren zu Haustieren bestimmbar? Besonders Forscher, die Tiere im Zoo oder auf einer Tierfarm (Lorenz) studieren konnten, beteiligten sich an der Klärung dieser Fragestellungen. In Europa haben sich um die Mitte der 1930er Jahre verschiedene Forschergruppen gebildet, die ich folgendermaßen positioniere: Auf der einen Seite steht der Schweizer Heini Hediger, auf der anderen stehen Oskar Heinroth und Konrad Lorenz und Otto Antonius. Hediger arbeitete in der politisch neutralen Schweiz über die Strukturen und Faktoren der Vorgänge, die sich ergeben, wenn Wildtiere sich an eine Umwelt anpassen, in welcher Menschen dominieren. Hediger interessierte sich für die Plastizität des Verhaltensrepertoires von Wildtieren, legte wichtige Arbeiten zur Phänomenologie der Haustiere vor, enthielt sich jeder negativen Bewertung von Abänderungen ihres Verhaltens, sprach von fehlerhafter Anpassungsleistung anstatt von Degeneration und versuchte krankmachende Umweltbedingungen zu eruieren, um den Zootieren eine für sie erträgliche Situation zu verschaffen. Sein Interesse als Forscher und Tierhalter galt nicht Degenerationserscheinungen, sondern der Untersuchung jener Faktoren, die der Ermöglichung einer zufrieden stellenden dauerhaften Mensch-Tier-Begegnung dienen. Heinroth forschte intensiv im Berliner Zoologischen Garten über das Verhalten von Vögeln und über die Auf klärung der Verhaltenssequenzen, die als vererbbar betrachtet werden können. Konrad Lorenz, der Heinroths systematisch-vergleichende Arbeitsweise in den späten 1920er Jahren im väterlichen Park in Altenberg in kleinem Rahmen aufgegriffen und bis zu seiner Übersiedlung nach Königsberg 1940 fortgesetzt hatte, arbeitete schließlich ab 1927 auf der Basis des Uexküll’schen Umweltforschungsprogramms weiter. Die Grundgedanken der Uexküll’schen Umwelttheorie war bereits das feste Forschungsprogramm der Wiener Schule der Psychologie, die unter der Leitung von Karl Bühler, Charlotte Bühler und Egon Brunswik, sowie auch bei Lazarsfeld und Marie Jahoda sich ausgebildet hatte, als

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Lorenz 1928 sein Psychologiestudium in der Bühlerschule aufnahm. (Hofer 2002) Heinroth und Lorenz waren daran interessiert, die Existenz von konservativen, arttypischen, genetisch fi xierten Verhaltensequenzen analog der morphologischen arttypischen Merkmale nachzuweisen. Sie gingen von der Hypothese aus, dass das authentische, arttypische Verhalten auf zwei Wegen verändert wird: erstens durch Rassenmischungen und zweitens durch rasche und drastische Veränderungen der Umweltbedingungen. Diesen als Degenerationsprozess arttypischen Verhaltens bezeichneten Prozess stellten sich die beiden Ethologen als ein Auseinanderbrechen von in Jahrmillionen entstandenen, miteinander fest gekoppelten Verhaltensanteilen vor. Lorenz arbeitete Ende der 1930er Jahre in dieses Degenerationskonzept seine 1935 entwickelte Theorie des arteigenen Schemas ein. Ein degeneriertes Verhalten hat nach dieser Auffassung ihre ursprüngliche biologische Bedeutung eingebüßt, agiert ins Leere und letztlich zum Schaden nicht nur des Individuums, sondern auch der Art und ist im Sinne von Lorenz damit wertlos geworden, da sich das arteigene und arterhaltende Schema im Laufe des Domestikationsprozesses bis zur Unkenntlichkeit auflöst. Konrad Lorenz hat sein Interesse an der Domestikationsforschung methodisch begründet. Er ging analogisch vor, basierend auf einer weitgehend gleichen Biologie von Säugetier und Mensch. Er stellte auch das Verhalten von Wildtieren, das durch Zähmungs- und Domestikationsprozesse allmählich verändert wird, mit einer angenommenen Verhaltensänderung des Menschen in großstädtischer Umgebung gleich. In einem kurzen Zitat soll das hier wiedergegeben werden: »Die Ähnlichkeit der biologischen Grundlagen macht es recht glaubhaft, dass die bis in kleinste Einzelheiten gehenden Parallelen im menschlichen und tierischen Verhalten nicht bloß äußere Analogien sind, sondern auf Ursächlichem beruhen. Daher dürfen wir hoffen, durch eine nähere Untersuchung des Verhaltens von Haustieren in unserem Verständnisse der biologischen Ursachen mancher bedrohlicher Verfallserscheinungen im Verhalten zivilisierter Menschen gefördert zu werden.« (Lorenz 1939, 140)

IV. Wege zur Tiergartenbiologie: Das Zoogehege als Territorium Eine ungewöhnliche Verbindung von Domestikationsforschung, die sich an das Potential der individuellen Voreignung von Zähmbarkeit unter Wildtieren hielt und der Verhaltensforschung, die Hediger nicht als starr vererbtes StimulusResponse-Schema interpretierte, sondern als innerhalb bestimmter vererbter Grenzen erstaunlich individuelles Verhalten, stellten den Ausgangspunkt dar. Für Hediger war das Tier selbst der höchst aktive Interpret seines eigenen angeborenen Verhaltensschemas. Die hohe Individualität seines Verhaltens basiert auf der Matrix seiner spezifi schen Semiosphäre, die das Tier im Verlauf seiner Ontogenese geprägt haben. Hediger erarbeitete ein Schema der verschiedenen Stufen der zunehmend komplexer werdenden Mensch-Tier-Beziehungen von der Zäh-

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mung bis zur Domestikation, die er auf der Basis der Funktionskreisanalyse der tierischen Fluchtreaktion begründete und damit wichtige Merkmale der psychischen Veränderung der Tiere auf jeder Stufe dieses Transformationsprozesses festlegen konnte. Mit diesem für den Zoo beinahe maßgeschneiderten theoretischen Gerüst hat er mit seinem Forschungsprogramm der Zoobiologie im Zoo Basel, Bern und Zürich ernst gemacht. Seine Publikationen »Zur Biologie und Psychologie der Flucht bei Tieren« (1934), »Zur Biologie und Psychologie der Zahmheit« (1935), »Die Bedeutung der Flucht im Leben des Tieres und in der Beurteilung tierischen Verhaltens im Experiment« (1937) etablierte seinen Ansatz auch außerhalb der Fachgrenzen. Hediger ging es primär darum, eine Erklärung für die möglichst klare begriffl iche Unterscheidung zwischen Zahmheit und Domestiziertheit des tierischen Verhaltens auf der Basis seiner Funktionskreisanalysen der sich verändernden Fluchtreaktionen im Prozess der Zähmung wilder Tiere bereitzustellen. Dieser Unterscheidung maß Hediger zentrale Bedeutung bei, da er mit diesen beiden unterschiedlichen Begriffen auch die Phänomenologie der unterschiedlichen Verhaltensweisen von gefangen gehaltenen Wildtieren im Zoo einerseits und Haustieren andererseits zu erfassen vermeinte. Hediger ging in diesem Aufsatz »Tierpsychologie und Haustierforschung« seinerseits auf das von Lorenz 1935 in die Tierpsychologie eingeführte Phänomen der Prägung ein. Er begrüßte das Phänomen der Prägung als eine bedeutsame Erweiterung seines eigenen bis dahin entwickelten Schemas, das die wenigen, voneinander gut unterscheidbaren Weisen des Anschlusses von Wildtieren an den Menschen veranschaulicht: »Neuerdings hat aber Lorenz mit dem Phänomen der ›Prägung‹ eine weitere Möglichkeit zu unmittelbarer dauernder Annäherung zwischen Tier (Vogel) und Mensch aufgezeigt.« (Heidiger 1939, 34). Diese Erweiterung seines Schemas durch das Phänomen der Prägung besprach Hediger in extenso mit Hinweisen aus der Praxis der Tiergärtner. Wichtige Voraussetzungen für die Formulierung der Tiergartenbiologie, die Heini Hediger defi nierte, sind Annahmen, mit denen auch schon Antonius aus seiner tiergärtnerischen Praxis und seinem tierpsychologischen Interesse heraus gearbeitet hatte. Im Zentrum stand die wissenschaftlich zu klärende Frage, welchen Lebensraum ein Zootier braucht, um gesund zu bleiben. Die Erfahrungen aus der Praxis der Tiergärtner haben diese immer wieder davon überzeugt, dass die Zootiere prinzipiell dieselben Beziehungen zu ihrem Lebensraum entwickeln wie die Tiere in der Wildbahn, sofern es gelingt, die artspezifischen Umweltfaktoren zu fi nden und dafür im Zoo Ersatz zu bieten. Das Ziel eines jeden guten Tiergärtners war die Gewährleistung aller Haltungsfaktoren, damit die lebenswichtigen Aktivitäten wie Futteraufnahme, Schlafen, Ruhen, Sonnenbaden, Fortpfl anzung, Brut pflege, Spielen usw. nicht fehlgeleitet oder unterbunden werden. Der beste Nachweis der Gesundheit wurde damals und noch heute darin gesehen, dass das Fortpfl anzungsverhalten, das bei den Wildtieren unter veränderten Umweltbedin-

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gungen leicht irritierbar ist, auch im Zoo möglichst authentisch, also verhaltensgerecht abläuft. (Hofer 2002, 206) Auf der Grundlage der Uexküll’schen Funktionskreise der Flucht, der Nahrung, der Sexualität, des Kumpans, hatte Hediger damit begonnen, die Beziehungen zu untersuchen, welche die Zootiere zu verschiedenen Objekten in ihrer Merkwelt aufgebaut haben. Man suchte die Objekte oder Menschen nach verschiedenen funktionalen Bedeutungen für die Tiere zu unterscheiden. Aus genauen Analysen der Objekte im Handlungsfeld der Tiere konnte dann das Gerüst eines funktionalen Raums konstruiert werden, der am Kriterium der biologischen Bedeutung für das jeweilige Tiersubjekt überprüft werden konnte. Die aus den Raum-Zeit-Koordinaten aufgebauten Räume wurden als Zoogehege gebaut, von denen man annehmen konnte, dass sie auf die biologisch bedeutsamen Bedürfnisse der Zootiere maßgeschneidert waren. Wenn beobachtet wurde, dass Zebras sich im Wildleben gerne das Fell an einem vertrockneten Termitenbau reiben und die Bedeutung dieser Fellpflege als biologisch sinnvoll und bedeutsam erkannt wurde, dann war man damit in der gut begründeten Lage, dem Zebra einen gesundheitlich unbedenklichen, aus Zement nachgebauten Termitenhügel, der bemalt oder mit sonstigen Requisiten der Bühnenbildnerei ausgedeutet sein mochte, als Ersatz im Gehege anzubieten. Wenn der künstliche Termitenhügel aus Zement für das Tier funktioniert, dann ist er biologisch-sinnvoll und damit für den Zoogestalter verwendbar. Das Problem der Zoogestalter sind im Allgemeinen die Menschen, die den Zement oder die gekachelten Wände der Zoohäuser für die Darstellung des Lebensraums der Tiere als unauthentisch empfi nden. Diese hier skizzierte Analyse der Verschränkungen von Bedeutungsträgern im Umfeld des Tieres zog natürlich eine Vielzahl von Disziplinen an. Der Schritt zur Formulierung der Tiergartenbiologie bestand aber wesentlich darin, das Wissen aus den diversen Disziplinen in einer dieses Wissen systematisierenden Theorie, mit guten Defi nitionen zu integrieren. Die Ansprüche dieser neuen Disziplin machte Hediger in einer später formulierten Defi nition der Tiergartenbiologie folgendermaßen deutlich: »Die Tiergartenbiologie liefert einerseits die wissenschaftlichen Grundlagen für die optimale und sinngemäße Haltung von Wildtieren im Zoo und erforscht und formuliert andererseits die besonderen biologischen Gesetzmäßigkeiten, die sich aus dieser Tierhaltung für Tier und Mensch ergeben. Die Tiergartenbiologie hat also eine doppelte Aufgabe zu bewältigen, und sie befasst sich dabei mit biologischen Erscheinungen bei Tier und Mensch […]. Nur in ganz seltenen Fällen wurden bisher die Zoos in ihrer Gesamtheit als ein biologisches Phänomen gesehen und behandelt. Hier hat die Tiergartenbiologie einzusetzen unter Einschaltung vieler anderer Disziplinen, die weit über die Zoologie, Tierpsychologie und Veterinärmedizin hinausgreifen bis in Humanpsychologie, Psychiatrie, Soziologie, Kriminologie, Architektur, Technik, Gartenbau […]«. (Hediger 1965, 62) Dieser synthetisierende Anspruch, den der »Vater der Tiergartenbiologie« Hediger entwickelte, wurde zuerst in Europa, dann auch international als verpfl ich-

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tender Kanon, nach denen sich Aufgaben- und Gestaltungsschwerpunkte der Zoologischen Gärten auszurichten haben, gehandhabt. Hediger setzte alle Hoff nung darauf, dass sich mit dem Begriff des Territoriums das Phantasma eines Freiheitsbedürfnisses der Tiere endlich auflöst: »Die Welt ist auch für die Tiere aufgeteilt in kleine Grundbesitze, die nicht ohne Kampf verlassen oder betreten werden können. Das so genannte frei lebende Tier ist räumlich empfi ndlich eingeschränkt, ja es ist nicht übertrieben zu sagen, dass es in seinem bescheidenen Lebensausschnitt eigentlich gefangen ist … Wir wissen jedoch heute noch mehr vom Territorium: Wir wissen, dass auch in Gefangenschaft das gut gepflegte Tier seinen Käfig oder sein Gehege als seinen Grundbesitz auff asst und genauso behandelt, verteidigt und markiert, wie ein frei lebendes Tier eben sein Territorium behandelt. Mit anderen Worten: dieses Tier fühlt sich keineswegs als Gefangener, sondern als Grundbesitzer. Das Gitter bedeutet ihm die sichtbare Grenze seines Wohngebietes.« (Hediger 1948, 6) Hedigers Bemerkungen machen die Tiergartenbiologie als vorläufigen Endpunkt einer komplexen Entwicklungsgeschichte verstehbar. Wenn Hediger die Ziele und Aufgaben der Tiergartenbiologie formuliert, so wird Hagenbecks Paradigmenwechsel, der sich zuallererst an der Kategorie der Authentizität orientiert hatte, nicht nur bekräftigt, sondern als zentrales Phänomen in den Kernbereich der Tiergartenbiologie gerückt. In diesem Sinne lässt sich Hedigers Arbeit als Rechtfertigung von Hagenbecks Intuition über die Bedürfnisse einer an der kritischen Instanz des Authentischen ausgerichteten Gestaltung von Mensch-Tier-Beziehungen in einer Großstadt interpretieren.

Literatur Agamben, Giorgio (2003): Das Offene. Der Mensch und das Tier. Frankfurt/M. Ash, Mitchell G. (1995): Gestalt Psychology in German Culture 1890–1967. Holism and the Quest for Objectivity. Cambridge und New York. Fischel, Werner (1930): Wissenschaftliche Tierpsychologie im Zoologischen Garten. In: Der Zoologische Garten. N. F. 2, 165–173. Fischer-Lichte, Erika (2004): Ästhetik des Performativen. Frankfurt/M. Glaser, Josef (1990): Schönbrunner Chronik. 5. ergänzte Auflage, Wien. Goffman, Irving (1977): Rahmen-Analyse. Ein Versuch über die Organisation von Alltagserfahrungen. Frankfurt/M. Hancock, David (2002): Different Nature. Berkeley. Hediger, Heini (1939): Tierpsychologie und Haustierforschung. In: Zeitschrift für Tierpsychologie 2, 34. Hediger, Heini (1948): Der Zoologische Garten als Asyl und als Forschungsstätte. Basel. Hediger, Heini (1965): Mensch und Tier im Zoo:Tiergarten-Biologie. Zürich. Heidegger, Martin (1983): Die Grundbegriffe der Metaphysik. Welt-Endlichkeit-Einsamkeit.

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V. AUSBLICK E

Die Beiträge des Symposiums haben ganz unterschiedliche Bezugspunkte der Wissenschaften zur Ästhetik aufgezeigt. Es ging um Formen des wissenschaftlichen Staunens und Sehens, um ästhetische Kulturen und Stile; um ästhetische Qualitäten des Wissens wie Symmetrie, Harmonie und Eleganz; um Design der Forschung, Präsentation und Performation des Wissens. Der folgende Dialog, der von einigen Teilnehmern nach Ablauf der Konferenz im Internet geführt wurde, versucht einige zentrale Problemstellungen und Ausblicke zu umreißen.

Wissenschaft als eine besondere Domäne der Ästhetik? Wolfgang Krohn: Wir haben auf dem Symposium versucht, wissenschaftsspezifische Aspekte des Ästhetischen vorzustellen. Damit werden einerseits Unterschiede zu einer ganz allgemeinen Ästhetik als Theorie sinnlicher Erkenntnis betont, andererseits wird die Eigenständigkeit gegenüber den spezialisierten Bereichen der Kunst und des Designs herausgehoben. Ich möchte fragen, ob möglicherweise Wissenschaft eine spezifische Domäne des Ästhetischen absteckt, deren Bestand und Entwicklung durch »wissenschaftsästhetische Forschung« erkundet werden könnte. Oder führt die Annahme einer solchen Domäne eher in eine Sackgasse? Ernst Peter Fischer: Ich denke, dass es in der Wissenschaft so etwas wie eine spezifische Domäne des Ästhetischen gibt, weil die Wissenschaft keine Werke (Gemälde, Dichtungen) abliefert, die man ästhetisch bewerten könnte. Das Ästhetische zeigt sich vor allem im kreativen Prozess, und mir scheint, dass wir darüber viel zu wenig wissen – zumindest im Bereich der exakten Naturwissenschaften. Hier würde die angedeutete »wissenschaftsästhetische Forschung« von Bedeutung sein. Wolfgang Braungart: Wissenschaft ist keine besondere Domäne der Ästhetik. Das kann man nur behaupten, wenn man, was leicht verständlich ist, betriebsblind ist. Wohl aber stellen sich auf dem Gebiet der Wissenschaft eigene Fragen der Bedeutung der Ästhetik und des Ästhetischen. Im Unterschied zu Ernst Peter Fischer sehe ich die Bedeutung des Ästhetischen keineswegs auf die kreativen Prozesse beschränkt. Aber man tut gut daran, die prozessuale Seite des Ästhetischen (in Produktions- wie Rezeptionsprozessen) abzuheben von der Ästhetik des Werks. Und natürlich gibt es auch in den Wissenschaften ›das Werk‹ in seinen spezifischen ästhetischen Erscheinungsformen. Vielleicht spielt die Werkästhetik in den so genannten Geisteswissenschaften eine größere Rolle; aber ich bin mir damit nicht einmal so sicher. Mit allem Nachdruck sei gesagt: Die Fixierung auf die Kategorie der Schönheit ist nicht sinnvoll, wenn man das Ästhetische als ein Grundproblem der Wissenschaften, aber darüber hinaus auch aller kulturellen Prozesse und ›Werke‹ angemessen in den Blick nehmen will. Natascha Adamowsky: Die Auseinandersetzung mit ästhetischen Dimensionen wissenschaftlicher Praxis und Präsentation ist von der Vermutung geleitet, dass es

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hier ein eigenes wissenschaftsästhetisches Feld ›zu erobern‹ gibt. Trotzdem wird man nicht um Gemeinsamkeiten und Parallelen herumkommen: Eine Ästhetik des Experimentes wird ihre Schnittstellen zwischen künstlerischem und naturwissenschaftlichem Experiment haben, und eine Ästhetik der Präsentation greift jeweils an Gegenständen an, die nicht der Wissenschaft allein gehören: Bild, Text, Ausstellung, Plastik und vieles mehr. Um hier ein eigenes Terrain zu besetzen, scheint es mir unabdingbar, über eine Ästhetik nachzudenken, die an den zentralen Parametern wissenschaftlichen Selbstverständnisses ansetzt. Zu erarbeiten sind die Begriffe und Operationen einer Ästhetik der Objektivität und Rationalität, der Empirie und des Beweises, der Auf klärung und des Wissens. Von besonderem Interesse ist, ob dabei Formen der Reflexion erkennbar werden, die allein auf einer ästhetischen Ebene zugänglich sind und möglicherweise eine Art genuin wissenschaftsästhetisches Wissen oder Können zeigen, das nicht als kompensatorisch-irrationale Gegenbewegung vereinnahmt werden kann. Wolfgang Krohn: Bei aller Hochachtung vor der Kreativität in den Wissenschaften, auf die Ernst Peter Fischer verweist, scheint mir der Blick auf die wissenschaftliche Werkästhetik besonders ergiebig. Jede Veröffentlichung ist ein solches Werk, entstanden durch Gestaltungsarbeit. Bei den besonders gelungenen und bedeutenden gibt es nun einen interessanten Effekt, der wissenschaftsspezifisch zu sein scheint: Die Aufmerksamkeit gilt binnen Kurzem nicht mehr der authentischen historischen Form, die der Autor einer Theorie, Experimentalanordnung oder Methode gewählt hat, sondern einer sich einschleifenden Stilisierung. Die Kreativität, die ursprünglich am Werke war, interessiert nur noch den Historiker. Bei einem Kunstwerk würde man sagen, nun sei es verhunzt oder dem Zeitgeist geopfert. Vielleicht verweist dieser Unterschied auf die besondere Bedeutung des Kognitiven in der Ästhetik der Wissenschaften, auf die Natascha Adamowsky eindringlich verweist. Eine Domäne im Sinne eines angestammten Besitzstandes an ästhetischer Zuständigkeit ist damit freilich nicht abgesteckt.

Naturalisierung der Ästhetik? Wolfgang Krohn: In unserer Diskussion über die naturwissenschaftlichen Ansichten zur Ästhetik zeichnete sich am Horizont ein Thema ab, dem man in Anlehnung an Quine den Namen geben könnte: aesthetics naturalized. In der Psychologie des 19. Jahrhunderts ist zunächst durch Fechners ›Ästhetik von unten‹ und später durch die Gestaltpsychologen versucht worden, der Ästhetik ein naturales Fundament zu geben, dem dann – so könnte man sagen – die weitere Entwicklung der Kunst mit sehr artiziellen Schritten entkommen ist. Nun jedoch legen Neurobiologie, Evolutionstheorie und Informationstheorie nach. Könnte es sein, dass Wissenschaft in ihrer Heuristik und in ihrer Wissensordnung gut beraten ist, diesem Naturalismus

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zu folgen? Oder wäre es gerade eine Falle für die Wissenschaft, der elementaren Bedeutung der ›guten Gestalt‹ und der ›Passung‹ in der Erfahrungsbildung auch in der Wissenschaft eine privilegierte Bedeutung einzuräumen? Ernst Peter Fischer: Ich würde unterscheiden zwischen einer Wissenschaft der Ästhetik, wie Fechner sie betreibt, und einer Ästhetik in der Wissenschaft, durch die man erfährt, welche Rolle Vorstellungen des Schönen zu Entdeckungen oder Einsichten führen. Im ersten Fall lohnt zum Beispiel die Frage, wie das Gefallen an kubistischen Bildern mit den geometrischen Formen der rezeptiven Felder zu tun haben, die sich im visuellen System fi nden. Im zweiten Fall weiß die Biologie viel zu wenig, um etwas beitragen zu können. Wolfgang Braungart: Nun kann man aber natürlich auch genau andersherum fragen: Warum interessieren wir uns so sehr für Schönheit? Warum sind wir so sehr auf Harmonie, Ordnung, Struktur fixiert? Die Diskussion der neuro- und evolutionsbiologischen Grundlagen unserer Zugänge zur Welt hat auf breiter Front längst eingesetzt, und man darf von dieser Diskussion Antworten erwarten, die in folgende Richtung gehen können: Wir sind neurobiologisch auf Mustererkennung angelegt. Geltungsansprüche aber, das kann man nicht nachdrücklich genug betonen, resultieren daraus nicht! Sie muss man anders begründen. Wohl aber lässt sich so einer seits vielleicht das geheime Band zwischen verschiedenen Formen wissenschaftlichen Arbeitens genauer beschreiben. Die Ästhetik der Wissenschaften ist in dieser Hinsicht nicht so weit entfernt von anderen wissenschaftlichen Prozessen wie die der Begriffs- und Kategorienbildung, die für Erkenntnisprozesse unerlässlich sind. Andererseits wird die Leistung, die uns gerade die kulturellen Äußerungen abverlangen, die sich der ›Mustererkennung‹ entziehen wollen, um so besser zu würdigen sein. Wir müssen auch lernen, von unserem Bedürfnis nach Ordnung und Struktur Abstand zu nehmen. Hier wird eine spezifische Leistung des Ästhetischen (im engeren Sinne) sichtbar: das Spiel von Norm und Abweichung. Wolfgang Krohn: Ich möchte Wolfgang Braungarts Differenz zwischen Erkenntnis eines Musters und Erhebung eines Geltungsanspruchs weniger schroff formulieren. Ein erkanntes Muster ist vielleicht noch keine hinreichende Bedingung für einen Geltungsanspruch, aber doch ein guter Baustein. Unsere anthropologische Fixierung auf ›Schönheit‹, die wir gleichwohl kaum überhistorisch und kulturinvariant erfassen können, hat in der Wissenschaft andere Freiheitsgrade als in der Kunst. Gerade weil ästhetische Gesichtspunkte als solche in der Wissenschaft nicht zum Argument gemacht werden können, sondern frei mitlaufen, geraten sie auch nicht in Konkurrenz zueinander. Sie werden nicht als ›veraltet‹ diskreditiert oder als einem neuen Erklärungsideal ›verpfl ichtet‹ ausgegeben. Vielleicht können Wissenschaftler sich deswegen mit einer gewissen Naivität und Gelassenheit auf eine Ästhetik ›wie es euch gefällt‹ einlassen.

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Medialität des Wissens Wolfgang Krohn: Wie ein roter Faden zieht sich durch die gegenwärtige Diskussion über die Ästhetik des Wissens die zunehmende Bedeutung der medialen Präsenz. Dazu tragen die allgemeine Verschiebung vom sprachlichen zum bildlichen Text bei aber auch die spezifische Bedeutung von Bildlichkeit in Wissensbereichen, die der direkten Anschauung entzogen sind. Wie bedeutsam ist dieser Wandel für die ›Wissenschaftlichkeit‹ des Wissens? Läuft die Überzeugungskraft der Visualisierung der argumentativen Durchdringung ihren Rang ab? Wäre das ein Sieg der Ästhetik des Wissens auf Kosten der klassischen diskursiven Begründung des Wissens? Ernst Peter Fischer: Was die mediale Präsenz des Wissens angeht, so gibt man sich meiner Erfahrung nach sehr wenig Mühe mit Bildern. Es wimmelt leider nur von netten Bildchen, die zum Beispiel zeigen sollen, wie Gene funktionieren (obwohl sie dieses Verstehen meiner Ansicht eher verhindern). Ich würde mir keine Sorge um die Wissenschaftlichkeit des Wissens machen, wenn tatsächlich Bilder ins Spiel kommen. Zahlenkolonnen mögen wissenschaftlicher sein, und sie liefern viele Informationen. Sie liefern nur kein Wissen. Das steckt zuletzt in dem, was Forscher immer noch verschämt statt stolz den Cartoon nennen, in dem sie ihre Ergebnisse zusammenfassen – »das Bild, das wir uns machen«. Was wüssten wir von komplexen Systemen, wenn wir nicht auf das Apfelmännchen blicken könnten? Wolfgang Braungart: Unmittelbarkeit ist ein alter Menschheitstraum, forciert formuliert im 18. Jahrhundert, also an der Schwelle zur Moderne und, wissenschaftsgeschichtlich gesehen, in der Phase, als Selbstbeobachtung und Selbstreflexion als Teil von Wissenschaft mehr und mehr wahrgenommen werden. (Am Ende des 18. Jahrhunderts beginnt allmählich die Entstehung der empirischen Psychologie!) Sentimentalische Sehnsucht nach Authentizität schärft das Bewusstsein für die unhintergehbare Medialität unseres Weltverhältnisses. Die Künste haben es schon immer gewusst, und die Wissenschaften konnten davon lernen: Auf das wie, in welcher Weise, in welchem Material kommt es entscheidend an, wenn man etwas darstellen und ausdrücken und wenn man etwas und jemanden erreichen will. Dabei siegt nicht die Ästhetik des Wissens über die diskursive Begründung. Sondern ganz einfach: Das eine gibt es nicht ohne das andere; man sollte sich darauf einstellen. Anschauung ohne Begriffe ist bekanntlich blind, Begriffe ohne Anschauung sind bekanntlich leer. Die Aufmerksamkeit auf die Medialität von Wissenschaft stößt uns noch einmal darauf. Natascha Adamowsky: Eine allgemeine Rangfolge zwischen Bild, Schrift und Zahl leuchtet mir nicht ein. Im Zweifelsfall ist das einzelne Bild bzw. ein konkreter Typus von Visualisierung zu kritisieren. Weit wichtiger scheint mir die Frage, was Medialität des Wissens eigentlich bedeutet. Medien aisthetisieren und bringen dabei

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immer eine Ambivalenz ins Spiel: Sie können objektivieren wie virtualisieren, sie bieten Distanz wie Immersion, sie ermöglichen, dass etwas ist und nicht ist, was es scheint. Anders gesagt: Medien entwerfen eine Wirklichkeit wunderbarer Geschmeidigkeit: Winziges wird riesig, Entferntes anschaulich, Phantastisches greifbar. Das Inkommensurable an Medien ist die Paradoxie der Erfahrung, die sie bieten, und die von rationalem Staunen bis hin zu ekstatischer Erkenntnis beschrieben werden mag. Zu klären, was das für den wissenschaftlichen Erkenntnisprozess bedeutet, scheint mir eine der spannendsten Herausforderungen zu sein.

Wissenschaft und Kunst Wolfgang Krohn: Dieses und-Thema sollte auf unserem Symposium randständig bleiben, es hielt sich aber nicht daran. Immer wieder meldete sich die Spannung zu Wort, die zwischen ästhetischer Moderne der Kunst und ästhetischer Beharrung naturwissenschaftlicher Orientierungen zu bestehen scheint. Andererseits wurden immer wieder Ereignisse des Zusammentreffens sichtbar, die ein sicherlich nicht dominantes aber nie beendetes Interesse an der wechselseitigen Wahrnehmung und Befruchtung signalisieren. Auch wenn man emphatischen Äußerungen einer Verschmelzung von Kunst und Wissenschaft skeptisch gegenüber steht – wie sind die Perspektiven der Beziehung? Natascha Adamowsky: Die Kunst ist ein genuines Feld ästhetischer Reflektion, Wissenschaft bislang nicht. Es ist nahe liegend, die künstlerische Thematisierung ästhetischer Konzepte als eine erste Anlaufstelle zu verstehen, um wissenschaftsästhetische Praktiken zu beschreiben. In meiner Arbeit hat sich die Auseinandersetzung mit avantgardistischen Konzepten wie populären entertainment-Formaten immer wieder als äußerst anregend erwiesen, um Ansätze – Beschreibungsebenen, Problematisierungsmodelle, Analysestrategien – für eine Verständnis der ästhetischen Dimensionen des Wissenschaftsprozesses zu gewinnen. Dieses Vorgehen ist nicht als Versuch misszuverstehen, eine Ästhetik der Kunst in der Wissenschaft entdecken zu wollen. Vielmehr geht es darum, ein bereits elaboriertes professionelles Forschungsinstrumentarium aus dem Bereich der Kunstwissenschaften, das auch Theater, Architektur, Design, Film etc. beinhalten sollte, für eigene Fragestellungen nutzbar zu machen. Nicht zuletzt verbindet Kunst und Wissenschaft eine Reihe wichtiger thematischer Gemeinsamkeiten wie beispielsweise die Erforschung der Wahrnehmung, aus der dann unterschiedlichste Aufmerksamkeitsregime hervorgegangen sind. Kunst wie Wissenschaft sind beide gleichermaßen Bestandteile einer Experimentalkultur und damit eines spezifisch modernen Paradigmas, das unauf hörlich Konzepte, Strategien, Praktiken zur Generierung von interessanten Fragestellungen, neuen Erfahrungen, innovativen Wissensordnungen produziert. Da die Kunst dies viel expliziter, expressiver und ästhe-

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tisch progressiver als die Wissenschaft tut, bietet sie einen nahezu unerschöpfl ichen Fundus an Ideen und Vorlagen, wie eine eigene wissenschaftsästhetische Perspektive zu entwickeln sei. Wolfgang Braungart: Dass Wissenschaft und Kunst ein Gegensatz sein könnten, darauf wäre in der Frühen Neuzeit niemand verfallen. Die frühneuzeitlichen Kunstkammern waren, sozusagen, ›Laboratorien‹ ›aller Wissenschaften und Künste‹ (Zedler). Heute muss man sagen, dass, was Wissenschaft und was Kunst sein soll, Phänomene von Ausdifferenzierungen und kommunikativer Anerkennung sind. Das kulturelle Teilsystem Wissenschaft entscheidet nach seinen eigenen Regeln, was als Wissenschaft gelten soll; das kulturelle Teilsystem Kunst macht das nicht anders. Wenn die kulturellen Teilsysteme ›Wissenschaft‹ und ›Kunst‹ miteinander kommunizieren und voneinander profitieren sollen, braucht es zunächst einmal die Anerkennung des historisch-kulturellen Sinns dieser Ausdifferenzierung. Das kulturelle Teilsystem ›Kunst‹ gibt es, wie das der ›Wissenschaft‹, nur, weil es kulturell gebraucht wird. Dieses ›Gebraucht-Werden‹ ist genauer zu bestimmen. Für die Künste kann man wohl sagen (wie für Religion): Es hat entscheidend mit dem Bedürfnis nach einem sinn-vollen Leben zu tun. Ernst Peter Fischer: Es kommt nicht auf eine Verschmelzung von Wissenschaft und Kunst an. Es geht darum, ihre vielen historischen Parallelen ernst zu nehmen – der Umgang mit den Farben im 19. Jahrhundert und die Reise in die Abstraktion im frühen 20. Jahrhundert, um nur zwei Beispiele zu nennen. Auch kann Kunst auf Wissenschaft reagieren – die Romantik etwa auf die Newtonsche Physik –, und die Wissenschaft kann Ideen der Kunst aufnehmen – die Atombombe zum Beispiel. Das Feld ist also höchst explosiv. Wolfgang Krohn: Ernst Peter Fischers beide Beobachtungen, dass in bestimmten Epochen Kunst und Wissenschaft von denselben Phänomenen und Idealen gefesselt sein können, und dass sie wechselseitig aufeinander reagieren, sind höchst bedeutsam und kulturhistorisch nicht aufgearbeitet. In der Soziologie steht hier die Differenzierungstheorie im Wege, die wie Wolfgang Braungart zu Recht konstatiert, die Eigenregulative der Funktionssysteme hervorhebt. Da wir inzwischen unsere Aufmerksamkeit jedoch immer stärker auf die Kombinationsoptionen an den Schnittstellen der Systeme richten – wissensbasierte Ökonomie und Kommodifizierung der Wissenschaft; wissenschaftsbasierte Expertise in der Politik und demokratische Robustheit des Wissens – wäre es auch denkbar, dass der Gegenläufigkeit von Wissenschaft und Kunst neue Impulse entgegen gesetzt werden. Natascha Adamowskys Hinweis auf die gemeinsame Beteiligung von Kunst und Wissenschaft an der Experimentalkultur der Moderne kann auch interpretiert werden als Option für experimentelle Verknüpfungen von Wissenschaft und Kunst.

DIE AUTORINNEN UND AUTOR EN

Natascha Adamowsky ist Juniorprofessorin für Kulturwissenschaft (Spieltheorie/Medienkultur) am Kulturwissenschaftlichen Seminar der Humboldt-Universität zu Berlin. Forschungsgebiete: Kultur-, Medien- und Wissensgeschichte; z. Zt. Forschungsprojekt zum Dispositiv des Wunderbaren in der Moderne. Aktuelle Publikationen: Die Vernunft ist mir noch nicht begegnet. Zum konstitutiven Verhältnis von Spiel und Erkenntnis (Hg., September 2005); Mr. Home schwebt raus und wieder rein – zur Bedeutung des Mediums für (okkulte) Wissenschaften, in: Jörn Ahrens und Stephan Braese (Hg.), Im Zauber der Zeichen. Beiträge zu einer Kulturgeschichte des Mediums; Auslassungen. Leerstellen als Movens der Kulturwissenschaft (Mithg. 2004); Flugsehnsucht – Himmelsparadiese im Diesseits: Technische und ekstatische Fluglinien in die Moderne, in: Christoph Wulf und Jörg Zirfas (Hg.), Rausch – Sucht – Ekstase (2004). [email protected] | www.culture.hu-berlin.de Philippe Blanchard ist Professor an der Fakultät für Physik der Universität Bielefeld und der BiBoS (Bielefeld-Bonn-Stochastik). Habilitation in Mathematik (Analysis) und Theoretische Physik. Lehraufenthalte u. a. in Zürich und Wuppertal; von 1997 bis 1999 Präsident der »Commision 18« (Mathematische Physik) der IUPAP. [email protected] | www2.physik.uni-bielefeld.de Wolfgang Braungart ist Professor für Allgemeine Literaturwissenschaft und Neuere deutsche Literatur an der Universität Bielefeld. Studium der Germanistik, Kunstgeschichte, Philosophie, Kunstpädagogik und Werken/Arbeitslehre an den Universitäten Gießen, Zürich und Braunschweig und an der Hochschule für Bildende Künste Braunschweig. Forschungsschwerpunkte sind u. a. Neuere deutsche Literatur und Allgemeine Literaturwissenschaft, Literatur und Religion/Bildende Kunst/populäre Kultur sowie Utopie-Forschung. Publikationen: Wahrnehmen und Handeln. Perspektiven der Literaturanthropologie (2004), Eduard Mörike – Ästhetik und Geselligkeit (2004), Kitsch. Faszination und Herausforderung des Banalen und Trivialen (2002), mehr unter http://www.uni-bielefeld.de/lili/ personen/braungart/publikationen.htm [email protected] | www.uni-bielefeld.de/lili Holk Cruse ist Professor für Biologische Kybernetik und Theoretische Biologie an der Universität Bielefeld. Studium der Biologie, Physik und Mathematik an der Universität Freiburg. Seine Forschungsschwerpunkte sind die Kontrolle der Motorik bei Insekten und beim Menschen, wobei verhaltensphysiologische Methoden und Simulationen eingesetzt werden. In jüngster Zeit interessieren ihn besonders Fragen zum Verhältnis zwischen reaktiven und kognitiven Systemen. Publikationen (Auswahl): Die Entdeckung der Intelligenz oder Können Ameisen denken?:

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Autorinnen und Autoren

Intelligenz bei Tieren und Maschinen, 2001 (Mit-Hg.: Jeff rey Dean, Helge Ritter); weitere Publikationen unter http://www.uni-bielefeld.de/biologie/Kybernetik. [email protected] | www.uni-bielefeld.de/biologie/Kybernetik/staff/holk Ernst Peter Fischer ist diplomierter Physiker, promovierter Biologe, habilitierter Wissenschaftshistoriker und apl. Professor für Wissenschaftsgeschichte an der Universität in Konstanz. Daneben freie Tätigkeiten – u. a. als Wissenschaftsjournalist. Zehn Jahre lang war er Herausgeber des Mannheimer Forums. Er ist Autor zahlreicher Bücher – zuletzt: Werner Heisenberg – Das selbstvergessene Genie, (2001), Die andere Bildung (2001), Das Genom (2002), Einstein, Hawking. Singh und Co. (2004), Die Bildung des Menschen (2004), Einstein für die Westentasche (2005). – Auszeichnungen: Heinrich-Bechold-Medaille (1980), Preis der wissenschaftlichen Gesellschaft Freiburg (1981); Lorenz-Oken-Medaille (2002); Eduard-Rhein- Kulturpreis (2003), Treviranus-Medaille des Verbandes Deutscher Biologen (2003); Medaille der Deutschen Physikalischen Gesellschaft für Naturwissenschaftliche Publizistik (2004), Sartorius-Preis der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen (2004). epfi [email protected] | www.epfi scher.com Klaus Hentschel arbeitet als Wissenschaftshistoriker an der Universität Bern. Studium der Physik, Philosophie, Wissenschaftsgeschichte und Musikwissenschaft an der Universität Hamburg. Diplom in theoretischer Hochenergiephysik. Magister mit einer Studie zur Korrespondenz Albert Einsteins mit dem logischen Empiristen Moritz Schlick. Promotion in Wissenschaftsgeschichte zu philosophischen (Fehl)Interpretationen der Relativitätstheorie. Habilitation mit einer Studie zum Zusammenspiel von wiss. Instrumentenbau, Experimentierpraxis und Theoriebildung anhand von Fallstudien zwischen 1880 und 1960. Publikationen z. B. zum Einstein-Turm (1992, engl. 1997), über Physics and National Socialism (1996), über das Kartieren von Spektren (Mapping the Spectrum, Oxford 2002) und über den jüdischen Instrumentenmacher von Gauß (2005). Herausgeber mehrerer Anthologien wie z. B. zur Role of Visual Representations in Astronomy: History and Research Practice (1999) und Ko-editor von Editionen wie etwa dem Planckschen Brieftagebuch oder Erinnerungen des Spektroskopikers Heinrich Kayser. [email protected] | www.cx.unibe.ch/~khentsch Veronika Hofer ist Wissenschaftshistorikerin am Institut für Geschichte der Medizin der Medizinuniversität Wien. Nach einer Dissertation über die Frühgeschichte der Systemtheorie von Ludwig von Bertalanff y arbeitete sie zur Geschichte des Tiergarten Schönbrunns von 1900 bis 1945; zur Geschichte der Verhaltensforschung und Zoobiologie, insbesondere Otto Antonius und Konrad Lorenz; über die Biologische Versuchsanstalt Prater Vivarium, insbesondere Hans Przibram und Paul Kammerer; zum Phonogrammarchiv und seinem Gründer Sigmund Exner, sowie zur Rolle der Biologie in der Frühgeschichte des Logischen Empirismus in Wien und Prag. Ihr derzeitiges Projekt ist der Entwicklung der Genetik in Österreich nach 1945 gewidmet. [email protected] | www.univie.ac.at/geschichte

Autorinnen und Autoren

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Silke Jakobs promovierte 2005 zu Wahrnehmung von Kultur in Autobiographien von Naturwissenschaftlern. Studium der Germanistik und Chemie an der Justus-Liebig-Universität Gießen und der Kansas State University, USA. 1997 erlangte sie den Master of Arts an der Kansas State University. 1998 legte sie ihr erstes Staatsexamen für das Lehramt an Gymnasien (Fächer Deutsch und Chemie). Zwischen 1998 und 2005 war sie tätig als wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Fakultät für Linguistik und Literaturwissenschaft der Universität Bielefeld. Publikationen: Wilhelm Bölsches naturwissenschaftliche Essayistik. In: Wolfgang Braungart u. Kai Kauff mann (Hg.): Essayismus um 1900, Heidelberg 2005 (mit Wolfgang Braungart; in Vorbereitung); Ästhetische Erfahrung in den Naturwissenschaften. Grenz phänomen zwischen den ›Zwei Kulturen‹? in: Dorothea Lauterbach, Uwe Spörl u. Uli Wunderlich (Hg.): Grenzsituationen. Wahrnehmung, Bedeutung und Gestaltung in der neueren Literatur, Göttingen 2002. [email protected] | www.uni-bielefeld.de/lili Thomas Kellein ist der Direktor der Kunsthalle Bielefeld. Studium der Kunstgeschichte, Philosophie, Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft an der Freien Universität Berlin, der Universität Hamburg und der Philipps Universität Marburg. Promotion über Künstlerische Großprojekte der Gegenwart an der Universität Hamburg. Publikationen u. a.: Hiroshi Sugimoto. Time Exposed, London und New York, Thamson and Hudson (1995); Vanessa Beecroft, Fotografien, Filme, Zeichnungen. Ostfi ldern, Hatje/ Cantz (2004); Ilya und Emilia Kabakov. Die Architekturprojekte. Bielefeld, Kerber Verlag (2004); George Condo. One Hundred Women. Ostfi ldern, Hatje/Cantz (2005). [email protected] | www.kunsthalle-bielefeld.de Carsten Köllmann forscht zurzeit im Rahmen eines Projekts des Schweizerischen Nationalfonds (SNF) über das Thema »gerechte Löhne« am Ethik-Zentrum der Universität Zürich. Er promovierte zur Wissenschaftsphilosophie der Wirtschaftswissenschaft. Seine Forschungsgebiete liegen in der Wissenschaftstheorie, der angewandten Ethik und der ökonomischen Methodologie. Publikationen: Nachsicht oder üble Nachrede? Putnam und das Problem der Theoriendynamik«, in: Erkenntnis (2003); Das Thema ›Wissenschaftsbetrug‹: Echtes Problem oder selbst ein Schwindel?, in: Erwägen, Wissen, Ethik (EWE) vormals Ethik und Sozialwissenschaften (EuS): Streitforum für Erwägungskultur (2004). [email protected] | www.uni-bielefeld.de/iwt Wolfgang Krohn ist Professor für sozialwissenschaftliche Wissenschafts- und Technikforschung an der Universität Bielefeld. Studium der Philosophie, Rechtswissenschaft und Sozialwissenschaften. Forschungsschwerpunkte: historische Arbeiten zu den sozialen Ursprüngen der neuzeitlichen Wissenschaft in Beziehung zu Kunst und Technik; Realexperimente; Untersuchungen zur Entstehung und Struktur des Paradigmas der Selbstorganisation und techniksoziologischer Projekte zur Innovationsforschung.

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Autorinnen und Autoren

Publikationen (Auswahl): Das Labyrinth der Natur. Bacons Philosophie der Forschung betrachtet in ihren Metaphern (1995); Goethes Versuch über den Versuch (1998); Das Naturgesetz zwischen Formbegriff und Handlungsregel bei Francis Bacon (2000); Technik, Kunst und Wissenschaft (2002); Technik als Lebensform (2002) Platons Philosophie der Technik (2002); mit M. Groß und H. Hoff mann-Riem: Realexperimente. Ökologische Gestaltungsprozesse in der Wissensgesellschaft (2005). [email protected] | www.uni-bielefeld.de/iwt/gk/profs/krohn/krohn.html Johannes Lenhard forscht seit 2001 am Institut für Wissenschafts- und Technikforschung der Universität Bielefeld. Er promovierte 1998 in Mathematik an der Universität Frankfurt über ein Thema der mathematischen Modellierung in der Molekularbiologie. Seine Forschungsgebiete umfassen Wissenschaftsforschung und Philosophie der Wissenschaften, insbesondere der Mathematik. Publikationen: Nanoscience and the Janus-faced Character of Simulation, in: Discovering the Nanoscale, hrsg. von D. Baird, A. Nordmann und J. Schummer (2004); Grenzen der Mathematisierung – von der grundlegenden Bedeutung der Anwendung, in: Philosophia naturalis (2005, gem. mit Michael Otte); Simulation. Pragmatic Constructions of Reality, Yearbook Sociology of the Sciences (2006, hrsg. mit G. Küppers und T. Shinn). [email protected] | www.uni-bielefeld.de/iwt Torsten Meyer ist Juniorprofessor für Erziehungswissenschaft unter besonderer Berücksichtigung der Forschung und Lehre im Bereich Multimedia mit einem Schwerpunkt in der Didaktik der Bildenden Kunst am Institut für ästhetische Erziehung und Leiter des MultiMedia-Studios im Fachbereich Erziehungswissenschaft der Universität Hamburg. [email protected] | kunst.erzwiss.uni-hamburg.de Alfred Nordmann ist Professor zur Wissenschaftsphilosophie und Wissenschaftsgeschichte an der TU Darmstadt. Sein historisches Interesse gilt der Verhandlung wissenschaftsphilosophischer Positionen in der Neudefi nition von Wissensgebieten, etwa der Elektrizitätstheorie und Chemie im 18. Jh., der Mechanik, Evolutionsbiologie und Soziologie im 19. Jh., der Pflegewissenschaft und Nanoforschung im 20. Jahrhundert. Dabei hat er sich insbes. mit Georg Christoph Lichtenberg, Antoine Lavoisier, Joseph Priestley, Charles Darwin, William Bateson und Heinrich Hertz befasst. Sein erkenntniskritisches Interesse bezieht sich auf die Traditionslinie, die von Immanuel Kant über Heinrich Hertz zu Ludwig Wittgenstein und heutigen Diskussionen über wissenschaftliche Modelle und Simulationen führt. Aktuelle Publikationen: Molecular Disjunctions: Staking Claims at the Nanoscale (in Davis Baird, Alfred Nordmann, Joachim Schummer (Hg.), Discovering the Nanoscale, Amsterdam: IOS Press, 2004, S. 51–62), Nanotechnology’s Worldview: New Space for Old Cosmologies (IEEE Technology and Society Magazine 23:4, 2004, S. 48–54), The Passion for Truth: Lavoisier’s and Lichtenberg’s Enlightenments (in: Marco Beretta [Hg.] Lavoisier in Perspective, München: Deutsches Museum, im Druck). [email protected] http://cms.ifs.tu-darmstadt.de/fi leadmin/gradkoll/Personen/Prof_NordmannA.html

Autorinnen und Autoren

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Helge Ritter ist Professor an der Technischen Fakultät der Universität Bielefeld und leitet die Arbeitsgruppe Neuroinformatik mit dem Schwerpunkt Erforschung künstlicher neuronaler Netze im Bereich des Computersehens, der Robotersteuerung und der Modellierung kognitiver Prozesse. Studium der Physik und Mathematik an den Universitäten Bayreuth, Heidelberg und München. Seit 1983 beschäftigt er sich mit neuronalen Netzen und konzentrierte sich zunächst auf selbstorganisierende Modelle der Informationsverarbeitung im Gehirn. Publikationen: Die neuen Denkmuster der Intelligenz (2004), Prerational Intelligence: Adaptive Behavior and Intelligent Systems without symbols and Logic (2000), Die Entdeckung der Intelligenz oder: Können Ameisen denken? (1998), Neuronale Netze (1991); weitere unter www.techfak.uni-bielefeld.de/ags/ni/publications/publications.html. [email protected] | www.techfak.uni-bielefeld.de/ags/ni Joachim Schummer ist Heisenbergstipendiat der DFG an der TU Darmstadt und Adjunct Professor an der University of South Carolina. Studium der Chemie, Philosophie, Kunstgeschichte und Soziologie an den Universitäten Bonn und Karlsruhe. Bis 2004 Gastprofessur für Philosophie und Projektkoordinator für Philosophical and Social Dimensions of Nanoscale Research an der University of South Carolina. Forschungsschwerpunkte in der Philosophie, Geschichte, Soziologie und Ethik der Natur- und Technikwissenschaften. Publikationen zur Ästhetik: Ist die Chemie eine schöne Kunst? Ein Beitrag zum Verhältnis von Kunst und Wissenschaft, Zeitschrift für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft, 40 (1995), 145–178. ›Natürliche Konstruktionen‹, Zeitschrift für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft, 42 (1997), 215–225. Color field painting als ›reine Malerei‹: Die Etablierung der Kunstkritik im Modernismusentwurf, in: G. Reising (Hg.): Farbe, Felder, Philosophie, München 2000. Aesthetics of Chemical Products: Materials, Molecules, and Molecular Models, Hyle, 9 (2003), 77–108. Aesthetics and Visualization in Chemistry, Sonderband von Hyle, 9 (2003) (hrsg. mit T. Spector). [email protected] | www.joachimschummer.net

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Autorinnen und Autoren

Anschriften der Autorinnen und Autoren Dr. Natascha Adamowsky Humboldt Universität zu Berlin Lehrstuhl für Kulturwissenschaft mit besonderer Berücksichtigung von Spieltheorien und der Kultur- und Mediengeschichte des Spiels Sophienstraße 22 A 10178 Berlin Prof. Dr. Philippe Blanchard Fakultät für Physik Universitätsstraße 25 33615 Bielefeld Prof. Dr.Wolfgang Braungart Universität Bielefeld Fakultät für Linguistik und Literaturwissenschaft Universitätsstraße 25 / D4-114 33615 Bielefeld Prof. Dr. Holk Cruse Universität Bielefeld Fakultät für Biologie Biologische Kybernetik / Theoretische Biologie Universitätsstraße 25 33615 Bielefeld Dr. Ernst Peter Fischer Mozartstraße 10 78464 Konstanz Dr. habil. Klaus Hentschel Flurstraße 1a Postfach 308 CH-3014 Bern 22 Dr.Veronika Hofer Universität Wien Institut für Geschichte der Medizin Waehringerstraße 25 A-1090 Wien Dr. Silke Jakobs Universität Bielefeld Fakultät für Linguistik und Literaturwissenschaft Universitätsstraße 25 / D4-114 33615 Bielefeld

Dr.Thomas Kellein Kunsthalle Bielefeld Artur-Ladebeck-Straße 5 33602 Bielefeld Dr. Carsten Köllmann Arbeits- und Forschungsstelle für Ethik Ethik-Zentrum der Universität Zürich Zollikerstraße 117 CH-8008 Zürich Prof. Dr.Wolfgang Krohn Universität Bielefeld Institut für Wissenschafts- und Technikforschung Universitätsstraße 25 33615 Bielefeld Dr.Torsten Meyer Universität Hamburg FB Erziehungswissenschaft MultiMedia-Studio Von-Melle-Park 8 20146 Hamburg Dr. Johannes Lenhard Universität Bielefeld Institut für Wissenschafts- und Technikforschung Universitätsstraße 25 33615 Bielefeld Prof. Dr. Alfred Nordmann Technische Universität Darmstadt Institut für Philosophie Schloss 64283 Darmstadt Prof. Dr. Helge Ritter Universität Bielefeld Neuroinformatics Group Universitätsstraße 25 33615 Bielefeld Dr. Joachim Schummer Technische Universität Darmstadt Institut für Philosophie Schloss 64283 Darmstadt

FAR BTEIL

Farbteil · Beiträge Cruse und Lenhard

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Cruse, S. 154: Man Ray, La Rue Ferou (1952).

Lenhard, S. 185: Simulierte Regendynamik eines Hurrikans. Zu sehen sind mehrere Schnappschüsse der Animation, die Wasser in Wolken, den Verwirbelungsgrad und Regenwasser zeigen (von links nach rechts).

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Farbteil · Beitrag Adamowsky Adamowsky, S. 222: »Koralle«, aus: Brehms Tierleben (1882–1887).

S. 231: »Geisterfi sch«, in: William Beebe, A Half Mile Down, National Geographic Dec. 1934.

S. 231: »Tiefseewölfe und andere Horrorgestalten« (Carnivores of a Lightless World), in: Beebe.

Farbteil · Beitrag Adamowsky

S. 226: »The Plumose« (Seeanemone), aus: Philip Henry Gosse, The Aquarium (1854).

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Farbteil · Beitrag Hentschel

Hentschel, S. 237: Zodiakallicht oberhalb von Palermo, beobachtet und festgehalten von Charles Piazzi Smyth farblithographiert und gedruckt von W. & A.K. Johnston, Edinburgh, 1877.

S. 237: Taxonomie der Farben nach Piazzi Smyth, aus ›Colour in practical astronomy, spectroscopically examined‹, Transactions of the Royal Society of Edinburgh 28 (1879) Tafel 43 (Ausschnitt).