Wildes Wissen in der «Encyclopédie»: Koloniale Alterität, Wissen und Narration in der französischen Aufklärung 9783110660425, 9783110658163

Knowledge of the colonial Other represents a real challenge in the final work of the French Enlightenment: Diderot’s and

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Wildes Wissen in der «Encyclopédie»: Koloniale Alterität, Wissen und Narration in der französischen Aufklärung
 9783110660425, 9783110658163

Table of contents :
Inhalt
1. Einleitung. Der koloniale Andere in der Encyclopédie: Koloniale Alterität, Wissen und Narrationen
2. Textlektüren. Macht und Ambivalenz in den Narrationen des kolonialen Anderen. Part 1
2. Textlektüren. Macht und Ambivalenz in den Narrationen des kolonialen Anderen. Part 2
3. Enzyklopädische Ambivalenznarrationen kolonialer Alterität. Zusammenfassung und Ausblick
Literaturverzeichnis
Register

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Karen Struve Wildes Wissen in der Encyclopédie

Mimesis

Romanische Literaturen der Welt Herausgegeben von Ottmar Ette

Band 79

Karen Struve

Wildes Wissen in der Encyclopédie

Koloniale Alterität, Wissen und Narration in der französischen Aufklärung

Mein Dank gilt der Zentralen Forschungsförderung der Universität Bremen.

ISBN 978-3-11-065816-3 e-ISBN [PDF] 978-3-11-066042-5 e-ISBN [EPUB] 978-3-11-065822-4 ISSN 0178-7489 Library of Congress Control Number: 2019955839 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2020 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Satz: Meta Systems Publishing & Printservices GmbH, Wustermark Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck www.degruyter.com

Inhalt 1 1.1 1.2 1.3

2 2.1 2.1.1 2.1.1.1 2.1.1.2 2.1.2 2.1.2.1 2.1.2.2 2.2 2.2.1 2.2.1.1 2.2.1.2 2.2.2 2.2.2.1 2.2.2.2

Einleitung. Der koloniale Andere in der Encyclopédie: Koloniale 3 Alterität, Wissen und Narrationen Theoretischer Rahmen: Wissen – Alterität – Narration. 7 Postkoloniale Wissenspoetologie Methodische Zugänge: Kontrapunktische und 55 wissenspoetologische Lektüren Gegenstandskonstitution: Die Encyclopédie, ou Dictionnaire raisonné des Sciences, des Arts et des Métiers (1751–1772)

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Textlektüren. Macht und Ambivalenz in den Narrationen 89 des kolonialen Anderen 90 Figuren und Figurationen kolonialer Macht 92 Wissensfiguren. Machtvolle Dispositive der Alterität 92 Beziehungsfiguren. Stereotype der Interaktion 216 Projektionsfiguren. Stereotype der Projektion Textfiguren. «Contre-faire l’autre»: Machtvolle Textverfahren 246 der Alterität 250 Narratologische Verfahren: Sprechbeziehungen Intertextuelle Verfahren: Textbeziehungen. Sorties, Renvois 276 und Kommentare 313 Figuren und Figurationen kolonialer Ambivalenz 316 Ambivalente Wissensfiguren 316 Beziehungsfiguren. Problematisches Gegenüber 368 Projektionsfiguren. Problematische Fremdbilder Textfiguren. «Contre-faire l’autre»? Ambivalente Textverfahren 386 der Alterität Narratologische Ambivalenzen: Distanzierungen, Fokalisierungen, 386 Adressierungen Intertextuelle Ambivalenzen: Ausgänge und Eingänge, Zentrifugale 405 Kräfte, Quellenqual

VI 3 3.1 3.2

Inhalt

Enzyklopädische Ambivalenznarrationen kolonialer Alterität. 421 Zusammenfassung und Ausblick 421 Zusammenfassung Ausblick: Postkoloniale Archiv- und Ambivalenzkonzepte, Wissensnarrative kolonialer Alterität bis ins 449 21. Jahrhundert

Literaturverzeichnis Register

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Projet, s. m. (Morale.) plan qu’on se propose de remplir ; mais il y a loin du projet à l’exécution, & plus loin encore de l’exécution au succès ; combien l’homme forme-t-il de folles entreprises !1

1 N. N.: Projet, in: Denis Diderot/Jean Le Rond d’Alembert (Hg.): Encyclopédie ou Dictionnaire raisonné des sciences, des arts et des métiers: Édition Numérique Collaborative et CRitique de l’Encyclopédie ou Dictionnaire raisonné des sciences, des arts et des métiers (ENCCRE) (1751– 1772) (2017) 1765. Bd. 13, S. 441. http://enccre.academie-sciences.fr/encyclopedie/ (27. 09. 2019). https://doi.org/10.1515/9783110660425-001

1 Einleitung. Der koloniale Andere in der Encyclopédie: Koloniale Alterität, Wissen und Narrationen Der Wilde in der Wollmanufaktur: Wer ist der Barbar? – Encyclopédie: Narrativ des kolonialen Anderen in der Moderne – Arbeitshypothesen – Selbstverständnis der Encyclopédie – Labyrinthe, Bäume und Weltkarten. Position des philosophe – Basale Wissenstypen: erlernte/angelesene «faits» und reflektierte «choses» – Praktisches Wissen: «know-how» – Wissen und Subjekt – Wissen und Imagination – Wissen in der Encyclopédie vs. enzyklopädisches Wissen – Wissenskonstruktion: 1. Kompilation 2. Komposition 3. Kreation – Wissen in der Encyclopédie mit Foucault: Epistemwechsel? – Wissen als Textkonstruktion: poetologische Grundannahmen – Wissenspoetologie nach Vogl – Poetik des Wissens nach Rancière – Literarizität der Encyclopédie – Lettres: Fakt und Fiktion in der Aufklärung – Narrativierung von Alteritätswissen – Wissen als koloniale Machtausübung: Encyclopédie als postkoloniales Archiv? – Begriff des kolonialen Anderen – Postcolonial Enlightenment – Phänomenologischer Alteritätsbegriff – Ambivalenz als Schlüsselbegriff – Archäologie nach Foucault – Kontrapunktische Lektüre nach Said – methodisches Vorgehen: archäologische, kontrapunktische, narratologische und intertextuelle Ansätze – Ambivalenzlektüren – Narratologische und intertextuelle kontrapunktische Lektüre – Editionsgeschichte der Encyclopédie – Die koloniale Welt in der Encyclopédie – Korpuskontur

Ein Wilder streift durch eine Wollmanufaktur. Mitleidig lässt er seinen Blick auf die mühevolle Arbeit an den ausgetüftelten Maschinen schweifen, fühlt kurz die Oberfläche eines gewebten Stoffes, lässt diesen dann aber mit freundlichem Kopfschütteln liegen. Sein Appell richtet sich an die Handwerker und an die Leserschaft: Sie sollen dem Schaf doch seine Wolle lassen, sich stattdessen mit Fell kleiden und in einfacher, naturbelassener Bescheidenheit leben. Diese klare Absage an alle vermeintlichen Errungenschaften der europäischen Zivilisation aus dem Mund eines Edlen Wilden ist nicht Teil einer exotischen Erzählung, eines philosophischen Essays oder eines selbstkritischen Märchens. Diese Szene wird in der berühmten Encyclopédie von Diderot und d’Alembert beschrieben, die sich anschickte, das Wissen der Zeit zu sammeln, zu kategorisieren und ohne tendenziöse oder manipulative Rhetorik die Menschen im 18. Jahrhundert in das Licht der Vernunft zu führen. Erstaunlich, dass eine derart ‹literarische›, affektbeladene und effekthascherische Passage in einem Enzyklopädie-Artikel Platz finden konnte. Hier zeigt der Enzyklopädist,2 wie man Selbstkritik an der

2 In der Folge ist stets vom Enzyklopädisten in der männlichen Form die Rede, da die Encyclopédie-Autoren ausnahmslos männlich waren, so zumindest der Stand der Forschung (vgl. Jacques Proust: L’Encyclopédie, Paris: Armand Colin 1965; Jacques Proust: Diderot et l’Encyclopédie, Paris: A. Michel [1962] 1995).

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1 Einleitung. Der koloniale Andere in der Encyclopédie

europäischen und zivilisierten Welt üben kann, hier bedient er sich poetischer Erzähl- und Redeweisen, um sein Publikum nicht nur zu bilden, sondern auch, um es zu fesseln, zu überzeugen, zum Nachdenken anzuregen. Und doch dient dieser Andere aus der kolonialen Welt 3 dem europäischen philosophe4 nicht nur zur zivilisationskritischen Selbstbespiegelung. In anderen Einträgen entzieht er sich nachgerade einer Definition, einer Einordnung in Wissenskategorien und lässt sich nur schwer in Worte fassen. Der koloniale Andere ist als erzählte Figur zwar schon lang in den Pariser Salons und im Alltag der französischen Gesellschaft angekommen; er wird als Wissensfigur aber zum Prüfstein für die europäische Aufklärung. Wer sind diese Menschen aus den Kolonien? Sind sie überhaupt Menschen? Und befinden sie sich eigentlich nur außerhalb von Europa? Wie kann der koloniale Andere auf Abstand gehalten werden, wenn seine Kolonialwaren und Geschichten bereits seit Langem in Frankreich angekommen sind? Anders gefragt: Wer und wo sind die Barbaren? Die Encyclopédie, ou Dictionnaire raisonné des Sciences, des Arts et des Métiers (1751–1772), herausgegeben von Diderot und d’Alembert, ist ein für die Aufklärung paradigmatisches Textkorpus für die Narrativierung des kolonialen Anderen als (aufklärerische) Wissensfigur der Moderne. Das Wissen über die koloniale Welt und den kolonialen Anderen ist im Zeitalter der Aufklärung eine veritable Herausforderung für den europäischen philosophe: für seine Selbstverortung, für die vernunftbasierten Konzepte und Kategorien des europäischen Wissens und nicht zuletzt auch für die enzyklopädische Beschreibung. Auch – oder geradete – in das Schlüsselwerk der französischen Aufklärung, der Encyclopédie von Diderot und d’Alembert, finden Figuren der kolonialen Alterität Eingang und müssen zugeordnet, beschrieben und oftmals auch ethisch-politisch beurteilt werden. Das ist keine leichte Aufgabe. In der Repräsentation des kolonialen Anderen problematisieren sich mehrere Verhältnisse: Inwiefern un-

Dieser Umstand hat dazu geführt, dass etwa Peter Prange einen Roman über Diderots Geliebte Sophie Volland ersonnen hat, die als anonyme Autorin maßgeblich die Encyclopédie geprägt haben soll (vgl. Peter Prange: Die Philosophin, München: Knaur Verlag 2004). 3 Zur Abbildung 1: Denis Diderot/Jean Le Rond d’Alembert: Receuil de planches, sur les sciences, les arts libéraux et les arts méchaniques. Tome V: Édition Numérique Collaborative et CRitique de l’Encyclopédie ou Dictionnaire raisonné des sciences, des arts et des métiers (ENCCRE) (1751–1772) (2017). 1767, Pl. 3, Fig. 40, http://enccre.academie-sciences.fr/encyclopedie/ (27. 09. 2019). 4 Der Terminus des aufklärerischen philosophe avancierte zum Synonym der Enzyklopädisten bzw. die Enzyklopädisten nahmen die Bezeichnung als philosophe oftmals für sich in Anspruch. Im Rahmen der vorliegenden Arbeit ist mit philosophe allerdings im Wesentlichen die textinterne enzyklopädische Instanz gemeint; zur Disjunktion von Enzyklopädist-Autor und philosophe-Erzählstimme vgl. die narratologischen Textanalysen in Kapitel 2.1 und 2.2.

1 Einleitung. Der koloniale Andere in der Encyclopédie

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terscheiden sich Wissen und Unwissen/Vorwissen als Mythos, Legende oder Aberglaube? Auf welche Weise kann man den kolonialen Anderen beschreiben? Und wie unterscheiden sich erklären und erzählen, berichten und kommentieren, definieren und fabulieren? Wie lassen sich das verstehende europäische Subjekt und das zu verstehende koloniale Objekt differenzieren und diskursivieren? Wie lassen sich die kolonialen Anderen auf Abstand halten? Und was bedeutet das für das selbstkritische, eurozentrische Selbstverständnis des europäischen Menschen? Um der Langlebigkeit dieses Umgangs mit dem kolonialen Anderen und den Überlegenheitsansprüchen auf die Spur zu kommen, um die Störmomente in der wissenschaftlichen Narrativierung durch den Menschen aus der kolonialen Welt sichtbar zu machen, verfolgt die vorliegende Studie einen wissenspoetologischen Ansatz zur kontrapunktischen Analyse der narrativen Wissenskonstruktionen des kolonialen Anderen in der Encyclopédie von Diderot und d’Alembert. Die französische Aufklärung bietet sich für die Untersuchung des Spannungsverhältnisses zwischen kolonialer Alterität, Wissen und Narrativierung in besonderem Maße an, da sie eine spezifische historische wie epistemologische Hintergrundfolie bietet, vor der Selbst- und Fremdbilder aufs Neue konstruiert werden müssen – unter dem Primat einer rationalen Philosophie und einem Gesellschaftsentwurf, der sich maßgeblich auf Mündigkeit, Fortschritt, Freiheit und Glück gründen soll.5 Literatur und Philosophie sind in dieser Zeit noch nicht voneinander getrennt. Jeder homme de lettre ist zugleich Experte auf seinem Gebiet und in einem weiten Wissenshorizont belesen. In den EncyclopédieArtikeln spiegeln sich diese Anspruchshaltungen und Herausforderungen und ergeben ein vielschichtiges Bild der komplexen inhaltlichen wie formal-ästhetisch ausformulierten Interdependenz zwischen kolonialem Anderen und europäischem philosophe als ein Textkorpus, auf das machtvolle Diskurse einwirken, das aber selbst hochgradig wirkmächtig ist auf die Wirklichkeits- und Weltwahrnehmungsformung der Menschen der Aufklärung – bis heute.6 5 Vgl. dazu etwa Cerstin Bauer-Funke: Die französische Literatur des 18. Jahrhunderts: Historische Entwicklung, in: Ingo Kolboom/Thomas Kotschi/Edward Reichel (Hg.): Handbuch Französisch, Berlin: Schmidt Erich 2002, S. 703–711. 6 Und ich beginne meine Arbeit nicht zufällig mit der Paraphrase einer Anekdote. Geht es in der vorliegenden Studie zentral um die literarische Erzählbarkeit von Wissen, so stellt sich auch für ihren Duktus die Frage nach der Beschreibung und Erzählung dessen, was hier untersucht wird. Den wissenschaftlichen Gepflogenheiten gemäß werde ich nicht mit Erzählungen arbeiten, sehr wohl aber fremde Stimmen zu Wort kommen lassen und meine Argumente dramaturgisch sinnvoll und leserlich (so hoffe ich) anordnen. Fremde Rede findet Eingang in meinen Text durch Zitate und Paraphrasen diverser Hypotexte; auch hier wird wissenschaftlich ein mit Greenblatt formulierter «Wunsch mit den Toten zu sprechen» (vgl. Stephen Greenblatt: Verhandlungen mit Shakespeare. Innenansichten der englischen Renaissance, Frank-

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1 Einleitung. Der koloniale Andere in der Encyclopédie

Forschungsdesign. Im Rahmen der vorliegenden Untersuchung wird die Encyclopédie von Diderot und d’Alembert auf jene kolonialen Alteritätskonstruktionen im Spannungsfeld von Macht, Wissen und Narration hin untersucht. Die Encyclopédie von Diderot und d’Alembert wird als Wissensraum verstanden, in dem Wissen über den kolonialen Anderen repräsentiert, transformiert und verhandelt wird. Die beiden Grundannahmen der vorliegenden Arbeit bestehen in der machtvollen Reziprozität kolonialer Alterität und Identität und in der narrativen Konstruktion von Wissen über den kolonialen Anderen. Die Analyse der enzyklopädischen Konstruktionen des kolonialen Anderen zielt – auf eine wissenspoetologische Re-Konzeptualisierung der Encyclopédie als Konstruktionsraum kolonialen Alteritätswissens. Die Encyclopédie stellt keine einfache mimetische Rekonstruktion eines prädiskursiven Kolonialismus in Form von objektiven, systematisierten und gespeicherten Fakten dar, sondern ist eine komplexe, ambivalente und poetologische Konstruktion von kolonialen Wissensfiguren. Im Rahmen der vorliegenden Arbeit werden die Repräsentationen des kolonialen Anderen als inhaltlich-thematische Wissensfiguren und als formal-ästhetische Textfiguren analysiert. – auf die Entwicklung literatur- und kulturhistorischer Denkmodelle zur Relation von Kolonialismus und europäischer Aufklärung. Die Encyclopédie als Wissenstext ist in dieser Perspektive kein eurozentrischer, autoreflexiver Bedingungsraum für die Repräsentation von Alterität, sondern nachgerade das Experimentierfeld für die Konstruktionen und Phantasmen des kolonialen Anderen. – auf die kritische Fortschreibung der kontrapunktischen Lektüre als textanalytischer Zugang zum kolonialen Alteritätswissen. Dieser methodische Zugriff erlaubt es, die wechselseitige Bedingtheit kolonialer Identitäts- und Alteritätsbeziehungen in den Blick zu nehmen, indem das dichotome Macht-Ohnmacht-Verhältnis auf den Ebenen der Erzähl- und Intertextualitätsverfahren differenzierter untersucht und mittels eines spezifischen Ambivalenz-Begriffs dekonstruiert wird. Ziel der Arbeit ist eine kontrapunktische Lektüre der wissenspoetologischen Konstruktionen kolonialer Alterität in der Encyclopédie. Daraus generieren sich neue Denkansätze für ein wissenspoetologisch vertieftes Verständnis der Inszenierung von Alteritätswissen in der Encyclopédie, für eine kulturphilosophische Ambivalenztheorie der Alterität, die immanent mit der europäischen Aufklä-

furt a. M.: Fischer Taschenbuch Verlag [1988] 1993, S. 9) in der Reinszenierung textexterner Instanzen von Wissen und Erfahrungen artikuliert.

1.1 Theoretischer Rahmen: Wissen – Alterität – Narration

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rung und Moderne verquickt ist und für eine literaturwissenschaftlich operationalisierbare kontrapunktische Lektüre, die Ambivalenzen in den narratologischen und intertextuellen Erzählverfahren fokussiert.

1.1 Theoretischer Rahmen: Wissen – Alterität – Narration. Postkoloniale Wissenspoetologie Steht der koloniale Andere als Wissens- und Textfigur der Encyclopédie im Zentrum der Analysen, bedarf es zunächst einer terminologischen Klärung, die den Wissensbegriff, den Terminus der Alterität und die Ebene der Narration in ihrem relationalen Gefüge bestimmt. In der Encyclopédie selbst wird der Wissensbegriff intensiv diskutiert und explizit reflektiert. Das hier entwickelte Konzept von Wissen (das allerdings weit weniger konsistent ist, als es die programmatischen Überlegungen der Herausgeber vermuten lassen) entsteht vor dem Horizont der Aufklärungsphilosophie, wie insbesondere und Cassirer und Köhler aufgezeigt haben. Zur Akzentuierung der diskursiven Machtmechanismen,7 die den Eintritt in die Encyclopédie regulieren, werden insbesondere in der Nachfolge von Foucault Wissen und Macht korreliert und durch einen postkolonial bestimmten Wissensbegriff ergänzt. Wissen ist in der Encyclopédie immanent anthropologisch fundiert: Der Mensch ist Ausgangs- und Zielpunkt der Wissensproduktion. Diese anthropologische Ausrichtung ist historisch begründet, denn Wissen und Menschsein8 ist

7 In der vorliegenden Arbeit wird zentral mit ‹dem Machtbegriff› von Foucault gearbeitet, da erstens Macht, Wissen und Sprache von Foucault in Beziehung gesetzt werden, weil sein Machtbegriff zweitens den archäologischen Zugang zur Encyclopédie als Archiv fundiert und weil drittens der foucaultsche Machtbegriff maßgeblich die postkolonialen Theorien und den methodischen Ansatz der kontrapunktischen Lektüre beeinflusst hat. Gleichwohl ist das Moment der Macht selbstredend auch in vielen anderen Disziplinen, vielleicht in besonderem Maße in der Politologie und Soziologie, ein wichtiger Aspekt. Da der vorliegenden Arbeit die Ansätze aus der Wissenssoziologie besonders nahestehen, sei hier exemplarisch auf Srubars einführende Überlegungen zum wissenssoziologischen Machtbegriff hingewiesen, der diesen einerseits in die Tradition Webers, dessen ideologie- und herrschaftskritische Ausrichtung stellt und andererseits über die Interdependenz von Semiosis und Politik entwickelt und in der Diskurstheorie Foucaults münden lässt (vgl. Ilja Srubar: Kultur und Semantik, Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften 2009, bes. S. 201–220). 8 «Im ‹langen 18. Jahrhundert›, so lautet unsere Ausgangsthese, wurden nicht nur die Grundbewertungs- und Grundorientierungsfunktionen definiert, in denen wir unsere Kultur und unsere ‹Kultiviertheit› beschreiben. Hier sind die Begriffe angelegt, in denen das Humane und damit auch die möglichen Utopien einer modernen Gesellschaft umrissen sind. Es sind die

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1 Einleitung. Der koloniale Andere in der Encyclopédie

im Zeitalter der Aufklärung in besonderer Weise korreliert: über das Prinzip der Vernunft, das alle Autoritäten, Dogmen und Gewissheiten hinterfragen, stören und in die Mündigkeit des wissenden Subjekts führen kann und soll. Das Zentrum des Wissens bildet für Diderot der Mensch – allein. Er ist das unhintergehbare Prinzip: «L’homme est le terme unique d’où il faut partir, & auquel il faut tout ramener», heißt es im Encyclopédie-Artikel (auf die Passage wird in Kapitel 1.3 zurückzukommen sein). Ferner wird dem Menschen bzw. der herausragenden Stellung des wissenden, europäischen Subjekts eine Wissen fundierende und schöpfende Rolle zugeschrieben. Im Eintrag Encyclopédie geht es demgemäß auf vielen Ebenen um Rolle, Aufgabe, Grenzen und Potenziale der Wissenden: Der Enzyklopädist wird bestimmt als universeller «homme»; als institutionelles Mitglied einer «société» oder als «académicien»; als aufklärungsphilosophisches Mitglied einer «société de gens de lettres & d’artistes, épars, occupés chacun de sa partie, & liés seulement par l’intérêt général du genre humain, & par un sentiment de bienveillance réciproque»;9 als Lebenszeit begrenztes «individu» mit einer «certaine énergie dans ses facultés, tant animales qu’intellectuelles»;10 als kompetenter Teil eines «grand nombre de talens» und «ceux qui en ont fait une longue étude».11 Die europäische Überlegenheit kommt dann ins Spiel, wenn im Artikel zivilisatorische Entwicklung und Sprachfähigkeit gekoppelt werden: «La langue d’un peuple donne son vocabulaire, & le vocabulaire est une table assez fidele de toutes les connoissances de ce peuple: sur la seule comparaison du vocabulaire d’une nation en différens tems, on se formeroit une idée de ses progrès».12 Die Encyclopédie ist Wissenskompendium und systematisiertes Sachwörterbuch in einem: «l’ordre et l’enchaînement des connaissances humaines» und «dictionnaire raisonné des sciences, des arts et des métiers».13 So ist die Encyclopédie ein Projekt der Vulgarisierung des Wissens, der logischen und sachli-

Ideen von Autonomie und Freiheit, vom Wert des Individuums, von Rationalität und Vernünftigkeit. […] Die in diesen Begriffen angelegten Impulse führten zu grundlegenden Herausforderungen für die dominanten Ordnungen des Wissens, des Handelns und der Rechtfertigung von Institutionen und Organisationsformen» (Olaf Breidbach/Hartmut Rosa: Einleitung: Was ist das Laboratorium Aufklärung?, in: Dies. (Hg.): Laboratorium Aufklärung, Paderborn: Fink 2010, S. 7–17, hier S. 9. 9 Denis Diderot: Encyclopédie, S. 636. 10 Ebd., S. 637. 11 Ebd., S. 635. 12 Ebd., S. 637. 13 Jean Le Rond d’Alembert: Discours Préliminaire de l’Encyclopédie (1751)/Einleitung zur Enzyklopädie von 1751. Hamburg: Meiner [1751] 1955, S. 12 f.

1.1 Theoretischer Rahmen: Wissen – Alterität – Narration

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chen Verknüpfung der Wissensgebiete als Nachschlagewerk und der öffentlichen Aufklärung und Weiterbildung durch die Präsentation allen Wissens der Zeit, wie Diderot im Eintrag Encyclopédie ausführt. En comparant un Dictionnaire universel & raisonné de la connoissance humaine à une statue colossale, on n’en est pas plus avancé, puisqu’on ne sait ni comment déterminer la hauteur absolue du colosse, ni par quelles sciences, ni par quels arts, ses membres différens doivent être représentés. Quelle est la matiere qui servira de module ? sera-ce la plus noble, la plus utile, la plus importante, ou la plus étendue ? préférera-t-on la Morale aux Mathématiques, les Mathématiques à la Théologie, la Théologie à la Jurisprudence, la Jurisprudence à l’Histoire naturelle, &c.14

Das Zentrum der Encyclopédie aber ist der Mensch, der sich mittels rationaler Überlegungen die Welt erklären und damit Untertan machen kann. Zur epistemologischen Position(ierung) des philosophe ist ja bereits oben ausgeführt worden, wie die Herausgeber selbst ihre Stellung fassen. Relevant ist hier aber, dass sowohl der Ausgangs- als auch der Zielpunkt der (europäische) Mensch ist. Diderot formuliert diesen Anthropozentrismus in seinem Eintrag Encyclopédie ganz explizit, indem er ihn als «terme unique» an den Anfang jeglicher Reflexion setzt. Wie eine Art Urknall und mit reichlich aufklärerischer Lichtmetaphorik kann nur der Mensch die ansonsten schweigende, dunkle und uninteressante Natur und das Universum zum Leuchten und Sprechen bringen: Une considération sur-tout qu’il ne faut point perdre de vûe, c’est que si l’on bannit l’homme ou l’être pensant & contemplateur de dessus la surface de la terre ; ce spectacle pathétique & sublime de la nature n’est plus qu’une scene triste & muette. L’univers se taît ; le silence & la nuit s’en emparent. Tout se change en une vaste solitude où les phénomenes inobservés se passent d’une maniere obscure & sourde. C’est la présence de l’homme qui rend l’existance des êtres intéressante ; & que peut-on se proposer de mieux dans l’histoire de ces êtres, que de se soûmettre à cette considération ? Pourquoi n’introduirons-nous pas l’homme dans notre ouvrage, comme il est placé dans l’univers ? Pourquoi n’en ferons-nous pas un centre commun ? Est-il dans l’espace infini quelque point d’où nous puissions, avec plus d’avantage, faire partir les lignes immenses que nous nous proposons d’étendre à tous les autres points ? Quelle vive & douce réaction n’en résulterat-il pas des êtres vers l’homme, de l’homme vers les êtres ? Voilà ce qui nous a déterminé à chercher dans les facultés principales de l’homme, la division générale à laquelle nous avons subordonné notre travail. Qu’on suive telle autre voie qu’on aimera mieux, pourvû qu’on ne substitue pas à l’homme un être muet, insensible & froid. L’homme est le terme unique d’où il faut partir, & auquel il faut tout ramener, si l’on veut plaire, intéresser, toucher jusque dans les considérations les plus arides & les détails les plus secs. Abstraction faite de mon existance & du bonheur de mes semblables, que m’importe le reste de la nature?15

14 Denis Diderot: Encyclopédie, S. 641. 15 Ebd., Hervorhebung K.S.

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1 Einleitung. Der koloniale Andere in der Encyclopédie

Gipper betont diesen eingeschriebenen Rezeptionsaspekt, indem er aus der epistemologischen Engführung von Encyclopédie und Dictionnaire einerseits16 und dem Vergleich mit der Bacon’schen Systematik andererseits eine Gestaltungsästhetik der Encyclopédie generiert. Gipper beschreibt den Zusammenhang des Bacon’schen Wissensbaums und zwingender Genealogie als zwei Ordnungsprinzipien, indem er ihn einerseits auf der gemeinsamen Grundlage der «utilité» ruhen sieht und andererseits aber auch den «programmatischen Ausdruck eines entschiedenen und radikalen Anthropozentrismus» annimmt, der nicht einfach «Ausdruck eines [...] aufgeklärten Humanismus» ist, «sondern selbst als grundlegende und bewußte rhetorische Strategie in den Blick» kommt.17 Der Mensch sei folglich weniger Gegenstand der Encyclopédie als vielmehr ihr «methodischer und wirkungsästhetischer Ausgangspunkt».18 Anders formuliert könnte man für die Encyclopédie schlussfolgern: Die Berechtigung der Wissensbestände ergibt sich daraus, ob sie für den Menschen relevant sind, nicht zwingend daraus, ob sie sich auf den Menschen beziehen. Methodisch ist die Folge: Wenn die enzyklopädische Rhetorik nach Gipper insbesondere für Diderot «primär leser- und adressatenbezogen»19 angelegt ist, dann sind die Argumentationsführung und die wissenspoetologisch adressierenden wie involvierenden Verfahren von Belang. Dem Wissenskonzept sind in der Encyclopédie weiterhin grundlegend seine Genese bzw. die räsonnierenden Produktionsprozesse eingeschrieben. Wissen ist nicht vorfindlich, als Faktum dogmatisch gesetzt; sondern ganz im Sinne der Aufklärung eines, das allererst hergestellt werden muss. Aus diesem Grund ist in der Encyclopédie nicht zufällig in erster Linie von Kenntnissen, «connaissances», die Rede, deren Ursprung in Anlehnung an Bacon in sensualistischer Tradition definiert, evaluiert und hierarchisiert wird. Diese «connaissances» werden in der Encyclopédie in eine epistemologische Konzeptmetapher gekleidet, die den Produktionsprozess und die Organisation der Wissensgebiete gleichzeitig abbildet. Es ist die von d’Alembert in seinem Discours préliminaire explizierte Metapher des Stammbaums bzw. des «arbre encyclopédique».20 Während im (in der Tradition des Sensualismus gedachten) Labyrinth Wissen erratisch angesammelt werde, beginnend mit Sinneseindrücken und gekennzeichnet von Hindernissen, Umwegen etc. also insgesamt eher ein «désordre»21 darstelle, sei der «arbre encyclopédique» ein durch die Logik

16 17 18 19 20 21

Vgl. Andreas Gipper: Wunderbare Wissenschaft. Vgl. ebd., S. 317. Ebd., S. 318. Ebd., S. 319. Jean Le Rond d’Alembert: Discours préliminaire de L’Encyclopédie, S. 86. Ebd., S. 82.

1.1 Theoretischer Rahmen: Wissen – Alterität – Narration

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tiefwurzelndes und daher stabiles Gebilde (zur epistemologischen Kontrastierung von Baum und Labyrinth in der Encyclopédie vgl. Ehrard 22). Diese Baumstruktur findet sich auch in dem berühmten Tableau zur Ordnung des menschlichen Wissens, dessen weit verzweigte Wissensgebiete im berühmten «Système figuré des connaissances humaines» von den drei Grundprinzipien der «raison», «mémoire» und der «imagination» abgeleitet werden.23 Diese Logik ermögliche es dem philosophe, eine Position oberhalb des Labyrinths und folglich Über- und Weitblick erlangen zu können. Hoch über jenem Wissenslabyrinth der Zeit erstelle er dann eine Weltkarte des Wissens: Il n’en est pas de même de l’ordre encyclopédique de nos connoissances. Ce dernier consiste à les rassembler dans le plus petit espace possible, & à placer, pour ainsi dire, le Philosophe au-dessus de ce vaste labyrinthe dans un point de vûe fort élevé d’où il puisse appercevoir à la fois les Sciences & les Arts principaux ; voir d’un coup d’oeil les objets de ses spéculations, & les opérations qu’il peut faire sur ces objets ; distinguer les branches générales des connoissances humaines, les points qui les séparent ou qui les unissent; & entrevoir même quelquefois les routes secretes qui les rapprochent. C’est une espece de Mappemonde qui doit montrer les principaux pays, leur position & leur dépendance mutuelle, le chemin en ligne droite qu’il y a de l’un à l’autre ; chemin souvent coupé par mille obstacles, qui ne peuvent être connus dans chaque pays que des habitans ou des voyageurs, & qui ne sauroient être montrés que dans des cartes particulieres fort détaillées. Ces cartes particulieres seront les différens articles de l’Encyclopédie, & l’arbre ou système figuré en sera la Mappemonde […].24

Signifikant sind hier der Zusammenhang von Herrschaft, Legitimation und Wissen und die erhabene, distante und machtvolle Position des Kartographen, der einzeichnen, benennen und Wege und Umwege lokalisieren kann.25 Neben die philosophische Begriffstradition26 tritt hiermit in postkolonialer Perspektive eine Verbindung zum Entdeckungs- und Kolonialprojekt der kolonialen Welt, denn die Metapher der Weltkarte alludiert auch die machtvolle Landnahme und Weltvermessung, postkolonial gesprochen: die autoritären Kolonialgesten des

22 Vgl. Jean Ehrard: L’arbre et le labyrinthe, in: Sylvain Auroux/Dominique Bourel (Hg.): L’Encyclopédie, Diderot, l’esthétique. Mélanges en hommage à Jacques Chouillet 1915–1990, Paris: Presses Universitaires de France 1991, S. 233–239. 23 Denis Diderot/Jean Le Rond d’Alembert (Hg.): Encyclopédie (ENCCRE). 1751. Bd. 1, o. S. 24 Denis Diderot/Jean Le Rond d’Alembert: Discours Préliminaire, in: Dies. (Hg.): Encyclopédie (ENCCRE). Bd. 1, S. i -xlv, hier S. xv, Hervorhebung K. S. 25 Die geographische Metaphorik ist überdies ein Translationsfragment aus der Chamber’schen Enzyklopädie, in der Chambers ebenfalls «the whole land of knowledge» vermessen will (Chambers nach Ulrich Dierse: Encyclopédie, in: Heinz Thoma (Hg.): Handbuch Europäische Aufklärung. Begriffe, Konzepte, Wirkung, Stuttgart: Metzler 2015, S. 139–149, hier S. 140). 26 Vgl. dazu Umberto Eco: De l’arbre au labyrinthe, Paris: Grasset 2010.

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1 Einleitung. Der koloniale Andere in der Encyclopédie

naming und mapping.27 Trotz aller Suprematie-, Systematisierungs- und Fundierungsrede führt d’Alembert zwei Momente der Arbitrarität («arbitraire») in die Generierungsprozesse des Wissens ein: einerseits in der Abhängigkeit von jenem, aus dessen Perspektive sich die Beschreibung ergibt 28 und andererseits in der Wissensunterteilung und Zuteilung zu unterschiedlichen «classes».29 In Ergänzung zu diesen präliminaren Ausführungen zur Wissensorganisation als enzyklopädischem Baum oder als Weltkarte überführt Diderot in seinem ausführlichen Eintrag Encyclopédie den Wissensbaum in die ‹exaktere› Weltkartenmetaphorik:30 L’univers est l’ouvrage infini d’un Dieu. Une science est un ouvrage fini de l’entendement humain. Il y a des premiers principes, des notions générales, des axiomes donnés. Voilà les racines de l’arbre. Il faut que cet arbre se ramifie le plus qu’il sera possible ; qu’il parte de l’objet général comme d’un tronc; qu’il s’éleve d’abord aux grandes branches ou premieres divisions ; qu’il passe de ces maîtresses branches à de moindres rameaux ; & ainsi de suite, jusqu’à-ce qu’il se soit étendu jusqu’aux termes particuliers qui seront comme les feuilles & la chevelure de l’arbre. Et pourquoi ce détail seroit-il impossible ? chaque mot n’a-t-il pas sa place, ou, s’il est permis de s’exprimer ainsi, son pédicule & son insertion ? Tous ces arbres particuliers seront soigneusement recueillis ; & pour présenter les mêmes idées sous une image plus exacte, l’ordre encyclopédique général sera comme une mappemonde où l’on ne rencontrera que les grandes régions ; les ordres particuliers, comme des cartes particulieres de royaumes, de provinces, de contrées ; le dictionnaire, comme l’histoire géographique & détaillée de tous les lieux, la topographie générale & raisonnée de ce que nous connoissons dans le monde intelligible & dans le monde visible; & les renvois serviront d’itinéraires dans ces deux mondes, dont le visible peut être regardé comme l’Ancien, & l’intelligible comme le Nouveau.31

Der anthropologisch, kollektiv, zivilisatorisch und sprachphilosophisch fundierte Wissensbegriff der Encyclopédie ist prozessual, rational und relativ durch seine Bindung an ein erkennendes Subjekt, das mehr den Verstehensprozess selbst als die ‹Tatsache› darlegen soll. Die Bevorzugung der Wissensproduktion gegenüber der -dokumentation ist der Anthropologisierung des Wissens geschuldet,

27 Vgl. Bill Ashcroft/Gareth Griffiths/Helen Tiffin: Cartography (Maps and mapping), in: Dies. (Hg.): Post-Colonial Studies. The Key Concepts, London/New York: Routledge [2000] 2007, S. 28–30. 28 Vgl. Jean le Rond d’Alembert: Discours préliminaire de l’Encyclopédie, S. 86. 29 Ebd., S. 88. 30 Vgl. auch Andreas B. Kilcher: mathesis und poiesis. Die Enzyklopädik der Literatur 1600 bis 2000, München: Fink 2003 sowie Andreas B. Kilcher: Theorie des alphabetisierten Textes, in: Paul Michel/Madeleine Herren/Martin Rüesch (Hg.): Allgemeinwissen und Gesellschaft, Aachen: Shaker Verlag 2007, S. 75–94, www.enzyklopaedie.ch/kongress/aufsaetze/kilcher.pdf (24. 09. 2019). 31 Vgl. Denis Diderot: Encyclopédie, hier S. 641 f.

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das wiederum vor dem historischen Hintergrund der Aufklärung und ihrem Anliegen, den Menschen aus seiner Unmündigkeit herauszuführen, zu verstehen ist. Die betonte Inszenierung der Wissensgenese in den Encyclopédie-Artikeln ist an die Abkopplung des Wissens von seinem unmittelbaren, referenziellen Bezug zur Wahrheit zugunsten einer Plausibilisierung der Wissensgenese gebunden (die allerdings nicht gänzlich auf das Telos Wahrheit verzichtet). In der modernen Wissenssoziologie32 und Kognitionspsychologie würde man hier zwischen einfachen Fakten einerseits und daraus kompiliertem, konstruiertem Wissen andererseits unterscheiden.33 Einen anderen Fakten-Begriff führen Diderot und d’Alembert in das Wissenskonzept der Encyclopédie ein. Zur Wissensproduktion selbst entwerfen Diderot und d’Alembert nämlich klare, prozedurale Konturen. Im Avertissement zum dritten Band der Encyclopédie benennen die Herausgeber zwei basale Wissenstypen und deren jeweiligen Produktionsprozess: Les matieres que ce Dictionnaire doit renfermer sont de deux especes ; savoir les connoissances que les hommes acquierent par la lecture & par la société, & celles qu’ils se procurent à eux-mêmes par leurs propres réflexions ; c’est-à-dire en deux mots, la science des faits & celle des choses. Quand on les considere sans aucune attention au rapport mutuel qu’elles doivent avoir, la premiere de ces deux sciences est fort inutile & fort étendue, la

32 Das Wissenskonzept ist in den philosophischen wie interdisziplinären Debatten grundlegend von den Definitionen Platons geprägt. Im Theaitetos definiert Platon Wissen als wahren und begründeten Glauben, als wahre Meinung, die mit Begründung, also logos, verbunden ist. Für die vorliegende Arbeit sind insbesondere die Prämissen aus der Wissenssoziologie und -poetologie von zentraler Bedeutung. Die Wissenssoziologie hat insbesondere auf den historisch wandelbaren und sozial determinierten Charakter von Wissen aufmerksam gemacht. Wissen ist demzufolge an den Wahrheitswert einer bestimmten sozialen Schicht der Zeit geknüpft, d. h. es wird aus seinem universalistischen Anspruch herausgelöst und als historisch wie kulturell determiniert begriffen (vgl. Rainer Schützeichel (Hg.): Handbuch Wissenssoziologie und Wissensforschung, Konstanz: UVK 2007). 33 In der vorliegenden Arbeit wird Information als (konstruierte) Basiskategorie des Wissens verstanden. Zur Unterscheidung zwischen Information, Fakten, Kenntnis («connaissances») und Wissen vgl. Peter Meusburger: Wissen und Raum – ein subtiles Beziehungsgeflecht, in: Klaus Kempter/ders. (Hg.): Bildung und Wissenschaft, Berlin/Heidelberg: Springer 2006, S. 269– 308, der die basale Differenz darin ausmacht, dass Information im Gegensatz zu Wissen in Kommunikationsprozessen transferiert wird. Die Kognitionspsychologie modelliert Wissen und Information in einer Wissenstreppe, an deren Sockel die Information und auf deren Treppenabsatz Wissen steht (vgl. dazu Stefan Halft: Poetogenesis, Berlin/Boston: De Gruyter 2013, S. 10 f.). Dies wiederum korreliert mit den Aktivitätsmustern von Nervenzellen und beschreibt die unterschiedlichen Vorstufen zu Wissensstrukturen. In der (philosophischen) Erkenntnistheorie werden drei unterschiedliche epistemische Modi unterschieden: die Meinung (doxa), der Glauben (pistis) und das Wissen (episteme) (vgl. Bruno Brülisauer: Was können wir wissen? Grundprobleme der Erkenntnistheorie, Stuttgart: Kohlhammer 2008, S. 30).

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seconde fort nécessaire & fort bornée, tant la Nature nous a traités peu favorablement. Il est vrai qu’elle nous a donné dequoi nous dédommager jusqu’à un certain point par l’analogie & la liaison que nous pouvons mettre entre la science des faits & celle des choses; c’est sur-tout relativement à celle-ci que l’Encyclopédie doit envisager celle-là. Réduit à la science des choses, ce Dictionnaire n’eût été presque rien ; réduit à celle des faits, il n’eût été dans sa plus grande partie qu’un champ vuide & stérile: soûtenant & éclairant l’une par l’autre, il pourra être utile sans être immense.34

Diese Passage expliziert nicht nur die Fähigkeiten des Menschen, in der Auseinandersetzung mit dem Wissen in der Gesellschaft oder aber in der individuellen Weltanschauung Kenntnisse zu erwerben, sondern sie unterstreicht auch den für die Aufklärung zentralen Maßstab der Nützlichkeit des Wissens. Nützliches Wissen wird in der Encyclopédie von Diderot und d’Alembert einerseits durch die wechselseitige Bezugnahme von Fakten und Dingen erreicht. Andererseits aber entsteht es programmatisch innerhalb des Genres Dictionnaire und vor allem durch die Integration praktischen, handwerklichen Wissens («des sciences, des arts et des métiers») in die Welt des gelehrten Wissens. Neben dem durch Sozialisation oder Reflexion erlangten Wissen besteht die Encyclopédie (und nicht zuletzt ihr aufklärerischer Auftrag) auch darin, Wissen zu repräsentieren, das sich nicht allein aus der Quelle der Wissenschaft schöpft, sondern auch in dem ‹Know-how› der Handwerker, Architekten und anderer Praktiker besteht (dictionnaire des arts, des sciences et des métiers). Wissenschaftswissen, Handlungswissen und Erfahrungswissen fließen gleichermaßen in die Encyclopédie ein und sind für die Narrativierung eine wahre Herausforderung, da an ihnen der Anspruch des Mimetischen scheitert.35 Diese Nützlichkeit des Wissens begründet sich neben der praktischen Ausrichtung auch in der Universalisierung von Wissensbeständen und einer Abkehr von einer machtvollen Ereignisgeschichte. Diderot und d’Alembert machen den Unterschied zur Enzyklopädie von Chambers und zu anderen Wissenssammlungen im kollektiven, systematisch-analytischen Charakter der Encyclopédie aus, die Wissen von Singularitäten entschieden abzulösen sucht: On ne trouvera donc dans cet Ouvrage, comme un Journaliste l’a subtilement observé, ni la vie des Saints, que M. Baillet a suffisamment écrite, & qui n’est point de notre objet; ni la généalogie des grandes Maisons, mais la généalogie des Sciences, plus précieuse pour qui sait penser; ni les avantures peu intéressantes des Littérateurs anciens & modernes, mais le fruit de leurs travaux & de leurs découvertes; ni la description détaillée de chaque

34 Denis Diderot/Jean Le Rond d’Alembert: Avertissment, in: Dies. (Hg.): Encyclopédie (ENCCRE). Bd. 3, S. i –xjv, hier S. jv. 35 Vgl. Martine Groult: D’Alembert et la mécanique de la vérité dans l’Encyclopédie, Paris: Champion/Slatkine 1999.

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village, telle que certains érudits prennent la peine de la faire aujourd’hui, mais une notice du commerce des provinces & des villes principales, & des détails curieux sur leur histoire naturelle; ni les Conquérans qui ont desolé la terre, mais les génies immortels qui l’ont éclairée ; ni enfin une foule de Souverains que l’Histoire auroit dû proscrire. Le nom même des Princes & des Grands n’a droit de se trouver dans l’Encyclopédie, que par le bien qu’ils ont fait aux Sciences; parce que l’Encyclopédie doit tout aux talens, rien aux titres, & qu’elle est l’histoire de l’esprit humain, & non de la vanité des hommes.36

Weder Helden- noch Personengeschichte, weder Herrscher- noch Heiligengeschichte werden in der Encyclopédie zu finden sein, stattdessen Systematiken von Wissenschaften und Denkansätzen und nur jene Namen und Geschichten, die den «sciences» zugutekamen. Damit wenden sich die Enzyklopädisten von Singularitäten, einzelnen Ereignissen, Orten (hier: Städte) und Personen, ab und favorisieren universelle und kollektive Wissensbestände. Ganz im Sinne der Aufklärung soll die Encyclopédie keine Geschichte von religiösen, staatlichen, heroischen etc. Autoritäten schreiben, sondern eine, die zwar Entindividualisierung vornimmt, am räsonnierenden Subjekt aber festhält.37 Die ‹Motoren› der menschlichen Erkenntnisse sind für die Herausgeber der Encyclopédie auf drei Ebenen angesiedelt, die gleichberechtigt am Erkenntnisprozess teilhaben: die «raison», die «mémoire» und die «imagination».38 Für die folgenden wissenspoetologischen und postkolonialen Analysen relevant sind hier einerseits die explizite Gleichstellung und Interferenz von Geschichtsschreibung, Philosophie und Poesie, die mit den genannten drei Wissenssphä-

36 Denis Diderot/Jean Le Rond d’Alembert: Avertissment, Bd. 3, S. jv. 37 Vgl. Rudolf Behrens/Jörn Steigerwald (Hg.): Räume des Subjekts um 1800. Zur imaginativen Selbstverortung des Individuums zwischen Spätaufklärung und Romantik, Wiesbaden: Harrassowitz 2009. 38 Imagination und Erkenntnisprozesse in Beziehung zu setzen ist selbstredend keine Erfindung der Encyclopédie. Imagination werde laut Behrens im 18. Jahrhundert mit Wissen, Affekten und Versprachlichung korreliert: «Das poetologisch-ästhetische Wissensfeld ist im 18. Jh. vielfältig von Theoremen zur Imagination durchzogen. [...] Insofern tritt sie [die Imagination, K. S.] primär über affekttheoretisches Wissen [...] in das poetologische Feld ein. [...] Die ideengeschichtlichen Filiationen, die den Begriff der Imagination aus der noch im Encyclopédie-Artikel von Voltaire (1757) strikt durchgehaltenen Dichotomie von passiver und aktiver (kombinierender) facultas herausführen, sind heterogen» (Rudolf Behrens/Jörn Steigerwald: Imagination, in: Heinz Thoma, (Hg.): Handbuch Europäische Aufklärung. Begriffe, Konzepte, Wirkung, Stuttgart: Metzler 2015, S. 277–288, hier S. 282 f.). Ähnlich schließt auch Todorov zwar den Glauben, nicht aber Affekte aus der Wissensproduktion aus: «La connaissance n’a que deux sources, la raison et l’expérience, et toutes deux sont accessibles à chacun. La raison est mise en valeur comme outil de connaissance, non comme mobile des conduites humaines, elle s’oppose à la foi, non aux passions» (Tzvetan Todorov: L’esprit des Lumières, Paris: Laffont 2006, S. 12 ff.).

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ren korreliert werden;39 andererseits die von d’Alembert (und Diderot) formulierte Definition der Imagination (Vorstellungskraft). Sie bringt ebenso wie die «raison» Erkenntnisse hervor und wird folglich auf epistemologischer Ebene gleichrangig behandelt. So steht die Poesie als «imagination» gleichberechtigt neben der Philosophie («raison») in der Systematisierung der «connaissances humaines» von d’Alembert, wie er sie in seinem Discours préliminaire in einem hierarchisch-logischen Modell konzipiert.40 Damit sind für d’Alembert literarische Imagination und vernunftbasiertes Denken gleichermaßen Quellen von Wissen und Erkenntnis. Im Eintrag Imagination, Imaginer selbst, dessen erster von drei Subeinträgen aus Voltaires Feder stammt, wird die Einbildungskraft als anthropologische Konstante gesetzt, die «chaque être sensible»41 zugänglich sei.42 Allerdings stellt sie auch eine Art sensualistische Vermittlungsinstanz dar.43 D’Alembert zufolge wird «imagination» in diesem Sinne nicht als Rekonstruktion der wahrgenommenen Gegenstände verstanden, sondern (recht nahe der aristotelischen Mimesis) als ein «talent de créer en imitant».44 D’Alembert setzt folglich die Tätigkeit eines Geometers und die eines Dichters gleich: «L’imagination dans un géomètre qui crée, n’agit pas moins que dans un poète qui invente. Il est vrai qu’ils opèrent différemment sur leur objet: le premier le dépouille et l’analyse, le second le compose et l’embellit.»45 Die geometrischen Vermessungen sind demzufolge ebenso kreativ wie die Erfindungen eines Dichters. Überdies scheint die Wahl des Geometers erneut (man erinnere sich an den Kar-

39 Dieses Verhältnis kann nach Klinkert gar für die Aufklärung insgesamt behauptet werden: «Das Verhältnis von Geschichtsschreibung, Philosophie/Wissenschaft und Poesie wird im 18. Jahrhundert nicht überall explizit so bewertet wie in der Encyclopédie, doch findet man allenthalben Spuren ihrer Zusammengehörigkeit beziehungsweise ihrer Interferenz. Man kann also sagen, dass das ‹système de connoissances humaines› der Encyclopédie diesbezüglich exemplarisch für das 18. Jahrhundert ist» (Thomas Klinkert: Epistemologische Fiktionen, S. 52). 40 Vgl. Jean Le Rond d’Alembert: Discours Préliminaire de l’Encyclopédie. 41 Voltaire: Imagination, Imaginer, in: Denis Diderot/Jean Le Rond d’Alembert (Hg.): Encyclopédie (ENCCRE). Bd. 8, S. 560–563, hier S. 560. 42 Diese egalitäre Konzeption von «imagination» und «raison» ist unter den Aufklärern der Zeit keinesfalls allgemein akzeptiert. Es entsteht eine Reibungsfläche zwischen Imagination und enzyklopädischem Anspruch. So warnt Voltaire eindringlich: «Gardez vous des idées particulières et des paradoxes en fait de belles lettres. Un dictionnaire doit être un monument de vérité et de goût, et non pas un magasin des fantaisies» (Voltaire nach Ulrich Johannes Schneider: Die Erfindung des allgemeinen Wissens, S. 68). 43 Vgl. dazu auch Jörn Steigerwald: Encyclopédie ou dictionnaire raisonné des arts, des sciences et des métiers (1750–1780), in: Rudolf Behrens/ders. (Hg.): Aufklärung und Imagination in Frankreich (1675–1810). Anthologie und Analyse, Berlin/Boston: De Gruyter 2016, S. 420–452. 44 Jean Le Rond d’Alembert: Discours Préliminaire de l’Encyclopédie, S. 90. 45 Ebd., S. 92.

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tographen mit der Weltkarte des Wissens) kein Zufall zu sein. Spatiale (und durchaus auch koloniale) Semantiken der Landvermessung, der Entdeckung und der Kartographierung bieten offensichtlich ein reiches metaphorisches Reservoir für die Beschreibung epistemischer Prozesse. Auch Cassirer bedient sich für seine Argumentationen in diesem kolonial-explorativen semantischen Feld. Cassirer bezeichnet unter Verweis auf d’Alembert den Kern des philosophischen Denkens der Aufklärung als eine Denkbewegung, die sich «der Welt mit neuer Entdeckerfreude und mit neuem Entdeckermut» nähere und dabei auf all ihren «Entdeckungsfahrten» «[n]och tiefer ergriffen und noch leidenschaftlicher bewegt»46 der Frage nach dem handlungsmächtigen Selbstbild widme.47 Ähnlich weist auch Köhler auf das Moment des Global-Universalen hin, indem sich für ihn die Encyclopédie durch ein wesentliches Merkmal von ihren Vorläufern unterscheide (wenn auch in deutlicher Nähe zu Bayles Dictionnaire historique et critique von 1697): Die Encyclopédie beschreite «den Weg zu einem neuen Weltbild und zu einer anderen Art der Daseinserfahrung [...]. Sie ist durch und durch Weltanschauung».48 Resultat dieser globalen und damit vielschichtigen Welt ist eine Widersprüchlichkeit, die der Aufklärung innewohnt und die ein gängiger Topos der Aufklärungsforschung ist (so konstatiert etwa Wernsing: «Aber man muss eingestehen, dass Aufklärung nicht nur die Freiheit erfunden und das Glück versprochen hat, sondern, insgesamt betrachtet, zutiefst widersprüchlich ist»).49 Die Folge dieser disparaten Positionen ist das Bestreben danach, das sich ausdehnende Wissen zu beherrschen. Cassirer zufolge fordert die epistemische Diversität und Dezentrierung umso dringlicher Einheit und Zentrierung ein.50 Die Denkbewegung oder «Kraft» mit Cassirer, die dieses Zentrum bilde, sei die der Vernunft. Und an diesen Gedanken schlösse sich eine universalistische Zielrichtung an, die die Wissenskonstruktionen der Epoche tiefgreifend prägt: «Das achtzehnte Jahrhundert ist durchdrungen von dem Glauben an die Einheit und

46 Ernst Cassirer: Die Philosophie der Aufklärung, Hamburg: Meiner [1932] 2007, S. 3. 47 Renner situiert die Aufklärung als eine Art Zwischenphase zwischen Entdeckerzeit und Imperialismus: «Der zivilisatorische Mitteilungsdrang der Aufklärung [...]. Die Neugier auf andere Zivilisationen und die Fähigkeit, fremdes Wissen nutzbar zu machen, kann als typisch gelten. [...] Die Aufklärung war auch eine Phase der Reflexion nach den großen ‹Entdeckungen› und Eroberungen der frühen Neuzeit und vor dem Beginn des Imperialismus» (Andreas Renner: Ad marginem: Europäische Aufklärung jenseits der Zentren, S. 18). 48 Köhler in Jean Le Rond d’Alembert: Discours Préliminaire de l’Encyclopédie, S. XIII. 49 Armin Volkmar Wernsing: Licht und Lüge. Aufklärung in Frankreich, Würzburg: Königshausen & Neumann 2014, S. 18. 50 Vgl. Ernst Cassirer: Die Philosophie der Aufklärung, S. 4.

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die Unwandelbarkeit der Vernunft. Sie ist dieselbe für alle denkenden Subjekte, für alle Nationen, alle Epochen, alle Kulturen».51 Im Gegensatz zu Köhler versteht Cassirer nun Vernunft nicht als extrinsische Kraft, kein Apriori, das auf die Gegenstände einwirke, sondern als ein inhärentes Moment.52 Für die Aufklärung gelte demgemäß, in Gegenbewegung zum 17. Jahrhundert, das Primat der Induktion. Vor diesem Hintergrund versteht Cassirer auch d’Alemberts Discours préliminaire. D’Alembert entwickele Cassirer zufolge den Begriff Encyclopédie nicht als begriffliche Systematisierung, sondern als Erfahrungswissen, das sich in der von Diderot und d’Alembert entwickelten Systematik der menschlichen Erkenntnis(se) beschreiben ließe. Damit ist aber die Stellung des denkenden Menschen aufgewertet und in das Denken eingeschrieben; der Begriff der Vernunft, so schreibt Cassirer, ist «als Begriff nicht von einem Sein, sondern von einem Tun».53 Und dieser Zug ist wiederum eine Grundtendenz der Encyclopédie.54 Festzuhalten bleibt der Anspruch der Universalität des Denkens und das Ziel der Totalität: in jeder einzelnen philosophischen Analyse, aber im Besonderen auch für das Projekt der Encyclopédie, das sich nur folgerichtig aus dieser Denkbewegung ergeben musste. Dass die Encyclopédie dabei nicht nur Akkumulation von Wissen, sondern vor allem Komposition und Kompilation ist, geht einerseits auf ihre weltumfassende Ausrichtung zurück und weist andererseits auf ihren Konstruktcharakter voraus. Denn die Vielzahl der Artikel zeugt zwar von der Differenziertheit des Wissens und der beginnenden wissenschaftlichen Ausdifferenzierung in der Aufklärung, stellt sich aber insbesondere in den Rahmen der zunehmenden Globalisierung. Die Encyclopédie stehe, so Lüsebrink, an der Schnittstelle zwischen «epistemischer Revolution» und globalisierter Weltwahrnehmung.55 Die Integration all dieser Wissensdimensionen und -sphären und die Reflexion über die Produktion und damit Konstruktion von Wissen macht aus der Encyclopédie ein besonderes Archiv. In ihr wird Wissen nicht nur abgebildet, sondern nachgerade konstruiert. Dieser Konstruktcharakter des Wissens in der Encyclopédie hebt auf die Umsetzung der o. g. Prämissen über Wissen und Wissensgenese innerhalb der Artikel ab. Die enzyklopädische Programmatik ist ja gerade, Wissen und Wissenskonstruktion gleichermaßen kenntlich zu machen.

51 Ebd. 52 Vgl. ebd., S. 8. 53 Ebd., S. 13. 54 Vgl. ebd. 55 Vgl. Hans-Jürgen Lüsebrink: Wissen und außereuropäische Erfahrung im 18. Jahrhundert, in: Richard van Dülmen/Sina Rauschenbach (Hg.): Macht des Wissens: Die Entstehung der modernen Wissensgesellschaft, Köln u. a.: Böhlau 2004, S. 629–653, hier S. 635.

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Und an diese selbstreflexive (und durchaus auch poietische) Funktion knüpfen auch moderne Archiv-Theorien an: Ihnen zufolge macht nicht das Wissen das Archiv, sondern das Archiv macht Wissen. «Archiviertes», so schreiben Horstmann und Kopp, «ist einerseits Zeugnis einer Vergangenheit, andererseits auch Zeuge seiner Entstehung».56 Anders formuliert: In den Artikeln wird nicht (nur) Wissen in der Encyclopédie generiert, sondern ein spezifisch enzyklopädisches Wissen. Die Macht- und Konstruktionsmechanismen, die die Diskurse der Zeit regeln und die insbesondere die Encyclopédie als Institution bestimmen, sind den in der Encyclopédie versammelten Wissensbeständen nicht äußerlich, sondern (ganz foucaultsch) immer schon in sie eingeschrieben.57 In dieser Perspektive tritt der mimetische,58 repräsentative Charakter des Archivs in den Hintergrund zugunsten einer Akzentuierung des Konstruktcharakters von Wissen. Als Figur einer Vermittlung zwischen dem Sichtbaren und dem Verborgenen ist das Archiv zum Schlüsselbegriff einer Geschichts- und Kulturtheorie avanciert, die nicht mehr von der Vorstellung einer Abbildung des Vergangenen, sondern von der Idee einer Codierung des Geschichtlichen ausgeht. Archiv meint folglich eine Instanz, die eine Ordnung der Vergangenheit produziert, anstatt diese – wie die Geschichtswissenschaft – zu repräsentieren.59

56 Anja Horstmann/Vanina Kopp: Einleitung: Archiv – Macht – Wissen: Organisation und Konstruktion von Wissen und Wirklichkeiten in Archiven, in: Dies. (Hg.): Archiv – Macht – Wissen. Organisation und Konstruktion von Wissen und Wirklichkeiten in Archiven, Frankfurt a. M.: Campus Verlag 2010, S. 9–22, hier S. 11; zur Problematik der Wissenssystematisierung und Repräsentation in der Encyclopédie vgl. etwa Manfred Engel/Gernot Helmreich: Die Aufklärung und ihr Anderes im ‹Archiv der Schwärmerey und Aufklärung›. Diskursanalytische Überlegungen zu einer Zeitschrift der Spätaufklärung, in: Monika Neugebauer-Wölk (Hg.): Aufklärung und Esoterik, Hamburg: Meiner 1999, S. 416–432. 57 Mit Ebeling/Günzel könnte man in Analogie für die Encyclopédie behaupten, dass Wissen «nicht durch einen Akt der Reflexion gestiftet wird, sondern aus dem Raum des Archivs mit seinen Ein- und Ausschlussmechanismen hervorgeht» (Knut Ebeling/Stephan Günzel (Hg.): Einleitung, in: Dies. (Hg.): Archivologie. Theorien des Archivs in Wissenschaft, Medien und Künsten, Berlin: Kadmos 2009, S. 7–26, hier S. 8). 58 Zur Problematik der Mimesis als Wissenskonzept vgl. auch Jacques Rancière: Die Namen der Geschichte. Versuch einer Poetik des Wissens, Frankfurt a. M.: S. Fischer [1992] 1994 sowie Vogl: «Die Möglichkeit einer Beziehung zwischen Literatur und Wissen liegt nicht in einer Widerspiegelung, sie liegt weder in einem Abbildverhältnis noch in einer Beziehung von Text und Kontext oder in einer Relation zwischen Stoff und Form. […] Die Verknüpfung zwischen ‹Literatur› und ‹Wissen› legt vielmehr nahe, das Wissenssubstrat literarischer Gattungen und die poetische Durchdringung von Wissensformen aufeinander zu beziehen und beide damit im Milieu ihrer Geschichtlichkeit festzuhalten» (Joseph Vogl: Poetologie des Wissens, in: Harun Maye/Leander Scholz (Hg.): Einführung in die Kulturwissenschaft, München: Fink 2011, S. 49–71, hier S. 66). 59 Knut Ebeling/Stephan Günzel (Hg.): Einleitung, S. 7–26, hier S. 14.

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Diese Repräsentation im Sinne einer in die Gegenwart geholten Vergangenheit treibt auch die Herausgeber der Encyclopédie jenseits der Mimesis-Problematik um. Die Encyclopédie soll janusköpfig der Speicherung und vor allem Überlieferung tradierten Wissens aus der Vergangenheit dienen und gleichzeitig Wissen für die Zukunft, «pour les siècles à venir», bereitstellen. So behauptet Diderot in einer berühmten Formulierung in seinem Prospectus, dass nur eine einzige Ausgabe der Enzyklopädie, hätte es sie damals gegeben, aus der Bibliothek von Alexandria gerettet, über den Verlust der gesamten Bibliothek hätte hinwegtrösten können: Faisons donc pour les siecles à venir ce que nous regrettons que les siecles passés n’ayent pas fait pour le nôtre. Nous osons dire que si les Anciens eussent exécuté une Encyclopédie, comme ils ont exécuté tant de grandes choses, & que ce manuscrit se fût échappé seul de la fameuse bibliotheque d’Alexandrie, il eût été capable de nous consoler de la perte des autres.60

Zusammenfassend ist festzuhalten, dass Wissenskonstruktion gleichzeitig drei wissenspoetologische Ebenen integriert: Komposition als systematische Anordnung, Kompilation als archivierende Sammlung61 und Kreation als Wissenspoiesis.62 In diesen Bedeutungsebenen schwingt aber nicht nur die bis hierher entwickelte aufklärungsphilosophische Konzeption von Wissenskonstruktion auf der Ebene der rationalen Reflexion und der utilitaristischen Funktionalität des Wissens mit. Sie beinhalten auch Fragen nach dem mimetischen Potenzial enzyklopädischen Schreibens und nach den Ein- und Ausschlussverfahren für die Artikulation von Wissen. Und so ist es auch nicht verwunderlich, dass in der Encyclopédie-Forschung die theoretischen Ansätze von Foucault fruchtbar gemacht wurden, insbesondere auf den in der Encyclopédie angelegten Wissensbegriff und die herausragen-

60 Denis Diderot: Prospectus, in: Ders./Jean Le Rond d’Alembert (Hg.): Encyclopédie ou Dictionnaire raisonné des sciences, des arts et des métiers, Paris: 1750. Marsanne: Redon 2000 (CDROM), o. S. Obwohl d’Alembert den Prospectus weitestgehend in seine Überlegungen im Discours préliminaire übernommen und gelegentlich modifiziert hat, werden einige Zitate direkt dem Prospectus von Diderot von 1750 entnommen. 61 Schenk diskutiert das Archiv vornehmlich in diesem Sinne, insbesondere als Gedächtnis und als Datenträger, vgl. Dietmar Schenk: Kleine Theorie des Archivs, Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2008. 62 Schneider resümiert die Tätigkeit des enzyklopädischen Schreibens als eine, die die editions- wie produktionstechnischen Seiten berücksichtigt als «Resultat von Techniken der Gelehrsamkeit (Kompilieren und Exzerpieren) wie der Buchdruckkunst (Typographie und Seitenlayout)» (Ulrich Johannes Schneider: Die Erfindung des allgemeinen Wissens, S. 16).

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de Rolle des denkenden Subjekts appliziert.63 Albert etwa deklariert die Encyclopédie «als Produkt einer Schwellensituation» und liest im Anschluss an Foucault darin die Krise der Repräsentation ab.64 Und auch Balke erkennt im Projekt der Encyclopédie jenen epochalen Umschwung und den Anthropozentrismus wieder, den auch Foucault in Les Mots et les Choses beschreibt: Die Diderotsche Enzyklopädie steht zweifellos an der Schwelle der neuen anthropologisch zentrierten wissenschaftlichen Konfiguration, deren Entstehung in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts Foucault rekonstruiert hat. Unübersehbar ist sie noch getragen vom Vertrauen in die Bezeichnungs- und Unterscheidungskraft der Sprache.65

Balke zufolge ist in der Encyclopédie bereits in Ansätzen jener Epistemwechsel auszumachen, der Ende des 18. Jahrhunderts mit der ‹Repräsentationskrise› einherging. Damit verliert die Sprache die Potenz, transparent in der Durchsicht auf die Dinge zu sein. Sie ist, wie Schneider treffend für seine Studie über die Archiv-Poetik Goethes formuliert, in ihrer Materialität nicht eigenständig.66 Es kommt ein zweites Umbruchsmoment hinzu, das insbesondere für die vorliegende Arbeit von zentraler Bedeutung ist: die beginnende Autonomisierung der Kunst und damit auch der Literatur. Die Encyclopédie stelle nach Matuschek gar den Beginn der systematischen und damit kategorischen Differenzziehungen zwischen Wissenschaft und Literatur dar: Innerhalb der Aufklärung jedoch, nicht erst jenseits von ihr, beginnt der Prozess, der am Ende zum Konzept der Literatur im engsten Sinne als autonomer Kunst führt. Man kann ihn im Disours préliminaire (1751) der Encyclopédie beginnen sehen, wo Jean Le Rond

63 Foucault selbst illustriert seine Überlegungen ja mit der Parodie einer Enzyklopädie: der von Borges erdachten literarisch-satirischen Darstellung einer chinesischen Enzyklopädie (vgl. Michel Foucault: Les mots et les choses. Une archéologie des sciences humaines, Paris: Gallimard [1966] 2010, S. 7 f.). 64 Vgl. Claudia Albert: Imitation de la nature? Probleme der Darstellung in der ‹Encyclopédie›, in: Franz M. Eybl (Hg.): Enzyklopädien der frühen Neuzeit. Beiträge zu ihrer Erforschung, Tübingen: Niemeyer 1995, S. 200–214, hier S. 210. 65 Friedrich Balke: Die Enzyklopädie als Archiv des Wissens, in: Hedwig Pompe/Leander Scholz (Hg.): Archivprozesse. Die Kommunikation der Aufbewahrung, Köln: DuMont 2002, S. 155– 172, hier S. 156. Des Weiteren betont Balke: «Wer jedoch Diderots langen Artikel sorgfältig und bis zu Ende liest, findet die Bestätigung für Foucaults These, dass die Enzyklopädie ihrerseits an dem Prozess der Wissenserschließung und Wissensvermehrung aktiv beteiligt ist – und zwar insofern es ihr gerade um jenes Wissen geht, für das es noch keine Bibliotheken gibt, das vielmehr in Form des Know-hows der Handwerker und praktischen ›Künstler‹ gespeichert ist und daher allererst die wissenschaftliche Aufmerksamkeitsschwelle zu überschreiten hat» (Friedrich Balke: Die Enzyklopädie als Archiv des Wissens, S. 166). 66 Vgl. Steffen Schneider: Archivpoetik. Die Funktion des Wissens in Goethes ‹Faust II›, Tübingen: Niemeyer 2005, S. 6.

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d’Alembert [...] die Gesamtheit der Literatur in drei Abteilungen sortiert: in die der Geschichte, der Philosophie und der Schönen Kunst. Begründet wird diese Einteilung durch die jeweils zugeordneten menschlichen Vermögen: die Erinnerung («mémoire»), die Vernunft («raison») und die Einbildungskraft («imagination»). Personell sind sie in den Gelehrten («Erudits»), den Philosophen («Philosophes») und den Schöngeistern («BeauxEsprits») verkörpert, die insgesamt, wie d’Alembert sagt, die drei Abteilungen der Welt der Literatur («les trois divisions du monde littéraire») ausmachen.67

Eine dezidierte Gegenposition dazu nimmt Gipper ein.68 Sein Argument ist, dass sich die bei Foucault beschriebenen Merkmale der neuen Episteme, die unter Verweis auf Buffon im Auseinandertreten etwa von Beschreiben und Kommentieren besteht, in dieser Form gerade nicht in der Encyclopédie wiederfinden lassen. Die Encyclopédie knüpfe vielmehr an vormoderne Sammlungsprojekte an, da sie ein modernes, wissenschaftliches Projekt darstelle, das im Foucault’schen Sinne die Dinge von den Worten trenne.69 Gipper betrachtet die Encyclopédie grosso modo als Sammlung der Heterogenität mittels einer Ästhetik der Irregularität.70 Diderot entwickele ihm zufolge «eine Art Ästhetik der Monstruosität, die gerade aus der ‹irrégularité› ihren wesentlichen Reiz bezieht».71 Diese Heterogenität 72 resultiert dabei einerseits aus der Vielfalt der Enzyklopädisten und der Expertisen, sie folgt aber auch aus der Vielfalt der Themen auf der Welt. Und daher ist es für Gipper nicht verwunderlich, dass die Encyclopédie analog zu vormodernen Formen des Sammelns funktioniert. Er sieht eine deutliche Analogie zu Wunderkammern,73 zu Raritäten- und Kuriositätenkabinetten74 67 Stefan Matuschek: Literatur, in: Heinz Thoma (Hg.): Handbuch Europäische Aufklärung. Begriffe, Konzepte, Wirkung, Stuttgart: Metzler 2015, S. 335–343, hier S. 339 f. 68 Vgl. Andreas Gipper: Wunderbare Wissenschaft, bes. S. 334 f. 69 Vgl. ebd., S. 334. 70 Gipper weist auf die Diderot’schen Konzepte der literarischen Ästhetik hin, die von Prinzipien des détour und des écart geprägt seien (vgl. ebd., S. 327). 71 Ebd., S. 320. 72 Im Encyclopédie-Projekt selbst ist die hochgradige stilistische, sprachliche Vielfalt der Artikel durchaus intendiert und mit dem Wunsch verbunden, «zu einer höheren sprachlichen wie inhaltlichen Einheit» zu gelangen (Köhler in Jean Le Rond d’Alembert: Discours Préliminaire de l’Encyclopédie, S. XV). Signifikant ist dabei, dass in der Encyclopédie als Projekt einer ganzen Gemeinschaft von gens de lettres und anderen Experten kein individuelles Wissen repräsentiert wird, so dass es sich durch die heterogene Autorschaft eher um die Konstruktion kulturellen Wissens handelt, das, mit Titzmann gesprochen, nicht auf ein Subjekt rückgeführt werden kann, vgl. Michael Titzmann: Kulturelles Wissen – Diskurs – Denksystem. Zu einigen Grundbegriffen der Literaturgeschichtsschreibung, in: Zeitschrift für Französische Sprache und Literatur 1, 1989, S. 47–61, hier S. 47). 73 Vgl. Andreas Gipper: Wunderbare Wissenschaft, S. 321. 74 Vgl. ebd., S. 331. Dies ist in der Encyclopédie-Forschung keineswegs common sense und nicht unwidersprochen geblieben (vgl. dazu exemplarisch Ulrich Johannes Schneider: Die Erfindung des allgemeinen Wissens, Berlin: Akademie Verlag 2013).

1.1 Theoretischer Rahmen: Wissen – Alterität – Narration

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und resümiert, dass «die Encyclopédie aus heutiger Sicht einer Art Zwitterwesen gleicht, welches irgendwo zwischen Kuriositätenkabinett und Weltausstellung einzuordnen ist».75 Diese Irregularität manifestiert sich nach Gipper im Monströsen in der Encyclopédie, das er programmatisch angelegt und ästhetisch umgesetzt sieht. Das Monster sei ihm zufolge integraler Bestandteil der histoire naturelle (vgl. Wissenssystematik von Diderot und d’Alembert unter écart de la nature), einerseits in der merveille-Tradition verhaftet und andererseits sehr modern-naturwissenschaftlich-evolutionistisch ausgerichtet.76 Schon im Prospectus formuliert Diderot diese monströse Seite der Naturgeschichte: «Il est inutile de s’étendre sur les avantages de l’Histoire de la Nature uniforme. Mais si l’on nous demande à quoi peut servir l’Histoire de la Nature monstrueuse, nous répondrons, à passer des prodiges de ses écarts aux merveilles de l’Art.»77 Und im Artikel Encyclopédie expliziert er die Arbeit der Enzyklopädisten mit den vielen monströsen Merkwürdigkeiten der Natur: nous sommes alternativement nains & géants, colosses & pigmées ; droits, bien faits & proportionnés ; bossus, boiteux & contrefaits. Ajoûtez à toutes ces bisarreries celle d’un discours tantôt abstrait, obscur ou recherché, plus souvent négligé, traînant & lâche ; & vous comparerez l’ouvrage entier au monstre de l’art poétique, ou même à quelque chose de plus hideux.78

Festzuhalten bleibt an dieser Stelle zunächst die poetologische Ausrichtung der Encyclopédie, die Aspekte der Heterogenität und der Devianz – seien sie nun monströs oder nicht – sowie die selbstreflexive Verankerung innerhalb des Encyclopédie-Projekts. Ob diesseits oder jenseits der Foucault’schen Epistemschwelle, ob noch in alten Traditionen verhaftet oder schon im Aufbruch in moderne Formen begriffen: Der Encyclopédie kommt in jedem Fall eine Schlüsselrolle innerhalb der französischen Aufklärung zu, weil sich in ihr Wissenskonzepte, Fortschrittsgedanken und (Selbst-)Kritik verdichten. Mit Thoma ist sie vielleicht am besten als Zäsur zu beschreiben, die sich für unterschiedliche Argumentationsfiguren eignet: Relative Einigkeit besteht darin, eine Zäsur mit der Encyclopédie (1751 ff.) anzusetzen [...], mit der die bis dahin in der Form der Gelehrsamkeit bzw. der galanten Belehrung auftretende Aufklärung [...] durch eine breitere und politisiertere Form der Öffentlichkeit abge-

75 76 77 78

Ebd. Vgl. ebd., S. 321. Denis Diderot: Prospectus, o. S. Denis Diderot: Encyclopédie, hier S. 641.

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1 Einleitung. Der koloniale Andere in der Encyclopédie

löst werde. «Les Lumières naissantes» und «Les lumières militantes» ist eine hierfür signifikante Weise der Periodisierung [...].79

Wissen ist Textkonstruktion. Poetologische Grundannahmen Das Konzept von Wissen wird in der Encyclopédie nicht nur in Bezug auf seine Inhalte und Funktionen entwickelt, sondern auch auf die Konstruktionsweisen und auf die textuelle Faktur des Wissens der Encyclopédie.80 In einer diskursanalytischen Perspektive auf die Encyclopédie als Archiv und mit Blick auf ihre autopoietischen Artikel und Passagen tritt sie nicht mehr nur als speicherndes, sondern als generierendes Archiv deutlich hervor. Dieses lässt sich auch mit Foucault akzentuieren, wie Ebeling und Günzel dies für das Konzept des Archivs konstatieren, das sich auch auf die Encyclopédie übertragen lässt: «Mit der Wende von der Aufbewahrung zur Produktion des Wissens nahm Foucault dem Archiv die dokumentarische Passivität und konservierende Unschuld».81 Diese Wende der Wissenskonstruktion, wie normativ auch immer man sie konnotieren will, ebnet den Weg für eine Betrachtung der Encyclopédie jenseits der ein- oder ausgeschlossenen Inhalte. Grundlegend ist also die Annahme, dass Wissen nicht schlicht mimetisch abgebildet wird, sondern dass es konstruiert, narrativ inszeniert und damit auch poetisch bearbeitet wird. Damit stehen Wissen und Literatur in keiner nachgängigen Abhängigkeit.82 Soll diese nachgängige Abhängigkeit zugunsten einer enzyklopädischen Konstruktion aufgegeben werden, so mag das vielleicht überraschen, handelt es sich doch bei der Encyclopédie explizit um eine ausdrücklich sachorientierte, modern gesprochen: faktuale Darstellung des Wissens der Zeit. Gleichwohl ist die Betrachtung der Encyclopédie-Artikel als poetische Inszenierungen aus mehreren Gründen angezeigt, die literaturhistorischer, diskurstheoretischer und

79 Heinz Thoma: Französische Aufklärung, S. 96. 80 Die diametrale Perspektive nehmen jene Arbeiten ein, die den Eingang wissenschaftlicher Erkenntnisse in fiktionale Texte untersuchen, also Wissen in der Literatur und nicht, wie in der vorliegenden Arbeit, literarisiertes Wissen (vgl. dazu etwa Thomas Klinkert: Epistemologische Fiktionen und Steffen Schneider: Archivpoetik). 81 Knut Ebeling/Stephan Günzel (Hg.): Einleitung, S. 7–26, hier S. 18. Horstmann/Kopp unterscheiden zwischen «Archiv als Herrschaftspraxis» (Anja Horstmann/Vanina Kopp: Einleitung, S. 9–22, hier S. 14 ff.), «Archive[n] als Orte[n] der Wissenskonstruktion» (ebd., S. 16 ff.) und «Archive[n] als Orte[n] der (Re-)Präsentation und Wandlung» (ebd., S. 18 ff.). 82 Vgl. Klaus W. Hempfer: Zum Verhältnis von ‹Literatur› und ‹Aufklärung›, in: Roland Galle/ Helmut Pfeiffer, (Hg.): Aufklärung, München: Fink 2007, S. 15–54, hier S. 20.

1.1 Theoretischer Rahmen: Wissen – Alterität – Narration

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epistemologischer Natur sind. Im 18. Jahrhundert sind Texte im Sinne von Fiktion und Sachtext noch nicht im modernen Sinne (generisch) ausdifferenziert.83 Die Perspektive auf die poetologische Faktur der Wissenskonstruktionen innerhalb der Encyclopédie knüpft dabei an jene Forschungsarbeiten an, die sich mit den poetogenen Strukturen von Wissen oder aber den epistemischen und epistemologischen Dimensionen der Literatur beschäftigen. Ausgangspunkt der vorliegenden Arbeit ist die Transformation der poetogenetischen Frage «Was weiß die Literatur?»84 in die Frage «Wie literarisch ist das Wissen (vom kolonialen Anderen)?». Der spezifische Zusammenhang von Wissen und Literatur ist besonders in jüngster Zeit in zahlreichen Publikationen literaturtheoretischer85 geschichtswissenschaftlicher86 wie kulturwissenschaftlicher Provenienz87 diskutiert worden. In der Aufklärungsforschung ist etwa Klinkert zu nennen, der die wissenschaftlichen Einflüsse auf die literarischen Werke exemplarischer Aufklärer nachzeichnet 88 oder die Forschungen von Behrens, Thoma oder Lafon zur erkenntnistheoretischen Anlage des literarischen Schreibens von Diderot.89 Im 83 Vgl. Thomas Klinkert: Epistemologische Fiktionen, S. 49, Hans-Edwin Friedrich: Fiktionalität im 18. Jahrhundert: Zur historischen Transformation eines literaturtheoretischen Konzepts, in: Simone Winko/Fotis Jannidis/Gerhard Lauer (Hg.): Grenzen der Literatur. Zu Begriff und Phänomen des Literarischen, Berlin/New York: De Gruyter 2009, S. 338–373 sowie Klaus W. Hempfer: Zum Verhältnis von ‹Literatur› und ‹Aufklärung›, S. 15–54. 84 Vgl. Tilmann Köppe: Literatur und Erkenntnis. Studien zur kognitiven Signifikanz fiktionaler literarischer Werke, Paderborn: mentis 2008; Thomas Klinkert: Literatur und Wissen: Überlegungen zur theoretischen Begründbarkeit ihres Zusammenhangs, in: Tilmann Köppe (Hg.): Literatur und Wissen. Theoretisch-methodische Zugänge, Berlin/New York: De Gruyter 2011, S. 116–139, hier S. 122. 85 Vgl. Tilmann Köppe: Literatur und Wissen: Zur Strukturierung des Forschungsfeldes und seiner Kontroversen, in: Ders. (Hg.): Literatur und Wissen. Theoretisch-methodische Zugänge, Berlin/New York: De Gruyter 2011, S. 1–28, hier S. 6; Simone Winko/Fotis Jannidis/Gerhard Lauer (Hg.): Grenzen der Literatur. Zu Begriff und Phänomen des Literarischen, Berlin/New York: De Gruyter 2009; Olav Krämer: Intention, Korrelation, Zirkulation: Zu verschiedenen Konzeptionen der Beziehung zwischen Literatur, Wissenschaft und Wissen, in: Tilmann Köppe (Hg.): Literatur und Wissen. Theoretisch-methodische Zugänge, Berlin/New York: De Gruyter 2011, S. 77–115. 86 Vgl. grundlegend zur Interdependez von Historiographie und Poetologie Hayden White: Auch Klio dichtet oder Die Fiktion des Faktischen. Studien zur Tropologie des historischen Diskurses, Stuttgart: Klett-Cotta 1986; weiterhin Olaf Breidbach/Hartmut Rosa (Hg.): Laboratorium Aufklärung, Paderborn: Fink 2010. 87 Vgl. Clifford Geertz: Dichte Beschreibung. Beiträge zum Verstehen kultureller Systeme, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1983. 88 Vgl. Thomas Klinkert: Epistemologische Fiktionen, S. 52 f. sowie zur Verbindung von Rousseaus Anthropologie und Fiktion vgl. ebd., S. 59–76). 89 Vgl. Rudolf Behrens: Naturwissen und sprachliche Artikulation. Diderots Rêve de d’Alembert als Experimentierraum für eine Theorie transpersonaler Imagination, in: Roland Galle/

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Unterschied zu diesen Arbeiten, die den Einfluss des erkenntnistheoretischen Diskurses auf literarische Texte ins Zentrum stellen, soll in der vorliegenden Arbeit die poetische Inszenierung von Wissen90 im Zentrum stehen. Es geht hier nicht um «epistemologische Fiktionen»,91 sondern um Fiktionalisierung von Wissen. Mit Klausnitzer werden die «inszenatorischen Dimensionen und performativen Praktiken»92 fokussiert oder noch pointierter mit Fulda: «Poetisches in Wissensdiskursen».93 Eine Poetologie des Wissens hat dabei sowohl die Dis-

Helmut Pfeiffer (Hg.): Die Epoche der Aufklärung, München: Fink 2007, S. 405–440; Heinz Thoma: Anthropologische Konstruktion, Wissenschaft, Ethik und Fiktion bei Diderot, in: Jörn Garber/Ders. (Hg.): Zwischen Empirisierung und Konstruktionsleistung: Anthropologie im 18. Jahrhundert, Tübingen: Niemeyer 2004, S. 145–176; Andrea Eckert: Die Imagination der Sensualisten: Aufklärung im Spannungsfeld von Literatur und Philosophie, 2005, http://hss.ulb.unibonn.de/2005/0635/0635.pdf (24. 09. 2019); Yann Lafon: Fiktion als Erkenntnistheorie bei Diderot, Stuttgart: Steiner 2011. 90 Dies greift Vogls Bestimmung einer Wissensgeschichte als Geschichte der Inszenierung von Wissen wieder auf: «Eine Geschichte des Wissens […] umschließt vielmehr eine poetologische Dimension, sie ermöglicht eine Poetologie des Wissens, die das Auftauchen neuer Wissensobjekte und Erkenntnisbereiche zugleich als Form ihrer Inszenierung begreift. Sie folgt der These, daß jede Wissensordnung bestimmte Repräsentationsweisen ausbildet und privilegiert, und sie interessiert sich demnach für die Regeln und Verfahren, nach denen sich ein Äußerungszusammenhang ausbildet und abschließt und die Darstellungen diktiert, in denen er seine performative Kraft sichern», Joseph Vogl: Einleitung, in: Ders. (Hg.): Poetologien des Wissens um 1800, München: Fink 1999, S. 7–16, hier S. 13. 91 Vgl. Thomas Klinkert: Epistemologische Fiktionen; Lutz Danneberg/Jürg Niederhauser (Hg.): Darstellungsformen der Wissenschaften im Kontrast. Aspekte der Methodik, Theorie und Empirie, Tübingen: Narr 1998, weiterhin Monika Fludernik (Hg.): Der Alteritätsdiskurs des Edlen Wilden. Exotismus, Anthropologie und Zivilisationskritik am Beispiel eines europäischen Topos, Würzburg: Ergon-Verlag 2002, Siegfried Jüttner: Schreiben als Aufklären, Literatur als Wahrheitssuche: Die Option der Enzyklopädisten in Frankreich (1750–1780), in: Wolfgang Klein/Waltraud Naumann-Beyer (Hg.): Nach der Aufklärung? Beiträge zum Diskurs der Kulturwissenschaften, Berlin: Akademie Verlag 1995, S. 13–36; Schmitz-Emans zu enzyklopädischen Schreibexperimenten und Lexikofiktion in literarisch-fiktionalen Texten, vgl. Monika SchmitzEmans: Enzyklopädien des Imaginären, 2010 und Monika Schmitz-Emans/Christoph Benjamin Schulz/Kai Lars Fischer (Hg.): Enzyklopädien des Imaginären. Jorge Luis Borges im literarischen und künstlerischen Kontext, Hildesheim: Olms 2011. 92 Ralf Klausnitzer: Literatur und Wissen. Zugänge, Modelle, Analysen, Berlin/New York: De Gruyter 2008, S. 154. 93 Daniel Fulda: Poetologien des Wissens: Probleme und Chancen am Beispiel des historischen Wissens und seiner Formen, 2008, http://www.simonewinko.de/fulda_text.htm (24. 09. 2019); zum Konzept der Poetik des Wissens vgl. Jacques Rancière: Die Namen der Geschichte, S. 17. Zur Entwicklung des Verhältnisses von Poesie und Wissen bzw. deren historischer Trennung zugunsten eines ästhetischen Bewusstseins und einer philologischen Erkenntnis vgl. Heinz Schlaffer: Poesie und Wissen. Die Entstehung des ästhetischen Bewusstseins und der philologischen Erkenntnis, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2005.

1.1 Theoretischer Rahmen: Wissen – Alterität – Narration

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kursbedingungen als auch die textuellen Verfahren im Blick. Als wissenspoetologischen Gegenstand benennt Schäfer «die Produktionsbedingungen von Wissen und Strategien, mit denen Wissen in einen literarischen Text inkorporiert wird.»94 Der zentrale Ansatz für eine Poetologie des Wissens aber stammt von Vogl. In Anlehnung an seine Arbeiten werden die Encyclopédie-Artikel als Experimentierräume für die Wissensbestände der Zeit betrachtet und damit als Reflexionsräume für Wissensdiskurse95 und zugleich deren «poetologische Dimension».96 Diese Reflexionsräume sind dabei ebenso kreativ wie rational. Das kreative bzw. konstruktive Moment, das ja im Übrigen auch schon bei Diderot und d’Alembert angeklungen ist, betont auch Moser in ihren wissenspoetologischen Überlegungen: «Die Entstehung von Wissen», so resümiert Moser, sei generell mit einer geradezu «‹künstlerischen Kreation› von Zeichen, Symbolen und Erzählungen verbunden».97 Zur poetologischen Fokussierung des Wissensbegriffs koppelt Vogl den Wissensbegriff 98 von dem der Wahrheit ab, um ihn an Sagbarkeitsbedingungen zu knüpfen: Wie eine Poetologie des Wissens nicht mit der Wahrheitsfähigkeit der Aussagen, sondern mit den Bedingungen beginnt, unter denen sich Aussagen formieren, so läßt sich das Verhältnis von Text und Wissen nicht auf eine Serie von Prädikationen und Referenzakten oder auf eine perspektivische Vergegenwärtigung von Erfahrung reduzieren. Wirklichkeit tritt weder in Form von Aussagesätzen noch als Horizont möglicher Erfahrung oder Kontext ins Innere der Texte ein. Literarischer Text und Wissensordnung stehen in keiner vorhersagbaren und entschiedenen Relation zueinander. […] Literatur ist selbst eine spezifische Wissensformation […]; Literatur ist Gegenstand des Wissens […]; Literatur ist ein

94 Armin Schäfer: Biopolitik des Wissens. Hans Henny Jahnns literarisches Archiv des Menschen, Würzburg: Königshausen & Neumann 1996, S. 10; vgl. weiterhin Paul Michel: Ordnungen des Wissens: Darbietungsweisen des Materials in Enzyklopädien, in: Ingrid Tomkowiak (Hg.): Populäre Enzyklopädien. Von der Auswahl, Ordnung und Vermittlung des Wissens, Zürich: Chronos 2002, S. 35–83. 95 Vgl. Joseph Vogl: Einleitung, S. 11 und 14 f. 96 Ebd., S. 13. 97 Jeannie Moser: Poetologien/Rhetoriken des Wissens: Einleitung, in: Arne Hoecker/Dies./ Philippe Weber (Hg.): Wissen. Erzählen. Narrative der Humanwissenschaften, Bielefeld: transcript 2006, S. 11–16, hier S. 12. 98 Diesen Wissensbegriff bestimmt Vogl (aufgrund seiner averitablen und arealistischen Anlage) als ein schwaches, plurales und historisch kontextualisiertes Konzept: «Das Verfahren einer Poetologie des Wissens operiert mit einem offenen, pluralen und schwach determinierten Wissensbegriff, verfolgt die spezifische Korrespondenz zwischen Darstellungsweisen und Wissensobjekten und beschreibt damit die historische Singularität von Wissensordnungen», Joseph Vogl: Poetologie des Wissens, S. 68.

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Funktionselement des Wissens […]; und Literatur wird schließlich durch eine Ordnung des Wissens selbst produziert [...].99

Nun formuliert Vogl hier die epistemische Fundierung literarischer Texte. Für die Analysen der Encyclopédie ist der immanente Bezug zwischen Wissen und literarischen Textformen zwar relevant, der Fokus wird aber, wie bereits ausgeführt, auf die Literarisierung des Wissens verschoben. Es geht um «Fiktionen des Faktischen».100 Kilcher spricht gar von einer «artistischen[n] Enzyklopädie».101 In dieser Hinsicht kann auf die Annahmen Rancières rekurriert werden, der eine «Poetik des Wissens» entwirft. Ihn interessieren alle literarischen Verfahren, «durch die eine Rede sich der Literatur entzieht, sich den Status einer Wissenschaft gibt und ihn bezeichnet. Die Poetik des Wissens interessiert sich für die Regeln, nach denen ein Wissen geschrieben und gelesen wird, sich als eine spezifische Rede konstituiert.» Im Gegensatz zu Vogl aber knüpft Rancière an einen Wahrheitsbegriff an, denn für ihn versucht jene spezifische Rede den Wahrheitsmodus zu definieren, dem sie sich verschreibt, nicht jedoch, ihm Normen zu setzen, seinen wissenschaftlichen Anspruch für gültig oder für ungültig zu erklären. Zweifellos betrifft sie ganz besonders die sogenannten Human- und Sozialwissenschaften, die sich seit zwei Jahrhunderten mit unterschiedlichem Erfolg bemühen, ihren Platz im Ensemble der wahren Wissenschaften zu erobern, den ständigen Verdacht zu entkräften, noch immer zu den Werken der Literatur oder der Politik, ja zu beiden zugleich zu gehören. Aber sie beabsichtigt nicht, diesen Verdacht zu bestätigen, der Historie oder der Soziologie ihre wissenschaftlichen Ambitionen auszutreiben und sie an ihre literarischen Verfahren und ihre politischen Voraussetzungen zu erinnern. Sie nimmt vielmehr den konstitutiven Charakter dieses dreifachen Ansatzes zur Kenntnis.102

Diese wissenspoetologischen Ansätze, insbesondere jene von Vogl, sind nicht unumstritten und unkommentiert geblieben. Exemplarisch sei hier auf die kriti99 Joseph Vogl: Einleitung, S. 7–16, hier S. 14. Ähnlich argumentiert auch Ozdoba: «In der ‹Poetik› der Encyclopédie», so konstatiert Ozdoba,, «spielt […] die imagination eine ganz zentrale Rolle.» (Joachim Ozdoba: Heuristik der Fiktion. Künstlerische und philosophische Interpretation der Wirklichkeit in Diderots contes (1748–1772), Frankfurt a. M. u. a.: Peter Lang 1980, S. 64) Und mehr noch: Ozdoba zufolge ist die Fiktion «für Diderot ein legitimes, ja unentbehrliches Mittel der Wahrheitsfindung.» (ebd.). 100 Vgl. den gleichnamigen Sammelband von Ulrike Schneider/Anita Traninger (Hg.): Fiktionen des Faktischen in der Renaissance, Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2010. Schon in der antiken Rhetorik gab es ein Modell mit drei Konstituenten, die das Verhältnis von Wahrheit und Erzählung systematisch repräsentieren: «historia» als der historischen Faktenlage Rechnung tragende Rede, «fabula» als fiktive Erzählung und «argumentum» als nicht wahre, aber wahrscheinliche Geschichte (vgl. bspw. Ulrike Schneider/Anita Traninger (Hg.): Fiktionen des Faktischen in der Renaissance, S. 10). 101 Andreas B. Kilcher: mathesis und poiesis, S. 14. 102 Jacques Rancière: Die Namen der Geschichte, S. 17.

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sche Auseinandersetzung Fuldas mit den wissenspoetologischen Positionen Whites und Vogls verwiesen, die wiederum auf Überlegungen von Stiening rekurrieren. Fulda kritisiert an Whites geschichtspoetologischen Ansätzen zunächst insbesondere die Verwechslung von poietischen und poetischen Strukturen, die irregehende Generalisierung, dass Tropen Anzeichen von poetischer Sprache seien und die problematische Ableitung einer Literarizität allein aus der Narrativität eines historiographischen Textes. Kurz: «Die Erzählform begründet keine Literarizität!»103 An Vogl wiederum kritisiert Fulda die undifferenzierte Analogisierung poetischer Verfahren in den unterschiedlichsten Diskursen, die Vogl ja mit Foucault annimmt. Hier etwa setzt auch die Kritik von Stiening ein, für den die wissenspoetologische Perspektive immanent an der Frage nach der Wissensdefinition hängt und als zentrales Problem zu einer «Nivellierung des Unterschieds zwischen Wissenschaft und Dichtung» führt.104 Sehr wohl aber sei nach Fulda von einer Poetologie des Wissens die Rede, wenn diese die Übertragung literarischer Verfahren in nicht-literarische Textgattungen herausarbeiten könne.105 Und die Virulenz und Brisanz dieser poetischen Verfahren in Wissenstexten besteht insbesondere im (späten oder ausgehenden) 18. Jahrhundert, in dem aisthesis und poiesis neu zueinander in Beziehung gesetzt werden und sich daran106 Grundfragen der Moderne diskutieren lassen. Literarische Verfahren oder der poetische Akt, wie Vogl ihn nennt, finden sich in der Encyclopédie auf inhaltlicher wie formaler Ebene auch in den Artikeln über die fremde, koloniale Welt wieder. Hier rücken die Artikel immer wieder vom Sachverhalt selbst ab, um Reflexionen zu ihrem Wissensstatus, zum Wahrheitsgehalt und zu ihrer Erzählbarkeit anzustellen. Damit erscheinen die Einträge als wissenspoietische Gebilde nicht nur autoreflexiv sondern auch autoreferenziell. Die Encyclopédie sammelt, archiviert und konstruiert nicht nur, sie stellt gleichzeitig das Sammeln, Archivieren und Konstruieren aus. Gipper sieht etwa in Diderots Artikel zum Cabinet d’histoire naturelle das Modell für die Encyclopédie selbst beschrieben. In Diderots Imagination eines idealen «Tempels» der naturhistorischen Sammlung stehen in dessen großräumigem Zentrum die Monster der Erde und des Meeres (in der Folge entwickelt Diderot gar

103 Daniel Fulda: Poetologien des Wissens, www.simonewinko.de/fulda_text.htm, 2008 (24. 09. 2019). 104 Vgl. Gideon Stiening: Am ‹Ungrund› oder: Was sind und zu welchem Ende studiert man ‹Poetologien des Wissens›, in: KulturPoetik 2, 7 (2007), S. 234–248, hier S. 241. 105 Vgl. ebd. 106 Vgl. bspw. Petra Renneke: Poesie und Wissen. Poetologie des Wissens der Moderne, Heidelberg: Winter 2008.

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eine Vision eines Science-Museums, das touristisch enormen Erfolg hätte.107 In diesem Eintrag, und das ist für die vorliegende Studie von besonderem Interesse, stellt Diderot die ästhetische Präsentation über die wissenschaftliche Ordnung: «Worauf es vor allem ankommt», konstatiert Gipper, «ist nicht die wissenschaftliche Systematik, sondern das geschmackvolle Arrangement, das die Neugier befriedigt, den Liebhaber belehrt und auf diese Weise schließlich auch für den Wissenschaftler inspirierend sein kann».108 Von zentraler Bedeutung ist dabei, dass die Diversität, die Erweckung der curiosité und der Modus der Analogiebildung zur Überbrückung von Kontingenzen für Gipper dem Charakter der Encyclopédie als Sammlung nicht entgegenstehen, sondern diesen nachgerade unterstreichen.109 Schneider reiht die Encyclopédie sogar in die Geschichte der modernen Literatur ein: Die französische Encyclopédie gehört zur Geschichte der modernen Literatur, sie gehört zur Geschichte der französischen Aufklärung, ihrer Polemik und Kritik, sie gehört nicht zuletzt in die Geschichte der philosophischen Enzyklopädie, d. h. der planmäßigen Systematisierung von Wissenschaften – in all diesen Geschichten wir sie immer eine bedeutende Stellung einnehmen.110

Diese Priorisierung der Literatur als Traditionslinie, in die man die Encyclopédie stellen kann, ist insofern nicht überraschend, als sie – wie oben schon ausgeführt – als wissenspoetologisches Konstrukt literarisch-ästhetische Textverfahren ausbildet. Diderot schreibt diese Literarizität in sein Projekt ein, indem er einerseits die Adressierung der Leserschaft betont und zu einem wichtigen Prinzip für die Erstellung der Artikel erhebt; und indem er andererseits die EncyclopédieArtikel auch als literarisch-philosophische Essays anlegt.111 Schneider konstatiert, allerdings in der Einschränkung auf die Artikel der großen Autoren der Aufklärung wie Diderot selbst, aber auch Rousseau oder Voltaire: «Eine literarische Qualität hat die Encyclopédie tatsächlich wohl erreicht, wenigstens in einigen Artikeln ihrer berühmteren Autoren wie Rousseau, Voltaire, D’Alembert und Diderot selber».112

107 Denis Diderot: Cabinet d’Histoire Naturelle, in: Ders./Jean Le Rond d’Alembert (Hg.): Encyclopédie (ENCCRE). Bd. 2, S. 489–492, hier S. 490. 108 Andreas Gipper: Wunderbare Wissenschaft, S. 332. 109 Vgl. dazu ebd., S. 333. 110 Ulrich Johannes Schneider: Die Erfindung des allgemeinen Wissens, S. 56. 111 Jean Starobinski: Remarques sur l’Encyclopédie, in: Revue de Métaphysique et de Morale 75 (1970), S. 284–291. 112 Ulrich Johannes Schneider: Die Erfindung des allgemeinen Wissens, S. 70.

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Jenseits dieser autor-zentrierten Argumentation aber scheint mir die Literarizität bzw. das narrative Moment in der Encyclopédie dort angelegt, wo es als Wissensarchiv untersucht wird und zwar sowohl in seiner politisch-philosophischen Stellung innerhalb der französischen Aufklärung als auch in seiner generischen Organisation. In der Perspektive des Archivs, dem ganz grundsätzlich eine metareflexive Ebene eingeschrieben ist, rückt es nämlich ohnehin in die Nähe der Konzeption von Literatur. Diese These vertritt etwa Febel in ihren Überlegungen zum Foucault’schen Archivbegriff. Sie konstatiert, dass das Archiv genuin poetisch strukturiert sei und sieht es in Analogie zur Literatur mit einer Doppelfunktion ausgestattet: Das Archiv ist gleichzeitig Diskurs und Regularium des Diskurses; es stellt gleichzeitig Aussagen und das System der Aussagbarkeit zur Schau: Das Archiv ist selbst stets eine Fiktionalität und eine Realität […]. Die Sichtbarmachung der unsichtbaren Beziehungen ist eben jene Fiktion des Archivs, die so zu einer ästhetischen Konstruktion wird. […] Gerade diese Doppeltheit von Produktivität und Verfahren bestimmt aber eben auch die doppelte Funktion des Archivs in Bezug auf die in ihm wirkenden Diskurse. […] Das Archiv hat eine […] ähnliche Zwischenstellung zwischen der konkreten Menge der Fakten und Wörter und der abstrakten und unendlichen Struktur der Sprache wie die Literatur.113

Der zweite Grund für die autoreflexive Fundierung der Encyclopédie ist in der kulturphilosophischen Grundierung der französischen Aufklärung zu finden. Die wissenspoetische Seite wird in der Verquickung von literarisch-engagiertem und wissen(schafts)produzierendem Schreiben sichtbar, als ein Grundzug der République des Lettres und des philosophe als homme de lettres. Cassirer zeigt diese Nähe deutlich auf: «In allen führenden Geistern des Jahrhunderts tritt diese Personalunion zwischen Philosophie und literarisch-ästhetischer Kritik zutage».114 Dies fußt auf einem doppelbödigen Verhältnis von literarischer Kritik und Philosophie: Einerseits besitzen sie dieselbe logische Form, dasselbe grundlegende formale Prinzip; andererseits aber bezieht sich die Beziehung auch auf die Ebene des Inhalts. Denn selbst da, wo Irrationales seinen Raum nimmt, beschreibt das Denken des 18. Jahrhunderts zumindest diese Grenze

113 Gisela Febel: Foucaults Begriff des Archivs und das Modell des historischen Romans, in: Internationale Zeitschrift für Philosophie 1 (2000), S. 63–81, hier S. 80. Dass in Archiven nicht nur im modernen Sinne Fakten, sondern auch literarische Texte abgelegt werden, die für die Geschichtsschreibung einer Kultur relevant sein können, darauf weist etwa Chakrabarty deutlich hin (vgl. Dipesh Chakrabarty: Romantic Archives: Literature and Politics of Identity in Bengal, in: Critical Inquiry, 30, 2004, S. 654–683, bes. S. 671). 114 Ernst Cassirer: Die Philosophie der Aufklärung, S. 288.

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1 Einleitung. Der koloniale Andere in der Encyclopédie

trennscharf.115 «Es ist, als ob Logik und Ästhetik, als ob die reine Erkenntnis und die künstlerische Anschauung sich wechselseitig aneinander messen mußten».116 Nach Cassirer entsteht hier die «neue, selbständige Gestalt der philosophischen Ästhetik».117 Die These der vorliegenden Arbeit lautet nun, dass sich an den Wissenskonstruktionen des kolonialen Anderen nicht nur die poetische, poetologische, aufklärerische oder archivarische Dimension und deren Narrationen aufzeigen lassen, sondern dass die Narrationen auf spezifische Weise alteritätsindiziert und damit machtvoll strukturiert sind. An die konkreten Auswirkungen von Machtmechanismen im Archiv knüpft auch Ernst an, indem er narrative von registrierenden Modi unterscheidet und an machtvolles Sprechen koppelt. Ernst behauptet: «Macht ist dort, wo nicht erzählt wird. Der Rest ist Deutung, narratives Syntagma. Das Archiv erzählt nicht, es registriert».118 Dieser Konnex von Macht, Wissen und sprachlicher Konstruktion ist für die folgenden Textanalysen von zentralem Interesse. Wird im machtvollen Sprechen über den kolonialen Anderen explizit nicht erzählt, stattdessen deklariert, beschrieben, definiert, registriert? Und ist es ein Zeichen von Ohnmacht, wenn deutliche Narrationen zu erkennen sind? Wo genau verlaufen die Konturen von Macht, und ist diese eindeutig und univok? Lassen sich Verfahren des Registrierens von narrativen Verfahren so einfach unterscheiden – zumal im historischen Kontext des 18. Jahrhunderts? Im 18. Jahrhundert der République des Lettres sind Texte, wie bereits ausgeführt, noch nicht im modernen Sinne in faktuale und fiktionale Texte ausdifferenziert.119 Gleichwohl sind die produktions- wie rezeptionsästhetischen Ansprüche an die Ency-

115 Vgl. ebd., S. 289. 116 Ebd., S. 290, Hervorhebung im Original. 117 Ebd. Zur aufklärerischen Ästhetik ist bereits in den 1970er Jahren Chouillets Studie erschienen (vgl. Jacques Chouillet: L’esthétique des Lumières, Paris: PUF 1974). 118 Wolfgang Ernst: Das Archiv als Gedächtnisort, in: Knut Ebeling/Stephan Günzel (Hg.): Archivologie. Theorien des Archivs in Wissenschaft, Medien und Künsten, Berlin: Kadmos 2009, S. 177–200, hier S. 188; vgl. schon die früheren Überlegungen in Wolfgang Ernst: ‹Nothing but Text›: Wissensarchäologische Anmerkungen zum Verhältnis von Kultursemiotik, New Historicism und Archiv, in: Gerhard Neumann (Hg.): Poststrukturalismus. Herausforderung an die Literaturwissenschaft, Stuttgart: Metzler 1997, S. 290–306; Wolfgang Ernst: Das Rumoren der Archive. Ordnung aus Unordnung, Berlin: Merve Verlag 2002, S. 47. 119 Die Literatur der Aufklärung, in der zeitgenössischen und vorautonomen Terminologie als Belles Lettres, hat die Aufgabe, mittels entsprechendem Ornat, wie Thoma es nennt, Philosophie und Moral zu stützen, zu vermitteln und zu verbreiten. Hier zeigen sich einerseits noch tradierte Linien aus der Moralistik des 17. Jahrhunderts (Larochefoucauld), andererseits das Credo des «plaire et instruire» bzw. der raison und des plaire, was Thoma aus Boileaus Art poétique (1674) ableitet, vgl. Thoma: Französische Aufklärung, S. 98.

1.1 Theoretischer Rahmen: Wissen – Alterität – Narration

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clopédie-Artikel jene eines Wissenstextes mit einem Wissensbegriff, der sich sowohl aus der raison als auch der imagination generiert (vgl. Ausführungen oben). Die Kommunikationssituation ist eindeutig: Der Enzyklopädist wendet sich im Text einem Gegenstand seiner Expertise zu, die er der Leserschaft als wahr, viabel, faktenbasiert und real vermitteln möchte. Er muss eine enzyklopädische Sprache entwickeln, die einen Weg zwischen Fachsprache und ‹Allgemeinverständlichkeit› beschreiten kann.120 Die Leserschaft wiederum liest zur Informationsgewinnung den Encyclopédie-Artikel (mit Schneider sucht die Enzyklopädie-Leserschaft «kein Wissen zur professionellen Fortbildung, sondern Definitionen, Informationen, Hintergrundwissen im Allgemeinen.»121) und hat an ihn Wahrheitsansprüche. Eine zweite Kommunikationsebene, wie sie in fiktionalen Texten vorliegt,122 wird hier zunächst einmal nicht intendiert 123 oder erwartet. Tatsächlich aber warten die Artikel mit unterschiedlichsten Narrativen auf, die überzeugen, das Interesse des Lesepublikums wecken, ideologisch aufklären und vielleicht sogar unterhalten wollen. Der Encyclopédie ist als Aufklärungsprojekt eine gewisse Zielrichtung der Artikel eingeschrieben, man könnte auch sagen, sie weise eine spezifische aufklärerische Rhetorik oder Poetik auf, die einerseits mittels der Poesie «embellir» und andererseits Wissen produzieren soll.124 Die Encyclopédie-Forschung, auf die in Kapitel 1.3 noch ausführlicher Bezug genommen wird, hat sich mit diesem Wechselverhältnis von Philosophie und Ästhetik, von Wissen und Rhetorik intensiv auseinandergesetzt. Die Literarisierung des Wissens in der Encyclopédie haben einige Studien bereits untersucht und ein «‹enzyklopädistisches Erzählen›»125 oder eine «enzyklopädische Poetik»126 beschrieben. Das Forschungsfeld lässt sich dabei grosso modo in zwei konträre Positionen einteilen, die entweder von einem antirhetorischen Zug der

120 Vgl. dazu auch Ulrich Johannes Schneider: Die Erfindung des allgemeinen Wissens, S. 8. 121 Ebd., S. 8. 122 Matías Martínez/Michael Scheffel: Einführung in die Erzähltheorie, München: Beck 2003, S. 17. 123 Auch wenn durch die Umgehung der Zensur gerade in der Encyclopédie permanent eine zweite Ebene eingeschrieben ist. 124 Vgl. zur Rhetorik in der Aufklärung Manfred Beetz: Rhetorik, in: Heinz Thoma (Hg.): Handbuch Europäische Aufklärung. Begriffe, Konzepte, Wirkung, Stuttgart: Metzler 2015, S. 450– 464. 125 Joachim Ozdoba: Heuristik der Fiktion, S. 73. 126 Wernder Nell: Konstruktionsformen und Reflexionsstufen des Fremden im Diskurs der Spätaufklärung bei Diderot und Forster, in: Jörn Garber/Heinz Thoma (Hg.): Zwischen Empirisierung und Konstruktionsleistung: Anthropologie im 18. Jahrhundert, Tübingen: Niemeyer 2004, S. 177–192, hier S. 103.

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1 Einleitung. Der koloniale Andere in der Encyclopédie

Encyclopédie ausgehen oder aber ihren dezidiert literarischen bzw. poetischen Charakter unterstreichen. Während Semsch anhand der Funktion der Metaphorik einen «Abstand von der Rhetorik» ausmacht, da die französischen Enzyklopädisten sich um einen nachgerade antirhetorischen und damit unliterarischen Stil zum Zwecke der Objektivität und Neutralität gegenüber ihren zu präsentierenden Wissensinhalten bemühten,127 arbeiten etwa Schneider128 und Gipper129 die literarischen, d. h. narrativen, ironischen, generischen etc. Strategien heraus, mit der in den Einträgen nicht nur informiert, sondern geradezu überzeugt werden soll.130 Gipper weist auf die Vielfalt und Widersprüchlichkeiten innerhalb der Encyclopédie hin, deren Herausgeber und Autoren sich rhetorisch-poetischer Strategien bedienen. Er beharrt unter Berufung auf die hitzige zeitgenössische (wie oftmals auch heutige) Rezeption der Encyclopédie und auf das selbstbewusste Wissenssystematisierungsprogramm der Enzyklopädisten auf dem persuasiven Charakter der Artikel und damit auf einer spezifischen Rhetorik,131 deren Erforschung Gipper noch 2002 als Desiderat ausweist.132 Logik und ästhetische Vertextung stellen für ihn – auch in der der Vernunft und Wissenschaft verschriebenen Aufklärung, die bewusst gegen die Rhetoriken arbeiten will − keinen Widerspruch dar, sondern bedingen sich.133 Konkret macht Gipper die Poetik in der Encyclopédie fest auf der Ebene der Gattung134 und weist hier auf zwei formalästhetische Momente hin, die auch im vorliegenden Forschungsprojekt wesentliche Merkmale der Poetik des Alteritätswissens sind: die generische Kumulation und die Mischung. Denn nicht nur in biologischen Artikeln, wie Gipper überzeugend darlegt, stehen naturwissenschaftliche Beschreibung, mythische Narrative, juristische Anweisungen oder Elemente einer «histoire merveilleuse» nebeneinander.135 Gipper sieht «eine Vielzahl literarischer Kleinformen in den Diskurs

127 Vgl. Klaus Semsch: Abstand von der Rhetorik. Strukturen und Funktionen ästhetischer Distanznahme von der «ars rhetorica» bei den französischen Enzyklopädisten, Hamburg: Meiner 1999. 128 Vgl. Ulrich Johannes Schneider: Die Erfindung des allgemeinen Wissens. 129 Vgl. Andreas Gipper: Wunderbare Wissenschaft. 130 Zur Ironie als aufklärerischer Strategie vgl. bspw. Stephen Werner: The comic philosophes. Montesquieu, Voltaire, Diderot, Sade, Birmingham/Alabama: Summa Publications 2002. 131 Vgl. Andreas Gipper: Wunderbare Wissenschaft, S. 314. 132 Vgl. ebd., S. 314 f. 133 Vgl. ebd., S. 326. 134 Vgl. ebd., S. 329. 135 Vgl. Andreas Gipper: Logik der Sammlung und Ästhetik der Curiositas in Diderots Encyclopédie, in: Robert Felfe/Angelika Lozar (Hg.): Frühneuzeitliche Sammlungspraxis und Literatur, Berlin: Lukas 2006, S. 233–248, hier S. 237.

1.1 Theoretischer Rahmen: Wissen – Alterität – Narration

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integriert, die historisch aufs Engste mit der merveille-Tradition verbunden sind und oftmals bruchlos an diese anknüpfen: anecdote, exemple, fait divers, nouvelle, histoire merveilleuse etc.».136 An jene Fragen des ontologischen Status des Erzählten schließen auch die Überlegungen von Schneider an, inwiefern in den frühneuzeitlichen Wissenskompendien Wundertiere oder Monströses problemlos unter das Natürliche subsumiert werden können.137 Im Hinblick auf den Alteritätsfokus knüpft die vorliegende Arbeit an Studien zur Narrativierung von Alteritätswissen an, wie bspw. jene von Kiening, der die Darstellung der Begegnungen mit dem kolonialen Anderen als machtvollen Konstruktionsakt, im Sinne einer Imagination und nicht als belegbare Repräsentation der Neuen Welt versteht.138 Die Referenzialität der enzyklopädischen Konstruktionen des kolonialen Anderen liegt damit in ihrem Bezug auf den diskursiven Imaginationsraum kolonialer Alterität und nicht in ihrem Bezug auf eine außertextliche, faktische Wahrheit oder Realität. Die vorliegende Arbeit untersucht also, auf welche Weisen sich die Konstruktionen des kolonialen Anderen auf die zeitgenössischen Diskurse beziehen bzw. inwieweit sie für die Möglichkeiten und Unmöglichkeiten stehen, den kolonialen Anderen zu bestimmen, zu definieren und zu imaginieren. Und diese diskursiven Modi wiederum sind in einer diskursanalytischen und wissenspoetologischen Hinsicht unabhängig von ihrem Realitätsanspruch, sondern vielmehr Formationen eines apriorischen Rahmens der Möglichkeiten, über den kolonialen Anderen zu sprechen. Kurz gesagt: Gewusst wird, was sagbar ist, nicht, was wahr oder real ist. Eine spezifische Ausrichtung dieser wissenspoetologischen Überlegungen, die für die vorliegende Arbeit fruchtbar gemacht werden soll, schlägt Koschorke vor, der das Verhältnis von szientifischem Wissen und Erzählung konzeptuell zu fassen sucht. Gilt der Erzähltheorie ohnehin die Narration als der entscheidende Modus, der Informationen in Wissen transformiert («Erzählen lässt sich folglich als Prozess beschreiben, in dem Informationen so kombiniert werden, dass daraus ein Wissen entsteht»139 ), so besteht Koschorkes Ansatz darin, dass in epistemischen Narrativen Erzählungen und wissenschaftliches Wissen nicht mehr kontradiktorisch gedacht werden (müssen). Er konstatiert eine über das Postulat des homo narrans hinausgehende narrative Grundstruktur von Wissensordnungen: «Das Erzählen ist keine Zutat zur ‹reinen› Wissenschaft, eines

136 Andreas Gipper: Wunderbare Wissenschaft, S. 329. 137 Vgl. Ulrich Johannes Schneider: Die Erfindung des allgemeinen Wissens, S. 14. 138 Vgl. Christian Kiening: Das wilde Subjekt. Kleine Poetik der Neuen Welt, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2006, S. 28. 139 Silke Lahn/Jan Christoph Meister: Einführung in die Erzähltextanalyse, Stuttgart/Weimar: Metzler 2013, S. 157, Hervorhebung im Orginal.

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ihrer Verfahren der Datensynthese».140 Mithilfe dieser Akzentuierung der wissenspoetologischen Konstruktionen können die Alteritätsnarrationen in den Blick genommen werden, ohne sie zwischen literarische oder fiktionale und faktuale Strategien platzieren zu müssen. Diese Perspektive bietet sich insbesondere für die Encyclopédie an, da sie in der vorautonomen Phase literarisch-fiktionale und faktuale Strategien zwar beinhaltet, sie naturgemäß aber nicht als getrennte Sphären reflektiert.

Wissen ist koloniale Macht. Postkoloniale Grundannahmen Die Ein- und Ausschlussverfahren in der Encyclopédie sind aber nicht nur epistemologischer Natur, sondern auch diskursiv-kolonialistischer. Im Prozess kolonialer Machtausübung spielt Wissen nämlich eine zentrale Rolle. Wissen ist insofern koloniale Macht, in Abwandlung des Bacon’schen Diktums, als es ganz konkret bei der Eroberung/Niederwerfung von Ländern und Menschen genutzt, als es als Kontrollwissen über die Gegebenheiten in der Fremde eingesetzt, zur (ökonomischen) Aufrechterhaltung der Kolonie etabliert und in gigantischen Kolonialarchiven dokumentiert werden muss.141 Das Wissen, so führt Balke weiterhin aus, sei nicht mehr als Tableau verstreut, sondern wurzelt in den basalen Denkvermögen des Menschen: la mémoire, la raison und l’imagination.142 Damit sei der Enzyklopädist weniger der Sammler143 als vielmehr der Philosoph, der den Einträgen auch eine Verwurzelung in der menschlichen Natur zuweisen will: Er ist in einem doppelten Sinne radikal.144 Die imagination spielt aber auch in den Konstruktionen des kolonia-

140 Albrecht Koschorke: Wahrheit und Erfindung. Grundzüge einer Allgemeinen Erzähltheorie, Frankfurt a. M.: Fischer 2012, S. 330. 141 Hubertus Büschel: Das Schweigen der Subalternen. Die Entstehung der Archivkritik im Postkolonialismus, in: Anja Horstmann/Vanina Kopp (Hg.): Archiv – Macht – Wissen. Organisation und Konstruktion von Wissen und Wirklichkeiten in Archiven, Frankfurt a. M.: Campus Verlag 2010, S. 73–88. Die Encyclopédie wird in der vorliegenden Studie als ein postkoloniales Archiv verstanden, insofern es Aussagen über die Machtmechanismen der Alteritätskonstruktionen in der französischen bzw. europäischen Aufklärung erlaubt. Damit akzentuiert das Adjektiv hier eine postkoloniale Perspektive (und ist keine chronologische Anzeige); es ist weiterhin nicht im Sinne einer postkolonialen Kritik an Archivsystemen in der Kolonialgeschichte/ Kolonialgeschichtsschreibung gemeint, die konkret Wissenssammlungen – und deren massive, strategische Vernichtung – von Kolonialgeschichte darstellen. 142 Vgl. Friedrich Balke: Die Enzyklopädie als Archiv des Wissens, S. 155–172, hier S. 159. 143 Vgl. ebd., S. 156. 144 Vgl. dazu auch Jonathan I. Israel: Radical Enlightenment. Philosophy and the Making of Modernity 1650–1750, Oxford: Oxford University Press 2001.

1.1 Theoretischer Rahmen: Wissen – Alterität – Narration

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len Anderen eine zentrale Rolle, da sie hier gleichermaßen kreativ im Sinne von Imaginationen schöpfend tätig ist und via Formaten wie Reiseberichten die Distanzerfahrungen des europäischen Menschen transformiert.145 Noch einmal: Versteht man nun die Encyclopédie als ein spezifisches postkoloniales Archiv, so meint dies nicht, dass das große Wissensprojekt als Kolonialarchiv intendiert war, sondern vielmehr, dass sich in den kolonialistischen Konstruktionen des Anderen Machtmechanismen ablesen lassen, die am Kreuzungspunkt zwischen Wissensgenerierung, -imaginierung und -literarisierung stehen. Die Begegnung mit dem kolonialen Anderen in den Fokus zu rücken in Bezug auf die Wissenskonstruktionen innerhalb der Encyclopédie, begründet sich dabei nicht nur in dem Anliegen der postkolonialen Theoriebildung, europäische und insbesondere aufklärerische Denktraditionen kritisch gegenzulesen. Die Encyclopédie repräsentiert damit zwar kein Wissen, das explizit und zu strategischen Gründen der Eroberung oder Dominierung kolonialer Territorien diente oder dienen sollte. Allerdings schreibt sich auch die Encyclopédie in den Kolonialdiskurs ein, wie sich auch dieser in den Artikeln niederschlägt. Denn einerseits gelangt der koloniale Andere in die Encyclopédie, weil das europäische Projekt kolonialer und wissenschaftlicher Exploration dort Spuren hinterlässt. Durch die Reiseberichte der großen Forschungsreisen des 18. Jahrhunderts (Cook, La Pérouse und Bougainville) und durch die dort angewandten neuen Methoden in Statistik, Geometrie, Bodenkunde, Kartographie etc.;146 d. h. aus der Erfahrung globaler Horizonterweiterung und Anwendung neuer wissenschaftlicher Methoden147 wird auch das Wissen vom kolonialen Anderen auf eine neue, brisante Weise virulent (vgl. Kapitel 2.1.2.2). Dies hängt mit der Krise der Anthropologie in der Aufklärung zusammen.148 In dieser Zeit formierte sich das Verständnis vom Menschen – und demzufolge

145 Vgl. einschlägig Jürgen Osterhammel: Distanzerfahrung: Darstellungsweisen des Fremden im 18. Jahrhundert, in: Hans-Joachim König/Wolfgang Reinhard/Reinhard Wendt (Hg.): Der europäische Beobachter außereuropäischer Kulturen. Zur Problematik der Wirklichkeitswahrnehmung, Berlin: Duncker & Humblot 1989, S. 9–42. 146 Vgl. Hans-Jürgen Lüsebrink: Wissen und außereuropäische Erfahrung im 18. Jahrhundert, S. 636; Hans-Jürgen Schings (Hg.): Der ganze Mensch. Anthropologie und Literatur im 18. Jahrhundert, Stuttgart/Weimar: Metzler 1994 sowie zur Reise in der Aufklärung vgl. Peter J. Brenner: Reisen, in: Heinz Thoma (Hg.): Handbuch Europäische Aufklärung. Begriffe, Konzepte, Wirkung, Stuttgart: Metzler 2015, S. 429–438. 147 Vgl. Hans-Jürgen Lüsebrink: Wissen und außereuropäische Erfahrung im 18. Jahrhundert, S. 652. 148 Vgl. dazu grundlegend Rudolf Behrens/Roland Galle (Hg.): Historische Anthropologie und Literatur. Romanistische Beiträge zu einem neuen Paradigma der Literaturwissenschaft, Würzburg: Königshausen & Neumann 1995. Die Aufklärung bietet sich aufgrund ihrer umstürzlerischen Tendenzen und ihrer historischen Integration – vom leuchtenden Königtum eines

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auch von seinen Antinomien wie u. a. dem Wilden – neu und avanciert neben der Ratio zum zentralen Movens für Wissensproduktion. Balke zeigt die anthropozentrische Faktur allen Wissens (hier insbesondere für Diderot) deutlich auf: Der Mensch ist für Diderot, und das bezeugt seine Zugehörigkeit zur neuen, postklassischen bzw. anthropologischen Konfiguration, nicht einfach ein Begriff neben anderen Begriffen, sondern «der einzigartige Begriff, von dem man ausgehen und auf den man alles zurückführen muß (le terme unique d’où il faut partir & auquel il faut tout ramener)»15 – man beachte die imperativische Formulierung, die die kaum verhüllte Performativität des Begriffs anzeigt.149

Die anthropologische Zentrierung des Encyclopédie-Projekts wirkt sich demzufolge nicht nur auf die Wissenskonzeption und die rezeptionsästhetische Artikulation von Wissen aus, sondern macht auch nochmals deutlich, dass die Etablierung eines Selbstbildes und damit Fragen nach dem Verhältnis von Identität und Alterität kein marginales Wissensgebiet in der Encyclopédie prägen, sondern dass sie das enzyklopädische Projekt nachgerade fundieren. Vor diesem Hintergrund ist es auch nicht verwunderlich, dass die Erfahrung und Konzeption von Alterität ein virulentes, mit Fatih sogar omnipräsentes Thema der Aufklärung darstellt: Es zirkuliere ihm zufolge in den Gesprächen in den Salons und in den Leseerfahrungen in der Literatur.150 Dabei wird der fremde Exot in Reiseberichten, in fiktiven Reisetexten oder populären contes orientaux bestaunt und ist selbstredend auch Gegenstand philosophischer Reflexionen. Zu den Modellen und Artikulationsformen von Alterität hat sich eine intensiteve Forschung entwickelt: hier u. a. auch unter der Bezeichnung als Barbar151 und

Louis XIV bis hin zur (nach-)revolutionären terreur – eine Epoche zu sein, die sich für die Diagnose von Krisen anzubieten scheint; auch für die Untersuchung einer literarischen Krise als generische Krise (vgl. Michel Delon: Entre clacissisme et romantisme, la crise des genres dans la littérature française, in: Britta Herrmann/Barbara Thums (Hg.): Ästhetische Erfindung der Moderne? Perspektiven und Modelle 1750–1850, Würzburg: Königshausen & Neumann 2003, S. 29–37 sowie weiterhin René de Messières: L’Encyclopédie et la Crise de la Société au Milieu du XVIII Siècle, in: The French Review 5, 24 (April 1951), S. 388–398). 149 Friedrich Balke: Die Enzyklopädie als Archiv des Wissens, S. 155–172, hier S. 159. 150 Vgl. Zakaria Fatih: L’Age des Lumières entre vérité et altérité, Paris: L’Harmattan 2010, S. 9. 151 Vgl. David J. Weber: Bárbaros. Spaniards and their savages in the Age of Enlightenment, New Haven/London: Yale University Press 2005 und Jean Schillinger/Philippe Alexandre: Introduction, in: Dies. (Hg.): Le barbare. Images phobiques et réflexions sur l’alterité dans la culture européenne, Bern: Peter Lang 2008, S. 1–11, für den deutschsprachigen Kontext einschlägig Manfred Schneider: Der Barbar. Endzeitstimmung und Kulturrecycling, München: Hanser 1997; im deutsch-französischen Vergleich Manfred Schneider: Der Barbar in der literarischen Mythologie Frankreichs und Deutschlands, in: Etienne François/Marie-Claire Hoock-Demarle/Reinhart Meyer-Kalkus u. a. (Hg.): Marianne – Germania. Deutsch-französischer Kulturtransfer im europäischen Kontext 1789–1914, Leipzig: Leipziger Universitätsverlag 1998, S. 577–595; in den

1.1 Theoretischer Rahmen: Wissen – Alterität – Narration

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innerhalb (natur-)wissenschaftlicher Betrachtungen. Die Funktion des kolonialen Anderen ist dabei eingebettet in die einerseits kritische Selbstreflexion des europäischen philosophe.152 Andererseits dient der koloniale Andere aber auch zur unablässigen Selbstbestätigung und Selbstinszenierung und treibt daher abgrenzende und durchaus diskriminierende und xenophobe Blüten in den Encyclopédie-Artikeln. Der Diskurs über eine europäische Identität habe sich, so Steinkamp, gar erst in der abgrenzenden Inszenierung mit der außereuropäischen Welt formulieren können: Das Zeitalter der Aufklärung ist nicht nur selbst ein sich über den gesamten europäischen Kontinent erstreckendes Phänomen, es entwickelt auch als erste Epoche ein eigenständiges Bild von Europa als zivilisatorisches Gebilde. […] Die aufklärerische Rede steht […] noch nicht im Dienste politischer Absichten [hier im Sinne von späteren Einheitsbemühungen, K. S.]. Vielmehr kann der Europa-Diskurs der Aufklärung als Ausdruck eines spezifisch europäischen Bedürfnisses begriffen werden, die eigene Identität in Abgrenzung zur außereuropäischen Welt zu bestimmen.153

Steinkamp leitet die Rede von der Überlegenheit Europas einerseits aus der Querelle des anciens et des modernes her, deren Fortschrittstheorem ja an die historische Überlegenheit Europas in Sachen Wissenschaft und Philosophie geknüpft war und dies nun als genuin europäisches Verdienst ausweist. Andererseits weist er auf die Auseinandersetzungen mit der Neuen Welt hin, die in der Aufklärung eine gleichermaßen wichtige wie ambivalente Rolle gespielt hat: Während einerseits die Entdeckungen der ›unzivilisierten‹ Welt in Übersee den Glauben an die Überlegenheit der eigenen Zivilisation eindrucksvoll zu bestätigen schien, lieferten

Debatten um das Konzept der Toleranz vgl. Gisela Schlüter: Die französische Toleranzdebatte im Zeitalter der Aufklärung. Materiale und formale Aspekte, Tübingen: Niemeyer 1992 sowie Hans Erich Bödeker/Clorinda Donato/Peter Hanns Reill (Hg.): Discourses of tolerance and intolerance in the European Enlightenment, Toronto: University of Toronto Press 2009. 152 Vgl. Andreas Renner: Ad marginem: Europäische Aufklärung jenseits der Zentren, in: Alexander Kraus/Ders. (Hg.): Orte eigener Vernunft. Europäische Aufklärung jenseits der Zentren, Frankfurt a. M.: Campus Verlag 2008, S. 9–28, hier S. 19; zum Zusammenhang von Anthropologie und Literatur in der französischen Aufklärung vgl. Werner Krauss: Zur Anthropologie des 18. Jahrhunderts. Die Frühgeschichte der Menschheit im Blickpunkt der Aufklärung, München/ Wien: Carl Hanser Verlag [1978] 1979 und zur Krise der Anthropologie seit dem 18. Jahrhundert Armin Schäfer: Biopolitik des Wissens. Hans Henny Jahnns literarisches Archiv des Menschen, Würzburg: Königshausen & Neumann 1996, S. 12. 153 Volker Steinkamp: Europa, in: Heinz Thoma (Hg.): Handbuch Europäische Aufklärung. Begriffe, Konzepte, Wirkung, Stuttgart: Metzler 2015, S. 193–200, hier S. 194. Steinkamp weist darauf hin, dass der Europa-Diskurs zwar kein exklusiv französisches Phänomen sei, in Frankreich aber eine unvergleichliche spezifische Intensität und Präsenz erlangt habe (vgl. Volker Steinkamp: Europa, S. 193–200, hier S. 194, vgl. dazu auch Tzvetan Todorov: L’esprit des Lumières).

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andererseits die Eroberung selbst und die dabei von den Europäern angewandten Methoden den Anlass zu scharfer Selbstkritik.154

Dass dies in der Aufklärung kein zufälliges Thema, sondern nachgerade erforderlich ist, beschreiben auch Bitterli und White. «Begriffe wie ‹Wildheit›, ‹Wahnsinn› oder ‹Ketzerei›», schreibt White, «dienen nicht nur zur Bezeichnung einer spezifischen Lage oder eines spezifischen Seinszustandes, sondern auch zur Bestätigung des Wertes ihrer dialektischen Antithesen ‹Zivilisation›, ‹Vernünftigkeit› bzw. ‹Rechtgläubigkeit›».155 Nun scheint es gerade in der Zeit der Aufklärung kein Zufall zu sein, dass der Barbar vermehrt auftaucht. Da gerade in jener Zeit jegliche Sinn stiftenden Systeme angegriffen und kritisiert werden, liegt für Bitterli die «Vermutung […] nahe, daß die Beschäftigung mit dem Barbaren und seinem attraktiven Doppelgänger [der edle Wilde] in Zeiten an Interesse gewinnt, da der Mensch sich in seiner eigenen Kultur nicht mehr fraglos geborgen fühlt».156 Steinkamp führt die Histoire des deux Indes von Raynal und vor allem die literarischen Arbeiten von Diderot an, in denen die Relativität der europäischen Position und Überlegenheitsansprüche zum Ausdruck kommen, die jedoch weitestgehend ungehört bleiben. In der französischen Aufklärung, insbesondere in der Spätaufklärung, beschreibt Steinkamp dann weitere Positionen,

154 Volker Steinkamp: Europa, S. 196. 155 Hayden White: Auch Klio dichtet oder Die Fiktion des Faktischen. Studien zur Tropologie des historischen Diskurses, S. 178. Auch Monnier beschreibt Zivilisation und Barbarei als Antonyme (vgl. Raymonde Monnier: Usages d’un couple d’antonymes au 18e siècle: La civilisation et son revers, la barbarie, in: Dix-Huitième siècle 40 (2008), S. 523–542). Dabei schlagen die Alteritätskonstruktionen immer auch auf die Konstrukteure zurück und lassen so Rückschlüsse über die europäischen Determinierungssubjekte zu. Hier zeigt sich, so Bitterli, «die kulturelle Enge, die ‹Provinzialität› des eigenen Standortes» (Urs Bitterli: Die Wilden und die Zivilisierten. Grundzüge einer Geistes- und Kulturgeschichte der europäisch-überseeischen Begegnung, München: Beck [1976] 2004, S. 368). Und so ersinnt Diderot an anderer Stelle für diesen Rückkopplungseffekt das Oxymoron der barbarischen Europäer: Diderot schreibt in der Histoire des deux Indes von Raynal im Kapitel «Barbares Européens…», dass er sich in Gedanken auf den Schiffen nach Übersee bringen lässt, gemeinsam mit den Europäern, die er hier anhand der Portugiesen, deren blutige Kolonialpraktiken er scharf angreift, als «Barbares Européens» bezeichnet, «[…] mais descendu à terre avec vous, et devenu témoin de vos forfaits, je me suis séparé de vous, je me suis précipité parmi vous ennemis, j’ai pris les armes contre vous, j’ai baigné mes mains dans votre sang» (Denis Diderot: Barbares Européens…, in: Abbé G. Th Raynal (Hg.): Histoire philosophique & politique des deux Indes. Avertissement et choix des textes par Yves Bénot, Paris: La Découverte [1781] 2001, S. 48–49, hier S. 49). 156 Urs Bitterli: Die Wilden und die Zivilisierten, S. 374. «Jedenfalls ist auffällig», fährt Bitterli fort, «wie die Beschäftigung mit dieser Thematik genau zu dem Zeitpunkt, da wohlbegründete, stabile Weltideen der Klassik der radikalen Infragestellung der Aufklärungsphilosophen weicht, erhöhte Aktualität gewinnt» (ebd.).

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die Frankreich innerhalb Europas eine zivilisatorische Führungsrolle angedeihen lassen wollen (etwa eine Europe française à la Carracioli).157 Hierfür steht in der Forschung etwa die Position von Osterhammel: «Die Aufklärung ist ein europäisches Phänomen gewesen, ein ›Projekt‹ des Settecento, das eine facettenreiche Wirkung auf die Welt entfaltete, aber nur in Europa entstand und vor dort allein nach Nordamerika sowie […] nach Hispanoamerika getragen wurde».158 Dementgegen stehen Forschungspositionen, denen zufolge das «weltweite Zirkulationssystem von Wissen unterschiedlicher, durchaus auch kontradiktorischer Diskurse […] nicht unidirektional organisiert»159 sei. Eckstein/Peitsch/Schwarz behaupten gar die direktionale Umkehr und konstatieren, dass die globale Ordnung, wie wir sie heute kennen, sich nicht, wie gemeinhin erzählt wird, in den Metropolen Europas entwickelte und von dort aus über Kolonialismus und Handel in die Welt getragen wurde. Im Grunde war es umgekehrt: Die systemischen Grundlagen der Moderne entstanden außerhalb Europas und wurden erst spät, im Laufe des 18. und 19. Jahrhunderts, importiert.160

Die Aufklärungsforschung beschäftigt sich spätestens seit dem Zweiten Weltkrieg mit den ‹Schattenseiten› der Aufklärung – sei es mit Blick auf die Irrationalität inmitten einer vernunftbasierten Fortschritts- und Perfektibilitätsphilosophie,161 157 Volker Steinkamp: Europa, S. 197. 158 Jürgen Osterhammel: Welten des Kolonialismus in Zeiten der Aufklärung, in: Hans-Jürgen Lüsebrink (Hg.): Das Europa der Aufklärung und die außereuropäische koloniale Welt, Göttingen: Wallstein Verlag 2006, S. 19–36, hier S. 19. 159 Ottmar Ette: TransArea. Eine literarische Globalisierungsgeschichte, Berlin: De Gruyter 2012, S. 120; vgl. weiterhin Santiago Castro Gómez (2006): Aufklärung als kolonialer Diskurs. Humanwissenschaften und kreolische Kultur in Neu Granada am Ende des 18. Jahrhunderts, Dissertationsschrift, Universität Frankfurt a. M., http://publikationen.ub.uni-frankfurt.de/files/ 2152/CastroGomezSantiago.pdf (24. 09. 2019), bes. S. 12 und Florence Lotterie/Darrin M. McMahon (Hg.): Les Lumières Européenes dans leurs relations avec les autres grandes cultures et religions, Paris: Champion 2002; zur Ideenzirkulation innerhalb Europas vgl. Isabelle Moreau (Hg.): Les lumières en mouvement. La circulation des idées au XVIII e siècle, Paris: ENS Éditions 2009, zur Aufklärung in globaler Perspektive Wolfgang Hardtwig (Hg.): Die Aufklärung und ihre Weltwirkung, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2010 und exemplarisch zur Aufklärung Nordamerikas Michael Lenz: ‹The standard of reason at length erected›. Die Aufklärung in Nordamerika, in: Alexander Kraus/Andreas Renner (Hg.): Orte eigener Vernunft. Europäische Aufklärung jenseits der Zentren, Frankfurt a. M.: Campus Verlag 2008, S. 47–65. 160 Lars Eckstein/Helmut Peitsch/Anja Schwarz: Tupaias Karte, oder: Was ist Aufklärung in postkolonialer Perspektive?, in: Das Achtzehnte Jahrhundert, 2, 40, 2016, S. 175–190, hier S. 175. 161 Vgl. Max Horkheimer/Theodor W. Adorno: Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente, Frankfurt a. M.: Fischer Taschenbuch Verlag [1944] 1997; Ernst Cassirer: Die Philosophie der Aufklärung; Jean Starobinski: Das Rettende in der Gefahr. Kunstgriffe der Aufklärung, Frankfurt a. M.: S. Fischer 1990; Jean Starobinski: L’invention de la liberté, 1700–1789 suivi de 1789, les emblèmes de la Raison, Paris: Gallimard 2006. Als Überblick kann Andreas Heyer: Die fran-

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sei es mit Blick auf den Eurozentrismus vermeintlich universalistischer Werte von Menschenrechten, Freiheit und dem Recht auf Glück.162 Der Encyclopédie als Schlüsselwerk der Aufklärung ist eine umfangreiche Forschung in Frankreich, in der deutschsprachigen Romanistik und Komparatistik sowie in der anglophonen, historisch-lexikographischen Aufklärungsforschung gewidmet worden: Seit den 1960er Jahren sind hier umfangreiche Arbeiten zu verzeichnen, zu deren wichtigsten Forschungsarbeiten etwa jene von Proust, Haechler oder Darnton gehören; sowie die Forschungsbeiträge in den Recherches sur Diderot et sur l’Encyclopédie seit den 1980er Jahren.163 Gleichwohl ist innerhalb der französischen Aufklärungsforschung der Fokus Alterität, Kolonialismus und Globalgeschichte eher marginal und zumeist unter diskursanalytischen und postkolonialen Gesichtspunkten bearbeitet worden. Das 18. Jahrhundert gerät in diesen Studien als Jahrhundert des Kulturtransfers und der Fremderfahrung in den Blick;164 als ein Zeitalter globaler Verflechtungen und Kulturkontakte165 und als «grenzüberschreitender Kommunikationsprozess».166 Die Fremdzuschreibungen werden in den folgenden Textanalysen von Interesse sein. Folglich wird es – bedingt durch die enzyklopädischen Verfahren, wie noch zu sehen sein wird – weniger um geographisch, historisch oder kultu-

zösische Aufklärung um 1750. Band II: Bio-Bibliographisches Handbuch, Berlin: uni-edition 2005 dienen; zu den Schattenseiten vgl. Trude Kolderup/Svein-Eirik Fauskevag: A l’ombre des Lumières. Littérature et pensée françaises du XVIII e siècle, Paris/Oslo: L’Harmattan/Solum 2008. 162 Vgl. Hans-Jürgen Lüsebrink (Hg.): Das Europa der Aufklärung und die außereuropäische koloniale Welt, Göttingen: Wallstein Verlag 2006; Manfred Geier: Aufklärung. Das europäische Projekt, Reinbek/Hamburg: Rowohlt 2012, Stollberg-Rilinger, Barbara: Nachwort, in: Dies. (Hg.): Was ist Aufklärung? Thesen, Definitionen, Dokumente, Stuttgart: Reclam 2010, S. 131–139, hier S. 138. 163 Vgl. Jacques Proust: L’Encyclopédie, Paris: Armand Colin 1965; Robert Darnton: The business of enlightenment. A publishing history of the Encyclopédie, 1775–1800, Cambridge: Belknap Press 1979 ; Robert Darnton: Neue Aspekte zur Geschichte der Encyclopédie, in: Hans-Ulrich Gumbrecht/Rolf Reichardt, /Thomas Schleich (Hg.): Sozialgeschichte der Aufklärung in Frankreich. 12 Originalbeiträge, München: Oldenbourg 1981, S. 34–65; Jean Haechler: L’Encyclopédie. Les combats et les hommes, Paris: Les Belles Lettres 1998 sowie weiterhin Karen Gloy: Vernunft und das Andere der Vernunft, Freiburg: Alber 2001 und Philipp Blom: Das vernünftige Ungeheuer. Diderot, d’Alembert, de Jaucourt und die Große Enzyklopädie, Frankfurt a. M.: Eichborn 2005. 164 Vgl. Hans Erich Bödeker/Clorinda Donato/Peter Hanns Reill (Hg.): Discourses of tolerance and intolerance in the European Enlightenment, S. 113–123. 165 Vgl. Felicity A. Nussbaum: Introduction, in: Dies. (Hg.): The global eighteenth century, Baltimore: Johns Hopkins University Press 2003, S. 1–18; Ingrid Weber/Susanne Greilich/Martin Calder: Préface, in: Florence Lotterie/Darrin M. McMahon (Hg.): Les Lumières Européennes dans leurs relations avec les autres grandes cultures et religions, Paris: Champion 2002, S. 11– 15. 166 Vgl. Andreas Renner: Ad marginem: Europäische Aufklärung jenseits der Zentren, S. 17.

1.1 Theoretischer Rahmen: Wissen – Alterität – Narration

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rell kontextualisierte Andere oder gar Fremde gehen, sondern um kolonialistische Alterisierungsverfahren, die Wissen, Macht und Erzählung miteinander verweben.167 Aus diesem Grund verwende ich im Folgenden den Begriff des kolonialen Anderen, der programmatisch dessen diskursive Konstruktion innerhalb des Kolonialdiskurses akzentuiert. In seiner terminologischen Verwendung für einen narrativen Typus nimmt er eine Art Zwischenstellung zwischen dem konkret kontextualisierten, historisch und geographisch situierten Fremden auf der einen und dem universellen Menschen/dem universalistischen Menschenbild auf der anderen Seite ein. Damit werden gleichzeitig die insbesondere narrative Gemachtheit und die Anlage als relationale Figur unterstrichen, die wiederum die Trennung zwischen dem Fremden und dem Anderen auflöst, indem der Terminus auf die Möglichkeiten wie Unmöglichkeiten der epistemologischen Einund Unterordnung als «Machtausübung»168 verweist. Damit integriert er trotz bzw. gerade durch die Verwendung des Singulars die Zuschreibungen und Positionswechsel der Alterität, wie Kiening sie bewusst im Plural formulieren würde: Im Hinblick auf die Neue Welt kann Alterität (im Singular) auf die grundsätzliche Unverfügbarkeit der sowohl in der Zeit wie im Raum von uns getrennten Welten und Sinnformationen verweisen. Gedacht sein kann aber auch an die vielerlei Formen des Fremden und Unvertrauten, also Alteritäten (im Plural) im Sinne relationaler und fluktuierender Differenzen, vielfältiger historischer Diskurse und Semantiken.169

Alterität gerät in der Perspektive auf die rationale Beherrschungsgeste des enzyklopädischen Diskurses nun weniger als Wissensbestand, als vielmehr als Wissenskonstruktion in den Blick. Mit Kiening gesprochen: In jedem Fall setzt Alterität Beziehungsstiftungen voraus, und in jedem Fall besitzt sie wie Innovation oder Erfahrung eine rhetorische Dimension. [...] Sie [die frühneuzeitlichen Texte, K. S.] erfordern vielmehr eine Analyse der semiotischen, historischen und kulturellen Bedingungen von Fremdheit, eine Analyse der Bedingungen ihrer Darstellung und das heißt auch ihrer Formen, sich das Fremde unvermeidlich anzuverwandeln. Das führt auf den Begriff der Mimesis.170

167 «‹Fremd› ist demnach keine originär geographisch-räumliche Kategorie, sondern eine der Bewusstseinsform. Was als exotisch-fremd gilt, ist variabel gemäß dem Stand der forschenden Durchdringung und der Kolonisation bzw. der Europäisierung. Aber auch die geschichtstheoretische Konstruktion vermittelt den Blick auf das Fremde eines verloren geglaubten Ursprungs» (Gerhart Pickerodt: Exotisch/Fremd, in: Heinz Thoma (Hg.): Handbuch Europäische Aufklärung. Begriffe, Konzepte, Wirkung, Stuttgart: Metzler 2015, S. 201–210, hier S. 205). 168 Robert Darnton: Das große Katzenmassaker. Streifzüge durch die französische Kultur vor der Revolution, München: Hanser 1989, S. 220. 169 Christian Kiening: Das wilde Subjekt, S. 48. 170 Ebd.

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Die einschlägigsten Arbeiten zur Verbindung von Kolonialismus und Aufklärung im Hinblick auf Wissenskompendien stammen im deutschsprachigen Raum von Lüsebrink, der einerseits die neuartigen naturwissenschaftlichen Methoden zur Welterschließung berücksichtigt und diese andererseits mit den historischen Verflechtungen von Neuer und Alter Welt kurzschließt. Diese Verflechtungen aber weist Lüsebrink 2006 noch als Forschungsdesiderat aus: Was hat die koloniale Welt mit der Aufklärung zu tun, wie ist das Phänomen des Kolonialismus, das Eroberung, Gewalt und Unterwerfung impliziert, mit dem Prozess der Aufklärung, der Freiheit, Emanzipation, Wissen und Erkenntnis meint, verknüpft? Das Jahrhundert der Aufklärung [...] stellt im Prozess der kolonialen Expansion Europas nach Übersee seit dem beginnenden 15. Jahrhundert eine entscheidende und vielleicht bisher insgesamt zu wenig beachtete Umbruchperiode dar.171

Das Thema der Alterität hat in die Aufklärungsforschung in besonderem Maße Einzug gehalten über die kritische Rassismusforschung172 und über die Sklavereiforschung.173 In den 1970er Jahren hatte Benot bereits Studien vorgelegt,174 in denen er die antikolonialen Texte Diderots untersucht (allerdings allein in der Histoire des deux Indes175). Gemein ist diesen Arbeiten die Argumentationsfigur, dass sich im kolonialistischen Diskurs der Aufklärung inhärente Widersprüche ausmachen lassen, die sich besonders deutlich in Fragen von Abolitionismus oder im Gegenteil der Apologie des Sklavenhandels äußern.176 Die Studien von Sala-Molins haben sich ebenfalls dieser Perspektive verschrieben und formulieren eine Art Gegengeschichte zur Aufklärung, deren Epizentrum

171 Hans-Jürgen Lüsebrink: Von der Faszination zur Wissenssystematisierung: die koloniale Welt im Diskurs der europäischen Aufklärung, in: Ders. (Hg.): Das Europa der Aufklärung und die außereuropäische koloniale Welt, Göttingen: Wallstein Verlag 2006, S. 9–18, hier S. 9. 172 Vgl. dazu exemplarisch Pierre Pluchon: Nègres et Juifs au XIII e siècle. Le racisme au siècle des Lumières, Paris: Tallandier 1984; Emmanuel Chukwudi Eze (Hg.): Race and the enlightenment. A reader, Oxford: Blackwell 1996 oder die stellenweise etwas vage Studie von Gudrun Hentges: Schattenseiten der Aufklärung. Die Darstellung von Juden und «Wilden» in philosophischen Schriften des 18. und 19. Jahrhunderts, Schwalbach i. T.: Wochenschau-Verlag 1999 sowie Sigrid Oehler-Klein: Rasse, in: Heinz Thoma (Hg.): Handbuch Europäische Aufklärung. Begriffe, Konzepte, Wirkung, Stuttgart: Metzler 2015, S. 419–428. 173 Vgl. Jean Ehrard: Lumières et esclavage. L’esclavage colonial et l’opinion publique en France au XVIII e siècle, Paris: André Versaille 2008. 174 Vgl. zentral Yves Benot: Diderot, de l’athéisme à l’anticolonialisme, Paris: Maspero 1970 sowie Yves Benot: Les Lumières, l’esclavage, la colonisation, Paris: La Découverte 2005. 175 Vgl. ebd., S. 162 ff. 176 Vgl. Andreas Eckert: Aufklärung, Sklaverei, Abolition, in: Wolfgang Hardtwig (Hg.): Die Aufklärung und ihre Weltwirkung, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2010, S. 243–262, hier S. 256.

1.1 Theoretischer Rahmen: Wissen – Alterität – Narration

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die Aporie des Kolonialismus in Form des unmenschlichen Sklavenhandels darstelle.177 Sala-Molins greift den Eurozentrismus und das Machtgefälle in aufklärerischen Schriften an, in denen universalistisches Gedankengut über Freiheit, Gleichheit, Glück nur auf Frankreich, bestenfalls auf Europa beschränkt sei. Er konstatiert in polemischer Zuspitzung, man könne die Misères des Lumières, so der Titel seiner Studie, nur verstehen durch das Projekt der Sklaverei178: «How can the Enlightenment be interpreted? Only with the Code noir in hand».179 Weiterhin sind jene postkolonialen Forschungsarbeiten von Interesse, die sich explizit mit den erkenntnistheoretischen und ethnologisch-anthropologischen Dimensionen des Nexus von Alterität, Wissen und Literatur beschäftigen. Hier sind einerseits jene Arbeiten zu nennen, die eine konstitutive Rolle des Kolonialismus auf ökonomischer,180 philosophischer und ethisch-moralischer Ebene sehen. Die radikale These der konstitutiven Funktion der europäischen Aufklärung für den Kolonialismus vertritt etwa Mignolo, der nach seinen Arbeiten zur kolonialistischen Präfiguration der Renaissance181 die gesamte Moderne als durch den Kolonialismus begründet bezeichnete182 und daraus die kritische Haltung der Dekolonialität ableitet. Seine Arbeiten sowie die Studien von Broeck183 und Arbeiten im Feld der critical whiteness-studies184 sind insofern für das vorliegende Forschungsprojekt relevant, als sie explizit mit dem Konnex von Epistemologie und globalem Kolonialismusprojekt, mit Literarisierung und kolonialistischer Fundierung philosophischer Diskurse Europas argumentie-

177 Vgl. Louis Sala-Molins: Les misères des Lumières. Sous la raison, l’outrage, Paris: Robert Laffont 1992. 178 Vgl. ebd., S. 17. 179 Louis Sala-Molins/John Conteh-Morgan (Hg.): Dark side of the light. Slavery and the French enlightenment, Minneapolis: University of Minnesota Press 2006, S. 9. 180 Vgl. Michael Hardt/Antonio Negri: Empire. Die neue Weltordnung, Frankfurt a. M.: Campus 2003, bes. S. 118. 181 Vgl. Walter D. Mignolo: The darker side of the Renaissance. Literacy, territoriality, and colonization, Ann Arbor: Univ. of Michigan Press [1995] 2003. 182 Vgl. Walter D. Mignolo: Epistemischer Ungehorsam. Rhetorik der Moderne, Logik der Kolonialität und Grammatik der Dekolonialität, Wien/Berlin: Turia + Kant 2011, bes. S. 2 f. sowie Walter D. Mignolo: The Darker Side of Western Modernity. Global Futures, Decolonial Options, Durham/London: Duke University Press 2011. 183 Vgl. bspw. Sabine Broeck: Das Subjekt der Aufklärung – Sklaverei – Gender Studies: Zu einer notwendigen Relektüre der Moderne, in: Gabriele Dietze/Sabine Hark/Carsten Junker (Hg.): Gender kontrovers. Genealogien und Grenzen einer Kategorie, Königstein i. T.: Helmer 2006, S. 152–180. 184 Vgl. etwa Maureen Maisha Eggers/Grada Kilomba/Peggy Piesche u. a. (Hg.): Mythen, Masken und Subjekte. Kritische Weißseinsforschung in Deutschland, Münster: Unrast 2005.

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ren.185 Ferner sind jene wenigen Arbeiten zu nennen, die das Potenzial postkolonialer Perspektiven in der Analyse von Aufklärungstexten im Hinblick auf kolonialistische Machtgefüge und ihre inhärenten kolonialistischen Dichotomien ausloten.186 Pečar und Tricoire legten jüngst eine Streitschrift über das brisante Verhältnis von Aufklärung und Moderne als «Falsche Freunde» vor, in der sie einen wichtigen Beitrag zur Diskussion um den Kolonialdiskurs als Kampfzone der Aufklärungsforschung leisten.187 Insbesondere die Hierarchisierungen innerhalb der Alteritätskonstruktionen, die Machtgefälle, die sich durch die kulturellen Differenzierungen zwischen europäischem Ich und außereuropäischem Anderen artikulieren, liegen im Zentrum postkolonial informierter Kultur- und Literaturforschung. Diese Studien betrachten die Mechanismen der Alterisierung, oder des Othering, nicht als neutrale, ‹objektive› Differenzierungsprozesse, sondern als Wirkungsweisen epistemischer Macht. So problematisiert etwa Spivak den Eingang der Marginalisierten in das (westliche Macht-) Wissen,188 Joseph wiederum ihren Eingang in das koloniale Archiv.189 Und auch in den postkolonialen Literaturwissenschaften hat die Perspektive auf Alteritätskonstruktionen eine große Resonanz erfahren (für diskursanalytisch-) phänomenologische Analysen fruchtbar gemacht hat dies im Besonderen Borsò.190 An Forschungsarbeiten, die insbesondere die literarische Inszenierung von Alterität im Blick haben, sind etwa die Studie von Hofmann zur Konstrukti-

185 Vgl. Christian Delacampagne: Die Geschichte der Sklaverei, Düsseldorf: Artemis & Winkler 2004, bes. 179–206 sowie im Bezug auf enzyklopädische Projekte in Südamerika wie in Europa (vgl. Walter D. Mignolo: The darker side of the Renaissance, S. 187 ff.). 186 Vgl. die Einführung sowie die Beiträge zum «postcolonial enlightenment» von Daniel Carey/Lynn Festa (Hg.): The Postcolonial Enlightenment. Eighteenth-century Colonialism and Postcolonial Theory, Oxford: Oxford University Press 2009 und insbesondere den einführenden Beitrag von Daniel Carey/Lynn Festa (Hg.): Introduction: Some Answers to the Question: ‹What is Postcolonial Enlightenment?›, in: Dies. (Hg.): The Postcolonial Enlightenment. Eighteenthcentury Colonialism and Postcolonial Theory, Oxford: Oxford University Press 2009, S. 1–33. 187 Vgl. Andreas Pečar/Damien Tricoire: Falsche Freunde. War die Aufklärung wirklich die Geburtsstunde der Moderne?, Frankfurt a. M.: Campus Verlag 2015. 188 Mit Blick auf Frauen vgl. die Überlegungen von Gayatri Chakravorty Spivak: A critique of postcolonial reason. Toward a history of the vanishing present, Cambridge, Mass: Harvard University Press 1999. 189 Vgl. Betty Joseph: Proxies of Power: Women in the Colonial Archive, in: Felicity A. Nussbaum (Hg.): The global eighteenth century, Baltimore: Johns Hopkins University Press 2003, S. 123–137. 190 Vgl. Heike Brohm/Vera Elisabeth Gerling/Björn Goldammer u. a. (Hg.): Das Andere denken, schreiben, sehen. Schriften zur romanistischen Kulturwissenschaft, Bielefeld: transcript 2008.

1.1 Theoretischer Rahmen: Wissen – Alterität – Narration

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on der Karibik in französischen Texten des 17. Jahrhunderts191 sowie der Aufsatz von Garraway zu nennen, die in fiktionalen Texten französischer Aufklärer dialogische Konstruktionen als hybride Momente innerhalb des französischen Kolonialismusdiskurses ausmacht.192 Innerhalb der postkolonialen Theoriebildung sind die Epoche und das philosophisch-ideologisch-ethische Erbe der europäischen Aufklärung immer wieder kritisch reflektiert worden. Dabei zeichnet sich in den Postcolonial Studies (vornehmlich US-amerikanischer Provenienz) eine durchaus ambivalente Haltung gegenüber der Aufklärung ab: Auf der einen Seite wird sie als imperiale Geste und globales Machtprojekt verstanden und damit als eurozentristisch und universalistisch nachdrücklich verurteilt.193 «Postkolonialer Theorie», so schreiben Wiemann/Meyer, «wird gemeinhin ein höchst kritisches bis feindseliges Verhältnis zur europäischen Aufklärung attestiert».194 Conteh-Morgan misst in Anlehnung an Benot die Aufklärung an ihrem eigenen Universalismus-Anspruch

191 Vgl. Sabine Hofmann: Die Konstruktion kolonialer Wirklichkeit. Eine diskursanalytische Untersuchung französischer Karibiktexte des frühen 17. Jahrhunderts, Frankfurt a. M.: Campus Verlag 2001. 192 Vgl. Doris L. Garraway: Of Speaking Natives and Hybrid Philosophers: Lahontan, Diderot, and the French Enlightenment Critique of Colonialism, in: Daniel Carey/Lynn Festa (Hg.): The Postcolonial Enlightenment. Eighteenth-century Colonialism and Postcolonial Theory, Oxford: Oxford University Press 2009, S. 207–239. 193 Aus den zahlreichen Studien vgl. etwa Gayatri Chakravorty Spivak: A critique of postcolonial reason. Toward a history of the vanishing present, Gayatri Chakravorty Spivak: ‹What is Enlightenment?› Gayatri Chakravorty Spivak Conversing with Jane Gallop, in: Jane Gallop (Hg.): Polemic. Critical or Uncritical, London: Routledge 2004, S. 179–200; sehr scharf auch Delacampagne, der der französischen Aufklärung sogar antikolonialistische und vor allem sklaverei-kritische Aussagen weitestgehend abspricht, vgl. Christian Delacampagne: Die Geschichte der Sklaverei, S. 199 f. Zur Plausibilität der Gleichzeitigkeit von Vernunft und Kolonialgewalt pointiert Renner: «Hier stehen sich raison und die Greuel der Kolonialgeschichte keinesfalls feindlich gegenüber: Nicht zuletzt für eine postkolonialistische Kritik an der Geschichte des aufgeklärten Okzidents ist der Topos zentral, dass keineswegs nur die schlafende Vernunft jene Ungeheuer geboren habe, die den Rest der Welt auch nach dem Ende des Kolonialzeitalters in der Abhängigkeit vom Westen halten» (Andreas Renner: Ad marginem: Europäische Aufklärung jenseits der Zentren, S. 18). 194 Dirk Wiemann/Tania Meyer: Tropen der Aufklärung: Postkoloniale Neuaneignungen, in: Das Achtzehnte Jahrhundert, 2, (40), 2016, S. 165–174, hier S. 165. Hier lässt sich auch die Studie von Thomson anführen, die den Autoren der Aufklärung grundsätzlich unterstellt, dem rassistischen und kulturarroganten Diskurs der Zeit zu folgen: «...nearly everyone [eighteenth-century European writers, K. S.] seemed to accept the existence of a hierarchy of peoples (with certain exceptions, as we have seen, and here we could also mention the abbé Grégoire), and it was the permanence or otherwise of the observed differences between peoples which seemed important» (Ann Thomson: Diderot, Roubaud et l’esclavage, in: Recherches sur Diderot et sur l’Encyclopédie 35 (2003), DOI: 10.4000/rde.179, S. 8).

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und sieht diesen gerade im Sklaverei-Diskurs als gescheitert an: «It’s precisely because the French Enlightenment was not universalistic enough on the question of slavery, contends the author, that it betrayed its promise and thus remained an incomplete project».195 Auch Carey/Festa betonen die problematischen universalistischen Annahmen, gehen aber davon aus, dass die Begegnung mit dem kolonialen Anderen zu einer Art Elastizität dessen führt, was man unter Menschlichkeit/Humanität versteht: With global expansion, the test cases for universalism changed. The encounter with new populations radically altered concepts of human nature, both fostering exclusions grounded in the taxonomic projects of ethnography and natural history and generating more elastic and plural ideas of humanity.196

Auf der anderen Seite wird die Aufklärung wiederum in ihrem universalistischen Potenzial und folglich in ihren emanzipatorischen Impulsen, den Zielen von Gleichheit, Menschenrechten, von Recht auf Glück und Freiheit als wegweisend für die außereuropäische Moderne angesehen.197 Hier setzen Wiemann/ Meyer jene Arbeiten fort, die die antiimperialistischen und selbstkritischen Dimensionen der Aufklärung betonen, wenn nicht gar favorisieren oder idealisieren.198 Hier lassen sich auch die Arbeiten zur ‹Tropikalisierung› (eine neologistische Fortschreibung des Chakrabarty’schen «Provinzialisierens») von Aravamudan oder der Betonung der (vergessenen) Gegendiskurse in der Aufklärung nach Muthu anschließen. Dieser bringt in seiner Studie, die sich in weiten Teilen auch mit den Enzyklopädisten Rousseau und Montesquieu beschäftigt und ein umfangreiches Kapitel den antikolonialistischen Schriften Diderots widmet, Enlightenment Against Empire199 in Anschlag, verfällt dann aber nach Wiemann/Meyer in eine «Idealisierung, wenn nicht Verklärung der (frühen) Aufklärung».200

195 John Conteh-Morgan: Translator’s Introduction: The Color of Enlightenment, in: Louis Sala-Molins/Ders. (Hg.): Dark side of the light. Slavery and the French enlightenment, Minneapolis: University of Minnesota Press 2006, S. vii–xxxvi, hier S. xv. 196 Daniel Carey/Lynn Festa (Hg.): The Postcolonial Enlightenment, S. 21. 197 Vgl. hier etwa Robert J. C. Young: Postcolonialism. An historical introduction, Oxford: Blackwell 2001, S. 74; aber auch Edward W. Said: Culture and imperialism, London: Vintage 1994, S. 15. 198 Vgl. Dirk Wiemann/Tania Meyer: Tropen der Aufklärung: Postkoloniale Neuaneignungen, S. 165–174. 199 vgl. Sankar Muthu: Enlightenment Against Empire, Princeton: Princeton University Press 2003. 200 Dirk Wiemann/Tania Meyer: Tropen der Aufklärung: Postkoloniale Neuaneignungen, S. 165–174, hier S. 172.

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Die inhärente Widersprüchlichkeit der Aufklärung, die Pluralisierungs- und Universalisierungstendenzen umfasst und unterschiedlich realisiert und ausagiert, ist der Ansatzpunkt für die postkoloniale Kritik. Die destruktive, nachgerade kolonialismusfördernde Diskursstruktur sieht etwa Garraway am Werke. Sie arbeitet dezidiert die kolonialistischen Strukturen unter dem Deckmantel der Aufklärung heraus: Rather than accepting at face value the philosophes’ rhetorical opposition to colonialism, I propose that the dialogue was instead the essential device whereby Enlightenment philosophers simulated the kinds of contestation and debate that were absent from the metropolitan public sphere and that they deemed necessary to the reform of French colonial policies and ideology. In this respect, I argue, the eighteenth-century critique of colonialism ultimately contributed to a new colonial discourse based on Enlightenment conceptions of universal reason, individual freedom, and commercial globalization. By figuring a critique of French colonial power through fictionalized colonized subjects, Enlightenment thinkers anticipated as well the consent of those imagined colonized peoples to the reform proposals implied within the critique itself.201

Im Gegensatz dazu rekonstruieren Wiemann/Meyer die produktive, widersprüchliche Sprengkraft innerhalb der heterogenen Aufklärungsdiskurse anhand der Ansätze des Provinzialisierens nach Chakrabarty, der «antagonistic indebtedness» nach Gilroy und der «affirmative sabotage» nach Spivak. Bei Spivak – wie den anderen beiden Zugängen – werde ihnen zufolge zwar immer noch eine «historische und systematische Komplizenschaft von Aufklärung und Imperialismus»202 betont, aber auch die inhärent kritische Seite gesehen. In der vorliegenden Arbeit soll nun für keine der beiden Argumentationsfiguren Partei ergriffen werden. Vielmehr ziele ich auf die Simultanität von kolonialistischem und antikolonialistischem Diskurs in der Aufklärung, um zu prüfen, inwiefern diese Dialektik so aufrecht zu erhalten ist und inwieweit sich Kolonialismus und Aufklärung weniger konsekutiv zueinander als konstitutiv füreinander verhalten. Eine Pluralisierung der Aufklärung, in einer globalen, epistemologischen und narrativen Perspektive, ist der postkolonialen Neuperspektivierung zu verdanken. Sie hält des Weiteren noch die Perspektive der Dekolonialisierung bereit, die Wiemann/Meyer anhand der Arbeiten von Dhawan und Alam rekonstruieren und hier – nahezu kontrapunktisch – mit Dhawan einfordern, «die Ambivalenzen und Inkonsistenzen in den Schriften der Denker der Aufklärung zur Kenntnis zu nehmen, mit denen diese sich zugleich imperia-

201 Doris L. Garraway: Of Speaking Natives and Hybrid Philosophers: Lahontan, Diderot, and the French Enlightenment Critique of Colonialism, S. 207–239, hier S. 210. 202 Ebd., S. 169.

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listisch und anti-imperialistisch erweisen.»203 Diesen Ansatz verfolgt auch die vorliegende Arbeit und setzt mit Said methodisch genau hier an, indem machtvolle wie ohnmächtige Stimmen zu Wort kommen, ohne diese auf der jeweiligen Seite der Macht zu fixieren und ohne diese in ein dichotomes Modell binden und dort stabilisieren zu wollen.204 Neben der postkolonialen Ausrichtung schließt der in der vorliegenden Arbeit genutzte Alteritätsbegriff schließlich auch an Prämissen der phänomenologischen Forschung an, die diesen als relational, reziprok und prozessual konzipieren, als machtkritischen Begriff verstehen und die Dimension der Erfahrung betonen.205 «Alterität», so Waldenfels in seinem Geleitwort zur ‹Festschrift› von Borsò, wird teilweise als Komplementum der Identität und als Produkt eigener Projektion verstanden, teilweise aber auch als eine Form der Andersheit, die mit der Vorgängigkeit des Anderen und mit einem im Entzug befindlichen Weltbezug einhergeht. In der letzten Bedeutung beträfe Alterität das, was unseren eigenen Verstehenshorizont überschreitet und unseren Aneignungsversuchen widersteht; diese Variante fiele mit dem zusammen, was ich selbst im Gegensatz zur Andersheit als ‹Fremdheit› bezeichne […].206

Zentral sind dabei die Vorstellungen von komplementärer und gleichzeitig sich entziehender Alterität in Relation zum Eigenen, von dialogischer Aushandlung zwischen Eigenem und Fremden und deren Verflechtungen. Diese Überlegungen stellt Waldenfels schon in seiner grundlegenden Studie Der Stachel des

203 Dhawan nach Dirk Wiemann/Tania Meyer: Tropen der Aufklärung: Postkoloniale Neuaneignungen, S. 165–174, hier S. 173. 204 Die konsequente Dekonstruktion kolonialistischer und aufklärerischer Dichotomien könnte auch auf die Ebene der kontextuellen, historischen Einbettung ausgeweitet werden. Allerdings wird es in der vorliegenden Arbeit weder darum gehen, die konkrete Involviertheit spezifischer und individueller Enzyklopädisten nachzuweisen, noch darum, die Diskrepanz zwischen dem ‹behaupteten›, enzyklopädischen Wissen und den realhistorischen Begebenheiten aufzuzeigen. Die Encyclopédie und ihr aufklärerischer Auftrag und Duktus werden hier nicht an ihrem Realisierungsgrad gemessen, sondern als «historisches Kontrafaktum» betrachtet (Dirk Wiemann/Tania Meyer: Tropen der Aufklärung: Postkoloniale Neuaneignungen, S. 165–174, hier S. 173). 205 Vgl. dazu grundlegend Bernhard Waldenfels: Grundmotive einer Phänomenologie des Fremden, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2006 sowie Andreas Hetzel/Dirk Quadflieg/Heidi Salaverría (Hg.): Alterität und Anerkennung, Baden-Baden: Nomos Verlag 2011; Urs Bitterli: Die Wilden und die Zivilisierten; Hinrich Fink-Eitel: Die Philosophie und die Wilden. Über die Bedeutung des Fremden in der europäischen Geistesgeschichte, Hamburg: Junius Verlag 1994; Thomas Bedorf: Andere. Eine Einführung in die Sozialphilosophie, Bielefeld: transcript Verlag 2011. 206 Bernhard Waldenfels: Zum Geleit: Anders als…, in: Heike Brohm/Vera Elisabeth Gerling/ Björn Goldammer u. a. (Hg.): Vittoria Borsò. Das Andere denken, schreiben, sehen. Schriften zur romanistischen Kulturwissenschaft, Bielefeld: transcript 2008, S. 9–20, hier S. 12.

1.1 Theoretischer Rahmen: Wissen – Alterität – Narration

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Fremden207 an und betont die (unhintergehbare) Interdependenz zwischen Eigenem und Fremdem. Diese unentwirrbare Verflechtung spielt folglich auch für die Konstruktion von Wissen eine zentrale Rolle. Mit Zima lässt sich die Alteritätsfrage epistemologisch formulieren: Welche Erkenntnisfunktion kommt dem Anderen, dem Fremden in einer wissenschaftlichen Diskussion zu? Zunächst zerstört es die von uns gehegte Illusion, unser Diskurs [...] sei mit der Wirklichkeit identisch. Zugleich erinnert es uns an die Tatsache, daß die Wirklichkeit ambivalent ist und von jedem anders rekonstruiert wird [...]. Gegen diesen Diskurs [des identifizierenden seit Fichte und Hegel, K. S.], der jede Art von Alterität negiert, haben Adorno und Horkheimer die Kritische Theorie, Bachtin die Theorie des polyphonen Romans entworfen. [...] Entscheidend ist dabei der Gedanke, daß Bachtins Dialog auf der Andersartigkeit des anderen ausgerichtet ist und nicht [...] auf dessen Neutralisierung durch eine normative Sprechakttheorie, die zusammen mit dem Diskurs die Subjektivität tilgt.»208

Für die folgenden Analysen in der vorliegenden Arbeit spielt der Ambivalenzbegriff 209 eine zentrale Rolle. Er wird sowohl die Konzeption von Alterität als auch die Methodologie beeinflussen. Der in der vorliegenden Arbeit genutzte Ambivalenzbegriff ist dabei auf die machtvollen Verfahren wissenspoetologischer Alteritätskonstruktionen fokussiert und damit auch begrenzt. Damit siedelt er sich zwar in einem sprachlich-literarischen Feld an, geht aber nicht gänzlich in die rhetorische Figur der Amphibolie auf, wie Berndt/Kammer sie explizieren.210 Weiterhin knüpft der Ambivalenzbegriff an jene Konzeption der Ambiguität, wie Berndt/Kammer sie insbesondere für die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts ausmachen und die damit auch als philosophiegeschichtlicher Hintergrund für die epistemischen Ambivalenzphänomene der Encyclopédie von Relevanz ist.211 Auch wenn in der Encyclopédie selbst der Ambiguitätsbegriff im Eintrag Ambi-

207 Vgl. Bernhard Waldenfels: Der Stachel des Fremden, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1990. 208 Peter V. Zima: Was ist Theorie? Theoriebegriff und Dialogische Theorie in den Kultur- und Sozialwissenschaften, Tübingen: A. Francke 2004, S. 223. 209 In der kulturwissenschaftlichen Forschung ist der Ambivalenzbegriff insbesondere in der Nachfolge der Dekonstruktion zu einer wichtigen Denkfigur avanciert, auch wenn es meines Wissens noch keine überblickende Monographie zu dem Begriff gibt. 210 Vgl. Frauke Berndt/Stephan Kammer: Amphibolie – Ambiguität – Ambivalenz: Die Struktur antagonistisch-gleichzeitiger Zweiwertigkeit, in: Dies. (Hg.): Amphibolie – Ambiguität – Ambivalenz, Würzburg: Königshausen & Neumann 2009, S. 7–30, hier S. 11–14. 211 Vgl. Frauke Berndt/Stephan Kammer (Hg.): Amphibolie – Ambiguität – Ambivalenz, Würzburg: Königshausen & Neumann 2009; zur Ambiguität als sozialphilosophisches Konzept vgl. Thomas Bauer: Die Kultur der Ambiguität. Eine andere Geschichte des Islams, Berlin: Verlag der Weltreligionen 2011.

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gu212 noch auf die antike Rhetorik zurückgeführt wird, so lassen sich in ihr doch beide Strategien finden, die die Autoren als Konsequenz aus der philosophischen Neuausrichtung des Umgangs mit Zweideutigkeiten (im Vergleich zur rhetorischen Tradition) generieren: Auch in der Encyclopédie, und dies werden die folgenden Textanalysen insbesondere in Kapitel 2.2 aufzeigen, findet sich zum Ersten jene räsonnierend-performative Strategie, «die Ambiguität durch eine List der Vernunft gleichsam in einer Fundamentaloperation ‹aufzuheben› – ihre agonale Gleichzeitigkeit also in die Prozesshaftigkeit des ‹spekulativen Denkens› umzumünzen», wie Berndt/Kammer unter Rekurs auf Hegel resümieren. Zum Zweiten aber findet sich auch in der Encyclopédie der Wille zur Auflösung und Eindeutigkeit, «damit ihr der phänomenale Irritationsanlass gar nicht erst [...] zu entgleiten drohe, das objet ambigu selbst verwerfen oder doch zumindest domestizieren».213 Besonders interessant für wissenspoetologische Analysen sind dabei die von Berndt und Kammer konstatierte Art und Weise dieser Domestizierung, denn diese gehe mit einer eindeutigen Zuweisung einher. Die Ambiguität wird demzufolge aus der Philosophie aus- und in die Ästhetik eingeschlossen: Im Sinn, im Denken und beim Subjekt soll sie fortan nichts mehr zu suchen haben; in der Kunst hingegen wird ihr ein Reservat geschaffen, in dem es ihren phänomenalen und medialen Irritationen – wenn auch unter der strengen und reichlich misstrauischen Aufsicht der Ästhetik – erlaubt ist, ‹regelmäßig auszuschweifen›. Kunst, und insbesondere Literatur, kann fortan geradezu als Institution von Ambiguität verhandelt werden.214

Dieser ‹Platzverweis› der Ambiguität ist für die Analyse der Encyclopédie insofern relevant, als hier die enzyklopädische Instanz einerseits mit dem Ambigen, Ambivalenten umgehen muss und die Encyclopédie-Artikel andererseits durchaus über literarisch-essayistische Textverfahren verfügen. Die Ambivalenzen des kolonialen Anderen müssen also auch zu logisch-rationalen wie generischen Entscheidungen führen: Werden die kolonialen Ambivalenzen ihrer agonalen Dimensionen beraubt und dadurch vereindeutigt? Welche textuellen Strategien kommen zum Einsatz, wenn das Wissen über den irritierenden, ambivalenten kolonialen Anderen beschrieben werden muss? Wird er dann literarisch narrativiert? Berndt/Kammer führen im Anschluss nun als dritten Begriff für die Konzeption von Mehr- oder Zweideutigkeit jenen Begriff ein, der auch für die vorliegende

212 Vgl. César Chesneau Du Marsais: Ambigu, in: Denis Diderot/Jean Le Rond d’Alembert (Hg.): Encyclopédie (ENCCRE). Bd. 1, S. 321. 213 Frauke Berndt/Stephan Kammer: Amphibolie – Ambiguität – Ambivalenz: Die Struktur antagonistisch-gleichzeitiger Zweiwertigkeit, S. 16. 214 Ebd., S. 17.

1.1 Theoretischer Rahmen: Wissen – Alterität – Narration

53

Untersuchung als Leitkonzept fungieren soll: Ambivalenz. Sie rekonstruieren den Ambivalenzbegriff historisch anhand seiner Etablierung in der Psychologie des frühen 20. Jahrhunderts (durch seine Einführung durch Bleuler bereits 1914) und zeigen auf, wie der Ambivalenzbegriff bei Bleuler, Freud und Abel in die Ursprünge des Ichs, der Menschheit und der Sprache verlegt und dort struktural verankert wird.215 Diese Sichtweise gehe allerdings einher mit einer Vorstellung von Ambivalenz als «Symptom, das nur das Problem anzeigt, dem die psychische Kur zu Leibe rücken soll»,216 die letztlich die Ebene der Wahrnehmung (und damit auch der Konstruktion) unberücksichtigt lasse. Dies löse, so die Autoren, in der Folge nur die Phänomenologie auf, die wie etwa Merleau-Pontys «philosophie de l’ambiguité» die «herkömmlichen Oppositionen zwischen medial vermitteltem Sinnesreiz und reflektierender Verarbeitung, Subjekt und Objekt, Aktion und Reaktion verlassen will».217 Der heuristische Ambivalenzbegriff für die vorliegende Arbeit speist sich grosso modo aus zwei Quellen: Zum Ersten lehnt er sich an die alteritäts-phänomenologische und postkoloniale Theoriebildung an, die (wiederum von der Psychoanalyse inspiriert) mit dem Ambivalenzbegriff auf die (durchaus widerständige) Dekonstruktion kolonialer Binarismen abzielt. In den konkreten Textanalysen zielt er demzufolge auf die devianten, durchaus auch kontradiktorischen Alteritätskonstruktionen, ohne diese in eine harmonisierende Synthese zu überführen, aber auch ohne die Encyclopédie «denunziatorisch»218 ihrer verdeckten Kolonialismen oder Antikolonialismen zu überführen. Young bringt diesen Begriff sogar gegen das Aufklärungsdenken selbst in Anschlag: «The ambivalence», so fährt Young fort, «means that by definition it cannot be approached in terms of a single illuminating concept».219 Insbesondere Bhabha bringt den Ambivalenz-Begriff in Stellung, um die dekonstruktivistische Sprengkraft eines Denkens kultureller Differenz zu artikulieren, die weniger als Trennlinie denn als Aushandlungszone für kulturelle Prozesse funktioniert. Dabei ist der Ambivalenzbegriff mit einem spezifischen, dekonstruktivistischen (und psychoanalytisch inspirierten) Widerstandsbegriff verbunden. «Resistance», so schreibt Bhabha, «is not necessarily an oppositional act of political intention, nor is it the simple negation or exclusion of the ‹content› of another culture as a difference once perceived. It’s the effect of an ambivalence produced within the rules of

215 Vgl. ebd., S. 18–23. 216 Ebd., S. 22. 217 Ebd., Hervorhebung im Original. 218 Axel Dunker: Kontrapunktische Lektüren, S. 171. 219 Robert J. C. Young: White mythologies. Writing history and the west, London: Routledge 2004, S. 187.

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1 Einleitung. Der koloniale Andere in der Encyclopédie

dominating discourses [...].»220 Es scheint kein Zufall zu sein, dass Bhabha von Erkenntnisregeln spricht, repetiert er hier doch ein zentrales Motiv der europäischen Aufklärung, in deren Denktraditionen das Kolonialprojekt tief verwurzelt ist. Diesen Konnex unter Vorzeichen von Hybridisierungen und Aushandlungsprozessen haben dabei nicht nur postkoloniale Theoretiker_innen aufgenommen (vgl. die oben ausgeführten Forschungsarbeiten aus der postkolonialen Aufklärungsforschung), sondern er ist auch außerhalb Europas in der kulturphilosophischen Theoriebildung einerseits und für das Denken der westlichen Moderne andererseits fruchtbar gemacht worden.221 Zum Zweiten rekurriert mein Ambivalenzbegriff auf jenen von Bauman, der ihn in Moderne und Ambivalenz als Schlüsselbegriff zur Analyse der Moderne und hier sogar an den Anfangspunkt der Moderne setzt.222 Damit ist der Terminus der Ambivalenz ein moderneimmanenter und -kritischer Begriff zugleich. Die Unbehagen auslösende Ambivalenz ist bei Bauman mit dem Bestreben der westlichen Moderne verknüpft, Unordnung und Chaos durch Systematisierung und Klassifizierung Herr zu werden. Die Verquickung dieser beiden theoretischen Zugänge ist im Rahmen der vorliegenden Arbeit für die Untersuchung der Encyclopédie besonders fruchtbar – und sowohl in der Encyclopédie-Forschung als auch in den Postcolonial Studies ein Novum –, da sie die enzyklopädischen Alteritätskonstruktionen als Wissensfiguren postkolonial-machtkritisch und epistemologisch-modernekritisch erfassen kann. Dieser enzyklopädische Ambivalenzbegriff, dies soll noch einmal deutlich formuliert werden, stellt allerdings dezidiert kein intendiertes (produktionsästhetisches oder kulturphilosophisches) Ergebnis aufklärerischer Toleranz- oder kosmopolitischer Wissensdiskurse dar. Die folgenden Analysen rekonstruieren also keine Ambivalenzen, die in der Encyclopédie bewusst hergestellt werden, um die Diversität(en) der Welt abzubilden, sondern zielen vielmehr auf eine Diskursfigur oder eine diskursive Dimension, die sich immer mitartikuliert und die außerordentlich verstörend, verunsichernd und nachgerade neben die Ordnung tretend wirkt.

220 Homi K. Bhabha: The Location of Culture, London/New York: Routledge [1994] 2007, S. 157 f.; vgl. weiterhin zu Bhabhas Ambivalenzbegriff Karen Struve: Zur Aktualität von Homi K. Bhabha. Einleitung in sein Werk, Wiesbaden: Springer 2013, bes. S. 63–96. 221 Vgl. Britta Saal: Kultur, Tradition, Moderne im Spiegel postkolonialer Differenzbewegungen. Eine interkulturelle Kritik der Moderne, Aachen: Wissenschaftsverlag Mainz 2013. 222 Vgl. Zygmunt Bauman: Moderne und Ambivalenz, Hamburg: Hamburger Edition [1991] 2005.

1.2 Kontrapunktische und wissenspoetologische Lektüren

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1.2 Methodische Zugänge: Kontrapunktische und wissenspoetologische Lektüren Um die Ambivalenzen der Macht wie Alteritätskonstruktionen in den enzyklopädischen Gestaltungen des kolonialen Anderen in der Encyclopédie analysieren zu können, sollen für die postkolonial orientierte wissenspoetologische Untersuchung zwei methodische Zugänge miteinander verquickt werden: die Archäologie nach Foucault zur Untersuchung des impliziten Wissens in der Encyclopédie als Archiv sowie die kontrapunktische Lektüre nach Said zur Analyse der ambivalenten Machtartikulationen. Die beiden Ansätze haben ohnehin eine gewisse Nähe zueinander, denn Said versteht sich ausdrücklich in der Foucault’schen Tradition der kritischen Diskursanalyse. Beiden Zugängen ist insbesondere ihr Anliegen gemein: Machtmechanismen der Sag- und Unsagbarkeit des Wissens aufzudecken. Die kontrapunktische Lektüre erlaubt den Zugriff auf die dissimulierten Gegenstimmen und mehr noch auf Störmomente im enzyklopädischen Alteritätsdiskurs. Dabei wird es nicht nur um die Ebene der histoire gehen und um eine Art Typologie der Topoi oder Stereotype des kolonialen Anderen, sondern auch um formalästhetische Strategien zur Konstruktion des kolonialen Anderen (hier insbesondere die narratologischen und intertextuellen Verfahren).

Zur methodischen Anwendbarkeit der Archäologie nach Foucault Um die Encyclopédie als Archiv im Sinne eines Konstruktionsraums von Wissen zu untersuchen, soll Foucaults Analysemethode zur Untersuchung des Archivs, die Archäologie, zur Anwendung kommen und in literaturwissenschaftlicher Hinsicht spezifiziert und konkretisiert werden. Unter Archiv fasst Foucault ein système de la discursivité, aux possibilités et aux impossibilités énonciatives qu’il ménage. L’archive, c’est d’abord la loi de ce qui peut être dit, le système qui régit l’apparition des énoncés comme événements singuliers. Mais l’archive, c’est aussi ce qui fait que toutes ces choses dites ne s’amassent pas indéfiniment dans une multitude amorphe, ne s’inscrivent pas non plus dans une linéarité sans rupture, et ne disparaissent pas au seul hasard d’accidents externes; mais qu’elles se groupent en figures distinctes, se composent les unes avec les autres selon des rapports multiples […]. L’archive, ce n’est pas ce qui sauvegarde, malgré sa fuite immédiate, l’événement de l’énoncé et conserve, pour les mémoires futures, son état civil d’évadé; c’est ce qui, à la racine même de l’énoncé-événement, et dans le corps où il se donne, définit d’entrée de jeu le système de son énonçabilité.223

223 Michel Foucault: L’archéologie du savoir, Paris: Gallimard 1969, S. 170.

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1 Einleitung. Der koloniale Andere in der Encyclopédie

Der methodische Zugriff auf dieses Archiv ist kein einfaches Unterfangen, denn Foucault entwirft selbst kein literaturwissenschaftliches, nicht einmal textanalytisches Instrumentarium, so dass die Forschung sich uneinig darüber ist, wie die Foucault’sche Archäologie zu operationalisieren sei.224 Die zentralen Arbeiten zur Archivanalyse als kulturpoetische Untersuchung auf der paradigmatischen Achse stammen von Baßler,225 weitere textanalytische Zugänge entwickelt Hengst.226 Die Archäologie ist für Foucault keine selbstbewusste Hermeneutik, Interpretation oder Deutung, sondern bescheidet sich mit einer schlichten Beschreibung: «L’archéologie […] n’est pas une discipline interprétative : elle ne cherche pas un ‹autre discours› mieux caché. Elle se refuse à être ‹allégorique›».227 Für die vorliegende Arbeit wird dabei zu prüfen sein, inwiefern dieser Zugang als «une description pure des événements discursifs»228 auf die literaturwissenschaftliche Analyse der Encyclopédie-Artikel übertragen werden kann, in denen vom kolonialen Anderen explizit wie implizit die Rede ist. Von zentraler Bedeutung ist dabei die archäologische Prämisse, dass die Konstruktion des kolonialen Anderen diskursiven Regularien unterworfen ist, die bestimmte enzyklopädische Aussagen über den kolonialen Anderen ermöglichen, andere wiederum unterdrücken. Dies ist insofern ein für die Encyclopédie provokativer Gedanke, schreibt sie sich doch selbst auf die Fahnen in einer universalisierenden und universellen Geste alles Wissen der Welt aufzuführen. Welche Alteritätskonstruktionen ermöglichen also jene «in einer bestimmten Epoche und für eine bestimmte Gesellschaft [geltenden] Grenzen und Formen der Sagbarkeit»229 zu artikulieren? Foucault resümiert in einem Interview seine Methode der Archäologie, indem er sie als Instrumentarium zur Aufdeckung eines impliziten Wissens230 konturiert, das unterhalb des offiziellen, etwa wissenschaftlichen Wissens liegt: 224 Vgl. etwa Brigitte Kaute: Die Ordnung der Fiktion. Eine Diskursanalytik der Literatur und exemplarische Studien, Wiesbaden: Deutscher Universitäts-Verlag 2006; Dimce Paskoski: Foucaults Archäologie und der Diskurs der Literatur, 2002, http://nbn-resolving.de/urn:nbn: de:bsz:352-opus-9550 (24. 09. 2019). 225 Vgl. Moritz Baßler: Die kulturpoetische Funktion und das Archiv. Eine literaturwissenschaftliche Text-Kontext-Theorie, Tübingen: Francke 2005; Moritz Baßler: Was nicht ins Archiv kommt: Zur Analysierbareit kultureller Selektion, 2006, http://www.simonewinko.de/bassler_text.htm (24. 9. 2019). 226 Vgl. Jochen Hengst: Ansätze zu einer Archäologie der Literatur. Mit einem Versuch über Jahnns Prosa, Stuttgart: Metzler 2000. 227 Ebd., S. 182. 228 Michel Foucault: L’archéologie du savoir, S. 41. 229 Vgl. Foucault nach Michael Ruoff: Foucault-Lexikon. Entwicklung – Kernbegriffe – Zusammenhänge, Paderborn: Fink 2009, S. 68. 230 Dies erinnert sehr an die Fleck’sche Beschreibung von Denkstilen, die wissenschaftliche Erkenntnisse nachgerade erst ermöglichen (vgl. Ludwik Fleck: Entstehung und Entwicklung ei-

1.2 Kontrapunktische und wissenspoetologische Lektüren

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Mit ‹Archäologie› meine ich kein Fachgebiet, sondern ein Forschungsfeld, das etwa folgendermaßen aussieht: Kenntnisse, philosophische Ideen und Alltagsansichten einer Gesellschaft, aber auch ihre Institutionen, die Geschäfts- und Polizeipraktiken oder die Sitten und Gebräuche verweisen auf implizites Wissen, das dieser Gesellschaft eigen ist. Dieses Wissen unterscheidet sich tiefgreifend von dem Wissen, das man in wissenschaftlichen Büchern, philosophischen Theorien und religiösen Rechtfertigungen finden kann, aber erst dieses Wissen macht es möglich, dass zu einer bestimmten Zeit eine Theorie, eine Meinung oder eine Praxis aufkommt. So musste erst ein bestimmtes Wissen über Wahnsinn und Nichtwahnsinn, über Ordnung und Unordnung vorhanden sein, damit Ende des 18. Jahrhunderts überall in Europa die großen Einschließungszentren entstehen konnten, und genau dieses Wissen wollte ich untersuchen, als Bedingung der Möglichkeit von Kenntnissen, Institutionen und Praktiken.231

In Abwandlung dieses Zitats müsste für die vorliegende Arbeit formuliert werden: ‹So musste erst ein bestimmtes Wissen über den kolonialen Anderen und die koloniale Welt, über die eigene kulturelle Überlegenheit gegenüber den Fremden außerhalb von Europa vorhanden sein, damit Mitte des 18. Jahrhunderts in Europa das große Aufklärungsprojekt der Encyclopédie über den kolonialen Anderen berichten konnte›. Wichtig im Zusammenhang mit der Untersuchung der Encyclopédie sind also: die Idee des «impliziten Wissens», das auf das apriorische Archiv hinweist, die Idee der Emergenz oder der Konjunkturen von Vorstellungen, Meinungen232 und Konzepten. Hempfer nennt diese diskursive Basis in Bezug auf die Encyclopédie einen neuartigen Denkstil: «[…] vielmehr wird ein Unternehmen wie die Encyclopédie als Synthese des Wissens der Zeit allererst aufgrund eines grundlegend veränderten Denkstils möglich, der für den Fortschritt wissenschaftlicher Erkenntnis eine empirisch gesicherte Wissensbasis verlangt».233 Die basale Aufgabe der Archäologie ist für Foucault, dass sie die Tiefenstruktur in Form von Regelsystemen herausarbeitet, die unterhalb der Aussagen

ner wissenschaftlichen Tatasche. Einführung in die Lehre vom Denkstil und Denkkollektiv, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1980). 231 Michel Foucault: Die Ordnung der Dinge: Ein Gespräch mit Raymond Bellour, in: Daniel Defert u. a. (Hg.): Michel Foucault. Schriften in vier Bänden. Dits et Écrits. Band 1, 1954–1969, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2001, S. 644–652, hier S. 645. Foucault beschreibt in diesem Interview die Archäologie dezidiert nicht als Methode, sondern als ein Forschungsfeld. Diese terminologische Unschärfe hängt m. E. mit der Interdependenz von Untersuchungsgegenstand und Methodik zusammen. 232 Schneider bezeichnet die Encyclopédie insbesondere im Vergleich zum Zedler’schen Universal-Lexicon als «meinungsbildende[s] Werk» (Ulrich Johannes Schneider: Die Erfindung des allgemeinen Wissens, S. 10). 233 Klaus W. Hempfer: Zum Verhältnis von ‹Literatur› und ‹Aufklärung›, S. 15–54, hier S. 27.

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1 Einleitung. Der koloniale Andere in der Encyclopédie

im Text liegen und auf die explizite wie implizite Textpassagen verweisen.234 Foucault spricht hier von «implizitem Wissen», das jeder manifest-textuellen Form innewohnt. Dieser Ausdruck lädt (nicht überraschend) geradezu dazu ein, psychoanalytische Parallelen zu manifesten und latenten Phänomenen zu ziehen und diese indexikalischen bzw. deiktischen Textphänomene als Zielpunkte einer «Archäologie des kulturell Unbewussten»235 zu verstehen. Allerdings verwehrt sich Foucault selbst gegen eine solche psychoanalytisch anmutende Vorstellung von versteckter, ursprünglicher und zu interpretierender Latenz hinter den manifesten Dokumenten: On ne cherche point, au-dessous de ce qui est manifeste, le bavardage a demi silencieux d’un autre discours; on doit montrer pourquoi il ne pouvait être autre qu’il n’était, en quoi i lest exclusif de tout autre, comment il prend, au milieu des autres et par rapport à eux, une place que nul autre pourrait occuper.236

Ebenso wenig geht es ihm um Analysen im Sinne von Einflussforschung, die den intertextuellen Referenzen auf historische Quellentexte nachgeht. Ganz explizit versuche die Archäologie gerade nicht «établir la liste des saints fondateurs; c’est à mettre au jour la régularité d’une pratique dicursive.»237 Dieser polemische Seitenhieb gilt der Ideengeschichte und der Historiographie, gegen die Foucault seine Methode der Archäologie in Anschlag bringt. Die deutliche Abgrenzung von der Ideengeschichte («Or la description archéologique est précisément abandon de l’histoire des idées, refus sytématique de ses postulats»238) liegt einerseits darin, dass es nicht um die Artikulation neuer Ideen und ihrer Verbreitung, nicht um das Nachzeichnen herausragender Entdeckungen oder genialer Menschen («L’instance du sujet créateur, en tant que raison d’être d’une œuvre et principe de son unité, lui est étrangère.»239) geht, sondern dass alle Fundstücke, die zu einem Regelsystem eines Diskurses gehören, gleich zu behandeln sind, egal wer sie formuliert hat, in welchem Maße sie artikuliert sind oder welchen Stellenwert sie für die Geschichtsschreibung haben. Andererseits geht es zentral darum, mit der archäologischen Beschreibung eine Gegenperspektive zu den grundlegenden Zielpunkten der Ideengeschichte, «Genèse,

234 Vgl. Stephan Günzel: Archivtheorie zwischen Diskursarchäologie und Phänomenologie, in: Knut Ebeling/Ders. (Hg.): Archivologie. Theorien des Archivs in Wissenschaft, Medien und Künsten, Berlin: Kadmos 2009, S. 153–162. 235 Hannelore Bublitz: Foucaults Archäologie des kulturellen Unbewussten. Zum Wissensarchiv und Wissensbegehren moderner Gesellschaften, Frankfurt a. M./New York: Campus Verlag 1999. 236 Michel Foucault: L’archéologie du savoir, S. 40. 237 Ebd., S. 189. 238 Ebd., S. 181. 239 Ebd., S. 183.

1.2 Kontrapunktische und wissenspoetologische Lektüren

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continuité, totalisation»240 einzunehmen. Dementgegen sind Foucaults Überlegungen zur Geschichtsschreibung geprägt von einer grundsätzlichen Skepsis gegenüber Kohärenz, Kontinuität und Konzeption eines souveränen Subjekts. Foucault geht es in diametraler Anlage dazu um «différents concepts qui permettent de penser la discontinuité (seuil, rupture, coupure, mutation, transformation)»241 und folglich darum «la forme rassurante de l’identique»242 zu destruieren. Die modernen Geschichtswissenschaften hätten ihm zufolge nämlich große Mühe, sich von den «concepts de seuils, de mutations, de systèmes indépendants, de séries limitées» zu lösen: «Comme si nous avions peur de penser l’Autre dans le temps de notre propre pensée. […] L’histoire continue, c’est le corrélat indispensable à la fonction fondatrice du sujet […].»243 Foucaults Archäologie legt folglich vornehmlich die inhärenten Bruchlinien, Diskontinuitäten und Widersprüche frei als «espaces de dissension».244«Pour l’analyse archéologique, les contradictions ne sont ni apparences à surmonter, ni principes secrets qu’il faut dégager».245 Analog zu dem oben erläuterten Foucault’schen Wissensbegriff koppelt auch der Begriff der Archäologie das Wissen von seinem Wahrheitsanspruch ab 240 Ebd., S. 181. 241 Ebd., S. 12. 242 Ebd., S. 21. 243 Ebd., S. 21 f. Diese Haltung hat in der Geschichtswissenschaft dazu geführt, dass die vorgefundenen (hier: textuellen) Archivinhalte als Dokumente gelesen werden, die von der Vergangenheit zeugen und von einem souveränen Subjekt entzifferbar und in einen kohärenten, teleologischen historischen Zusammenhang einzuordnen sind. Foucault will mit seiner Archäologie Abstand von eben dieser Vorstellung nehmen. Das Dokument ist damit nicht mehr zu verstehen «comme signe d’autre chose» (Michel Foucault: L’archéologie du savoir, S. 182), sondern als Monument: «Disons pour faire bref que l’histoire, dans sa forme traditionnelle, entreprenait de «mémoriser» les monuments du passé, de les transformer en documents et de faire parler ces traces qui, par elles-mêmes, souvent ne sont point verbales, ou disent en silence autre chose que ce qu’elles disent; de nos jours, l’histoire, c’est ce qui transforme les documents en monuments, et qui, là où on déchiffrait des traces laissées par les hommes, là où on essayait de reconnaître en creux ce qu’ils avaient été, déploie une masse d’éléments qu’il s’agit d’isoler, de grouper, de rendre pertinents, de mettre en relations, de constituer en ensembles. Il était un temps où l’archéologie, comme discipline des monuments muets, des traces inertes, des objets sans contexte et des choses laissées par le passé, tendait à l’histoire et ne prenait sens que par la restitution d’un discours historique; on pourrait dire, en jouant un peu sur les mots, que l’histoire, de nos jours, tend à l’archéologie, – à la description intrinsèque du monument» (ebd., S. 14). Foucault betont hier den deskriptiven und nicht evaluativen (oder gar normativen) Charakter der Archäologie, die gerade nicht durch die Fähigkeiten eines weisen, analysierenden und vor allem interpretierenden Subjekts Macht über die Systematisierungen der Diskurse hat. 244 Ebd., S. 200. 245 Ebd., S. 198.

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und befreit es damit von seinem platonischen Gepäck. Ruoff pointiert dies: «Die Archäologie ist eine Methode, die ihre Gegenstände ohne Rücksicht auf deren Wahrheitsgehalt untersucht, denn ausschlaggebend ist allein der Umstand, dass es sich um diskursives Wissen handelt».246 Für die Analyse der Encyclopédie ist das insofern relevant, als nicht mehr unterschieden bzw. evaluiert werden muss, ob die über den kolonialen Anderen in der Encyclopédie kursierenden Diskurse nun wahr oder falsch, Fakt oder Fiktion sind. Vielmehr können sie allesamt als Redeformationen eines kolonialen Wissens gelesen werden, das die Aussagbarkeit oder gerade die Grenzen der Beschreibung und Artikulation des kolonialen Anderen bestimmt. Dies hat auch Konsequenzen für die Benennung der Konstruktionsstrategien im Text in Bezug auf ihre Referenzialität. So muss nicht unterschieden bzw. evaluiert werden, wie oben schon ausgeführt, ob die über den kolonialen Anderen in der Encyclopédie kursierenden Diskurse nun wahr oder falsch, Fakt oder Fiktion sind. Vielmehr können sie allesamt als Redeformationen eines kolonialen Wissens gelesen werden, das die Aussagbarkeit oder gerade die Grenzen der Beschreibung und Artikulation des kolonialen Anderen bestimmt. «Das Forschungsfeld der Archäologie konzentriert sich demnach auf ein nichtwissenschaftliches Wissen und vermeidet eine Vorentscheidung zwischen Theorie und Praxis.»247 Dies ist aber auch für die Rolle und Konzeption der enzyklopädischen Instanz bzw. des sich artikulierenden Subjekts in der Encyclopédie relevant. Balke leitet aus der Foucaultschen Anlage der Encyclopédie die Rolle des philosophe ab, die er mit der des Sammlers kontrastiert und der er Tiefenstruktur, Anthropozentrismus und Repräsentationswillen zuschreibt: Der Figur des Sammlers, der sich bückt, um das auf der «Erdoberfläche» verstreute Wissen aufzulesen, steht daher die Figur des Philosophen gegenüber, dem es um nichts Geringeres als um die Freilegung der Wurzel geht, aus der alles empirisch vorfindliche Wissen entspringt. Während sich der Sammler in der Dimension der Horizontalität (›Erdoberfläche‹) bewegt, steigt der Philosoph in die anthropologisch konzipierte Tiefe hinab, um, wie es d’Alembert 1750 im «Prospekt der Enzyklopädie» formuliert, den «Stammbaum aller Wissenschaften und Künste» zu zeichnen. Verwurzelt ist alles enzyklopädisch gesammelte Wissen in der «Natur des Menschen», also in dem alle Kulturwissenschaften allererst ermöglichenden Kollektivsingular, der, wie Foucault in Les Mots et les Choses gezeigt hat, jene neue humanwissenschaftliche Instanz wird, der es zukommt, alle Repräsentationen zu beglaubigen.248

Und jene anthropologischen Tiefen bzw. Untiefen sind auch Ziel der Analysen von Edward W. Said, der auf der Oberflächenstruktur kolonialistischer Erzähl246 Michael Ruoff: Foucault-Lexikon, S. 69. 247 Ebd., S. 68. 248 Friedrich Balke: Die Enzyklopädie als Archiv des Wissens, S. 155–172, hier S. 156.

1.2 Kontrapunktische und wissenspoetologische Lektüren

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texte des 19. Jahrhunderts die Tiefendimensionen verstummter Perspektiven herausarbeitet.

Zur methodischen Anwendbarkeit der kontrapunktischen Lektüre nach Said Said führt in «Culture and Imperialism» anhand von Modellanalysen britischer und französischer kanonischer Romane des 19. und 20. Jahrhunderts vor, wie alles, «what is silent or marginally present or ideologically represented»,249 in der Literatur als imperialistische Ausschließung sichtbar wird, wenn es aus einer postkolonialen Perspektive beleuchtet wird. Ausgangspunkt der von Said entwickelten «kontrapunktischen Lektüre» ist die Annahme, dass der Roman als literarische Form der bürgerlichen Gesellschaft nicht unabhängig vom Imperialismus zu denken ist. Zentral ist dabei Saids diskursanalytisch fundierter Gedanke, dass die Einzelwerke weniger der kreativen Imaginationsfähigkeit des Autors und/oder Lesers entspringen, sondern: «Culture and the aesthetic forms it contains derive from historical experience».250 Said geht zunächst einmal davon aus, dass es keine homogenen kulturellen Entitäten gibt, vielmehr sind alle Kulturen «involved in one another; none is single and pure, all are hybrid, heterogenous, extraordinarily differentiated, and unmonolithic.»251 Das «cultural archive» liest Said also: not univocally but contrapuntally, with a simultaneous awareness both of the metropolitan history that is narrated and of those other histories against which (and together with which) the dominating discourse acts. In the counterpoint of Western classical music, various themes play off one another, with only a provisional privilege being given to any particular one; yet in the resulting polyphony there is concert and order, an organized interplay that derives from the themes, not from a rigorous melodic or formal principle outside the work. In the same way, I believe, we can read and interpret English novels, for example, whose engagement (usually suppressed for the most part) with the West Indies or India, say, is shaped and perhaps even determined by the specific history of colonization, resistance, and finally native nationalism. At this point alternative or new narratives emerge, and they become institutionalized or discursively stable entities.252

Daher müssen auch jene Gleichzeitigkeit von Imperialismus und der Widerstand gegen ihn bzw. die gewaltsamen Ein- und Ausschlussverfahren stets in ihrer Wechselwirkung in den Blick genommen werden. Said betont die Dialektik von Kolonialismus und Antikolonialismus, von Macht und Ohnmacht und be-

249 250 251 252

Edward W. Said: Culture and Imperialism, London: Vintage 1994, S. 66. Ebd., S. xxiv. Ebd., S. xxv. Ebd., S. 59.

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trachtet etwa Alteritätskonstruktionen «[…] as contrapuntal ensembles, for it is the case that no identity can ever exist by itself and without an array of opposites, negatives, oppositions: Greeks always require barbarians, and Europeans Africans, Orientals, etc.»253 Die Ansatzpunkte für die vorliegende Untersuchung liegen zunächst auf der theoretischen Ebene, auf der Said seine Lektüre‹methode› entwickelt. Er perspektiviert die Lektüren des kulturellen Archivs explizit aus einer literaturwissenschaftlichen bzw. komparatistischen Perspektive heraus. Said knüpft aber auch dezidiert an Foucaults Arbeiten an, die er zwar zur Grundlage seiner Analysen macht, dabei aber deutlich kritisiert, dass Foucault den Imperialismus nicht (ausreichend) berücksichtigt habe.254 Said benennt einen Standpunkt des Wissenschaftlers, der diametral der Auffassung von d’Alembert gegenübergestellt ist. Während d’Alembert seinen philosophe hoch über dem Wissenslabyrinth der Zeit schweben und ihn ordnend auf die Landkarte des Wissens herabschauen und Wege wie Umwege erkennen lässt, nimmt Said entschieden den gegenteiligen Standpunkt ein. Für Said gibt es keinen unbeteiligten und objektiven Punkt außerhalb globaler Verflechtungen der Kulturen, Geschichten oder Individuen, sondern nur einen Standpunkt innerhalb von eurozentrischen nationalen Interessen und Macht und dem Imperialismus.255 Ähnlich wie Foucault, der ja wie beschrieben von der vermeintlichen Angst vor dem Denken des Anderen spricht, erkennt Said die Resistenzen gegenüber dem Anderen – des Denkens, des Selbstbildes. Und so sind insbesondere Wissenschaftler (und Enzyklopädisten!) an der Alterisierung des kolonialen Anderen, in Saids Terminus an der Orientalisierung als machtvoller Konstruktionsleistung beteiligt: «In the writing of philosophers, historians, encyclopedists, and essayists we find character-as-designation as physiological-moral classification: there are, for example, wild men, the Europeans, the Asiatics, and so forth».256

253 Ebd., S. 52. 254 Vgl. ebd., S. 41; weiterhin Michael C. Frank: Diskurs, Diskontinuität und historisches Apriori: Michel Foucaults Die Ordnung der Dinge, Archäologie des Wissens und Die Ordnung des Diskurses, in: Julia Reuter/Alexandra Karentzos (Hg.): Schlüsselwerke der Postcolonial Studies, Wiesbaden: VS Verlag 2012, S. 37–48; Markus Schmitz: Archäologien des okzidentalen Fremdwissens und kontrapunktische Komplettierungen − Edward W. Said: Orientalism und Culture and Imperialism, in: Julia Reuter/Alexandra Karentzos (Hg.): Schlüsselwerke der Postcolonial Studies, Wiesbaden: VS Verlag 2012, S. 107–118; Markus Schmitz: Kulturkritik ohne Zentrum. Edward W. Said und die Kontrapunkte kritischer Dekolonisation, Bielefeld: transcript Verlag 2008. 255 Vgl. Edward W. Said: Culture and Imperialism, S. 55. 256 Edward W. Said: Orientalism, New York: Vintage [1978] 1979, S. 119.

1.2 Kontrapunktische und wissenspoetologische Lektüren

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Said räumt der Literatur eine besondere Rolle im Machtsystem des Imperialismus ein: Er sieht sie – wie die Kultur im Allgemeinen – nicht als abgetrennte Sphäre, in der imperialistische Phänomene mimetisch abgebildet werden oder eben im Sinne ästhetischer Autonomie nichts damit zu tun haben wollen. Literatur und Kultur sind immer immanent mit den Ebenen von Macht und Politik verbunden.257 Dies allein macht aber noch nicht die Schlagkraft der Said’schen Analysen europäischer Romane aus. Bemerkenswert ist seine Annahme, dass Kunst bzw. Literatur und Imperialismus in einem wechselseitigen, sich bedingenden Verhältnis stehen und sich gegenseitig legitimieren. Said behauptet, dass es ohne den Imperialismus258 keinen europäischen Roman gegeben hätte,259 und mehr noch: Ohne den europäischen Roman hätte es auch den Imperialismus in dieser Form nicht gegeben. Der Roman also treibt die Ideen des Imperialismus legitimierend voran: «Empire follows Art and not vice versa».260 Seine eigene Vorgehensweise beschreibt Said dabei eher als Perspektive («read with an effort», «give voice to what is silent») denn als konkretes methodisches Vorgehen. We must therefore read the great canonical texts, and perhaps also the entire archive of modern and pre-modern European and American culture, with an effort to draw out, extend, give emphasis and voice to what is silent or marginally present or ideologically represented [...] in such works. In practical terms, “contrapuntal reading” as I have called it means reading a text with an understanding of what is involved when an author shows, for instance, that a colonial sugar plantation is seen as important to the process of maintaining a particular style of life in England. [...] The point is that contrapuntal reading must take account of both processes; that of imperialism and that of resistance to it, which can be done by extending our reading of the texts to include what was once forcibly excluded [...].261

257 Vgl. ebd., S. 14. 258 Zur Differenzierung von Kolonialismus und Imperalismus führt Said folgende Kriterien an: «As I shall be using the term, ‘imperialism’ means the practice, the theory, and the attitudes of a dominating metropolitan center ruling a distant territory; ‘colonialism’, which is almost always a consequence of imperialism, is the implanting of settlements on distant territory» (Ebd., S. 9). 259 Vgl. ebd., S. 78. «To regard imperial concerns as constitutively significant to the culture of the modern West is, I have suggested, to consider that culture from the perspective provided by anti-imperialist resistance as well as pro-imperialist apology. What does this mean? It means remembering that Western writers until the middle of the twentieth century, whether Dickens and Austen, Flaubert or Camus, wrote with an exclusively Western audience in mind, even when they wrote of characters, places, or situations that referred to, made use of, overseas territories held by Europeans.» (ebd., S. 78) sowie Axel Dunker: Kontrapunktische Lektüren, S. 171. 260 Edward W. Said: Culture and Imperialism, S. 13. 261 Ebd., S. 66 f.

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1 Einleitung. Der koloniale Andere in der Encyclopédie

Die Metapher des Kontrapunktes, die Said aus der Musikwissenschaft entleiht,262 soll veranschaulichen, wie Said die dialektische Figur von Imperialismus und Widerstand denkt. Neben der Hauptstimme, die der Imperialismus machtvoll ausfüllt, wird eine zweite Stimme bzw. mehrere Stimmen hörbar, die als Gegenstimme(n) unter den imperialen Verlautbarungen liegen. Es gilt, diese unterdrückte Stimme herauszuhören oder anders formuliert: «In reading a text, one must open it out both to what went into it and to what its author excluded».263 Said möchte mit dieser Art der Lektüre keine Gegeninterpretationen zu bestehenden Textanalysen liefern, sondern bestehende ergänzen und damit die Rezeption umschreiben, vervollständigen oder ergänzen, die andere Lektüren jedoch nicht beeinträchtigen oder ersetzen: «I think of such a reading as completing or complementing others, not discounting or displacing them».264 Die Anwendung des Said’schen Textzugangs als Instrumentarium für die Analysen der Encylcopédie bietet sich aus mehreren Gründen an. Mittels der kontrapunktischen Lektüre lassen sich die in der vorliegenden Untersuchung anvisierten Ambivalenzen in den Widerstandsmomenten innerhalb eines machtvollen Kolonialdiskurses fokussieren, indem die Gleichzeitigkeit von Macht und Widerstand als Prämisse zugrunde gelegt wird. Als textanalytisches Instrument ist es sehr flexibel, da es weder methodisch noch methodologisch von Said festgelegt noch klar definiert ist. Gleichwohl gibt es (mindestens) drei schlagende Argumente, die die Problematik einer kontrapunktischen Lektüre der Encyclopédie artikulieren. Diese betonen erstens die dichotome Grundierung des Said’schen Modells. Macht und Widerstand, Kolonialdiskurs und ohnmächtige Stimmen: Said operiert mit binären Vorstellungen, die im Folgenden in meinen Analysen gerade überwunden werden sollen. Zweitens ist Saids Vorgehensweise eine, die sich dezidiert anhand literarischer Texte, die mit Dimensionen von Individualität und Kanonbildung operieren, ausformuliert hat. Said beschreibt seinen Zugang selbst wie folgt: My method is to focus as much as possible on individual works, to read them first as great products of the creative or interpretative imagination, and then to show them as

262 Vgl. dazu die Erläuterungen von Alexander Honold: Poetik des Fremden? Zur Verschränkung interkultureller und postkolonialer Literatur-Dynamiken, in: Gabriele Dürbeck/Axel Dunker (Hg.): Postkoloniale Germanisitk. Bestandsaufnahmen, theoretische Perspektiven, Lektüren, Bielefeld: Aisthesis 2014, S. 71–103, hier S. 86 ff. und Julian Osthues: Literatur als Palimpsest. Postkoloniale Ästhetik im deutschsprachigen Roman der Gegenwart, Bielefeld: transcript Verlag 2017, bes. S. 93 f. 263 Edward W. Said: Culture and Imperialism, S. 67, in der deutschen Übersetzung findet sich hier die schönere Formulierung des «Abdichtens». 264 Ebd., S. 95.

1.2 Kontrapunktische und wissenspoetologische Lektüren

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part of the relationship between culture and empire. I do not believe that authors are mechanically determined by ideology, class, or economic history, but authors are, I also believe, very much in the history of their societies, shaping and shaped by that history and their social experience in different measure. Culture and the aesthetic forms it contains derive from historical experience, which in effect is one of the main subjects of this book.265

Said wendet seine Lektüre auf große Texte des 19. und 20. Jahrhunderts an, also gerade nicht auf den Zeitraum der Aufklärung. Gleichwohl sind diese Zeiträume miteinander verbunden, wobei ihre Verklammerung unterschiedlich bewertet worden ist. Dass der Orientalismus eine Konsequenz, wenn nicht gar eine kausale Folge aus der Aufklärung ist, unterstreichen Williams/Chrisman und beziehen imperiale Macht und Wissensordnungen immanent aufeinander: The Enlightenment’s universalising will to knowledge [...] feeds Orientalism’s will to power. The latter then stands as an example of the production of knowledge as (certainly on balance, if not categorically) negative: stereotyping, Othering, dominatory.266

Der Transfer ist im vorliegenden Projekt also historisch, generisch und theorieanachronistisch: vom 19./20. Jahrhundert zu einem Gegenstand des 18. Jahrhundert; von der großen Literatur (auch wenn Said selbst den Roman als «an incorporative, quasi-encyclopedic cultural form»267 in die Nähe der Encyclopédie rückt) auf einen enzyklopädischen Text; und schließlich von einer gegenwartsbezogenen post-kolonialen Theoriebildung auf einen durch und durch kolonial(istisch)en Gegenstand des 18. Jahrhunderts. Drittens ist gerade die Flexibilität der von Said formulierten kontrapunktischen Lektüre nicht unproblematisch. Da es sich um keine systematisch entworfene Methode, sondern eher um eine Art Lesehaltung handelt, stellt sich die Frage nach der Operationalisierbarkeit der Methode. Es ist sogar fraglich, inwiefern die kontrapunktische Lektüre eine literaturwissenschaftliche Methode darstellt (und damit der Foucault’schen Diskursanalyse sehr ähnelt), sondern eher um einen Lesegestus, eine ethische oder politische Lesehaltung, die auf diversen Ebenen jene kontrapunktische Faktur der Erzähltexte ausmachen will. Für die wissenspoetologische Analyse der Alteritätskonstruktionen in der Encyclopédie eignet sich die kontrapunktische Lektüre dennoch – wenn auch aufmerksam für die Bedingungen ihrer Entstehung im Said’schen Kontext. Zum einen lässt sich die historische Ausweitung der kontrapunktischen Lektüre auf

265 Ebd., S. xxiv. 266 Patrick Williams/Laura Chrisman (Hg.): Colonial discourse and post-colonial theory. A reader, New York: Harvester Wheatsheaf 1993, S. 8. 267 Edward W. Said: Culture and Imperialism, S. 71.

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1 Einleitung. Der koloniale Andere in der Encyclopédie

ein Textkorpus des 18. Jahrhunderts durch die kolonialistischen Diskursstränge und die Affinität zum Literarischen plausibilisieren. Denn der Kolonialdiskurs ist durchaus (schon) in den Aufklärungstexten und so auch in der Encyclopédie präsent. In der Encyclopédie selbst wird sogar mit Othering-Narrativen und -Verfahren operiert, die dann im französischen (und besonders britischen) Roman des 19. Jahrhunderts ihre dezidierten literarischen Ausformulierungen erfahren (vgl. Ausführungen im Ausblickskapitel 3.2.). Zum anderen lässt sich die kontrapunktische Lektüre für Fragen der Autorität über Wissensartikulationen in der Encyclopédie fruchtbar machen. Innerhalb der Aufklärung ist der Modus des kritischen Denkens, des Zweifelns und der rationalen Überlegung entscheidend für die Textproduktion. Dementsprechend ist aber auch die Frage nach der Autorität über den kolonialistischen Diskurs nicht so eindeutig zu beantworten. Eine kontrapunktische Lektüre kann hier sowohl den machtvollen kolonialistischen Diskurs dekonstruieren als auch jene Zweifel und erratischen Argumentationsbewegungen hervortreten lassen. Implizite wie explizite Ambivalenzartikulationen können so sichtbar gemacht werden. Doch an welchen Textebenen wäre nun eine solche kontrapunktische Lektüre anzusetzen? Said formuliert in Culture and Imperialism in dieser Hinsicht keine methodologische Systematik, sondern geht eher exemplarisch vor. Imperialismus und Widerstand gegen ihn sieht er etwa auf textimmanenter, kontextbezogener, intertextueller und rezeptionsästhetischer Ebene am Werk. Er selbst äußert sich zwar methodologisch nicht explizit dazu, nimmt aber sehr wohl einige Beispielanalysen vor. Zunächst einmal geht Said thematisch oder motivisch, man könnte vielleicht auch sagen: imagologisch vor. Werden in Romanen, etwa wie in Austens Mansfield Park, koloniale Besitzungen erwähnt, werden in Verdis Aida exotistische und orientalistische Topoi benutzt, werden in Kiplings Kim britische Kolonialmacht und Widerstandsmomente gegen sie thematisiert, so wecken diese Texte Saids Interesse für eine kontrapunktische und damit doppelstimmige Lektüre für die stabilisierenden und destabilisierenden Momente kolonialer Autoritätsbekundungen. Diese diegetische oder textimmanente Lektüre wird von Said jedoch stets unmittelbar an das historische, kulturelle Wissen der Zeit angeschlossen. Ohne dass Said dies in seinen Ausführungen zur theoretischen Herleitung der kontrapunktischen Lektüre explizit benennt, könnte man sagen, dass es sich um eine diskursanalytische Vorgehensweise handelt, die am Foucault’schen Diskursbegriff geschult und in der Tradition postkolonialer Kritik unmittelbar auf die diskursiven Machtmechanismen kolonialer bzw. imperialer Autoritäten abzielt. Dunker formuliert hierfür eine Engführung von Close Reading und Diskursanalyse.268 In diesem Sinne gerät immer die kontextbezogene 268 Vgl. Axel Dunker: Negationen, Oppositionen und Subtexte, 2008b, http://www.literaturkritik.de/public/rezension.php?rez_id=11997 (24. 09. 2019).

1.2 Kontrapunktische und wissenspoetologische Lektüren

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Ebene in den Blick, die den Kolonial- bzw. Imperialdiskurs im Hinblick auf Hinzuziehung historischer Fakten und kritischer Revision der offiziellen Geschichtsschreibung meint – die literatursoziologische Fragen nach der literarischen Repräsentation von Klassenunterschieden und wirtschaftlichem Wohlstand, die unmittelbar aus dem Kolonialismus resultieren. Diese Analysen basieren dann meist auf der intertextuellen Ebene im Hinblick auf die kotextuelle In-BeziehungSetzung mit anderen literarischen Texten (Vorgängern, aber auch Nachfolgern), die die literarische Bearbeitung imperialer Diskursmuster umfasst, d. h. sowohl die Stabilisierung, also Legitimation des Kolonialismus, als auch die Destabilisierung, also den Widerstand gegen die Kolonialmacht. Und schließlich nimmt Said auch die rezeptionsorientierte Eben ein den Blick. Wird die Handlung eines literarischen Textes etwa in eine französische Kolonie verlegt und nimmt die Rezeption allein die existenz-philosophischen Aussagen des Textes wahr – und dies ist nach Said für Camus’ berühmten Roman L’étranger geschehen –, so stellt der Rezeptionskontext für Said ein Indiz (wenn nicht gar ein Muss) für eine kontrapunktische Lektüre des Textes und der Rezeption dar. Wird weiterhin eine Oper wie Aida als Auftragswerk geschrieben, so kann man laut Said auch die Produktionsbedingungen nicht vernachlässigen. Als Lesehaltung rückt die kontrapunktische Lektüre demgemäß in die Nähe rezeptions- und wirkungsästhetischer Annahmen269 – und ginge damit mit Dunker270 noch über die Hermeneutik hinaus. Der Roman in kontrapunktischer Perspektive ist damit nicht nur eine Diskurse speichernde, «incorporative, quasi-encyclopedic cultural form»,271 sondern die kolonialen Unbestimmtheitsstellen im Text fordern geradezu eine Ergänzung und kritische Revision durch die Leserschaft heraus. Daraus resultiert eine postkoloniale Leseethik, mit der Said die den Imperialismus und damit den Eurozentrismus stabilisierenden Romane konfrontieren will. Das Attribut des «Einverleibenden» wäre auch im Zusammenhang mit der Encyclopédie zu prüfen, in dem Sinne, dass Wissen nicht nur gesammelt und aufbewahrt, sondern zum eigenen Wissen deklariert und diskursiv geformt würde. Diese Nostrifizierungen sollen als machtvolle Diskursmechanismen im Text aufgedeckt werden, und nicht als Schwächen der Enzyklopädisten oder gar der ganzen französischen Aufklärung. Auch Dunker betont in seinen kontrapunktischen Lektüren deutschsprachiger Texte des 19. Jahrhunderts, dass die kontrapunktische Lektüre zwar durchaus

269 Die Dimension der Wirkungsästhetik ist nicht nur durch das ‹Sendungsbewusstsein› der Aufklärung zu plausibilisieren, sondern sie spiegelt auch wider, dass Wissen ein kulturell generiertes Phänomen ist und damit eine immanent soziale und kommunikative Dimension innehat. 270 Vgl. resümierend Axel Dunker: Kontrapunktische Lektüren, S. 170. 271 Edward W. Said: Culture and imperialism, S. 71.

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1 Einleitung. Der koloniale Andere in der Encyclopédie

Exklusionen sichtbar machen kann, aber keineswegs denunziatorisch vorgehen solle.272 In diesem Sinne sind die folgenden kontrapunktischen Lektüren der Encyclopédie an den ambivalenten Diskursmechanismen interessiert, die den kolonialen Alteritätsdiskurs als Wissensdiskurs in der Encyclopédie prägen. Die kontrapunktische Lektüre nach Said findet erst langsam Eingang in die literaturwissenschaftliche Forschung. In der interkulturellen, postkolonialen Germanistik gibt es erste terminologische Arbeiten zur Erfassung der Methode sowie zu ihrer Operationalisierbarkeit.273 In der französischsprachigen Literaturwissenschaft ist die Beschäftigung mit einer lecture contrapuntique noch ein Desiderat, wie insgesamt die postkolonialen Studien noch marginal und äußerst umstritten sind.274 Der kontrapunktischen Lektüre kommen jene Ansätze nahe, die etwa wie Privat eine «lecture ethnocritique» vorschlagen: Si la lecture littéraire est bien un mode de connaissance et pas seulement de reconnaissance, alors une culture ethnologique […] est à développer […] pour dépasser des aveuglements culturellement intéressés, plus généralement pour étendre «l’expérience ethnologique» à sa propre culture, fût-ce au risque d’exhiber son propre arbitraire culturel.275

Dubiel wiederum schließt an die oben mit Dunker ausgeführte Problematik an, wie verschwiegene Stimmen überhaupt aufgefunden und artikuliert werden können, ohne mit einer Lesehaltung eines Generalverdachts oder in seinen Worten: denunziatorisch vorzugehen. Dubiel betont, dass nicht jede Leerstelle im Text entweder subjektivistisch (Dubiel nennt dies eine «‹paranoische Lek-

272 Vgl. Axel Dunker: Kontrapunktische Lektüren, S. 171. 273 Vgl. Jochen Dubiel: Dialektik der postkolonialen Hybridität, Bielefeld: Aisthesis 2007, als zentrale Studie vgl. Axel Dunker: Kontrapunktische Lektüren, zu postkolonialen Poetiken auch Oliver Lubrich: Das Schwinden der Differenz: Postkoloniale Poetiken. Alexander von Humboldt – Bram Stoker – Ernst Jünger – Jean Genet, Bielefeld: Aisthesis 2004. 274 Vgl. etwa Marie-Claude Smouts/Georges Balandier (Hg.): La situation postcoloniale. Les «Postcolonial studies» dans le débat français, Paris: Sciences Po Presses 2007; Jean-François Bayart: Les études postcoloniales. Un carnaval académique, Paris: Karthala 2010; Nicolas Barcel: Ruptures postcoloniales. Les nouveaux visages de la société frana̧ise, Paris: La Découverte 2010; Jean-Marc Moura: Littératures francophones et théorie postcoloniale, Paris: PUF [1999] 2013; Achille Mbembe: La France à l’ère post-coloniale, in: Cahiers français, 342, 2008, S. 47– 52; Achille Mbembe: Faut-il provincialiser la France?, in: Pierre Janin (Hg.): Surveiller et nourrir: politique de la faim, Paris: Karthala 2010, S. 159–188; Jean-Loup Amselle: L’Occident décroché. Enquête sur les postcolonialismes, Paris: Stock 2008; sehr kritisch gegenüber den postkolonialen Ansätzen als universitärem Karneval (Jean-François Bayart: Les études postcoloniales). 275 Jean-Marie Privat: Ethnocritique et lecture littéraire, in: Véronique Cnockaert/Ders./Marie Scarpa (Hg.): L’ethnocritique de la littérature. Anthologie, Québec: Presses de l’Université du Québec 2011, S. 27–34, hier S. 33.

1.2 Kontrapunktische und wissenspoetologische Lektüren

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türe›»276 oder gar «‹paranoische Spekulation›»277) oder (kultur-)kolonialistisch ausdeutbar ist, sondern textimmanent und textadäquat belegt werden muss.278 Dubiel fordert nachdrücklich eine textindizienindizierte Lektüre und Interpretation: «Strebt er [der Leser, K. S.] eine ‹kontrapunktische Lektüre› an, darf er in solcher Absicht also getrost mit dem Wissen um die Mechanismen des kolonialen und die Probleme des postkolonialen Diskurses an die Texte herantreten, muß sich aber davor hüten, es in sie hineinzulegen».279 Zum Vorgehen. Diese Textindizien werden in der vorliegenden Untersuchung zunächst auf der Ebene der Figuren, dann auf der Ebene der narratologischen und intertextuellen Konstruktion untersucht. Die kontrapunktische Lektüre zielt in einem ersten Schritt (Saids eigenem Leseverfahren nahestehend) in einem imagologischen Zugang auf die Figuren des kolonialen Anderen, welche in unterschiedlichen Distanz- und Nähebeziehungen zum europäischen Selbst konstruiert werden – egalisiert, antithetisch idealisiert bzw. dämonisiert. Darüber hinaus werden diese Alteritätsfiguren hier in einer narratologischen und intertextuellen Lektüre untersucht, als autoritäre Organisation von Rede, Stilmitteln und textuellen Verweis- und Belegverfahren. Diese Untersuchungsebene verknüpft die literaturwissenschaftliche Methodik aus den Bereichen der Narratologie und Intertextualität mit postkolonialen, machtkritischen Fragen. Daher wird die kontrapunktische Lektüre dann anschließend auf die formal-ästhetische Ebene appliziert und die Macht stützenden Verfahren der Erzählautorität und der intertextuellen Legitimation der Wissensordnungen werden gezeigt. Alteritäre Figuren in der französischen Literatur sind in der Forschung aus unterschiedlichen, disziplinären Perspektiven in den Blick geraten: Die geschichtswissenschaftliche, philosophische und literaturwissenschaftliche Forschung hat zahlreiche Arbeiten zur Figur des Kannibalen,280 zum Fremden in der französischen Aufklärung hervorgebracht;281 zur Geschichte der außereuro-

276 Jochen Dubiel: Dialektik der postkolonialen Hybridität, S. 218. 277 Ebd., S. 219. 278 Vgl. ebd., S. 218. 279 Ebd., S. 219. 280 Vgl. bspw. Stefanie Arend: Interkulturelle Begegnungen: Europäer und Kannibalen in der (Reise-)Literatur der Frühen Neuzeit: von Kolumbus bis Wezel, in: Hans-Jürgen Lüsebrink (Hg.): Das Europa der Aufklärung und die außereuropäische koloniale Welt, Göttingen: Wallstein Verlag 2006, S. 326–352 oder Joseph Jurt: Die Kannibalen: erste europäische Bilder der Indianer – von Kolumbus bis Montaigne, in: Monika Fludernik (Hg.): Der Alteritätsdiskurs des Edlen Wilden. Exotismus, Anthropologie und Zivilisationskritik am Beispiel eines europäischen Topos, Würzburg: Ergon-Verlag 2002, S. 45–63. 281 Vgl. Jürgen Osterhammel: Distanzerfahrung: Darstellungsweisen des Fremden im 18. Jahrhundert, S. 9–42; Hubert Baysson: L’idée d’étranger chez les philosophes des Lumières, Paris:

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1 Einleitung. Der koloniale Andere in der Encyclopédie

päischen Erfahrungen mit dem Anderen die detaillierte und materialreiche Studie von Bitterli,282 der allerdings die Encyclopédie nur am Rande erwähnt; sowie Arbeiten zum Bild Amerikas und seiner Einwohner283 und jenseits der Aufklärung auch zu Figuren des 19. Jahrhunderts.284 Im Folgenden wird ferner an die (weitestgehend) imagologischen Arbeiten angeknüpft, die sich mit den narrativen Konstruktionen der kolonialen Welt in der Encyclopédie befassen. In der Encyclopédie-Forschung sind nur vereinzelte, oftmals in Aufsätzen skizzierte Arbeiten über die Rolle des kolonialen Anderen zu verzeichnen. Während Discherl 285 oder die Beiträge im Band von Albertan Coppola/Chouillet 286 die Rolle des Menschen im Allgemeinen als Wissenskategorie in Diderots Oeuvre und damit auch in der Encyclopédie untersuchen, nehmen andere die Encyclopédie-Einträge etwa zum Thema Sklaverei,287 zum Afrikabild 288 oder zur Rolle des Chinesischen289 in den Blick. Zum Thema des Kolonialismus legt Benot zentrale Studien vor.290 Allerdings führt er die Untersuchung der Kolonialfrage in der französischen Aufklärung in erster Linie auf die Thematik des Sklavenhandels zurück. Ergebnis seiner Textanalysen ist, dass

L’Harmattan 2003 und Jean Mondot (Hg.): Regards de/sur l’étranger au XVIII e siècle, Bordeaux: PU Bordeaux 2007. 282 Vgl. Urs Bitterli: Die Wilden und die Zivilisierten. 283 Vgl. Tzvetan Todorov: Die Eroberung Amerikas. Das Problem des Anderen, Frankfurt a. M.: Suhrkamp [1982] 2008; Horst Dippel: Faszination und Wandel im europäischen Amerikabild: Vom Eldorado zum Paradigma, in: Hans-Joachim König/Wolfgang Reinhard/Reinhard Wendt (Hg.): Der europäische Beobachter außereuropäischer Kulturen. Zur Problematik der Wirklichkeitswahrnehmung, Berlin: Duncker & Humblot 1989, S. 83–96. 284 Vgl. Karl Hölz: Zigeuner, Wilde und Exoten. Fremdbilder in der französischen Literatur des 19. Jahrhunderts, Berlin: Erich Schmidt Verlag 2002. 285 Vgl. Klaus Discherl: Diderot auf der Suche nach einem Diskurs über den Menschen, in: Hans-Ulrich Gumbrecht/Ursula Link-Heer (Hg.): Epochenschwellen und Epochenstrukturen im Diskurs der Literatur-und Sprachhistorie, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1985, S. 126–140. 286 Vgl. Sylviane Albertan-Coppola/Anne-Marie Chouillet (Hg.): La matière et l’homme dans l’Encyclopédie. Actes du colloque de Joinville (10–12 juillet 1995), Paris: Klincksieck 1998. 287 Vgl. Karen Gloy: Vernunft und das Andere der Vernunft, S. 195–242; Véronique Le Ru: Subversives Lumières. L’Encyclopédie comme machine de guerre, Paris: CNRS Éditions 2007, hier S. 195–242. 288 Vgl. Yves Benot: La Révolution française et la fin des colonies. Essai, Paris: La Découverte 1989; Ute Fendler/Susanne Greilich: Afrika in deutschen und französischen Enzyklopädien des 18. Jahrhunderts, in: Hans-Jürgen Lüsebrink (Hg.): Das Europa der Aufklärung und die außereuropäische koloniale Welt, Göttingen: Wallstein Verlag 2006, S. 113–137. 289 Vgl. Yoichi Sumi: L’Encyclopédie située à mi-chemin entre l’est et l’ouest, l’avant et l’après, in: Recherches sur Diderot et sur l’Encyclopédie 40–41 (2006), DOI: 10.4000/rde.354. 290 Vgl. Yves Benot: Les Lumières, l’esclavage, la colonisation, S. 164–172.

1.2 Kontrapunktische und wissenspoetologische Lektüren

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in der Encyclopédie das europäische Projekt der Entdeckungen eher unkritisch beurteilt wird.291 Die vorliegende Arbeit knüpft an die Forschungsergebnisse von Mix an, der ebenfalls Alterität und Identität in Beziehung setzt und in den Kontext der wissenspoetologischen Prämissen der Aufklärung setzt: Das Verhältnis von Alterität und Identität ist demnach [...] nicht nur in der ästhetischen Praxis, sondern auch im Kontext der Wissensvermittlung [...] ein zentrales Thema. [...] Das Wissen um inter- und intrakulturelle Verflechtungen und Differenzen trug und trägt zur Perspektivierung andersartiger Erfahrungs- und Handlungsräume, zur Pluralisierung von Realitätsentwürfen, zur produktiven Konfrontation mit nicht kommunem Alltagswissen und differenzierteren Identitätsbildungen und Orientierungen bei.292

In einem zweiten Schritt werden diese machtvollen Ordnungsmechanismen auf den ‹Sand im Getriebe› hin untersucht, d. h. auf Momente der Ambivalenz. Diese Ambivalenzen eröffnen sich also sowohl innerhalb der machtvollen Diskurse, indem die kontrapunktische Komplexität vermeintlich stabiler Wissenskanons, -figuren oder autoritäten herausgearbeitet werden, als auch in Form von jenen Figuren des kolonialen Anderen, die als Zwischenfiguren die Ordnungskategorien selbst in Frage stellen. Dabei zeigt sich, dass Widerstand nicht nur die klassischen Mittlerfiguren (wie etwa der «weiße Neger», der «Mulatte» oder der «Scharlatan») hervorbringt, die die Ordnungen stören, sondern dass schon die Einordnung in die Wissenssysteme von einem ambivalenten Machtgestus zeugt.293 Widerstand drückt sich auch in Textbrüchen aus, die auf die problematische poetische Inszenierung jener Alteritätsfiguren hinweisen: der Wechsel von Erzählebenen oder intertextuelle Verfahren, die weniger die Argumentationen konsolidieren als die Leserschaft desorientieren. Damit geht die hier angelegte Perspektive in doppelter Weise über die kontrapunktische Lektüre von Said hinaus: erstens beschreibt sie sie auf einer konkreten literaturwissenschaftlichen Methodik (Narratologie und Intertextualität), andererseits versteht sie den von Said anvisierten Widerstand nicht als eine gegendiskursive Textstrategie – also schlicht die Umkehrung des machtvollen europäischen Aufklärungsdiskurses – sondern sieht den Widerstand in der Infragestellung durch Verunsicherung, ambivalente Arti-

291 Vgl. ebd., S. 170. 292 York-Gothart Mix: Identität und Alterität als Gegenstand interkultureller Aufklärungsforschung, in: Konrad Feilchenfeldt/Ursula Hudson/Ders. u. a. (Hg.): Zwischen Aufklärung und Romantik. Neue Perspektiven der Forschung. Festschrift für Roger Paulin, Würzburg: Königshausen & Neumann 2006, S. 289–302, hier S. 291. 293 Vgl. zum postkolonialen Stereotyp Homi K. Bhabha: Die Verortung der Kultur, Tübingen: Stauffenburg 2000, bspw. S. 97–124.

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1 Einleitung. Der koloniale Andere in der Encyclopédie

kulationen, Schweigen und Kontingenzmomente in den Wissensordnungen und -kategorien. In diesem Sinne geht es in den folgenden Analysen um die literarästhetische Faktur der Alteritätsdiskurse, also mit Dunker um eine «diskursanalytische Lektüre, die aber die ästhetische Faktur des Textes zu berücksichtigen hat»294 und damit «Alterität vor allem in der Struktur der Texte»295 aufsucht. Ambivalenzlektüren. Das konzeptuelle wie methodische Novum der vorliegenden Untersuchung liegt in einem spezifischen Ambivalenzbegriff, der die Said’sche Kontrapunktik aus der dichotomen Anlage der Denkfigur herauslöst und dynamisiert. Der Widerstandsbegriff wird von Said im Bild des Kontrapunktischen als Gegenstimme entworfen, die als bis dato verstummte Stimmen als veritable Gegenperspektive zum machtvollen Kolonialdiskurs beschrieben werden kann. Nun bringt aber diese Akzentuierung der Widerstandsseite auch Probleme mit sich. Dieses antithetische Konzept des Kontrapunktes bleibt in einem dichotomen und binären Denken verhaftet. Die Problematik daran ist, dass weiterhin kolonialistische Dichotomien repetiert, damit auch in gewisser Weise legitimiert oder zumindest konsolidiert werden. Auf dieses Verhaftetsein in kolonialistischen Dichotomien bei Said hat u. a. auch Bhabha hingewiesen, der eine hybride, dekonstruktivistische(re) Lesart des Kolonialdiskurses angeregt und gefordert hat.296 Die Gleichzeitigkeit von Macht und Widerstand, die Said ja perspektivieren will, läge dann nicht nur auf einer Seite der kolonialistischen Dichotomien (Kolonisator/Kolonisierter, Zentrum/Peripherie, schwarz/weiß, Europa/Kolonien etc. pp.), sondern auch zwischen ihnen und mehr noch: innerhalb der Positionen. Diese ‹Bhabha’sche› Sichtweise soll den Said’schen Begriff des Widerstands durch jenen der – wenn man so will: kontrapunktischen – Ambivalenz kritisch fortschreiben. Dieser ermöglicht nämlich sowohl eine differenziertere Beschreibungskategorie einer antithetischen Position gegenüber der Kolonialmacht, die nicht so stark mit aktivem Widerstand, Gegenwehr oder Widerworten assoziiert wird, als auch die Dekonstruktion des machtvollen Kolonialdiskurses selbst, indem sie innerhalb des machtvollen Sprechens über den kolonialen Anderen Störungen, Brüchigkeiten, Unstimmigkeiten, Widersprüchlichkeiten etc. aufdeckt. So kann eine kontrapunktische Lektüre innerhalb des Kolonialdiskurses die dichotomen Hierarchien selbst noch einmal ‹kontrapunktieren›. Das zweischrittige Vorgehen in der vorliegenden Arbeit, «Figuren und Figurationen der Macht» und «Figuren und Figurationen der Ambivalenz» erfolgt aus heuristischen Gründen und ist dem Umstand geschuldet, dass sich die Ana-

294 Axel Dunker: Kontrapunktische Lektüren, S. 11. 295 Ebd., S. 12. 296 Vgl. Homi K. Bhabha: Die Verortung der Kultur, bes. S. 105 f.

1.2 Kontrapunktische und wissenspoetologische Lektüren

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lyse gleichzeitiger Textmomente in eine argumentationslogische Abfolge bringen lassen muss. Im Folgenden werden also zunächst Macht- und im Anschluss Widerstands-, bzw. Ambivalenzanalysen durchgeführt, obwohl dies den Anschein einer erneuten, methodisch replizierten Binarität erwecken könnte. Da die Textanalysekapitel symmetrisch angelegt sind, kann der/die Leser_in auch direkt die korrespondierenden Ambivalenzanalysen lesen, indem er/sie zum entsprechenden Kapitel blättert. Damit ergäbe sich auch eine Art enzyklopädisch-kontrapunktischer Lesemodus, da die Encyclopédie ja auch nicht als linearer Text rezipiert wird und wurde und indem die machtvoll gesteuerte Textreihenfolge in einen eigenen Lektüreablauf gebracht wird. Das textanalytische Vorgehen wird im Folgenden primär textimmanent sein und seinen Ausgang in textuellen Markierungen nehmen. Dabei ist vor allem das Schweigen über den kolonialen Anderen bzw. sein diskursiver Ausschluss nicht ganz unproblematisch in präsentischen Textphänomenen zu finden und vor allem plausibel zu begründen. Anders formuliert (und wie oben schon in Reaktion auf Dubiel angedeutet): Bloße Absenz ist noch kein Textindiz. Man könnte Gefahr laufen, in jedem beliebigen Encyclopédie-Artikel aufzeigen zu können, dass der koloniale Andere oder die koloniale Welt nur implizit bzw. gänzlich ausgeschlossen und dies auf die machtvollen Exklusionsmechanismen des Kolonialdiskurses zurückführen ist. Diese Lesart ist zwar als Leseethik und politisierte Lesehaltung möglich, scheint mir aber für ein konkret textanalytisches Vorgehen nicht zielführend zu sein. Eine Herausforderung ist die Ausformulierung des Wissens über den kolonialen Anderen, die faktenbasiert sein soll und gleichzeitig der Alterität des Anderen gerecht werden soll. Dies wird insbesondere unter dem Begriff der Alteritätspoetik näher ausgeführt, denn hier wird das Problem fokussiert, dass Dunker in seiner Beschäftigung mit der kontrapunktischen Lektüre als Assimilation des Anderen durch die Einverleibung in die eigenen Schreib- und Denksysteme erkennt: «Schon im Prozeß der bloßen Wahrnehmung wird dem Anderen sein Recht auf Eigenständigkeit genommen».297 Für die Analysen der formal-ästhetischen Alteritätskonstruktionen werden in einem ersten Schritt narratologische Zugänge insbes. nach Genette gewählt, bei denen Genettes Analyseebenen von Modus und Stimme an die Texte angelegt werden. In einem zweiten Schritt werden intertextuelle Verfahren zur Evozierung von Wissen in den Blick genommen, wobei insbesondere das explizierte Verhältnis zum Hypotext sowie intratextuelle Referenzverfahren analysiert werden. Die Verknüpfung von postkolonialen Fragestellungen und narratologischen bzw. intertextuellen Textzugängen stellt dabei insbesondere im Bezug auf Wis-

297 Axel Dunker: Kontrapunktische Lektüren, S. 10.

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1 Einleitung. Der koloniale Andere in der Encyclopédie

senstexte wie die Encyclopédie eher ein Novum in der Forschung dar. Zur postkolonialen Erzähltheorie bzw. Narratologie gibt es einige Arbeiten, vornehmlich aus der anglistischen/amerikanistischen Literaturwissenschaft, in denen etwa Figurenperspektiven oder Erzählebenen mit Fragen von kolonialistischer Diskursmacht korreliert werden. Wegweisend sind dabei die Arbeiten von Bal, die narratologische Ansätze für kulturwissenschaftliche Fragestellungen fruchtbar gemacht hat. Jüngst hat sie vier zentrale Gründe für die Narratologie formuliert,298 die auch die Relevanz der narratologischen Verfahren für die Analyse der Encyclopédie unterstreichen: so etwa ihre anthropologische Fundierung («1) Narrative is the most widespread semiotic mode of expression, within literature and outside it») und ihre manipulative Wirkung («2) It is socially useful to understand how narrative works because it is so frequently deployed for manipulation, political and otherwise») oder ihre explikative Funktion für kulturelle Differenzen: «I have found narratology a brilliant tool for cultural analysis, helpful, also, to understand cultural differences».299 Diese Artikulationen kultureller Differenz gehen nicht ohne Ein- und Ausschlussverfahren, ohne Hierarchisierungen und Diskriminierungen einher, die sich auch auf der Ebene der erzähltheoretischen Verfahren niederschlagen. In dem – immer noch grundlegenden – Artikel von Birk und Neumann zur postkolonialen Erzähltheorie deklarieren diese, das Ziel der postkolonialen Narratologie sei, «figurale Bewußtseinsvorgänge zu analysieren» und damit die Artikulationen von Identität und Alterität in ihren Wechselwirkungen zu fokussieren. Sie zielen da auf, «Differenzen und Interpenetrationen von Erzähler- und Figurensprache sowie auf mögliche Interdependenzen zwischen Heterostereotypen und Autostereotypen aufzuzeigen».300 Birk und Neumann schließen «Multiper-

298 Mieke Bal: My Narratology. An Interview with Mieke Bal, in: DIEGESIS. Interdisciplinary E-Journal for Narrative Research/Interdisziplinäres E-Journal für Erzählforschung 5, 2 (2016), S. 101–104, https://www.diegesis.uni-wuppertal.de/index.php/diegesis/article/download/241/ 333 (23. 09. 2019). 299 Ebd., S. 102. 300 Hanne Birk/Birgit Neumann: Go-between: Postkoloniale Erzähltheorie, in: Ansgar Nünning/Vera Nünning (Hg.): Neue Ansätze in der Erzähltheorie, Trier: WVT 2002, S. 115–152, hier S. 125 f. Explizit zur «postcolonial narratology» vgl. Gerald Prince: On a Postcolonial Narratology, in: James Phelan/Peter J. Rabinowitz (Hg.): A Companion to Narrative Theory, Oxford: Blackwell 2005, S. 372–381; Ruth Gilligan: Towards a ‹narratology of Otherness›. Colum McCann, Ireland, and a new transcultural approach, in: Studies in the Novel 1, 48 (2016), S. 107–125. Einen Überblick über eine Art alteritäre Narratologie in der Mediävistik legt die Rezensentin Putzo unter diesem Begriff vor (vgl. Christine Putzo: Alteritäre Narratologie. Eine Einführung in mittelalterliches Erzählen als Beitrag zur mediävistischen Perspektivierung der Erzähltheorie, in: DIEGESIS 3.1 (2014), S. 104–117).

1.2 Kontrapunktische und wissenspoetologische Lektüren

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spektivität und Heteroglossie»301 ein, Figurendarstellungen, Perspektiven- und Raumstrukturen.302 Sie nennen etwa als konkrete textanalytische Ebene die Stimme, die sie als «voice» aus der Typologie von Lanser ableiten und bspw. durch die Differenzierung von public und private voice zur Untersuchung des öffentlichen und damit partizipativen Rederechts nutzen.303 Unter focalization fassen die Autorinnen die Möglichkeit der Figuren, als Fokalisierungsinstanz fungieren zu können oder dürfen. Schließlich binden sie die Möglichkeiten der literarischen Inszenierung von Multiperspektivität gleichermaßen an postkoloniale Fragen von Identität, Alterität und Hybridität, sowie an Bachtins Überlegungen der Dialogizität und Polyphonie.304 Im Hinblick auf die inhaltliche Gestaltung der Figuren nehmen Birk und Neumann die Figurenkonzeption, -charakterisierung und -konstellation in den Blick. Die folgenden Textanalysen werden in der Perspektive von Wissenskonstruktionen und Alteritätsinszenierungen ebenfalls die Kategorien der Stimme und der Fokalisierung nutzen, allerdings in Anlehnung an die narratologischen Kategorien von Genette und mit der Perspektive auf die epistemologischen OtheringProzesse. Sie erlauben es, Dimensionen von Wissensvorsprung und -vermittlung, Autorisierung und Unterdrückung von Wissensperspektiven in den Blick zu nehmen und postkolonial und wissenspoetologisch auszudeuten. Das Novum dieser Arbeit ist dabei einerseits die theoretische Analyse und Ausformulierung eines enzyklopädischen Erzählers, der sich in den Encyclopédie-Artikeln artikuliert. Die Autorität über die Wissensbestände und -konstruktionsprozesse können somit als narratologische Inszenierungen untersucht werden.305 Inwiefern zeigt sich eine inhärente Ambivalenz in den Artikulationen des enzyklopädischen Erzählers? Inwiefern lassen sich hier postkoloniale und aufklärerische Inszenierungen von Wissen ausmachen? Andererseits liefert die vorliegende Arbeit erstmals Textanalysen zur ambivalenten und relationalen Ausgestaltung narratologischer Othering-Prozesse. Hier werden nicht nur imagologische oder diskurstheoretische Alteritätsfiguren rekonstruiert, sondern die ambivalenten Positionierungen und Interdependenzen von europäischem philosophe und kolonialem Anderen beleuchtet.

301 Hanne Birk/Birgit Neumann: Go-between: Postkoloniale Erzähltheorie, S. 127. 302 Vgl. ebd., S. 129. 303 Vgl. ebd., S. 131. 304 Vgl. ebd., hier S. 132. 305 Vgl. dazu auch Michael Scheffel: Formen und Funktionen von Ambiguität in der literarischen Erzählung, in: Frauke Berndt/Stephan Kammer (Hg.): Amphibolie – Ambiguität – Ambivalenz, Würzburg: Königshausen & Neumann 2009, S. 89–103, der Formen narrativer Ambiguität insbesondere als narratologische Verfahren untersucht.

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1 Einleitung. Der koloniale Andere in der Encyclopédie

Die Stimme im Text lässt sich aber nicht nur als Artikulationsmodus und -raum untersuchen, sondern auch als eine Art Echokammer verschiedener Intertexte. Birk und Neumann vergleichen dafür Texte und ihre Prätexte und fahnden nach den Artikulationsräumen sowie den Verfahren der Umschrift meist kolonialer Prätexte in postkolonialen Texten. Birk/Neumann betonen dabei die Aktivierung einer Rezeptionshaltung, mittels derer die Leserschaft durch die bewusste und komparatistische Lektüre von Text und Prätext sowie den Abgleich eigener Wahrnehmungsmuster die Divergenzen erkennt und kritisch zu evaluieren versteht.306 Folglich wäre nach Birk/Neumann die postkoloniale Intertextualität in erster Linie ein rezeptionsästhetisches Lektüreverfahren; erst in zweiter Linie ginge es um die intertextuellen Transformationsstrategien, die in der postkolonialen Literaturwissenschaft ihre begrifflichen Niederschläge in den Konzepten des tendenziell eher produktionsästhetischen und intentionalen «rewriting» oder «writing back» gefunden haben (vgl. bspw. Thiemes Arbeit zu den verschiedenen postkolonialen Kon-Texten307). Writing back und rewriting sind wiederum für die folgenden Analysen nur sehr beschränkt einsetzbar, da es sich bei den Encyclopédie-Artikeln nur sehr bedingt um intendierte, kolonial-kritisch subversive Verfahren intertextueller und hier insbesondere: ästhetisch-literarischer Adaptionen handelt. Die enzyklopädische Bezugnahme auf Quellentexte dient zwar durchaus auch der kritischen Infragestellung epistemischer Autoritäten und Macht (dies zeigt sich poetologisch ausformuliert in Diderots Artikel Encyclopédie,308 auf den noch ausführlicher eingegangen wird, insbes. im Kapitel 2.2.2.2) – ein postkolonialkritisches rewriting kolonialistischer Quelltexte jedoch findet sich nicht. Dies liegt m. E. an der Dezentralität des Kolonialkurses innerhalb der Encyclopédie: Weder intentional noch quellenbezogen ist die Encyclopédie post-kolonial 309 ausgerichtet, um in erster Linie die vorgängigen (oder zeitgenössischen) Koloni-

306 Vgl. Hanne Birk/Birgit Neumann: Go-between: Postkoloniale Erzähltheorie, S. 142. 307 Vgl. John Thieme: Post-colonial Contexts. Writing Back to the Canon, London: Bloomsbury 2001, vgl. weiterhin Julian Osthues: Rewriting, in: Dirk Göttsche/Axel Dunker/Gabriele Dürbeck (Hg.): Handbuch Postkolonialismus und Literatur, Stuttgart: Metzler 2017, S. 216–219. 308 Denis Diderot: Encyclopédie, S. 635–648. 309 Hier meint postkolonial selbstredend nicht eine historisch-chronologische, sondern die epistemisch-programmatische Stoßrichtung des Konzepts (vgl. zur Präfixdebatte in den Postcolonial Studies grundlegend Stuart Hall: Wann war der ‹Postkolonialismus›: Denken an der Grenze, in: Elisabeth Bronfen/Benjamin Marius/Therese Steffen (Hg.): Hybride Kulturen. Beiträge zur anglo-amerikanischen Multikulturalismusdebatte, Tübingen: Stauffenburg 1997, S. 219– 246 und zum Überblick Karen Struve: Postcolonial Studies, in: Stephan Moebius (Hg.): Kultur. Von den Cultural Studies bis zu den Visual Studies. Eine Einführung, Bielefeld: transcript Verlag 2012, S. 88–107.

1.3 Die Encyclopédie, ou Dictionnaire raisonné des Sciences

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altexte zu revidieren und ihnen parodistisch oder responsiv eine Art Gegendiskurs entgegenzustellen. Gleichwohl lassen sich die Verfahren der intertextuellen Implementierung der Prätexte in den Encyclopédie-Artikel als kritisch-revisionistische Einbettungsverfahren analysieren und hier auf der Ebene des enzyklopädischen Artikels – und weniger in der komparatistischen Perspektive – machtvolle Ein- und Ausschlussverfahren, Kommentierungen und normative Bewertungen ausmachen. In den folgenden Textanalysen der Encyclopédie wird daher im Anschluss an Bachtin, Kristeva und Genette ein intertextueller Zugang entwickelt, der die textimmanente Lektüre favorisiert und die intertextuellen Phänomene als wissenspoetologische und koloniale Erzählverfahren ausdeutet. Dabei spielen einerseits die von Bachtin geprägten Überlegungen zur dialogischen Komplexität des Wortes, in dem sich simultan unterschiedliche Weltsichten mitartikulieren, und sein Begriff der Ambivalenz eine Rolle. Hier wird – und daran lässt sich die Foucault’sche Archäologie gut anschließen – eine Polyphonie im Text herausgearbeitet, die gegen die Monologizität oder das Univoke (mit Said) opponiert. Andererseits wird der Fokus mittels Kristevas erweiternder Rezeption Bachtins auf die Ebene des Textes selbst gelegt. Damit werden die intertextuellen Zugänge übertragbar für die Untersuchung eines nicht genuin literarischen Textes und für die Analyse jenseits von Autorintention und -kompetenz. Um jene intertextuellen Strategien in Form von Textmarkierungen aber beschreiben zu können, sollen die Systematisierungen der «Transtextualität» von Genette zum Einsatz kommen (vgl. Kapitel 2.1.2.2).

1.3 Gegenstandskonstitution: Die Encyclopédie, ou Dictionnaire raisonné des Sciences, des Arts et des Métiers (1751–1772) Stollberg-Rilinger zufolge weist die Wissenskultur der Aufklärung drei zentrale Charakteristika auf: erstens ein theoretisch-spekulatives Wissen, das mit praktisch-technischem Wissen zur Verbesserung der Lebensverhältnisse verbunden wird; zweitens das Öffentlichkeits- und Kritikprinzip, dem die Prüfung, Verbreitung und Popularisierung des Wissens obliegt und drittens der Kosmopolitismus und Universalismus. Diese globale Perspektivierung steht dabei einer gleichzeitigen Etablierung sozialer Trennlinien, die zwischen den geistigen Eliten und der Masse des Volkes scharf trennen, diametral gegenüber. Der Bildungsauftrag und die Pädagogikprojekte der Aufklärung sind für StollbergRilinger eine klare Konsequenz daraus, die wiederum auch auf die sog. primitiven und wilden Völker ausgreift.310 Globale Perspektiven, praktisches und eru310 Vgl. Barbara Stollberg-Rilinger: Nachwort, S. 135.

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1 Einleitung. Der koloniale Andere in der Encyclopédie

diertes Wissen, kritisches Räsonnieren und narrative Inszenierung von Wissen sind auch die zentralen Merkmale des Schlüsselwerks der französischen Aufklärung: der Encyclopédie. Zunächst als Übersetzung der englischen Cyclopaedia; or, An Universal Dictionary of Arts and Sciences von Ephraim Chambers (1728) geplant, welches 1728 in zwei Bänden in England erschienen war, wird die Encyclopédie von Diderot und d’Alembert schnell zum «Symbol der Aufklärung».311 Die beiden Herausgeber dieser Übersetzung, Denis Diderot und Jean Baptiste Le Rond d’Alembert, machten sich daran, das Wissen der Zeit zu sammeln, zu ordnen und aufzuschreiben. Dabei steht die Encyclopédie in einer komplexen und weitverzweigten Tradition der Wissensprojekte und im engeren Sinne von Enzyklopädien312 in Frankreich und Europa: Ihre Vorläufer sind nicht nur das Chamber’sche Projekt, sondern auch das Bayle’sche Dictionnaire von 1697 oder etwa das Dictionnaire universel de Trévoux von 1704. Im Gegensatz zu Bayle differenziert die Encyclopédie die Wissenssystematisierung noch deutlich aus; im Gegensatz zum Dictionnaire de Trévoux, dem großen Konkurrenzprojekt, ist die Encyclopédie explizit nicht religiös motiviert und oszilliert wegen der drohenden Zensurgefahr auch immer zwischen klerikaler Anbiederung und (versteckter) Kirchenkritik.313 Überdies ist sie nicht thematisch, sondern alphabetisch organisiert. Das ist zwar keineswegs ein Novum oder eine aufklärerische Spezifik der Encyclopédie, schafft aber eine Wissensanordnung, die erstens ein spezifisches «allgemeines Wissen» bereitstellt. Im Gegensatz zu anderen und anterioren Wissensprojekten stellen sich die Artikel nicht nur in den Dienst einer szientifischen Gelehrsamkeit, sondern artikulieren eine Sachorientierung, «mit der die allgemeinbildenden Enzyklopädien selbständig werden und sich von der universitären und akademischen Kultur der Wissensdisponierung durch Systematisierung

311 Cerstin Bauer-Funke: Die französische Aufklärung. Literatur, Gesellschaft und Kultur des 18. Jahrhunderts, Stuttgart: Klett 2007, S. 74; vgl. weiterhin Ulrich Dierse: Encyclopédie, in: Heinz Thoma (Hg.): Handbuch Europäische Aufklärung. Begriffe, Konzepte, Wirkung, Stuttgart: Metzler 2015, S. 139–149. 312 «Enzyklopädien sind», so fasst Schneider die generellen Prinzipien zusammen, «im pragmatischen Sinn Wissensmaschinen mit einem Anspruch auf sachliche Orientierung, mit einer hohen Leistung der Informationsvermittlung und mit einer Ausrichtung auf möglichst unkomplizierte Benutzbarkeit.» (Ulrich Johannes Schneider: Die Erfindung des allgemeinen Wissens, S. 23). 313 So ziehen einige aktuelle Forschungen auch explizit den Vergleich mit den zeitgenössischen digitalen Wissenskompendien (wie Wikipedia) heran wie bspw. Robert Charlier: Von der ‹Encyclopédie› zu ‹Wikipedia›: Zur epistemischen Erfolgsgeschichte der europäischen Aufklärung, in: Ders. (Hg.): Wissenswelten. Historische Lexikografie und Europäische Aufklärung, Hannover: Wehrhahn 2010, S. 13–37).

1.3 Die Encyclopédie, ou Dictionnaire raisonné des Sciences

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und Hierarchisierung entkoppeln können».314 Zweitens können durch die alphabetische Reihung Diskurshierarchien und Machtverhältnisse in Frage gestellt werden. Die Encyclopédie gewinnt also ihre Brisanz einerseits durch die alphabetische Anordnung,315 die etwa den «roi» nicht weit vom «rogue» platziert und damit diskursive Proximitäten entfernter Wissensbereiche schafft. Auch Diderot und d’Alembert kommentieren die alphabetische Anordnung eingehend – prominent im Discours préliminaire von d’Alembert, aber auch schon im Prospectus von Diderot und sogar in Werbeprospekten von 1745 und 1750.316 Die alphabetische Anordnung verkehrt sich dann mit Gipper von einer Ordnung als eine ästhetische Strategie in die einer irrégularité, die eine Aleatorik in der Relationierung unterschiedlicher Wissensbereiche zum Ausdruck bringt.317 Dass diese Aleatorik auch nachgerade komisch-burleske Momente hervorrufen kann, betont schon Diderot im Eintrag Encyclopédie selbst: «L’ordre alphabétique donneroit à tout moment des contrastes burlesques; un article de Théologie se trouveroit relégué tout autravers des arts méchaniques».318 Andererseits ist die Systematisierung des menschlichen Wissens im Rahmen des enzyklopädischen Wissensbaums (vgl. dazu die Anmerkungen weiter oben) ein wirkungsvolles Moment und laut d’Alembert neben der Zuordnung zum Wissensgebiet und dem Verweissystem zwischen den Einträgen das dritte zentrale enzyklopädische Ordnungsprinzip. In den enzyklopädischen Einträgen erfolgt die Zuordnung zu den Wissensgebieten zumeist unmittelbar hinter dem Lemma. Dies ist gelegentlich aber auch versäumt worden bzw. nicht immer eindeutig. Auf diese Inkonsistenzen hat die Encyclopédie-Forschung bereits hingewiesen,319 die sie als «editorisches Chaos»320 bezeichnet. Aber auch d’Alembert hat in seinem Discours préliminaire hier schon vorgebaut, indem er die Zuordnung der intelligenten Lektüre der Leserschaft überantwortet und dies ausgerechnet am Beispiel des Wortes «Bombe» verdeutlicht:

314 Ulrich Johannes Schneider: Die Erfindung des allgemeinen Wissens, S. 18). 315 Die alphabetische Anordnung wird ganz im Sinne Gippers als ästhetische Strategie der irrégularité verstanden, die Aleatorik in der Relationierung unterschiedlicher Wissensbereiche zum zentralen Merkmal hat (vgl. dazu bspw. Andreas Gipper: Wunderbare Wissenschaft, S. 323 f.). 316 Vgl. Christine Theré/Loïc Charles: Un nouvel élément pour l’histoire de l’Encyclopédie: le ‹Plan› inédit du premier éditeur, Gua de Malves, in: Recherches sur Diderot et sur l’Encyclopédie 39, 2005, S. 105–122. 317 Vgl. dazu Andreas Gipper: Wunderbare Wissenschaft, S. 323 f.). 318 Denis Diderot: Encyclopédie, S. 642. 319 Vgl. bspw. Richard N. Schwab/Walter E. Rex: Inventory of Diderot’s ‹Encyclopédie›, in: Studies on Voltaire and the eighteenth century 80 (1971), S. 5–213. 320 Schwab nach Ulrich Johannes Schneider: Die Erfindung des allgemeinen Wissens, S. 56.

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1 Einleitung. Der koloniale Andere in der Encyclopédie

S’il arrive que le nom de la Science soit omis dans l’article, la lecture suffira pour connoître à quelle Science il se rapporte ; & quand nous aurions, par exemple, oublié d’avertir que le mot Bombe appartient à l’art militaire, & le nom d’une ville ou d’un pays à la Géographie, nous comptons assez sur l’intelligence de nos lecteurs, pour espérer qu’ils ne seroient pas choqués d’une pareille omission.321

Man kann konstatieren, dass die Anordnung nach Alphabet, die Unterordnung theologischer Sinnsysteme und die Adressierung der Leserschaft derart aufklärerisch und antiklerikal waren, dass das Projekt schon durch die Anlage der Encyclopédie zum Ziel von Anwürfen, Zensurangriffen und Feinden wurde. In der Encyclopédie vereinigen sich also neben der Vulgarisierung und Popularisierung des Wissens mehrere Momente aufklärerischer Kritik an Dogmen, Autoritäten, bestehenden Wissensbeständen – und dies mit globalem Weitblick, wie Lüsebrink ja betont. Leca-Tsiomis führt in diesem Sinne als wesentliche Felder der Kritik Politik, Religion, Barbarei, Moral oder Denkverbote an.322 Für die vorliegende Arbeit ist dabei insbesondere jenes enzyklopädische Moment von zentraler Bedeutung, das die Encyclopédie im Zentrum eines globalen Wissensraumes verortet. Das Wissen der Aufklärung visiert explizit einen globalen Horizont an, in dem das Wissen über die koloniale Welt, den Anderen und den Umgang mit Alterität abgebildet wird: Das Ziel ist, die koloniale Welt in die Encyclopédie aufzunehmen, zuzuordnen, zu kategorisieren und normativ zu verankern, denn, so Lüsebrink, der «Wissenstransfer aus der kolonialen Welt nach Europa gewann im 18. Jahrhundert – auch dies ist zweifelsohne ein Spezifikum des Aufklärungszeitalters – eine neue intellektuelle Dimension».323 Es gibt einen neuen Erkenntniswillen über den kolonialen Anderen: Ebenso wichtig, aber komplexer und widersprüchlicher ist die zweite Form des Umbruchs der Beziehungen zwischen Europa und der kolonialen Welt im 18. Jahrhundert: Sie betrifft die intellektuelle und – im weiteren Sinn – kulturelle Ebene, d. h. die Form des Wissens und der Erkenntnis über die koloniale Welt, ihre Bewohner und Gesellschaften und Kulturen, ihre Tier- und Pflanzenwelt, aber auch ihre Geschichte, ihre Sprachen und Literaturen und die sich hieraus ergebenden Konsequenzen für den interkulturellen Dialog zwischen Europa und der außereuropäischen kolonialen Welt. Dieser neue, alle Gesellschaften des damaligen Europa erfassende ‹Erkenntniswille› – eine ‹volonté de savoir›, um Michel Foucaults Formel

321 Jean Le Rond d’Alembert: Discours Préliminaire de l’Encyclopédie, S. 104. 322 Marie Leca-Tsiomis: L’Encyclopédie: entre héritages et innovations, Qu’est-ce que l’Encyclopédie?, in: Édition Numérique Collaborative et CRitique de l’Encyclopédie, 2015, http://enccre .academie-sciences.fr/encyclopedie/documentation/?s=2& (24. 09. 2019). 323 Hans-Jürgen Lüsebrink: Von der Faszination zur Wissenssystematisierung: die koloniale Welt im Diskurs der europäischen Aufklärung, S. 13.

1.3 Die Encyclopédie, ou Dictionnaire raisonné des Sciences

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aufzunehmen – war gleichermaßen von exotischer Faszination und philosophischem Denkimpetus beherrscht. […] So beschäftigt sich die République des Lettres Europas in ihren Medien und Institutionen […] mit grundlegenden Fragen wie der Legitimation des Kolonialismus oder der Abschaffung der Negersklaverei […].324

Die Publikationsgeschichte des Werkes – hier rekurriere ich im Wesentlichen auf die Arbeiten von Blom und Darnton325 – ist denkbar wechselhaft, denn die Veröffentlichung gestaltet sich alles andere als einfach. Das Geld ist knapp, die Gunst diverser Adliger und Salondamen muss gewonnen werden (zu den Förderern der Encyclopédie gehörten auch der oberste Zensor Malesherbes sowie Madame de Pompadour), um das nötige Geld und Mitarbeiter aufzutreiben. Neben dem Mitherausgeber d’Alembert gehören zu den Autoren Rousseau, Marmontel, de Jaucourt und nicht zuletzt Voltaire. Zur Existenz und Zuordnung der Artikel zu den einzelnen Autoren ist ebenfalls eine umfangreiche Forschung zu verzeichnen, deren zentrale Arbeiten von Proust und Kafker stammen.326 In der vorliegenden Arbeit werden allerdings insbesondere für die Zuordnung der Autorschaft zu den einzelnen Encyclopédie-Einträgen die neuesten Forschungsergebnisse berücksichtigt (auch wenn diese sich zu großen Teilen durchaus auf die Arbeiten von Kafker stützen), die in der jüngst eingerichteten digitalisierten und kritisch kommentierten Édition Numérique Collaborative et CRitique de l’Encyclopédie ou Dictionnaire raisonné des sciences, des arts et des métiers (1751– 1772) von ausgewiesenen, internationalen Encyclopédie-Expert_innen zusammengetragen wurden.327

324 Ebd., S. 10. 325 Philipp Blom: Das vernünftige Ungeheuer oder Robert Darnton: The business of enlightenment. Die Forschungsarbeiten zu Enzyklopädien im Allgemeinen sind Legion und von unterschiedlichen fachwissenschaftlichen Impulsen inspiriert (Linguisitik, Diskursanalyse, Kulturgeschichte etc.). Hier sei nur exemplarisch verwiesen auf die Forschungsarbeiten zur Enzyklopädik der Frühen Neuzeit von etwa Franz M. Eybl (Hg.): Enzyklopädien der frühen Neuzeit. Beiträge zu ihrer Erforschung, Tübingen: Niemeyer 1995; Marie Leca-Tsiomis: Les Dictionnaires en Europe, in: Dix-Huitième siècle, 38, 1, 2006, S. 4–16 sowie spezifisch zur Formatierung von Wissen vgl. den Sammelband von Theo Stammen/Wolfgang E. J. Weber (Hg.): Wissenssicherung, Wissensordnung und Wissensverarbeitung. Das europäische Modell der Enzyklopädien, Berlin: Akademie Verlag 2004. 326 Vgl. einschlägig Jacques Proust: L’Encyclopédie, Paris: Armand Colin 1965; Frank A. Kafker: The encyclopedists as a group. A collective biography of the authors of the Encyclopédie, Oxford: Voltaire Foundation 1996; Frank A. Kafker/Serena L. Kafker: The Encyclopedists as individuals. A biographical dictionary of the authors of the Encyclopédie, Oxford: Voltaire Foundation at the Taylor Institution 1988 sowie Louis Ducros: Les encyclopédistes, Paris: Honoré Champion 1900. 327 Vgl. Denis Diderot/Jean Le Rond d’Alembert (Hg.): Encyclopédie (ENCCRE).

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1 Einleitung. Der koloniale Andere in der Encyclopédie

Das Projekt wird von zahlreichen Enzyklopädisten geschrieben: Diderot selbst verfasst mehr als 5000 Artikel zu den Themengebieten Philosophie, Literatur, Geschichte und Moral, Voltaire schreibt über 40 Artikel, Rousseau verfasst Artikel über die Musik, Montesquieu schreibt seinen berühmten Artikel zum Geschmack, Baron d’Holbach328 ist für die Gebiete der Chemie und Mineralogie, Marmontel für die Literatur zuständig. Die heiklen Artikel zur Theologie und zur Metaphysik werden von Abbé Morellet übernommen (den Blom als einen der subversivsten Aufklärer unter den Enzyklopädisten ausweist, da dieser in langatmigen und gottesfürchtigen Artikeln Details und Fakten so viel Gewicht gibt, dass er den religiösen Glauben quasi ausnüchtert und erstickt 329). Eine für die vorliegende Untersuchung über die Konstruktionen des kolonialen Anderen relevante Rolle spielt der Enzyklopädist de Jaucourt, der nicht nur nach Ausscheiden d’Alemberts einen Mammutteil der Enzyklopädiearbeit übernimmt und viel eigenes Geld in das Projekt fließen lässt, sondern der auffällig viele geographische wie ‹anthoropologische› Artikel zur kolonialen Welt beisteuert. Zudem wirken an dem Werk Handwerker und Juristen, Architekten und Mediziner mit, sprich: Menschen, die ihr tägliches Handwerk den Enzyklopädisten schildern und sie und vor allem die Graveure in ihre Werkstätten lassen. In den oben ausgeführten Beschreibungen zur enzyklopädischen Bestimmung von Wissen («connaissances») und Autorschaft wurde schon deutlich, dass die Herausgeber explizit auf diese Pluralität und Heterogenität der Autor(en)schaft der Encyclopédie hinweisen und als ihr diskursives Moment nachgerade beharren.330 Diderot betont hier: L’univers ne nous offre que des êtres particuliers, infinis en nombre, & sans presqu’aucune division fixe & déterminée ; il n’y en a aucun qu’on puisse appeller ou le premier ou le dernier ; tout s’y enchaîne & s’y succede par des nuances insensibles ; & à-travers cette uniforme immensité d’objets, s’il en paroît quelques-uns qui, comme des pointes de ro-

328 Blom widmet u. a. Baron d’Holbach eine weitere Studie, den er für einen – vor allem im Vergleich zu Diderot – vergessenen Enzyklopädisten hält (vgl. Philipp Blom: Böse Philosophen: Ein Salon in Paris und das vergessene Erbe der Aufklärung, Carl Hanser Verlag, München 2011). 329 Vgl. Philipp Blom: Das vernünftige Ungeheuer, S. 146 f. 330 Dies geschieht aus unterschiedlichen Gründen: Angst vor Zensur und Inhaftierung, aber auch zur Betonung des kollektiven Charakters der Encyclopédie, deren weltumspannendes und viele Wissensbereiche integrierendes Ziel nur durch viele Autoren mit diversen Expertisen überhaupt realisierbar ist. Diderot benennt dies explizit im Eintrag Encyclopédie: «Quand on vient à considérer la matiere immense d’une Encyclopédie, la seule chose qu’on apperçoive distinctement, c’est que ce ne peut être l’ouvrage d’un seul homme» (Denis Diderot: Encyclopédie, S. 635).

1.3 Die Encyclopédie, ou Dictionnaire raisonné des Sciences

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chers, semblent percer la surface & la dominer, ils ne doivent cette prérogative qu’à des systèmes particuliers, qu’à des conventions vagues, qu’à certains évenemens étrangers, & non à l’arrangement physique des êtres & à l’intention de la nature. Voyez le Prospectus.331

Alle Fäden aber laufen bei Diderot zusammen. Er redigiert, korrigiert und lektoriert die Artikel, schickt Korrekturfahnen an die Autoren, übersieht die vergebenen Artikel und das diffizile Verweissystem zwischen ihnen und verfasst nicht zuletzt selbst mehr als 5000 Artikel zu unterschiedlichen Themenbereichen. Noch während der Arbeit am ersten Band der Enzyklopädie wird er verhaftet und verbringt viele Monate im Château de Vincennes, von dem aus er das Projekt weiterleitet. 1750 endlich wird der Prospectus zur Enzyklopädie gedruckt und die Herausgeber können zur Subskription aufrufen.332 Hier werden die Rahmenbedingungen für die Encyclopédie annonciert. 1751 erscheint der erste Band der Encyclopédie, ou Dictionnaire raisonné des Sciences, des Arts et des Métiers, par une société de gens de lettres. Mis en ordre par M. Diderot de l’Académie Royale des Sciences et Belles-Lettres de Prusse; et quant à la partie mathématique, par M. d’Alembert de l’Académie Royale des Sciences de Paris, de celle de Prusse et de la Société Royale de Londres, der den berühmten Discours préliminaire aus der Feder von d’Alembert enthält und die gesamte Programmatik und Systematik der Encyclopédie formuliert. Nach dem Erscheinen des zweiten Bandes wird die Encyclopédie 1752 sogar kurzzeitig verboten, so dass Diderot sich verstecken muss. Es gibt massive Kritik vonseiten der Jesuiten und der Jansenisten, 1758 gibt D’Alembert seine aktive Mitarbeit als Herausgeber auf. 1759 setzt Papst Clemens XIII. die Enzyklopädie auf den Index. 1772 liegt das Werk schließlich mit 28 Bänden und damit rund 74.000 Einzelartikeln vor.333 17 Foliobände, 11 Bände

331 Ebd., S. 640. 332 2500 Subskribenten und 4200 verkaufte Exemplare belegen den enormen Erfolg der Encyclopédie (vgl. Cerstin Bauer-Funke: Die französische Literatur des 18. Jahrhunderts: Historische Entwicklung, S. 703–711; Ulrich Johannes Schneider: Die Erfindung des allgemeinen Wissens, vgl. weiterhin zur Publikations- und Rezeptionsgeschichte der Encyclopédie Robert Darnton: Glänzende Geschäfte. Die Verbreitung von Diderots ‹Encyclopédie› oder: Wie verkauft man Wissen mit Gewinn?, Berlin: Wagenbach 1993). 333 Das Team der digitalisierten Ausgabe ENCCRE gibt in ihrem Pressedossier folgende (beeindruckende) Statistik an: «Notre équipe y a collaborativement repéré plus 74 000 vedettes, plus de 67 000 désignants, plus de 26 600 indications grammaticales et plus de 41 000 signatures. Elle a vérifié et corrigé les cibles de plus de 60 000 renvois. Elle a aussi procédé à la saisie des diverses informations (titres, noms de graveurs et de dessinateurs) figurant sur les 2 579 planches de l’édition.» (Alexandre Guilbaud/Marie Leca-Tsiomis/Irène Passeron u. a.: Édition Numérique Collaborative et CRitique de l’Encyclopédie ou Dictionnaire raisonné des sciences, des arts et des métiers (ENCCRE). Dossier de Presse, in: http://www.bibliothequemazarine.fr/presse/espace-presse/dpenccrecomp.pdf. 2017 [10. 10. 2019]).

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1 Einleitung. Der koloniale Andere in der Encyclopédie

mit über 2500 Kupferstichen zeigen das gesamte Wissen im Sinne der Aufklärung. 1772–1777 erscheinen, allerdings nicht mehr unter der Mitwirkung Diderots, vier weitere Supplément-Bände und ein weiterer Planches-Band; 1780/81 werden in Amsterdam noch 2 Registerbände publiziert.334 Korpuskontur. In der vorliegenden Arbeit zur kontrapunktischen Lektüre der wissenspoetologischen Konstruktionen des kolonialen Anderen in der Encyclopédie werden die Artikel der unter der Herausgabe von Diderot erschienenen, ersten vollständigen Ausgabe der Encyclopédie von 1751–1772 inkl. Prospectus,335 allerdings ohne die Nachdrucke und ohne Planches336 untersucht. Das Untersuchungskorpus beinhaltet also neben den 17 Textbänden auch Prospectus (1750) und Discours préliminaire (1751) sowie die Avertissements der Bände 3 (1753) und 8 (1765), da Diderot und d’Alembert hier Überlegungen zur Poetik und zur Poiesis der Encyclopédie-Artikel formulieren, die für die wissenspoetologische Untersuchung zentral sind. Die folgenden Analysen erfolgen des Weiteren primär auf der Grundlage des Digitalisats der Encyclopédie. Bei den zentral konsultierten Digitalisaten handelt es sich um die Redon-Ausgabe der Encyclopédie auf CD-ROM von 2000337 sowie zur korrigierenden Überprüfung die webbasierte, indizierte Ausgabe von Garnier.338 Für die Angabe der jeweili-

334 Vgl. zur Publikationsgeschichte der Encyclopédie etwa Marie Leca-Tsiomis: La bataille de la publication, Histoire de l’entreprise, in: Édition Numérique Collaborative et CRitique de l’Encyclopédie, 2015, http://enccre.academie-sciences.fr/encyclopedie/documentation/?s=49& (24. 09. 2019). 335 Dieser Text ist ein zweiter Prospectus, denn Le Breton hatte das Übersetzungsprojekt bereits 1745 mit einem Prospectus bewerben lassen. Als es dann zum Bruch mit den Übersetzern Sellius und Mills kam, wurde Diderot in das Projekt eingebunden und schrieb einen neuen Aufruf zur Subskription (vgl. bspw. Yoichi Sumi: Le second Prospectus de l’Encyclopédie (1750), Histoire de l’entreprise, chap. I: Les prémices et les années de préparation, in: Édition Numérique Collaborative et CRitique de l’Encyclopédie, 2014, http://enccre.academie-sciences. fr/encyclopedie/documentation/?s=47& (24. 09. 2019). 336 Die Planches können im Rahmen dieser Untersuchung nicht näher untersucht werden (auch wenn es in den Textanalysen Verweise auf die bildliche Umsetzung in der entspr. Planche gibt), da eine kontrapunktische Analyse der Planches kunstwissenschaftliche und bildanalytischer Methodiken bedürfte. Gleichwohl gibt es eine profunde Forschungs insbes. zu den Planches-Bänden, exemplarisch sei die Arbeit von Barthes genannt (vgl. Roland Barthes: Les planches de l’Encyclopédie de Diderot et d’Alembert vues par Roland Barthe, Pontoise: Edition Association les amis de Jeanne et Otto Freundlich [1964] 1989). 337 Denis Diderot/Jean Le Rond d’Alembert (Hg.): Encyclopédie ou Dictionnaire raisonné des sciences, des arts et des métiers, Paris 1751–1772, Marsanne: Redon 2000 (CD-ROM). 338 Vgl. Denis Diderot/Jean Le Rond d’Alembert (Hg.): Encyclopédie, ou Dictionnaire raisonné des Sciences, des Arts et des Métiers, Paris: Garnier 2016, https://www.classiques-garnier.com/ numerique-bases/diderot (27. 11. 2017).

1.3 Die Encyclopédie, ou Dictionnaire raisonné des Sciences

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gen Encyclopédie-Bände und Seitenzahlen ist die ENCCRE-Ausgabe (Edition Numérique Collaborative et Critique de l’Encyclopédie) herangezogen worden. Das ENCCRE-Projekt ist unter der wissenschaftlichen Leitung namhafter, internationaler Encyclopédie-Expert_innen entstanden und seit Oktober 2017 als erste kritische Ausgabe im Internet frei zugänglich.339 Zum stichprobenartigen Abgleich von Digitalisat und In-Folio-Version, vor allem aber für die Autorschaftsrecherche (s. o.) habe ich die an der Universität Chicago entwickelte ARTFL-Ausgabe der Encyclopédie340 konsultiert, die wie die ENCCRE-Ausgabe das Digitalisat der Mazarine-Ausgabe der Encyclopédie darstellt. Die Nutzung der Digitalisate hat neben der Aktualität des Forschungsstandes vor allem forschungspraktische Gründe: Da das Wissen über den kolonialen Anderen über die gesamte Encyclopédie verstreut ist, führt eine digitale Stichwortsuche (etwa nach «barbare» oder «sauvage») zu ersten Rechercheergebnissen über den Diskurs kolonialer Alterität in der Encyclopédie. Für die vorliegende Arbeit wurden rund 1500 Artikel näher analysiert. Da die koloniale Welt in der Encyclopédie omnipräsent ist – auf nahezu jeder Seite findet sich Wissen aus der außereuropäischen Welt – wurde das Untersuchungskorpus zu heuristischen Zwecken zunächst geographisch konturiert, ausgehend von den Einträgen zu den Kontinenten anschließend kulturräumlich erweitert und dann im Weiteren durch die Stichwortsuche der kulturalistischen Attribute wie «sauvage», «barbare», «anthropophage» ergänzt (vgl. dazu meine Anmerkungen in den entsprechenden Textanalysekapiteln im Kapitel 2). Doch diese diskursive Dispersion geht noch über die offensichtlichen Transferwissensgebiete hinaus, indem vermeintlich genuin europäische Wissensbestände auch Spuren des kolonialen Anderen in sich tragen. So ist das Untersuchungskorpus nicht nur semantisch an koloniale oder außereuropäische Diskurse gebunden, sondern schließt auch europäische Lemmata mit ein. Denn der koloniale Andere ist in mehrfacher Hinsicht eine Herausforderung: Lokalisierung wie Diskurszuweisung sind schwierig. Als Herausforderung an die konventionellen Wissensordnungen und -kategorien ist der koloniale Andere mal Teil des Tierreichs, mal Mensch, mal ist er rein biologisch zu klassifizieren anhand seiner physischen Merkmale, mal wird ihm auch Geist und Seele, Vernunft oder Esprit zugetraut. Und dies ist – das wird sich in den formal-ästhetischen Textanalysen zeigen – auch auf der Ebene der wissenspoetologischen Gestaltungen eine Herausforderung.

339 Denis Diderot/Jean Le Rond d’Alembert (Hg.): Encyclopédie (ENCCRE). 340 Denis Diderot/Jean Le Rond d’Alembert (Hg.): Encyclopédie, ou dictionnaire raisonné des sciences, des arts et des métiers, ARTFL Encyclopédie Project. University of Chicago: Autumn 2017, http://encyclopedie.uchicago.edu (24. 09. 2019).

«l’Européen n’a pu se faire homme qu’en fabriquant des esclaves et des monstres»1

1 Jean-Paul Sartre: Préface, in: Frantz Fanon: Les damnés de la terre, Paris: La Découverte [1961] 2002, S. 17–36, hier S. 32. https://doi.org/10.1515/9783110660425-002

2 Textlektüren. Macht und Ambivalenz in den Narrationen des kolonialen Anderen Die ganze (koloniale) Welt soll in der Encyclopédie Platz nehmen: Unüberschaubar viele Regionen und Völker gilt es da in den einzelnen Einträgen zu beschreiben, so dass sowohl im ‹survol› die Vielfalt der Welt abgebildet als auch in der Nahaufnahme die Erkenntnisse von Reisenden, Forschenden und Denkern aufgefächertwerden können. Dieser epistemologische Spagat, der der Encyclopédie als Wissensprojekt eingeschrieben ist, führt in der Forschungsperspektive auf koloniale Alteritätskontruktionen zu interessanten, vielleicht auch überraschenden Ergebnissen: Einerseits ist in der Quersicht der Artikel erkennbar, dass der koloniale Andere gar nicht so sehr lokal oder historisch spezifisch und konkretisiert abgebildet wird, sondern dass er eher einer Chiffre oder einem Stereotyp gleicht. Kulturalistische oder physiognomische Attribute werden repetiert und perpetuiert, so dass sich translokale Typologisierungen herausbilden. Damit hängt andererseits aber auch zusammen, dass der koloniale Andere nicht nur als anthropologischer Subbestand der geographischen Räume mitverhandelt wird, sondern dass er in den unterschiedlichsten Wissenskategorien, man könnte auch sagen: Diskursen, beschrieben wird. So finden sich Informationen zu den Lebensräumen und vor allem Lebensgewohnheiten auch in Zusammenhang mit Handelsgütern, Werkzeugen, Transport- oder Nahrungsmitteln. Und schließlich ist der koloniale Andere als Wissensobjekt auf eine besondere Weise immer wieder mit der enzyklopädischen Instanz verknüpft; dieser zeigt das Wissen der Welt auf (vgl. dazu die Abbildung 1 auf der vorangegangenen Seite2) und kommt damit immer wieder selbst ins Spiel. Dieser erste Textbefund ist für das enzyklopädische Projekt selbst nicht unbedingt überraschend, dominiert hier doch das Anliegen der Generalismen und

2 Zur Abbildung 2: Der Mann ist auf der Planche VIII «Marine, Chantier de Construction» in Denis Diderot/Jean Le Rond d’Alembert: Receuil de planches, sur les sciences, les arts libéraux et les arts méchaniques. Tome V: Édition Numérique Collaborative et CRitique de l’Encyclopédie ou Dictionnaire raisonné des sciences, des arts et des métiers (ENCCRE) (1751–1772) (2017). 1769, Bd. VII, Pl. 8, http://enccre.academie-sciences.fr/encyclopedie/ (27. 09. 2019) zu sehen und scheint in mehrfacher Hinsicht aus dem Rahmen zu fallen: Er gehört nicht zu den anderen, auf der Planche befindlichen Menschen, obwohl er fast im Zentrum sitzt. Weder bezieht er sich auf sie, noch hat er eine bildlogische Funktion. Er sieht der/den Betrachtenden direkt an und gestikuliert (ist es ein Winken? ist es ein Mahnen? ist es ein Erklären?) ‹durch die vierte Wand›. Es ist diese didaktische wie explikatorische Haltung, die überdies mit einem clin d’oeil den Philosophen sowie den Erklärungsgestus selbst in Szene setzt, der recht typisch für Position und Diskursivierung der enzyklopädischen Instanz in den Artikeln ist. Vgl. dazu die Ausführungen im Folgenden.

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2 Macht und Ambivalenz in den Narrationen des kolonialen Anderen

weniger der Partikularismen. Der koloniale Andere wird zunächst einmal grundsätzlich anthropologisch vermessen und damit generalisiert. Allerdings stellt er auch eine besondere Herausforderung dar, denn er lässt sich als Wissensobjekt nicht annähernd so gut auf Distanz halten wie beschriebene Pflanzen, Städte oder Werkzeuge. Bei seiner Definition geht es nur auf einen ersten Blick um die Frage, ob der koloniale Andere ein Mensch ist. Auf einen zweiten Blick steht im Zentrum, ob der koloniale Andere auch ein Mensch ist oder nicht. Und damit kommt nicht nur die relationale, sondern auch reziproke Konstruktion des kolonialen Anderen wieder in den Blick. In dieser Hinsicht ist es dann auch nicht verwunderlich, dass der koloniale Andereals identitätsstiftendes Stereotyp funktionalisiert wird, so dass er allein in seinen Beziehungen zum europäischen Menschen an Gestalt gewinnt. Dies wirkt sich aber auch auf den methodischen Zugriff auf die Encyclopédie-Artikel aus. Schreitet man nämlich die Einträge zum kolonialen Anderen in einer Art ‹tour du monde› ab, auf dessen Routendie Alteritätskonstruktionen nach Kontinenten nachgezeichnet werden, so sind die Textbefunde weitestgehend redundant. Die Attribuierung der afrikanischen, indischen oder nordamerikanischen Menschen scheint transkontinental konsistenter zu seinals jene, die sich auf die Völker kontinentimmanent bezieht. In den folgenden Textanalysen sollen daher die Alteritätsfigurenin einem ersten Schritt als Interaktionsfiguren (2.1.1.1) und in einem zweiten als Projektionsfiguren (2.1.1.2) untersucht werden. Die Konstruktionen des kolonialen Anderen als Interaktions- oder Beziehungsfiguren werden zu heuristischen Zwecken drei Diskurstypen zugeordnet: einem ökonomischen Beziehungswissen, einem moralischen Kontaktwissen,3 und einemlebenspraktischen Kulturwissen.Daran schließt sich dann die weitere Textanalyse an, die eine den Wissensdiskursen zugrundeliegende Typologie des kolonialen Anderen herausarbeitet. Hier werden unterschiedliche Projektionsfiguren des kolonialen Anderen entworfen, die sich in einem Nähe-Distanz-Spektrumabbilden lassen, dessen Epizentrum der europäische philosophe an seinem Schreibtisch bildet. In dieser spektralen (oder aber konzentrischen) Typologie werden gleichzeitig die Fremdbilder und das relationale Moment der Alteritätskonstruktion fokussiert.

2.1 Figuren und Figurationen kolonialer Macht Die Konstruktionen des kolonialen Anderen als Beziehungsfiguren sind grosso modo kolonialistisch geprägt, denn sie verhandeln Dominanzfiguren, die aus 3 Die Bezeichnung als moralischer Diskurs, der die Verhaltensformen des kolonialen Anderen zwischen Kriegertum und Gastfreundschaft auslotet, zielt auf ein Moralverständnis, das sich als Beziehungsmodi von Mitgefühl, Empathie, Sympathie (oder Antipathie) etc. artikuliert. Da-

2.1 Figuren und Figurationen kolonialer Macht

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der Kolonialgeschichte stammen und auf der Basis ökonomischer oder kulturalistischer Überlegenheit fortbestehen: Erstens bezieht sich ein auffällig großer Anteil der Encyclopédie-Artikel über den kolonialen Anderen auf ein ökonomisches Wissen. In der Beziehung zwischen Europäern und kolonialen Anderen artikulieren sich unterschiedliche Verfahren kolonialer historisch-geographischer Handelsbeziehungen, ‹praktisches› Wissen etwa über Navigation und schließlich die Thematik des Sklavenhandels. Dieser ökonomisch-relationale Diskurs, der auch auf die Ausbildung einer économie politique mit szientifischem Anspruch im 18. Jahrhundert fußt,4 lässt sich auf eine grundlegende, anthropologischen Unterscheidung zurückführen: nämlich jener, ob es sich beim kolonialen Anderen um einen homo oeconomicus oder aber um ein Tier handelt. Und diese Frage entscheidet sich in der ökonomisch geprägten Relation zu den europäischen Seefahrern, Kaufleuten oder Händlern. Werden zweitens die menschlichen Beziehungen zu anderen (kolonialen) Völkern jenseits des Kolonialhandels ausgelotet, so artikuliert sich dies in der Darstellung von Kriegertum oder Gastfreundschaft. Hier bildet sich eine Art moralisches oder ethisches Kontaktwissen aus. Das anthropologische Maß ist dabei nicht die Fähigkeit zu Wirtschaft und Handel mit dem Europäer, sondern der Umgang mit anderen kolonialen Menschen. Als dritter Diskursstrang wird schließlich ein vielfältiges, lebenspraktisches Kultur-Wissen über den kolonialen Anderen entfaltet, das über die rituelle Organisation des gesellschaftlichen Lebens Auskunft gibt in den Bereichen: der Religiösität (hier insbes. der Götzendienerschaft, «idolatrie») und ihren Extremen des Atheismus oder Fanatismus; des Geschichtsbewusstseins, des Sprachvermögens, der Sexualität (insbes. der Umgang mit Nacktheit und Promiskuität), der Staatsführung, hier insbes. der Despotismus, das Steuerwesen, Autarkie, Matriarchat oder Patriarchat sowie die Herrschaftsgewalt von Priestern, der kulturellen Riten und Rituale wie Tätowierungen, Trauerrituale, Tanz und Menschenopfer u. v. m. In dieses Wissen eingebettet sind Fragen nach den Lebensräumen, die durch Nomadismus aufgespannt werden, nach dem Stand von Wissen und Technik – oftmals verbunden mit den Potenzialen oder Wissenstransfers nach Europa – sowie der Frage danach, ob und in welcher Form es außereuropäische Philo-

mit rekurriert der Moralbegriff nicht nur auf die Moralistik des 17. Jahrhunderts (vgl. meine Anmerkungen dazu in der Einleitung), sondern schließt auch an die zeitgenössische Moralphilosophie von Adam Smith und dessen Sympathie- bzw. Neutralitätskonzepte an (vgl. Adam Smith: Theorie der ethischen Gefühle, Hamburg: Meiner [1759] 2010). 4 Etwa nach Turgot und Smith, als Überblick zur Entwicklung im 17. und 18. Jahrhundert vgl. Jean-Claude Perrot: Une histoire intellectuelle de ´léconomie politique, xviie–xviiie siècle, Paris: Editions de l’EHESS 1992).

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2 Macht und Ambivalenz in den Narrationen des kolonialen Anderen

sophie(n) gibt und gegeben hat. Im Zentrum steht die kulturalisierte Ausfaltung anthropologischer Attribute, d. h., der koloniale Andere wird hier in seinem Mensch-Sein gesetzt, seine Menschlichkeit wiederum wird an seinem Zivilisationsgrad gemessen. Im Zuge dessen tritt die relationale Anlage der Alterität, die den europäischen, zivilisierten Menschenimmer zum Vergleich heranzieht, deutlich hervor. Die forschungsleitenden Fragen der folgenden Textanalysen lauten für die Untersuchung der inhaltlichen Dimensionen: Welche Attribute werden dem kolonialen Anderen zugeschrieben? – Relationale Alterität: In welcher Relation wird der koloniale Andere zum europäischen/französischen Eigenen inszeniert? – Machtvolle Alterität: Welche Formen und Funktionen europäischer Selbststilisierung oder Selbstdegradierung kommen zum Ausdruck? Inwiefern lassen sich diskursive Asymmetrien ausmachen, die Hierarchien, Machtoder gar Gewaltverhältnisse reproduzieren und validieren? – Epistemische Alterität: Inwiefern werden diese Attribute als Wissen konturiert? In welchem Zusammenhang wird es in die Nähe des Fiktiven (als Legende, Mythen oder Geschichten, als «fables») gerückt? Für die Analyse der formal-ästhetischen Dimensionen werden Fragen formuliert wie: Welche diskursiven (und hier insbesondere: narratologischen und intertextuellen) Verfahren werden zur Konstruktion des kolonialen Anderen eingesetzt? – Relationale Narrativierung: Wie wird der koloniale Andere narratologisch und intertextuell zum Europäer konstruiert? Wer erzählt wie in Bezug auf wen? – Machtvolle Narrativierung: Welche machtvollen Verfahren der Redeermächtigung und -erteilung, der Perspektivierung, des Zitats oder der Paraphrase drücken die hierarchischen Beziehungen zwischen kolonialem Anderen und Europäer aus? – Epistemische Narrativierung: Wie wird Wissen erzählt – etwa auch im Vergleich zu Fabeln oder Legenden?

2.1.1 Wissensfiguren. Machtvolle Dispositive der Alterität 2.1.1.1 Beziehungsfiguren. Stereotype der Interaktion Ökonomisches Wissen: Reisen und handeln – Der koloniale Andere in Afrika: Handelsbeziehungen – Amérique/Indes occidentales – Inde/Indes Orientales – Asien als zweitschönster Kontinent – Warenhandel. Handelsgeschichten als Warengeschichten – Sklavenhandel. Handelsgeschichten als Menschenwarengeschichten – Sklaverei, Sklave als Rechtsfigur und als moral-philosophische Figur – Moralisches Wissen: Bekriegen und bewirten – Fazit: (un-)ge-

2.1 Figuren und Figurationen kolonialer Macht

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fährlicher kolonialer Anderer – Kulturelles Wissen: Glauben und lieben – Leben und wohnen – Wissen und können – Leben und sterben – Lieben und begehren – Religiöse Extreme: Atheismus und Fanatismus – Körperzeichen: Tätowierungen – Körperbewegungen: Tanz – Herrschen und regieren. Staatsführung – Töten und opfern. Menschenopfer – Wohnen und reisen. Nomadismus – Sprechen und erzählen. Sprachvermögen – Erinnern und erzählen. Geschichtsbewusstsein – Wissen und können. Wissen und Technik – Fazit: Ökonomisches Wissen. Der koloniale Andere als Objekt von Handel und Wissen und als akteurielle Leerstelle – Moralisches Wissen. Der koloniale Andere als (un-)gefährliches Gegenüber – Kulturelles Wissen. Der koloniale Andere als differentes Kulturwesen

Ökonomisches Wissen. Reisen und handeln Wie und wann tritt der koloniale Andere eigentlich in den Wissenshorizont der Europäer ein? Als Anderer, der aus den kolonialistischen Diskursen erwächst, könnte man meinen, der Wegbereiter für den Eintritt in das Wissenskompendium Encyclopédie sei Kolumbus, der rund 150 Jahre vor Erscheinen der Encyclopédie die Amerikas ‹entdeckte› und als Wende- oder Anfangspunkt im europäischen Kolonial- und Imperialismusprojekt gilt. Der koloniale Andere tritt in der Nachfolge dieser Ereignisse als entdecktes Objekt und als Warenlieferant in den Wissensdiskurs der Europäer ein. Signifikanterweise findet sich in der Encyclopédie weniger eine Entdeckungs-, als vielmehr eine europäische Handels- und Frühgeschichte. Die Encyclopédie scheint am kolonialen Anderen nicht in erster Linie als Wissensobjekt interessiert zu sein, sondern sie erzählt Geschichten der Handelsbeziehungen und Ausbeutungen vor dem Hintergrund ökonomischer kolonialer Expansion.5 Der koloniale Andere tritt in dieser Lesart in die Wissensordnung des philosophe ein durch die Fähigkeit oder Unfähigkeit zum Handeln mit dem europäischen Kolonisator. In den Encyclopédie-Artikeln werden gleichzeitig eine historische Dimension eröffnet (seit wann bestehen Handelskontakte der Europäer mit dem kolonialen Anderen?) und eine Machthierarchie installiert (inwiefern können koloniale Andere mit dem fortschrittlichen und imperialen Europa im Rahmen eines zivilisierten Handels interagieren?). Die Wissensgeschichte des kolonialen Anderen ist dabei eine doppelt ökonomische: Erstens tritt er als Handels‹partner› des Europäers in Erscheinung. Zweitens aber dient er auch als Menschen- und Wissensware, denn die europäischen Händler bringen Waren und Güter oder gar Sklaven mit nach Europa und haben auch Wissen und Geschichten an Bord. Es ist dieser koloniale Andere als Inter-

5 Zum Thema «Ökonomisches Wissen in enzyklopädischen Sammelwerken des 18. Jahrhunderts – Strukturen und Übersetzungen» legen Lüsebrink und Jürgens ein Themenheft in der Zeitschrift «Das 18. Jahrhundert» vor (vgl. Hanco Jürgens/Hans-Jürgen Lüsebrink: Dossier: Ökonomisches Wissen in enzyklopädischen Sammelwerken des 18. Jahrhunderts – Strukturen und Übersetzungen, in: Das Achtzehnte Jahrhundert 2, 41 (2017), S. 197–276).

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2 Macht und Ambivalenz in den Narrationen des kolonialen Anderen

aktionsfigur in einem ökonomischen System, das kolonialistisch organisiert ist, der in den Einträgen zu den Kontinenten Afrika, den beiden Indien und Asien meist im Vordergrund steht. Im Artikel über Afrique findet nur ein kurzer geographischer ‹survol› statt, der direkt die Handelsbeziehungsebene anführt:6 Afrique, (Géog.) l’une des quatre parties principales de la terre. Elle a depuis Tanger jusqu’à Suez environ 800 lieues ; depuis le Cap-verd jusqu’au cap Guadafui 1420 ; & du cap de Bonne-Espérance jusqu’à Bone 1450. Long. 1–71. lat. mérid. 1–35. & lat. sept. 1–37. 30. On ne commerce guere que sur les côtes de l’Afrique ; le dedans de cette partie du monde n’est pas encore assez connu, & les Européens n’ont guere commencé ce commerce que vers le milieu du xjv. siecle. Il y en a peu depuis les royaumes de Maroc & de Fez jusqu’aux environs du Cap-verd. Les établissemens sont vers ce cap & entre la riviere de Sénégal & de Serrelionne. La côte de Serrelionne est abordée par les quatre nations: mais il n’y a que les Anglois & les Portugais qui y soient établis. Les Anglois seuls résident près du cap de Misérado. Nous faisons quelque commerce sur les côtes de Malaguette ou de Greve: nous en faisons davantage au petit Dieppe & au grand Sestre. La côte d’Ivoire ou des Dents est fréquentée par tous les Européens ; ils ont presque tous aussi des habitations & des forts à la côte d’Or. Le cap de Corse est le principal établissement des Anglois: on trafique peu à Asdres. On tire de Benin & d’Angole beaucoup de Negres. On ne fait rien dans la Cafrerie. Les Portugais sont établis à Sofala, à Mozambique, à Madagascar. Ils font aussi tout le commerce de Melinde. Nous suivrons les branches de ces commerces sous les différens articles CAP-VERD, SENEGAL, &c.7

Auffällig und paradigmatisch sind hier zwei Phänomene: die Abhängigkeit vom europäischen und ökonomischen Bezugspunkt und die Kopplung von Handel und Wissen. Jede geographische Information der afrikanischen Länder und Landstriche wird unmittelbar an europäische (Kolonial-)Präsenz geknüpft: «La côte de Serrelionne est abordée par les quatre nations [...] Les Anglois seuls résident près du cap de Misérado [...] La côte d’Ivoire ou des Dents est fréquentée par tous les Européens [...] Le cap de Corse est le principal établissement des Anglois».8 Des Weiteren formuliert Diderot hier die Interdependenz von

6 Selbst geographische Sammelbegriffe wie Orient oder «Levant» sind an die ökonomischen Handlungen der Europäer gebunden. Im Eintrag zu «Levant Le, L’Orient, s. m. (Gramm.)» wird unterschieden: «Lorsqu’il s’agit de commerce & de navigation, on appelle le Levant toutes les côtes d’Asie, le long de la Méditerranée, & même toute la Turquie asiatique [...] Enfin, quand il n’est pas question de commerce & de navigation, & qu’il s’agit d’empire & d’histoire ancienne, on doit toûjours dire l’Orient, l’empire d’Orient, l’église d’Orient.» (Louis de Jaucourt: Levant le, l’Orient, in: Denis Diderot/Jean Le Rond d’Alembert (Hg.): Encyclopédie (ENCCRE). Bd. 9, S. 434. 7 Denis Diderot: Afrique, in: Ders./Jean Le Rond d’Alembert (Hg.): Encyclopédie (ENCCRE). Bd. 1, S. 164, Hervorhebungen K. S. 8 Ebd.

2.1 Figuren und Figurationen kolonialer Macht

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Wissen und Handel, indem er das Unwissen über das Innere des afrikanischen Kontinents an die relativ junge Handelsgeschichte bindet: «le dedans de cette partie du monde n’est pas encore assez connu, & les Européens n’ont guere commencé ce commerce [...] le dedans de cette partie du monde n’est pas encore assez connu».9 Dies liegt einerseits in der historischen Quellenlage begründet, d. h., dass es im 18. Jahrhundert im Grunde keine wissenschaftlichen Forschungsreisenden gab, die Forschungswissen aus Afrika hätten nach Europa bringen können.10 Andererseits zeigt sich hier aber auch die Verstrickung von Handels- und Menschenwissen als diskursive Grundstruktur, was schon eine erste Spur für eine Lektüre legt, die die kolonial-ökonomische Grundierung des Wissens über den kolonialen Anderen berücksichtigen muss. Die Details bleibt der Eintrag Afrique natürlich schuldig: Die unterschiedlichen Zweige des kolonialen Handelssystems sollen dann im Detail in den entsprechenden geographischen Einträgen der kolonialen Welt, hier: etwa der Senegal, ausgeführt werden. Dabei ist bemerkenswert, dass der Wissensraum Afrika keineswegs auf den gleichnamigen Eintrag oder auf jene zu den geographischen Unterregionen beschränkt bleibt. Er ist in zahlreichen Artikeln der Encyclopédie präsent: Über 1300 Fundstellen finden sich bei der Suche nach dem Begriff «Afrique».11 Dabei reichen die Artikel von Einträgen über Länder und Völker in Afrika über religiöse oder abergläubische Gottheiten oder Praxen bis hin zu Einträgen, die (vermeintlich genuin) europäische Konzepte oder aber generell anthropologische Themen betreffen. Diese Verstrickungen afrikanischer Wissensbestände mit europäischen Konzepten und Begriffen fällt sehr deutlich ins Auge und wird in den folgenden Textanalysen, insbesondere aber in den Analysen zu den Ambivalenzmomenten in den Alteritätskonstruktionen (Kapitel 2.2) weiter ausgeführt. In den geographisch perspektivierten Einträgen zu Afrika ist auffällig, dass es zwar als ein Kontinent 12 mit (intensiven oder spärlichen) Handelskontakten

9 Ebd. 10 Vgl. Ute Fendler/Susanne Greilich: Afrika in deutschen und französischen Enzyklopädien des 18. Jahrhunderts, S. 113–137. 11 Es finden sich laut Recherchetool der ENCCRE-Ausgabe 1371 Fundstellen zum Begriff «Afrique», 861 davon im Wissensgebiet Geographie (vgl. Denis Diderot/Jean Le Rond d’Alembert (Hg.): Encyclopédie (ENCCRE)). 12 Zu berücksichtigen wäre auch die Länge der Artikel, die Aufschluss über die Priorisierungen der Enzyklopädisten für bestimmte Themengebiete geben könnte und über die Beschaffungsmöglichkeit von Informationen. Die Einträge zu den geographischen und Wissensbeständen der Kontinente sind deutlich umfangreicher als jene, die sich mit den Völkern oder der Geschichte der fremden Länder beschäftigen. Schon die Länge der Artikel sowie die Reihenfolge der Wissensgebiete lassen durchaus auf eine Prorisierung schließen.

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2 Macht und Ambivalenz in den Narrationen des kolonialen Anderen

mit Europa13 konturiert wird, die Akteure aber keine oder kaum Erwähnung finden. Exemplarisch sei hier auch der Eintrag zur afrikanischen Insel Loanda genannt, die nur deshalb interessant ist, weil sie einerseits mit kleinen Muscheln als Währung operiert und andererseits, weil diese Währung nur dem portugiesischen König allein gehörte, dessen Untertanen dort auch einige Behausungen hätten.14 Dies ist umso überraschender, als im Eintrag zum Handel selbst die Handelsbeziehung im Zentrum steht. Interessanterweise führt der ausführliche Eintrag zu Commerce die relationale Anlage der Handelsbeziehung an und sofort als reziproke Verständigung aus: Commerce, s. m. On entend par ce mot, dans le sens général, une communication réciproque. Il s’applique plus particulierement à la communication que les hommes sefont entr’eux des productions de leurs terres & de leur industrie.15

Nach kurzen Ausführungen zu Landwirtschaft, «Manufacture», der Erfindung des Geldes u. a. gibt es relativ unmittelbar die argumentative Anbindung an den Kolonialismus, der ein Maß an Zivilisation und Intelligenz voraussetze: Les peuples intelligens qui n’ont pas trouvé dans leurs terres dequoi suppléer aux trois especes de besoins, ont acquis des terres dans les climats propres aux denrées qui leur manquoient ; ils y ont envoyé une partie de leurs hommes pour les cultiver, en leur imposant la loi de consommer les productions du pays de la domination. Ces établissemens sont appellés colonies. Voyez COLONIE.16

Folgt man hier nun dem Verweis auf die Colonie, so zeigt sich eine historische Definition des kolonialen Anderen. Im Eintrag Colonie wird zunächst eine historische Systematisierung vorgenommen, mittels derer Fortbonnais die unterschiedlichen Motiveder Kolonisierung zu unterscheiden sucht (in der Gesamtschau fin-

13 Gelegentlich wird aber auch ein dezidiert innerafrikanisches Handelswesen gezeichnet, das sich durch afrikanische Waren und ihren innerafrikanischen Nutzen auszeichnet – also nicht auf einen Warenstrom nach Europa ausgerichtet ist. So etwa im Eintrag zu den Panossakes, afrikanischen Lendenschurze, die den Europäern als Handelsware dienen, die allerdings nicht für den europäischen Markt geeignet sind: «Panossakes, s. m. pl. (Comm. d’Afriq.) ce sont des pagnes dont se servent les negres sur la plûpart des côtes d’Afrique: les Européens [...] en tirent beaucoup du royaume de Cantor, où se font les meilleures ; elles sont rayées de couleur de feu.» (N. N.: Panossakes, in: Denis Diderot/Jean Le Rond d’Alembert (Hg.): Encyclopédie (ENCCRE). Bd. 11, S. 823. 14 Vgl. Louis de Jaucourt: Loanda, in: Denis Diderot/Jean Le Rond d’Alembert (Hg.): Encyclopédie (ENCCRE). Bd. 9, S. 623. 15 François Véron de Fortbonnais: Commerce, in: Denis Diderot/Jean Le Rond d’Alembert (Hg.): Encyclopédie (ENCCRE). Bd. 3, S. 690–699, hier S. 690. 16 Ebd.

2.1 Figuren und Figurationen kolonialer Macht

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den sich in der Encyclopédie über 350 Fundstellen zum Begriff «colonie», die mehrheitlich im geographischen Diskurs verankert sind 17). Er benennt dort sechs verschiedene Kolonie-Kategorien («classes»), von denen nur die letzte jene ist, die in der sog. Neuen Welt angesiedelt ist: (I) Kolonien nach der Trennung der Söhne Noahs in unterschiedliche Stämme und Nationen nach der Sintflut; (II) die Ausbreitung der Nationen und Völker in Kolonien, die zwar mehr oder weniger unabhängig und friedlich sind, aber in Anerkennung und gleichen Wissens- und Zivilisationstatus stehen, «l’effet qui la caractérise, ce fut de multiplier les sociétés indépendantes parmi les nations, d’augmenter la communication entr’elles, & de les polir.»;18 (III) die Kolonien, die sich durch den Wandel von der Gleichheit zur Differenz – hier schwingt der Rousseau’sche Zivilisationsdiskurs als deutliches Echo mit – und als Folge von Eroberungen («l’effet qui la caractérise, ce fut de multiplier les sociétés indépendantes parmi les nations, d’augmenter la communication entre elles, & de les polir.»19) herausgebildet haben; (IV) bildet die Kategorie von barbarischen ‹Gegenkolonien› der Gothen und Vandalen in Europa oder der Tartaren in China20 mit vernichtenden Auswirkungen für Kunst und Glauben: «L’effet de ces colonies de barbares fut d’effaroucher les Arts, & de répandre l’ignorance dans les contrées où elles s’établirent». Die fünfte Kategorie schließlich ist eindeutig dem Handel zugeordnet: «V. La cinquieme espece de colonies est de celles qu’a fondées l’esprit de commerce, & qui enrichissent la métropole.»21 Historische Ausgangspunkte sind etwa Karthago und die frühe Kolonialgeschichte in Afrika.22 Die Notwendigkeit der Kolonien wird nun auf zwei Argumente gebaut: Einerseits benötigten die europäischen Händler die Kolonien als Navigationspunkte und Anlaufstellen angeführt (hier wird das kompasslose, mindere Navigationswissen konstatiert, ihre «navigation dépourvûe du secours

17 Es finden sich laut Recherchetool der ENCCRE-Ausgabe 353 Fundstellen zum Begriff «colonie», 277 davon im Wissensgebiet Geographie (vgl. Denis Diderot/Jean Le Rond d’Alembert (Hg.): Encyclopédie (ENCCRE)). Damit wird einerseits mein methodischer Zugriff auf die kolonialen Alteritätskonstruktionen über die geographische Sondierung plausibilisiert, da die enzyklopädischen Konstruktionen des kolonialen Anderen maßgeblich im Bereich der Geographie verortet werden. 18 François Véron de Fortbonnais: Colonie, in: Denis Diderot/Jean Le Rond d’Alembert (Hg.): Encyclopédie (ENCCRE). Bd. 3, S. 648–651, hier S. 649. 19 Ebd. 20 Zur Situierung der Encyclopédie zwischen Ost und West vgl. Yoichi Sumi: L’Encyclopédie située à mi-chemin entre l’est et l’ouest, l’avant et l’après. 21 François Véron de Fortbonnais: Colonie, S. 649. 22 Im Eintrag zum afrikanischen Gebiet Numidiens wird ebenfalls dessen politische Geschichte an die Beherrschung durch die Römer gebunden und es wird als als «colonie constantine» bezeichnet (Louis de Jaucourt: Numidie, in: Denis Diderot/Jean Le Rond d’Alembert (Hg.): Encyclopédie (ENCCRE). Bd. 11, S. 283.

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2 Macht und Ambivalenz in den Narrationen des kolonialen Anderen

de la boussole, étoit timide»23). Andererseits müssen sie interne Handelssteuern einführen, da sonst der Handel ins Leere liefe: La plûpart des peuples avec lesquels ils trafiquoient, ou ne se rassembloient point dans des villes, ou uniquement occupés de leurs besoins, ne mettoient aucune valeur au superflu. Il étoit indispensable d’établir des entrepôts qui fissent le commerce intérieur, & où les vaisseaux pussent en arrivant faire leurs échanges.24

Die Organisation dieses kolonialen Handels wird dann aus dem Verweis auf die afrikanischen und ost-indischen Kolonien generalisiert und überdies nicht nur mit ökonomischen Interessen, sondern auch mit der Durchsetzung politischer Interessen («projets politiques») verknüpft: il faut qu’elles soient sous la dépendance d’une compagnie riche & exclusive, en état de former & de suivre des projets politiques. Dans l’Inde on ne regarde comme marchands que les Anglois, parmi les grandes nations de l’Europe qui y commercent ; sans-doute, parce qu’ils y sont les moins puissans en possessions.25

Die sechste Kategorie schließlich betrifft jene Besitzungen, die man im modernen Sinne kolonial(istisch) nennen würde: jene in der Neuen Welt. Hier werden explizit ökonomische und kulturelle Interessen für die Kolonisierung benannt, die sich in der Eroberung des Landes, der Vertreibung der Bevölkerung und der Neuansiedlung äußert: Toutes celles [les colonies européennes, K. S.] de ce continent ont eu le commerce & la culture tout-à-la-fois pour objet de leur établissement, ou s’y sont tournées: dès-lors il étoit nécessaire de conquérir les terres, & d’en chasser les anciens habitans, pour y en transporter de nouveaux.26

Explizit werden die hierarchischen Beziehungen zur métropole genannt und das Ziel, möglichst viele «produits des terres» in die bevölkerungsreiche métropole zur Ankurbelung des Handels zu bringen. Der Maßstab für die Beurteilung der Kolonien, und dies korreliert auch mit der oben skizzierten enzyklopädischen Programmatik, ist die utilité: für das Mutterland und in erster Linie in ökonomischer Hinsicht. Der Eintrag reflektiert eingehend die politischen wie juristischen Maßnahmen, um den Freiheitsdrang der Kolonien zu beschneiden und die Abhängigkeit vom Mutterland dauerhaft zu stärken. Es gilt, «qu’en général la liber-

23 24 25 26

François Véron de Fortbonnais: Colonie, S. 649. Ebd. Ebd. Ebd., S. 650.

2.1 Figuren und Figurationen kolonialer Macht

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té doit être restrainte en faveur de la métropole».27 Auch hier sind die Akteure ausgeblendet, und die Rede ist von Kolonien – nicht oder nur marginal von der Bevölkerung. Um die Diskursivierung der Kolonien innerhalb eines Artikels überhaupt bewerkstelligen zu können, wird darauf verwiesen, dass Details an anderer Stelle zu finden seien: an ihrem «natürlichen Platz», der nicht etwa im geographischen Raum, sondern in den Artikeln der Großmächte zu finden ist: Nous n’entrerons point ici dans le détail des diverses colonies européennes à l’Amérique, en Afrique, & dans les Indes orientales, afin de ne pas rendre cet article trop long: d’ailleurs la place naturelle de ces matieres est au commerce de chaque état. Voyez les mots FRANCE, LONDRES, HOLLANDE, ESPAGNE, PORTUGAL, DANEMARCK.28

Das Wissen über den kolonialen Anderen ist explizit an die Präsenz der europäischen Kolonialmacht gebunden, die in erster Linie ökonomische Vorteile aus den Besitzungen in der kolonialen Welt zieht. Dabei ist der Artikel zu den Kolonien nicht als kolonial-apologetisch zu bezeichnen. Zumindest wird nicht mit einer persuasiven Rhetorik gearbeitet oder eine explizite Apologetik formuliert. Gleichwohl ist der Artikel auch nicht als kolonialkritisch zu bezeichnen: Er stabilisiert das Kolonialsystem durch die historische Einordnung und quasi natürliche Entwicklung in der Welt; er betrachtet Kolonien (ausschließlich) als ökonomische Verlängerung und Status quo des Handelswesens Europas und blendet problematische Übernahmen (Gegenwehr, Gewalt, Deportation, Krieg etc.) aus oder bleibt lakonisch deskriptiv einem utilitaristischen Diskurs verhaftet («nécessaire de conquérir les terres, & d’en chasser les anciens habitans, pour y en transporter de nouveaux»29). Ökonomische Gesichtspunkte und expansorische Legitimation gehen ebenfalls in den Einträgen zu den Amerikas Hand in Hand. Die Amerikas werden in der französischen Aufklärung auch als Indes occidentales bezeichnet (im Gegensatz zum indischen Subkontinent, den Indes orientales) und deren unterschiedliche Länder und Regionen in der Encyclopédie auch so attribuiert. Im Eintrag Amérique30 wird sofort eine Rangfolge der globalen Kontinente prokla-

27 Ebd. 28 Ebd., S. 651. 29 Ebd., S. 650. 30 Es finden sich laut Recherchetool der ENCCRE-Ausgabe (nur) 130 Fundstellen zum Begriff «Indes occidentales», bezeichnenderweise kaum aus dem Wissensgebiet Geographie (16), sondern zumeist aus den Bereichen der «Histoire naturelle» (44) und der Botanik (379); wohingegen 1508 Fundstellen zum Begriff «Amérique» zu verzeichnen sind, die wiederum mehrheitlich mit 791 Fundstellen dem Bereich der Geographie entstammen (vgl. Denis Diderot/Jean Le Rond d’Alembert (Hg.): Encyclopédie (ENCCRE). Diese Korrelierung zeigt nochmals deutlich, wie

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2 Macht und Ambivalenz in den Narrationen des kolonialen Anderen

miert, die unmittelbar aus der europäischen Entdeckungsgeschichte resultiert und unter europäisch-kolonialer Herrschaft steht: Amérique, ou le Nouveau monde, ou les Indes occidentales, est une des quatre parties du monde, baignée de l’Océan, découverte par Christophe Colomb, Génois, en 1491, & appellée Amérique d’Améric-Vespuce Florentin, qui aborda en 1497, à la partie du continent située au sud de la ligne ; elle est principalement sous la domination des Espagnols, des François, des Anglois, des Portugais, & des Hollandois. Elle est divisée en septentrionale& en méridionale par le golfe de Mexique & par le détroit de Panama. L’Amérique septentrionale connue s’étend depuis le 11e degré de latitude jusqu’au 75e. Ses contrées principales sont le Mexique, la Californie, la Loüisiane, la Virginie, le Canada, Terre-neuve, les îles de Cuba, Saint-Domingue, & les Antilles. L’Amérique méridionale s’étend depuis le 12e degré septentrional, jusqu’au 60e degré méridional ; ses contrées sont Terre-ferme, le Pérou, le Paraguai, le Chili, la Terre Magellanique, le Bresil, & le pays des Amazones.31

Im Vergleich zum Eintrag Afrique ist auffällig, dass einerseits die europäische Herrschaft sehr summarisch angeführt, also nicht jedem Landstrich ein europäischer Kolonialherr zugeschrieben wird, und dass andererseits auch aufgrund der historischen Quellenlage (Historias und Relaciones des Siglo de Oro sowie die Forschungsreisen etwa La Condamines Relation abrégée d’un voyage fait dans l’intérieur de l’Amérique méridionale32 ) wesentlich mehr geographische Informationen gegeben werden. Gleichwohl ist auch Amerika in das ökonomische System des Kolonialwarenhandels eingebunden: Amerika wird als willfähriger Warenlieferant («donne de l’or») konturiert, dem warenlistenartige Aufzählungen folgen und der Hinweis darauf, dass detailliertere Beschreibungen in den jeweiligen Artikeln erfolgen: L’Amérique méridionale donne de l’or & de l’argent, de l’or en lingots, en paille, en pepins, en poudre: de l’argent en barres & en piastres ; l’Amérique septentrionale, des peaux de castors, de loutres, d’origneaux, de loups cerviers, &c. Les perles viennent ou de la Marguerite dans la mer du nord, ou des îles de Las-perlas dans celle du sud ; les émeraudes, des environs de Sainte-Foi, de Bogette. Les marchandises plus communes sont le sucre, le tabac, l’indigo, le gingembre, la casse, le mastic, l’aloès, les cotons, l’écaille, les laines, les cuirs, le quinquina, le cacao, la vanille ; les bois de campeche, de santal, de sassafras, de bresil, de gayac, de canelle, d’inde, &c. les baumes de tolu, de copahu, du Pérou, le besoard, la cochenille, l’ipécacuhana, le sang de dragon, l’ambre, la gomme copale, la

stark die Wissenschaft der Geographie mit dem Kolonialismus zusammenhängt bzw. die Wissenschaft der Naturgeschichte und Botanik für die Implementierung (und Ausbeutung) im Kolonialprojekt nicht in dem Maße ausschlaggebend war. 31 Denis Diderot: Amérique, ou le Nouveau-monde, ou les Indes occidentales, in: Ders./Jean Le Rond d’Alembert (Hg.): Encyclopédie (ENCCRE). Bd. 1, S. 356. 32 Vgl. Charles-Marie de La Condamine: Relation abrégée d’un voyage fait dans l’intérieur de l’Amérique méridionale, La Veuve Pissot, Quay de Conti, à la Croix d’Or [1745] 2013.

2.1 Figuren und Figurationen kolonialer Macht

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muscade, le vif-argent, les ananas, le jalap, le mécoachan, des vins, des liqueurs, l’eau des barbades, des toiles, &c. Toute contrée de l’Amérique ne porte pas toutes ces marchandises: nous renvoyons aux articles du commerce de chaque province ou royaume, le détail des marchandises qu’il produit.33

Die Handelsbeziehungen werden hier erneut ohne menschliche Akteure, dafür auffällig als Akkumulation von Waren und in der Personifikation der Länder präsentiert. Mittelelamerika gibt bereitwillig Gold und Silber her; das Land scheint ein wahres Warenlager von Gütern, Früchten und Gewürzen zu sein, in dem man sich quasi nur noch bedienen muss.34 Diese buchhalterische Präsentation des Kontinents ist im Vergleich mit der Beschreibung Afrikas auffällig ahistorisch. Dies liegt selbstredend an der jüngeren Kolonialgeschichte, verdeutlicht aber auch die primär ökonomischen Interessen Europas an den Amerikas. Sie fungieren nicht primär als entdeckte Länder, die das Wissen über die Welt mehren, sondern sie sind die Produktionsstätten jener Güter, die Europa für Wohlstand und florierende Wirtschaft nutzt und braucht. Eine latent historische Dimension mit eurozentrischer Ausrichtung findet sich allerdings in den Einträgen zu den südamerikanischen Völkern, die über ihre Verbindungen mit der spanischen Kolonialherrschaft eingeführt werden. Ähnlich wie ein mittelamerikanisches Volk in Peru, das den Spaniern unterworfen35 sei, konturiert etwa der Eintrag zu Chile zwar unabhängige Indianer, betont aber weiterhin die spanische Herrschaft. Diese Indianer zeichneten sich durch ein dezidiertes Handelswesen aus und würden von jeweils einem Chef regiert.36 Auch in den amerikanischen Einträgen gelten Handelsbeziehungen und -fähigkeit als wissensrelevanter Faktor zur Aufnahme in das Kompendium. So wird etwa Akadien nur unter wirtschaftlichen Gesichtspunkten (etwa Pelzhandel), allem voran die wirtschaftliche Dominanz der Engländer37 vorgestellt;

33 Denis Diderot: Amérique, S. 356. 34 Ganz ähnlich auch im Eintrag Zanfara ou Janfara, wo die Menschen das Ende der Aufzählung und Liste von Handelswaren darstell: «Les caravanes de Tripoli qui vont dans ce royaume, en apportent de l’or, en échange de draps & autres marchandises qu’ils y laissent. Le terroir est fécond en blé, riz, millet, & coton ; ses habitans sont grands & fort noirs.» (Louis de Jaucourt: Zanfara ou Janfara, in: Denis Diderot/Jean Le Rond d’Alembert (Hg.): Encyclopédie (ENCCRE). Bd. 17, S. 691. 35 Vgl. N. N.: Chily, (Le), in: Denis Diderot/Jean Le Rond d’Alembert (Hg.): Encyclopédie (ENCCRE). Bd. 3, S. 338. 36 Vgl. N. N. Chine, in: Denis Diderot/Jean Le Rond d’Alembert (Hg.): Encyclopédie (ENCCRE). Bd. 3, S. 339. 37 Vgl. Denis Diderot: Acadie ou Accadie, in: Ders./Jean Le Rond d’Alembert (Hg.): Encyclopédie (ENCCRE). Bd. 1, S. 57.

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2 Macht und Ambivalenz in den Narrationen des kolonialen Anderen

Acapulco wird im Hinblick auf dessen strategische Lage auf den Handelsrouten38 nach und von Europa thematisiert.39 Nicht zuletzt spielt – erneut im Kontrast zu den afrikanischen Einträgen – auch der Waffenhandel mit den Europäern eine Rolle: «L’exportation des armes & des munitions est sujette à des restrictions dans presque tous les états, excepté en Hollande.»40 Dabei stellen Waffen nicht einfach eine von vielen Waren dar, sondern werden als Bedrohung für das europäische Kräfteverhältnis wahrgenommen. In der Folge werden die Holländer als «sages républicains» mit außerordentlichem Geschäftssinn im Waffenhandel beschrieben, aber auch die möglichen Konsequenzen für Schweden, Dänemark und Frankreich: «Mais si la Suede & le Danemark imaginoient en tems de paix de prohiber la sortie de ces matieres pour la France ; ce seroit lui rendre & à ses colonies du continent de l’Amérique, un service très-signalé.»41 Der Eintrag zu L’Inde und den Indes orientales ist im Vergleich zu Afrika oder Amerika ausführlicher. Dies mag einerseits an den fortgeschrittenen Bänden der Encyclopédie liegen, andererseits an der bereits bürokratisierten, archivierten europäischen Kolonialgeschichte des British Empire, auf die die Enzyklopädisten zurückgreifen.42 Auch Indien wird in erster Linie unter dem Aspekt der Wirtschaft behandelt. Die geographischen Informationen über Indien sind unmittelbar mit der Kolonisierungsgeschichte und mehr noch mit dem weltumspannenden Wirtschaftssystem verbunden, das von Europa ausgeht: Inde, L’ (Géog. anc. & moderne) les anciens donnerent d’abord ce nom au pays situé sur le grand fleuve Indus en Asie ; & c’est la seule Inde des anciens proprement dite. Ils la

38 Dabei spielen die Wissenbestände (nur) dann eine Rolle, wenn sie für die europäischen Handelsbeziehungen relevant sind: So wird etwa die südamerikanische Hafenstadt Arica nur im Rahmen ihrer Rolle in der Kolonialwirtschaft genannt (vgl. N. N. Arica, in: Denis Diderot/ Jean Le Rond d’Alembert (Hg.): Encyclopédie (ENCCRE). Bd. 1, S. 650 oder eine Insel, die allein als Nachrichtendepot auf den Schiffshandelsrouten («Bureau de la Poste») fungiert (Denis Diderot: Amoravis, in: Ders./Jean Le Rond d’Alembert (Hg.): Encyclopédie (ENCCRE). Bd. 1, S. 366. 39 Vgl. Denis Diderot: Acapulco, in: Ders./Jean Le Rond d’Alembert (Hg.): Encyclopédie (ENCCRE). Bd. 1, S. 58–59. 40 François Véron de Fortbonnais: Contrebande, in: Denis Diderot/Jean Le Rond d’Alembert, (Hg.): Encyclopédie (ENCCRE). Bd. 4, S. 129–131, hier S. 130. 41 Ebd. 42 Vgl. Louis de Jaucourt: Inde, L’, in: Denis Diderot/Jean Le Rond d’Alembert (Hg.): Encyclopédie (ENCCRE). Bd. 8, S. 660–662. Es finden sich laut Recherchetool der ENCCRE-Ausgabe 449 Fundstellen zum Begriff «Inde», 183 davon im Wissensgebiet Geographie; zum Begriff «Indes orientales» nur 130 Fundstellen, von denen die Mehrzahl aus der Naturgeschichte stammt (44, gefolgt von 37 aus der Botanik) (vgl. Denis Diderot/Jean Le Rond d’Alembert (Hg.): Encyclopédie (ENCCRE)).

2.1 Figuren und Figurationen kolonialer Macht

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diviserent ensuite en Inde en-deçà du Gange, India intrà Gangem,& en Inde au-delà du Gange, India extrà Gangem.43

Indien wird im gleichnamigen Eintrag weiterhin direkt an Handel und Wissen gekoppelt; in der Folge wird die Wichtigkeit des Kontinents noch einmal ökonomisch plausibilisiert, da alle Völker, die hier Handel mit den Indern trieben, reich wurden: «Tous les peuples qui ont négocié aux Indes, y ont toûjours apporté de l’or, & en ont rapporté des marchandises.»44 Doch die Beziehungen mit Europa beschränkten sich natürlich nicht nur auf Handelskontakte, sondern waren auch in die glorreiche Entdeckergeschichte der großen europäischen Männer eingebunden. Hierin macht Schneider im Übrigen die besondere Rolle de Jaucourts aus, der entgegen der Konzeption der Herausgeber (insbesondere durch das Wissensgebiet der Geographie45) Wissen über herausragende Persönlichkeiten, Entdecker, Künstler, Dichter einbinden konnte.46 Im Eintrag Inde werden Heldengeschichte und klimatheoretische Annahmen über das Gemüt der Inder miteinander verquickt: Après les successeurs d’Alexandre, les Indiens vécurent assez long-tems dans la liberté & dans la mollesse qu’inspire la chaleur du climat & la richesse de la terre ; mais nous n’avons connu l’histoire & les révolutions de l’Inde que depuis la découverte qui a porté facilement nos vaisseaux dans ce beau pays.47

43 Louis de Jaucourt: Inde, L’, S. 661. 44 Ebd. 45 Schneider beschreibt die Geographie des 18. Jahrhunderts als «eine relativ offene Wissensform […]. Sie speiste sich einerseits aus den vielen Quellen der Reisebeschreibungen und andererseits aus der Arbeit der Kartographen» (Ulrich Johannes Schneider: Die Erfindung des allgemeinen Wissens, S. 64). 46 Vgl. ebd. 47 Louis de Jaucourt: Inde, L’, S. 660. Gleichwohl wirke sich das heiße Klima nicht nur negativ auf die Inder aus. Während sie zwar schwach und scheu würden, so führe das Klima bei den Indern doch zu einer lebhaften Phantasie/Imaginationskraft, die ihnen Widerstandskraft und Mut verleiht: «La nature du climat qui a donné à ces peuples une foiblesse qui les rend timides, leur a donné de même une imagination si vive, que tout les frappe à l’excès. Cette délicatesse, cette sensibilité d’organes, leur fait fuir tous les périls, & les leur fait tous braver.» (Louis de Jaucourt: Inde, L’, S. 662). De Jaucourt führt schließlich, ganz im Widerspruch zu den oben ausgeführten Attributen, die positiven Eigenschaften der indischen Völker aus, die trotz Despotismus über eine gute Gesetzgebung und ein freundliches Wesen verfügen: «Ce qu’on peut résumer en général du vaste empire, sous le joug duquel sont les pauvres Indiens, c’est qu’il est indignement gouverné par cent tyrans, soumis à un empereur dur comme eux, amolli comme eux dans les délices, & qui dévore la substance du peuple. Il n’y a point-là de ces grands tribunaux permanens, dépositaires des lois, qui protegent le foible contre le fort. On n’en connoît aucun ni dans l’Indoustan ou le Mogol, ni en Perse, ni au Japon, ni en Turquie ; cependant si nous jugeons des autres Indiens par ceux de la presqu’île en-deçà du Gange, nous devons sentir combien un gouvernement modéré seroit avantageux à la nation. Leurs usages & leurs

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2 Macht und Ambivalenz in den Narrationen des kolonialen Anderen

In der Folge finden Vasco da Gama und der portugiesische Wirtschaftstriumph über die Welt Erwähnung («Son heureux voyage changea le commerce de l’ancien monde, & les Portugais en moins de 50 ans, furent les maîtres des richesses de l’Inde»48). Dieser Handel nun brachte alle Kostbarkeiten und Wundersamkeiten nach Europa; Lissabon und Goa florierten im Gleichschritt: Tout ce que la nature produit d’utile, de rare, de curieux, d’agréable, fut porté par eux en Europe: la route du Tage au Gange fut ouverte ; Lisbonne & Goa fleurirent. Par les mêmes mains les royaumes de Siam & de Portugal devinrent alliés ; on ne parloit que de cette merveille en Europe, & comment n’en eût-on pas parlé ? Mais l’ambition qui anima l’industrie des hommes à chercher de nouvelles terres & de nouvelles mers, dont on espéroit tirer tant d’avantages, n’a pas été moins funeste que l’ambition humaine à se disputer, ou à troubler la terre connue.49

Im Eintrag zu Indien finden sich folglich keine langen Aufzählungen mit Waren, sondern diese werden in ihrer Funktionalität und in ihrem Beitrag zum europäischen Reichtum eingeführt. So kommt aus Indien alles, was die Natur an «d’utile, de rare, de curieux, d’agréable» hervorbringe. Noch aufschlussreicher aber ist der Kommentar, dass diese Handelsbeziehung, etwa zwischen Siam und Portugal, im Einvernehmen als «alliés» vonstatten ging. Dies wird zwar als exzeptionell ausgewiesen, aber als neuer Modus der Handelsbeziehung eingeführt. Gleichwohl wird auch hier mit der Personalisierung von Nationen gearbeitet und keine konkreten Völker und Handelspartner benannt, so dass dies abermals wie ein Zug auf dem kolonialen Planspiel wirkt. Die Attribuierung der kolonialen Handelspartner als Verbündete und der Handelsbeziehung als «merveille» verortet diese Kolonialallianz bereits rhetorisch in die Nähe der Phantasie und ordnet dann auch noch im direkten Anschluss die menschlich-universelle Streit- und Kriegslust direkt nach. Damit artikuliert sich gleichzeitig eine vorsichtige Kritik an der kolonialen Attitüde («l’ambition humaine à se disputer, ou à troubler la terre connue»50) und zeigt sich, dass die Kolonialbeziehungen durchaus kontinental divergieren und unterschiedlich normativ bewertet werden.

coûtumes, nous présentent des peuples aimables, doux, & tendres, qui traitent leurs esclaves comme leurs enfans, qui ont établi chez eux un petit nombre de peines, & toûjours peu séveres.» (ebd.). 48 Ebd. 49 Ebd. Auch an anderer Stelle wird betont, dass Portugal seinen Reichtum aus den Kolonien beziehe: «Le Portugal, par ses mines du Brésil, ses vins & ses colonies d’Afrique & d’Asie, aura toujours de quoi fournir à l’étranger, & pourra figurer entre les nations riches.» ([ Jean-François de Saint Lambert]: Luxe, S. 765). 50 Louis de Jaucourt: Inde, L’, S. 660.

2.1 Figuren und Figurationen kolonialer Macht

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Im Eintrag Asie51 wird der Kontinent als zweiter in der Rangordnung der Kontinente (hinter Europa) positioniert.52 Es wird analog zu den anderen kontinentalen Einträgen auf die Einzelartikel verwiesen, die alle überhaupt interessanten Wissensbestände erfassten und aufführten: Asie, l’une des quatre grandes parties de la terre, & la seconde en ordre, quoique la premiere habitée. Elle est séparée de l’Europe par la mer Méditerranée, l’Archipel, la mer Noire, les Palus Méotides, le Don & la Dwina ; de l’Afrique par la mer Rouge & l’isthme de Suez. Elle est des autres côtés entourée de l’Océan ; elle ne communique point avec l’Amérique ; ses parties principales sont l’Arabie, la Turquie Asiatique, la Perse, l’Inde, la Tartarie, la Moscovie Asiatique, la Chine, le Japon, le royaume d’Ava, celui de Siam, l’île de Ceylan, & les îles de la Sonde, dont les principales sont Sumatra, Borneo, Java, l’île des Célebes, les Moluques, les Philippines, les Maldives: elle peut avoir d’occident en orient environ 1750 lieues, & du midi au septentrion 1550. Les peuples de ce vaste continent, ceux sur-tout qui en occupent le milieu, & qui habitent les côtes de l’Océan septentrional, nous sont peu connus: excepté les Moscovites qui en possedent quelque portion, & dont les caravanes en traversent tous les ans quelques endroits, pour se rendre à la Chine, on peut dire que les Européens n’y font pas grand négoce. S’il y a quelque chose d’important à observer sur le commerce d’Asie, cela ne concerne que les côtes méridionales & orientales: le lecteur trouvera aux différens articles des noms des lieux, les détails généraux auxquels nous nous sommes bornés sur cet objet.53

Über die Völker selbst wird schon in diesem Überblicksartikel ausgesagt, dass nur wenig Wissen («peu connus») über sie vorhanden sei. Dies wird an die Feststellung geknüpft, dass die Europäer zu Asien in wenigen Handelsbeziehungen stehen. Auch hier wird explizit, dass Wissen nicht nur über die Gestaltungsformen und die Geschichte des konkreten ökonomischen Handels besteht,

51 Es finden sich laut Recherchetool der ENCCRE-Ausgabe 1455 Fundstellen zum Begriff «Asie», 1068 davon im Wissensgebiet Geographie, vgl. Denis Diderot/Jean Le Rond d’Alembert (Hg.): Encyclopédie (ENCCRE). Hier schlägt sich die lange wirtschaftliche Beziehung zu Europa im geographischen Wissen und in der ‹Geographisierung› des Kontinents nieder. 52 An anderer Stelle wird Asien neben Europa zu den schönsten Kontinenten der Welt gezählt: «Dardanelles (Canal ou Detroit des), Géog. mod. fameux canal qui sépare les deux plus belles parties de la terre, l’Europe & l’Asie.» (Louis de Jaucourt: Dardanelles, in: Denis Diderot/Jean Le Rond d’Alembert (Hg.): Encyclopédie (ENCCRE). Bd. 4, S. 631. Generell, so im Eintrag Continent, werde in alte und neue Kontinente eingeteilt: «On divise ordinairement la terre en deux grands continents connus, l’ancien & le nouveau: l’ancien comprend l’Europe, l’Asie, & l’Afrique ; le nouveau comprend les deux Amériques, septentrionale & méridionale.» (Jean Le Rond d’Alembert: Continent, in: Denis Diderot/Ders. (Hg.): Encyclopédie (ENCCRE). Bd. 4, S. 113. 53 N. N.: Asie, in: Denis Diderot/Jean Le Rond d’Alembert (Hg.): Encyclopédie (ENCCRE). Bd. 1, S. 755.

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sondern dass das Wissen über den kolonialen Anderen auch aus den Handelsbeziehungen resultiert. Die Fähigkeit und das Ausüben von Handel sind generell als menschliche und damit epistemologisch-relevante Marker zu betrachten. In Asien etwa beherrsche ein einziges, über ganz Asien verstreutes Volk, das Bänkervolk der Benjans, den Handel – auch mit den Europäern: Benjans, s. m. plur. (Hist. mod. & Commerce) sorte d’Indiens répandus dans toute l’Asie, par les mains desquels se fait tout le commerce. Ils font le courtage pour les compagnies de France, d’Angleterre & de Hollande. Ils ne le cedent en rien pour l’expérience, pour l’habileté & l’avidité du gain, ni aux Arméniens ni aux Juifs. Ils font aussi la banque. Ils ont beaucoup de crédit, & sont d’assez bonne foi. Ils ont des caisses où l’on peut déposer en sûreté son argent.54

Arabien wird danach beurteilt, ob und inwiefern es See- oder Landhandel mittels Karawanen organisiert: Quant au commerce, l’Arabie heureuse est presque la seule où il y en ait. […] Mocha est à l’entrée de la mer Rouge ; on y voit arriver des vaisseaux de l’Europe, de l’Asie, & de l’Afrique ; outre le commerce maritime, il s’en fait encore un par terre par le moyen des caravanes d’Alep & de Suez […].55

Ein Organisationsprinzip für die asiatischen Wissensbestände sind die großen Städte, die als Handelsknotenpunkte Umschlagplätze für Waren und Wissen und Räume des Kulturkontakts sind (wie friedlich oder ausbeuterisch dieser sich dann auch immer konkret gestaltet). Als paradigmatische asiatische Handelsstädte seien hier Aleppo und Konstantinopel genannt. Das syrische Aleppo wird nachgerade reduziert auf ihre Existenz als internationaler Marktplatz:56 «On voit à Alep des marchands François, Anglois, Hollandois, Italiens, Arméniens, Turcs, Arabes, Persans, Indiens, &c».57 Im Eintrag zu Konstantinopel, laut

54 Denis Diderot: Benjans, in: Ders./Jean Le Rond d’Alembert (Hg.): Encyclopédie (ENCCRE). Bd. 2, S. 204. 55 Denis Diderot: Arabie, in: Ders./Jean Le Rond d’Alembert (Hg.): Encyclopédie (ENCCRE). Bd. 1, S. 570. 56 Ähnlich funktionieren auch die Handelsplätze in den afrikanischen Handelshäfen, die im modernen Französisch mittlerweile für «Zwischenhalt» stehen: «Escale, s. f. (Commerce) On nomme ainsi, sur les côtes d’Afrique, ce qu’on appelle une échelle dans le Levant, c’est-àdire un lieu de commerce où les marchands negres viennent apporter leurs marchandises aux Européens: on le dit aussi des endroits où les Européens vont faire la traite avec eux.» (EdméFrançois Mallet: Escale, in: Denis Diderot/Jean Le Rond d’Alembert (Hg.): Encyclopédie (ENCCRE). Bd. 5, S. 929. 57 Denis Diderot: Alep, in: Ders./Jean Le Rond d’Alembert (Hg.): Encyclopédie (ENCCRE). Bd. 1, S. 254.

2.1 Figuren und Figurationen kolonialer Macht

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Artikel eine der größten und reichsten Städte Europas, wird die Handelsbeziehung zu den Europäern mit dem Grad an Zivilisiertheit verknüpft und durch die architektonisch sichtbare Analogie mit dem antiken Rom (Senat, Kapitol, Theater, ‹Zirkus›) gestützt. Es werden zahlreiche Handelsgüter umgeschlagen, die im Eintrag wiederum listenartig nur akkumuliert werden, ähnlich wird der Frauenmarkt mit Blickmomenten der Nacktheit und des Schleiers evoziert: Constantinople, (Géog. & Comm.) l’une des plus grandes & plus riches villes de l’Europe, à l’extrémité de la Romanie, capitale de l’empire Ottoman, & la résidence des sultans. Elle étoit autrefois capitale de l’empire des Grecs en Orient. Elle est sur le détroit qui sépare l’Europe de l’Asie. Long. 46. 33. lat. 41. 4. Il s’y fait un commerce immense. C’est l’ancienne Bysance. Elle a été bâtie par Constantin: ce fut cet empereur qui y transporta le siége de l’empire. On l’appella la nouvelle Rome,& ce fut à juste titre: car il y eut un sénat, un cirque, des théatres, un capitole, & en un mot tout ce qui se remarquoit dans l’ancienne Rome. Les Turcs s’en emparerent en 1453. Les nations Chrétiennes y ont presque toutes un ministre protecteur de leurs commerçans. Les Anglois, les Hollandois, & les Vénitiens, y portent des draps. Il faut que ces marchandises soient bien teintes, bien travaillées, bien aulnées. Il leur en vient aussi d’Espagne. On y commerce aussi beaucoup d’étoffes précieuses, en soie, or, & argent. Les François y débitent beaucoup de papier. Le reste des marchandises convenables pour ce lieu consiste en quincaillerie, aiguilles, rocailles, pierre de mine, fer-blanc, or & argent filés ; de la bonnetterie ; quelques préparations pharmaceutiques, comme huile d’aspic, verdet, tartre, &c. certaines épiceries, comme sucre, camfre, vif-argent, cochenille, céruse, plomb, &c. On reçoit en échange des lettres, quelques laines, quelques peaux, de la potasse, de la cire, &c. On y vend beaucoup d’esclaves de l’un & de l’autre sexe: ils viennent principalement de Georgie, de Mingrelie, de Circassie, & de divers lieux voisins de la mer noire. La vente s’en fait au jassir-barat ou marché des esclaves. C’est un endroit fermé de murailles & planté de grands arbres. On commence par prier pour le sultan. Les jeunes filles sont nues, sous une couverture qui les enveloppe: un crieur en publie le prix: le marchand visite la marchandise ; si elle lui convient, il la paye & l’emmene.58

Am Ende des Eintrags zeigt sich eine nahezu szenische Darstellung des Sklavenhandels, indem Blickachsen evoziert werden (der Verhinderung von Blicken durch den ummauerten Sklavenmarkt oder der Fokussierung des Blickes auf die nackten versklavten Mädchen) und indem der Ablauf des Handels geschildert wird. Damit bekommt der koloniale Andere als ökonomische Diskursfigur aber eine Agenz zugesprochen, die ihn zwar immer noch marionettenhaft erscheinen lässt, die aber als kulturelles Handelsverfahren aufscheint. Und folglich bekommt der ökonomische Alteritätsdiskurs eine anthropologische und kulturalistische Färbung.

58 Denis Diderot: Constantinople, in: Ders./Jean Le Rond d’Alembert (Hg.): Encyclopédie (ENCCRE). Bd. 4, S. 59.

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2 Macht und Ambivalenz in den Narrationen des kolonialen Anderen

Neben dem Befund, dass der koloniale Andere in Handelsbeziehungen zum Europäer zwar eintreten kann, oftmals aber nahezu hinter ihnen verschwindet, gibt es in der Encyclopédie auch Passagen, in denen explizit Handlungen in Form von Handelssitten beschrieben werden. Sehr augenfällig wird dies immer dort, wo die Verfahren des Handels von den europäischen abweichen. So etwa in den afrikanischen Küstenregionen des Palabre, wo Gastgeschenke gegenüber Afrikanern wie Europäern Usus sind, was in der kolonial-ökonomischen Logik aber nicht als moralisch-soziale Geste, sondern als Handelstechnik rubriziert wird: Palabre, s. f. (Commerce) On appelle ainsi sur les côtes d’Afrique, particuliérement à Loango de Boirie, à Melindo & à Cabindo, situés sur celles d’Angola, ce qu’on nomme avanie dans le levant, c’est-à-dire, un présent qu’il faut faire aux petits rois & aux capitaines negres, sur le moindre sujet de plainte qu’ils ont réellement, ou qu’ils feignent d’avoir contre les Européens qui font la traite, sur-tout lorsqu’ils se croient les plus forts. Ces palabres se payent en marchandises, en eau-de-vie & autres choses semblables, suivant la qualité de l’offense, ou plutôt la volonté de ces Barbares. Voyez AVANIE ,Diction. de commerce.59

In der Türkei aber sind die Handelssitten sogar konträr zu den europäischen: Während der Betrug60 im türkischen Handel eingeschrieben ist und nicht geahndet würde, wäre in Europa genau das Gegenteil der Fall. In einer chiastischen Verschränkung kontrastiert de Jaucourt hier europäisches und türkisches Handels-/Steuerrecht: On ne leve en Turquie qu’un seul droit d’entrée fort modique, après quoi tout le pays est ouvert aux marchandises. Les déclarations fausses n’emportent même ni confiscation ni augmentation de droits. Tout le contraire se pratique en Europe ; les peines fiscales y sont très-séveres. C’est qu’en Europe le marchand a des juges qui peuvent le garantir de

59 Edmé-François Mallet: Palabre, in: Denis Diderot/Jean Le Rond d’Alembert (Hg.): Encyclopédie (ENCCRE). Bd. 11, S. 771. 60 Ähnlich ist der Eintrag zum Schmuggel angelegt: Unter dem Lemma Contrebande wird der Status der Handelswirtschaft in eine evolutionäre Metapher gekleidet («Dans les pays où le commerce n’est point encore sorti de son enfance») und an die europäischen Verfahren gebunden: «l’exportation de l’or & de l’argent est défendu sous les peines les plus rigoureuses. L’exemple de l’Espagne, du Portugal, & même celui de la France dans le tems des refontes lucratives au thrésor royal, prouvent l’impuissance de cette prohibition chimérique. A voir les craintes répétées de l’auteur du dictionnaire du Commerce sur la quantité d’argent qui sort de l’Angleterre, on seroit tenté de croire qu’il n’imaginoit pas qu’il y en pût rentrer. Si l’ouvrage étoit moins estimable, on ne feroit pas cette remarque: mais en rendant justice au zele & à l’application de l’auteur, il est bon de ne pas s’abandonner à ses principes.» (François Véron de Fortbonnais: Contrebande, in: Denis Diderot/Jean Le Rond d’Alembert (Hg.): Encyclopédie (ENCCRE). Bd. 4, S. 129–131, hier S. 130.

2.1 Figuren und Figurationen kolonialer Macht

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l’oppression ; en Turquie les juges seroient eux-mêmes les oppresseurs ; & le trésor de Constantinople ne retireroit rien.61

Am Ende des Eintrags zur Barbarie schildert Diderot noch dezidiert eine Handelssitte in Timbuktu: Le commerce de Tamboucton, capitale de Gago, se fait singulierement, c’est un échange d’or en sel. Le marchand met son sel à terre sur des nattes de jonc, & se retire: le Negre vient, il examine le tas de sel qui lui convient, il met à côté la poudre d’or qu’il en veut donner, & se retire à son tour: le marchand se rapproche ; si la quantité d’or lui convient, il prend une poignée de sel qu’il met à côté de l’or ; si elle ne lui convient pas il ne met rien ; il se retire ensuite: le Negre se rapproche & emporte son sel ou augmente la quantité d’or, ou retire son or, & tout cela se fait sans parler. Le silence est ordonné par la loi, comme le seul moyen de prévenir les querelles entre les marchands, & il s’observe rigoureusement.62

Diese detaillierte Schilderung lässt ökonomischen und kulturellen Diskurs ineinander übergehen, wird hier doch die Handelssitte als kulturelle Praktik präsentiert und damit der koloniale Andere nicht nur in den zivilisierten Stand der Handelsfähigkeit überführt, sondern auch in seiner kulturalistischen Differenz markiert. Diese Passage weist also – im Gegensatz zu den generellen ökonomischen und kontinental-dimensionierten Encyclopédie-Einträgen – Akteure in ihren lebenspraktischen Handlungen aus, auch wenn sie selbstredend nicht als Individuen, sondern als stereotype Stellvertreter (hier: «les marchands») konstruiert werden. Handel, Wissen und kolonialer Anderer sind nicht nur über das diskursive Feld ökonomischen Wissens, der Güter oder Handelsfähigkeit der fremden Völker verbunden sondern auch Thema im semantischen Feld der Navigation.63 61 Louis de Jaucourt: Zzuéné ou Zzeuene, in: Denis Diderot/Jean Le Rond d’Alembert (Hg.): Encyclopédie (ENCCRE). Bd. 17, S. 750. 62 Denis Diderot: Barbarie, in: Ders./Jean Le Rond d’Alembert (Hg.): Encyclopédie (ENCCRE). Bd. 2, S. 69. 63 Des Weiteren werden im Zusammenhang mit Navigation die entsprechenden technischen Hilfsmittel thematisiert wie Karten und Globen (vgl. dazu auch Jean Le Rond d’Alembert: Carte, in: Denis Diderot/Ders. (Hg.): Encyclopédie (ENCCRE). Bd. 2, S. 706–709 sowie im Eintrag «Navigation se dit en particulier de l’art de naviguer ou de déterminer tous les mouvemens d’un vaisseau par le moyen des cartes marines. Il y a trois especes de Navigation ; la navigation plane, celle de Mercator, & la circulaire. Dans la navigation plane on se sert des rhumbs tracés sur une carte plate. Voyez CARTE & RHUMB.», N. N.: Navigation, in: Denis Diderot/Jean Le Rond d’Alembert (Hg.): Encyclopédie (ENCCRE). Bd. 11, S. 56–58, hier S. 56). Weitere transkontinentale Phänomene sind Naturphänomene wie der Ozean (vgl. Louis de Jaucourt: Océan, in: Denis Diderot/Jean Le Rond d’Alembert (Hg.): Encyclopédie (ENCCRE). Bd. 11, S. 335) oder das Erdbeben (vgl. Paul-Henri Thiry d’Holbach: Tremblemens de terre, in: Denis Diderot/Jean Le Rond d’Alembert, (Hg.): Encyclopédie (ENCCRE). Bd. 16, S. 580–583), aber auch das Leben

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2 Macht und Ambivalenz in den Narrationen des kolonialen Anderen

Die Technologien, Reisemittel und Kartographien werden in die Encyclopédie als praktisches Wissen eingespeist, bekommen aber in diesem Zusammenhang einen dezidiert alteritären, fast noch: kolonialen Index. Gute Navigationskünste sicherten einen Zugriff und Vorsprung auf koloniale Besitzungen. In der Encyclopédie geht diese Beobachtung weit in die Geschichte zurück: Der Untergang des römischen Reichs etwa wird im Eintrag Navigation an die Präsenz der Barbaren gebunden, die durchaus auf intelligente Weise sich die Vorteile der Navigationskunst und des damit verbundenen Wissens zunutze machen: La chûte de l’empire Romain entraîna après elle non-seulement la perte des Sciences & des arts, mais encore celle de la Navigation. Les Barbares qui ravagerent Rome se contenterent de jouir des dépouilles de ceux qui les avoient précédés. Mais les plus braves & les plus sensés d’entre ces barbares ne furent pas plutôt établis dans les provinces qu’ils avoient conquises (les uns dans les Gaules, comme les Francs, les autres en Espagne, comme les Goths, les autres en Italie, comme les Lombards), qu’ils comprirent bientôt tous les avantages de la Navigation ; ils surent y employer habilement les peuples qu’ils avoient vaincus ; & ce fut avec tant de succès, qu’en peu de tems ils furent en état de leur donner eux-mêmes des leçons, & de leur faire connoître les nouveaux avantages qui pourroient leur en revenir.64

Gleichwohl können d’Alembert und Mallet im Eintrag nicht entscheiden, welches europäische Volk zuerst Navigation und Handel betrieb. Diese Frage scheint einen großen Stellenwert in seinen Reflexionen einzunehmen, begründet sie doch Vorstellungen von zivilisatorischer Überlegenheit des Europäers gegenüber allen anderen: On ignore quel peuple de l’Europe a commencé le premier à faire le Commerce & la Navigation, après l’établissement de ces nouveaux maîtres. Quelques-uns croient que ce sont les Francs, quoique les Italiens paroissent avoir des titres plus authentiques, & soient ordinairement regardés comme les restaurateurs de cet art […].65

Dieses kompetetitive Moment schlägt sich auch in anderen Wissensbereichen nieder, so etwa im Bereich der Kartographie.66 Die europäische Macht und Über-

selbst unter juristischen Geschichtspunkten (vgl. Antoine-Gaspard Boucher d’Argis: Vie, in: Denis Diderot/Jean Le Rond d’Alembert (Hg.): Encyclopédie (ENCCRE). Bd. 17, S. 257) oder als Lebenserzählung (vgl. Louis de Jaucourt: Goeghy, in: Denis Diderot/Jean Le Rond d’Alembert (Hg.): Encyclopédie (ENCCRE). Bd. 7, S. 729). 64 Jean le Rond d’Alembert/Edmé-François Mallet: Navigation, in: Denis Diderot/Jean Le Rond d’Alembert (Hg.): Encyclopédie (ENCCRE). Bd. 9, S. 54–55, hier S. 55. 65 Ebd. 66 Vgl. bspw. Jean Le Rond d’Alembert: Oriental, in: Denis Diderot/Ders. (Hg.): Encyclopédie (ENCCRE). Bd. 11, S. 642.

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legenheit werden deutlich: Der Europäer vermisst die Welt und kartographiert sie – ein machtvoller Gestus, der zugleich ein zentrales epistemisches Moment des 18. Jahrhunderts ist (zur Bedeutung der Kartographie im Kontext der Forschungsreisen des 18. Jahrhunderts vgl. bspw. die Studie von Despoix,67 zum Wandel der Kartographie vom Instrument der Vermessung zum Instrument der Eroberung die Analysen von Schlögel 68) und als Geste kolonialen mappings verstanden werden kann.69 Zugleich wird der Konnex von Navigationskunst und Handel argumentativ gefestigt. Dieser Kausalzusammenhang wird in der Encyclopédie auch historisch durch die Schilderung der ersten Navigatoren belegt, um die Erfindung der Navigationskunst zu legitimieren, um ihre wirtschaftliche Notwendigkeit direkt anzuschließen und um durchaus auch den Boden für das wirtschaftlich-begründete Kolonialprojekt zu bereiten: Cependant les Historiens nous représentent les Phéniciens, & particulierement les habitans de Tyr, comme les premiers navigateurs ; ils furent, dit-on, obligés d’avoir recours au commerce avec les étrangers, parce qu’ils ne possédoient le long des côtes qu’un terrein stérile & de peu d’étendue ; de plus, ils y furent engagés, parce qu’ils avoient deux ou trois excellens ports ; enfin ils y furent poussés par leur génie, qui étoit naturellement tourné au commerce.70

Warenhandel. Handelsgeschichten als Warengeschichten Neben den Techniken, Wegen und Vehikeln für die kolonialen Handelsbeziehungen sind auch die Einträge zu den Kolonialwaren selbst sehr aufschluss-

67 Vgl. Philippe Despoix: Die Welt vermessen. Dispositive der Entdeckungsreise. Göttingen: Wallstein Verlag 2009. 68 Vgl. Karl Schlögel: Im Raume lesen wir die Zeit. Über Zivilisationsgeschichte und Geopolitik, München: Hanser 2003. 69 Die Magellan-Straße in Nordamerika wird als geographisches Phänomen (natürlich) unmittelbar an ihren großen Entdecker und die europäische globale Eroberungszeit gebunden. Diese Heldengeschichte wird auch narrativ-rhetorisch als Erzählung eingeführt und an die machtvolle Geste des naming gebunden: «Magellan, Détroit de (Géog.) celebre dans l’Amérique septentrionale. Ce fut en 1519, dans le commencement des conquêtes espagnoles en Amérique, & au milieu des grands succès des Portugais en Asie & en Afrique, que Ferdinand Magalhaens, que nous nommons Magellan, découvrit pour l’Espagne le fameux détroit qui porte son nom ; qu’il entra le premier dans la mer du Sud, & qu’en voguant de l’occident à l’orient, il trouva les îles qu’on nomme depuis Marianes,& une des Philippines, où il perdit la vie. Magellan étoit un portugais auquel on avoit refusé une augmentation de paye de six écus. Ce refus le détermina à servir l’Espagne, & à chercher par l’Amérique un passage, pour aller partager les possessions des Portugais en Asie.» (Louis de Jaucourt: Magellan, in: Denis Diderot/Jean Le Rond d’Alembert (Hg.): Encyclopédie (ENCCRE). Bd. 9, S. 849–850, hier S. 849. 70 Jean le Rond d’Alembert/Edmé-François Mallet: Navigation, (Hydrographie) in: Denis Diderot/Jean Le Rond d’Alembert (Hg.): Encyclopédie (ENCCRE). Bd. 11, S. 54–55, hier S. 54.

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reich. Hier zeigt sich eine Art transkontinentaler Bezugsrahmen, denn Waren und Transportmittel können nicht in nur einem Land zu verortet werden. Hier wird deutlich, dass der koloniale Andere nicht nur in spezifischer Art und Weise in den geographischen Einträgen präsent ist, sondern dass er auch in den Einträgen zu (vornehmlich Kolonial-)Waren71 als ihr unsichtbarer Hersteller mitreist. Somit erzählt die Encyclopédie, wenn sie die Informationen aus der kolonialen Welt in sich aufnimmt und den kolonialen Anderen beschreibt, auch eine Warengeschichte des Kolonialhandels. Exemplarisch seien hier einige Einträge zu Waren aufgeführt, in denen z. T. das Kolonialwesen, der koloniale Andere aber fast immer unsichtbar bleibt. Im Eintrag Luxe werden explizit Zucker, Pfeffer und Kaffee als Kolonialwaren Frankreichs ausgewiesen.72 All diese Waren stehen nämlich nicht nur in einem diskursiven Zusammenhang mit dem Kolonialwesen und der -wirtschaft, sondern auch mit den Luxusdiskuren der Aufklärung (vgl. die ausführlichen Reflexionen im Eintrag Population73). Im Eintrag Luxe selbst wird die Beziehung zwischen Luxus und zivilisatorischen Errungenschaften (Künste, Wissenschaft, Handwerk etc.) dargestellt und überdies – insbesondere im Falle Portugals aber auch im Falle Frankreichs – im direkten Zusammenhang mit den Kolonien gesehen: La France, en laissant tomber son agriculture & ses manufactures de premiere ou seconde nécessité, auroit encore des branches de commerce abondantes en richesses ; le poivre de l’Inde, le sucre & le caffé de ses colonies, ses huiles & ses vins, lui fourniroient des échanges à donner à l’étranger, dont elle tireroit une partie de son luxe ; elle soutiendroit encore ce luxe par ses modes: cette nation longtems admirée de l’Europe en est encore imitée aujourd’hui. Si jamais son luxe étoit excessif, rélativement au produit de ses terres & de ses manufactures de premiere ou seconde nécessité, ce luxe seroit un remede à lui-même, il nourriroit une multitude d’ouvriers de mode, & retarderoit la ruine de l’état.74

Auf die kritische Haltung gegenüber dem Luxus in der französischen Aufklärung und die Frage danach, wie etwa die Sklavenwirtschaft mit diesem Luxus71 Die Bezeichnung als Ware markiert bereits die diskursive Einbindung der Dinge in einen ökonomischen Diskurs. Zur Präsenz und Evidenz fremder Dinge, die inner- wie außerhalb ökonomischer, duchaus aber kolonialistischer Diskurse im 18. Jahrhundert in Europa zu finden sind (vgl. Birgit Neumann: Präsenz und Evidenz fremder Dinge im Europa des 18. Jahrhunderts, Göttingen: Wallstein Verlag 2015). 72 Vgl. [Jean-François de Saint Lambert]: Luxe, in: Denis Diderot/Jean Le Rond d’Alembert (Hg.): Encyclopédie (ENCCRE). Bd. 9, S. 763–771. 73 Vgl. Etienne Noel d’Amilaville: Population, in: Denis Diderot/Jean Le Rond d’Alembert (Hg.): Encyclopédie (ENCCRE). Bd. 13, S. 88–103. 74 [Jean-François de Saint Lambert]: Luxe, in: Denis Diderot/Jean Le Rond d’Alembert, (Hg.): Encyclopédie (ENCCRE). Bd. 9, S. 763–771, S. 765.

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streben verbunden ist, wird später näher eingegangen; an dieser Stelle ist der Konnex zwischen Luxus und Kolonialwesen festzuhalten. Der Eintrag Caffé beginnt mit der Feststellung einer Diskrepanz zwischen europäischer Omnipräsenz und epistemischer Unsicherheit: Der Kaffee habe Einzug in Europa gehalten, über seine Herkunft aber herrschten Uneinigkeit und Irrtümter.75 Noch extremer und skeptischer ist die Beurteilung der Informationslage beim afrikanischen Pfeffer: «J’ai lu dans le recueil des voyages, les descriptions de la plante qui produit ce poivre ; on ne peut y ajouter aucune foi, parce qu’elles sont toutes infidelles, & se contredisent les unes les autres.»76 Nach einer eingehenden Erörterung der Pflanzenart und botanischen Klassifikation im Eintrag Caffé, mache es der alltägliche Umgang damit in der Türkei, in Persien, Armenien und Europa vollkommen überflüssig, eine nähere Beschreibung auszuführen: L’usage depuis ce tems en est devenu si familier chez les Turcs, chez les Persans, chez les Arméniens, & même chez les différentes nations de l’Europe, qu’il est inutile de s’étendre sur la préparation, & sur la qualité des vaisseaux & instrumens qu’on y employe.77

Ähnlich wie im Eintrag etwa zu Baumwollverarbeitung gibt es in diesem Artikel keinen Hinweis auf den Anbau der Kaffeepflanze78 als Plantagengewächs, keine Andeutung von Plantagenwirtschaft, kolonialen Handelswegen und Sklavereiwirtschaft; allein die Verweise auf die technisch-handwerkliche Verarbeitung in Form von Mühlen und Gerätschaften, die in den Planches bildlich repräsentiert werden, sind zu finden. Kurz werden unterschiedliche Zubereitungsarten diskutiert sowie Gewohnheiten, Kaffee mit oder ohne ein begleitendes Glas Wasser zu sich zu nehmen. Den Abschluss dieses Eintragsteils bilden Diskussionen über die medizinischen Auswirkungen des Getränks. Sehr lakonisch bildet dann in einer Art Appendix ein Absatz die wirtschaftliche Bedeutung des Kaffees ab: sehr verkürzt, ohne Quellenangabe, selektiv und aber in seinem Informationsgehalt glaubwürdig: «Le commerce du caffé est considérable: on assûre que les seuls habitans du royaume d’Yemen en débitent tous les ans pour plusieurs millions ; ce qu’on n’aura pas de peine à croire, si l’on fait attention à la consommation prodigieuse.»79

75 Vgl. Denis Diderot/Urbain de Vandenesse: Caffé, in: Denis Diderot/Jean Le Rond d’Alembert (Hg.): Encyclopédie (ENCCRE). Bd. 2, S. 527–529. 76 Louis de Jaucourt: Poivre d’Afrique, in: Denis Diderot/Jean Le Rond d’Alembert (Hg.): Encyclopédie (ENCCRE). Bd. 12, S. 896. 77 Denis Diderot/Urbain de Vandenesse: Caffé, S. 528. 78 Vgl. ebd. sowie die Ausführungen von Andreas Gipper: Wunderbare Wissenschaft, S. 329. 79 Denis Diderot/Urbain de Vandenesse: Caffé, S. 528.

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2 Macht und Ambivalenz in den Narrationen des kolonialen Anderen

Neben Kaffee- ist der Tabakkonsum bereits Teil der französischen Alltagskultur. Eine der vermutlich längsten Kolonialwarengeschichten hat der Tabak, der laut Eintrag Tabac schon 1560 nach Europa kam.80 Nach der Eruierung der Pflanzenbeschaffenheit und unterschiedlicher Anbaugebiete wird Tabak als universelles und globales Phänomen ausgewiesen: On ne peut voir, sans surprise, que la poudre ou la fumée d’une herbe vénéneuse, soit devenue l’objet d’une sensation délicate presque universelle: l’habitude changée en passion, a promtement excité un zele d’intérêt pour perfectionner la culture & la fabrique d’une chose si recherchée ; & la nicotiane est devenue par un goût général, une branche très-étendue du commerce de l’Europe, & de celui d’Amérique.81

Als «une branche très-étendue du commerce» wird der Tabak hier noch recht kurz abgehandelt und vor allem die medizinischen, insbesondere die nachteiligen Auswirkungen von Tabakgenuss diskutiert. Unter der Kategorie Commerce werden die kulturhistorischen Auswirkungen des Tabakhandels (Tabac, culture du) – und es zeigt sich abermals, dass Wissen über koloniale Waren auf den unterschiedlichsten Wissenszweigen des enzyklopädischen Erkenntnisbaumes sitzt: Geographie, Naturgeschichte, Handel, Botanik etc. Damit ist Tabak keineswegs allein eine ökonomische Ware, sondern auch Wissensbestand unterschiedlichster Bereiche und Relevanz. Diese Handelsgeschichte des Tabaks wird nun weiterhin als weltweite Erfolgs- und Verführungsgeschichte erzählt: «Mais malgré les adversaires qui attaquerent l’usage de cette plante, son luxe séduisit toutes les nations, & se répandit de l’Amérique jusqu’au Japon.»82 Nach Beschreibungen zu Pflanzenarten und Anpflanzung wird zwar kurz die «plantation» erwähnt, der Eintrag schließt aber mit der Handelsbeschreibung, dass der Tabakhandel sich zwischen europäischen Händlern abpielt: «Telle est la culture du tabac que les fermiers de France achetent des Anglois [...] mais jamais les tabacs de la Louisiane ne seront cultivés & achetés sans la liberté du commerce.»83 Unter der Kategorie der Manufacture wird die Tabakverarbeitung eingehend beschrieben, dann folgt aber ein dezidierter Eintrag zum nordamerikanischen Produktionsort des Tabaks, die ferme du tabac. In diesem Eintrag finden sich Kalkulationen von Menscheneinsatz im Rahmen der Kolonialwirtschaft in all ihrer entmenschtlichen, buchhalterischen Kälte. Hier werden explizit kolonialwirtschaftliche Organisationsfragen der Compagnie des Indes beschrieben, Kosten

80 die 81 82 83

Vgl. Louis de Jaucourt: Tabac, in: Denis Diderot/Jean Le Rond d’Alembert (Hg.): Encyclopé(ENCCRE). Bd. 15, S. 784–791. Ebd., S. 785. Ebd., S. 786. Ebd.

2.1 Figuren und Figurationen kolonialer Macht

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und Abnahmezahlen kalkuliert und Vorteile aufgezeigt. Der Tabakanbau findet auf «nos îles» und «nos colonies» statt und koste etwa 35.000 Menschen, «ames, chefs & enfans» für den Anbau: Tabac, ferme du, (Comm. des fermes) les fermiers généraux ont enlevé la ferme du tabac à la compagnie des Indes ; ils ont réuni les sous-fermes [...]. Or cinq millions à deux cent livres de consommation par personne, peuvent faire subsister vingt-cinq mille ames de plus. La culture des tabacs à la Louisiane, se feroit, supposons, par dix mille ames, chefs & enfans ; voilà un total de trente-cinq mille personnes d’accroissement dans les colonies, [...]& que par cette seule branche de commerce, la France recueilleroit de quoi nourrir tous les ans trente cinq-mille hommes de plus, qui sont aujourd’hui dans la misere. Ajoutons qu’il est dangereux de mettre en pure finance, une régie qui par sa nature devoit être essentiellement en finance-commerce. Un autre avantage de cette opération, c’est que le commerce, par son activité & ses retours, jette par-tout l’abondance & la joie, tandis que la finance, par sa cupidité, & l’art quelle a de parvenir à son but, jette par-tout le dégoût & le découragement. On ose bien assurer qu’il n’entre dans ce jugement, ni haine, ni satyre ; mais on croit voir dans la plus grande impartialité, que les choses sont ainsi.84

Der koloniale Tabakanbau wird hier nicht nur als Produktion eines schlichten Konsum- oder Luxusgutes für den europäischen Markt beschrieben. De Jaucourt weist ausdrücklich auf die sozialpolitischen Vorteile hin, vermag seinen Berechnungen zufolge der Zugewinn doch 35.000 Franzosen zu ernähren, die derzeit noch im Elend leben. Und an dieses Argument knüpft de Jaucourt eine generelle Reflexion über den Unterschied zwischen Handel und Finanzen: Während der Handel für Wohlstand und Freude sorge, sei das Finanzwesen geprägt von Abscheu und entmutigendem Schrecken. Kolonialkontext und Ökonomieeloge zusammengenommen führen zu dem Eindruck, dass in diesem Eintrag der Handel nicht nur einen globalen, sondern auch einen dezidiert kolonialen Indexbekommt, der wiederum unmittelbar mit dem Nutzen für Frankreich verbunden und damit legitimiert wird. Auch hier bleiben die benötigten Arbeiter für den Tabakanbau nicht nur als Akteure blass, sondern werden durch die Formulierung «ames, chef & enfans» nachgerade entmenschlicht und gerade nicht als Sklaven bezeichnet.85

84 Louis de Jaucourt: Tabac, S. 791, Hervorhebung K. S. 85 Unter dem Lemma Plantation hingegen findet sich überraschenderweise keinerlei Hinweis auf die Kolonialwirtschaft; de Jaucourt diskutiert dort (eingeordnet in das Wissensgebiet der Moralistik, die schöpferischen und machtvollen Möglichkeiten, die Natur selbst zu formen und zu gestalten und rekurriert ausführlich auf Verse von Vergil und das europäische Baumschulund Gartenwesen (vgl. Louis de Jaucourt: Plantation, in: Denis Diderot/Jean Le Rond d’Alembert (Hg.): Encyclopédie (ENCCRE). Bd. 12, S. 710–712.

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2 Macht und Ambivalenz in den Narrationen des kolonialen Anderen

Ferner wurde Ingwer (ähnlich wie auch Ananas86) aus den beiden Indien nach Europa gebracht, werde hier aber nur von «curieux» angebaut. de Jaucourt beschreibt Ingwer als koloniale Handelsware und als Heilpflanze – oder zumindest als gesundheitsförderliche Wurzel. Deutlich ist sie als in Europa omnipräsente, explizite Kolonialware eingeführt und unter die Kategorie Commerce subsumiert: Gingembre, (racine de) Comm. Il n’est pas possible de calculer la quantité de gingembre dont les Indes fournissent l’Europe chaque année, parce que les vaisseaux marchands qui viennent de nos colonies en apportent sans-cesse, soit en nature, soit confit.87

Im abschließenden Teil des Artikels wird Ingwer auch als medizinisch wirksame Pflanze beschrieben. Interessant für die Konstruktion des kolonialen Anderen ist dabei nicht nur die medizinische Wirkung und die Fertigkeit der europäischen Mediziner, diese – auch für die Steigerung der Potenz, die hier mit dem euphemistischen Begriff der Großherzigkeit, «magnanimité», beschrieben wird – richtig einzusetzen, sondern auch die Nostrifizierung der exotischen Pflanze. Als Marmelade nämlich werde sie «sur nos tables» serviert und schmecke ganz vorzüglich: On use beaucoup plus fréquemment dans les prescriptions magistrales, du gingembre confit ; celui-ci est beaucoup plus doux, mais il est encore assez actif pour réveiller doucement le jeu de l’estomac, exciter l’appétit, faciliter la digestion, donner des forces, & ce que les Medecins appellent pudiquement de la magnanimité, si on en mange plusieurs morceaux dans la journée: au reste, cette confiture est très-agréable ; & on la sert assez communément sur nos tables.88

Eine medizinisch eingesetzte und importierte Ware ist auch die peruanische Chinarinde. Diese komme zwar aus Peru und werde dort auch zu medizinischen Zwecken eingesetzt, dies aber nur sehr spärlich:

86 Vgl. Louis Jean Marie Daubenton/Denis Diderot: Ananas, in: Denis Diderot/Jean Le Rond d’Alembert (Hg.): Encyclopédie (ENCCRE). Bd. 1, S. 405. Auf den Anbau von Bananen und Ananas hat auch Friedrich der Große Bezug genommen, derden aufwändig betriebenen AnanasAnbau mit dem vergleichweise vernachlässigten ‹Kulturivieren› des Menschen kontrastiert: «Ich ärgere mich, wenn ich sehe, welche Mühe man sich in diesem rauhen Klima gibt, um Ananas, Bananen und andere exotische Pflanzen zum Gedeihen zu bringen […]. Der Mensch ist wertvoller als alle Ananasse dieser Welt. Er ist die Pflanze, die man züchten muss» (Friedrich der Große nach Zygmunt Bauman: Moderne und Ambivalenz, S. 52). Bauman unterstreicht in seinen Analysen in Bezug auf diese Textpassage zwar den Produktionsmittelcharakter, der dem Menschen in Analogie zu Pflanzen zukommt, übersieht aber vollkommen den kolonialen Kontext (oder lässt ihn zumindest für seine Argumentation hier unerwähnt). 87 Louis de Jaucourt: Gingembre, in: Denis Diderot/Jean Le Rond d’Alembert (Hg.): Encyclopédie (ENCCRE). Bd. 7, S. 662. 88 Ebd.

2.1 Figuren und Figurationen kolonialer Macht

117

Il est arrivé au quinquina ce qui arrive à presque tous les remedes communs & de peu de valeur, dans les pays où ils naissent, & où on les trouve, pour ainsi dire, sous la main. On en fait au Pérou, généralement parlant, peu de cas & peu d’usage: on le craint & on en use peu à Lima, beaucoup moins à Quito, & presque point à Loxa.89

Aber (erst) in Europa, so führt der Artikel fort, könne die Pflanze ihre wahre Wirkkraft entfalten: «Mais en Europe, le débit en est prodigieux, par la vertu spécifique qu’il a de guérir les fievres intermitentes».90 Ganz ähnlich beurteilt de Jaucourt auch den Gebrauch des ethiopischen Pfeffers: «Les Ethiopiens s’en servent pour les douleurs de dents ; ils pourroient en faire un meilleur usage.»91 Den gegenteiligen Fall beschreibt de Jaucourt für Tee, dem in China und Japan zwar märchenhaft-heilende Wirkung zugesprochen wird, diese Wirkung sei in Europa jedoch eher dem Verzehr des heißen Wassers zuzuerkennen und Tee in Maßen zu konsumieren: Les Chinois & les Japonois attribuent au thé des vertus merveilleuses, comme il arrive à tous ceux qui ont éprouvé quelque soulagement ou quelque avantage d’un remede agréable ; il est du-moins sûr que dans nos pays, si l’on reçoit quelque utilité de cette boisson, on doit principalement la rapporter à l’eau chaude. […] le meilleur, pour la conservation de la santé, est d’en user en qualité de remede, & non de boisson agréable, parce qu’il est ensuite très-difficile de s’en priver. Il faut bien que cette difficulté soit grande, puisqu’il se débite actuellement en Europe par les diverses compagnies environ huit à dix millions de livres de thé par an, tant la consommation de cette feuille étrangere est considérable.92

Während bei Tee oder Ingwer der Nutzen der Pflanze vom Wissen der Europäer bzw. dem Unwissen oder Wunderglauben der Anderen in der kolonialen Welt abhängt und folglich Wissenshierarchien durch Kontrastierung hergestellt werden, gibt es noch eine andere Form der interkulturellen Gegenüberstellung: die Analogie oder Gleichstellung. Dies ist etwa der Fall im Eintrag Sucre d’Erable, in dem die Gewinnung des Zuckers aus Ahorn von den Wilden wie von den Franzosen in gleicher Weise vorgenommen wird: «Voici la maniere dont les Sauvages & les François s’y prennent pour en tirer le sucre. […] Les Sauvages & les François du Canada».93 Hier werden scheinbar gerade keine Wissens- oder 89 Louis de Jaucourt: Quinquina, in: Denis Diderot/Jean Le Rond d’Alembert (Hg.): Encyclopédie (ENCCRE). Bd. 13, S. 716–719, hier S. 719. 90 Ebd., auch hier stehen sicherlich La Condamines Reiseberichte und Jussieus Arbeiten zur Chinarinde aus der Expedition von 1735 im Hintergrund. 91 Louis de Jaucourt: Veteres les, in: Denis Diderot/Jean Le Rond d’Alembert (Hg.): Encyclopédie (ENCCRE). Bd. 17, S. 222. 92 Louis de Jaucourt: Thé, in: Denis Diderot/Jean Le Rond d’Alembert (Hg.): Encyclopédie (ENCCRE). Bd. 16, S. 223–226, hier S. 226. 93 Alexandre Deleyre: Sucre d’Érable, in: Denis Diderot/Jean Le Rond d’Alembert (Hg.): Encyclopédie (ENCCRE). Bd. 15, S. 616.

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2 Macht und Ambivalenz in den Narrationen des kolonialen Anderen

Technikkonkurrenzen thematisiert. Franzosen und Wilde,94 wie die nordamerikanischen Einwohner in der Encyclopédie bezeichnet werden, erscheinen gleichermaßen bewandert in der Ahornzuckergewinnung. Gleichwohl steht der kolonialistische Begriff des Wilden neben dem eher nationalistischen Begriff des (kanadischen Franzosen); und überdies wird der Techniktransfer, nämlich, dass die Europäer die Zuckergewinnung von den Einheimischen erlernt haben, nicht thematisiert. Diese Analogisierung erscheint als nur scheinbare Gleichstellung: In Lexik und dissimuliertem Techniktransfer zeigt sich dennoch die Überlegenheit des französischen Kolonialherren. Jenseits von Verzehr- und Heilpflanzen werden auch Nutzpflanzen nach Europa importiert, die etwa wie Baumwolle oder Wolle als Kolonialwaren für europäische Märkte relevant sind. Auch im Eintrag Coton wird die Pflanze zunächst botanisch eingeordnet und beschrieben, bevor Diderot sich an die Schilderung von Verarbeitung und europäischer Nutzung macht. Dort heißt es zunächst, dass die französischen Inseln Amerikas die beste Baumwolle liefern – und zwar Frankreich und seinen Nachbarn: Les îles françoises de l’Amérique fournissent les meilleurs cotons qui soient employés dans les fabriques de Roüen & de Troyes. Les étrangers, nos voisins, tirent même les leurs de la Guadeloupe, de Saint-Domingue, & des contrées adjacentes. Ils ont différentes qualités.95

Zur Verarbeitung wird in diesem Teil des Artikels der Erntevorgang, der sich für den europäischen Export ja als Plantagenwirtschaft organisiert, schlicht nur als «Après la récolte» zusammengefasst, während die anschließende Verarbeitung deutlich ausführlicher beschrieben wird. Ähnlich ist dies im Eintrag Thé, wo die Ernte in Japan als von darauf spezialisierten Arbeitern beschrieben wird: «Ce n’est pas une chose fort aisée que la récolte du thé: voici de quelle façon elle se fait au Japon. On trouve pour ce travail des ouvriers à la journée, qui n’ont point d’autres métiers»96 und überdies dann ein ausgesuchter Teil der Teeernte dem japanischen Herrscher zukommt.97 Im Eintrag Coton werden zwar

94 Vartija betont hier: «the French word ‘sauvage’ was used as a noun and adjective throughout the entire encyclopaedia to refer to the natives of America, as well as indigenous peoples in other locations» (Devin Vartija: Racial Hierarchy and Natural Equality: Contradictions and Ambiguities in Eighteenth-Century Encyclopaedias (Master Thesis), Utrecht University 2012 (Graue Literatur), S. 51). Zur enzyklopädischen Verwendung des Begriffs «sauvage» als Heterostereotyp vgl. die Analysen in den folgenden Kapiteln. 95 Denis Diderot: Coton, in: Ders./Jean Le Rond d’Alembert (Hg.): Encyclopédie (ENCCRE). Bd. 4, S. 306–315, hier S. 306. 96 Louis de Jaucourt: Thé, hier S. 224. 97 Vgl. ebd.

2.1 Figuren und Figurationen kolonialer Macht

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zur Beschreibung der Herstellung98 Aufgaben beschrieben, die jeweils von einem Mann oder von Frauen übernommen werden, allerdings ohne jeglichen kolonialwirtschaftlichen Kontext.99 Selbst der Hinweis über die durch die «Indiens» entwickelte Herstellungsart von Baumwolle erfolgt nur zur Kontrastierung der Herstellungsart.100 Auch im Eintrag zu Velours wird eine identifizierende und ausbeuterische Kolonialgeschichte erzählt. Als «nos colonies» liefern sie die besten Textilwaren und Stoffe, die es nur zu ‹ernten› gelte: Nos colonies & la compagnie des Indes peuvent fournir du coton ; il n’est donc pas nécessaire d’avoir recours à l’étranger pour se procurer les matieres qui conviennent ; il n’en est pas de même des peluches, il faut tirer d’Afrique tout le poil qui en fait la figure, conséquemment cette étoffe est plus avantageuse à l’état que les peluches, puisqu’on ose assurer d’avance, qu’outre l’avantage de posséder les matieres qui la composent, elle aura encore celui-ci de la durée qui sera infiniment au-dessus de tout ce qui a été fait en France jusqu’à ce jour.101

Ob Baumwolle, Tee, Kaffee oder Velours: In allen Artikeln werden die Kolonien und Länder personifiziert, indem diese Waren liefern oder man aus ihnen Rohstoffe bezieht: Menschen als Sklaven auf Plantagen und in der Produktion sucht man nahezu vergeblich. Diese kolonialistisch-ökonomische Leerstelle in der Produktionskette ist vielleicht nicht verwunderlich, aber auffällig. Aber neben dieser Leerstelle aufseiten der Produktion ist eine andere Dimension jener ‹Ernte› in den afrikanischen oder überseeischen Ländern präsent. Diese Ernte geschieht nämlich nicht nur als Ausbringung von Waren in Form von Bodenschätzen, Früchten oder handwerklichen Erzeugnissen: Diese Ernte besteht auch im Handel mit Menschen.

98 In der Folge wird die genaue Vorgehensweise beim Kämmen der Wolle beschrieben; interessanterweise kippt hier die Beschreibung in den Imperativ und wird dadurch zu einer Gebrauchsanweisung: «Cette opération est la plus difficile à apprendre, & la plus nécessaire à bien savoir. […] Pour y procéder, prenez de la main gauche la plus longue de vos cardes, ensorte que les dents regardent en-haut, & que les pointes courbées soient tournées vers la main gauche ; menagez-vous la liberté du pouce, & le pouvoir de glisser la main d’un bout à l’autre de la carde. Prenez de la main droite un flocon, par le tiers de sa longueur ou environ ; portez-en l’extrémité sur la carde, engagez-la dans les dents, aidez-vous du pouce gauche, si vous le trouvez à-propos» Denis Diderot: Coton, in: Ders./Jean Le Rond d’Alembert (Hg.): Encyclopédie (ENCCRE). Bd. 4, S. 306–315, hier S. 307. 99 Im Artikel gibt es auch Verweise auf die entspr. Planches, auf denen die Sklavenwirtschaft allenfalls angedeutet ist. 100 Vgl. Denis Diderot: Coton, S. 309 f. 101 [Denis Diderot]: Velours, in: Ders./Jean Le Rond d’Alembert (Hg.): Encyclopédie (ENCCRE). Bd. 16, S. 882–907, S. 907.

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2 Macht und Ambivalenz in den Narrationen des kolonialen Anderen

Sklavenhandel. Handelsgeschichten als Menschenwarengeschichten Menschen – so scheint es im Zusammenhang mit dem ökonomisch akzentuierten Kolonialdiskurs – kommen weniger als Händler, als vielmehr als stumme Lieferanten oder gar als Ware vor. Und so ist es nicht verwunderlich, dass eine besonders prominente Figur des kolonialen Anderen, die insbesondere in den afrikanischen Artikeln immer wieder zu Sprache kommt, ebenfalls in diese ökonomische Logik gefasst wird: die des Sklaven ist. Dabei schwelt zur Zeit der Entstehung der Encyclopédie schon seit geraumer Zeit eine kontroverse und hitzig geführte politisch-ökonomische Debatte um die Legitimation der Sklaverei, anthropologisch-philosophische Diskussionen über den Status der Sklaven, die u. a. auf Prinzipien des Naturrechts102 (und im Anschluss dann als Menschenrechtsdiskurse) fußen.103 In einer ersten Lektüre der Encyclopédie-Artikel der kolonialen Welt aber scheint insbesondere der ökonomistische Sklaverei-Diskurs dominant. Dies ist nicht zuletzt auch der praktisch-handwerklichen Ausrichtung der Encyclopédie geschuldet, auch wenn Sklaverei als wichtiger wirtschaftlicher Faktor in der französischen und europäischen Warenwirtschaft einen marginalen Platz in der Encyclopédie überhaupt einnimmt.104 Daher nimmt es auch nicht wunder, dass der Sklave in diesem kolonial-ökonomischen Diskurs nicht als Mensch oder kulturalisierte Person beschrieben und wahrgenommen, sondern dass er pimär als Handelsware behandelt wird. Und so findet der Sklave in vielen Encyclopédie-Artikeln seinen Platz inmitten von Aufzählungen über Feldfrüchte oder Bodenschätze. Wie im Eintrag zu den afrikanischen Jalofes, in dem Sklaven sich unmittelbar an Feldfrüchte, Tierfelle oder Elfenbein anschließen: «Il ne croît ni bled ni vin dans leur pays, mais beaucoup de dattes dont ils font leur breuvage, & du mays dont ils font leur pain. On tire de ce pays des cuirs de boeufs, de la cire, de l’ivoire, de l’ambre-gris, & des esclaves.»105

102 Exemplarisch seien hier die Ausführungen von Voltaire in seiner Histoire universelle genannt, in der er den Konnex zwischen naturgemäßer Ungleichheit und Sklaverei zieht (vgl. Voltaire nach Madeleine Dobie: Trading places. Colonization and slavery in eighteenth-century French culture, Ithaca: Cornell University Press 2010, S. 299). 103 Vgl. hierzu die grundlegende Forschungsliteratur aus der Einleitung der vorliegenden Arbeit sowie Yves Benot: Diderot, de l’athéisme à l’anticolonialisme; Madeleine Dobie: Trading places; Jean Ehrard: Lumières et esclavage; Andreas Eckert: Aufklärung, Sklaverei, Abolition; Sabine Broeck: Das Subjekt der Aufklärung – Sklaverei – Gender Studies: Zu einer notwendigen Relektüre der Moderne, S. 152–180; Damien Tricoire (Hg.): Enlightened Colonialism. Civilization Narratives and Imperial Politics in the Age of Reason, Cham: Springer International Publishing 2017; zur weiteren historischen Einordnung die Geschichte der Sklaverei vgl. Christian Delacampagne: Die Geschichte der Sklaverei. 104 Vgl. Madeleine Dobie: Trading places. 105 Louis de Jaucourt: Jalofes, les, ou Geloffes, in: Denis Diderot/Jean Le Rond d’Alembert (Hg.): Encyclopédie (ENCCRE). Bd. 8, S. 438.

2.1 Figuren und Figurationen kolonialer Macht

121

Dabei rekurrieren die Artikel einerseits auf ein Sklavereisystem, das sich unabhängig von der kolonialen Thematik bereits in Afrika bzw. in europäischer Vorzeit entwickelt hatte, andererseits auf den Sklavenhandel als dezidiert wirtschaftliche Thematik, die in ihrem Nutzen für Frankreich legitimierbar ist. Demzufolge geht es zum einen um jenen Sklaven, der als Gefangener in den Besitz und damit in die ‹Nutzung› eines anderen eintritt. Dieser Typus kommt etwa im Eintrag Captif zur Sprache, wird dort mit Piraterie korreliert und historisch an den christlichen Gefangenen der Barbaresken entwickelt. Jener «captif», so heißt es dort, sei ein esclave ou personne prise sur l’ennemi, en particulier par un pirate ou corsaire. Voyez ESCLAVE, PIRATE, &c. On appelle plus particulierement de ce nom les esclaves chrétiens que les corsaires de Barbarie font dans leurs courses, & que les PP. de la Merci & les Mathurins vont racheter de tems en tems à Alger & dans d’autres endroits de la partie septentrionale d’Afrique.106

Hier klingen durch die Semantik von Feind, Pirat und «personne prise» Konnotationen von Unrechtmäßigkeit an, die sich selbstredend nur in der Gefangennahme christlich-europäischer Geiseln entwickeln lässt. Ganz anders sieht es selbstredend aus, wenn zum anderen der Typus des Handelssklaven konturiert wird. Im handelsökonomischen Diskurs werden die Sklaven wie leblose Rohstoffe und Warenbeschrieben. Im Eintrag zu Angola etwa beschreibt Diderot dort ungerührt, dass seine Küste «fournit aux Européens les meilleurs Negres».107 Im Anschluss beschreibt er die Handelspraxen der Portugiesen, die einerseits den Sklavenhandel so exzessiv betreiben, dass man erstaunt sei, das Land noch nicht vollkommen entvölkert vorzufinden; andererseits aber häuft Diderot in einer Auflistung von Waren den Gegenwert der Sklaven auf: les Portugais sont puissans dans le continent ; & ils en tirent un si grand nombre d’habitans, qu’on est étonné qu’ils n’ayent pas dépeuplé le pays. Ils donnent en échange pour les negres des draps, des plumes, des étoffes, des toiles, des dentelles, des vins, des eauxde-vie, des épiceries, des quincailleries, du sucre, des hameçons, des épingles, des aiguilles, &c. Les Portugais ont à Benguela une habitation si mal-saine, qu’ils y releguent leurs criminels. Voyez BENGUELA.108

In dieser Passage sind zwei Momente auffällig: einerseits das Machtgefälle zwischen Anbietern und Käufern und die Kritik am Sklavenhandel, die jedoch

106 N. N. Captif, in: Denis Diderot/Jean Le Rond d’Alembert (Hg.): Encyclopédie (ENCCRE). Bd. 2, S. 640. 107 Denis Diderot: Angola, in: Ders./ Jean Le Rond d’Alembert (Hg.): Encyclopédie (ENCCRE). Bd. 1, S. 465. 108 Ebd.

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2 Macht und Ambivalenz in den Narrationen des kolonialen Anderen

durch die eigentümliche Warenliste uneindeutig ausfällt. Andererseits fällt hier ein Argumentationsbruch ins Auge, der zwischen der unkommentierten Warenliste und den Beschreibungen der Unterbringungen der Portugiesen auftaucht. Es finden sich in der Encyclopédie jedoch auch sklavereikritische Stimmen innerhalb des ökonomischen Diskurses bzw. unter seinem Deckmantel. Dies ist exemplarisch in de Jaucourts Eintrag Traite des negres109 der Fall. Obwohl thematisch im «Commerce» verortet, werden gleich zu Beginn kritische Töne angeschlagen: Traite des negres, (Commerce d’Afrique) c’est l’achat des negres que font les Européens sur les côtes d’Afrique, pour employer ces malheureux dans leurs colonies en qualité d’esclaves. Cet achat de negres, pour les réduire en esclavage, est un négoce qui viole la religion, la morale, les loix naturelles, & tous les droits de la nature humaine. […] D’un autre côté, aucun homme n’a droit de les acheter ou de s’en rendre le maître ; les hommes & leur liberté ne sont point un objet de commerce ; ils ne peuvent être ni vendus, ni achetés, ni payés à aucun prix.110

Auffällig ist hier der argumentative ‹Rundumschlag›, der nicht nur durch das empathische Attribut der «malheureux» Partei für die Sklaven ergreift, sondern den Handel als inakzeptabel ausweist: religiös, moralisch, natur- und menschenrechtlich. In der Folge des Artikels wird ein «commerce de ce genre» dezidiert und entschieden, in ungewöhnlich exklamatorischer Rhetorik abgelehnt und als «crime» ausgewiesen.111 Der «traite des nègres»112 dürfe nicht zur Bereicherung oder für «notre luxe» fortgeführt werden. Ganz im Gegenteil: Die grundlegenden Menschenrechte müssten gar zum Untergang der Kolonien führen: A qui est-il permis de devenir opulent, en rendant malheureux ses semblables ? Peut-il être légitime de dépouiller l’espece humaine de ses droits les plus sacrés, uniquement pour satisfaire son avarice, sa vanité, ou ses passions particulieres ? Non.... Que les colonies européennes soient donc plutôt détruites, que de faire tant de malheureux !113

109 Vgl. Louis de Jaucourt: Traite des negres, in: Denis Diderot/Jean Le Rond d’Alembert (Hg.): Encyclopédie (ENCCRE). Bd. 16, S. 532–533, hier S. 532. 110 Ebd. 111 Dobie weist hier zurecht darauf hin, dass diese Art der Meinungsäußerung de Jaucourts auch damit zusammenhängt, dass etwa 10 Jahre nach den Artikeln zu Esclave und Esclavage im Eintrag Traite des nègres ein abolitionistischer und kolonialismuskritischer Diskurs öffentlicher und virulenter in Frankreich geworden ist (vgl. Madeleine Dobie: Trading places, S. 301). 112 Im Rahmen der vorliegenden Arbeit wird der französische Begriff «nègre» als historischer Terminus für die Wiedergabe der Zitate beibehalten; die jeweiligen rassistischen, diskriminatorischen diskursiven Verfahren werden expliziert und als Diskursmechanismen ausgewiesen. 113 Louis de Jaucourt: Traite des negres, hier S. 532.

2.1 Figuren und Figurationen kolonialer Macht

123

Signifikant ist im Zusammenhang mit der Machtartikulation des Kolonialdiskurses, dass in diesem Eintrag sowohl Empathie und Gleichheit artikuliert wird («malheureux», «ses semblables») als auch eine machtvolle kritische Position, aus der heraus die gängige Praxis buchstäblich in (eine rhetorische) Frage gestellt werden kann – und zwar in einer Argumentation gegen die Inbesitznahme eines Menschen: «aucun homme n’a droit de les acheter […] les hommes […] ne sont point un objet de commerce».114 Hier steckt die machtvolle Position in der Argumentationsrichtung, denn nicht der Sklave wird in erster Linie in den Stand eines freien Menschen erhoben, sondern die Argumentation geht von der Perspektive jener (Kolonial-)Herren aus, die Menschen nicht wie Waren erstehen, verkaufen und besitzen dürfen. Es ist zwar nachvollziehbar, dass der enzyklopädische Erzähler seine sklaverei- (und vielleicht auch kolonial-)kritische Kritik an den Kolonialenherren und damit an den Agressor formuliert. Überraschend aber ist, dass die Diskursmacht dezidiert den Kolonialherren argumentativ zugeordnet wird und die Kritik an Unterdrückung und das Recht auf égalité nicht aus der Stärkung der Position der Sklaven formuliert wird. Die Argumentationsfigur, auf der diese entschiedene Ablehnung nun fußt, ist eine juristisch-philosophische Diskussion zu Natur- und Menschenrechten. Der juristische Eintrag Esclave ist in diesem Zusammenhang insofern aufschlussreich, als er den Sklaven als dezidierte Rechtsfigur entwickelt. Er bindet diese Rechtsfigur im juristischen Diskurs stark an Argumentationsfiguren der ökonomischen Kolonialdiskurse einerseits und an Prämissen der historischnaturrechtlichen Debatten andererseits an und repetiert damit auch Montesquieus Argumentationen im Esprit des lois, ohne dies allerdings explizit zu machen. Dadurch ergeben sich durchaus einige Widersprüche im Eintrag, die jedoch zugunsten der Kolonialherren aufgelöst werden. Die enzyklopädische Instanz bestimmt zum einen Sklaverei als menschliche Erfindung (wider die qua Naturrecht jedem Menschen zugestandene Freiheit): «Suivant le droit naturel tous les hommes naissent libres ; l’état de servitude personnelle est une invention du droit des gens. Voyez ESCLAVE.»115 Diese Erfindung wird nicht weiter kommentiert, sondern die historische Tradition der Sklaverei etwa bei den Lakedemoniern, Ägyptern oder Griechen rekonstruiert, um dann in einer langen Liste Sklavenbezeichnungen «selon l’emploi qu’ils avoient chez leur maître»116 aufzuführen. Aus diesem historischen Kontext generiert sich dann die (von de Jaucourt durchaus kritisch formulierte) rein ökonomische Logik des

114 Ebd. 115 Antoine-Gaspard Boucher d’Argis: Esclave, in: Denis Diderot/Jean Le Rond d’Alembert, (Hg.): Encyclopédie (ENCCRE). Bd. 5, S. 939–943, hier S. 939. 116 Ebd.

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2 Macht und Ambivalenz in den Narrationen des kolonialen Anderen

Kolonialismus, die Sklaven folglich nicht mehr als Menschen, sondern als Waren bzw. mehr noch: als Besitz definiert werden: «Les esclaves n’étoient point mis au rang des personnes, on ne les regardoit que comme des biens.»117 Neben dieser distanten historischen Herleitung schiebt die enzyklopädische Instanz die Sklaverei noch ein weiteres Mal in weite Ferne, diesmal aber geographisch. Während in Frankreich alle «personnes» frei seien und auch jeder Sklave, der sich taufen ließe, Freiheit erlangen könne, so seien Sklaven nur noch in den französischen Territorien in Übersee zu finden (interessanterweise ist von Amerika, nicht aber von Afrika die Rede): Mais présentement en France toutes personnes sont libres, & si-tôt qu’un esclave y entre, en se faisant baptiser il acquiert sa liberté, ce qui n’est établi par aucune loi, mais par un long usage qui a acquis force de loi. Il ne reste plus d’esclaves proprement dits dans les pays de la domination de France, que dans les îles françoises de l’Amérique ; l’édit du mois de Mars 1685, appellé communément le code noir, contient plusieurs réglemens par rapport aux negres que l’on tient esclaves dans ces îles.118

Hier führt die christliche Taufe aber nicht in die Freiheit, sondern ist genuiner Teil der Sklaven‹haltung›, kodifiziert durch den Code Noir von 1685: Im Encyclopédie-Artikel wird ausführlich diskutiert, wie christliche Dogmen und Gebräuche (etwa keine Arbeit auf den Zuckerplantagen oder Sklavenhandel auf dem Markt an Sonn- und Feiertagen, Heirats- und Geburtsregelungen, Besitzregelungen etc.119 mit der Sklavenwirtschaft in Einklang zu bringen sind. Diese Argumentation ist u. a. deshalb möglich, da die Sklaven eben auf den Status von Warenbesitz reduziert werden und nicht Gegenstand menschlicher Nächstenliebe oder Gnade werden müssen oder gar können. Die Sklavenbesitzer entscheiden schließlich nicht nur über die Lebensumstände und den Arbeitseinsatz der Sklaven sondern auch über Leben und Tod.120 Im Encyclopédie-Eintrag werden Strafmaße und körperliche Bestrafungen beschrieben, insbesondere bei Diebstahl durch einen Sklaven oder gar dessen Flucht:

117 Ebd. 118 Ebd. 119 Vgl. ebd. 120 Hier ist der Artikel argumentativ inkonsistent bzw. widersprüchlich. Zwar legt der enzyklopädische Erzähler eindeutig fest, dass die Tötung von Sklaven strafrechtlich zu verfolgen sei: «Si un maître ou un commandeur tue un esclave à lui soûmis, il doit être poursuivi criminellement»; aber der Herr solle etwa die Flucht mit dem Tod ahnden und könne auch relativ unkompliziert für die Tötung eines Sklaven freigesprochen werden: «mais s’il y a lieu de l’absoudre, il n’est pas besoin pour cela de lettres de grace.» Ebd., S. 942.

2.1 Figuren und Figurationen kolonialer Macht

125

Un esclave qui a été en fuite pendant un mois, à compter du jour que son maître l’a dénoncé en justice, a les oreilles coupées & est marqué d’une fleur-de-lis sur l’épaule ; la seconde fois il est marqué de même, & on lui coupe le jarret ; la troisieme fois il est puni de mort.121

Erst im Eintrag Esclavage wird unter der Rubrizierung «Droit nat. Religion, Morale», der analog zur juristischen Definition mit der Problematik des natürlichen Rechts der Freiheit einsetzt, im Gegensatz zum juristischen Eintrag Esclave explizit den Esprit des lois verwiesen.122 Dabei wird die Entwicklung der Sklaverei einerseits aus dem universellen Streben reicher Menschen nach Wohlstand und Luxus («des biens superflus»123) abgeleitet, das mit der Indienstnahme von Arbeitern einherging, die gegen Bezahlung, aber im Einverständnis niedere Arbeiten verrichteten. Andererseits sei die Sklaverei historisch aus der Zwangsarbeit von Kriegsgefangenen hervorgegangen. So kommt die enzyklopädische Instanz zu dem durchaus kritischen Schluss der beschämenden Universalität der Sklaverei: La loi du plus fort, le droit de la guerre injurieux à la nature, l’ambition, la soif des conquêtes, l’amour de la domination & de la mollesse, introduisirent l’esclavage, qui à la honte de l’humanité, a été reçu par presque tous les peuples du monde.124

Diese Universalität wird anhand der Sklaverei in der römischen und griechischen Antike festgemacht und damit in der eigenen europäischen Geschichte verwurzelt: Le droit de propriété sur les hommes ou sur les choses, sont deux droits bien différens. Quoique tout seigneur dise de celui qui est soûmis à sa domination, cette personne-là est à moi ; la propriété qu’il a sur un tel homme n’est point la même que celle qu’il peut s’attribuer, lorsqu’il dit, cette chose-là est à moi. La propriété d’une chose emporte un plein droit de s’en servir, de la consumer, & de la détruire, soit qu’on y trouve son profit, ou par pur caprice ; en sorte que de quelque maniere qu’on en dispose, on ne lui fait aucun tort ; mais la même expression appliquée à une personne, signifie seulement que le seigneur a droit, exclusivement à tout autre, de la gouverner & de lui prescrire des lois, tandis qu’en même tems il est soûmis lui-même à plusieurs obligations par rapport à cette même personne, & que d’ailleurs son pouvoir sur elle est très-limité. Quelques grandes injures qu’on ait reçu d’un homme, l’humanité ne permet pas, lorsqu’on s’est une fois réconcilié avec lui, de le réduire à une condition où il ne reste aucune

121 Ebd. 122 Vgl. Louis de Jaucourt: Esclavage, in: Denis Diderot/Jean Le Rond d’Alembert (Hg.): Encyclopédie (ENCCRE). Bd. 5, S. 934–939. 123 Ebd. 124 Ebd.

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2 Macht und Ambivalenz in den Narrationen des kolonialen Anderen

trace de l’égalité naturelle de tous les hommes, & par conséquent de le traiter comme une bête, dont on est le maître de disposer à sa fantaisie. Les peuples qui ont traité les esclaves comme un bien dont ils pouvoient disposer à leur gré, n’ont été que des barbares.125

Damit wird dem Sklaven gleichzeitig eine juristische und ökonomische Position zugewiesen, die moralisch und kulturphilosophisch reflektiert und damit selbst in den kritischen Passagen stabilisiert wird. Anthropologisch und naturgeschichtlich fundiert und legitimiert wird die Sklaverei in jenen Einträgen, die sich der Abwertung, der rassistischen Verurteilung und Dehumanisierung von insbesondere Afrikanern gewidmet haben. Einschlägig ist dabei der Eintrag Nègre126 selbst. Die Abwertung von ‹Negern› verurteilt Diderot hier aufs Schärfste,127 auch wenn sie ihm eher zur Selbstkritik denn zur Anerkennung des kolonialen Anderen dient: Quoiqu’en général les Negres aient peu d’esprit, ils ne manquent pas de sentiment. Ils sont sensibles aux bons & aux mauvais traitemens. Nous les avons réduits, je ne dis pas à la condition d’esclaves, mais à celle de bêtes de somme ; & nous sommes raisonnables ! & nous sommes chrétiens !128

Dieser exklamatorische Ausbruch scheint im scharfen Widerspruch zu den im Eintrag zuvor ausgeführten distanzierten, inhumanen und degradierenden Aussagen über die «négrillons» zu stehen. Diese selbstkritischen Aussagen und die Ablehnung von Sklaverei sind im Kontext einer aufklärerischen ‹Mission› zu verstehen, die die Welt ganz kantianisch von Unmündigkeit befreien will und, wie im universellen Eintrag zur Humanité formuliert, Sklaverei und Aberglaube den Kampf ansagt:

125 Ebd. 126 Vartija klagt den Enzyklopädisten Le Romain an: «Le Romain [...] wrote some of the most disparaging comments on African peoples in the Encyclopédie as well as dispassionate remarks about slavery and the slave trade.» Der Autor weist im Eintrag Animalisierung und die taxierende Begutachtung von guten und schlechten Sklaven anhand wertender Charakterisierungen nach. «Of all the articles in the Encyclopédie addressing Americans and Africans», schlussfolgert Vartija, «these remarks are perhaps the most negative.» (Devin Vartija: Racial Hierarchy and Natural Equality: Contradictions and Ambiguities in Eighteenth-Century Encyclopaedias, S. 58) Auch Kafker konstatiere nach Vartija «racial prejudices of a colonial administrator, as he was an engineer who worked in the colonies of Martinique and Grenada» (ebd.). Damzufolge seien sklavereikritische Bemerkungen unter dem Lemma Négre gänzlich absent. 127 Dass Diderot trotz der kritischen Haltung im Artikel den Begriff des ‹Nègre› verwendet, ohne diesen selbst als rassistisch anzuprangern, ist mit der historischen Begriffsverwendung zu erklären. 128 Denis Diderot: Humaine Espece, S. 347.

2.1 Figuren und Figurationen kolonialer Macht

127

HUMANITÉ, s. f. (Morale) c’est un sentiment de bienveillance pour tous les hommes, qui ne s’enflamme guere que dans une ame grande & sensible. Ce noble & sublime enthousiasme se tourmente des peines des autres & du besoin de les soulager; il voudroit parcourir l’univers pour abolir l’esclavage, la superstition, le vice & le malheur.129

Was in Humanité auf einen ersten Blick abolitionistisch und sklavereikritisch zu sein scheint, zeigt sich in einer kritischen Lektüre doch eher als eine selbstbezügliche Argumentationsfigur. In dem Maße, in dem Sklaverei mit Aberglaube, Unglück und Laster als zu überwindende Makel gleichgesetzt wird, gerät sie auf ein semantisches Feld, das lediglich die Angriffspunkte der Aufklärung versammelt und weniger die Sklaverei in ihren menschenverachtenden und rassistischen Diskursmechanismen angreift. Sehr deutlich, anklagend und dezidiert kolonialismus- und sklavereikritisch130 fallen einige Passagen im Eintrag Population aus (allerdings vor Zensurangriffen auch unter dem Lemma Population eher versteckt). Hier gibt es zum Ersten einen auf den ersten Blick expliziten Widerspruch zu einer der zentralen ökonomi(sti)schen Argumentationen, dass die Kolonien dem Wohlstand Frankreichs nutzen: «Loin d’augmenter la puissance, elles [les colonies, K. S.] l’affoiblissent en la partageant ; il faut diviser ses forces pour les conserver, & encore comment défendre des conquêtes d’un continent à l’autre ?»131 Zum Zweiten wird der Überlegenheitsanspruch der Europäer dezidiert angezweifelt und als Gegensatz im Diskurs ausgestellt. Der Eintrag kontrastiert hier die Überlegenheit als Herr über die Welt mit der illegitimen und illegalen Annahme, man könne andere Menschen besitzen (dies erinnert etwa an die Argumentation im bereits oben ausgeführten Eintrag Traite des nègres, wird hier aber wesentlich früher in der Publikationsgeschichte der Encyclopédie formuliert): On se croit fait pour être le maître quand on raisonne ainsi. Dans la supposition contraire on ne manqueroit pas de se dire que nul n’a le droit d’acquérir la possession individuelle

129 [Jean-François de Saint- Lambert]: Humanité, in: Denis Diderot/Jean Le Rond d’Alembert (Hg.): Encyclopédie (ENCCRE). Bd. 8, S. 348. 130 Voltaire und Diderot beziehen erst außerhalb der Encyclopédie dezidierter Stellung gegen kolonialistische Ausbeutung und Sklaverei: Diderot etwa in Raynals Histoire des deux Indes (vgl. Abbé G. Th. Raynal (Hg.): Histoire philosophique & politique des deux Indes und Voltaire unter dem Lemma Esclave in Voltaire: Questions sur l’Encyclopédie, par des amateurs, Bd. 4, Geneve 1775). 131 Etienne Noel d’Amilaville: Population, S. 99. Benot vermutet hier eine Reaktion auf die Erfahrungen (und Verluste der Kolonien) im Siebenjährigen Krieg (vgl. Yves Benot: Diderot, de l’athéisme à l’anticolonialisme, S. 168). An seine Analysen der Einträge Population und Vingitème und dem Zusammenhang zwischen der Encyclopédie und dem «droit de coloniser» knüpfen die vorliegenden Überlegungen an.

128

2 Macht und Ambivalenz in den Narrationen des kolonialen Anderen

d’un autre ; que la liberté est une propriété de l’existence inaliénable, qui ne peut se vendre ni s’acheter ; que les conditions d’un tel marché seroient absurdes ; qu’enfin les hommes n’appartiennent qu’à la nature, & qu’ils l’outragent par une coûtume qui les avilit & qui la dégrade.132

Auch hier überführt die sklavereikritische Argumentation (allerdings ohne in dieser Passage das Wort selbst zu benutzen) ökonomische Argumente in einen kulturphilosophischen, naturrechtlichen Diskurs, vor dem diese nicht bestehen können, ja nachgerade absurd sind. Und aus diesem naturrechtlichen Diskurs wird zum Dritten im Eintrag Population Sklaverei auf der Grundlage der Menschlichkeit kritisch abgelehnt – Benot sieht hier schon eine Argumentation im Sinne moderner Menschenrechtsdiskurse am Werke133 – und scharf verurteilt. Allerdings ist das Gegenstandsfeld dieser kritischen Bemerkungen (nicht zufällig) gerade nicht die zeitgenössische Sklavereipraxis in den Kolonien oder im Sklavenhandel, sondern die Sklaverei im antiken Athen und Rom. Zunächst bezieht sich der Artikel generell auf das HerrKnecht-Verhältnis, das im Rahmen von Despotismus und häuslicher Knechtschaft differenziert und moralisch bewertet wird: Quelque affreux que soit le despotisme civil, il est moins dur & moins cruel que la servitude domestique ; au moins dans le premier, la condition est générale, le malheureux n’a pas sans cesse sous les yeux la comparaison odieuse de son sort à celui dont jouit un autre être de son espece qui exerce sur lui une autorité tyrannique que rien au monde n’a pû lui donner ; l’esclavage est commun entre tous, & la nature humaine n’est foulée qu’aux piés d’un seul.134

Hier wird der Schrecken der häuslichen Knechtschaft über jene des Despotismus mittels einer ungewöhnlichen Argumentation gestellt, denn die unmittelbare Konfrontation mit einem gleichen Menschen («un autre être de son espece») sei für den Knecht unerträglich. Es wird zwar auch die Unrechtmäßigkeit der Machtausübung über einen anderen Menschen ausgeführt («une autorité tyrannique que rien au monde n’a pû lui donner»135). Als kolonialistische Diskursfigur aber ist der Perspektivwechsel in der Argumentation vom Despoten und Sklavenhändler zum unterdrückten Knecht und Sklaven durchaus ungewöhnlich – im Zusammenhang mit der antiken Sklaverei aber erklärlich, da es sich hier in der Logik des Kolonialdiskurses nicht um rassisch-markierte Sklaven handelt. Im Eintrag geht die Kritik an der antiken Sklaverei sogar noch

132 133 134 135

Etienne Noel d’Amilaville: Population, S. 102. Vgl. Yves Benot: Diderot, de l’athéisme à l’anticolonialisme, S. 169. Etienne Noel d’Amilaville: Population, S. 102. Ebd.

2.1 Figuren und Figurationen kolonialer Macht

129

weiter und greift – unter Rekurs auf Hume – die Rechtssprechung selbst im Hinblick auf ihre Reziprozität, um nicht zu sagen: ihre Gerechtigkeit, direkt an: Une preuve, dit M. Hume, de la barbarie que cet usage criminel inspire, c’est que toutes les lois concernant les esclaves étoient contr’eux, & qu’il n’y en avoit aucune pour engager les maîtres à des devoirs réciproques de douceur & d’humanité. […] & ce sont des hommes qui ont traité ainsi d’autres hommes !136

Im Weiteren werden im Eintrag Population die ungezählten Toten, die der Kolonialismus in Amerika und in Afrika gefordert habe, dezidiert beklagt: La différence des climats, celle des subsistances, les périls & les maladies du trajet, une infinité d’autres causes, font périr les hommes. Quels avantages a-t-on tiré pour la population de l’Amérique, du nombre prodigieux de negres que l’on y transporte continuellement de l’Afrique ? ils périssent tous ; il est triste d’avouer que c’est autant par les traitemens odieux qu’on leur fait souffrir, & les travaux inhumains auxquels on les employe, que par le changement de température & de nourriture.137

Nun mündet diese moralische Verurteilung zwar auch in eine generelle Kritik des Kolonialismus, da der wirtschaftliche Nutzen grundsätzlich angezweifelt wird (Reichtum gebiert immer gleichzeitig auch Armut), nimmt aber (auch aus Furcht vor Zensurgründen) keine explizite Kritik an der französischen Kolonialpolitik vor. Wie weiter unten im Zusammenhang mit dem Eintrag Fanatisme noch näher erläutert wird, zielt die Kritik (knapp an Frankreich vorbei) auf die Kolonialpolitik der spanischen Krone (auch wenn im «tirer pour nous l’or du fond des mines» eine solidarische Mittäterschaft alludiert wird): Encore une fois, quels efforts les Espagnols n’ont-ils pas fait pour repeupler les Indes & l’Amérique qu’ils ont rendues des déserts. Ces contrées le sont encore, & l’Espagne ellemême l’est devenue: ses peuples vont tirer pour nous l’or du fond des mines ; & ils y meurent. Plus la masse de l’or sera considérable en Europe, plus l’Espagne sera déserte ; plus le Portugal sera pauvre, plus long-tems il restera province de l’Angleterre ; sans que personne en soit vraiment plus riche. […]quel droit avoient les Espagnols d’exterminer les habitans d’une si grande partie de la terre ? quel est celui que nous avons d’aller chasser des nations de l’espace qu’elles occupent sur ce globe dont la jouissance leur est commune avec nous ? la possession dans laquelle elles sont n’est-elle pas le premier droit de propriété & le plus incontestable ? en connoissons-nous qui ait une autre origine ? nous le réclamerions si l’on venoit nous ravir nos possessions, & nous en dépouillons les autres sans scrupule.138

136 Ebd., S. 102 f. 137 Ebd., S. 99. 138 Ebd.

130

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Die Landnahme, fährt der Artikel kolonialkritisch – und nunmehr deutlich in der Gegenwart des 18. Jahrhunderts angekommen – fort, gehe mit der moralischen Infektion der Wilden einher. Sogar der Alkoholabusus in den Kolonien wird erwähnt: «Encore si nous n’avions envahi que l’espace ; mais nous avons fait épouser à ses habitans, aux sauvages même, nos haines ; nous leur avons porté quelques-uns de nos vices, & des liqueurs spiritueuses qui les détruisent jusque dans leur postérité.»139 Die diesen Schandtaten entgegengehaltenen politischen und wirtschaftlichen Argumente vermögen das Elend nicht aufzuwiegen: «On oppose à ces vérités des maximes politiques, & l’on fait valoir sur-tout l’intérêt du commerce ; mais ces maximes sont-elles si sages & ce commerce si intéressant que l’on paroît le penser ?»140 Nicht überraschend kulminiert der Eintrag dann auch in der generellen Kritik der Handelswirtschaft: «loin d’être utile aux hommes par la communication qu’il met entr’eux, le commerce seroit de toutes leurs inventions la plus fatale à l’humanité.»141 Und daran angeschlossen wird unmittelbar der zeitgenössische Luxus-Diskurs, der weiter oben schon ausgeführt wurde, und dessen Kritik. Im Artikel Population werden Luxus und Wissenschaft nicht nur korreliert, sondern im Gegensatz zu den Argumenten im kolonial-ökonomistischen Diskurs so korreliert, dass die Ursache-Wirkung-Argumentation sich umkehrt: Le commerce produit les richesses, & les richesses produisent le luxe: les Arts & les Sciences naissent des richesses & du luxe. On en a conclu que sans luxe il n’y avoit ni commerce, ni richesses, ni arts, ni sciences ; mais en raisonnant ainsi, on a fait une pétition de principe ; on ne s’est pas apperçu que de ce qui ne doit être que l’effet du commerce, on en faisoit la cause ; & qu’alors on sembloit dire que le seul qui pût produire les Arts & les Sciences, étoit celui de luxe ; ce qui n’est pas juste. Il n’est point de nation où les Arts & les Sciences ayent fleuri autant que chez les Grecs ; & leur commerce ne consistoit que dans l’échange des denrées de premiere nécessité.142

In dieser Argumenttion ist der Luxus nicht Grund für die Warenwirtschaft, sondern ihr Effekt; und gleichermaßen sind Wissenschaft und Kunst nicht Folge von wirtschaftlichem Wohlstand oder sogar Luxus. Als Grund dafür wird das antike Wirtschaftssystem angeführt, das herausragende Wissenschaften eher als Bedürfnisdeckungsgesellschaft denn als Bedarfsdeckungs- hervorgebracht habe. In einer postkolonialen Perspektive aber steckt hier noch eine andere Rolle von Kunst und Wissenschaft. In dieser Sicht sind Wissenschaft und Kunst

139 140 141 142

Ebd. Ebd. Ebd. Ebd.

2.1 Figuren und Figurationen kolonialer Macht

131

Teil einer Apologie (sei sie moralisch, szientifisch oder künstlerisch) einer Warenwirtschaft, die kolonial begründet ist. Auf diese Argumentationsfigur wird im Kapitel zu den Ambivalenzlektüren zurückzukommen sein. An dieser Stelle sei konstatiert, dass diese heftige Kritik am Wirtschaftssystem nicht unbedingt usus ist in der Encyclopédie. Denn trotz aller Argumentation gegen die Reifizierung und ökonomischen Warenlogik des kolonialen Anderen finden sich en gros in den Artikeln wirtschaftliche Argumentationsfiguren, in die der koloniale Andere eingebettet ist. In einem Artikel ist die Analogisierung von Menschenwaren und Objektwaren frappant, indem von Glasperlen die Rede ist, die gemeinsam mit bzw. neben den Sklaven transportiert werden «Verroterie, s. f. (Comm.) menue marchandise de verre ou de crystal, qu’on trafique avec les sauvages de l’Amérique, & les noirs de la côte d’Afrique.»143 Als Wissensobjekt kommen die kolonialen Anderen folglich oftmals erst oder nur als Ware in den Blick. Dass dieser Blick aber immanent von der Perspektive der europäischen Kolonialherren abhängt, wird in vielen Einträgen sehr deutlich, auch wenn diese eurozentrische, hierarchische und menschenverachtende Perspektive oftmals gar nicht expliziert wird sondern den Diskurs unmerklich bestimmt. Die Abhängigkeit insbes. des afrikanischen kolonialen Anderen von der kolonialen Präsenz des Europäers, die ihn allererst zum Objekt des Wissens macht, ist mithin in vielen Artikeln präsent. Das Land Kongo etwa wird weniger über seine Einwohner beschrieben («Ce pays est habité par des Negres, parmi lesquels il y en a grand nombre de chrétiens.»144) als über die Präsenz der Portugiesen, die das Land entdeckten und den dortigen Sklavenhandel einführten. Hieran schließt sich eine Argumentation an, die die Sklaven nach ihrer Qualität beschreibt, ähnlich wie die anderen Handelsgüter im Kolonialwarensystem – von Sklavereikritik keine Spur: la traite des esclaves est leur [des Portugais, K. S.] plus important commerce. Les meilleurs negres sont de San-Salvador & de Sondy ; le pays produit du morfil, de la cire, & de la civette: on y porte des étoffes d’or, d’argent, des velours, du galon, de la vaisselle de cuivre, des chapeaux, des armes, des eaux-de-vie, des vins, &c. Il y a dans le royaume du fer & du cuivre en mines.145

Ebenso nüchtern und faktenarm verfahren andere Encyclopédie-Einträge, in denen der Sklavenhandel als ein Merkmal unter vielen lakonisch abgehandelt

143 N. N.: Verroterie, in: Denis Diderot/Jean Le Rond d’Alembert (Hg.): Encyclopédie (ENCCRE). Bd. 17, S. 156. 144 N. N.: Congo, in: Denis Diderot/Jean Le Rond d’Alembert (Hg.): Encyclopédie (ENCCRE). Bd. 3, S. 868. 145 Ebd.

132

2 Macht und Ambivalenz in den Narrationen des kolonialen Anderen

wird, wie etwa im Eintrag zur afrikanischen Stadt Yamiamakunda, in dem der Sklavenhandel neben dem Elfenbeinhandel und der Präsenz der britischen Kolonialmacht steht: «Yamiamakunda, (Géog. mod.) ville d’Afrique dans le royaume de Tomani, au midi de la riviere de Gambra. Ses habitans commercent en ivoire & en esclaves: les Anglois y ont un comptoir.»146 Das afrikanische Gebiet Woolli wird gar reduziert auf einen Transitraum von Sklavenhandelsrouten: «Woolli, (Géog. mod.) […] Les marchands d’esclaves traversent cette contrée pour se rendre au port de Kover. Sa capitale qui n’est qu’un hameau, s’appelle Kaunkale.»147 Es kommen schließlich auch sklaverei-technische Begriffe vor. Die vielsprechende Negrerie etwa bezeichnet einen Ort, an dem die zum Sklavenhandel verschiffbaren Menschen auf ihren Abtransport warten müssen: Negrerie, s. f. (Commerce d’Afrique) lieu où ceux qui font le commerce des Negres, ont coutume d’enfermer leurs esclaves, soit sur les côtes d’Afrique, jusqu’à ce qu’ils puissent les embarquer, soit dans les îles Antilles &autres endroits où ils les débarquent, jusqu’à ce qu’ils ayent trouvé marchand ; d’autres disent captiverie.148

Und auch das Adjektiv «négrier» wird als Wissensobjekt im Bereich der Wirtschaft eingestuft und dort als Attribut zu Sklaventransportmitteln eingeführt. Jene «navires negriers» oder «vaisseaux negriers»149 dienten als Transportmittel auf dem transatlantischen Sklavenhandel. Lakonisch beschreibt Diderot im Eintrag zu Afrika den Sklavenhandel: «On tire de Benin & d’Angole beaucoup de Negres».150 Ähnlich ist es im Eintrag zum afrikanischen Königreich Ulcami, in dem kommentar- und kritiklos mit derselben Formulierung die Handelsware Sklave, die Handelsbeziehungen zu den Holländern und Portugiesen und der transatlantische Sklavenhandel genannt werden: «On en tire des esclaves qu’on vend aux Hollandois & aux Portugais, qui les transportent en Amérique.»151

146 Louis de Jaucourt: Yamiamakunda, in: Denis Diderot/Jean Le Rond d’Alembert (Hg.): Encyclopédie (ENCCRE). Bd. 17, S. 663. 147 Louis de Jaucourt: Woolli, in: Denis Diderot/Jean Le Rond d’Alembert (Hg.): Encyclopédie (ENCCRE). Bd. 17, S. 637. 148 N. N.: Negrerie, in: Denis Diderot/Jean Le Rond d’Alembert (Hg.): Encyclopédie (ENCCRE). Bd. 11, S. 84. 149 Edmé-François Mallet: Negrier, in: Denis Diderot/Jean Le Rond d’Alembert (Hg.): Encyclopédie (ENCCRE). Bd. 11, S. 84. 150 Denis Diderot: Afrique, in: Ders./Jean Le Rond d’Alembert (Hg.): Encyclopédie (ENCCRE). Bd. 1, S. 164. 151 N. N.: Ulcami ou Ulcuma, in: Denis Diderot/Jean Le Rond d’Alembert (Hg.): Encyclopédie (ENCCRE). Bd. 17, S. 372.

2.1 Figuren und Figurationen kolonialer Macht

133

Auch der Eintrag zu den als Noirs bezeichneten Bewohnern Afrikas fällt insofern sehr kurz aus, als dieser Terminus eindeutig dem Kolonialwesen und insbesondere dem Sklavenhandel zugeordnet wird: Noirs, s. m. pl. (Comm.) est le nom d’une nation d’Afrique qu’on nomme ainsi à cause de la couleur de leur peau qui est noire. Voyez la raison de cette couleur sous l’article NEGRE, où nous avons aussi traité du commerce que les Européens font de ces noirs, tant dans le continent, que dans quelques îles de l’Amérique.152

Neben geopolitisch-strategischen Orten und Transportmitteln auf den Sklavenhandelsrouten werden auch die versklavten Menschen mit sklavereitechnischem Vokabular benannt und belegt. Ein Sklavenkind etwa, so heißt es im Eintrag Negrillon, seien «les petits negres de l’un ou de l’autre sexe qui n’ont pas encore passé dix ans: trois enfans de dix ans font deux pieces d’Inde, & l’on compte deux enfans de cinq ans pour une piece.»153 Erstaunlich, wie nüchtern in der monetären Umrechnung hier die enzyklopädische Instanz jene «négrillons» beschreibt und als reine Handelsware – abermals ohne einen Hauch aufklärerisch-humanistischer Kritik – behandelt. Die Entmenschlichung jener Handelswaren wird im Eintrag zum Tete de Negre ins Extrem gebtrieben, denn diese Bezeichnung gälte an den Küsten Afrikas und den Antillen jenen, die zwischen 16 oder 17 und 30 Jahren alt seien.154 Die Beniniens werden als mutig und großzügig beschrieben, die einfachen Warenhandel mit den Holländern betrieben. Mit den übrigen Europäern gäbe es kaum Kontakt, da diese an Gold, Sklaven und anderen wertvollen Waren interessiert seien, was die «tranquilles & fideles habitans du Benin», nicht bieten könnten. Im Gegenteil: Ihre Einstellung zur Sklaverei wird lapidar beschrieben als: Ils se sont fait une loi particuliere de ne point vendre d’hommes: ils ont moins de scrupule pour les femmes, soit qu’ils en fassent moins de cas dans leur pays, soit qu’ils connoissent assez bien les contrées éloignées, pour savoir que l’esclavage n’y est pas fort dur pour elles.155

Die Sklavenwirtschaft spielt in Bezug auf die Amerikas in zwei Kontexten eine Rolle: erstens im Hinblick auf den bereits erwähnten transatlantischen Handel

152 Edmé-François Mallet: Noirs, in: Denis Diderot/Jean Le Rond d’Alembert (Hg.): Encyclopédie (ENCCRE). Bd. 11, S. 190. 153 N. N.: Negrillon, in: Denis Diderot/Jean Le Rond d’Alembert (Hg.): Encyclopédie (ENCCRE). Bd. 11, S. 85. 154 Ebd. 155 Denis Diderot: Benin, in: Ders./Jean Le Rond d’Alembert (Hg.): Encyclopédie (ENCCRE). Bd. 2, S. 204.

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2 Macht und Ambivalenz in den Narrationen des kolonialen Anderen

und zweitens im Hinblick auf die Zuckerplantagen auf den französischen Inseln Amerikas. Dies wird eingeführt über den Begriff Commandeur in seiner kolonialistischen Bedeutung für eben jene Zuckerwirtschaft. Im gleichnamigen Artikel, dessen Informationen dem Dictionnaire de Commerce156 entstammen, werden rassische Zugehörigkeit und die Funktionen als Aufseher, Antreiber, Ordner und Streitvermittler, als Missionar und Haus- und Gartenaufsicht nüchtern aufgezählt.157 Des Weiteren spielt die juristische Regelung der Sklaverei eine Rolle, wie etwa im Eintrag zum Code. Sehr nüchtern und ohne kritische Distanz oder Empathie wird hier der juristische Akt – der ja den gesamten Eintrag zum Esclave158 dominiert und unter dem Wissensgebiet der Jurisprudenz subsumiert wird – wiedergegeben: On l’appelle ainsi code noir, parce qu’il traite principalement des Negres ou esclaves noirs que l’on tire de la côte d’Afrique, & dont on se sert aux îles pour l’exploitation des habitations.» On tient que le célebre M. de Fourcroy avocat au parlement, fut celui qui eut le plus de part à la rédaction de cet édit. Il est divisé en soixante articles, dont le plus grand nombre regarde la police des Negres. Il y en a cependant plusieurs qui ont d’autres objets ; tels que l’article j. qui ordonne de chasser les Juifs ; l’article iij. qui interdit tout exercice public d’autre religion que la catholique ; l’article v. qui défend à ceux de la R. P. R. de troubler les Catholiques ; l’article vj. qui prescrit l’observation des dimanches & fêtes ; les articles viij. & x. qui reglent les formalités des mariages en général: les autres articles concernent les esclaves ou Negres, & reglent ce qui doit être observé pour leur instruction en matiere de religion, les devoirs respectifs de ces esclaves, & de leurs maîtres, les mariages de ces esclaves l’état de leurs enfans, leur pécule, leur affranchissement, & divers autres objets. Il faut joindre à cet édit celui du mois d’Octobre 1716, & la déclaration du 15 Décembre 1721, qui forment un supplément au code noir.159

Ganz ähnlich funktioniert der Eintrag zum französischen Konsul, der als Wächter der Handelsbeziehungen Frankreichs beschrieben wird – unbesehen der lokalen Begebenheiten. Als translokale Macht- und Wirtschaftsposition lenkt der Konsul die Handelsgeschicke der französischen Besitzungen: Consuls françois dans les pays etrangers, sont des officiers du Roi établis en vertu de commission ou de lettres de provisions de S. M. dans les villes & ports d’Espagne, d’Italie, de Portugal, du Nord, dans les Echelles du Levant & de Barbarie, sur les côtes d’Afrique, & autres pays étrangers où il se fait un commerce considérable.

156 Hier ist vermutlich das Dictionnaire universel de commerce der Brüder Jacques Savary des Bruslons und Louis-Philémon Savary (1723–41) gemeint. 157 Vgl. N. N.: Commandeur, in: Denis Diderot/Jean Le Rond d’Alembert (Hg.): Encyclopédie (ENCCRE). Bd. 3, S. 688. 158 Vgl. Antoine-Gaspard Boucher d’Argis: Esclave, S. 939–943. 159 N. N.: Code, in: Denis Diderot/Jean Le Rond d’Alembert (Hg.): Encyclopédie (ENCCRE). Bd. 3, S. 570.

2.1 Figuren und Figurationen kolonialer Macht

135

La fonction de ces consuls est de maintenir dans leur département les priviléges de la nation Françoise, suivant les capitulations qui ont été faites avec le souverain du pays ; d’avoir inspection & jurisdiction, tant au civil qu’au criminel, sur tous les sujets de la nation Françoise qui se trouvent dans leur département, & singulierement sur le commerce & les négocians.160

Doch für die Beschreibung von Sklavenhandel müssen weder enzyklopädische Instanz noch Leserschaft den europäischen Kontinent verlassen. Schon in der Beschreibung von Georgien spielt dies ebenfalls eine Rolle: Im Rahmen einer patriarchalen Gesellschaft («Les seigneurs & les peres étant maîtres en Géorgie de la liberté & de la vie, ceux-ci de leurs enfans, & ceux-là de leurs vassaux»161) werde Sklavenhandel mit Kindern betrieben, es wird die Rekrutierung der Konkubinen (kein Handel mit Konkubinen außerhalb von Georgien) thematisiert und das Land als Schmelztigel von Kulturen/Völkern skizziert («On voit en Géorgie des Grecs, des Juifs, des Turcs, des Persans, des Indiens, des Tartares & des Européens.»162). Der Sklavenhandel, so heißt es hier, sei très-considérable, & il sort chaque année plusieurs milliers de ces malheureux de l’un & de l’autre sexe avant l’âge de puberté, lesquels pour ainsi dire, se partagent entre les Turcs & les Persans qui en remplissent leurs serrails. C’est particulierement parmi les jeunes filles de cette nation (dont le sang est si beau qu’on n’y voit aucun visage qui soit laid), que les rois & les seigneurs de Perse choisissent ce grand nombre de concubines, dont les orientaux se font honneur. […] on y vendoit autrefois les beaux garçons aux Grecs.163

Auch wenn (oder gerade weil) de Jaucourt hier die Schönheit der Georgier/ innen betont: Immer noch sind sie Ware und Personal für den Harem und bekommen demnach nur einen Objektstatus zugesprochen. Der koloniale Andere im Diskurs des Sklavenhandels ist in der Encyclopédie in der stummen Figur des Sklaven oder des orientalischen Sklavenhändlers präsent. Dominiert wird die Sklavereithematik weniger von kulturanthropologischen oder gar (prä-)abolitionistischen Reflexionen – ganz anders etwa als in den antikolonialistischen Schriften des späteren Diderot –, sondern eher von ökonomischen Perspektiven auf Warenströme. Der Sklavenhandel wird in der Encyclopédie folglich tendenziell als Objektbeziehung geschildert, die ein ökono-

160 Antoine-Gaspard Boucher d’Argis: Consuls françois dans les pays etrangers, in: Denis Diderot/Jean Le Rond d’Alembert (Hg.): Encyclopédie (ENCCRE). Bd. 4, S. 105–106, hier S. 105. 161 Louis de Jaucourt: Georgie, in: Denis Diderot/Jean Le Rond d’Alembert (Hg.): Encyclopédie (ENCCRE). Bd. 7, S. 640–641, hier S. 640. 162 Ebd. 163 Ebd.

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misches, juristisches und technisches Wissen in Szene setzt und im Zuge dessen den Blick auf die Menschlichkeit der ‹verhandelten› Objekt-Sklaven verstellt. Auf diese Weise wird erneut die Rolle Europas als Handelszentrum und als kontrollierende, ausübende Wirtschaftsmacht deutlich. Folglich ist der Sklave eine Figur innerhalb des ökonomischen Wissensdiskurses, der Handelsverfahren, Handelsobjekte und relationale Menschenbilder bestimmt. Und mehr noch: Ökonomische, moralische und juristische Figuren vom Sklaven bis zum Händler, von der Institution des Konsuls bis zum Code Noir sind m. E. Diskursfiguren einer enzyklopädischen Wissensformation, die kolonial geprägt ist. Wissen und Kolonialmacht gehen hier Hand in Hand. Einige Dekolonisierungs- und Sklaverereitheoretiker, exemplarisch Mignolo164 oder Mbembe (auf dessen Konzept der «schwarzen Vernunft» im Schlussteil der Arbeit noch näher eingegangen wird), würden hier dezidiert hierarchisieren bzw. kausal grundieren, indem sie den Kolonialismus prädiskursiv vor die Episteme der Aufklärung setzen. Mir scheint in der Encyclopédie diese Aussage nicht belegbar zu sein, weil die Wissenskonstruktion mit dem kolonialen Gegenstand untrennbar verwoben ist. Es gilt zwar Encyclopédie-immanent das Primat des Wissens (bzw. der connaissance), aber – so wird hier schon deutlich – der koloniale Andere ist eben kein einfacher, im Sinne von mimetisch abbildbarer Wissensgegenstand der Encyclopédie. Die Konstruktionen des kolonialen Anderen sind damit weniger Produktionen von Menschenbildern – auch nicht in ihrer Alterität – als vielmehr narrative Konstruktionen von Wissen. Und aus diesem Grund sind sich die Alteritätskonstruktionen des Menschen in der kolonialen Welt auch ähnlicher, als eine ausdifferenzierte, kontextualisierte und historisierte Beschreibung erwirken müsste. Die Alteritätskonstruktionen folgen vielmehr kolonialen Stereotypen und spezifischen Alterisierungsverfahren, die im folgenden Kapitel zur Typologie kolonialer Alterität noch weiter ausgeführt werden. In der Übersicht der Menschenbilder aus der kolonialen Welt, so wäre eine erste These, zeigen sich schematische, koloniale Alteritätsfiguren, die sowohl den afrikanischen Produzenten, als auch den Sklaven, als auch den orientalischen Händler erfassen können. Daraus wiederum ließe sich aber ein zweiter aufklärungskritischer Schluss ziehen: Das Resultat wäre doch dann ein rein selbstbezügliches europäisches Imaginarium! Der koloniale Andere wäre dann ein Objekt von konkurrierenden Wissensformationen in einem europäischen Projekt der Selbstinszenierung. So scheint es zumindest. Doch in der kontrapunktischen Lektüre des Sklavereidiskurses in der Encyclopédie wird im Kapitel 2.2 darauf zurückzukommen sein – um die machtvolle ökonomistische Sklaverei-Inszenierung auf ihre Ambivalenzen, Schwachstellen und Obsessionen hin zu prüfen.

164 Vgl. Walter D. Mignolo: The Darker Side of Western Modernity.

2.1 Figuren und Figurationen kolonialer Macht

137

Moralisches Wissen: Bekriegen und bewirten In der ökonomischen Kolonialbeziehung zum kolonialen Anderen wird die Humanität oder der Grad an Zivilisiertheit des kolonialen Anderen daran bemessen, wie handelsfähig er ist und welche Handelsknotenpunkte er auf dem europäischen Weg durch und über die Welt besetzt. Dies konturiert aber noch lange nicht dessen Verhaltensweisen, die sich im Kontakt mit dem Europäer und mit Anderen ausmachen lassen. Demgemäß scheint ein weiteres zentrales Kriterium für die Beurteilung und Beschreibung des kolonialen Anderen das Wissen um die Ausgestaltung seiner weiteren Kontakte zu sein. Zeigt er sich im Kontakt mit dem europäischen Händler noch als Warenlieferant, als Handelspartner und ist schlicht inexistent, weil an seine Stelle Bodenschätze und Warenlager treten, so ist seine Rolle in der Gestaltung der Beziehungen zu seinen Nachbarn durchaus aktiver.165 Und weitaus gefährlicher. Dabei werden in der Encyclopédie grosso modo zwei Kontaktmodi konturiert: das Bekriegen anderer Völker und/oder ihre gastfreundliche Bewirtung. Die Verhaltensweisen im Kontakt mit den kolonialen Nachbarn lassen dabei auf Moralvorstellungen des kolonialen Anderen schließen, die als moralisches Alteritätswissen diskursiv in die Encyclopédie einfließt.166 Dies zeigt sich sehr deutlich im paradigmatischen Eintrag über die afrikanischen Jagas. Diese zeichnen sich durch Eigenschaften aus, die in den Artikeln zu vielen afrikanischen Völkern repetiert werden: Sie betreiben keinen Ackerbau, sind Krieger, Kannibalen, Nomaden und nicht zuletzt von schwarzer Hautfarbe. Die afrikanischen Jagas werden schon zu Beginn des Artikels als kriegerisches, anthropoghagisches und wildes («féroce») Volk im Inneren Afrikas beschrieben: JAGAS, GIAGAS ou GIAGUES, s. m. (Hist. mod. & Géog.) peuple féroce, guerrier, & antropophage, qui habite la partie intérieure de l’Afrique méridionale, & qui s’est rendu redoutable à tous ses voisins par ses excursions & par la désolation qu’il a souvent portée dans

165 In diese Richtung arbeiten auch Forschende, die sich in historischer Perspektive mit den explizit innerafrikanischen Beziehungen und deren Auswirkungen auf die Entwicklungen der afrikanischen Gesellschaften und Gemeinschaften beschäftigen. Vgl. dazu bspw. den 2017 eingerichteten Forschungszusammenhang im Bereich der archäologischen Afrikaforschung (wenn auch mit anderem historischen Fokus): «Entangled Africa: Innerafrikanische Beziehungen zwischen Regenwald und Mittelmeer (ca. 6000 bis 500 Jahre vor heute)» (vgl. DFG Schwerpunktprogramm (SPP 2143): Entangled Africa: Innerafrikanische Beziehungen zwischen Regenwald und Mittelmeer, ca. 6000–500 Jahre vor heute, 2007, http://www.entangled-africa.org (24. 09. 2019)). 166 Mit moralischem Wissen ist hier also nicht im engeren Sinne der Rekurs auf die Moralistik des 17. Jahrhunderts in Frankreich gemeint.

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les royaumes de Congo, d’Angola, c’est-à-dire sur les côtes occidentales & orientales de l’Afrique.167

Sie gelten als Extrem an Grausamkeit und Aberglaube («nulle nation n’a porté si loin la cruauté & la superstition»). Diese unmenschliche Grausamkeit und Mitleidlosigkeit seien die durch ihre Religion begründet und in ihrer Gesetzgebung verankert. Die Menschen seien schwarz, ohne festen Wohnsitz. Sie bezögen ihre Lebensgrundlagen nicht aus dem Ackerbau, sondern führten als Kannibalen verwüstende Kriege zur Beschaffung von Menschennahrung. Bei der Beschreibung der Jagas verbinden sich Anthropophagie und Kriegertum unmittelbar, so dass eine paradigmatische, fürchterliche Figur entsteht: […] ils ne cultivent point la terre, la guerre est leur unique occupation ; nonseulement ils brûlent & détruisent tous les pays par où ils passent, mais encore ils attaquent leurs voisins, pour faire sur eux des prisonniers dont ils mangent la chair, & dont ils boivent le sang ; nourriture que leurs préjugés & leur éducation leur fait préférer à toutes les autres.168

Die Motive der Feindlichkeit, der Raubzüge, des Nomadismus und fehlenden Ackerbaus als Antinomien zur zivilisatorischen, westlichen Selbstkonzeption finden sich aber nicht nur in diesem Eintrag. Sie können als stereotype Attribute gelten, die auch etwa im Artikel zu den afrikanischen Galles durchgespielt werden. Die Galles sind in Afrika weit verbreitete Volksstämme, die zwar nicht eindeutig lokalisierbar sind, doch von de Jaucourt in ihren pejorativen Gemeinsamkeiten charakterisiert werden. Auch hier treten die Galles als unmoralische Krieger auf: Sie seien dem Frieden feindlich gesinnt («Ces peuples ennemis de la paix»169) und führten ihre Raubzüge hauptsächlich gegen die Abyssinen (Abyssins) durch. Auch sie betrieben weder Ackerbau noch wird ihnen eine Ernte zuteil, vielmehr lebten sie von ihren Viehherden. Sie häuften keine Besitztümer an («Ils ne se chargent point de bagages ni de meubles de cuisine ; des gamelles pour recevoir le lait, voilà tout ce qu’il leur faut.»170) – lassen also jegliches ökonomisches Handeln vermissen. Sie seien stets bereit neue Raubzüge gegen andere vorzunehmen, da sie keine Strafen noch Armut fürchteten. Seien sie einmal in der schwächeren Position, so zögen sie sich mit ihrem Vieh

167 Paul-Henri Thiry d’Holbach: Jagas, Giagas ou Giagues, in: Denis Diderot/Jean Le Rond d’Alembert (Hg.): Encyclopédie (ENCCRE). Bd. 8, S. 433. 168 Ebd. 169 Louis de Jaucourt: Galles, in: Denis Diderot/Jean Le Rond d’Alembert (Hg.): Encyclopédie (ENCCRE). Bd. 7, S. 448–449, hier S. 448. 170 Ebd.

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schlicht zurück ins Landesinnere («dans le fond des terres, & mettent un desert entr’eux & leurs ennemis.»171). Dass diese kriegerische Lebensweise für die Europäer schon lang eine Bedrohung ist, zeigt sich auch in der Geschichte der Völker Europas selbst. Hier sieht die enzyklopädische Instanz im Eintrag zu den Galles auch bei anderen, historisch zurückliegenden Völkern Kriegslust am Werk, wie bei «les Huns, les Avares, les Goths, les Vandales, les Normands».172 Auch sie verbreiteten Angst und Schrecken bei den zivilisierten Völkern Europas («répandre la terreur chez les nations policées de l’Europe»173), ähnlich wie dann auch die orientalischen Tartaren die Chinesen das Fürchten lehrte.174 Historisch schon entfernt, aber auf dem amerikanischen Kontinent (also den Indes occidentales) trieben unterschiedliche kriegerische Völker ihr Unwesen. Ein sehr kriegslustiges Volk bzw. «nation sauvage» mit Haaren bis zum Gürtel seien bspw. die lautmalerischen, südamerikanischen Chevelus,175 auch die berühmten Créecks seien «fort belliqueux»176. Die große Angst, die hinter diesen Beschreibungen von grausamen und kriegslustigen Menschen steht, ist selbstredend auch die, dass sich diese Völker gegen die europäischen Kolonialherren wenden. So werden in diesem Zusammenhang auch richtige Widerständler und Rebellen beschrieben, wie etwa die Patagonen Südamerikas. Auch hier wird ein virulenter und lebendiger Diskurs über die «Patagons Géants» aufgegriffen:177 Les Patagons qui habitent les contrées voisines de la montagne des Cordilieres sont trèsbelliqueux, & haïssent mortellement les Espagnols, & leur font une guerre continuelle ; ils sont comme les autres de haute taille, & d’un teint basané ; leurs armes sont la lance & la fronde, qu’ils manient avec beaucoup de dextérité. Ils se dispersent en différens partis dans ces vastes plaines, ayant chacun leur chef ou cacique, & montent à cheval comme à-peu-près nos houssards d’Europe. Leurs étriers sont un morceau de bois percé d’un trou pour y mettre le bout du pié ; leurs brides sont de crin, & le mords est de bois.

171 Ebd. 172 Ebd. 173 Ebd. 174 Vgl. ebd. 175 N. N.: Chevelus, in: Denis Diderot/Jean Le Rond d’Alembert (Hg.): Encyclopédie (ENCCRE). Bd. 3, S. 688. 176 N. N.: Créecks, in: Denis Diderot/Jean Le Rond d’Alembert (Hg.): Encyclopédie (ENCCRE). Bd. 4, S. 452. 177 Vgl. etwa auch die Ausführungen von Cornelius de Pauw: Recherches Philosophiques Sur Les Américains, Ou Mémoires intéressants pour servir à l’histoire de l’espèce humaine. Tome Second, London 1771, https://gallica.bnf.fr/ark:/12148/bpt6k821053 (24. 09. 2019), die sich auf die Reiseberichte von Frézier beziehen.

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Ils n’ont point de demeures fixes, sont errans, & par-là même inaccessibles aux Espagnols ; ils font de tems en tems des courses sur les frontieres espagnoles, enlevent le bétail & les habitans ; mais de tous les prisonniers qu’ils font, ils ne gardent que les femmes & les enfants pour en faire des esclaves, & tuent le reste.178

Hier verbinden sich physische Attribute mit Widerstand: Die Patagonen werden als sehr große, riesenhafte Menschen beschrieben, die sich der spanischen Kolonisierung widersetzen, indem sie als kriegerische (sogar «très-belliqueux») Patagonier die Spanier abgrundtief hassten und im immerwährenden Krieg gegen die Spanier stünden. De Jaucourt führt auch das alte asiatische Volk der Léleges an, die laut Homer kriegslustig waren – und dann als nomadisch attribuiert werden.179 In Arabien wird nicht nur Handel via See- und Landweg betrieben (s. o.), sondern die Araber werden auch als muslimisches Volk beschrieben, das unabhängig, sehr wohl aber in Stämmen organisiert lebt, und als diebisch und kriegerisch konturiert wird: «Les Arabes sont voleurs & belliqueux.»180 Hinzu treten Attribute wie Nomadismus und Niedertracht bei anderen asiatischen Völkern. So etwa bei den Corasmin, die «errerent ensuite en différens endroits: mais odieux par-tout & aux Mahométans & aux Chrétiens, qu’ils vexerent également par leurs brigandages, ils ne pûrent s’établir en aucun endroit» und denen der Untergang prophezeit wird, da sie gegen das Menschengeschlecht agierten: «ils disparurent de dessus la surface de la terre, comme il arrivera toûjours à toute race qui contraindra le genre humain à la traiter comme son ennemie.»181 Gelegentlich ergibt sich das Kriegerische bei Völkern auch aus einer Art Notwehr gegen noch kriegerische und unmenschliche Nachbarvölker. Im meridionalen bzw. südlichen Raum der Amerikas werden weitere Bevölkerungsgruppen genannt: die nackten, mit schwarzer Farbe körperbemalten Kariben;182 die Caripous als das sanfteste und menschlichste Volk der Indes occidentales («le

178 Louis de Jaucourt: Patagons, Les, in: Denis Diderot/Jean Le Rond d’Alembert (Hg.): Encyclopédie (ENCCRE). Bd. 12, S. 160. 179 Vgl. Louis de Jaucourt: Léleges, in: Denis Diderot/Jean Le Rond d’Alembert (Hg.): Encyclopédie (ENCCRE). Bd. 9, S. 381. 180 Denis Diderot: Arabie, in: Ders./Jean Le Rond d’Alembert (Hg.): Encyclopédie (ENCCRE). Bd. 1, S. 570. 181 Denis Diderot: Corasmin, in: Ders./Jean Le Rond d’Alembert (Hg.): Encyclopédie (ENCCRE). Bd. 4, S. 197. 182 N. N.: Caraibes ou Cannibales, in: Denis Diderot/Jean Le Rond d’Alembert (Hg.): Encyclopédie (ENCCRE). Bd. 2, S. 669.

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plus doux & le plus humain de tous ceux des Indes occidentales»), die sich im permanenten Krieg mit den weniger ehrenvollen Kariben befänden.183 Als Kehrseite des Kriegerischen wird daher zur Beschreibung der moralischen Anlagen im Verhalten des kolonialen Anderen als positives Attribut gelegentlich (auffälligerweise aber deutlich seltener als das Kriegerische) die Gastfreundschaft angeführt. Im Eintrag Hospitalité selbst wird nach einer historischen Genese der Gastfreundschaft in der Antike und nach der Setzung als grundlegende menschliche Eigenschaft («l’hospitalité est la vertu d’une grande ame, qui tient à tout l’univers par les liens de l’humanité»184) eine Verlustgeschichte erzählt, die immanent mit dem europäischen Handels- und Reisewesen zusammenhängt: L’hospitalité s’est donc perdue naturellement dans toute l’Europe, parce que toute l’Europe est devenue voyageante & commerçante. La circulation des especes par les lettres de change, la sûreté des chemins, la facilité de se transporter en tous lieux sans danger, la commodité des vaisseaux, des postes, & autres voitures ; les hôtelleries établies dans toutes les villes, & sur toutes les routes, pour héberger les voyageurs, ont suppléé aux secours généréux de l’hospitalité des anciens. L’esprit de commerce, en unissant toutes les nations, a rompu les chaînons de bienfaisance des particuliers ; il a fait beaucoup de bien & de mal ; il a produit des commodités sans nombre, des connoissances plus étendues, un luxe facile, & l’amour de l’intérêt. Cet amour a pris la place des mouvemens secrets de la nature, qui lioient autrefois les hommes par des nœuds tendres & touchans. Les gens riches y ont gagné dans leurs voyages, la jouissance de tous les agrémens du pays où ils se rendent, jointe à l’accueil poli qu’on leur accorde à proportion de leur dépense. On les voit avec plaisir, & sans attachement, comme ces fleuves qui fertilisent plus ou moins les terres par lesquelles ils passent.185

In Form von Gasthäusern und Unterkünften wird dieses menschliche wie ökonomische System in der Encyclopédie gar in Asien und im islamischen Raum der Türkei angesiedelt. Nach dem kurzen Eintrag zur Hotellerie etwa wird unmittelbar der topische Artikel zur Hôtellerie de Turquie angeschlossen: Il y a de ces hôtelleries si bien rentées, que l’on vous donne aux dépens du fondateur, la paille, l’orge, le pain & le ris. Voilà les fruits de la charité qui fait un point essentiel de la religion mahométane ; & cet esprit de charité est si généralement répandu parmi les Turcs, qu’on voit de bons Musulmans qui se logent dans des especes de huttes sur les

183 N. N.: Caribes, in: Denis Diderot/Jean Le Rond d’Alembert (Hg.): Encyclopédie (ENCCRE). Bd. 2, S. 684. Zum Topos des Kariben als Kannibalen seit Kolumbus vgl. die folgenden Analysen zum Anthropophagen. 184 Louis de Jaucourt: Hospitalité, in: Denis Diderot/Jean Le Rond d’Alembert (Hg.): Encyclopédie (ENCCRE). Bd. 8, S. 314–316, hier S. 314. 185 Ebd., S. 316.

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grands chemins, où ils ne s’occupent pendant les chaleurs qu’à faire reposer & rafraîchir les passans qui sont fatigués. Nous louons ces sortes de sentimens d’humanité, mais nous ne les avons pas beaucoup dans le coeur ; nous sommes très-polis & très-durs.186

Hier dient die Gastfreundlichkeit als Nächstenliebe sogar als zivilisationskritische Figur, wenn de Jaucourt deren Absenz bei den Europäern in einem identifizierenden «nous» beklagt. Nun müssen sich Gastfreundlichkeit und kriegerisches Wesen allerdings nicht ausschließen. Exemplarisch sei hier der Eintrag zu den Beduinen genannt, die als grobschlächtig und schweigsam, aber sehr gastfreundlich beschrieben, als nomadisches Volk ohne gesellschaftliche Institutionalisierung. Weder Medizin noch Reinlichkeitsempfinden noch juristisches Wesen seien den Beduinen bekannt: Ils sont naturellement graves, sérieux, & modestes ; ils font bon accueil à l’étranger: ils parlent peu, ne médisent point, & ne rient jamais ; ils vivent en grande union: mais si un homme en tue un autre, l’amitié est rompue entre les familles, & la haine est irréconciliable. La barbe est en grande vénération parmi eux ; c’est une infamie que de la raser. Ils n’ont point de gens de justice ; l’émir, le cheik, ou le premier venu, termine leur différend. Ils ont des chevaux & des esclaves. Ils font assez peu de cas de leur généalogie ; pour celle de leurs chevaux, c’est tout autre chose. Il en ont de trois especes ; des nobles, des mésalliés, & des roturiers. Ils n’ont ni medecins, ni apothicaires. Ils ont tant d’aversion pour les lavemens, qu’ils aimeroient mieux mourir que d’user de ce remede. Ils sont secs, robustes, & infatigables. Leurs femmes sont belles, bien faites, & fort blanches. Voyez le dictionn. géog. de M. Vosgien. A juger des peuples sur ce qu’on nous en raconte, il est à présumer que n’ayant ni medecins, ni jurisconsultes, ils n’ont guere d’autres lois que celles de l’équité naturelle, & gueres d’autres maladies que la vieillesse.187

Hier stehen die bekannten pejorativen Attribute von Sprachlosigkeit/Einsilbigkeit («parlent peu»), gesellschaftlicher Unorganisiertheit, Ehrgefühl bis zum unumkehrbaren Hass etc. neben positiv konnotierter Gastfreundschaft, Bescheidenheit und robuster Konstitution. Die Frauen werden abermals in einer erotisierend-exotisierenden Weise in ihrer Schönheit gepriesen, die neben guten Proportionen aus der sehr weißen Hautfarbe («fort blanches») resultiert. Pferde und Sklaven stehen als Waren gleichrangig nebeneinander. Die Naturnähe der Bedouinen und ihre mangelnden gesellschaftlichen Organisationsformen führen Diderot zu dem Résumé, dass es sich hier um ein dem Naturzustand nahes Volk handeln muss –

186 Louis de Jaucourt: Hôtellerie de Turquie, in: Denis Diderot/Jean Le Rond d’Alembert (Hg.): Encyclopédie (ENCCRE). Bd. 8, S. 320. 187 Denis Diderot: Bedouins, in: Ders./Jean Le Rond d’Alembert (Hg.): Encyclopédie (ENCCRE). Bd. 2, S. 189.

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ein Topos, der spätestens seit Rousseau unter dem Namen des bon sauvage in der französischen Aufklärung kursiert.188 Das Attribut der Gastfreundschaft wird nicht nur religiös fundiert, wie oben etwa im Falle der Hôtellerie de Turquie gesehen, sondern auch an einen gewissen Sinn für das Handelswesen geknüpft. Weiter oben war ja bereits die Rede vom «Palabre», der afrikanischen Sitte des Gastgeschenks. Die Verbindung von Gastfreundlichkeit und Handelssinn aber finden sich auch etwa im Eintrag zur afrikanischen Stadt Isadagas ou Tagodas: «Les habitans commercent avec ceux de Numidie & de Gétulie, qui sont de l’autre côté du mont Atlas ; ils accordent gratuitement l’hospitalité à tous les étrangers.»189 Der koloniale Andere als moralische Diskursfigur wird in seinen Rollen als unmenschlicher, besessener (und damit nicht vernunftgeleiteter) Krieger oder aber als freundlicher Gastgeber konturiert. Insbesondere Afrika als terra incognita des 18. Jahrhunderts scheint sich dabei geradezu dafür anzubieten, unterschiedliche, exotisierende und dämonisierende Phantasmen über die einheimischen Völker zu entwerfen und virulent zu machen. Die enzyklopädischen Beschreibungen loten die Beziehungen als zwischenmenschliche Interaktionen des kolonialen Anderen aus, indem sie dessen Menschlichkeit, aber auch dessen Gefahrenpotenzial für andere in den Mittelpunkt stellen. Mögen die kolonialen Anderen kriegerische oder gar anthropophagische Tötungsmaschinen sein oder aber mögen sie sanfte, freundliche Gastgeber sein: Immer gelingt es im enzyklopädischen Artikel, die Gefahr, die von dem kolonialen Anderen ausgeht, zu taxieren und damit den kolonialen Anderen am moralischen Maßstab des europäischen philosophe auszurichten.

Kulturelles Wissen: Glauben und lieben. Leben und wohnen, Wissen und können Den größten Raum, wenn auch in der Beschreibungshierarchie nachrangig, nehmen die Schilderungen der kulturellen Alltagshandlungen der fremden Völker ein. Der Alltag der kolonialen Anderen wird beobachtet, kategorisiert und mit Fremdheitsattributen belegt. Die kulturellen Alteritätsattribute sind: Religiösität, Körperlichkeit, Staatsführung und Nomadismus, Sprache und Geschichtsbewusstsein, Formen des praktisch-handwerklichen Wissens im Sinne von technischen Errungenschaften und die Frage nach den Wissen(schaft)stransfers aus

188 Vgl. Heinz Thoma: Jean-Jacques Rousseau, in: Ralf Konersmann (Hg.): Handbuch Kulturphilosophie, Stuttgart/Weimar: Metzler 2012, S. 60–69. 189 Louis de Jaucourt: Isadagas ou Tagodas, in: Denis Diderot/Jean Le Rond d’Alembert (Hg.): Encyclopédie (ENCCRE). Bd. 8, S. 910.

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der kolonialen Welt nach Europa und vice-versa. Hier vermessen die Encyclopédie-Artikel die Alterität anhand der Religiösität, die aber seltener in der Beschreibung der Inhalte, also der Glaubenssätze oder -prinzipien der (Natur-)Religionen mündet, sondern in der kritischen Darstellung der institutionellen Ritualisierungen besteht. Der von Diderot verfasste Eintrag zur Humaine Espèce zeigt den Versuch zu definieren, wer und was der Mensch sei und operiert start mit machtvollen Einund Unterordnungen aller Menschen auf der Welt – zumindest in einer ersten Lektüre. Zur Systematisierung der menschlichen Gattung werden in Analogie zum Tierreich (und damit auch unter Rekurs auf Buffon) unterschiedliche Kriterien angelegt: Farbe, Größe und Form und schließlich das «naturel des différens peuples».190 Tatsächlich aber werden diese Kriterien gar nicht stringent an alle zu beschreibenden Völker angelegt, sondern der Leitfaden des Artikels ist eher der einer Welttour: Diderot will die Welt von Nord nach Süd durchmessen – «en passant d’un pole à l’autre»191 – und die dort ansässigen Völker beschreiben. Hier ist deutlich der Gestus des Weltreisenden und des über der Weltkarte sinnierenden philosophe zu erkennen, der auf das Gewimmel auf den Kontinenten ordnend herabschaut: ordnend, immer von Europa aus perspektiviert und dahin ausgerichtet und damit verknüpft auch unmittelbar wertend. Ob Dänen oder Lappen, ob Samen, Tataren oder Eskimos: «Tous ces peuples laids sont grossiers, superstitieux & stupides.»192 Die topischen Attribute Heidentum (wie bei den Schweden193) oder mangelnde Zivilisation (wie bei den Arabern194) werden schematisch an den unterschiedlichsten Völkern nachvollzogen. Die Distanz und Differenz zum europäischen Maßstab werden durch pejorative Beschreibungen und ex negativo-Argumentationen markiert. Die Beschreibungen der fernen Völker weisen immer wieder eine Tendenz zum Exotisierenden, Skandalisierenden, Erotisierenden auf: Die bengalischen Frauen etwa «passent pour les plus lascives de l’Inde».195 In ex negativo-Argumentationen wir die Absenz von Zivilisation oder Religion festgestellt: So haben die Calmouques haben «ni mœurs ni religion».196 Der enzyklopädischen Instanz kommt offenbar die Aufgabe zu, den kolonialen Anderen pauschal (man könnte auch sagen: universalistisch) als fernen Fremden zu markieren. Zwar gesteht er hie und da durchaus Differenzierungen

190 191 192 193 194 195 196

Denis Diderot: Humaine Espèce, S. 344. Ebd. Ebd., S. 345. Vgl. ebd., S. 346. Vgl. ebd. Ebd. Ebd., S. 345.

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und Nuancen zwischen den Völkern ein; diese führen allerdings nur wieder zu generellen Urteilen zurück: «Les côutumes de ces différens peuples de l’Inde sont bisarres.»197 Offenkundig werden die fremden Völker nicht nur deskriptiv, sondern vielmehr normativ auf der Weltkarte verortet – und zwar keinesfalls auf horizontaler Ebene, sondern mit einem mächtigen Gefälle. Diese Hierarchisierungen lassen sich überdies, so Diderot, an der Hautfarbe der Menschen einleuchtend erläutern: Klimatheoretische und degenerationistische Theorien werden hier aufgegriffen, veranschaulicht und plausibilisiert, um weiterhin den weißen Europäer als physisches Ideal und als Endpunkt der menschlichen Entwicklung auszustellen. Dabei sind Form und Grad der Religiösität zentrale Merkmale für den kolonialen Anderen und insbesondere in einem aufklärerischen Projekt selbstredend eines der Alteritätsmerkmale schlechthin. Hier werden verhandelt: Rituale für Anfang und Ende des menschlichen Lebens wie Initiationsriten und Trauer; Riten und Regulationen des Körpers im Bereich der Sexualität (hier insbesondere Jungfräulichkeit, Scham, Eunuchen), als Körperzeichen in Form von Tätowierungen und als Körperbewegungen insbesondere in Form von rituellen Tänzen. Ferner widmen sich einige Einträge eingehend den religiösen Extremformen des Atheismus und Fanatismus. Leben und sterben, lieben und begehren Religiösität in Form von Glaubensvorstellungen und rituellen Praktiken ist eines der paradigmatischen Topoifür die Beschreibung des Menschen überhaupt, insbesondere aber für die Erfassung des kolonialen Anderen. Die Einträge mit explizit religiösen Wissensbeständen sind dabei insofern interessant, als sie ein Spektrum an Darstellungsmodi und vor allem Bewertungen abbilden: von der ablehnenden Disqualifizierung als heidnisch, Teufelsanbetung etc. bis hin zur schwärmerisch ausgestalteter Naturnähe. Religiösität wird in der Encyclopédie zunächst als anthropologische Konstante und damit als menschliche Disposition betrachtet (vgl. Yvons Artikel zum Atheismus sowie dessen Analyse weiter unten). Das ist für die Darstellung des kolonialen Anderen mit dem Ziel der Formulierung kultureller Differenz zunächst einmal ein Problem, denn als Universalie dient die Kategorie zur Differenzierung Europas von der kolonialen Welt eher nicht. Einige Einträge etwa zu Asien zeigen deutlich auf, wie schwierig es ist, auf kultureller Ebene die Außengrenzen von Europa anhand der Religiösität zu bestimmen.198 Insbesondere der historische Blick auf die christliche

197 Ebd. 198 Diese liminale Lage ist in mehreren Einträgen ein Problem. So ist auch etwa das türkische Reich in seinen Ausmaßen Kontinente übergreifend: «vaste empire, un des plus grands de

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Frühgeschichte, wenn nicht gar auf die gesamte Menschheitsgeschichtezeigt die Beziehungen der Gesellschaften – durchaus auch im Sinne eines globalhistorisch ausgedeuteten Wissenstransfers. Ihren Ursprung, so ist im Artikel Commerce zu lesen, finde die Menschheit in Asien.199 Gleichwohl versucht die Encyclopédie innerhalb und zwischen religiösen Sinnsystemen Entwicklungsstadien auszumachen. Als vorzivilisatorische und barbarische Formen von Religiösität werden Idolatrie, Atheismus und Fanatismus identifiziert und global an zahlreichen Beispielen nachvollzogen. Die Entwicklung zum Monotheismus wertet de Jaucourt im Eintrag Inde demgemäß als Entwicklungsvorsprung im Vergleich zu anderen, götzendienerischen Völkern: Les idées qu’ont eu les Indiens d’un Etre infiniment supérieur aux autres divinités, marquent au-moins qu’ils n’adoroient autrefois qu’un seul Dieu, & que le polithéisme ne s’est introduit chez eux, que de la maniere dont il s’est introduit chez tous les peuples idolâtres. Les Bramines successeurs des Brachmanes, qui l’étoient eux-mêmes des gymnosophistes, y ont répandu l’erreur & l’abrutissement ; ils engagent quand ils peuvent les femmes à se jetter dans des buchers allumés sur le corps de leurs maris. Enfin, la superstition & le despotisme y ont étouffé les Sciences, qu’on y venoit apprendre dans les tems reculés.200

Sehr deutlich werden hier Aberglaube und Despotismus nicht nur auf eine Ebene gestellt und mit den Wissenschaften kontrastiert, sondern auch in einen kausalen Zusammenhang gestellt. In Indien, und hier darf sicherlich auch die Verbindung zu den europäischen Verhältnissen gezogen werden, seien die Wissenschaften aufgrund von Aberglaube und Despotismus ja geradezu erstickt worden. Hier dient die Religion durchaus als Gradmesser für die zivilisatorische Entwicklung anderer Völker. De Jaucourt beschreibt im Eintrag Mahométisme etwa, dass Europa noch voller Barbaren war, als Mohamed schon eine der Weltreligionen gründete: L’empire de Rome en occident étoit anéanti ; un déluge de barbares, Goths, Hérules, Huns, Vandales, inondoient l’Europe, Quand Mahomet jettoit dans les déserts de l’Arabie les fondemens de la religion & de la puissance musulmane.201

Leben und Sterben. Der Eintritt in das Leben wird in der kolonialen Welt unterschiedlich rituell umgesetzt und begangen. Interessant wird es bei der Beschrei-

l’univers, qui s’étend en Europe, en Asie, & en Afrique.» (Louis de Jaucourt: Zzuéné ou Zzeuene, S. 750). 199 Vgl. François Véron de Fortbonnais: Commerce, S. 690–699. 200 Louis de Jaucourt: Inde, L’, Les, hier S. 662. 201 Louis de Jaucourt: Mahométisme, in: Denis Diderot/Jean Le Rond d’Alembert (Hg.): Encyclopédie (ENCCRE). Bd. 9, S. 864–868, hier S. 864.

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bung der Kindstaufe, da dieses Ritual erst als europäischer ‹Import› in die afrikanischen Riten integriert werden bzw. sie ersetzen musste. So auch die Taufe afrikanischer Kinder, die erst nach und nach Akzeptanz gefunden habe. Dieses Stereotyp ist dabei kein enzyklopädie-spezifisches, sondern gängiges Vorurteil der Zeit. Fendler und Greilich betonen «Nahezu uneingeschränkt geben die Artikel der Encyclopédie die negativen Wahrnehmungsweisen der Afrikaner wieder, wie wir sie in den Reiseberichten der Zeit finden.»202 Und während sich bei der Taufe die europäische Missionierung durchsetzt, ist der rituelle Umgang mit dem Tod ein interessantes Feld für die Enzyklopädisten, können sie hier die koloniale Welt als kritische oder selbstkritische Kontrastfolie nutzen. Im Eintrag zum Königreich Benin etwa zeigt sich ein ganzes Spektrum an alterisierenden, pejorativen Zuschreibungen etwa der Teufelsanbetung, der Nacktheit, des Patriarchats und spezifischen Trauerritualen, die en gros aus dem Gegenteil europäischer Gewohnheiten, «par la raison contraire»,203 bestehen. Die Trauerzeremonie aber ist insbesondere kontrastiv angelegt, denn sie bestehe, so der Artikel, aus dem Tanz auf den Gräbern. Nicht ausgelassen und ekstatisch, sondern grausam und unmenschlich sind andere Trauerrituale inszeniert. In Angola und Metamba wird die enzyklopädische Instanz fündig, wenn er nach grausamen Zeremonien, die Tomba ou Tombo, und königlichen Begräbnisritualen sucht. Dort werde das Begräbnis verbunden mit einem Massaker, veritablem Blutvergießen und kannibalistischen Riten praktiziert, wie es mitfühlend heißt: «après que ces malheureux ont été égorgés, & ont arrosé la terre de leur sang, les assistans dévorent leur chair».204 Unmittelbar auf die Schilderung dieser Riten folgt die vergebliche Arbeit der europäischen Missionare gegen diese abscheulichen Sitten: «Les missionnaires européens ont eu beaucoup de peine à déraciner cette coutume abominable dans les pays où ils ont prêché l’évangile.»205 Im Eintrag zu den Funérailles werden – nach der Feststellung, dass dies zur menschlichen Pflicht letzter Ehrerbietung gehöre – zunächst antike Begräbnissitten erörtert, um dann die zeitgenössischen in Afrika und Asien zu beschreiben. Daran schließt sich eine globale Vergleichsperspektive auf die Araber, Türken und Chinesen bis zu den Begräbnissen der ‹Wilden in Amerika› an. Hier werden disparate Todesursachen und Begräbniszeremonien in Zusammenhang

202 Ute Fendler/Susanne Greilich: Afrika in deutschen und französischen Enzyklopädien des 18. Jahrhunderts, S. 113–137, hier S. 119. 203 Denis Diderot: Benin, S. 204. 204 Paul-Henri Thiry d’Holbach: Tomba ou Tombo, in: Denis Diderot/Jean Le Rond d’Alembert (Hg.): Encyclopédie (ENCCRE). Bd. 16, S. 396–397, hier S. 397. 205 Ebd.

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gebracht, so manches «cérémonial assez bizarre» erläutert. Erst danach kommen die Begräbnisrituale afrikanischer Völker, hier: der Äthiopier, dann jene der Christen. Hier geht der Artikel nach sozialem Rang vor (vom Königsbegräbnis bis zu den Fürsten). Es wird eine Szene, die auf einem Wandteppich dargestellt ist beschrieben von Lancelot evoziert, die sehr bildlich Postionen und Handlungen der Trauergäste vor Augen führt.206 Ähnlich wird auch die Kreuzigung thematisiert, die über historische Wandel hinweg ausgeübtwird und Verbrechern galt, aber noch immer in einigen Teilen Asiens praktiziert wird. In dem Moment aber, in dem es um die kritische Einschätzung der Kreuzigung geht, hält sich die enzyklopädische Instanz sehr zurück und verweist der Zensur geschuldet in seiner Beschränkung auf den Dictionnaire-Charakter der Encyclopédie: «Sans entrer dans une dispute qui n’est point du ressort de ce Dictionnaire, il suffit de dire, que les Catholiques ont des preuves convaincantes de l’authenticité de ces pieuses reliques».207 Eine erstaunlich neutrale Beschreibung findet sich im Eintrag zum Fetisch, in dem dessen Funktion bei der afrikanischen Gottesanbetung in Guinea schlicht nur konstatiert wird: Fétiche, s. f. (Hist. mod.) nom que les peuples de Guinée en Afrique donnent à leurs divinités. Ils ont une fétiche pour toute une province, & des fétiches particulieres pour chaque famille. Cette idole est un arbre, une tête de singe, un oiseau, ou quelque chose de semblable, suivant leur fantaisie. Dapper, description de l’Afrique.208

Ganz anders wird der Fetisch209 im Eintrag zum afrikanischen Felsen Tabra eingeführt, denn er wird direkt an als lächerlich bezeichnete rituelle Handlungen des Priesters geknüpft: «cependant un prêtre, par des contorsions ridicules & des invocations, prétend consulter le dieu pour savoir les momens qui seront favorables pour la navigation, & il se fait récompenser de la peine par les matelots qui lui font quelques présens.»210 Durch die Ridikülisierung, aber auch durch die Markierung, der Priester gebe nur vor, den Gott anzurufen, wird deut-

206 Vgl. N. N.: Funérailles, in: Denis Diderot/Jean Le Rond d’Alembert (Hg.): Encyclopédie (ENCCRE). Bd. 7, S. 368. 207 N. N.: Crucifiement, in: Denis Diderot/Jean Le Rond d’Alembert (Hg.): Encyclopédie (ENCCRE). Bd. 4, S. 519–520, hier S. 520. 208 Edmé-François Mallet: Fétiche, in: Denis Diderot/Jean Le Rond d’Alembert (Hg.): Encyclopédie (ENCCRE). Bd. 6, S. 598. 209 Der Fetisch ist überdies eine in der Aufklärung bereits zum Topos avancierte Figur (vgl. zum Fetisch in der Diskursgeschichte Johannes Endres (Hg.): Fetischismus. Grundlagentexte vom 18. Jahrhundert bis in die Gegenwart, Berlin: Suhrkamp 2017). 210 Paul-Henri Thiry d’Holbach: Tabra, in: Denis Diderot/Jean Le Rond d’Alembert (Hg.): Encyclopédie (ENCCRE). Bd. 15, S. 811.

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liche Skepsis und Degradierung gegenüber dieser religiösen Handlung ausgedrückt. Unterschiedliche Namen für Gottheiten sind offenbar als Faktum zu werten, denn sie finden in unterschiedlichen Einträgen unter ihrem (wenn auch europäisierten) afrikanischen Namen Eingang in die Encyclopédie. So etwa auch die Jannanins, «c’est le nom que les Negres de quelques parties intérieures de l’Afrique donnent à des esprits qu’ils croient être les ombres ou les ames de leurs ancêtres, & qu’ils vont consulter ou adorer dans les tombeaux.»211 In diesem Eintrag findet sich nach der Feststellung, dass neben dem Hauptgott namens Kanno jeder von ihnen einen individuellen Gott habe, unmittelbar der Verweis auf den europäischen Kulturkontakt, der wirtschaftlich motiviert sei. Demnach befragten die Menschen ihre Gottheiten hauptsächlich danach, wann die europäischen Handelsschiffe ankommen würden. «Ils [ces peuples] vont sur-tout les interroger sur l’arrivée des vaisseaux européens, dont les marchandises leur plaisent autant qu’aux habitans des côtes.»212 Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang die Feststellung, dass die afrikanischen Einwohner an den Waren der europäischen Handelsschiffe interessiert seien – Aspekte von kolonialökonomischer Ausbeutung oder Inbesitznahme werden nicht nur nicht benannt, sondern durch den Perspektivwechsel auf die afrikanischen Einwohner geradezu verklärt. Dem Hauptgott Kanno ist überdies ein eigener Eintrag in der Encyclopédie gewidmet. Hier ist nochmals einerseits die Exklusivität der individuellen Gottheiten zu unterstreichen, zu deren Tempeln Frauen, Kinder und Sklaven keinen Zutritt hätten,213 andererseits aber zwei zentrale welterklärende Widersprüchlicheiten, die der Encyclopédie-Artikel ausmacht. Denn obwohl die Menschen (im Eintrag wieder: «les Negres») zum Ersten Kanno Allmacht, Omnipräsenz, Allwissenheit und Grenzenlosigkeit zuschrieben, verweigerten sie ihm die Ewigkeit und glaubten an einen Nachfolger: «Quoiqu’ils lui attribuent la toute-puissance, l’omniscience, l’ubiquité, l’immensité, ils lui refusent l’éternité, & prétendent qu’il doit avoir un successeur qui punira les crimes & récompensera la vertu.»214). Zum Zweiten aber sei es für die Gläubigen unproblematisch («ne les empêchent point»), die Idee einer obersten Gottheit mit dem Glauben an die oben erwähnten Jannanins Geister und Wiedergänger zu verbinden, denen sie opferten, sie um Genesung bäten und sie nach der Zukunft befragten.

211 Paul-Henri Thiry d’Holbach: Jannanins, in: Denis Diderot/Jean Le Rond d’Alembert (Hg.): Encyclopédie (ENCCRE). Bd. 8, S. 447. 212 Ebd. 213 Vgl. Paul-Henri Thiry d’Holbach: Kanno, in: Denis Diderot/Jean Le Rond d’Alembert (Hg.): Encyclopédie (ENCCRE). Bd. 9, S. 111–112. 214 Ebd., S. 111 f.

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Namen von Gottheiten sind keine Seltenheit in der Encyclopédie und dienen oftmals zur Beschreibung des Volkes, das ihnen huldigt. Exemplarisch sei hier der Eintrag zum afrikanischen Geist Mumbo-Jumbo genannt, der dem nomadischen Volk («peuple vagabond») der Mandingos zur Unterwerfung ihrer Frauen diene. Im Text wird diese männliche Finte als Schauspiel jedoch unmittelbar enthüllt und die logische, rein menschliche Taktik dahinter demaskiert: Le mari va quelquefois pendant l’obscurité de la nuit, faire un bruit lugubre derriere l’idole, & il persuade à sa femme que c’est le dieu qui s’est fait entendre. Lorsque les femmes paroissent bien persuadées des vertus que leurs maris attribuent à leur mumbo-jumbo, on leur accorde plus de liberté, & l’on assure qu’elles savent mettre à profit les momens où elles demeurent sous l’inspection de l’idole. Cependant on prétend qu’il se trouve des femmes assez simples pour craindre réellement les regards de ce fantôme incommode ; alors elles cherchent à le gagner par les présens, afin qu’il ne s’oppose point à leurs plaisirs.215

Der Eintrag fährt mit einer dramatischen Zuspitzung fort, die als Verweis auf den Bericht von Reisenden erzählt wird. Als nämlich ein König einmal einer seiner Frauen das Geheimnis um Mumbo-Jumbo enthüllt und sich die wahren Hintergründe bei den Frauen herumsprechen, müssen am Ende alle Frauen massakriert werden: Des voyageurs nous apprennent qu’en 1727, le roi de Jagra eut la foiblesse de réveler à une de ses femmes tout le secret de mumbo-jumbo: celle-ci communiqua sa découverte à plusieurs de ses compagnes: elle se répandit en peu de tems ; & parvint jusqu’aux seigneurs du pays: ceux-ci prenant le ton d’autorité que donnent les intérêts de la religion, citerent le foible monarque à comparoître devant le mumbo-jumbo: ce dieu lui fit une reprimande sévere, & lui ordonna de faire venir toutes les femmes: on les massacra sur le champ ; par-là l’on étouffa un secret que les maris avoient tant d’intérêt à cacher, & qu’ils s’étoient engagés par serment de ne jamais réveler […].216

Ähnlich funktioniert auch der Eintrag über die afrikanische Gottheit Maramba, deren abergläubische Initiationsriten und deren Anrufung schließlich sogar in direkter Rede hier expliziert werden: Maramba, (Hist. mod. superstition) fameuse idole ou fétiche adorée par les habitans du royaume de Loango en Afrique, & auquel ils sont tous consacrés dès l’âge de douze ans. Lorsque le tems de faire cette cérémonie est venu, les candidats s’adressent aux devins ou prêtres appellés gangas, qui les enferment quelque tems dans un lieu obscur, où ils les font jeûner très-rigoureusement ; au sortir de-là il leur est défendu de parler à person-

215 Paul-Henri Thiry d’Holbach: Mumbo-Jumbo, in: Denis Diderot/Jean Le Rond d’Alembert (Hg.): Encyclopédie (ENCCRE). Bd. 10, hier S. 860 f. 216 Ebd., S. 861.

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ne pendant quelques jours, sous quelque prétexte que ce soit ; à ce défaut, ils seroient indignes d’être présentés au dieu Maramba. Après ce noviciat le prêtre leur fait sur les épaules deux incisions en forme de croissant, & le sang qui coule de la blessure est offert au dieu. On leur enjoint ensuite de s’abstenir de certaines viandes, de faire quelques pénitences, & de porter au col quelque relique de Maramba. On porte toûjours cette idole devant le mani-hamma, ou gouverneur de province, par-tout où il va, & il offre à ce dieu les prémices de ce qu’on sert sur sa table. On le consulte pour connoître l’avenir, les bons ou les mauvais succès que l’on aura, & enfin pour découvrir ceux qui sont auteurs des enchantemens ou maléfices, auxquels ces peuples ont beaucoup de foi. Alors l’accusé embrasse l’idole, & lui dit: je viens faire l’épreuve devant toi, ô Maranba ! les negres sont persuadés que si un homme est coupable, il tombera mort sur le champ ; ceux à qui il n’arrive rien sont tenus pour innocens.217

Eingang in die Encyclopédie finden Informationen zu afrikanischen Lebensweisen und Gewohnheiten auch über ihren Bekanntheitsgrad. So etwa im Eintrag über die Abéliens, afrikanische Häretiker, deren Lebenspraxen Mallet zwar widersprüchlich erscheinen («dont l’opinion & la pratique distinctive étoit de se marier, & cependant de faire profession de s’abstenir de leurs femmes, & de n’avoir aucun commerce charnel avec elles»), der die Häretiker aber beschreibt, da diese «sont devenus fameux par les peines extraordinaires que les savans se sont données pour découvrir le principe sur lequel ils se fondoient, & la raison de leur dénomination.»218 Demgemäß spielt die Problematik der Wissensgenese eine Rolle im Hinblick auf die Glaubwürdigkeit von Reisenden, aber auch von den zeitgenössischen Kartographen. Im Eintrag zum afrikanischen Land Génehoa kommentiert de Jaucourt: «c’est-là du-moins en gros ce qu’en disent les voyageurs, qui ont successivement copié Leon l’affriquain. Les cartes de Dapper, celles de Sanson, de Nolin & autres, conservent le pays de Génehoa, au nord du Niger ; les nouvelles cartes nomment ce même pays, le pays de Sénega.»219 In einigen Artikeln zu afrikanischen Wissensbeständen wird im Eintrag explizit reflektiert und thematisiert, inwiefern die beschriebenen Informationen glaubwürdig, ausreichend oder aber überhaupt informativ sind. So sind die Quellen zum Teil in ihren Beurteilungen, in der Lokalisierung nicht einig, wie etwa im Eintrag zu den Quinquegentiani in dem «les auteurs sont très-partagés sur la position du pays qu’ils habitoient, & même sur ce que c’étoit que quinque-

217 Paul-Henri Thiry d’Holbach: Ngombos, in: Denis Diderot/Jean Le Rond d’Alembert (Hg.): Encyclopédie (ENCCRE). Bd. 11, S. 129. 218 Edmé-François Mallet: Bumicili, in: Denis Diderot/Jean Le Rond d’Alembert (Hg.): Encyclopédie (ENCCRE). Bd. 2, S. 464. 219 Louis de Jaucourt: Génehoa ou Ghenioa, in: Denis Diderot/Jean Le Rond d’Alembert (Hg.): Encyclopédie (ENCCRE). Bd. 7, S. 549.

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gentiani.»220 Ähnlich wie im Themengebiet zu den Missionaren hält sich de Jaucourt bei der Beschreibung des Islam unter verdecktem Verweis auf bestehende Quellen – und hier spielt er vermutlich auf Voltaires Essais sur les mœurs an, zurück: «Mahométisme, s. m. (Hist. des religions du monde) religion de Mahomet. L’historien philosophe de nos jours en a peint le tableau si parfaitement, que ce seroit s’y mal connoître que d’en présenter un autre aux lecteurs.» und schließt seinen Artikel mit dem ironischen Verweis auf dessen extreme Verkürztheit: «C’est en cinq pages sur cet objet, l’histoire de onze siecles.»221 An dieser Stelle grenzen jene Einträge an, die sich um Glaubensmänner und –frauen drehen und die für die Encyclopédie heikle Frage der Kirchenämter und der Mission betreffen. So ist der Eintrag zum Jésuite eine reine Kopie, die überdies angereichert wird durch den Kommentar, sich jeglicher Wissensformulierung und -generierung zu verweigern: Jésuite, s. m. (Hist. eccles.) ordre religieux, fondé par Ignace de Loyola, & connu sous le nom de compagnie ou société de Jésus. Nous ne dirons rien ici de nous-mêmes. Cet article ne sera qu’un extrait succinct & fidele des comptes rendus par les procureurs généraux des cours de judicature, des mémoires imprimés par ordre des parlemens, des différens arrêts, des histoires, tant anciennes que modernes, & des ouvrages qu’on a publiés en si grand nombre dans ces derniers tems.222

Neben der religiösen Übernahme und dem Missionarswesen in den Amerikas werden auch indigene religiöse Praktiken, Geister und Initiationsriten thematisiert. So etwa die berühmten Manitous, eine Art Untergötter der nordamerikanischen Algonquins. Im Gegensatz zu den Einträgen der afrikanischen Geister- und Götterwelten ist dieser Artikel nachgerade nüchtern und faktenbasiert aufgebaut und geschrieben.223 Religiöse Praktiken werden schließlich auch eindeutig im (Be-)Reich des Magischen verortet. Die afrikanischen Bumicilis, eine mohammedanische Religionsgemeinschaft, werden als «grands sorciers» apostrophiert, die gegen den Teufel kämpfen und oftmals zur Mittagszeit in aller Öffentlichkeit zunächst in eine kämpferische Trance fallen, um dann unverrichteter Dinge ihren Spaziergang fortzusetzen. Mallet beschreibt dies als unsystematisch oder unlogisch,

220 N. N.: Quinquegentiani, in: Denis Diderot/Jean Le Rond d’Alembert (Hg.): Encyclopédie (ENCCRE). Bd. 13, S. 716. 221 Louis de Jaucourt: Mahométisme, S. 868. 222 Denis Diderot: Jésuite, in: Ders./Jean Le Rond d’Alembert (Hg.): Encyclopédie (ENCCRE). Bd. 8, S. 512–516, hier S. 512. 223 Vgl. Paul-Henri Thiry d’Holbach: Manitous, in: Denis Diderot/Jean Le Rond d’Alembert (Hg.): Encyclopédie (ENCCRE). Bd. 10, S. 41.

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aber (und in einer kontradiktorischen und nicht kausalen oder konsekutiven Argumentation) als sehr religiös: «On ne sait point encore quelle est leur regle, mais on les tient pour fort religieux».224 Auch die Morabites werden als innermuslimische Religionsgemeinschaft beschrieben, die mit dem exotistischen Stereotyp des Eremiten belegt werden, die sich zum Ziel der «l’étude de la philosophie morale»225 in die Wüste zurückzögen. Zur Kontrastierung zieht die enzyklopädische Instanz dann jene Mitglieder des Omar heran, die ein unanständiges Leben führten («une vie d’ailleurs assez licencieuse») und auf Festen singend und tanzend in Trance und Extase fielen. Mit kritischer Distanz führt der Text aus, dass diese Exzesse von den Anhängern als (religöse) Extase umgedeutet werden: «ils y prennent part aux festins & aux danses jusqu’à tomber dans des excès, que leurs disciples ne manquent pas de faire passer pour des extases».226 Im Gegensatz zu dieser unanständigen Ausschweifung steht die Ausübung als Beruf der Wissenschaft und Heiligkeit («profession de science & de sainteté»). Und eben jene Morabiten, die Wissenschaftlichkeit verfolgen rücken dann auch in einen komparativen Zusammenhang, indem sie als vergleichbar mit ‹unseren› Eremiten beschrieben werden:«Ils vivent à-peu-près comme les philosophes payens ou comme nos hermites».227 Eine ähnliche (überraschende) Analogie findet sich auch im Eintrag zur Schlangenbeschwörung, die sowohl in Afrika als auch in Italien verortet und dort als praktiziert beschrieben wird: «Ophiomancie, s. f. divination par les serpens. […] Les Marses, peuples d’Italie, se vantoient de posséder le secret d’endormir & de manier les serpens les plus dangereux. Les anciens racontent la même chose des Psylles, peuples d’Afrique […]».228 Exemplarisch sei ebenfalls der Eintrag zu den indischen Goeghy genannt, in dem die Menschen arm, nackt, mit Asche bemalt, ohne Tempel im Wald lebend ihrer Religion huldigen. Im gleichen Zuge wird aber die Wahrscheinlichkeit dieser Informationen angezweifelt: «Mandeslo ajoûte plusieurs autres détails sur leur genre de vie, leurs rits & leur croyance ; mais il est vraisemblable qu’il n’en a pas été mieux informé qu’un voyageur indien le seroit de l’ordre des capucins, en traversant quelques villages d’Espagne.»229

224 Edmé-François Mallet: Bumicili, S. 464. 225 N. N.: Morabites, in: Diderot, Denis/Jean Le Rond d’Alembert (Hg.): Encyclopédie (ENCCRE). Bd. 10, S. 699. 226 Ebd. 227 N. N.: Morabites, S. 699. 228 N. N.: Ophiomancie, S. 502. 229 Louis de Jaucourt: Goeghy, in: Denis Diderot/Jean Le Rond d’Alembert (Hg.): Encyclopédie (ENCCRE). Bd. 7, S. 729.

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Unter dem Namen von Gottheiten werden aber nicht nur Lebenspraktiken in den Geschlechterhierarchien oder Bewertungen von Magie und Wissenschaft verhandelt, sondern auch das Staatswesen von (afrikanischen) Völkern beleuchtet. Hier lassen sich auch Einträge zu Völkern finden, in denen der Glaube und die Macht der Priester zwar sehr präsent sind in der soziokulturerllen Organisation, Regierung und Priestertum aber als Machtbereiche getrennt sind. Im folgenden Eintrag zum Ovissa, der obersten Gottheit der Einwohner des Königreichs Benin, finden sich die bekannten Elemente der Alteritätskonstruktion etwa im Zugang zur religiösen Teilhabe und die explizite Reflexion über die Verlässlichkeit der Quellen. Auffällig sind hier aber zwei weitere Aspeke: zum einen die erwähnte Trennung der religiösen wie weltlichen Machtbereiche, die es den Priestern nicht einmal erlaubt, die Hauptstadt zu betreten: Les prêtres de Bénin prétendent découvrir l’avenir, ce qu’ils font au moyen d’un pot percé par le fond en trois endroits, dont ils tirent un son qu’ils font passer pour des oracles, & qu’ils expliquent comme ils veulent ; mais ces prêtres sont punis de mort lorsqu’ils se mêlent de rendre des oracles qui concernent l’état ou le gouvernement. De plus il est défendu sous des peines très-grieves aux prêtres des provinces d’entrer dans la capitale.230

Die Beschreibung der Priester ist dabei durch eine deutliche Skeptik gekennzeichnet, denn sie geben schließlich nur vor, die Zukunft deuten zu können, sie fingieren Orakel («Qu’ils font passer pour des oracles»), die sie auslegen «comme ils veulent». Zum anderen aber spielt in dem Eintrag die visibilité eine zentrale Rolle, die sich nicht zufällig in der Beschreibung der Gottheit und in der (zur Aufklärung antinomischen) Semantik von Schatten und Nacht zeigt. Zunächst ist dabei die Gottheit Ovissa selbst nicht sichtbar, dafür aber omnipräsent und seinem Wesen nach gut (für die Schlechtigkeiten in der Welt ersinnen die Einwohner Dämonen). Weiterhin aber gibt es in Benin eine Art Schatten-Kult, der die Schatten der Ahnen einbezieht und insbesondere den Schatten eines jeden Menschen zu einem reellen Wesen und Zeugen über die eigenen Taten macht: Ovissa, (Hist. mod. culte) c’est le nom sous lequel les habitans du royaume de Benin en Afrique désignent l’Être suprême. Ils ont, suivant le rapport des voyageurs, des idées assez justes de la divinité, qu’ils regardent comme un être tout-puissant, qui sait tout, qui, quoique invisible, est présent partout, qui est le créateur & le conservateur de l’univers. Ils ne le représentent point sous une forme corporelle ; mais comme ils disent que Dieu est infiniment bon, ils se croient dispensés de lui rendre leurs hommages, qu’ils réservent

230 Paul-Henri Thiry d’Holbach: Ovissa, in: Denis Diderot/Jean Le Rond d’Alembert (Hg.): Encyclopédie (ENCCRE). Bd. 11, S. 709–710, hier S. 710.

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pour les mauvais esprits ou démons qui sont les auteurs de tous les maux, & à qui ils font des sacrifices pour les empêcher de leur nuire. Ces idolâtres sont d’ailleurs fort superstitieux, ils croyent aux esprits & aux apparitions, & sont persuadés que les ombres de leurs ancêtres sont occupées à parcourir l’univers, & viennent les avertir en songe des dangers qui les menacent ; ils ne manquent point à suivre les inspirations qu’ils ont reçues, & en conséquence ils offrent des sacrifices à leurs fétiches ou démons. Les habitans de Bénin placent dans la mer leur séjour à venir de bonheur ou de misere. Ils croyent que l’ombre d’un homme est un corps existant réellement, qui rendra un jour témoignage de leurs bonnes & de leurs mauvaises actions; ils nomment passador cet être chimérique, qu’ils tâchent de se rendre favorable par des sacrifices, persuadés que son témoignage peut décider de leur bonheur ou de leur malheur éternel.231

Auch hier ist die enzyklopädische Wertung deutlich: Diese Wesen seien nur Chimären. Doch neben der Kritik an Religion und Priesteramt wird auch die Regierung in Benin als unmenschlich disqualifiziert, was auch hier leichtals die bekannte stereotype Despotismus-Kritik erkannt werden kann: Malgré ces rigueurs contre les ministres des autels, le gouvernement a dans de certaines occasions des complaisances pour eux qui sont très-choquantes pour l’humanité ; c’est un usage établi à Bénin de sacrifier aux idoles les criminels que l’on réserve dans cette vûe ; il faut toujours qu’ils soient au nombre de vingt-cinq ; lorsque ce nombre n’est point complet, les officiers du roi ont ordre de se répandre pendant l’obscurité de la nuit, & de saisir indistinctement tous ceux qu’ils rencontrent, mais il ne faut point qu’ils soient éclairés par le moindre rayon de lumiere ; les victimes qui ont été saisies sont remises entre les mains des prêtres, qui sont maîtres de leur sort: les riches ont la liberté de se racheter, ainsi que leurs esclaves, tandis que les pauvres sont impitoyablement sacrifiés.232

Die Gepflogenheiten, die als «très-choquantes pour l’humanité» nochmals explizit verurteilt werden, bestehen in der Praxis von Menschenopfern. Das Schockierende scheint dabei gar nicht so sehr die Opfergabe von Menschen selbst zu sein, werden hier doch Kriminelle geopfert, sondern die willkürliche, nächtliche Rekrutierung, die auch unter Billigung der Regierung geschieht. Auch hier wird mit der kontrastierenden aufklärerischen Licht-Metaphorik verdeutlicht, dass der Brauch es so wolle, dass diese Rekrutierungsaktionen nicht durch einen einzigen Sonnenstrahl gestört werden dürften. Die Kritik erreicht hier also ein doppeltes Ziel: Aberglaube und eine unmenschliche Regierung, die mit der Priesterschaft gelegentlich gemeinsame Sache macht. Diese Anklagen sind nicht nur als Alteritätskonstruktionen zu lesen, sondern in ihnen schwingt auch immer die Reflexion über die eigenen Zustände in Frankreich mit. Besonders der letzte Abschnitt zu der Möglichkeit der Reichen, sich

231 Ebd., Hervorhebung K. S. 232 Ebd., Hervorhebung K. S.

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von der Menschenopfergabe freizukaufen, während die Armen erbarmungslos geopfert würden, kann als Kritik an den aktuellen Zuständen in Frankreich gelesen werden und steht damit in einem Zusammenhang mit einer Reihe von zeitgenössischen Textverfahren der Aufklärung, die etwa auch in Raynals Histoire des deux Indes zur Anwendung kommen.233 Ähnlich ist auch die Kritik an afrikanischen Priestern zu werten, die durchaus auch auf die klerikalen Zustände in Frankreich zu beziehen wären. Denn die scharfe Kritik, die die enzyklopädische Instanz den Priestern aussetzt – ihr Eigennutz, die Exklusions- und Distinktionsmechanismen, die Willkür zur eigenen Machtsicherung etc. – sind allein mit einem aufklärerischen Gestus und einer exotistischen Alteritätskonstruktion nicht unbedingt zu erklären. Beispielhaft sei hier der Eintrag zu den afrikanischen Ngombos genannt, die als listige Schelme («fripons avides») beschrieben werden, die abergläubische Menschen ausnutzten und mit der Schürung von Todesängsten ganze Völker unterjochen könnten. Sie hätten une infinité de moyens pour tirer des libéralités des peuples superstitieux & crédules. Toutes les calamités publiques & particulieres tournent à leur profit ; parce qu’ils persuadent aux peuples que ce sont des effets de la colere des dieux, que l’on ne peut appaiser que par des sacrifices, & sur-tout par des présens à leurs ministres. Comme ils prétendent être sorciers & devins, on s’adresse à eux pour connoître l’avenir & les choses cachées. Mais une source intarissable de richesses pour les Ngombos, c’est qu’ils persuadent aux negres qu’aucun d’eux ne meurt d’une mort naturelle, & qu’elle est dûe à quelqu’empoisonnement ou maléfice dont ils veulent bien découvrir les auteurs, moyennant une rétribution ; & toujours ils font tomber la vengeance sur ceux qui leur ont déplu, quelqu’innocens qu’ils puissent être. Sur la déclaration du prêtre, on saisit le prétendu coupable à qui l’on fait boire un breuvage préparé par le ngombo,& dans lequel il a eu soin de mêler un poison très-vif, qui empêche les innocens de pouvoir se justifier, en se tirant de l’épreuve […].234

So sind viele Priester auch für die Erziehung der Jugend zuständig und bringen ihnen die (paradigmatisch für den exotistisch gezeichneten Afrikaner) relevanten kulturellen Praxen bei: Die afrikanischen Priester Saggonas lehren junge Menschen ganz im Sinne des Königs «tout ce qu’on y apprend se borne à la danse, à la lutte, la pêche, la chasse, & sur-tout on y montre la maniere de chanter une hymne en l’honneur du dieu Belli».235 Daran geknüpft sind abermals erotisch-laszive Inhalte, denn jene Hymne «est remplie d’expressions ob-

233 Vgl. Abbé G. Th Raynal (Hg.): Histoire philosophique & politique des deux Indes. 234 Paul-Henri Thiry d’Holbach: Ngombos, S. 129. 235 Paul-Henri Thiry d’Holbach: Saggonas, in: Denis Diderot/Jean Le Rond d’Alembert (Hg.): Encyclopédie (ENCCRE). Bd. 14, S. 498.

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scenes, accompagnées de postures indécentes».236 Diese Schulen sind wieder als exklusiv gezeichnet, da sie in den Wäldern lägen, jungen Frauen den Zugang verwehrten und schließlich ihre Schüler mit einer Brandmarke im Gesicht kennzeichneten. Im Folgenden wird aber die Beziehung zwischen Gottheit, seiner Ausgestaltung durch den Priester und nicht zuletzt die Rolle und Kontrolle des Königs thematisiert: Le dieu Belli, si respecté par ces negres, est une idole faite par le grand prêtre, qui lui donne telle forme qu’il juge convenable ; c’est suivant eux un mystere impénétrable que cette idole, aussi n’en parle-t-on qu’avec le plus profond respect ; cependant ce dieu ne dérive son pouvoir que du roi ; d’où l’on voit que le souverain est parvenu dans ce pays à soumettre la superstition à la politique.237

Im Eintrag zum Derwisch beschreibt de Jaucourt in Anlehnung an de Tournefort nicht nur die Kleidung und Sitten der religiösen Gemeinschaft, sondern weitere stereotype Merkmale wie Bescheidenheit, Drogenkonsum, ihre Fähigkeiten als Schlangenbeschwörer und ihren Tanz, der als «espece de comédie» abschätzig bezeichnet wird. Das Hinzuziehen und Benennen einer weiteren Quelle von Thevenot mündet in eine kritische Validierung derselben, wobei die Ausführlichkeit des Artikels mit der menschlichen curiosité ob der Singularität des Phänomens begründet wird: «Je supprime d’autres détails rapportés par le même Thevenot concernant cet ordre de religieux, & je ne me suis peut-être que trop étendu sur leur compte, mais c’est un spectacle bien singulier à l’esprit humain, que celui des dervis& des peuples qui les nourrissent.»238 Es wird deutlich, dass die Religiösität und die rituellen Praxen, die sich durch sie motiviert dem kolonialen Anderen zuordnen lassen, eine kritische Positionierung herausfordern und überdies die enzyklopädische Instanz für das grundsätzlich Problem stellen, Glaube rational erklären zu müssen. Da dieser Glaube ein universelles Thema ist, also als anthropologische Konstante gelten kann, wird auch im Eintrag Dieu selbst eine globale Perspektive eingenommen und mit weltumspannender Metaphorik gearbeitet. Allerdings ist es trotz Analogie zur Kartographie und Entdeckungsgeschichte der Welt dem Enzyklopädisten nicht möglich, universale Aussagen über Völker zu machen, die (ihm) nicht bekannt sind: 1°. Le consentement de tous les peuples à reconnoître un Dieu, est un fait qu’il est impossible d’éclaircir. Montrez-moi une mappemonde ; voyez-y combien il reste encore de pays

236 Ebd. 237 Ebd. 238 Louis de Jaucourt: Dervis, in: Denis Diderot/Jean Le Rond d’Alembert (Hg.): Encyclopédie (ENCCRE). Bd. 4, S. 870–871, hier S. 871.

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à découvrir, & combien sont vastes les terres australes qui ne sont marquées que comme inconnues. Pendant que j’ignorerai ce que l’on pense en ces lieux-là, je ne pourrai point être sûr que tous les peuples de la terre ayent donné le consentement dont vous parlez. Si je vous accorde par grace qu’il doit vous suffire de savoir l’opinion des peuples du monde connu, vous serez encore hors d’état de me donner une entiere certitude: car que me répondrez-vous, si je vous objecte les peuples athées dont Strabon parle, & ceux que les voyageurs modernes ont découverts en Afrique & en Amérique ? Voici un nouveau champ de recherches très pénibles & inépuisables. Il resteroit encore à examiner si quelqu’un a nié cette existence. Il se faudroit informer du nombre de ces athées ; si c’étoient des gens d’esprit, & qui se piquassent de méditation. On sait que la Grece fertile en esprits forts, & comme dit un de nos plus beaux esprits, berceau des arts & des erreurs, a produit des athées, qu’elle en a même puni quelques-uns ; ce qui a fait dire que bien d’autres eussent déclaré leur irréligion, s’ils eussent pû s’assûrer de l’impunité.239

Im Eintrag Humaine Espece beschreibt Diderot unterschiedliche Gottesbilder und dekliniert diese durch zahlreiche bekannte Völker der Welt, von den Lappen bis zu Japanern. Hier kommen diverse pejorative Stereotype zum Ausdruck, auch wenn die Haltung zu den Religionen und ihren rituellen Praxen aus einer explizit toleranten Haltung heraus formuliert sind: Tous ces peuples laids sont grossiers, superstitieux & stupides. Les Lapons Danois consultent un gros chat noir. Les Suédois appellent le diable avec un tambour. [...] Ils n’ont presqu’aucune idée de Dieu ni de religion.240

Andere Religionen, wie etwa der Islam, werden als Weltreligion im Sinne einer transkontinentalen Ausdehnung beschrieben: «Si l’on envisage à présent la religion musulmane, on la voit embrassée par toutes les Indes, & par les côtes orientales de l’Afrique où ils trafiquoient.»241 Nicht zuletzt werden abergläubische oder religiöse Handlungen der kolonialen Anderen auch an Handelsinteressen oder Geschäftstüchtigkeit der kolonialen Anderen selbst geknüpft. Im Eintrag Marabous etwa wird die Handelstüchtigkeit, um nicht zu sagen die Geschäftemacherei der Marabous beschrieben, indem sie einerseits Papierstreifen verkaufen, die vor Unheil schützen sollen, und andererseits sich dem europäischen Invasor angeblich nur entgegenstellen, weil sie Handelskonkurrenz fürchten:

239 N. N.: Dieu, in: Denis Diderot/Jean Le Rond d’Alembert (Hg.): Encyclopédie (ENCCRE). Bd. 4, S. 976–983, hier S. 977. 240 Denis Diderot: Humaine Espèce, in: Ders./Jean Le Rond d’Alembert (Hg.): Encyclopédie (ENCCRE). Bd. 8, S. 344–348, hier S. 345. 241 Louis de Jaucourt: Tripolitaine, in: Denis Diderot/Jean Le Rond d’Alembert (Hg.): Encyclopédie (ENCCRE). Bd. 16, S. 660.

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[...] le commerce le plus lucratif pour eux, est celui de vendre des gris-gris, qui sont des bandes de papiers remplis de caracteres mystérieux, que le peuple regarde comme des préservatifs contre tous les maux ; ils ont le secret d’échanger ces papiers contre l’or des negres ; quelques-uns d’entr’eux amassent des richesses immenses, qu’ils enfouissent en terre. Des voyageurs assurent que les marabous, craignant que les Européens ne fassent tort à leur commerce, sont le principal obstacle qui a empêché jusqu’ici ces derniers de pénétrer dans l’intérieur de l’Afrique & de la Nigritie.242

Der Aberglaube («la superstition») wird en gros in den afrikanischen Artikel unter einem anderen Begriff thematisiert und abgewertet: jenem der Idolatrie, dem Götzendienst. Zunächst einmal leitet Voltaire in dem Idole, Idolatre, Idolatrie-Artikel die historischen Vorläufer her und setzt gegen den Dictionnaire von Morérie in einer scharfen Quellenkritik, dass nicht nur in den «pays reculés» Afrika oder Asien sondern auch in Europa der Götzendienst weit verbreitet war: Au reste, c’est une des grandes erreurs du Dictionnaire de Moréri, de dire que du tems de Théodose le jeune, il ne resta plus d’idolâtres que dans les pays reculés de l’Asie & de l’Afrique. Il y avoit dans l’Italie beaucoup de peuples encore gentils, même au septieme siecle: le nord de l’Allemagne depuis le Vezer n’étoit pas chrétien du tems de Charlemagne ; la Pologne & tout le Septentrion resterent long-tems après lui dans ce qu’on appelle idolâtrie: la moitié de l’Afrique, tous les royaumes au de-là du Gange, le Japon, la populace de la Chine, cent hordes de Tartares ont conservé leur ancien culte. Il n’y a plus en Europe que quelques lapons, quelques samoïedes, quelques tartares, qui ayent persévéré dans la religion de leurs ancêtres.243

Im Laufe des Artikels erklärt Voltaire, dass die Präsenz vieler Götter, die oftmals mit der Idolatrie einhergehen, die Absenz von Glaubenskriegen geradezu erlaubt. Comment, au milieu de tant de dieux, & de tant de théogonies différentes & de cultes particuliers, n’y eût-il jamais de guerre de religion chez les peuples nommés idolâtres ? Cette paix fut un bien qui naquit d’un mal de l’erreur même: car chaque nation reconnoissant plusieurs dieux inférieurs, trouvoit bon que ses voisins eussent aussi les leurs. Si vous exceptez Cambise, à qui on reproche d’avoir tué le boeuf Apis, on ne voit dans l’histoire profane aucun conquérant qui ait maltraité les dieux d’un peuple vaincu. Les Gentils n’avoient aucune religion exclusive ; & les prêtres ne songerent qu’à multiplier les offrandes & les sacrifices.244

242 Paul-Henri Thiry d’Holbach: Marabous ou Marbouts, in: Denis Diderot/Jean Le Rond d’Alembert (Hg.): Encyclopédie (ENCCRE). Bd. 10, S. 65. 243 Voltaire: Idole, Idolatre, Idolatrie, in: Denis Diderot/Jean Le Rond d’Alembert (Hg.): Encyclopédie (ENCCRE). Bd. 8, S. 500–504, hier S. 504. 244 Voltaire: Idole, Idolatre, Idolatrie, S. 503.

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Voltaire sieht, ähnlich wie in den oben schon erwähnten Artikeln, die menschenunwürdige und grausame Kraft nicht in den Gottheiten selbst am Werk, sondern im Treiben, in der Auslegung und Praxis religiöser Regeln der Priester (wie etwa bei den götzendienerischen Einwohnern der Condore-Inseln245). Etwa im Eintrag zur asiatischen Götze Fe, Fo, Foé wird durch das enzyklopädische Verweissystem Idolatrie mit Aberglauben und Fanatismus intratextuell verknüpft und deutlich (der Lächerlichkeit preisgebend) abgewertet: FE, FO, FOÉ, (Hist. d’Asie) idole adorée sous différens noms par les Chinois idolâtres, les Japonois, & les Tartares. Ce prétendu dieu, le premier de leurs dieux qui soit descendu sur la terre, reçoit de ces peuples le culte le plus ridicule, & par conséquent le plus fait pour le peuple. Cette idolâtrie née dans les Indes près de mille ans avant Jesus-Christ, a infecté toute l’Asie orientale [...] des milliers de prêtres consacrent leurs jours à des exercices de pénitence qui effrayent la nature humaine [...]. On voit ce qu’on veut dans la Lune ; & si ces peuples idolâtres y avoient songé, ils y verroient tous leur idole. Voyez SUPERSTITION & FANATISME.246

Dabei ist das grauenerregende Menschenopfer keine ubiquitäre Praxis in fremden Kulturen. Voltaire stellt im Eintrag Idole, Idolatre, Idolatrie die Grausamkeit auf europäischem Boden heraus, und weder Chinesen, noch Perser noch Inder seien jemals zu einer solchen Gräueltaten imstanden gewesen: Les premieres offrandes furent des fruits ; bientôt après il fallut des animaux pour la table des prêtres ; ils les égorgeoient eux-mêmes ; ils devinrent bouchers & cruels: enfin, ils introduisirent l’usage horrible de sacrifier des victimes humaines, & surtout des enfans & des jeunes filles. Jamais les Chinois, ni les Perses, ni les Indiens, ne furent coupables de ces abominations ; mais à Héliopolis en Egypte, au rapport de Porphire, on immola des hommes.Dans la Tauride on sacrifioit les étrangers: heureusement les prêtres de la Tauride ne devoient pas avoir beaucoup de pratiques. Les premiers Grecs, les Cipriots, les Phoeniciens, les Tyriens, les Carthaginois, eurent cette superstition abominable. Les Romains eux-mêmes tomberent dans ce crime de religion ; & Plutarque rapporte qu’ils immolerent deux Grecs & deux Gaulois, pour expier les galanteries de trois vestales. Procope, contemporain du roi des Francs Théodebert, dit que les Francs immolerent des hommes quand ils entrerent en Italie avec ce prince: les Gaulois, les Germains, faisoient communément de ces affreux sacrifices.247

Deshalb verurteilt Voltaire auch aufs Schärfste die menschliche Hybrisbei einer theologisch-religiösen Ausübung, die über Leben und Tod entscheidet: 245 vgl. N. N.: Condore, in: Denis Diderot/Jean Le Rond d’Alembert (Hg.): Encyclopédie (ENCCRE). Bd. 3, S. 840. 246 Louis de Jaucourt: Fe, Fo, Foé, in: Denis Diderot/Jean Le Rond d’Alembert (Hg.): Encyclopédie (ENCCRE). Bd. 6, S. 460–461. 247 Voltaire: Idole, Idolatre, Idolatrie, S. 503, Hervorhebung K. S.

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On ne peut guere lire l’histoire, sans concevoir de l’horreur pour le genre humain. Il est vrai que chez les Juifs Jephté sacrifia sa fille, & que Saül fut prêt d’immoler son fils. Il est vrai que ceux qui étoient voués au Seigneur par anathème, ne pouvoient être rachetés, ainsi qu’on rachetoit les bêtes, & qu’il falloit qu’ils périssent: mais Dieu qui a créé les hommes, peut leur ôter la vie quand il veut, & comme il le veut: & ce n’est pas aux hommes à se mettre à la place du maître de la vie & de la mort, & à usurper les droits de l’Etre suprème.248

Voltaire deutet es in seinem Artikel zu Idole und Idolatrie schon an: Die menschliche Geschichte ist eine, in die sich das Grauen eingeschrieben hat: «On ne peut guere lire l’histoire, sans concevoir de l’horreur pour le genre humain.»249 Auch rhetorisch insistiert er durch die Wiederholung («Il est vrai que») auf die Kraft der Wahrheit, um dieses Grauen zu belegen und aufzudecken. Durch die Anlage der Encyclopédie als Projekt der Wissenssammlung und gleichzeitig kritischen Kommentierung und Argumentation muss auch das Grauen, die Gewalt, die Unmenschlichkeit und das Monströse Eingang in die Encyclopédie finden.250 Die Argumentation in diesen Artikeln aber verläuft entgegengesetzt zu der, die in den Artikeln zu den fremden Ländern und Völkern erfolgt ist. Hier geht es nicht mehr darum, fremde Länder, Physiognomien und Sitten zu beschreiben, die sich dann in Relation zu dem Eigenen setzen und messen lassen müssen, sondern es geht darum, Eigenes definitorisch in den Griff zu bekommen und in Relation zum Fremden zu erfassen – meist auch normativ zu bewerten. Eine Umdeutung des sexuell-körperlichen Verhaltens erfahren einige Völker in der Encyclopédie. Die exotistische Argumentation zur Aufwertung afrikanischer Völker geht oftmals mit deren Erotisierung – und hier sind insbesondere die Physis und Verhaltensweisen der Frauen betroffen – einher. So findet sich im Eintrag zum afrikanischen Volk der Jalofes zunächst ein Loblied auf die tiefschwarze, sehr feine und weiche Haut (allerdings geschmälert durch ihren strengen Geruch), das unmittelbar in die Beschreibung der fröhlichen, lebhaften und liebestollen («très-portées à l’amour») Frauen des Volkes mündet. Erotisierende Elemente gehen hier unmittelbar einher mit rassi(sti)schen Präferenzen. Auch ihre Männer unterstützten diese Promiskuität insbesondere gegenüber den weißen Europäern: Elles sont gaies, vives, & très-portées à l’amour. Elles ont du goût pour tous les hommes, & particulierement pour les blancs, auxquels elles se livrent pour quelque présent

248 Ebd. 249 Ebd. 250 Jean-Louis Fischer: L’Encyclopédie présente-t-elle une pré-science des monstres?, in: Recherches sur Diderot et sur l’Encyclopédie 1, 16 (1994), S. 133–152; Andreas Gipper: Wunderbare Wissenschaft.

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d’Europe, dont elles sont fort curieuses ; d’ailleurs leurs maris ne s’opposent point à leur goût pour les étrangers, & même ils leur offrent leurs femmes, leurs filles & leurs soeurs, tenant à honneur de n’être pas refusés, tandis qu’ils sont fort jaloux des hommes de leur nation. Ces négresses ont presque toûjours la pipe à la bouche, se baignent très-souvent, aiment beaucoup à sauter & à danser au bruit d’une calebasse, d’un tambour ou d’un chaudron ; tous les mouvemens de leurs danses, sont autant de postures lascives, & de gestes indécens.251

De Jaucourt beurteilt zwar die Quelle seiner Informationen, wobei er dennoch die unwahrscheinlichen Sitten ebenso schildert wie die wahrscheinlichere Sitte («une chose plus vraie») der Körperbemalung der Frauen. Interessanterweise generalisiert der Artikel von hier ausgehend den Hang zur Verschönerung des Körpers transkontinental, denn bei fast allen Völkern Afrikas, den Araberinnen und in Florida finde sich dieses Phänomen: Le P. du Jarric dit qu’elles cherchent à se donner des vertus, comme celles de la discrétion, & de la sobriété, desorte que pour s’accoûtumer à manger & à parler peu, elles prennent de l’eau, & la tiennent dans leur bouche, pendant qu’elles s’occupent à leurs affaires domestiques, & qu’elles ne rejettent cette eau, que quand l’heure du premier repas est arrivée. Mais une chose plus vraie, c’est leur goût pour se peindre le corps de figures inéfaçables ; la plûpart des filles, avant que de se marier, se font découper & broder la peau de différentes figures d’animaux, ou de fleurs, pour paroître encore plus aimables. Ce goût regne chez presque tous les peuples d’Afrique, les Arabes, les Floridiennes, & tant d’autres. Voyez FARD.252

Idolatrie wird oftmals zusammen mit Polygamie thematisiert, so etwa im Eintrag zur asiatischen Stadt Cochin: «Les habitans sont idolâtres. Les femmes y peuvent prendre autant de maris qu’il leur plaît»253 oder auf der asiatischen Insel Ceylon: les insulaires se nomment Chingulais ; ils sont idolâtres. Leurs mariages se font d’une maniere assez extraordinaire ; c’est la fille qui choisit un mari, & qui fait ensuite part de son choix à ses parens, qui, lorsqu’ils l’approuvent, préparent un grand repas. Le fiancé va avec ses amis chez sa fiancée ; ils se lient les pouces ensemble, & vont ensuite se coucher ; ou l’homme tient un bout du linge de la femme, & le met autour de ses reins, la femme tient l’autre bout, on leur verse de l’eau sur la tête & sur le corps ; cela fait, ils vivent ensemble aussi long-tems qu’ils s’accordent. La premiere nuit des noces est au

251 Louis de Jaucourt: Jalofes, les, ou Geloffes, S. 438. 252 Ebd. 253 N. N.: Cochin, in: Denis Diderot/Jean Le Rond d’Alembert (Hg.): Encyclopédie (ENCCRE). Bd. 3, S. 561.

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mari, la seconde est pour son frere, & s’il a un troisieme ou quatrieme frere, jusqu’au septieme, chacun a sa nuit ; de cette maniere une femme suffit pour une famille entiere.254

Gelegentlich wird dies auch an Berichte zu (bei den alten Griechen: weiblicher) Kastration geknüpft wie hier im Eintrag Castration: La castration se pratique communément en Asie, spécialement chez les Turcs, quichâtrent tous ceux de leurs esclaves qu’ils employent à la garde de leurs femmes, & à qui ils coupent non-seulement les testicules, mais souvent même la verge. La castration se pratique aussi en Italie sur les musiciens dont on veut que la voix se conserve. Cette castration n’est point une opération de Chirurgie, puisqu’elle n’a pas le rétablissement de la santé pour objet. Voyez EUNUQUE & CASTRATI. […] La castration peut aussi se pratiquer sur les femmes. Athenée dit que le roi Andramiris fut le premier qui fit châtrer les femmes. Hésychius & Suidas rapportent que Gyges fit la même chose. Galien observe qu’on ne les peut châtrer sans les mettre en danger de la vie. Dalechamp, sur le passage d’Athenée que nous venons de citer, dit qu’il ne faut pas entendre là châtrer à la lettre, que ce n’étoit que boucler.255

Die schockierenden Schilderungen verdeutlichen die extremen und unmenschlichen Riten, die sich aus religiösen Motiven entwickeln können. Damit weisen sie schon auf die Diskursfiguren des Fanatismus hin, der neben dem Atheismus eine besonders beängstigende und zu bekämpfende religiöse Lebenspraxis darstellt. Religiöse Extreme: Atheismus und Fanatismus. In Yvons umfangreichem Artikel Athées sind mehrere Argumentationsstränge angelegt, die der Grundfigur folgen, ob es überhaupt atheistische Völker gibt und inwiefern Atheismus ein Indikator für Zivilisationsgrad und Vernunft ist.256 Der Artikel setzt sich zentral mit Bayles Thesen kritisch auseinander, um dessen Theorien über universalistische Religiosität und das Verhältnis von Gesellschaft und Atheismus zu widerlegen. Der erste Argumentationsfehler («l’erreur») ist für die enzyklopädische Instanz jener, Atheismus an Unwissenheit und Dummheit zu koppeln («l’ignorance & de la stupidité»). Der Artikel zeigt hier auf, dass jene Atheisten sich nicht ihrer natürlichen Reflexionsfähigkeit, «leurs lumieres naturelles», bedienten und so auch keinen Zugriff auf die einfachsten und klarsten Erkenntnisse hätten. Stattdessen verharrten die Atheisten in einem Zustand geistigen Müßig-

254 N. N.: Caripous, in: Denis Diderot/Jean Le Rond d’Alembert (Hg.): Encyclopédie (ENCCRE). Bd. 2, S. 685–686, hier: S. 685. 255 Antoine Louis: Castration, in: Denis Diderot/Jean Le Rond d’Alembert (Hg.): Encyclopédie (ENCCRE). Bd. 2, S. 755–756. 256 Vgl. Abbé Claude Yvon: Athées, in: Denis Diderot/Jean Le Rond d’Alembert (Hg.): Encyclopédie (ENCCRE). Bd. 1, S. 798–815.

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gangs, was sie – und hier nutzt die enzyklopädische Instanz eine paradigmatische aufklärerische Formel – in einem tierischen Zustand verharren ließe: «une oisiveté d’esprit qui les abaisse & les avilit à la condition des bêtes.»257 Zum Vergleich zieht der Eintrag nun jene Wilden und Unzivilisierten heran, deren Zustand sie in einen religionslosen Status versetzt haben soll. Hier bezieht er sich etwa auf Strabon, der von solchen Völkern in Spanien und Afrika berichtet. Die enzyklopädische Instanz wendet dagegen eine Reflexion über die historisch-kulturelle Entwicklung von Gesellschaften ein. Er vertritt die Auffassung, dass eine solche Annahme dazu führen muss, dass jene Wilden immer schon atheistische gewesen sein müssen, da eine Entwicklung von einer religiösen Gesellschaft zu einer atheistischen schlicht nicht denkbar ist. Sei einmal ein Glaubenssystem über Gottheiten etabliert, die über Glück und Unglück, Wohlstand und Krankheiten der Menschen entschieden, und sei dieser Glaube an die nachfolgenden Genenrationen weitergegeben, ist der Glaube eine eingeborene und das gesamte Kollektiv der Völker erfassende Mentalität Grundlage: Dies wiederum führt die enzyklopädische Instanz zu Aussagen über die natürliche, anthropologische Bedingtheit von Religiösität der Menschen: «La religion est une chose qui étant une fois établie dans un pays, y doit durer éternellement [...] de tels sentimens qu’on suce avec le lait, ne s’effacent point de l’esprit d’une nation».258 Jene Mentalität sei zwar veränderbar auf der Ebene von rituellen/kulturellen Praktiken, die durch einen neuen «docteur» installiert oder machtvoll durch einen Herrscher durchgesetzt werden, aber sie können nie mehr gänzlich verschwinden. Machtvolle Änderungen in den religiösen Praxen der Menschen dienten niemals der Eliminierung des Glaubens, sondern immer nur dem Ersatz durch andere Formularien. Der Artikel weist nun auf jene Denker hin, die daraus schlossen, dass auch das brutalste und wildeste Volk einen Gott haben muss. Die enzyklopädische Instanz wiederum zieht daraus den Schluss, dass Strabon sich irrt und darüber hinaus auch alle ähnlichen Berichte von Reisenden aus der Neuen Welt falsch sein müssen: Ainsi, selon eux, Strabon ne mérite aucune créance ; & les relations de quelques voyageurs modernes, qui rapportent qu’il y a dans le nouveau monde des nations qui n’ont aucune teinture de religion, doivent être tenues pour suspectes, & même pour fausses.259

Der Artikel plausibilisiert nun auch den Irrtum dieser Reisenden, die aus der Unbekanntheit und Unvertrautheit mit fremden Völkern willkürlichen, hier: ir-

257 Ebd., S. 798. 258 Ebd. 259 Ebd., S. 799.

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regeführten Interpretationen unterliegen. Die enzyklopädische Instanz arbeitet hier also nicht mehr mit einem Vokabular von Aufklärung, Ratio und logischem Denken sondern mit Fehlschlüssen und Interpretationen: En effet, les voyageurs touchent en passant une côte, ils y trouvent des peuples inconnus: s’ils leur voyent faire quelques cérémonies, ils leur donnent une interprétation arbitraire ; & si au contraire ils ne voyent aucune cérémonie, ils concluent qu’ils n’ont point de religion. Mais comment peut-on savoir les sentimens de gens dont on ne voit pas la pratique, & dont on n’entend point la langue ?260

Insbesondere der letzte Satz dieser Passage ist eine in eine Frage gekleidete, sehr weitreichende (Selbst-)Kritik des europäischen Reisenden: Wie sollen sich gesicherte Erkenntnisse über ein Volk ergeben aus lauter Unkenntnis, Unverständnis von Riten und den gesprochenen Sprachen? Es stellt sich die berechtigte Frage, ob Erkenntnisse aus einer Situation der Unlesbarkeit erwachsen können.261 Die enzyklopädische Instanz jedenfalls führt die widersprüchlichen Erkenntnisse über die Völker Floridas an, die von Reisenden als gottlos, von ‹einem englischen Autor› aber als höchst kultiviert beschrieben werden: Si l’on en croit les voyageurs, les peuples de la Floride ne reconnoissoient point de Dieu, & vivoient sans religion ; cependant un auteur anglois qui a vécu dix ans parmi eux, assûre qu’il n’y a que la religion révélée qui ait effacé la beauté de leurs principes ; que les Socrates & les Platons rougiroient de se voir surpasser par des peuples d’ailleurs si ignorans.262

Diesen Widerspruch nun wird aufgelöst, indem zwar über den Wahrheitsgehalt der Absenz religiöser Insignien und Handlungen befunden wird, aber durchaus religiöse Dimensionen in den Auffassungen der Völker nachgewiesen werden können: «Il est vrai qu’ils n’ont ni idoles, ni temples, ni aucun culte extérieur ; mais ils sont vivement persuadés d’une vie à venir, d’un bonheur futur pour

260 Ebd. 261 Gleichzeitig ruft es aber auch ein unausgesprochenes Gegenmodell auf, das ebenso problematisch ist: Sind denn überhaupt gesicherte Erkenntnisse über fremde Völker zu erlangen, selbst wenn sich einem die Riten erschließen und die Reisenden der Sprache mächtig sind? Kann die Unterscheidung zwischen Interpretationen auf der Grundlage von Vermutungen und Unkenntnis einerseits und Erkenntnissen auf der Grundlage von Verstehen qua ratio und Sprachkenntnis möglich sein? Die akademische Anthropologie und Ethnologie des 19., mehr aber noch des 20. Jahrhunderts wird sich mit diesen Fragen immer wieder kritisch und kontrovers auseinandersetzen (vgl. weiterhin Aufsätze in Descargues-Grant zum récit de voyage und der Encyclopédie Madeleine Descargues-Grant: Récit de voyage et ‹Encyclopédie›, Valenciennes: Presses Universitaire de Valenciennes 2011. 262 Abbé Claude Yvon: Athées, S. 799.

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récompenser la vertu, & de souffrances éternelles pour punir le crime.»263 Die enzyklopädische Instanz weist er auf die kulturrelative Beurteilungskraft bzw. die Unfähigkeit der Beurteilung über Religion oder Atheismus fremder Völker hin. Dabei operiert der Artikel aber mit Kategorien von Wahrheit und Sicherheit, um Erkenntnisse gegeneinander abzuwiegen («S’il n’est pas certain» und «du moins il est sûr»): Que savons-nous, ajoûte-t-il, si les Hottentots & tels autres peuples qu’on nous représente comme athées, sont tels qu’ils nous paroissent ? S’il n’est pas certain que ces derniers reconnoissent un Dieu, du moins est-il sûr par leur conduite qu’ils reconnoissent une équité, & qu’ils en sont pénétrés.264

In der Folge führt nun die enzyklopädische Instanz eine weitere Quelle an, die einen interessanten Argumentationsstrang aufmacht: Den Berichten von Kolbe zufolge würde auch die barbarischsten Hottentotten nicht ohne Vernunft und mit dem Wissen um Menschen- und Naturrechte agieren: «La description du cap de Bonne-Espérance par M Kolbe, prouve bien que les Hottentots les plus barbares n’agissent pas sans raison, & qu’ils savent le droit des gens & de la nature.»265 Hier dient die Dichotomie von barbarisch und vernunftgemäß dazu, aufzuzeigen, dass es gleichzeitig Parallelen und Differenzen in der Relation zum kolonialen Anderen gibt. Die Schlussfolgerung ist vor dem Hintergrund der Aufklärungslogik wenig überraschend: Weder die Selbstkritik des Europäers noch die Akzeptanz der Alterität des kolonialen Anderen bilden die conclusio, sondern der Glaube an profunderes Wissen durch bessere Informationen – auch wenn im Eintrag nicht weiter ausgeführt wird, woraus und in welcher Form diese generiert werden sollen oder können: «Ainsi pour juger s’il y a eu des nations sauvages, sans aucune teinture de divinité & de religion, attendons à en être mieux informés que par les relations de quelques voyageurs.»266 Die zweite Annahme, auf der die fehlerhafte These des Atheismus basiert, ist das Argument der Verrohung und Lasterhaftigkeit der Sitten («La seconde source d’athéisme, c’est la débauche & la corruption des moeurs.»267) In diesem Abschnitt führt er die Argumentation von Bayle zunächst vor und widerlegt sie dann entschieden. Interessant ist diese Argumentation aus zwei Gründen: einerseits, weil sich die enzyklopädische Instanz hier direkt auf die EncyclopédieFolie des Dictionnaire von Bayle bezieht (sein Dictionnaire critque et historique,

263 264 265 266 267

Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd.

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1734–1741), andererseits, weil auch Bayle sich trotz profunder Kenntnis antiker Schriften und Positionen zum Atheismus268 von Reiseberichten einnehmen lasse. Bayle zufolge sei zu konstatieren: Il est vrai que ces athées [dans les îles d’Afrique & de l’Amérique, K. S.] sont des sauvages, sans lois, sans magistrats, sans police civile: mais de ces circonstances il en tire des raisons d’autant plus fortes en faveur de son sentiment ; car s’ils vivent paisiblement hors de la société civile, à plus forte raison le feroient-ils dans une société, où des lois générales empêcheroient les particuliers de commettre des injustices.269

In der Encyclopédie findet sich neben dem Gegner des Atheismus noch ein weiterer religiöser Feind, gegen den bekanntlich insbesondere Voltaire dezidiert Stellung bezog270 und den es zu kritisieren gilt: der religiöse Fanatismus. Der Fanatismus dient in den Artikeln aber auch zur Konturierung von kultureller Alterität. Im Folgenden soll also weder der Fanatismus-Diskurs innerhalb der Aufklärung noch jener in der Encyclopédie nachgezeichnet werden, sondern der Zusammenhang zwischen Fanatismus und kolonialen Alteritätskonstruktionen im Fokus stehen. Im berühmten Eintrag Fanatisme von Deleyre werden gleich zu Beginn Fanatismus und Aberglaube analogisiert (u. a. durch den Querverweis auf den Eintrag Superstition). Nacheiner recht szenischen Evozierung der argumentativen und in der Antike angesiedelten Ausgangssituation (vgl. Kapitel 2.2) spart der Artikel nicht an aufklärerischen Topoi: Mittels Natur- und Lichtmetaphoriken wird konstatiert, dass der Mensch aus Angst vor dem Unsichtbaren und nicht aus göttlicher Hingabe271 dem Fanatismus anheimfalle. In einer Mischung aus Angstphantasien und religiösen Dogmen und evolutionistisch aus dem Dunkel der Wälder kommend entwickelt sich der Fanatismus: La peur des êtres invisibles ayant troublé l’imagination, il se forme un mélange corrompu des faits de la nature avec les dogmes de la religion, qui mettant l’homme dans une

268 Zu Diderots Perspektive auf das Verhältnis von Atheismus und Antikolonialismus vgl. Yves Benot: Diderot, de l’athéisme à l’anticolonialisme. 269 Abbé Claude Yvon: Athées, S. 813. 270 In diesem Zusammenhang hat die Aufklärungs- und Voltaire-Forschung zahlreiche Arbeiten hervorgebracht, die u. a. den sozio-kulturellen Stellenwert. und die philosophischen Implikationen des Fanatismus-Diskurses bearbeitet haben (vgl. exemplarisch Cornelia Klettke/Cordula Wöbbeking (Hg.): Der maskierte Voltaire. Verdeckte Schreibarten und Textstrategien des Aufklärers, Berlin: Frank & Timme 2015). 271 «Si quelque lecteur avoit l’injustice de confondre les abus de la vraie religion avec les principes monstrueux de la superstition, nous rejettons sur lui d’avance tout l’odieux de sa pernicieuse logique.» (Alexandre Deleyre: Fanatisme, in: Denis Diderot/Jean Le Rond d’Alembert (Hg.): Encyclopédie (ENCCRE). Bd. 6, S. 393–401, hier S. 393).

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contradiction éternelle avec lui-même, en font un monstre assorti de toutes les horreurs dont l’espece est capable: je dis la peur, car l’amour de la divinité n’a jamais inspiré des choses inhumaines. Le fanatisme a donc pris naissance dans les bois, au milieu des ombres de la nuit ; & les terreurs paniques ont élevé les premiers temples du Paganisme.272

Der Fanatismus mache aus dem Menschen ein Monster, das nur so den Ausweg aus einer «contradiction éternelle» finden könne.273 Und so fährt der Eintrag fort mit zahlreichen, auf Drastik und Schockeffekte ausgelegte Beispielen aus der kolonialen Welt, in der Menschenopfer an der Tagesordnung seien: Tantôt c’est le sang le plus pur: n’y a-t-il pas des Indiens qui exercent l’hospitalité envers tous les hommes, & qui se font un mérite de tuer tout étranger vertueux & savant qui passera chez eux, afin que ses vertus & ses talens leur demeurent ? Tantôt c’est le sang le plus sacré: chez la plûpart des idolatres, ce sont les prêtres qui font la fonction des bourreaux à l’autel ; & chez les Sibériens on tue les prêtres, pour les envoyer prier dans l’autre monde à l’intention du peuple. Enfin toutes les idoles de l’Inde & de l’Amérique se sont abreuvées de sang humain. Quel spectacle pour Cortez entrant dans le Mexique, de voir immoler cinquante hommes à son heureuse arrivée ! mais quel étonnement, quand un des peuples qu’il avoit vaincus, députa vers lui avec ces paroles: « Seigneur, voilà cinq esclaves ; si tu es un dieu fier qui te paisses de chair & de sang, mange-les, & nous t’en amenerons davantage ; si tu es un dieu débonnaire, voilà de l’encens & des plumes ; si tu es homme, prends les oiseaux & les fruits que voici ». C’étoient pourtant des sauvages qui donnerent cette leçon d’humanité à des chrétiens, ou plûtôt à des barbares que les vrais chrétiens reprouvent.274

In der Folge des Artikels wird der Fanatismus in seinem globalen Ausmaß diskutiert und auf jedem Kontinent («Parcourez donc la surface de la terre») und in den religiösen Schriften wie dem Koran werden anschauliche Beispiele für fanatische kulturelle Praktiken gefunden. Interessanterweise konzentriert sich die enzyklopädische Instanz hier auf die rituellen Auswirkungen oder eben Praktiken der kolonialen Anderen und nicht auf die Inhalte, Dogmen, Glaubenssätze, die den Fanatismus inhaltlich begründen. Der Artikel setzt folglich auf Abschreckung und Schockmomente, auf die Dehumanisierung jener Barbaren, die als fanatisch zu bezeichnen sind. Inhaltlich wie rhetorisch, etwa in Form von auffällig vielen Imperativen («Imaginez», «voyez-les», «Parcourez»), in direkter Anrede: «Que pensez-vous de cela?» oder der veranschaulichenden Konstruktion direkter Redewird die Leserschaft zum kritischen Nachdenken eingeladen bzw. nahezu gezwungen (zur poetologischen Ausgestaltung dieser abschreckenden Entmenschlichung vgl. Kapitel 2.1.2.1).

272 Ebd. 273 Ebd. 274 Ebd., S. 394.

2.1 Figuren und Figurationen kolonialer Macht

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Allerdings wird im Eintrag zum Fanatismus auch eine starke antikoloniale Kritik formuliert und das Fanal der Selbstkritik gegen die europäischen Nationen gerichtet – bemerkenswerterweise in den Topoi der leyenda negra, so dass die Kritik in Richtung spanische Kolonialmacht abgelenkt wird und nicht auf Frankreich (zu)trifft: Le même esprit de fanatisme entretenant la fureur des conquêtes éloignées, à peine l’Europe avoit réparé ses pertes, que la découverte d’un nouveau monde hâta la ruine du nôtre. A ce terrible mot, allez & forcez, l’Amérique fut désolée & ses habitans exterminés ; l’Afrique & l’Europe s’épuiserent en vain pour la repeupler ; le poison de l’or & du plaisir ayant énervé l’espece, le monde se trouva desert, & fut menacé de le devenir tous les jours davantage, par les guerres continuelles qu’allumera sur notre continent l’ambition de s’étendre dans ces îles étrangeres. Voilà pourtant où nous ont conduits les progrès du fanatisme!275

Es folgt sogar ein christliches Argument, das die kolonialen Untaten als gegen die Botschaft Jesus Christus konstruiert und überdies das Missionarswesen der «faux prophètes» angreift: Quand le plus humain des législateurs envoya des pêcheurs annoncer sa doctrine à toute la terre comme une bonne nouvelle, pensoit-il qu’on abuseroit un jour de sa parole pour bouleverser l’univers ? Il vouloit lier tous les hommes par le même esprit de charité, qu’ils vissent la lumiere avant de croire à sa mission ; mais le flambeau de la guerre n’étoit pas celui de son évangile. Il laissoit les armes aux faux prophetes qui n’auroient ni la raison ni l’exemple pour eux. Connoissant que l’hypocrisie endurcit les ames & que l’ignorance les abrutit ; que des aveugles conduits par des méchans, sont un spectacle affligeant pour le ciel, & tout-à-fait deshonorant pour la nature humaine ; il vouloit gagner & persuader, attacher les incrédules par le sentiment, & retenir les libertins par la conviction. Les nations idolatres devroient-elles lui reprocher, que depuis deux mille ans la terre éprouve les plus sanglantes révolutions dans toutes les contrées, où sa loi pure a pénétré ?276

Hier wenden sich die nations idolatres sogar in einem angedeuteten Perspektivwechsel, der durch die Frageform artikuliert wird, an die christliche Botschaft (bzw. in der Passage sogar an Christus selbst) und fragen danach, ob etwa die Versklavung in Amerika in seinem Sinne gewesen sein kann. Und es wird noc hein weiteres religionsphilosophisches Argument angeführt: «Qu’est-ce donc, disent-elles, qui a fait des esclaves en Amérique, & des rebelles au Japon ? seroit-ce la contradiction qui regne entre le dogme & la morale ? non.»277 Die Antwort fällt aufklärerisch aus: Es sei nicht die Spannung zwischen Dogma und

275 Ebd., S. 396, Hervorhebungen K. S. 276 Ebd., Hervorhebung K. S. 277 Ebd.

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2 Macht und Ambivalenz in den Narrationen des kolonialen Anderen

Moral, die der Ausbeutung und Versklavung Tür und Tor öffne, sondern der affektive (und unkontrollierbare) Fanatismus: Mais la fureur des passions soûlevées par un levain de fanatisme ; peut-être l’aheurtement à des opinions, qui n’ayant point leurs racines dans l’esprit humain, ni leur modele dans la nature, ne peuvent se soûtenir que par des ressorts violens ; la confusion des idées, l’inévidence des principes, le mélange du faux & du vrai plus funeste qu’une ignorance absolue, causent cette alternative de bien & de mal qui fait de l’homme un monstre composé de tous les autres. Est-il bien surprenant, quand il ne suivra plus le fil de la raison, le plus céleste de tous les dons, qu’un roi de Perse immole au soleil son dieu, ceux qu’il appelle les disciples du crucifié,& qu’un prince chrétien aille brûler le temple du feu, & la ville des adorateurs du soleil ; qu’on voye pendant dix siecles deux empires divisés par un seul mot ; qu’un conquérant fasse voeu d’exterminer tous les ennemis du prophete, comme ceux-ci se voüoient depuis deux cent ans au massacre des infideles, & qu’il détruise l’empire d’Orient aux acclamations des Occidentaux, qui béniront le ciel d’avoir puni leurs freres schismatiques par la main des ennemis communs ? Est-il possible que les rois condamnent à mort tous les sujets de leurs états qui veulent retourner au paganisme, parce que la nouvelle religion ne leur convient pas ; que les peuples excédés de la tyrannie de leurs conquérans, renoncent à cette même religion qu’ils ont reçûe par force ; que dans la réaction des soûlevemens, ils s’oublient jusqu’à trépaner les prêtres & raser les églises, & qu’enfin pour une église détruite, on égorge toute une nation ? Prenez garde de vous laisser séduire à ce ton emphatique ; ouvrez les annales de toutes les religions, & jugez vous-même.278

Auf der ganzen Erde hätten sich durch den Fanatismus, der Tausende von ‹Sklaven› hervorgebracht hat, Tod und Unglück ausgebreitet: Comptez maintenant les milliers d’esclaves que le fanatisme a faits, soit en Asie, où l’incirconcision étoit une tache d’infamie ; soit en Afrique, où le nom de chrétien étoit un crime ; soit en Amérique, où le prétexte du baptême étouffa l’humanité. Comptez les milliers d’hommes que le monde a vû périr, ou sur les échafauds dans les siecles de persécution, ou dans les guerres civiles par la main de leurs concitoyens, ou de leurs propres mains par des macérations excessives. La terre devient un lieu d’exil, de péril & de larmes […].279

Trotz der emotionalen Tränen- und Schreckensrhetorik ist bezeichnend, dass die Selbstkritik zwar Christen und christliche Sakrilegien wie die Taufe verantwortlich für Greueltaten machen, die Europäer als veritable Akteure aber nicht deklariert werden. Es ist der Fanatismus – in der Entpersonalisierung entweder die europäischen Akteure eliminierend oder aber in der Topik der spanischen Kolonialkritik als Gemeinplatz mit Spanien als Akteur kurzgeschlossen und daher nicht expliziert –, der für Sklaverei und Elend in der Welt sorgt. Und so

278 Ebd., Hervorhebung K. S. 279 Ebd., S. 397.

2.1 Figuren und Figurationen kolonialer Macht

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kommt die enzyklopädische Instanz zu dem definitorischen Punkt: «Qu’est-ce donc que le fanatisme ? c’est l’effet d’une fausse conscience qui abuse des choses sacrées, & qui asservit la religion aux caprices de l’imagination & aux déréglemens des passions.»280 Die Gründe für den Fanatismus macht er in sechs Bereichen aus,281 die die antiaufklärerischen Domänen par excellence sind: Antirationalismus, religiöser Dogmatismus, auf Aberglaube basierende Handlungsmaxime, öffentliche Entehrung und nicht zuletzt religiöse Intoleranz und daraus resultierende Verfolgung. Für alle Bereiche finden sich vor allem Beispiele in der kolonialen Welt, gelegentlich auch in Europa. Für jenen als Krankheit bezeichneten Fanatismus macht der Artikel des Weiteren Symptome aus, die bei den ‹erkrankten› Menschen auftreten: etwa Melancholie und tiefe Grübelei, hitzige, hysterische Visionäre, die «pseudoprophétie»,282 die phantastische Chimären hervorbringt oder stumpfer Gleichmut. Man sieht hier die nahezu perfekte Kontrastfolie zum aufgeweckten, abwägend-räsonnierenden philosophe. Und darin sieht die enzyklopädische Instanz auch die gefährliche Ermächtigung des Fanatikers: Er ist nicht wie der Abergläubische in seinen Handlungen eingeschränkt, sondern im Gegenteil agitiert und kriegsbereit wie ein Soldat: «Si la superstition subjugue & dégrade les hommes, le fanatisme les releve: l’une & l’autre font de mauvais politiques ; mais celui-ci fait les bons soldats.»283 Und an dieses soldatische Bild schließt sich eine Argumentationsfigur an, die sehr langlebig werden soll und bis heute an Aktualität nicht eingebüßt hat: die islamophobe Figur des Gotteskriegers, der mit Gefahr konnotiert und animalisiert wird. Ein ganzes Heer davon agiere wie ein Kraken, dessen abgeschlagene Arme weiterzucken und Unheil anrichten: Mahomet n’eut presque jamais qu’un croyant contre dix infideles dans la plûpart de ses combats: avec trois cent hommes, il étoit en état d’en vaincre dix mille, tant la confiance en des légions célestes & l’espérance d’une couronne immortelle donnoient de force à sa

280 Ebd. 281 Der Fanatismus resultiert aus Irrtümern 1. im anti-rationalen Bereich der Dogmen, denn: «La vérité ne fait point de fanatiques.», 2. in der Abscheulichkeit der Moral, die zur buchstabengetreuen Befolgung von Dogmen führt «On peut donc appeller fanatiques, tous ces esprits outrés qui interpretent les maximes de la religion à la lettre, & qui suivent la lettre à la rigueur», 3. in der Verwechslung der menschlichen Aufgaben, wenn «la superstition prend la place de la loi naturelle, & la peur du sacrilege conduit à l’homicide», 4. Entehrung oder «l’usage des peines diffamantes, parce que la perte de la réputation entraîne bien des maux réels», 5. in der religiösen Intoleranz gegenüber anderen Religionen und schließlich 6. in der daraus resultierenden Verfolgung von Menschen (vgl. ebd., S. 398). 282 Ebd., S. 399. 283 Ebd., S. 400.

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petite troupe. Un général d’armée, un ministre d’état, peuvent tirer grand parti de ces ames de feu. Mais aussi quels dangereux instrumens en de mauvaises mains ! Un enthousiaste est souvent plus redoutable avec ses armes invisibles, qu’un prince avec toute son artillerie. Que faire à des gens qui mettent leur salut dans la mort ; qui se multiplient à mesure qu’on les moissonne, & dont un seul suffit pour réparer les plus nombreuses pertes ? Semblables au polype, partagez tout le corps en mille pieces, chaque membre coupé forme un nouveau corps. Exilez ces esprits ardens au fond des provinces, ils metttront toutes les villes en feu. Il ne resteroit donc qu’à les enfermer çà & là dans les prisons, où ils se consumeroient comme des tisons embrasés, jusqu’à ce qu’ils fussent réduits en cendres.284

Und so konstatiert der Encyclopédie-Artikel schließlich auch unumwunden, dass der Fanatismus mehr Unheil über die Welt gebracht hat als der Atheismus: «Le fanatisme a fait beaucoup plus de mal au monde que l’impiété.»285 Diese Feststellung ist zwar argumentativ noch durch die Vergleiche mit der Tierwelt nahezu dehumanisierend, richtet sich aber selbstredend auch gegen die eigene Religiösität in Frankreich. Interessanterweise (und aus Zensurgründen absolut nachvollziehbar) lässt dieenzyklopädische Instanz nämlich nur die ferne Welt der Antike und die koloniale Welt unter dem Lemma Fanatismus auftreten; Europa findet kaum Erwähnung und die durchaus fanatischen Kreuzzüge dienen nur als historischer, nicht aber als moralischer Referenzpunkt. Die Beurteilung der Religiösität ist oftmals mit weiteren Attributen verwoben und überdies ein translokales Kriterium für die Konstruktionen des kolonialen Anderen. Die Klimatheorie findet sich zwar in mehreren Artikeln zum kolonialen Anderen. Doch im Eintrag Christianisme wird die Verbindung von Klima und Gemüt nicht fatalistisch gezeichnet, sondern ist veränderbar. So kann einerseits in Europa, Afrika oder Asien die christliche Religion gegen die «mollesse mahométane» einiges ausrichten und der natürlichen Anlage des Menschen trotzen: Dans les lieux de l’Europe, de l’Afrique, & de l’Asie, où habite aujourd’hui la mollesse mahométane, & qui sont devenus pour elle des séjours de volupté, le Christianisme avoit sû autrefois y forcer la nature du climat, jusqu’au point d’y établir l’austérité, & d’y faire fleurir la continence, tant est grande la force qu’ont sur l’homme la religion & la vérité. Voyez RELIGION.286

Weiterhin greift die Klimatheorie, die gegen universalistische Moralvorstellungen in Anschlag gebracht wird:

284 Ebd. 285 Ebd., S. 400 f. 286 N. N.: Christianisme, in: Denis Diderot/Jean Le Rond d’Alembert (Hg.): Encyclopédie (ENCCRE). Bd. 3, S. 381–387, hier S. 387.

2.1 Figuren und Figurationen kolonialer Macht

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Mais quand il seroit vrai qu’il est des climats où la physique a une telle force que la Morale n’y peut presque rien, est-ce une raison pour l’en bannir ? Plus les vices du climat sont laissés dans une grande liberté, plus ils peuvent causer de desordres ; & par conséquent c’est dans ces climats que la religion doit être plus réprimante. Quand la puissance physique de certains climats viole la loi naturelle des deux sexes & celle des êtres intelligens, c’est à la religion à forcer la nature du climat, & à rétablir les lois primitives.287

Der klimatheoretische Kurzschluss von Klima und Charakterzügen findet sich auch in Diderots Eintrag Humaine Espece in der Bewertung der nordischen Völker, die durchaus auch mit kolonialen Topoi belegt werden – auch wenn diese dort weniger im Hinblick auf ihre intellektuellen Fähigkeiten oder ihre Perfektibilitätspotenziale hin beurteilt werden, sondern auf ihre in einem doppelten Sinne Liebesfähigkeit: «L’homme est plus chaste dans les pays froids que dans les climats méridionaux. On est moins amoureux en Suéde qu’en Espagne ou en Portugal, & cependant les Suédoises font plus d’enfans».288 In Bezug auf die Hautfarbe räumt Diderot dem Klima zwar nicht die alleinige Determinationsmacht ein, sondern auch etwa der Nahrung und den Sitten («la nourriture & les mœurs»289). Gleichwohl führt ihn dies geradewegs zur Degenerationsthese. Ein junges Hottentottenmädchen etwa würde nach Holland gebracht eine weiße Hautfarbe entwickeln «Les Hottentots ont tous le nez épaté & les levres grosses. On dit qu’une petite fille enlevée de chez ce peuple, & nourrie en Hollande, y devint blanche»290. Und so kann sich jene biologische Veränderung nur in Richtung weiß einstellen: «Ce qu’il y a de bizarre, c’est que cette variété n’a lieu que du noir au blanc, & non du blanc au noir. Il n’arrive point chez les blancs qu’il naisse des individus noirs».291 Der Weiße wird damit als Zielpunkt der menschlichen Entwicklung generiert – auch im Hinblick auf das ästhetische Empfinden. So wird das wohltemperierte Klima unmittelbar mit den Europäern verbunden und damit auch das Maß an Schönheit und Wohlproportioniertheit postuliert. Selbstherrlich heißt es da: «tous les peuples de l’Europe sont les plus blancs, les plus beaux & les mieux proportionnés de la terre».292 Auffällig häufig, wenn Analogien oder Proximitäten zum Europäer hergestellt werden, überblenden sich physische Deskription und ethisch-ästhetische Valorisierung. Die Einwohner an der senegalesischen Küste etwa haben

287 288 289 290 291 292

Ebd. Denis Diderot, Humaine Espece, S. 346. Ebd. Ebd., S. 347. Ebd. Ebd., S. 346.

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les mêmes idées de la beauté que nous ; il leur faut de grands yeux, une petite bouche, des levres fines & un nez bien fait, mais la couleur très-noire & fort luisante. A cela près, leurs femmes sont belles, mais elles donnent cependant la préférence aux blancs.293

Ob die Differenz zum kolonialen Anderen nun über seine (prä-)zivilisatorische Religiösität oder über klimatisch bedingte Wesens- und Körpermerkmale herstellt und aus ihnen heraus begründet werden: Immer stellt sich der Europäer über den kolonialen Anderen und generiert sich als dessen Maßstab.294 Lieben und Begehren. Sehr brisant und omnipräsent in den Alteritätsdarstellungen der Encyclopédie sind jene Thematiken, die den sexuellen Körper und die kulturellen Körperpraktiken im Umgang der Geschlechter bestimmen und regulieren. Hier verbinden sich Exotisierungen und Erotisierungen: Dabei werden die pejorativen Attribuierungen der Alterität mit unmoralischen Körperpraktiken verquickt oder aber die Schönheit der Menschen mit ihrem durchaus freizügigen Sexualverhalten.295 In erster Linie dienen hier interessanterweise die kolonialen Frauen als Projektionsflächen für körperliche Praktiken.296 Klassischerweise gilt Nacktheit als zivilisatorische Antithese. Nacktheit ist ein omnipräsentes, zunächst optisches Alteritätskriterium für den kolonialen Anderen (etwa bei den afrikanischen Veteres: «ils vont tout nuds, & n’ont que de petites pagnes d’écorce d’arbres pour couvrir leur nudité»,297 wird aber oft-

293 Ebd. 294 Ähnlich wie der Glaube an Gott sind auch Mönche ein omnipräsentes Phänomen (unter Verweis auf Montesquieu), allerdings verstärke sich die klimatheoretisch begründete Faulheit der im Süden lebenden Menschen nur durch das Mönchswesen. de Jaucourt verschränkt hier den im 18. Jahrhundert gängigen Topos der Kritik am monachisme mit Alteritätskonstruktionen: «Le monachisme, dit l’auteur de l’esprit des lois, a ce désavantage, qu’il augmente les mauvais effets du climat, c’est-à-dire la paresse naturelle. Il est né dans les pays chauds d’Orient, où l’on est moins porté à l’action qu’à la spéculation. En Asie, le nombre des derviches ou moines semble augmenter avec la chaleur du climat ; les Indes, où elle est excessive, en sont remplies: on trouve en Europe cette même différence. Pour vaincre la paresse du climat, il faudroit que les lois cherchassent à ôter tous les moyens de vivre sans travail: mais dans le midi de l’Europe, elles font tout le contraire ; elles donnent à ceux qui veulent être oisifs des places propres à la vie spéculative, & y attachent des richesses immenses.» (Louis de Jaucourt: Monachisme, in: Denis Diderot/Jean Le Rond d’Alembert (Hg.): Encyclopédie (ENCCRE). Bd. 10, S. 635. 295 Zur Rolle von Sexualität und Geschlechtlichkeit in der Aufklärung vgl. bspw. Pamela Cheek: Sexual antipodes. Enlightenment globalization and the placing of sex, Stanford: Stanford University Press 2003. 296 Vgl. zur Frage nach der Menschlichkeit der Frau in der Aufklärung Nicole Arnold/Annie Gefrroy: Les femmes de l’Encyclopédie font-elles partie du genre humain?, in: Recherches sur Diderot et sur l’Encyclopédie 31–32 (avril 2002), S. 71–90. 297 Louis de Jaucourt: Veteres les, S. 222.

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mals mit klimatheoretischen, kulturalistischen, zivilisationskritischen Argumenten verbunden (oder mit kriegerischer Haltung wie bei den marokkanischen Bewohnern des Bergs Hentete298) oder gar durch die Verknüpfung mit FrauenBeschreibungen erotisch aufgeladen. Im Eintrag zur Insel Madagaskar etwa wird Nacktheit mit rassischen Merkmalen schwarzer Hautfarbe und dem orientalistischen Stereotyp des Müßiggangs verquickt und klimatheoretisch begründet: «Les hommes y éprouvent toutes les influences du climat ; l’amour de la paresse & de la sensualité.»299 Weibliche Promiskuität 300 würde nicht geahndet («Les femmes qui s’abandonnent publiquement n’en sont point deshonorées.»301). In eine ähnliche Richtung gehen dann auch die Ausführungen von Diderot zu den asiatischen Bengalen, deren «femmes y sont bien faites, fort parées & très-voluptueuses». Deren gleichnamiger Eintrag hingegen als große Warenliste mit vielen Regionalismen organisiert ist, die die Menschen in den Hintergrund treten lässt.302 Die weibliche Unberührtheit spielt in der Encyclopédie weltweit eine wichtige Rolle in der gesellschaftlichen Organisation der Körperlichkeit und der Sexualität. So auch im Eintrag zur Virginité: Hier dienen die «nations sauvages & barbares», konkret sind Äthopien, Arabien und einige Gegenden von Asien genannt, als abschreckendes Beispiel dafür, dass diese, statt auf eine gute Ausbildung in Sachen Ehre und Anstandsgefühl zu setzen, ihre Töchter beschneiden, denen jegliches Ehr- und Anstandsgefühl fehle.303 De Jaucourt verurteilt diese und andere Praktiken zur Jungfräulichkeitssicherung als «ouvrage outrageant pour la vertu». Nun schlägt de Jaucourt ungewohnt selbstkritische Töne an,

298 vgl. Louis de Jaucourt: Hentete, in: Denis Diderot/Jean Le Rond d’Alembert (Hg.): Encyclopédie (ENCCRE). Bd. 8, S. 132. 299 N. N.: Madagascar, in: Denis Diderot/Jean Le Rond d’Alembert (Hg.): Encyclopédie (ENCCRE). Bd. 9, S. 839–840, hier S. 839. 300 Bezeichnenderweise ist die Promiskuität in den Artikeln über den kolonialen Anderen eher geheftet an die Projektionen über die fehlenden sexuellen Restriktionen für Frauen als an die Potenzkraft der Männer, wie es etwa im europäischen, libertinen Casanova ausformuliert wäre (zu Casanova als subvertierende Aufklärungsfigur vgl. bspw. Guy ChaussinandNogaret: Casanova. Les dessus et les dessous de l’’urope des Lumières, Paris: Fayard 2006). 301 N. N.: Madagascar, S. 839. 302 Vgl. Denis Diderot: Bengale, in: Ders./Jean Le Rond d’Alembert (Hg.): Encyclopédie (ENCCRE). Bd. 2, S. 204. 303 Das körperliche Ergebnis der Beschneidung wird konkret beschrieben und überdies als widernatürlich attribuiert: «rapprochent par une sorte de couture les parties que la nature a séparées, & ne laissent libre que l’espace qui est nécessaire pour les écoulemens naturels» (Louis de Jaucourt: Gordien Nœud, in: Denis Diderot/Jean Le Rond d’Alembert (Hg.): Encyclopédie (ENCCRE). Bd. 7, S. 742.

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indem er diese Schändlichkeit auch auf die europäischen Verhältnisse – auf exklamatorische Art und mit einer rhetorischen Frage eingeleitet – anwendet: Mais pourquoi citer des nations barbares, lorsque nous avons de pareils exemples aussi près de nous ! La délicatesse dont quelques-uns de nos voisins se piquent sur la chasteté de leurs femmes, est-elle autre chose qu’une jalousie brutale & criminelle ?304

De Jaucourt konstatiert einen konträren Umgang mit dem Wert der Jungfräulichkeit auf der Welt: «Quel contraste dans les goûts & dans les moeurs des différentes nations! quelle contrariété dans leur façon de penser !»305 Nun dekliniert de Jaucourt Jungfräulichkeit und das Opfer von Jungfrauen (der Gottheit, dem König etc.) durch unterschiedlichste Völker der Welt durch, indem er es an den Aberglauben rückkoppelt: Er wird fündig in Indien («Les prêtres des royaumes de Cochin & de Calicut jouissent de ce droit ; & chez les Canarins de Goa»306), in Afrika («les habitans des isles Canaries, du royaume de Congo, prostituent leurs filles de cette façon, sans qu’elles en soient deshonorées»307), im nahen Osten («c’est à-peu-près la même chose en Turquie, en Perse, & dans plusieurs autres pays de l’Asie & de l’Afrique, où les plus grands seigneurs se trouvent trop honorés de recevoir de la main de leur maître, les femmes dont il s’est dégoûté»308), aber auch in Asien (Philippinen, Tibet); im skandinavischen Norden Europas und auf Madagaskar, wo sexuell erfahrene Mädchen nicht entehrt, sondern im Gegenteil besonders begehrt seien. Mit Buffon ist sich die enzyklopädische Instanz aber über die kritische Einschätzung einig: «nous pourrions, conclud M. de Buffon, donner plusieurs autres exemples de ce goût singulier, qui ne peut venir que de la grossiéreté ou de la dépravation de moeurs»309). Die erotisierte Exotik der kolonialen Anderen wird hier offensichtlich genutzt, um einerseits mit aufklärerischem Wissen gegen diese barbarischen Praktiken zu argumentieren und um andererseits diese Riten wiederum zur Selbstkritik zu nutzen. Die Verbindung von erotischer Faszination und religiösen Praktiken wird auch im Artikel zum afrikanischen Volk der Auses gezogen. Dieses Volk zeichnet sich durch Kampfrituale der jungen Frauen aus, die mit Jungfräulichkeit verbunden werden (was deutlich an das Volk der Amazonen erinnert). Hinzu tritt eine Tendenz zur Animalisierung, durch die Beschreibung, dass die Menschen

304 Louis de Jaucourt: Virginité, in: Denis Diderot/Jean Le Rond d’Alembert (Hg.): Encyclopédie (ENCCRE). Bd. 17, S. 327–328, hier S. 328. 305 Ebd. 306 Ebd. 307 Ebd. 308 Ebd. 309 Ebd.

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dort im Gesicht vollkommen behaart seien.310 Das Stereotyp vom robusten Naturburschen und seinen lasziven, promiskutiven Frauen («fort adonnées à l’amour»), das Attribut fehlender medizinischer Versorgung findet sich auch im Artikel zur afrikanischen Provinz Héa, deren Einwohner all dies auf sich vereinen und überdies in religiösen Dingen inkonsistent und unwissend sind: «quoique Mahométans, ils ne savent ce que c’est que Mahomet & sa secte ; mais ils font & disent tout ce qu’ils voyent faire & entendent dire à leurs alfaquis».311 Und auch im Eintrag zu den afrikanischen Arder sind Irreligiösität und weibliche Fruchtbarkeit miteinander verknüpft: On lit dans le Dictionnaire géographique de M. de Vosgien, que le peuple y est fort débauché ; qu’une femme y passe pour adultere si elle accouche de deux jumeaux ; qu’il n’y a ni temple ni assemblées publiques de religion, & qu’on n’y croit ni résurrection ni autre vie après celle-ci.312

Ganz ähnlich werden die afrikanischen Whidah beschrieben, deren Einwohner nicht nur die anderen Völker («les autres negres») an guten wie an schlechten Eigenschaften übertreffen, sondern deren Priesterinnen anerkannter als die männlichen Amtsinhaber sind und überdies commandent à leurs maris en reines absolues, & exercent un empire despotique dans leurs maisons. Chaque année on choisit un certain nombre de jeunes filles, que l’on met à-part pour être consacrées au serpent ; & ce sont les vieilles prêtresses qui sont chargées de faire ce choix.313

In Nigritien leben die Borno oder Bornous, deren Einwohner keine Religion haben und deren Familienleben nach Polygamie und Wiedererkennung organisiert ist: Nicht die biologische Verbindung ist die Grundlage für die Anerkennung der Kindern sondern das Ähnlichkeitsprinzip: «les particuliers n’y reconnoissent pour leurs enfans que ceux qui leur ressemblent.»314 Dort leben ebenfalls die Buramos, die als götzendienerisch beschrieben werden und deren Frauen «pour s’empêcher de parler, prennent dans leur bouche une gorgée d’eau

310 Vgl. Denis Diderot: Auses, in: Ders./ Jean Le Rond d’Alembert (Hg.): Encyclopédie (ENCCRE). Bd. 1, S. 890. 311 Louis de Jaucourt: Héa, Empire de, in: Denis Diderot/Jean Le Rond d’Alembert (Hg.): Encyclopédie (ENCCRE). Bd. 8, S. 75. 312 Denis Diderot: Arder ou Ardra, in: Ders./ Jean Le Rond d’Alembert (Hg.): Encyclopédie (ENCCRE). Bd. 1, S. 628. 313 Louis de Jaucourt: Whidah, in: Denis Diderot/Jean Le Rond d’Alembert (Hg.): Encyclopédie (ENCCRE). Bd. 17, S. 608. 314 N. N.: Borno ou Bournou, in: Denis Diderot/Jean Le Rond d’Alembert (Hg.): Encyclopédie (ENCCRE). Bd. 2, S. 336.

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qu’elles gardent la moitié d’une journée, sans que cela les empêche de travailler».315 Der Umgang mit Frauen bzw. die gesellschaftliche wie sexuelle Initiation von jungen Frauen ist ein häufiges Moment zur Beschreibung fremder Völker. So ist es dem Eintrag zu den Capes in Afrika hauptsächlich darum zu tun, den Initiationsritus des Volkes zu schildern: Capes, (Géog.) peuple d’Afrique, en Guinée, sur les côtes de l’Océan, près de la SierraLionna. On dit que dans chaque village il y a une grande maison séparée des autres, où l’on met toutes les jeunes filles du lieu, pour écouter les leçons d’un vieillard choisi pour les instruire ; au bout de l’année cette troupe de filles sort au son des instrumens, & se rend dans de certaines places pour y danser: les jeunes gens vont dans ces endroits, & y prennent pour femmes celles qui leur conviennent.»316

Ein besonderes Initiationsritual für junge Frauen wird auch unter dem Eintrag Sandi-Simodisino beschrieben. Es handelt es sich dabei nicht um einen Namen für ein Volk, sondern um eine autochthone Bezeichnung eines innerafrikanischen Volkes für junge Frauen während ihrer initiativen Absentierung. Hier werden haremsähnliche, erotisch aufgeladene Bilder von jungen Frauen aufgerufen, welche abseits von ihren Mitmenschen in Gruppen leben und in vollkommener Nacktheit von einer weisen Frauen «pour recevoir de l’éducation». In der Folge gibt es einen zwischen erotischer Laszivität und grausamer Körperverletzung oszillierende Beschreibung des Initiationsprozesses. Nachdem das Baden und das Einreiben mit Ölen beschrieben wurde, folgt in einem harten thematischen Übergang, rhetorisch aber fast unmerklich durch ein «&» markiert die Beschreibung der weiblichen Beschneidung. Diese bewertet die enzyklopädische Instanz zwar als «très douloureuse», aber schnell verheilt, um dann unmittelbar auf die laszive, erotische Erziehung der jungen Frauen zurückzukommen: on les conduit à un ruisseau où on les baigne, on les frotte avec de l’huile, & on leur fait la cérémonie de la circoncision, qui consiste à leur couper le clitoris, opération trèsdouloureuse, mais qui est bientôt guérie ; l’éducation consiste à leur apprendre des danses fort lascives, & à chanter des hymnes très-indécens, en l’honneur de l’idole sandi […].317

315 N. N.: Buramos (Les) ou les Papais, in: Denis Diderot/Jean Le Rond d’Alembert (Hg.): Encyclopédie (ENCCRE). Bd. 2, S. 464. 316 Denis Diderot: Capes, in: Ders./ Jean Le Rond d’Alembert (Hg.): Encyclopédie (ENCCRE). Bd. 2, S. 626. 317 Paul-Henri Thiry d’Holbach: Sandi-Simodisino, in: Denis Diderot/Jean Le Rond d’Alembert (Hg.): Encyclopédie (ENCCRE). Bd. 14, S. 610.

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Der Umgang mit dem weiblichen Geschlecht kann sich im Vergleich mit den europäischen Sitten auch als defizitär ausdrücken, indem sogar sprachlich eine lexikalische Lücke auszumachen ist. So etwa im galanten Umgang mit Frauen in Asien, wo es eine Entsprechung zum Begriff «faveur» nicht gebe, weil es die gesellschaftliche Stellung der Frau nicht zulasse: «il a eu des faveurs du roi, on dit, il a eu les faveurs d’une dame.[...] L’équivalent de cette expression n’est point connu en Asie, où les femmes sont moins reines.»318 Die religiöse Verfasstheit von Gemeinschaften und Gesellschaften wirkt sich folglich nicht nur auf ihre Gesinnung und ihre rituellen Praktiken aus, sondern manifestiert sich unmittelbar in unterschiedlichen Körperpraktiken, -ritualen und –konzeptionen. Im Eintrag Population wird dies explizit korreliert und mit Blick auf fremde Religionen verurteilt: «Un autre inconvénient des cultes nouveaux […] c’est de séparer les hommes non-seulement pour le spirituel, mais encore corporellement. Ils élevent entre eux des barrieres que tous les efforts de la raison ne peuvent briser.»319 Die angesprochene Trennung des Menschengeschlechts erfolgt durch die rituellen Distinktionen, die Zughörigkeit und Identifikation mit der rituellen Gemeinschaft erzwingen. Religiösität wirkt sich demgemäß neben den inhaltlichen Dogmenauch, wie oben deutlich wurde, auf den sterbenden oder sexuell-erotisch aufgeladenen Körper, entwickelt Formen der Restriktionen und Initationen von Männern und Frauen und wird überdies in Körperzeichen in Form von Tätowierungen, Tanzritualen oder den machtvollen und machtstabilisierenden Praktiken von Menschenopfern sichtbar. Körperzeichen. Tätowierungen Bei den afrikanischen Azuagues stehen zunächst die gemeinschaftliche Organisation als Stämme, zum Teil auch als freilebende Menschen im Vordergrund («Les uns sont tributaires ; les autres vivent libres.»), dann nimmt allerdings ihr christlicher Glaube einen zentralen Platz ein. Dieser bringt die Menschen einerseits zu einer extremen Ablehnung gegenüber den Arabern und den anderen Völkern Afrikas («Ils haïssent les Arabes & les autres peuples d’Afrique»), ist andererseits der Anlass für Tätowierungen des christlichen Kreuzes, welche im Gegensatz zu anderen afrikanischen Völkern, nicht verschwinden oder Formen annehmen, die dem christlichen Kreuz gar nicht mehr ähnlich sind. Diderot betont hier auch die Analogie zu arabischen Mädchen, deren Körperbemalungen der Verschönerung dienen («On dit que les filles des Arabes prétendent

318 Voltaire: Faveur, in: Denis Diderot/Jean Le Rond d’Alembert (Hg.): Encyclopédie (ENCCRE). Bd. 6, S. 433. 319 Etienne Noel d’Amilaville: Population, S. 93.

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s’embellir en se gravant avec des lancettes diverses sortes de marques sur le sein, sur les mains, sur les bras, & sur les piés.»320) Die Brebbes sind als Mohammedaner kategorisiert, fallen aber durch einen spezifischen – und durchaus negativ beurteilten – Kult der Körperzeichnung auf: «ils sont Mahométans ; & par une dévotion très-bizarre ils se balafrent les joues de marques & de cicatrices, ce qui les distingue des autres habitans des mêmes contrées.»321 Die berühmtesten nordamerikanischen Indianer sind vermutlich die Créecks, die in der Encyclopédie als körperbemalte Wilde, götzendienerisch, nackt und kriegerisch beschrieben werden: Creecks (les) Géog. mod. nation de l’Amérique septentrionale, sauvage & idolâtre ; elle est voisine des établissemens des Anglois dans la nouvelle Géorgie. Les Créecks vont tout nuds, sont fort belliqueux, & se peignent des lésards, des serpens, crapaux & autres animaux de cette espece sur le visage pour paroître plus redoutables.322

Körperbewegungen. Tanz Ein sehr typisches exotistisches Stereotyp, das als ein transversales Thema gelesen werden kann, ist das des Tanzes. Werden Tanz und Gesang immer wieder (s. o.) als Indikatoren für die Wildheit und Ursprünglichkeit von Wilden und exotischen Menschen angeführt, so ist die Danse doch auch eine Art anthropologische Konstante: On voit par ce peu de mots que la voix & le geste ne sont pas plus naturels à l’espece humaine, que le chant & la danse ; & que l’un & l’autre sont, pour ainsi dire, les instrumens de deux arts auxquels ils ont donné lieu. Dès qu’il y a eu des hommes, il y a eu sans-doute des chants & des danses ; on a chanté & dansé depuis la création jusqu’à nous, & il est vraisemblable que les hommes chanteront & danseront jusqu’à la destruction totale de l’espece.323

In Mexiko sind die spanischen Eroberer sogar voller (exotistischer) Bewunderung:

320 Denis Diderot: Corasmin, in: Ders./Jean Le Rond d’Alembert (Hg.): Encyclopédie (ENCCRE). Bd. 4, S. 197. 321 N. N.: Brebbes, in: Denis Diderot/Jean Le Rond d’Alembert (Hg.): Encyclopédie (ENCCRE). Bd. 2, S. 408. 322 N. N.: Créecks, in: Denis Diderot/Jean Le Rond d’Alembert (Hg.): Encyclopédie (ENCCRE). Bd. 4, S. 452. 323 Louis de Cahusac: Danse, in: Denis Diderot/Jean Le Rond d’Alembert (Hg.): Encyclopédie (ENCCRE). Bd. 4, S. 623.

2.1 Figuren und Figurationen kolonialer Macht

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Mitote, s. f. (Hist. mod.) danse solemnelle qui se faisoit dans les cours du temple de la ville de Mexico, à laquelle les rois même ne dédaignoient pas de prendre part. […] en un mot, les Espagnols étoient remplis d’admiration à la vûe de ces divertissemens d’un peuple barbare.324

Die «Negres créols en Amérique» finden über ihren Tanz Calinda Eingang in die Encyclopédie. Hier finden sich die Kennzeichen von Laszivität, Körperlichkeit, Konfrontation (die sich in der konfrontativ-solidarischen Aufstellung in der Reihe und im Angesicht zu Angesicht) gepaart mit dem Verweis auf die Informationsquelle und dem autoreflexiven Verweis auf die Urteilskraft qua Exklamation: Calinda, (Hist. mod.) danse des Negres créols en Amérique, dans laquelle les danseurs & les danseuses sont rangés sur deux lignes en face les uns des autres ; ils ne font qu’avancer & reculer en cadence sans s’élever de terre, en faisant des contorsions du corps fort singulieres & des gestes fort lascifs, au son d’une espece de guittare & de quelques tambours sans timbre, que des Negres frappent du plat de la main. Le R. P. Labat prétend que les religieuses espagnoles de l’Amérique dansent le calindapar dévotion: & pourquoi non !325

Herrschen und regieren. Staatsführung Die kulturellen Lebenspraxen des kolonialen Anderen in Afrika sind immanent an Soziabilität, Staatsführung und Regierungsformen geknüpft. An ihnen wird die Distanz zum zivilisierten Staatsbürger verdeutlicht. Dimensionen von Freiheit und Unfreiheit, Abgabe von Steuern, Despotismus, Sinn für Gemeinwohl und eine oftmals nur konnotativ vorhandende Thematisierung von Kriminalität sind hier von Bedeutung. Despotismus ist demgemäß ein omnipräsentes Thema. Dabei gehen hier kolonialistische Stereotype, Selbststilisierung und aufklärerische Kritik an der eigenen Monarchie Hand in Hand. Im Eintrag zum Manibelour, der Bezeichnung für den Premier Ministre im Königreich Loango, das in der Encyclopédie in mehreren Artikeln Erwähnung und detaillierte Schilderung findet, wird dessen absolute Macht beschrieben, aber auch, dass er ohne Einverständnis des Königs vom Volk gewählt wird: «qui exerce un pouvoir absolu, & que les peuples ont droit d’élire sans le consentement du roi.»326 In Loango sind es ebenfalls die Frauen, die gesellschaftliche Machtpositionen und die Rolle der Versorgerinnen

324 Paul-Henri Thiry d’Holbach: Mitote, in: Denis Diderot/Jean Le Rond d’Alembert (Hg.): Encyclopédie (ENCCRE). Bd. 10, S. 582. 325 N. N.: Calinda, in: Denis Diderot/Jean Le Rond d’Alembert (Hg.): Encyclopédie (ENCCRE). Bd. 2, S. 560. 326 N. N.: Manibelour, in: Denis Diderot/Jean Le Rond d’Alembert (Hg.): Encyclopédie (ENCCRE). Bd. 10, S. 22.

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2 Macht und Ambivalenz in den Narrationen des kolonialen Anderen

übernehmen. Ihre Bewohner sind als heidnisch konturiert («noirs, & plongés dans l’idolâtrie»), mit nacktem Oberkörper, unterschiedlichen Kleidungsutensilien. Die Frauen kleiden sich so, dass sie mehr nackt als verhüllt erscheinen: «Les femmes ont des jupons ou lavougus de paille, qui couvrent ce qui distingue leur sexe, & ne les entrouvrent qu’à moitié, le reste de leur corps est nud par le haut & par le bas».327 Gleichwohl sind sie es, die für den Unterhalt ihrer Männer und die Bewirtschaftung der Felder zuständig sind, auch wenn sie nicht mit ihren Männern speisen dürfen («Ce sont elles qui gagnent la vie de leurs maris, comme font toutes les autres femmes de la côte d’Afrique ; elles cultivent la terre, sement, moissonnent, servent leurs hommes à table, & n’ont pas l’honneur de manger avec eux.»328). Die Untertanen Loangos folgen einem despotischen König, dessen Regierungsriten detailliert geschildert werden. In der gleichnamigen Hauptstadt wohnen der König Loangos und in seinem Palast auch seine Frauen, die geschmückt und streng bewacht sind: «on y trouve les maisons de ses femmes & de ses concubines ; on reconnoît les unes & les autres à des brasselets d’ivoire, &elles sont étroitement gardées»329). Neben den Beschreibungen der Sitten und Kleidung, der Beerdigungsriten, den königlichen, quasi matrilinearen Erbfolgeregelungen und kriegen und der wirtschaftlichen Lage reflektiert de Jaucourt explizit darüber, dass die (europäische) Wissensquelle Van-den-Broeck einem Irrtum aufgesessen ist: «On y voit des singes à queue, que Van-den-Broeck a pris pour des hommes sauvages.»330) Im Königreich Loango wird der König als Samba-Pongo bezeichnet und Gott gleichgesetzt. Eine lächerliche Idee, wie der Text sogleich abwertend fortfährt – vermutlich ist dies nebenbei eine Kritik an dem überwundenen roi-soleil Louis XIV –: «non-seulement comme l’image de la divinité, mais encore comme un dieu véritable; dans cette idée ridicule, ils lui attribuent la toute-puissance ; ils croyent que les pluies, les vents & les orages, sont à ses ordres».331 In abschätzigem Ton fährt der Artikel fort, die Einwohner glaubten, ihr König mache das Wetter. Dramatisiert werden diese Ausführungen noch in der Schilderung der praktizierten Todesstrafe für alle jene, die den König jemals essen oder trinken sähen. Unter Verweis auf Berichte von Reisenden wird in der Folge eine Geschichte ungewöhnlichen, brutalen Ausmaßes geschildert. Demnach soll ein Sohn des Königs noch im Kindesalter versehentlich seinen Va-

327 Louis de Jaucourt: Loango ou Lowango, in: Denis Diderot/Jean Le Rond d’Alembert (Hg.): Encyclopédie (ENCCRE). Bd. 9, S. 623–624, hier S. 623. 328 Ebd. 329 Ebd. 330 Ebd. 331 Paul-Henri Thiry d’Holbach: Samba-Pongo, in: Denis Diderot/Jean Le Rond d’Alembert (Hg.): Encyclopédie (ENCCRE). Bd. 14, S. 595.

2.1 Figuren und Figurationen kolonialer Macht

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ter beim Trinken beobachtet haben, woraufhin er unmittelbar getötet und sein Blut auf dem Körper des Vaters verteilt wurde, um diesen von allen Übeln abzuschirmen. Diese grausame, fabel-ähnliche Geschichte führt zu einer Art Moral über Despotismus und Tyrannei, die sich manchmal auch gegen sie selbst wenden können: «ainsi la superstition vient par-tout à l’appui des despotes & des tyrans, qui sont quelquefois eux-mêmes les victimes du pouvoir qu’ils lui ont accordé.»332 Staatsführung wird (in europäischen Maßstäben) oftmals mit Steuerabgaben korreliert und die Alterität des kolonialen Anderen durch dessen Zahlungsverweigerung erklärt. So werden die afrikanischen Mandingos als Wegelagerer bezeichnet, die keinerlei Abgaben oder Steuern zahlen («Ils ne vivent que de pillage, ne sont point soumis au siratick, & se dispensent de payer aucune imposition ou de contribuer aux charges de l’état.»333). Der Konnex zwischen der Unabhängigkeit eines Volkes und der mangelnden Steuer- oder Abgabenpflicht wird noch häufiger thematisiert, wie etwa in Zaire, wo die Insulaner des gleichnamigen Flusses «vivent indépendans du roi de Congo, & qui ne lui paient aucun tribut.»334 Auch die afrikanische Stadt Gemaajedid wird nur über das Steuerwesen beschrieben.335 Bei den Mandingos sieht der Text eine Analogie zu den invasorischen Arabern und delokalisiert bzw. chiffriert folglich den afrikanischen Mandingos zum kolonialen Anderen: «On dit que ce peuple ressemble beaucoup aux Arabes vagabonds qui infestent l’Asie: ils ont un langage particulier.»336 Auch auf dem afrikanischen Berg Marizan leben Berber, die als wahre Wilde beschrieben werden, die niemandem Steuern zahlen bzw. im übertragenen Sinne niemanden Tribut zollen («Ce sont de vrais sauvages, errans dans leurs montagnes, & ne payant de tributs à personne.»337) Der Despot herrscht aber oftmals gar nicht in Alleinherrschaft, sondern ihm sind andere Machtinhaber an die Seite gestellt. Im Königreich Benin etwa herrschen die Onégouas, eine Art Triumvirat an der Seite des Königs, das die wahre Macht im Königreich innehat: «c’est à eux que l’on s’adresse dans toutes les demandes, & ils sont chargés des réponses du souverain, ensorte qu’on peut dire que ce sont eux qui regnent réellement, d’autant plus qu’ils sont presque

332 Ebd. 333 N. N.: Zaire, le, in: Denis Diderot/Jean Le Rond d’Alembert (Hg.): Encyclopédie (ENCCRE). Bd. 17, S. 689. 334 Ebd. 335 Vgl. Louis de Jaucourt: Gemaajedid, in: Denis Diderot/Jean Le Rond d’Alembert (Hg.): Encyclopédie (ENCCRE). Bd. 7, S. 544. 336 Ebd. 337 N. N.: Marizan, in: Denis Diderot/Jean Le Rond d’Alembert (Hg.): Encyclopédie (ENCCRE). Bd. 10, S. 129. http://enccre.academie-sciences.fr/encyclopedie/ (27. 09. 2019).

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les seuls qui approchent le roi».338 Im afrikanischen Köngreich Jabi wird die Gegenfigur zum omnipotenten König gezeichnet,«un si petit seigneur, qu’il auroit peine à lui donner à credit pour cent florins de marchandise, de peur de n’en être jamais payé, vû sa pauvreté.»339 Vereinzelt findet sich in der Encyclopédie auch die Beschreibung des exzeptionellen idealen Herrschers, der mit einer Terminologie von Liebe zum Gemeinwohl, Mäßigung und Freude skizziert wird. Hier lässt sich die Anlage für den aufgeklärten Absolutismus in der Attribuierung des kolonialen Herrschers schon erkennen, wie bspw. ein afrikanischer Herrscher der foulis: contre l’ordinaire des rois de ces climats, il gouverne avec la plus grande modération, ses loix paroissent dictées par l’amour du bien public, & il n’est, pour ainsi dire, que l’organe de sa nation ; cela n’empêche point que son autorité ne soit très-respectée & très-étendue ; les peuples se soumettent avec joie à des volontés qui tendent à leur bonheur. Le siratick a sous lui un grand officier, qui est pour ainsi dire le lieutenant général du royaume […].340

Ein exotisierendes Moment kommt dann aber doch zur Sprache, in der – für europäische Verhältnisse ungewöhnlichen Regelung der Erbfolge über den Neffen: «La dignité de siratick ne passe point aux enfans, mais aux freres du roi défunt, ou bien à leur défaut, au fils de sa soeur ; usage qui est établi chez presque tous les négres.»341 In der Regel sind die afrikanischen Herrscher jedoch als Despoten und Tyrannen beschrieben: So etwa auch die Sova oder Sovi, die als Vizekönige ihre Untertanen tyrannisierten, den europäischen, portugiesischen Kolonialmächten unterstünden und mittels Gesetzgebung nur auf den eigenen Vorteil bedacht seien.342 Ein besonders ausführlicher Artikel ist dem Königreich Tunis gewidmet. Es wird dort zunächst als Vielvölkerstaat gezeichnet («Il a au midi divers peuples arabes, & au couchant le royaume d’Alger & le pays d’Essab.»343). Die Entwicklung des Königreichs wird von de Jaucourt als eine beschrieben, die sich durch unterschiedliche Abhängigkeiten und Beherrschungsbestrebungen («Il semble

338 [Paul-Henri Thiry d’Holbach]: Onégouas, in: Denis Diderot/Jean Le Rond d’Alembert (Hg.): Encyclopédie (ENCCRE). Bd. 11, S. 476–477, hier S. 476. 339 Louis de Jaucourt: Jabi, in: Denis Diderot/Jean Le Rond d’Alembert (Hg.): Encyclopédie (ENCCRE). Bd. 8, S. 426. 340 N. N.: Siratick, in: Denis Diderot/Jean Le Rond d’Alembert (Hg.): Encyclopédie (ENCCRE). Bd. 15, S. 225, Hervorhebungen K. S. 341 Ebd. 342 N. N.: Sova ou Sovi, in: Denis Diderot/Jean Le Rond d’Alembert (Hg.): Encyclopédie (ENCCRE). Bd. 15, S. 384. 343 Louis de Jaucourt: Tunis, Etat de, in: Denis Diderot/Jean Le Rond d’Alembert (Hg.): Encyclopédie (ENCCRE). Bd. 16, S. 747.

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que les Maures soient un ennemi aussi dangereux ; mais ces peuples partagés entre divers souverains ne songent qu’à jouir en paix de leurs pays, & ne remuent que quand on les chagrine par les impots & autres vexations.»344), aber auch durch politische Kooperationen («Il est avantageux à la régence de Tunis d’être toujours en bonne intelligence avec la régence d’Alger»345) und die (wirtschaftliche) Fruchtbarkeit des Landes. Eine wichtige Dimension scheint der enzyklopädischen Instanz das mangelnde bzw. fehlende Wissensregime in Tunesien zu sein, das seine Schwäche aus der Gewaltenteilung bezöge: «A parler généralement, l’état de Tunis n’est nullement propre à faire de grandes conquêtes. Les dignités de dey, de bey & de bacha partagent trop l’autorité quand elles sont divisées ; & si quelqu’un les réunit, il peut compter d’attirer sur lui l’envie de tous ses sujets.»346) Im Verlauf des Artikels, der dann auf die Stadt Tunis näher eingeht, geht es primär neben den unterschiedlichen Gebäuden und den (geschlechterspezifischen) urbanen Räumen um die Eroberungs- und Belagerungsgeschichte der Stadt: zunächst zum Römischen Reich gehörend, dann durch die Karthager, die Römer und Vandelen, durch die mohammedanischen Araber, bis hin zu der Eroberung durch Barbarossa, die Österreicher, den Sultan Amurat, die Türken u. v. a., bis die historische Linie mit einer Rückschau ins 13. Jahrhundert beim glorreichen König S. Louis von Frankreich endet, der vor Tunis sein Leben lassen musste und gehuldigt wird als: «Aucun roi de France ne fit paroître plus de valeur, plus de justice & plus d’amour pour son peuple.»347 Hier schließt sich ein Exkurs zu den Kreuzzügen an, die im Lichte einer glorreichen Staatsführung Frankreichs unter diesem König endet: «tout indique que la France eût été florissante sous ce monarque, sans le funeste préjugé des croisades qui causa ses malheurs, & qui le fit mourir sur les sables d’Afrique.»348 Auch im Eintrag Commandeur werden die Kreuzzüge eindeutig verurteilt: «Au milieu des croisades entreprises si follement par les chrétiens».349 Als rebellisches nordamerikanisches Indianervolk seien die Iroquois genannt. Auch sie werden als Barbaren bezeichnet, die sich in fünf Völker (hier: «nations») unterteilen lassen und die als kriegerische Stämme miteinander weitestgehend einig, mit den Franzosen oder Engländern aber recht opportunistisch verbündet seien: «Ce sont les uns & les autres des sauvages guerriers, assez unis

344 345 346 347 348 349

Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. N. N.: Commandeur, S. 688.

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entr’eux, tantôt attachés aux Anglois, & tantôt aux François, selon qu’ils croyent y trouver leurs intérêts.»350 Auch sie werden als unabhängige Völker beschrieben, die sich keinem König oder Oberhaupt unterordneten und in Versammlungen Entscheidungen träfen («ils ne reconnoissent ni roi, ni chef ; toutes leurs affaires générales se traitent dans des assemblées d’anciens & de jeunes gens.»351) Die Irokesen handelten mit Biber(felle)n und verfügten über ein Währungssystem. Ihre Kriegs- und Körper- bzw. Gesichtsbemalung fällt vielfarbig aus. In der Folge verweist de Jaucourt auf eine intertextuelle Quelle, um nicht weiter in die Details gehen zu müssen; diese Quelle aber wird von ihm ebenfalls kritisch kommentiert und weitere hinzugefügt: Je n’entrerai point dans les détails: on peut consulter si l’on veut la rélation que M. de la Potherie a donné des Iroquois au commencement de ce siecle dans sa description de l’Amérique septentrionale ; mais il faut lire sur ce peuple l’ouvrage récent de M. Colden, intitulé, History of the five nations, London, 1753, in 8 °. c’est une histoire également curieuse & judicieuse.352

Der Despotismus ist auch in Asien ein verbreitetes Phänomen. Als Beispiel für einen asiatischen Fürsten (Cham) sei der Eintrag unter dem gleichnamigen Lemma genannt. Hier wird nicht nur die Bezeichnung eingeführt und disqualifizierend gezeichnet: Cham, ou Chan, ou Kan, s. m. (Hist. mod.) ce nom qui signifie prince ou souverain, n’est guere en usage que chez les Tartares, qui le donnent indifféremment à leurs princes régnans, de quelque médiocre étendue que soient leurs états. Quelques écrivains cependant ont voulu mettre de la distinction entre le titre de chaam & celui de cham, […] ; ce qui prouve évidemment que cette distinction est imaginaire.353

Ihr Despotismus stattet sie mit Omnipotenz aus: ils n’ont rien à craindre, ni pour leur vie, ni pour leur bien, de la part du gouvernement ; & cette raison fait qu’on ne voit jamais chez les habitans du nord de l’Asie, ces sortes de catastrophes d’une politique barbare, si ordinaires dans les autres cours de l’orient, où un prince n’est pas plutôt monté sur le trône, que pour sa sûreté il commence par sacrifier ses freres & ses parens.354

350 Louis de Jaucourt: Iroquois, S. 906. 351 Ebd. 352 Ebd. 353 Nicolas Lenglet Du Fresnoy: Cham, in: Denis Diderot/Jean Le Rond d’Alembert (Hg.): Encyclopédie (ENCCRE). Bd. 3, S. 42. 354 Ebd.

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Am Ende dieses Eintrags erfolgt noch eine kritische Betrachtung und Validierung der Quellen.355 Diese Omnipotenz schreibt Mallet auch dem Beglerbeg, dem türkischen Gouverneur, zu: leur autorité s’étend également sur la guerre, sur la justice, & sur la police [...] ils peuvent faire décapiter, ou punir de tel autre genre de mort ou châtiment que bon leur semble, les coupables qu’on leur amene, sans que le bacha du lieu puisse s’y opposer ; il a seulement la liberté de se plaindre à la Porte s’ils abusent de leur autorité. Autrefois il n’y avoit que deux beglerbegs dans tout l’empire ; celui d’Europe ou de Romelie, & celui de Natolie en Asie […].356

Die schlechte Staatsführung und der Despotismus werden in mehreren Artikeln verhandelt: Das türkische Reich sei im Vergleich mit dem römischen unterlegen und bezeuge nur die Ohnmacht des Herrschers: «On verra que le sultan n’est point maître absolu d’une partie: qu’une autre est stérile & inhabitée […] ainsi tout le vaste terrein de l’Arabie déserte & de l’Arabie heureuse ne sert qu’à diminuer les forces du grand-seigneur.»357 Souveränität sei in Wahrheit Despotismus und durch Willkür358 Dies rekurriert nicht zuletzt auf den gängigen orientalischen Topos des despotischen Herrscher bzw. der orientalischen Willkürherrschaft (vgl. dazu paradigmatisch Montesquieus Lettres persanes359). Wie schon in den Einträgen zu den kolonialen Anderen auf den anderen Kontinenten kommt auch den asiatischen Völkern die Eigenschaft der Unabhängigkeit zu. So etwa bei den Kurden, die sich als geteiltes Volk zwischen der Türkei und Persien nomadisch und unabhängig jeglicher Verortung entziehen.360 Und auch der Eintrag Autonomie selbst wird ins koloniale Außereuropa verschoben: als Staatsform bei den alten Babyloniern, in Mittelamerika, Arabien.361 Im Eintrag Turquie werden die Lebenswerte in der Türkei sogar konträr zu jenen der französischen philosopheskonstruiert. Die Türken legten demnach nur sehr wenig Wert auf Glück, Leben, Besitz, Ehre:

355 Vgl. ebd. 356 Edmé-François Mallet: Beglerbeg, in: Denis Diderot/Jean Le Rond d’Alembert (Hg.): Encyclopédie (ENCCRE). Bd. 2, S. 191. 357 Louis de Jaucourt: Turquie, S. 755. 358 Vgl. ebd. 359 Montesquieu: Lettres Persanes. 360 Vgl. N. N.: Curdes, in: Denis Diderot/Jean Le Rond d’Alembert (Hg.): Encyclopédie (ENCCRE). Bd. 4, S. 572. 361 Vgl. Edmé-François Mallet: Autonomie, in: Denis Diderot/Jean Le Rond d’Alembert (Hg.): Encyclopédie (ENCCRE). Bd. 1, S. 897.

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Comme en Turquie l’on fait très-peu d’attention à la fortune, à la vie, à l’honneur des sujets, on termine promtement d’une façon ou d’une autre toutes les disputes. La maniere de les finir est indifférente, pourvu qu’on finisse. Le bacha d’abord éclairci, fait distribuer, à sa fantaisie, des coups de bâton sur la plante des piés des plaideurs, & les renvoye chez eux.362

Diese Form der willkürlichen Rechtsprechung (als orientalistischer Topos der Aufklärung) in Bezug auf die Ahndung von Strafen ist ebenfalls als Kontrastfolie für die europäische Staatsräson inszeniert. Ein weiterer Aspekt ist hier aber von Interesse, der die Ausbreitung der Pest anbelangt, klimatheoretisch untermauert wird und nur durch absolute Abschottung der Europäer bekämpft werden kann. Die Türken aber verfügten nicht einmal über eine vernünftige Regierung: Un des fléaux de la Turquie qui dépend uniquement du climat, est la peste, dont le siege principal est en Egypte. On a imaginé dans les états de l’Europe un moyen admirable pour arrêter les progrès du mal ; on forme une ligne de troupes autour du pays infecté, pour empêcher toute communication ; on fait faire une quarantaine aux vaisseaux suspects ; on parfume les hardes, les papiers, les lettres qui viennent du lieu pestiferé. Les Turcs n’ont, à cet égard, aucune police ; ils voient les Chrétiens dans la même ville échapper au danger, dont ils sont eux seuls la victime. La doctrine d’un destin rigide qui regle tout, fait en Turquie du magistrat un spectateur tranquille: il pense mal-à-propos que Dieu a déja tout fait, & que lui n’a rien à faire.363

Das gesellschaftsorganisierende Prinzip des Patriarchats wird ebenfalls transkontinental abgehandelt als Regierungsinstrument im Orient, in Ägypten, Asien Thrace, in Rom, Alexandria, Antiochia etc. Dies wird ähnlich auch für das Prinzip des Königreichs thematisiert, das sich unter den Königreichen der Welt beschrieben sieht: Royaumes du monde, (Hist. mod.) les royaumes célebres qui se sont établis dans le monde depuis la naissance de Jesus-Christ font un point d’histoire trop étendu pour entrer dans ce détail ; c’est assez de dire que tous les états nommés royaumes en Asie, en Europe, en Afrique & en Amérique ont éprouvé différentes révolutions dans ce long intervalle de tems.364

362 Louis de Jaucourt: Turquie, S. 759. 363 Ebd. 364 Louis de Jaucourt: Royaumes du Monde, in: Denis Diderot/Jean Le Rond d’Alembert (Hg.): Encyclopédie (ENCCRE). Bd. 14, S. 421.

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Dann folgen kurze Ausführungen zu China, Japan und Indien: Ainsi dans l’ancien royaume de la Chine, les Tartares se rendirent maîtres de ce vaste empire l’an 1279 ; les Chinois les en chasserent l’an 1369 ; mais en 1644, les Tartares soumirent de nouveau l’empire de la Chine. Alors Xunchi en fut déclaré roi, & c’est un de ses descendans qui le gouverne aujourd’hui. Le Japon n’obéit qu’à un seul souverain depuis l’an 1550, & le dairo ou chef de la religion n’a plus en partage que de vaines marques de son ancienne autorité. L’Inde contient plusieurs royaumes, dont l’histoire n’est point connue. On dit que les mogols sortis de la Tartarie établirent l’empire de ce nom vers l’an 1401, & que ce fut un fils de Tamerlan qui en fut le premier empereur. Le plus puissant des royaumes de l’Inde au-delà du golphe est celui de Siam, de qui la plûpart des autres sont tributaires. Dans la presqu’île de l’Inde au-deçà du golfe sont les royaumes d’Orixa, de Golconde, de Narsingue, de Décan, de Balaguate, de Bisnagar, &c. qui obéissent à divers souverains, & qui changent souvent de maître. L’histoire de tous ces divers états est ensevelie dans l’oubli jusqu’au tems que les Portugais, succédés par les Hollandois, se sont établis dans l’Inde.365

Danach folgen Ausführungen zu Persien, Arabien, differenziert zur Türkei in Asien und zur Türkei in Europa und schließlich auch die Königreiche in Afrika und den Amerikas. Dabei belaufen sich die Informationen zu den afrikanischen und amerikanischen Königreichen auf ihre schlichte Nennung, denn die Historie ist unbekannt: Les principales parties de l’Afrique sont l’Egypte, l’Abyssinie, le Monomotapa, le Congo, la Guinée, la Nigritie, le Bilédulgérid & la Barbarie. L’histoire de tous ces pays & de leurs états nous est inconnue. Nous ne sommes pas mieux instruits des anciens royaumes qui ont subsisté en Amérique jusqu’à la découverte de cette partie du monde, où les puissances maritimes ont aujourd’hui établi leur domination.366

Nicht unbekannt, sondern schlicht unsicher in Bezug auf den ontischen Status sind jene Königreiche, die sich zwischen historischer Vergangenheit und Phantasie/Mythos ansiedeln. Eine kongeniale Verbindung aus Staatsführung als Kontrastfolie zum europäischen Status quo und phantastischer Imagination bildet etwa der Artikel zu den Amazonen. Diese werden zwar in Klein-Asien verortet, aber im Encyclopédie-Artikel muss schon einiger Aufwand betrieben werden, um diese zu verorten, den Wahrheitsgehalt über diesen Frauenstaat zu ergründen und die Quellenlage zu beurteilen: AMAZONE, s. f. (Hist. anc.) femme courageuse & hardie, capable de grands exploits. Voyez VIRAGO, HEROÏNE, &c.

365 Ebd. 366 Ebd.

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Amazone, dans un sens plus particulier, est le nom d’une nation ancienne de femmes guerrieres, qui, dit-on, fonderent un empire dans l’Asie mineure, près du Thermodon, le long des côtes de la mer Noire. Il n’y avoit point d’hommes parmi elles ; pour la propagation de leur espece, elles alloient chercher des étrangers ; elles tuoient tous les enfans mâles qui leur naissoient, & retranchoient aux filles la mammelle droite pour les rendre plus propres à tirer de l’arc. C’est de cette circonstance qu’elles furent appellées Amazones ; mot composé d’ privatif, & de , mammelle, comme qui diroit sans mammelle, ou privées d’une mammelle.367

In der Folge muss die enzyklopädische Instanz abwägen, ob die Amazonen nun tatsächlich existiert haben oder ob sie der Phantasie entspringen. Zur ‹Wahrheitsfindung› führt die enzyklopädische Instanz nun interessanterweise nicht in erster Linie Argumente an, sondern wägt die Anzahl der Quellen gegeneinander ab: Da stehen dann zwei große Autoritäten gegen zahlreiche andere Autorennamen, so dass die eine Reihe von Autoren an die Existenz der Amazonen glaubt, während die andere dies abstreitet.368 Mit Verweis auf Hippokrates werden dann wieder Erotisierung und Schockierung enggeführt: Hippocrate dit qu’il y avoit une loi chez elles, qui condamnoit les filles à demeurer vierges, jusqu’à ce qu’elles eussent tué trois des ennemis de l’état. [...] Quelques auteurs disent qu’elles ne tuoient pas leurs enfans mâles ; qu’elles ne faisoient que leur tordre les jambes, pour empêcher qu’ils ne prétendissent un jour se rendre les maîtres.369

Und so kommt schließlich auch die koloniale Welt wieder ins Spiel, denn mit dem Verweis auf Geographen und Reisende tauchen Amazonen vermeintlich auch in Äthiopien370 und nicht zuletzt sogar in einer eigenen Republik auf: Des gégraphes & voyageurs modernes prétendent qu’il y a encore dans quelques endroits, des Amazones. Le P. Jean de Los Sanctos, capucin portugais, dans sa description de l’Ethiopie, dit qu’il y a en Afrique une république d’Amazones ; & Aenéas Sylvius rapporte qu’on a vû subsister en Bohème pendant neuf ans, une république d’Amazonesfondée par le courage d’une fille nommée Valasca.371

Hier überlagern sich mehrere Alteritätsmomente: Gewaltvorstellungen und Erotisierungen, mythische Figuren aus der (klein-asischen) Antike und AfrikanerBilder von Reisenden, Eros und Thanatos verbunden in der Imagination der

367 Edmé-François Mallet: Amazone, in: Denis Diderot/Jean Le Rond d’Alembert (Hg.): Encyclopédie (ENCCRE). Bd. 1, S. 318. 368 Vgl. ebd. 369 Ebd. 370 Die Beschreibungen der Äthiopier als Menschenfresser und monströses Volk gehen schon auf Herodot zurück. 371 Ebd.

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Amazonen. Auch in diesem Eintrag wird deutlich, dass es der enzyklopädischen Instanz gar nicht so sehr darum geht, die Entscheidung über faktischen oder fiktiven Status der Amazonen auf der Grundlage von Inhalten (auch aufgrund der unsicheren Informationen aus den Quellen) zu fällen. Das Urteil darüber, ob es die Amazonen gegeben hat bzw. gibt oder nicht, wird im aufklärerischen Programm kulturrelativistisch gelöst, indem eher Quellen gezählt, denn die Plausibilität der Argumente überprüft wird. Damit stellt sich die enzyklopädische Instanz aber nicht kategorisierend und systematisierend über die Wissensbestände und urteilt; er zählt sie vielmehr gleichwertig auf und lässt die epistemische Macht sowohl in der Akkumulation als auch eher implizit spielen. In der Diskussion des Despotismus als Alteritätsmoment der Aufklärung schwingt stets dessen Gegenseite, Mündigkeit und Freiheit, mit. Dabei ist das Moment der Freiheit in Bezug auf den kolonialen Anderen durchaus ambivalent. Einerseits ist die Freiheit von unmenschlichen und tyrannischen Despoten ein erstrebenswerter Zustand. Bereits im Eintrag Population wird die Freiheit als eine Art eingeborene Disposition beschrieben: «Les hommes ne naissent point où la servitude les attend, ils s’y détruisent.»372 Andererseits aber ist die Autonomie der wilden und fremden Völker, wie oben deutlich wurde, auch ein problematischer, weil nicht zu kontrollierender Zustand. Töten und opfern. Menschenopfer Ein ähnlich bedrohliches und befremdliches Ritual ist jenes des Menschenopfers. Menschenopfer sind dabei als transareales, alteritäres Merkmal des kolonialen Anderen nicht ausschließlich religiös motiviert (s. o.) und konnotiert, sondern auch Verfahren der Gesellschaftsorganisation oder Herrschaftsprinzipien. Ähnlich wie bei den Einträgen zu den Königsprinzipien afrikanischer Völker werden auch für die asiatischen Menschen Fragen der Staatsführung und des Zensus in Form von Menschenopfern diskutiert. So etwa im Eintrag zur Provinz Guriel, der unter einem angeblich christlichen Fürsten steht, der jährlich «46 enfans, garçons & filles, [...] livre au bacha d’Alcazike».373 Diese Episode ist kein exotischer Einzelfall, der für vermeintlich inhumane kulturelle Handlungen an einzelnen Orten der Erde steht. Vielmehr handelt es sich bei der kulturellen Praxis des Menschenopfers um ein globales Phänomen. Menschenopfer stellen nämlich eine translokale kulturelle Praktik dar, die sich historisch zurückverfolgen und über den gesamten Globus beobachten lässt, wie de Jaucourt im Eintrag Victime humaine beschreibt:

372 Etienne Noel d’Amilaville: Population, S. 95. 373 Louis de Jaucourt: Victime Humaine, S. 242.

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Au reste, cette coutume de l’immolation des victimes humaines, qui subsista si long-tems, ne doit pas plus nous étonner de la part des anciens payens, que de la part des peuples d’Amérique, où les Espagnols la trouverent établie. Dans cette partie de la Floride voisine de la Virginie, les habitans de cette contrée offroient au Soleil des enfans en sacrifice. Quelques peuples du Mexique ayant été battus par Fernand 374 Cortès, lui envoyerent des députés avec trois sortes de présens, pour obtenir la paix. Seigneur, lui dirent ces trois députés, voilà cinq esclaves que nous t’offrons ; si tu es un dieu qui te nourrisses de chair & de sang, sacrifie-les ; si tu es un dieu débonnaire, voilà de l’encens & des plumes ; si tu es un homme, prens ces oiseaux & ces fruits. Les voyageurs nous assurent que les sacrifices humains subsistent encore en quelques endroits de l’Asie. Il y a des insulaires dans la mer orientale, dit le P. du Halde, qui vont tous les ans pendant la septieme lune, noyer une jeune vierge en l’honneur de leur principale idole. L’Europe ne connoit aujourd’hui d’autres sacrifices humains que ceux que l’inquisition ordonne de tems en tems, & qui font frémir la nature ; mais il faut se flatter que si quelque jour l’Angleterre se trouve en guerre avec l’Espagne, son amour du bien public lui dictera d’imiter Gélon, & de stipuler pour premiere condition du traité de paix, "que les autodafés seront abolis dans toutes les possessions espagnoles du vieux & du nouveau monde". Il sera plus facile encore au roi de la grande Bretagne d’insérer la même clause dans le premier traité d’alliance & de commerce qu’il pourra renouveller avec sa majesté portugaise.375

Die rituelle Praktik der Menschenopfer wirkt nicht nur alteritär, weil sie mit dem Religiösen und dem Exot(ist)ischen des kolonialen Anderen verbunden wird und als Zeichen für Vorstadien oder gar Absenz menschlicher Zivilisation stehen. Sie wirkt auch deswegen so interessant und gleichzeitig abstoßend für die enzyklopädische Erzählinstanz, weil sie einerseits als eine von (wenn auch alterisierten) Spaniern exerzierte Praktik darstellt und andererseits eine Bedrohung für Leib und Leben bedeutet. Verstärkt wird so ein lebensbedrohliches Szenario etwa durch die Gefahr von Krankheit. Die mittelamerikanischen Chiquitos werden als z. T. unter spanischer Herrschaft befindlich, vor allem aber mit Bedrohung attribuiert: einerseits in Form von sehr ansteckenden Krankheiten376 und andererseits in Ritualen von Frauenopfern zur Heilung dieser Krankheit:

374 Dass es sich hier wohl um Hernand Cortes handeln muss, ist als intertextueller oder redaktioneller Fehler zu sehen. Dass Fernand Cortes aber Anfang des 19. Jahrhunderts der Titel einer invasions-propagandistischen Oper von Gaspare Spontini sein wird, in der es um nämliche Eroberung in Mexiko geht und Cortes eine rein positive Kontur bekommt, eine verblüffende Koinzidenz. 375 Louis de Jaucourt: Victime Humaine, S. 241. 376 Auch Krankheiten werden immer wieder jenseits der geographischen Verortung Erwähnung, die die Einheimischen befallen, aber auch als exotische Bedrohung für Europäer angedeutet werden wie etwa die afrikanische Krankheit Yaw: «maladie exotique inconnue en Europe, très-commune & endémique sur les côtes de Guinée, & dans les pays chauds d’Afrique»

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CHIQUITOS, (Géog.) peuple de l’Amérique méridionale, dans le gouvernement de SantaCruz de la Sierra. Il regne parmi eux des maladies contagieuses très-fréquentes. Pour y remédier ils font mourir une femme, parce qu’ils sont persuadés que les femmes sont la cause de tous nos maux. Une partie de ces peuples est soûmise aux Espagnols.377

Diese Handlungsmacht durch die menschlichen Priester zeigt sich ja auch in den Handlungen und Unterdrückungsstrategien der afrikanischen Priester. Die afrikanischen Singhillos der Jagas etwa brächten ihre Anhänger zu den fürchterlichsten Menschenopfern: […] les prêtres le font par des conjurations, accompagnées ordinairement de sacrifices humains […] Ces prêtres, dont l’empire est fondé sur la cruauté & la superstition, persuadent à leurs concitoyens que toutes les calamités qui leur arrivent, sont des effets de la vengeance de leurs divinités irritées, & qui veulent être appaisées par des hécatombes de victimes humaines ; jamais le sang humain ne coule assez abondamment au gré de ces odieux ministres ; les moindres soufflets de vents, les tempêtes, les orages, en un mot les événemens les plus communs, annoncent la colere & les plaintes des ombres altérées de sang ; plus coupables en cela que les peuples aveugles & barbares qu’ils gouvernent, & qu’ils entretiennent par la terreur dans des pratiques révoltantes ; c’est à leurs suggestions que sont dues les cruautés que ces sauvages exercent sur tous leurs voisins ; ce sont ces prêtres qui leur persuadent que plus ils seront inhumains, plus ils plairont aux puissances inconnues, de qui ils croyent dépendre. Voyez l’article JAGAS.378

In dem Artikel wird expliziert, dass Priester machtvoll und manipulativ handeln und ihre Interessen verfolgen und dass Religiösität zu Praktiken führen kann, die nicht zum Menschsein, sondern nachgerade zur Dehumanisierung («inhumains») treibt. Damit verknüpfen sich im Artikel schockierende Alteritätsmomente mit Kritik an Religion und Priesteramt.

Wohnen und reisen. Nomadismus Ein weiteres typisches alteritäres Attribut ist die Kontrastfolie zum sesshaften, ‹zivilisierten› Europäer in der Gestalt des Nomaden. Dieser ist insofern eine herausfordernde Alteritätsfigur, weil er einerseits kulturell-evolutionistisch verortet werden muss im Vergleich zum Europäer und weil er andererseits auch geopolitisch verortet werden muss in Bezug auf die Orte, Länder oder gar Kontinente,

(Jean Joseph Menuret de Chambaud: Yaw, in: Denis Diderot/Jean Le Rond d’Alembert (Hg.): Encyclopédie (ENCCRE). Bd. 17, S. 664–666, hier S. 664. 377 N. N.: Chiquitos, in: Denis Diderot/Jean Le Rond d’Alembert (Hg.): Encyclopédie (ENCCRE). Bd. 3, S. 348. 378 [Paul-Henri Thiry d’Holbach]: Singhillos, in: Denis Diderot/Jean Le Rond d’Alembert (Hg.): Encyclopédie (ENCCRE). Bd. 15, S. 211.

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auf denen er lebt. Die kulturelle wie spatiale Verortung stellt sich dabei als gar nicht so unproblematisch heraus. Quer zu den kontinental oder geographisch systematisierten Einträgen, in denen ja immer wieder deutlich geworden ist, wie schwierig sich die exakte Lokalisierung und Situierung gestaltet, stehen also jene Wissensbestände und Artikel, die transversale oder transkontinentale Informationen beinhalten. Hier ist der leitende Gedanke die Analogie, die Transfermöglichkeit europäischen Wissens, Lebensweisen und technischer Errungenschaften, während in den vorherigen Artikel eher die Differenz und Distanz zum kolonialen Anderen im Vordergrund gestanden hatte. Dabei wird deutlich, dass der koloniale Andere in seiner Spezifik verschwindet, um Universalien zu behaupten, die allerdings den kolonialen Anderen nicht gleichmachen oder eine gemeinsame Basis ohne Hierarchisierung konstruiert, sondern dass der Europäer dem kolonialen Anderen ähnliche zivilisatorische Entwicklungsstufen zuerkennt, wie er sie selbst repräsentiert. So werden etwa die Bedouins als Grenzgänger zwischen den Kontinenten Asien und Afrika charakterisiert. Das Volk, das aus der «Arabie heureuse» nach Afrika eingewandert ist und als mutige, adlige («Ils sont braves & se piquent de noblesse ; ils se disent descendus de la tribu des Sabéens»379) Zeltbewohner einem König folgte, der mutmaßlich Afrika gar seinen Namen gab,380 sind die Berber, von denen einige auch als sesshaft beschrieben werden. Auffällig sind dabei zwei Aspekte: die nahezu lakonische Kürze des Eintrags und die Wanderungsbewegung von der Arabie heureuse nach Afrika. Jene paradigmatischen Wanderer aber sind die Nomaden. Auch die aus der geographischen Terminologie stammende Bezeichnung der Horde überschreitet Kontinente und Grenzen: Unter Verweis auf Chambers und Horaz heißt es im gleichnamigen Eintrag: HORDE, s. f. terme de Géographie, qui se dit de ces troupes de peuples errans, comme Arabes & Tartares, qui n’ont point de villes ni d’habitation assûrée ; mais qui courent l’Asie & l’Afrique, & demeurent sur des chariots & sous des tentes, pour changer de demeure quand ils ont consommé toutes les denrées que le pays produit.381

Diese nomadischen Horden werden entweder als Gegenfiguren zu den sesshaften und damit weiter entwickelten Europäern konstruiert oder aber tatsächlich im Zusammenhang mit geographischen Ausdehnungsgebieten. So etwa auch

379 Denis Diderot: Bedouins, in: Ders./Jean Le Rond d’Alembert (Hg.): Encyclopédie (ENCCRE). Bd. 2, S. 189. 380 Vgl. ebd. 381 Edmé-François Mallet: Horde, in: Denis Diderot/Jean Le Rond d’Alembert (Hg.): Encyclopédie (ENCCRE). Bd. 6, S. 297.

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die Guebres, die zwischen Persien und Indien unterwegs sind. In diesem Eintrag wird sowohl die Auslöschung des Volkes thematisiert als auch der Hinweis, dass ihr Name in Europa wie in Asien eine pejorative Konnotation hat: GUEBRES, s. m. pl. (Hist. anc. & mod.) peuple errant & répandu dans plusieurs des contrées de la Perse & des Indes. C’est le triste reste de l’ancienne monarchie persane que les caliphes arabes armés par la religion ont détruite dans le vij. siecle, pour faire regner le dieu de Mahomet à la place du dieu de Zoroastre. Cette sanglante mission força le plus grand nombre des Perses à renoncer à la religion de leurs peres: les autres prirent la fuite, & se disperserent en différens lieux de l’Asie, où sans patrie & sans roi, méprisés & haïs des autres nations, & invinciblement attachés à leurs usages, ils ont jusqu’à présent conservé la loi de Zoroastre, la doctrine des Mages, & le culte du feu, comme pour servir de monument à l’une des plus anciennes religions du monde. […] Ce qu’il y a de singulier dans ce nom, c’est qu’il est d’usage chez plusieurs nations d’Europe & d’Asie, & que sous différentes formes & en différens dialectes, il est par-tout l’expression d’une injure grossiere.382

Eine positive Aufwertung hingegen erfährt das Volk der Berber, das durch sein Nomadentum zwar nicht auf Augenhöhe mit dem Europäer steht, aber dennoch als mutig, mit seiner Noblesse prahlend und mit einer Genealogie ausgestattet wird. Erst in einem parataktischen Nachschub wird ihm auch Sesshaftigkeit zugestanden: «Ils sont braves & se piquent de noblesse ; ils se disent descendus de la tribu des Sabéens, qui passerent de l’Arabie heureuse en Afrique sous la conduite de leur roi Melec-Ifriqui ; qui, selon quelques-uns, a donné son nom à l’Afrique. Il y a des Bereberes sédentaires.»383 Interessant ist dabei Temecen als Provinz in der afrikanischen Barbarei, wo ein fruchtbares, zwar nomadisches Volk lebt, das dennoch als geeinte Nation verstanden werden kann: «Les peuples qui l’habitent errent sous leurs tentes comme les Arabes, & sont cependant une nation africaine.»384 Sprechen und erzählen. Sprachvermögen Das enzyklopädische Othering arbeitet nicht nur mit Attributen des Animalischen, Heidnischen, Nomadischen, Kriegerischen oder Erotischen, sondern auch mit der Negierung von menschlichem Sprach- und damit einhergehendem Reflexionsvermögen. Die Sprachfähigkeit der nordamerikanischen Huronen

382 Nicolas-Antoine Boulanger: Guebres, in: Denis Diderot/Jean Le Rond d’Alembert (Hg.): Encyclopédie (ENCCRE). Bd. 7, S. 979–981, hier S. 979. 383 Denis Diderot: Bereberes ou Breberes, in: Ders./Jean Le Rond d’Alembert (Hg.): Encyclopédie (ENCCRE). Bd. 2, S. 207. 384 N. N.: Temecen, in: Denis Diderot/Jean Le Rond d’Alembert (Hg.): Encyclopédie (ENCCRE). Bd. 16, S. 52.

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etwa sei nicht besonders ausgeprägt bzw. ihr Wortschatz eher klein, da ihre Lebenswelt auch nur begrenzt sei: «La langue de ces sauvages est gutturale & très-pauvre, parce qu’ils n’ont connoissance que d’un très-petit nombre de choses.»385 Ihre Dependenz/Genealogie begründet sich auf Tieren, deren Name die Völker prägt: «Comme chaque nation du Canada, ainsi chaque tribu & chaque bourgade de Hurons porte le nom d’un animal, apparemment parce que tous ces barbares sont persuadés que les hommes viennent des animaux.»386 Der Umkehrschluss scheint beinahe auf der Hand zu liegen: Die Europäer verfügen über eine differenzierte und weitreichende Sprache, weil sie die Welt bereist und vor allem auch erforscht haben. Eine bekannte und probate diskursive Strategie zur Alienisierung des kolonialen Anderen (als eine Art Extremform des Othering) ist die Kombination von Absprache von Sprach- und Denkvermögen und Animalisierung der Fremden. So etwa im Eintrag über die Hottentotten, wo diese Vorurteile repetiert werden: Ils n’ont ni temple, ni idoles, ni culte, si ce n’est qu’on veuille caractériser ainsi leurs danses nocturnes, à la nouvelle & à la pleine lune. Le nom de Hottentot a été donné par les Européens à ces peuples sauvages, parce que c’est un mot qu’ils se répetent sanscesse les uns aux autres lorsqu’ils dansent.387

Der Vergleich mit der Tierwelt lässt nicht auf sich warten: Die Hottentotten seien schmutzig wie mit reichlich Kot versehene schwarze Schafwolle, sie seiend streunend, unabhängig und ihre Sprache ähnelte Tierlauten: leur affreuse malpropreté, ressemblent à la toison d’un mouton noir remplie de crotte. Ces peuples sont errans, indépendans, & jaloux de leur liberté ; ils sont d’une taille médiocre & fort légers à la course ; leur langage est étrange, ils gloussent comme des coqs d’Inde.388

Die Animalisierung wird hier deutlich verknüpft mit pejorativen Bewertungen («affreuse», «médiocre», «étrange») und dem Hang zur Unabhängigkeit. Animalisierung und Degradierung bis Dämonisierung gehen auch im Artikel zu den Einwohnern Guineas Hand in Hand. Hier reihen sich die abschätzigen Attribute

385 Louis de Jaucourt: Hurons, Les, in: Denis Diderot/Jean Le Rond d’Alembert (Hg.): Encyclopédie (ENCCRE). Bd. 8, S. 356. 386 Ebd. 387 Louis de Jaucourt: Hottentots, in: Denis Diderot/Jean Le Rond d’Alembert (Hg.): Encyclopédie (ENCCRE). Bd. 8, S. 320–321, hier S. 321. 388 Ebd.

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nur so aneinander. Diese Naturmenschen («naturels») sind heidnisch und abergläubisch, schmutzig, faul, trunksüchtig, verschlagen und – wieder eine erotisierende Volte zur degradierenden Exotisierung des kolonialen Anderen – sexuell ohne Scham, meist nackt oder mit Körperschmuck und -bemalung verziert. Les naturels sont des idolatres, superstitieux, vivans très-mal-proprement ; ils sont paresseux, yvrognes, fourbes, sans souci de l’avenir, insensibles aux évenemens heureux & malheureux qui réjoüissent ou qui affligent les autres peuples ; ils ne connoissent ni pudeur ni retenue dans les plaisirs de l’amour, l’un & l’autre sexe s’y plonge brutalement dès le plus bas âge.389

Verknüpft wird das Ganze mit rass(ist)ischen Merkmalen und einer Animalisierung, die mit einem interessanten Rollentausch von Mensch und Tier noch unterstrichen wird: «leurs cheveux sont une véritable laine, & leurs moutons portent du poil.»390

Erinnern und erzählen. Geschichtsbewusstsein Wem keine Fähigkeit zur Sprache zugesprochen wird, bei dem stellt sich die Frage, inwiefern ein Geschichtsbewusstsein oder eine Geschichtsschreibung konstatiert werden kann. Im Eintrag zu den bereits erwähnten Jagas finden sichdetaillierte Ausführungen über die Kriegsherrengeschichten des afrikanischen Volkes. Das ist insofern bemerkenswert, als hier einerseits von ‹afrikanischen Annalen› die Rede ist und einer Art kollektives Gedächtnis: «Ces guerriers impitoyables ont eu plusieurs chefs fameux dans les annales africaines […] ils conservent la mémoire de quelques héroïnes qui les ont gouvernés.»391 Andererseits wird in der Folge eine exotisierend-schockierende Helden- und Abenteuergeschichte in Form einer Jagas-Legende nacherzählt, nach der deren einstige Königin Ten-ban-dumba, nach ihrer Thronbesteigung nach der Ermordung der eigenen Mutter, Gesetze größter Barbarei, Sittenlosigkeit und menschlichen Wahnsinns erließ, die ihre Soldaten jeglicher menschlicher Gefühle zum Ziele der Grausamkeit berauben sollten («pour étouffer tous les sentimens de la nature & de l’humanité […] ces lois […] comme des chefs-d’oeuvre de la barbarie, de la dépravation, & du délire des hommes.»392 ) Diese auf Aberglauben basierenden Gesetze sollten jegliche Regung der Natur und die Vernunft zum Schweigen bringen. Nun referiert der Text eine Ansprache jener Königin, in der sie den

389 390 391 392

Ebd. Ebd. [Paul-Henri Thiry d’Holbach]: Jagas, S. 433. Ebd.

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Soldaten die Initiation zu den Geheimnissen und Riten ihren Vorfahren und damit den Zugang zu Reichtum, Macht und Unbesiegbarkeit ableitet. Dann vollführt die Herrscherin «l’exemple de la barbarie la plus horrible», indem sie ihren einzigen kleinen Sohn ermordet, ihn zu einer Salbe verarbeitet, mit der sie sich im Beisein der Soldaten einreibt und die daraufhin ihrem Beispiel folgen. Diese solitäre Geschichte wird dann zu einem Gesetz, so dass die Soldaten vor jedem kriegerischen Raubzug diese Salbe herstellen. Um die daraus resultierende Reduzierung der männlichen Wesen in dem Volk aufzufangen, fährt der Artikel fort, würden junge Kriegsgefangene als Soldaten aufgezogen, die somit ausschließlich diese grausamen Gesetze der Jagas kennen. Diese ausführliche Geschichte wird noch eine Rolle spielen im Hinblick auf die narratologische Inszenierung des Wissens des und über den kolonialen Anderen. An dieser Stelle seit auf die Detailliertheit dieser schockierenden Geschichte hingewiesen, die zwar von dem Geschichtsbewusstsein oder der ‹mythologischen Kapazität› des kolonialen Anderen zeugt, allerdings auch in der Schockwirkung exotistisch und abschreckend inszeniert ist. Dabei werden den kolonialen Anderen gelegentlich eigene Geschichten, eigene Gründungsmythen zugestanden. Die europäischen Mythen in Form der griechischen Mythologie sind andersherum oftmals mit der außereuropäischen Welt verknüpft. Uranus etwa wird im gleichnamigen Eintrag von de Jaucourt als erster König der afrikanischen Atlantiden verortet, geographisch zwar von Anfang an in die Nähe Europas gerückt («cette partie de l’Afrique, qui est au pié du mont Atlas, du côté de l’Europe»393), aber erst später Namensgeber des astronomischen Gestirns. Uranus zwang die nomadischen Völker zur Sesshaftigkeit und Soziabilität: «Ce prince obligea ses sujets, alors errans & vagabonds, à vivre en société, à cultiver la terre, & à jouir des biens qu’elle leur présentoit.»394 Damit ist auch die Entwicklung zur Zivilisation angezeigt, sind doch – wie bereits deutlich geworden ist – Sesshaftigkeit als Antonym zum Vagabunden- und Nomadentum und Landwirtschaft (vgl. hier auch den lakonischen Eintrag zu den afrikanischen Zénetes395 als Indizien für den gesellschaftlichen Fortschritt). Dieser Fortschritt artikuliert sich in einigen Artikeln als eine Art zivilisatorischer Wettlauf. Eine historische Überlegenheit 396 soll sich bspw. daraus ablei-

393 Louis de Jaucourt: Uranus, in: Denis Diderot/Jean Le Rond d’Alembert (Hg.): Encyclopédie (ENCCRE). Bd. 17, S. 487. 394 Ebd. 395 Vgl. Louis de Jaucourt: Zénetes, S. 704. 396 Einige Völker in Afrika werden allein durch den Bezug zur europäischen Geschichte rekonstruiert und arbeiten mit keiner ‘eigenständigen’ Information (vgl. etwa Libyen als Kornkammer Italiens: «Nous remarquerons seulement que la Libye étoit anciennement un des gre-

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ten, wer sich als das älteste Volk betiteln kann. Dies wird im gleichnamigen Eintrag den Chaldäern als dem ältesten Volk des Orients zugeschrieben: Chaldéens, (Philosophie des) Les Chaldéens sont les plus anciens peuples de l’Orient qui se soient appliqués à la Philosophie. Le titre de premiers philosophes leur a été contesté par les Egyptiens. Cette nation aussi jalouse de l’honneur des inventions, qu’entêtée de l’antiquité de son origine, se croyoit non-seulement la plus vieille de toutes les nations, mais se regardoit encore comme le berceau où les Arts & les Sciences avoient pris naissance. Ainsi les Chaldéens n’étoient, selon les Egyptiens, qu’une colonie venue d’Egypte ; & c’est d’eux qu’ils avoient appris tout ce qu’ils savoient. Comme la vanité nationale est toûjours un mauvais garant des faits qui n’ont d’autre appui qu’elle, cette supériorité que les Egyptiens s’arrogeoient en tout genre sur les autres nations, est encore aujourd’hui un problème parmi les savans. […] Il n’est pas facile de donner une juste idée de la philosophie des Chaldéens. Les monumens, qui pourroient nous servir ici de mémoires pour cette histoire, ne remontent pas, à beaucoup près, aussi haut que cette secte: encore ces mémoires nous viennent-ils des Grecs ; ce qui suffit pour leur faire perdre toute l’autorité qu’ils pourroient avoir.397

Als eine der paradigmatischen historischen Gegenfiguren zu den Römern werden in der Encyclopédie die Mauren konstruiert. Während die Römer als «maîtres du monde» konturiert werden, müssen sich die Mauren ihnen beugen, auch als Verbündete anderer unzivilisierter Völker wie den Vandalen und den Sarrazenen. Sie werden als Moslems beschrieben, sehr kurz und knapp auch ihr «Exodus» aus Spanien durch den spanischen König. Schließlich dient als Distinktionsmerkmal Dominanz und Unterworfensein: «Il faut aujourd’hui distinguer les pays des Maures où ils dominent, de ceux où ils jouissent seulement d’une liberté qui n’est guere différente de la servitude.»398 Geschichtsbewusstsein und spatiale Verortung gehen in den Einträgen oftmals Hand in Hand. Die gesellschafts- und sinnstiftenden Erzählungen sind in der enzyklopädischen Darstellung zunächst bzw. dominant lokal situiert (und die Leserschaft damit geographisch orientiert) und daran anschließend erst mit Menschen und Geschichten bevölkert. So ist es nicht verwunderlich, dass gerade in jenen Einträgen, die sich mit transkontinentalen Phänomenen befassen, die Zuordnung zu Ländern wie zu Völkern oder Stämmen schwierig gestalten. Bei den transkontinentalen Einträgen stehen die Herausforderung und die Schwierigkeit der eindeutigen Zuordnung zu Kontinenten im Vordergrund, so

niers de l’Italie, à cause de la grande quantité de blé qu’on en tiroit.» (N. N. Libye, La, in: Denis Diderot/Jean Le Rond d’Alembert (Hg.): Encyclopédie (ENCCRE). Bd. 9, S. 481. 397 [Denis Diderot]: Chaldéens, S. 20. 398 N. N.: Morabites, in: Denis Diderot/Jean Le Rond d’Alembert (Hg.): Encyclopédie (ENCCRE). Bd. 10, S. 699. Es findet sich aber auch die Erwähnung der friedlichen Koexistenz der Mauren und der Römer (vgl. Louis de Jaucourt: Zénetes, S. 704).

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dass eine Lokalisierung des kolonialen Anderen mit allen entsprechenden Attribuierungen problematisch ist. Dies ist evidenterweise der Fall, wenn es um die Welt geht. In dem doch insgesamt sehr kurz gefassten Eintrag, der geographisch ausgerichtet ist, wird eine Weltreiseroute simuliert, die ein Reisender ausgehend von Cadix oder Sevilla rund um den Globus nähme. Hier wird abermals deutlich, dass es bei der Wissensvermittlung und -generierung nicht so sehr um eine systematische Aufzählung von Wissensbeständen geht, sondern um die Konstruktion von Wissen, die an die Erfahrbarkeit von epistemologischen Objekten appellieren, die sowohl an den Modus der Entdeckungen und Weltumseglungen der Zeit anknüpfen, als auch auf die affektive Einbindung der Leserschaft abzielen. Und zudem noch imaginativ, damit suggestiv und durchaus manipulativ, eine Weltreise wachrufen: MONDE, LE, (Géog.) ce mot se prend communément en Géographie pour le globe terrestre. En ce sens, si un voyageur partant de Cadix ou de Séville, alloit à Porto-belo dans la nouvelle Espagne, & de-là s’embarquant à Panama, passoit aux Philippines, & revenoit en Espagne, ou par la Chine, l’empire Russien, la Pologne, l’Allemagne, & la France, ou par les Indes, la Perse, la Turquie, & la Méditerranée, on diroit de lui qu’il a fait le tour du monde.399

Im Anschluss wird noch auf den Wissensvorsprung über die Beschaffenheit der Welt nach den großen Entdeckungen im Vergleich zur Antike eingegangen: Comme la connoissance que les anciens avoient du monde se bornoit à l’hémisphere où sont l’Europe, l’Asie & l’Afrique, on s’est accoutumé à donner le nom de monde à un seul hémisphere, & on a appellé l’ancien monde, l’hémisphere que l’on connoissoit anciennement, & nouveau monde celui qu’on venoit de découvrir.400

Und unmittelbar darauf folgt der Untereintrag zur Neuen Welt, die erstens unmittelbar als Wissensbestand der Europäer evoziert wird und zweitens als Kontrastierung vom Wissen der Antike und dem neuen Wissen durch Kolumbus funktioniert: MONDE NOUVEAU, (Géog.) c’est ainsi qu’on nomme l’Amérique inconnue aux anciens, & découverte par Colomb, dont la gloire fut pure ; mais mille horreurs ont deshonoré les grandes actions des vainqueurs de ce nouveau monde: les lois trop tard envoyées de l’Europe, ont foiblement adouci le sort des Amériquains.401

399 Louis de Jaucourt: Monde; Monde-Nouveau; Monde-Ouvert, in: Denis Diderot/Jean Le Rond d’Alembert (Hg.): Encyclopédie (ENCCRE). Bd. 10, S. 641. 400 Ebd. 401 Ebd.

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Hier spielt de Jaucourt vermutlich auf die «leyes nuevas» des 16. Jahrhunderts an, die den Zugriff der Konquistadoren auf die indigene Bevölkerung regulieren und unterbinden sollten.402 Die Kolonialismuskritik, die hier artikuliert wird, gilt zwar nominell Europa, geht konkret aber abermals eher an die spanische Kolonialmacht. Interessant wiederum im Zusammenhang mit der schwierigen Lokalisierung und vor allem Eingrenzung des kolonialen Anderen ist der Eintrag zum Lemma Orient. Wie schon ausgeführt, spielt der Orient in wirtschaftlicher Hinsicht in der Encyclopédie keine prominente Rolle. Er wird in erster Linie im religiösen Sinne, als Imperium und im Zusammenhang mit Handel konturiert. Im Wissensgebiet Critique sacrée wird die Etymologie seit den Hebräern insbesondere in lateinischen Phrasen diskutiert und als Distantes generalisiert («Orient, (Critique sacrée) les Hébreux désignoient l’orient par kedem, qui signifie le devant [...] Orient signifie quelquefois en général un pays éloigné»403). Als historisches Reich hingegen, also als Teil des römischen Reichs, wird es auf die Geschichte der Stadt Byzanz/Konstantinopel reduziert und tritt dergestalt zunächst als große Rivalin zu Rom auf. Doch der Artikel zeichnet anhand der Herrschergeschichte den Niedergang auf, der schließlich im Untergang Konstantinopels endet.404 Die Türken, so schildert der Eintrag recht eindrücklich, schwingen sich zu den Herrschern Asiens und Teilen Europas auf und beenden im 15. Jahrhundert das orientalische Reich: [...] les Turcs méprisables en apparence dans leur origine, fondirent comme un tourbillon sur les états des empereurs grecs, passerent le Bosphore, se rendirent maîtres de l’Asie, & pousserent encore leurs conquêtes jusques dans les plus belles parties de l’Europe ; mais il suffit de dire ici, que Mahomet II. prit Constantinople en 1453, fit sa mosquée de l’église de sainte Sophie, & mit fin à l’empire d’orient, qui avoit duré 1123 années. Telle est la révolution des états.405

Leitend ist weiterhin die Vorstellung menschlichen Zusammenlebens, was in erster Linie an siedlungstechnischen, hier aber: urbanen Momenten festge-

402 Vgl. Alberto Pérez Amador Adam: De legitimatione imperii Indiae Occidentalis. La vindicación de la Empresa Americana en el discurso jurídico y teológico de las letras de los Siglos del Oro en España u los virreinatos americanos, Madrid/Frankfurt a. M.: Iberoamericana 2011. 403 Louis de Jaucourt: Orient, S. 641. 404 Ähnlich verhält es sich mit der afrikanischen Stadt Marsa, die an dem Ort zu finden ist, an dem einst Karthago verortet war. Diese untergegangene Stadt wird als einstige Rivalin Roms fast verlacht: «on n’y compte que quelques centaines de maisons, une mosquée, & un college fondé par Muley-Mahomet. Qui reconnoîtroit ici la rivale de Rome !» (N. N. Marsa, in: Denis Diderot/Jean Le Rond d’Alembert (Hg.): Encyclopédie (ENCCRE). Bd. 10, S. 155. 405 Ebd.

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macht wird. So etwa im Eintrag zur Metropole, die sich auf allen Kontinenten finden lässt und stets an einen Kirchensitz gebunden ist: Métropole, s. f. (Jurisp.) dans sa juste signification veut dire, mere ville ou ville principale d’une province. Mais en matiere ecclésiastique, on entend par métropole une église archiépiscopale ; on donne aussi le titre de métropole à la ville où cette Eglise est située, parce qu’elle est la capitale d’une province ecclésiastique. […] Dans les provinces d’Afrique, excepté celles dont Carthage étoit la métropole, le lieu où résidoit l’évêque le plus âgé, devenoit la métropole ecclésiastique. En Asie, il y avoit des métropoles de nom seulement, c’est-à-dire, sans suffragans ni aucun droit de métropolitain ; telle étoit la situation des évêques de Nicée, de Chalcedoine & de Beryte, qui avoient la préséance sur les autres évêques & le titre de métropolitain, quoiqu’ils fussent eux-mêmes soumis à leurs métropolitains. On voit par-là que l’établissement des métropoles est de droit positif & qu’il dépend indirectement des souverains, aussi comme plusieurs évêques obtenoient par l’ambition, des rescrits des empereurs, qui donnoient à leur ville le titre imaginaire de métropole, sans qu’il se fît aucun changement ni démembrement de province: le concile de Chalcédoine dans le canon XII. voulut empêcher cet abus qui causoit de la confusion dans la police de l’Eglise. Voyez l’hist. des métropoles, par le P. Cantel, & ci-après METROPOLITAIN.406

Im Gegensatz dazu gibt es auf der ganzen Welt Moor-Gebiete, die zur Beurteilung der Neuheit des amerikanischen Kontinents und für Besiedelung dienen. Im Rückgriff auf Chambers werden hier zunächst einige europäische und asiatische Sumpfgegenden genannt, um schließlich wiederum Amerika als einen einzigen Sumpf zu bezeichnen: Les plus fameux marais de l’Europe sont ceux de Moscovie, à la source du Tanaïs ; ceux de Finlande, où sont les grands marais Savolax & Enasak ; il y en a aussi en Hollande, en Westphalie, & dans plusieurs autres pays bas. En Asie, on a les marais de l’Euphrate, ceux de la Tartarie, le Palus Méotide ; cependant en général, il y en a moins en Asie & en Afrique, qu’en Europe ; mais l’Amérique n’est, pour ainsi dire, qu’un marais continu dans toutes ses plaines: cette grande quantité de marais est une preuve de la nouveauté du pays, & du petit nombre des habitans, encore plus que du peu d’industrie.407

Das Sumpfgebiet dient hier nicht der geo-agrikulturellen Beschreibung des Landes, sondern als Indikator für die Neuheit des Kontinents, für die Absenz von Bewohnern und ‹Industrie›. Alteritätskonstruktionen funktionieren also über die Konstruktionen eines geographischen Raums, der wiederum unmittelbar mit kulturalistischen Zuschreibungen überblendet wird. Dies ist einerseits mit

406 Nicolas-Antoine Boucher d’Argis: Métropole, in: Denis Diderot/Jean Le Rond d’Alembert (Hg.): Encyclopédie (ENCCRE). Bd. 10, S. 471. 407 N. N.: Marécage, in: Denis Diderot/Jean Le Rond d’Alembert (Hg.): Encyclopédie (ENCCRE). Bd. 10, S. 92–93, hier S. 92.

2.1 Figuren und Figurationen kolonialer Macht

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der Anlage der modernen Geographie verklammert, die neben der Landvermessung auch zunehmend historische Entwicklungen der Disziplin sowie Anleihen aus anderen Wissen(schaft)sgebieten wie Astronomie oder Politik berücksichtigt.408 Andererseits scheint hier auch der Aufklärungsdiskurs der Universalgeschichte auf, der ausgehend und in Absetzung von Bossuets Discours sur l’histoire universelle aus dem 17. Jahrhundert, dessen Entwicklungsmodell noch von einem göttlichen Heilsplan geleitet war, Mitte des 18. Jahrhunderts – also mit dem Erscheinen des Prospectus sowie der ersten Bände der Encyclopédie koinzidierend – in den stadientheoretischen Überlegungen etwa Turgots in seinem Plan de deux discours sur l’histoire universelle (1751/2) oder Voltaires Essai sur l’Histoire Universelle (1754/8) mündet (vgl. zur Entwicklung der Geschichtsphilosophie im Frankreich der Aufklärung Rohbeck409). Eine deutlich anthropologisch-kulturalistischree Zielrichtungtragen Voltaires Essais sur les moeurs et l’esprit des nations (1756), die nach Stackelberg das «wirkliche Leben der Menschen […] einschließlich von Kultur, Wissenschaft und Technik, die dieses Leben bestimmen» behandeln, «und in dem die Frage nach der Durchsetzung des Fortschritts, das heißt der aufgeklärten Vernunft, den Maßstab für Auswahl und Bewertung abgeben sollte».410 In diesen Schriften lässt sich eine teleologische Argumentation finden, die unterschiedliche Völker in eine Entwicklungslinie mit unterschiedlichen Progressionsstadien bringt und damit eine Fortschrittsgeschichte zu schreiben erlaubt, an deren Spitze sich in der Regel die französische Gesellschaft selbst setzt. Als Gegenrede können hier die zivilisationskritischen Diskurse Rousseaus gesehen werden, der die Argumentation bekanntlich ins Gegenteil verkehrt und auf der Grundlage der Entwicklung ökonomischer Ansprüche und Strukturen von einer Verfallsgeschichte ausgeht und in dessen Diskurszusammenhang ja auch der bon sauvage gehört.411 Wissen und können. Wissen und Technik Neben der Lokalisierung aber kommt in der Encyclopédie zur Konstruktion des kolonialen Anderen dessen Kulturalisierung zum Einsatz. In der Regel wird der koloniale Andere mit seinen Fähigkeiten und Werkzeugen, seinen Waren und

408 Vgl. Didier Robert le Vaugondy: Géographie, in: Denis Diderot/Jean Le Rond d’Alembert (Hg.): Encyclopédie (ENCCRE). Bd. 7, S. 608–613. 409 Johannes Rohbeck: Geschichte/Geschichtsphilosophie, in: Heinz Thoma (Hg.): Handbuch Europäische Aufklärung. Begriffe, Konzepte, Wirkung, Stuttgart: Metzler 2015, S. 242–251. 410 Jürgen von Stackelberg: Über Voltaire, München: Fink 1998, S. 48 ff. 411 Vgl. Johannes Rohbeck: Geschichte/Geschichtsphilosophie; Jean-Jacques Rousseau: Discours sur l’origine et les fondements de l’inégalité parmi les hommes. Discours sur les sciences et les arts, Paris: Flammarion [1756/1750] 1971.

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kulturellen Riten beschrieben. Da die enzyklopädische Instanz den kolonialen Anderen generell in einem zivilisatorischen Gefälle zum Europäer konturiert, ist es eher überraschend, dass in einigen Einträgen Errungenschaften Erwähnung und Bewunderung finden. Besonders interessant ist der Eintrag zum Lemma Machine und den historischen Reflexionen darüber, wie einerseits die ‹untechnische› Antike und andererseits vermeintlich wilde Völker haben ohne technische Hilfsmittel Bauten errichten können. In diesem Eintrag werden erstaunlicherweise die Absenz einer Maschine und das Unwissen der spanischen Invasoren zum Gradmesser für Fortschrittlichkeit:412 Machine architectonique est un assemblage de pieces de bois tellement disposées, qu’au moyen de cordes et de poulies un petit nombre d’hommes peut élever de grands fardeaux et les mettre en place, telles sont les grues, les crics, etc. Voyez GRUE, CRIC, etc. On a de la peine à concevoir de quelles machines les anciens peuvent s’être servis pour avoir élevé des pierres aussi immenses que celles qu’on trouve dans quelques bâtimens anciens. Lorsque les Espagnols firent la conquête du Pérou, ils furent surpris qu’un peuple qu’ils croyoient sauvage & ignorant, fût parvenu à élever des masses énormes, à bâtir des murailles dont les pierres n’étoient pas moindres que de dix piés en quarré, sans avoir d’autres moyens de charrier qu’à force de bras, en traînant leur charge, & sans avoir seulement l’art d’échafauder ; pour y parvenir, ils n’avoient point d’autre méthode que de hausser la terre contre leur bâtiment à mesure qu’il s’élevoit, pour l’ôter après.413

In diesem Eintrag ist der Irrtum einmal auf Seiten der europäischen Eroberer, werden die Peruaner von D’Alembert doch markiert als Wilde, die die Spanier nur für wild und unwissend hielten: «qu’ils croyoient sauvage& ignorant».414 Die zivilisatorische und intellektuelle Entwicklung der amerikanischen Völker wird neben der Fähigkeit zur technischen Entwicklung auch an ihren Rechenkünsten festgemacht. Im Eintrag über Compter beschreibt de Jaucourt in Anlehnung an de Léry zunächst den Gedanken, dass die südamerikanischen Toupinambes ein eigenes Zahl- und Rechensystem entwickelt haben, das dem europäischen unterlegen erscheint. Von diesem Argument ausgehend sinniert er über die Funktion und Benennung von Zahlen und stellt einige sprachtheoretische Reflexionen über den Bezug zwischen Sprache und Wirklichkeit an:

412 Diese Diskussion über die Frage danach, wie die Inkas ihre Bauten ohne (europäisch bekannte) technische Hilfsmittel errichten konnten, wird in Raynals Histoire des deux Indes weitergeführt und bringt Diderot schließlich sogar dazu, die Darstellungen der Spanier als «fables» zu diskreditieren (vgl. Raynal (2001 [1781]). 413 Jean Le Rond d’Alembert: Machine, in: Denis Diderot/Ders. (Hg.): Encyclopédie (ENCCRE). Bd. 9, S. 794–795, hier S. 794. 414 Ebd.

2.1 Figuren und Figurationen kolonialer Macht

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Jean de Léry qui a été chez les Toupinambes, peuple sauvage de l’Amérique méridionale du Bresil, nous apprend dans son voyage fait en la terre du Bresil, ch. xx. qu’ils n’avoient point de nombre au-dessus de cinq ; & que lorsqu’ils vouloient exprimer quelque nombre au-delà, ils montroient leurs doigts & les doigts des autres personnes qui étoient avec eux. Leur calcul n’alloit pas plus loin ; ce qui prouve que des noms distincts sont absolument nécessaires pour compter,& que pour aller aux progressions les plus étendues du calcul, les langues ont besoin de dénominations propres & de signes propres, que nous appellons chiffres, pour exprimer ces progressions. Or voici comment cela s’exécute dans notre langue.415

Für die mechanischen Künste formuliert die enzyklopädische Instanz im Eintrag L’Inde Bewunderung und Staunen («notre étonnement») und deren globale (!) Überlegenheit («Aucune nation ne les surpasse en ce genre»). Farben, Stoffe und Musselin suchen weltweit ihresgleichen und werden in Europa begehrt («Leurs toiles & leurs mousselines sont si belles & si fines, que nous ne nous lassons point d’en avoir, & de les admirer. [...] ces belles marchandises, si recherchées dans toute l’Europe».416 Und so resümiert de Jaucourt die Haltung Europas gegenüber Indien als angefüllt mit ‹Interesse›, mit Liebe und Anerkennung: En un mot, comme le dit l’historien philosophe de ce siecle,417 nourris des productions de leurs terres, vétus de leurs étoffes, éclairés dans le calcul par les chiffres qu’ils ont trouvés, instruits même par leurs anciennes fables, amusés par les jeux qu’ils ont inventés, nous leur devons des sentimens d’intérêt, d’amour & de reconnoissance.418

Es wird weiterhin deutlich, dass de Jaucourt nicht an Kritik an der Denomination als Indiens spart und diese Bezeichnung als «improprement» diskreditiert: On a ensuite improprement étendu ce dernier nom à toute l’Amérique ; & par un nouvel abus, qu’il n’est plus possible de corriger, on se sert dans les relations du nom d’Indiens, pour dire les Amériquains. Ceux qui veulent parcourir l’histoire ancienne des Indiens pris dans ce dernier sens, peuvent consulter Herréra ; je n’ai pas besoin d’indiquer les auteurs modernes, tout le monde les connoît ; je dirai seulement que déja en 1602, Théodore de Bry fit paroître à Francfort un recueil de descriptions des Indes orientales & occidentales, qui formoit 18 vol. in-fol. & cette collection complette est recherchée de nos jours par sa rareté. Le peuple a fait une division qui n’est rien moins que géographique: il appelle grandes Indes, les Indes orientales, &petites Indes les Indes occidentales.419

415 416 417 418 419

Louis de Jaucourt: Compter, S. 795–796. Louis de Jaucourt: Inde, L’, S. 661. Damit spielt de Jaucourt vermutlich auf Voltaires Essai sur les moeurs an. Ebd. Ebd.

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Vor dem Hintergrund der Wissenskonstruktion ist diese Passage insofern interessant, als de Jaucourt auf seine Wissensquellen verweist, diese aber gleichzeitig wieder verschleiert («je n’ai pas besoin d’indiquer les auteurs modernes, tout le monde les connoît»420). Zentral aber bleibt der bereits von de Jaucourt erwähnte Wissenstransfer aus den Indes nach Europa auch in den weiteren Artikeln. So etwa im medizinischen wie im mathematischen Bereich: etwa im Eintrag zur Einimpfung, die als weitere Methode zur Pockenbekämpfung gilt: «Inoculation. On nous a apporté des Indes & de la Mingrelie, une autre méthode de traiter la petite vérole, qui est l’inoculation»;421 oder aber die arabischen Ziffern, die einen doppelten Transfer von Indien über die Araber nach Europa zu verzeichnen haben: «On croit communément que les Sarrasins nous ont donné les caracteres arabes, qu’ils avoient appris eux-mêmes des Indiens.»422 An diese Zahlenkenntnis ließen sich auch die Beurteilungen über die Rechenfähigkeit der kolonialen Anderen anschließen. Hier seien die Reflexionen im Eintrag Calcul genannt: «Plusieurs peuples de l’Amérique, de l’Afrique, & de l’Asie calculent avec des cordes, auxquelles ils font des noeuds.»423 Interessant sind im Zusammenhang von Wissenstransfers und vom Einfluss des kolonialen Anderen auf das europäische Selbstbild die Wechselwirkungen, die in den Artikeln zwischen Wissensbeständen und Philosophen formuliert werden. Im Eintrag zu den indischen Gymnosophistes unterstreicht Mallet den Behauptungscharakter des Wissenstransfers zu Pythagoras («Les Gymnosophistes croyoient l’immortalité de l’ame, & sa métempsycose ou transmigration d’un corps dans un autre ; & l’on prétend que Pythagore avoit pris d’eux cette opinion.»424).

420 Ebd. Gründe für diese extreme Paraphrasierung könnte es viele geben: sei es aus Bequemlichkeit, weil dem zeitgenössischen Leser die angesprochenen Autoren (hier etwa Prévost, Labat, La Condamine, Lafitau, de Pauw etc.) bekannt gewesen sein dürften, sei es als generalisierende Geste. 421 Louis de Jaucourt: Vérole, petite, in: Denis Diderot/Jean Le Rond d’Alembert (Hg.): Encyclopédie (ENCCRE). Bd. 17, S. 79–83, hier S. 82. 422 N. N.: Arabe, in: Denis Diderot/Jean Le Rond d’Alembert (Hg.): Encyclopédie (ENCCRE). Bd. 1, S. 566. 423 Jean-Baptiste de la Chapelle: Calcul, in: Denis Diderot/Jean Le Rond d’Alembert (Hg.): Encyclopédie (ENCCRE). Bd. 2, S. 545–546, hier S. 555. Dies greift auf die Diskussionen um die Knotenschrift Quipu der Inkas zurück, die im 18. Jahrhundert virulent ist, als berühmte fiktionale Aufarbeitung seien die Lettres d’une Péruvienne genannt (vgl. Françoise de Graffigny: Lettres d’une peruvienne, Paris: A Peine 1747, https://gallica.bnf.fr/ark:/12148/bpt6k108771b (24. 09. 2019). 424 Edmé-François Mallet: Gymnosophistes, in: Denis Diderot/Jean Le Rond d’Alembert (Hg.): Encyclopédie (ENCCRE). Bd. 6, S. 598.

2.1 Figuren und Figurationen kolonialer Macht

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Die Wissensgebiete der zeitgenössischen modernen Wissenschaften aber werden arabisch generiert, Chemie und Medizin, aber auch die Poesie haben demnach arabische Wurzeln: La Chimie & la Médecine étoient cultivées par les Arabes. La Chimie, perfectionnée aujourd’hui chez nous, ne nous fut connue que par eux. Nous leur devons de nouveaux remedes, qu’on nomme les minoratifs, plus doux & plus salutaires que ceux qui étoient auparavant en usage dans l’école d’Hippocrate & de Galien. Enfin, dès le second siecle de Mahomet, il fallut que les Chrétiens d’occident s’instruisissent chez les Musulmans. Une preuve infaillible de la supériorité d’une nation dans les arts de l’esprit, c’est la culture perfectionnée de la Poésie. Il ne s’agit pas de cette poésie enflée & gigantesque, de ce ramas de lieux communs insipides sur le soleil, la lune & les étoiles, les montagnes & les mers: mais de cette poésie sage & hardie, telle qu’elle fleurit du tems d’Auguste, telle qu’on l’a vu renaître sous Louis XIV.425

Ein ergiebiges Wissensgebiet für die Universalisierung von Objekten und Erkenntnissen ist neben der Technik auch die Medizin. Durchaus anerkennend hebt de Jaucourt hier die Errungenschaften der außereuropäischen Medizin hervor: Depuis le jx. jusqu’au xiij. siecle, la Médecine fut cultivée avec beaucoup de subtilité par les Arabes, dans l’Asie, l’Afrique & l’Espagne. Ils augmenterent & corrigerent la matiere médicale, ses préparations, & la Chirurgie. A la vérité ils infecterent l’art plus que jamais des vices galéniques, & presque tous ceux qui les ont suivis ont été leurs partisans. En effet les amateurs des sciences étoient alors obligés d’aller en Espagne chez les Sarrasins, d’où revenant plus habiles, on les appelloit Mages. Or on n’expliquoit dans les Académies publiques que les écrits des Arabes ; ceux des Grecs furent presqu’inconnus, ou du-moins on n’en faisoit aucun cas.426

Und auch die Transportmittel selbst erfahren eine transkontinentale Situierung. Die Verwendung von Wagen, Bogen, Barke und Kanu findet transkontinental in den Einträgen zu den unterschiedlichsten Völkern detaillierte Erwähnung. An ihnen wird ermessen, wie technisches Wissen und Entwicklungsstand bzw. die Nähe-Distanz-Relation zum europäischen Vergleichswert zu verstehen ist. Wagen (voiture) etwa fänden sich ausgehend von dem, was in Frankreich bekannt und in Gebrauch ist, auch in anderen europäischen Ländern und mit exotischeren Zugtieren auch in Afrika und Asien:

425 Louis de Jaucourt: Mahométisme, S. 866, Hervorhebungen K. S.). 426 Louis de Jaucourt: Médecine, in: Denis Diderot/Jean Le Rond d’Alembert (Hg.): Encyclopédie (ENCCRE). Bd. 10, S. 260–275, hier S. 261.

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Les voitures de terre pour le transport des voyageurs & marchandises dont l’usage est le plus commun en France, & dans une grande partie de l’Europe, sont les carrosses, chariots, caleches, berlines, & coches à quatre roues, les chaises, charrettes, & fourgons qui n’en ont que deux. Ces machines roulantes sont tirées par des chevaux, des mulets, des mules, des bufles, & des boeufs. Dans le nord on se sert de traîneaux en hiver, & lorsque la terre est couverte de neige. On y attelle ordinairement des chevaux, mais en Laponie ils sont traînés par des rennes qui ressemblent à de petits cerfs, & dans quelques cantons de la Sibérie par des especes de chiens accoutumés à cet exercice. Voyez TRAINEAU. Tous les animaux qu’on vient de nommer, à l’exception des rennes & des chiens de Sibérie, sont propres à la charge, & peuvent porter des marchandises, sur-tout les mules & mulets, qui sont d’un très-grand secours dans les pays de montagnes, tels que les Alpes, les Pyrénées, &c. Dans les caravanes de l’Asie & les cafilas de l’Afrique, on se sert de chameaux & de dromadaires. Voyez CHAMEAU, DROMADAIRE, CARAVANE, CAFILA.427

Dass die Verweise auf andere Artikel hier nicht auf weitere technischen Geräte geschehen, wie noch auf den Schlitten im Anschluss an die europäischen Gefährte, sondern sich hier auf die Fauna: Kamel, Dromedar, oder auf Reisemittel, die Karawane, zeigt aber auch an, dass die enzyklopädische Instanz hier die Naturnähe der Afrikaner und Asiaten betont statt ihrer zivilisatorischen Stärken. Der Bogen wird im gleichnamigen Artikel direkt an die Entwicklungs-geschichte/ Zivilisationsgeschichte der Menschheit gebunden: L’arc est l’arme la plus ancienne & la plus universelle. Les Grecs, les Romains, mais surtout les Parthes, s’en servoient fort avantageusement. Elle est encore en usage en Asie, en Afrique, & dans le Nouveau monde. Les anciens en attribuoient l’invention à Apollon.428

Die Barke (ähnlich wie das Kanu429) wird durch diverse Zeiten und Völker dekliniert. Die Wilden in Amerika können als eine Art technisches Vorstadium gelten, auch wenn die Frage nach der Vergleichbarkeit thematisiert wird: Combien de faits dont le merveilleux s’évanoüiroit, si l’on étoit à portée de les vérifier ? Les Ethiopiens, à ce que dit Pline, avoient des barques pliables, qu’ils chargeoient sur leurs épaules & qu’ils portoient au bas des énormes chûtes d’eau du Nil, pour les remettre sur le fleuve & s’embarquer. Scheffer croit que c’étoient des peaux tendues par des ais circulaires, sans poupe ni proue. Les sauvages d’Amérique creusent des arbres d’une grandeur prodigieuse, sur lesquels ils s’embarquent au nombre de 30 à 40 hommes & s’en servent, sans autre préparation, pour faire par mer des voyages de 70 à 80 lieues:

427 N. N.: Voiture, in: Denis Diderot/Jean Le Rond d’Alembert (Hg.): Encyclopédie (ENCCRE). Bd. 17, S. 426–427. 428 Edmé-François Mallet: Arc, in: Denis Diderot/Jean Le Rond d’Alembert (Hg.): Encyclopédie (ENCCRE). Bd. 1, S. 592. 429 Vgl. N. N.: Canot de Sauvages, 621.

2.1 Figuren und Figurationen kolonialer Macht

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voilà les premiers pas de la Navigation. Bien-tôt on fit les barques de matériaux plus solides que la peau, la terre, & le jonc. Dans la suite on abattit les chênes, l’on assembla les planches & les poutres, & les mers furent couvertes de vaisseaux. Mais qu’étoient-ce encore que les vaisseaux des anciens en comparaison des nôtres ?430

Vor allem aber staunt und bewundert die enzyklopädische Instanz im Eintrag Inde nun die geistigen und philosophischen Errungenschaften Indiens, was sich nicht zuletzt aus dem virulenten Diskurs zu den sog. «Indes florissantes» in der Reiseliteratur des 18. Jahrhunderts speist.431 Allen voran waren es die wissenschaftlichen Erkenntnisse, die nicht von Europa nach Indien gebracht wurden, sondern die (ähnlich wie die Handelswaren) von Indien nach Europa gelangten. So steht Indien noch über Ägypten: Cependant jouissons en philosophes du spectacle de l’Inde,& portant nos yeux sur cette vaste contrée de l’orient, considérons l’esprit & le génie des peuples qui l’habitent. Les Sciences étoient peut-être plus anciennes dans l’Inde que dans l’Egypte ; le terrein des Indes est bien plus beau, plus heureux, que le terrein voisin du Nil ; le sol qui d’ailleurs y est d’une fertilité bien plus variée, a dû exciter davantage la curiosité & l’industrie. Les Grecs y voyagerent avant Alexandre pour y chercher la science. C’est-là que Pythagore puisa son système de la métempsycose ; c’est-là que Pilpay, il y a plus de deux mille ans, renferma ses leçons de morale dans des fables ingénieuses, qui devinrent le livre d’état d’une partie de l’Indoustan. Voyez FABULISTE. C’est chez les Indiens qu’a été inventé le savant & profond jeu d’échecs ; il est allégorique comme leurs fables, & fournit comme elles des leçons indirectes. Il fut imaginé pour prouver aux rois que l’amour des sujets est l’appui du trone, & qu’ils font sa force & sa puissance. Voyez ECHECS (jeu des). C’est aux Indes que les anciens gymnosophistes vivans dans une liaison tendre de moeurs & de sentimens, s’éclairoient des Sciences, les enseignoient à la jeunesse, & jouissoient de revenus assurés, qui les laissoient étudier sans embarras. Leur imagination n’étoit subjuguée, ni par l’éclat des grandeurs, ni par celui des richesses. Alexandre fut curieux de voir ces hommes rares ; ils vinrent à ses ordres ; ils refuserent ses présens, lui dirent qu’on vivoit à peu de frais dans leurs retraites, & qu’ils étoient affligés de connoître un si grand prince, occupé de la funeste gloire de désoler le monde.432

Der Import der Wissenschaften auf den unterschiedlichsten renommierten Gebieten stellt sich für de Jaucourt als Import aus Indien dar: Astronomie bzw. Astrologie, Arithmie, Mechanik u. v. m. habe seinen Ursprung am Ganges:

430 Denis Diderot: Barques, in: Ders./Jean Le Rond d’Alembert (Hg.): Encyclopédie (ENCCRE). Bd. 2, S. 89. 431 Vgl. bspw. Guy Deleury (Hg.): Les Indes florissantes. Anthologie des voyageurs français (1750–1820), Paris: Laffont 1991 sowie Guy Deleury (Hg.): Le voyage en Inde. Anthologie des voyageurs franc ̜ais (1750–1820), Paris: Laffont 2003. 432 Louis de Jaucourt: Inde, L’, S. 661.

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L’Astronomie, changée depuis en Astrologie, a été cultivée dans l’Inde de tems immémorial ; on y divisa la route du soleil en douze parties ; leur année commençoit quand le soleil entroit dans la constellation que nous nommons le Bélier ; leurs semaines furent toûjours de sept jours, & chaque jour porta le nom d’une des sept planetes. L’Arithmétique n’y étoit pas moins perfectionnée ; les chiffres dont nous nous servons, & que les Arabes ont apportés en Europe du tems de Charlemagne, nous viennent de l’Inde.433

Im Eintrag Arabes wird explizit (in einem philosophisch-dialogischen Modus) diskutiert, ob man sie als Philosophen bezeichnen könne. Der Eintrag kommt allerdings zu dem Schluss, dass dies nicht möglich sei, da die Wissensfelder jene der Traumdeutung und der Rätselauflösung seien – keine philosophischrationalen Gebiete sondern jene des affektiven Aberglaubens: Enfin Abulfarage est obligé de convenir qu’avant Islamisme même, à qui l’on doit dans ce pays la renaissance des lettres, ils entendoient parfaitement leur langue, qu’ils en connoissoient la valeur & toutes les propriétés, qu’ils étoient bons poëtes, excellens orateurs, habiles astronomes. N’en est-ce pas assez pour mériter le nom de philosophes ? Non, vous dira quelqu’un. Il se peut que les Arabes ayent poli leur langue, qu’ils ayent été habiles à deviner & à interpréter les songes, qu’ils ayent réussi dans la composition & dans la solution des énigmes, qu’ils ayent même eu quelque connoissance du cours des astres, sans que pour cela on puisse les regarder comme des philosophes ; car tous ces Arts, si cependant ils en méritent le nom, tendent plus à nourrir & à fomenter la superstition, qu’à faire connoître la vérité, & qu’à purger l’ame des passions qui sont ses tyrans. Pour ce qui regarde Pythagore, rien n’est moins certain que son voyage dans l’Orient ; & quand même nous en conviendrions, qu’en résulteroit-il, sinon que cet imposteur apprit des Arabes toutes ces niaiseries, ouvrage de la superstition, & dont il étoit fort amoureux ?434

Aber auch wenn ihnen einige Erkenntnisse und Errungenschaften zugesprochen werden, so erkennt der Text den Arabern doch die Weisheit der Philosophie ab: Nous accordons aussi volontiers que les Mages venus d’orient étoient des Arabes, qu’ils avoient quelque connoissance du cours des astres ; nous ne refusons point absolument cette science aux Arabes ; nous voulons même qu’ils ayent assez bien parlé leur langue, qu’ils ayent réussi dans les choses d’imagination, comme l’Eloquence & la Poésie: mais on n’en conclurra jamais, qu’ils ayent été pour cela des philosophes, & qu’ils ayent fort cultivé cette partie de la Littérature.435

433 Ebd. 434 Denis Diderot: Arabes. Etat de la Philosophie chez les anciens Arabes, in: Ders./Jean Le Rond d’Alembert (Hg.): Encyclopédie (ENCCRE). Bd. 1, S. 566–569, hier S. 568. 435 Ebd.

2.1 Figuren und Figurationen kolonialer Macht

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Ein Loblied hingegen findet sich im Eintrag zur Philosophie der Chinesen, die allen asiatischen Völkern weit überlegen seienund bedient damit einen sinophilen Diskurs Aufklärung:436 CHINOIS, (PHILOSOPHIE DES) s. m. plur. Ces peuples qui sont, d’un consentement unanime, supérieurs à toutes les nations de l’Asie, par leur ancienneté, leur esprit, leurs progrès dans les arts, leur sagesse, leur politique, leur goût pour la Philosophie, le disputent même dans tous ces points, au jugement de quelques auteurs, aux contrées de l’Europe les plus éclairées.437

Das größte Wissen in Geschichte und im Alltagsvollzug sammelten die Chinesen an, wie sich im Eintrag Bibliothèque finden lässt: Il est certain que toutes les Nations cultivent les Sciences les unes plus, les autres moins ; mais il n’y en a aucune où le savoir soit plus estimé que chez les Chinois. […] De cette nécessité d’étudier il s’ensuit, qu’il doit y avoir dans la Chine un nombre infini de livres & d’écrits, & par conséquent que les gens riches doivent avoir formé chez eux de grandes bibliotheques.438

Kulturelle und technische Errungenschaften werden den Chinesen in einer kulturtoleranten Geste zugesprochen, die jedoch auch als götzendienerisch und polygam konturiert werden: CHINE, (LA) Géog. grand empire d’Asie, […] Les Chinois sont fort industrieux ; ils aiment les Arts, les Sciences & le Commerce: l’usage du papier, de l’Imprimerie, de la poudre à canon, y étoit connu long-tems avant qu’on y pensât en Europe. Ce pays est gouverné par un empereur, qui est en même tems le chef de la religion, & qui a sous ses ordres des mandarins qui sont les grands seigneurs du pays: ils ont la liberté de lui faire connoître ses défauts. Le gouvernement est fort doux. Les peuples de ce pays sont idolatres: ils prennent autant de femmes qu’ils veulent.439

Im Eintrag zur Philosophie der Asiaten werden ausgerechnet die Christen als die Unwissendsten und als abergläubisch bezeichnet: ASIATIQUES. Philosophie des Asiatiques en général. Tous les habitans de l’Asie sont ou Mahométans, ou Payens, ou Chrétiens. La secte de Mahomet est sans contredit la plus

436 Vgl. zum Wissenstransfer aus Asien sowie insbesondere Wolfgang Reinhard: Die Unterwerfung der Welt. Globalgeschichte der Europäischen Expansion 1415–2015, München: Verlag C. H. Beck 2016, bes. S. 655 ff. 437 Denis Diderot: Chinois, Philosophie des, hier S. 341. 438 N. N. Bibliothèque, in: Denis Diderot/Jean Le Rond d’Alembert (Hg.): Encyclopédie (ENCCRE). Bd. 2, S. 228–240, hier S. 228. 439 N. N.: Chine, S. 339.

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nombreuse: une partie des peuples qui composent cette partie du monde a conservé le culte des idoles ; & le peu de Chrétiens qu’on y trouve sont schismatiques, & ne sont que les restes des anciennes sectes, & sur-tout de celle de Nestorius. Ce qui paroîtra d’abord surprenant, c’est que ces derniers sont les plus ignorans de tous les peuples de l’Asie, & peut-être les plus dominés par la superstition.440

Von der Wiege der Menschheit über ärmliche Menschen bis zum Ausgangspunkt der Pest reicht also das Spektrum der Funktionen und Beziehungen Asiens zum europäischen Menschen. Ergo: Der koloniale Andere taucht als kulturalistische Diskursfigur in der Encyclopédie in facettenreichen Beschreibungen auf, die ihn in seiner Humanität auszuloten suchen. Der philosophe breitet wie auf einem tableau die kulturellen Handlungen aus, die Praktiken und Sitten, die die kolonialen Anderen zur Organisation ihres Gemeinschaftswesens und identifikatorischen Stabilisierung ausbilden. Der taxinomische Richtwert, der der Vermessung des Menschlichen dient, ist dabei wiederum der europäische Maßstab. Stärker noch als in den Konstruktionen des kolonialen Anderen als ökonomische und moralische Diskursfigur spielt die kulturelle Differenz (zum Europäer) eine entscheidende Rolle, auf die die alteritären Kulturpraktiken ausgerichtet werden und die – trotz aller Abweichung – immer erklär- und beschreibbar sind. Und dieser machtvolle enzyklopädische Explikationsgestus bleibt selbst dann, wenn der philosophe unumwunden zugibt, wenige oder keine Informationen zu haben, wenn er Handlungen nicht nachvollziehen kann oder die kulturellen Errungenschaften anderer einräumt. Im Zentrum steht nur umso mächtiger der vernünftige, zivilisierte Europäer, der die Praktiken des kolonialen Anderen in evolutionistischen Argumentationsfiguren auf sich zu beziehen versteht und daran die eigenen Identitätskonstruktionen stabilisiert – sei es als abwertende Superiorität oder als aufwertende Zivilisationskritik. Fazit: Alteritätswissen in Diskursformationen Diese erste Sichtung zeigt, dass die geographischen Diskurse als moderne Wissenschaft das Wissen über den kolonialen Anderen in Kontinentallogiken vorstrukturieren: Die afrikanischen Anderen kommen primär als Völker und Stämme mit spezifischen Sitten und Gebräuchen zur Sprache; in den Indes Occidentales steht eher die Fauna, denn der Mensch im Vordergrund; während die Einträge, die sich mit den asiatischen Wissensbeständen auseinandersetzen, eher Stadtbeschreibungen und Geschichtsschreibung betreffen.

440 [Denis Diderot]: Asiatiques. Philosophie des Asiatiques en général, in: Ders./Jean Le Rond d’Alembert (Hg.): Encyclopédie (ENCCRE). Bd. 1, S. 752–755.

2.1 Figuren und Figurationen kolonialer Macht

213

Ökonomisches Wissen. Der koloniale Andere als Objekt von Handel und Wissen und als akteurielle Leerstelle. Wer in der kolonialen Welt nicht durch Handelsbeziehungen in Kontakt mit dem Europäer kommt, ist als Wissensbestand inexistent oder nur unter den Vorzeichenkolonialer Ökonomie aufgeführt. Damit ist das Handeln nicht nur Gradmesser für Zivilisiertheit oder gar Menschlichkeit des kolonialen Anderen, sondern auch Indikator für den Wissenshorizont des Europäers. Der Europäer vermisst die koloniale Welt: Er bestimmt ihre Ausmaße und Grenzen, die wiederum dort verlaufen, woökonomische Beziehungen enden. Der Handel mit Kolonialwaren, die durchaus auch ‹Menschenwaren› in Form von Sklaven sein können, ist ein Europa zentriertes und zentrierendes Unterfangen. Der Kolonialhandel bringt Subjekte hervor, die im Produktionsprozess dann aber wiederum unsichtbar bleiben, wie Drayton konstatiert: «And when knowledge enters commerce, as with sugar and other commodities, we tend to pay more honor to ist most recent vendors than we do to those who brought it out of the earth.»441 Die Verdinglichung, die Reifikation des kolonialen Anderen, ermöglicht es, eindeutige Positionen im Kolonialdiskurs zu etablieren: Agenz, Subjektstatus, Artikulation, Welterkenntnis liegen auf Seiten der Europäer; Ohnmacht, Objektstatus, Aphasie und Unwissenheit bzw. abergläubisch-religiöse Weltverkennung werden dem kolonialen Anderen zugeschrieben. Moralisches Wissen. Der koloniale Andere als (un-)gefährliches Gegenüber. Ob kriegerisch oder gastfreundlich: Anhand des Umgangs im Kontakt mit anderen Menschen vermisst der philosophe Menschlichkeit und Zivilisationsgrad, um zugleich die Gefahr, die von dem kolonialen Anderen ausgeht, einschätzen zu können. Ist er willfähriger Warenlieferant im europäischen Kolonialsystem? Kann er sich unterordnen und seine Bodenschätze, seine Ernten, Frauen, Werkzeuge zum Handel anbieten. Oder geht von ihm die Gefahr aus, dass er im nächsten Moment den europäischen Kolonialherren angreift und womöglich gar aufisst? Es ist nicht überraschend, dass zur Beschreibung des kolonialen Anderen und zu seinem Othering oder seiner Alienisierung gerade das Moment des Religiösen und des Despotismus als sehr dienliche Alteritätsmerkmale all jenen dienen, die sich der Aufklärung und dem Kampf gegen jegliche Autoritäten verschrieben haben. So werden Religion und Staatsführung genutzt zur Exotisierung, aber auch um den kolonialen Anderen in religiösem Zustand der Unmündigkeit und unterjocht von einem Despoten auf weiten Abstand zum aufgeklärten philosophe zu halten. Kulturelles Wissen. Der koloniale Andere als differentes Kulturwesen. Der koloniale Andere wird in dieser Wissensordnung entlang einer ganzen Reihe kul-

441 Richard Drayton: Synchronic Palimpsests: Work, Power, and the Transcultural History of Knowledge, in: Klaus Hock/Gesa Mackenthun (Hg.): Entangled Knowledge. Scientific Discourses and Cultural Difference, Münster/New York: Waxmann 2012, S. 31–50, hier S. 48.

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turalistischer Alltagspraktiken und -handlungen bemessen. Unterschiedlichste kulturtypische Lebensweisen werden in den Blick genommen: von religiösen, nomadischen, historiographischen, körperpolitischen bis hin zu handwerklichen bzw. technischen Riten und Praxen. Im Zentrum steht hierbei die Kulturbzw. Zivilisationsfähigkeit der kolonialen Anderen, so dass ein Panorama an kulturalistischen Merkmalen entsteht, das auf die Grundfrage der Anthropologie hinausläuft, inwiefern es sich bei den kolonialen Anderen um Menschen handelt.442 Eine der Grundfragen, die hinter den Beständen des kulturellen Wissens steht, ist jene danach, inwiefernes sich bei dem kolonialen Anderen um einen Menschen handelt. Die Welttour durch die Völker der Erde zeigt: Der Europäer hält den kolonialen Anderen machtvoll mittels Animalisierung, Barbarisierung oder Exotisierung auf Distanz und nutzt ihn für die eigene Selbstversicherung, wenn nicht gar Selbstidealisierung. Was sich einerseits als aufklärerische Selbstkritik und als kolonialkritische oder emanzipatorische, ja sogar abolitionistische Haltung ausnimmt, stellt andererseits jedoch wieder eine unmittelbare Rückkopplung an das Selbstverständnis und an die Selbstreflexivität des philosophe dar. Ob die anderen Völker nun von oben herab betrachtet werden oder sie zur Selbstkritik dienen: Stets wird der Andere – so scheint es – in eine kolonialistische, eurozentristische und egozentristische Diskurslogik eingebaut. White erkennt diese dialektische Funktion des Wilden schon in den späten 1970er Jahren: The notion of ‘wildness’ (or, in its Latinate form, ‘savagery’) belongs to a set of culturally self-authenticating devices which includes, among many others, the ideas of ‘madness’ and ‘heresy’ as well. These terms are usednot merely to designate a specific condition or state of being but also to confirm the value of their dialectical antitheses ‘civilization,’ ‘sanity,’ and ‘orthodoxy,’ respectively.443

Dabei scheint es gerade in der Zeit der Aufklärung kein Zufall zu sein, dass jener ‹Barbar› vermehrt auftaucht. Da gerade in jener Zeit jegliche Sinn stiftenden Systeme angegriffen und kritisiert werden, liegt für Bitterli die «Vermutung […] nahe, daß die Beschäftigung mit dem Barbaren und seinem attraktiven Doppelgänger [der edle Wilde, K. S.] in Zeiten an Interesse gewinnt, da der Mensch

442 Zur Frage der Anthropologie im 18. Jahrhundert vgl. Rudolf Behrens/Roland Galle (Hg.): Historische Anthropologie und Literatur. Romanistische Beiträge zu einem neuen Paradigma der Literaturwissenschaft, Würzburg: Königshausen & Neumann 1995. 443 Hayden White: The Forms of Wildness: Archaeology of an Idea, in: Edward J. Dudley/ Maximillian E. Novak (Hg.): The wild man within. An image in western thought from the Renaissance to Romanticism, Pittsburgh: University of Pittsburgh Press 1972, S. 3–38, hier S: 4.

2.1 Figuren und Figurationen kolonialer Macht

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sich in seiner eigenen Kultur nicht mehr fraglos geborgen fühlt».444 «Jedenfalls ist auffällig», fährt Bitterli fort, «wie die Beschäftigung mit dieser Thematik genau zu dem Zeitpunkt, da wohlbegründete, stabile Weltideen der Klassik der radikalen Infragestellung der Aufklärungsphilosophen weicht, erhöhte Aktualität gewinnt».445 Gleichwohl erfüllt der koloniale Andere in dieser Perspektive eine effektive kompensatorische Funktion, die der europäische philosophe nicht nur selbst formulieren, sondern auch selbst steuern kann. Die Wissensordnungen und Selbstbeschreibungen innerhalb des (französischen) Kolonialdiskurses sind nicht verunsichert oder destabilisiert, sondern stabilisieren sich selbst immer wieder neu – selbst in den Figuren der Selbstkritik durch den Edlen Wilden. Dies betont auch Garraway, die aufzeigt, dass die aufklärerische Kolonialkritik eher zur diskursiven Konsolidierung des Kolonialprojektes geführt hat, denn es in Zweifel zu ziehen: Rather than accepting at face value the philosophes’rhetorical opposition to colonialism, I propose that the dialogue was instead the essential device whereby Enlightenment philosophers simulated the kinds of contestation and debate that were absent from the metropolitan public sphere and that they deemed necessary to the reform of French colonial policies and ideology. In this respect, I argue, the eighteenth-century critique of colonialism ultimately contributed to a new colonial discourse based on Enlightenment conceptions of universal reason, individual freedom, and commercial globalization. By figuring a critique of French colonial power through fictionalized colonized subjects, Enlightenment thinkers anticipated as weIl the consent of those imagined colonized peoples to the reform proposals implied within the critique itself.446

Es zeigt sich allerdings auch in der Zusammenschau der Einträge, dass die Kategorisierungen und Systematisierungen des Wissens auf unterschiedlichsten Ebenen problematisch sind und in der Beschreibung werden. Dies betrifft etwa die Lokalisierung, da sich Grenzen politisch-historisch wie im sozio-geographischen Erkenntnisprozess verschieben und Länder (bspw. Türkei) über Kontinente hinweg verortet sind; die Historisierung, da die Frühgeschichte der europäischen Menschen insbes. die griechische und römische Antike durch Wissens- und Kulturtransfers mit Orient/Asien/Afrika verwoben ist und damit klare Differenzlinien zum kolonialen Anderen nicht mehr evident sind; oder die Kulturalisierung, da spezifische Attribute, man könnte auch sagen kulturell-ethnische Stereotype, nicht eindeutig spezifischen Ethnien zuzuordnen sind (vgl. hierzu die Ausfüh-

444 Urs Bitterli: Die Wilden und die Zivilisierten, S. 374. 445 Ebd. 446 Doris L. Garraway: Of Speaking Natives and Hybrid Philosophers, S. 210.

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2 Macht und Ambivalenz in den Narrationen des kolonialen Anderen

rungen von Fulda zu den Kulturmustern der Aufklärung447). Dabei zeigt sich auf einer autopoietischen wie autoreflexiven Ebene, dass dieses problematische Wissen oder Unwissen zum einen oftmals explizit reflektiert und offengelegt wird. Damit demonstriert die enzyklopädische Instanz ihre Fähigkeit zur szientifischen Nutzung von Informationsquellen, seine Gelehrsamkeit, das Wissen eines bestimmten Wissensgebietes zu überblicken und Lücken und Ungereimtheiten aufzudecken. In dieser Lesart wird in den Artikeln mittels einer souveränen Explikationsgeste aber zum anderen exponiert, dass mangelnde Information kein verunsicherndes Unwissen ist. Selbst Informationslücken oder -fehler dienen noch dazu, die rationale Denkbewegung des philosophe zu illustrieren bzw. nachgerade in actu vorzuführen. Auch hier wird wieder sichtbar, dass der philosophe selbst sich vor das zu beschreibende Objekt stellt und eher selbst- und rückbezüglich das eigene Denken vorführt. Und so nimmt es auch nicht wunder, dass Stereotype probate und adäquate Beschreibungsformate für die Evozierung des kolonialen Anderen sind. Es geht in den Encyclopédie-Einträgen primär um die Repräsentationen, die Imaginationen und Phantasmen des kolonialen Anderen. Damitist aber auch wieder die reziproke Anlage kolonialer Alterität deutlich, die die kolonialistischen Attribuierungen des Anderen unmittelbar an das Selbstverständnis des philosophe knüpft. Und um dieses Wechselverhältnis in seiner globalen Dimension nochmals genauer in den Blick nehmen zu können, soll im Folgenden die Attribuierung des kolonialen Anderen im Verhältnis zum Selbstverständnis des philosophe fokussiert werden. Daraus folgen zwei (wiederum konsekutive) Konsequenzen: Erstens handelt es sich bei den Beschreibungen des kolonialen Anderen weniger um eine exakte und kontextualisierte Repräsentation spezifischer Gruppen anhand (vermeintlich) objektiver anthropologischer Kriterien, sondern um eine nahezu schematische Konstruktion von Typen des kolonialen Anderen. Zweitens ist diese Typologie auf ein epistemologisches Epizentrum hin ausgerichtet, in dem der philosophe steht. Daraus resultiert das Nähe-Distanz-Spektrum, an dessen Matrix entlang verschiedene Alteritätstypen entworfen werden.

2.1.1.2 Projektionsfiguren. Stereotype der Projektion Der philosophe am Schreibtisch. Ordnen, verwalten, beherrschen, verstehen – Barbares. Von der Antipode zum alter ego – Sauvages und bons sauvages. Negative und positive Spiegelbilder – Anthropophages. Das Monster des Menschenfressers – Fazit: Wissen über den kolonialen Anderen als Interaktions- und Projektionsfigur

447 Daniel Fulda (Hg.): Kulturmuster der Aufklärung, Halle: Mitteldeutscher Verlag 2010.

2.1 Figuren und Figurationen kolonialer Macht

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Die Einbettung des kolonialen Anderen in ökonomische, moralische oder kulturelle Diskurse befreit die enzyklopädische Instanz nicht von der Aufgabe, den kolonialen Anderen in Relation zu sich selbst zu beschreiben. Die Einordnungen gehen, wie in den vorangegangenen Textanalysen immer wieder deutlich geworden ist, mit Aussagen darüber einher, ob und in welchem Maße der koloniale Andere dem europäischen philosophe als Vergleichs- und Orientierungspunkt ähnelt oder von diesem abweicht. So ist hinter der diskursiven Zuordnung auch eine Positionsbestimmung notwendig, die mittels stereotyper Figuren bestimmbar wird. Den Konstruktionen des kolonialen Anderen liegt ein machtvolles Nähe-Distanz-Spektrum zugrunde, das die epistemologische und anthropologische Relation zum europäischen philosophe ausmisst und normativ und affektiv aufgeladen ist.Ausgehend vom philosophe im Zentrum, dessen Schreibtisch den Mittelpunkt des Kolonialsystems ausmacht, rückt der koloniale Andere in einige Distanz als historische Figur des Barbaren (von der Antipode zum Alter Ego), in weitere Ferne als zivilisatorische Figur des sauvage (als Gegenbild des Kriegerischen, Nomadischen, Atheistischen, Promiskuitiven etc.) sowie seiner zivilisationskritischen Subkategorie des bon sauvage (das positive Gegenbild des Edlen, Naturnahen, Gastfreundlichen) bis hin zum anthropologischen anthropophage (Monster des Menschenfressenden).

Der philosophe am Schreibtisch. Ordnen, verwalten, beherrschen, verstehen Der Ausgangspunkt der Wissensreise durch die Welt und Geschichte liegt, wie oben bereits ausgeführt, auf einem erhöhten Punkt über einem Wissenslabyrinth, von dem aus der philosophe alles überblicken und Wege von Umwegen unterscheiden und beschreiben kann.448 Überblick und Durchblick als Erkenntnisvoraussetzung und –modus sind von zentraler Bedeutung. In der Semantik und Logik des Kolonialdiskurses steht der wissende Europäer aber nicht nur über der Welt und sortiert hier die Wissensbestände, sondern er sitzt auch im kolonialökonomischen Zentrum: am Schreib- und Zahltisch. Hier befindet sich das Epizentrum des ökonomischen Kolonialwesens, hier breitet man Waren aus, nimmt Zahlungen und Verhandlungen vor: Comptoir, s. m. (Com.) a deux acceptions, l’une simple, & l’autre figurée: comptoir au simple, c’est une table ou un bureau sur lequel le négociant expose ses marchandises,

448 Er legt hier den Ariadnefaden, der aus dem unübersichtlichen Labyrinth von Details herausführt: «elles [les divisions, K. S.] dépendent d’un détail impossible, faute d’historiens qui puissent nous donner un fil capable de nous tirer de ce labyrinthe.» (Louis de Jaucourt: Europe, S. 211).

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2 Macht und Ambivalenz in den Narrationen des kolonialen Anderen

paye ou reçoit de l’argent &c. Au figuré, il se dit d’un lieu que les Européens ont fait, & qu’ils regardent comme le centre de leur commerce dans l’Inde, en Afrique, &c.449

Der Tisch ist insofern er einerseits ein emblematischer Ort, als er sowohl Schauplatz des globalen Kolonialhandels als auch der Wissensproduktion und der Verschriftlichung des Wissens ist. Andererseits ist der Schreibtisch auch jener Ort, an dem der philosophe auf sich selbst zurückgeworfen und mit sich allein ist. Hier schreibt er das Wissen auf, um sich selbst zu lesen. Nun stellt sich natürlich die Frage, wo denn dieser Schreibtisch stehen soll, d. h., was unter europäischem Handelszentrum zu verstehen ist.450 Der Eintrag Europe zeigt deutlich die unvermeidbare Verbindung mit der kolonialen Welt in einer geographischen Differenzierung/Distinktion aber auch in einer kulturellen Hierarchisierung. Etymologische, rassische, biologistische und physiognomische Merkmale werden hier akkumuliert. Europa zeigt sein ‹weißes Gesicht›: Europe, (Géog.) grande contrée du monde habité. L’étymologie qui est peut-être la plus vraisemblable, dérive le mot Europe du phénicien urappa, qui dans cette langue signifie visage blanc ; épithete qu’on pourroit avoir donné à la fille d’Agénor soeur de Cadmus, mais du moins qui convient aux Européens, lesquels ne sont ni basanés comme les Asiatiques méridionaux, ni noirs comme les Africains.451

Aufschlussreich ist, dass im Eintrag dann im Folgenden die Wissensproduktion und die damit einhergehenden Kategorisierungen und Beschreibungsverfahren problematisiert werden. Während in den Einträgen zu den anderen Kontinenten der Welt relativ problemlos Grenzen, Hierarchien und Definitionen ausgemacht werden, liegen die Dinge für den eigenen Kontinent, Europa, nicht so auf der Hand. Sowohl die Benennung der natürlichen, geographischen Grenzen erscheinen problematisch wie dann die Einteilung in Kontinente überhaupt: «Je ne sais si l’on a raison de partager le monde en quatre parties, dont l’Europe en fait une ; du moins cette division ne paroît pas exacte».452 Unproblematisch scheint die Benennung der kontinentalen Größe («la plus petite partie du monde»), die dann ins andere Extrem mündet: Europas – hier unter Berufung auf Montesquieu – unvergleichliche Macht: «comme le remarque l’auteur de l’esprit des lois, elle est parvenue à un si haut degré de puissance, que l’histoire n’a

449 Denis Diderot: Comptoir, S. 297. 450 Zu den Europa-Vorstellungen und dem Europa-Diskurs in der Aufklärung vgl. Dominic Eggel (Hg.): Europavorstellungen des 18. Jahrhunderts, Hannover: Wehrhahn 2009 sowie die Studien von Volker Steinkamp: L’Europe éclairée. Das Europa-Bild der französischen Aufklärung, Frankfurt a. M.: Klostermann 2003 und Volker Steinkamp: Europa, S. 193–200. 451 Louis de Jaucourt: Europe, S. 211. 452 Ebd.

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presque rien à lui comparer là-dessus, si l’on considere l’immensité des dépenses, la grandeur des engagemens, le nombre des troupes, & la continuité de leur entretien».453 Europa stehe über allem etwa durch seinen Handel, seine Navigationskunst, Aufklärung und Industrie. Es kommen also auch für die Beschreibung Europas der Ökonomie-, Technik- und damit Zivilisationsdiskurs zum Einsatz, indem Europa in diesen Bereichen als der unüberwindbare Maßstab gesetzt wird. Steinkamp unterstreicht gezielt den Überlegenheitsanspruch Europas in der Aufklärung, «das den Primat der eigenen Zivilisation behauptet und daraus einen eindeutigen Führungsanspruch Europas gegenüber der übrigen Welt [...] ableitet».454 Er zeigt dieses als diskursive Übernahmen und Entsprechungen in anderen großen Enzyklopädien der Aufklärung auf.455 Die Diskursordnungen zur Konstruktion des kolonialen Anderen werden auch hier zur Identitätsbestimmung genutzt und eindeutig zugunsten einer Suprematie des Europäers ausgelegt. Das Aufklärungsmoment (oder aber die Zensurbedrohung) und die Selbstreferenzialität der Encyclopédie zeigen sich dann aber in der Folge des EuropeEintrags auch noch einmal sehr explizit. Denn das Christentum wird als wichtigster Wissensbestand gefeiert, der der Gesellschaft nur zu Glück gereicht – und dies ist sicherlich auch als Zugeständnis an an die drohende Zensur zu werten. Die Encyclopédie schreibt sich, durch das Selbstzitat ihres Titels, in die Wissensgeschichte Europas ein: «l’Europe [...] est la plus considérable de toutes par [...] la connoissance des Arts, des Sciences, des Métiers, & ce qui est le plus important, par le Christianisme, dont la morale bienfaisante ne tend qu’au bonheur de la société.»456 Trotz der expliziten Zentralität von Schreibtisch und Kontinent ist der europäische Wissensraum global verflochten. Die Grenzen Europas sind schon lange nicht mehr an den Küsten oder Gebirgen festzumachen. Durch den Eintritt in die globalen Dimensionen des Kolonialwesens und die damit einhergehenden Entdeckungen und Reisen, steht Europa immanent in Verbindung mit der kolonialen Welt: durch Erzählungen, Schriftstücke, Waren- und Menschenströme (vgl. dazu bspw. den Eintrag zur Stadt Sevilla, in der die Schiffsflotten Gold und Silber aus der Neuen Welt anlanden457). Der aufklärerische Europa-Diskurs der Aufklärung, wie es sich in der Encyclopédie darstellt, ist folglich einer der Ver-

453 454 455 456 457

Ebd. Volker Steinkamp: Europa, S. 196. Vgl. ebd. Ebd. Vgl. Louis de Jaucourt: Séville, S. 132–136.

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flechtung und Überlegenheitsdemonstration.458 Die Kolonien werden, wie bereits im gleichnamigen Eintrag gesehen, innerhalb der Encyclopédie-Artikel unter ökonomischen Gesichtspunkten abgehandelt. Europa subsumiert die koloniale Welt als Teil des eigenen Handelssystems, stellt damit aber auch die globalen Handelsverflechtungen aus. Und so ist es nicht verwunderlich, dass der Kolonialdiskurs und insbesondere die Diskursivierung des kolonialen Anderen nicht nur in den Artikeln zur außereuropäischen Welt artikuliert werden. Als Waren, so wurde weiter oben schon deutlich, ist die koloniale Welt schon lange präsent auf den europäischen und französischen Märkten, in den Kochtöpfen, den Salben oder Kleidungen. So wie der europäische philosophe, wie wir gesehen haben, in den Einträgen zur kolonialen Welt immer wieder präsent ist und sich als Bezugspunkt und machtvoller Orientierungsrahmen generiert (beispielhaft sei der Eintrag zur afrikanischen Stadt Utique genannt, der sich in erster Linie um die Verdienste und den Lobgesang auf Cato dreht,459 so ist auch die koloniale Welt schon lange im europäischen Zentrum angekommen. Darum wird die enzyklopädische Angelegenheit auch immer dann besonders brisant, wenn es um die Bestimmung vermeintlich genuiner zivilisatorischer oder aufklärerischer Errungenschaften und Fähigkeiten des europäischen philosophe handelt. Weiter oben wurde ja bereits ausgeführt, dass sich der philosophe in der Encyclopédie als eine Art Kartograph, Navigator oder Wegweiser versteht. Er entwirft die Wissenskarten der Welt, zeichnet Zentren und Peripherien ein, Wege und Umwege, Verbindungen und Trennlinien. Diese Metaphorik schließt Wissensproduktion und die kolonialen Entdeckungsdiskurse seit dem 15./16. Jahrhundert kurz. Im besonderen Ausmaß findet dies im Eintrag zur Schweiz statt, was durchaus eine Reaktion auf den ‹Genfer Streit› zwischen d’Alembert und Diderot sein, der die beiden Herausgeber entzweite und d’Alembert zum Ausstieg aus der Encyclopédie bewog.460 Die Relevanz der Schweiz und ihre Überlegenheit wird (in der Kontrastierung zu den Sklaven in Asien, Afrika oder Amerika) durch ihr Menschenbild begründet: «Je me suis étendu sur la Suisse, & je n’ai dit que deux mots des plus grands royaumes d’Asie, d’Afrique & d’Amérique ; c’est que

458 Selbst ein Eintrag wie der zum Erzbischof kommt nicht ohne Verweise auf dessen Funktion und Einfluss (in der Geschichte) in Afrika aus (vgl. Edmé-François Mallet: Archevêque, S. 612). 459 Vgl. Louis de Jaucourt: Utique, in: Denis Diderot/Jean Le Rond d’Alembert (Hg.): Encyclopédie (ENCCRE). Bd. 17, S. 559–561. 460 Vgl. Robert Darnton: The business of enlightenment. A publishing history of the Encyclopedie, 1775–1800.

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tous ces royaumes ne mettent au monde que des esclaves, & que la Suisse produit des hommes libres.»461 Die Schweiz entspricht in der Folge allen aufklärerischen Idealen: finanzielle Sicherheit/Reichtum, Glück und Weisheit («les habitans y vivent heureux: les solides richesses qui consistent dans la culture de la terre, y sont recueillies par des mains sages & laborieuses»462), Toleranz, prosperiende Wissenschaft und Kunst. Im Widerspruch zur Omnipräsenz des Kolonialdiskurses bzw. kolonialistischer Rhetorik im Zusammenhang mit Wissensproduktion scheint der Encyclopédie-ArtikelPhilosophezu stehen. Er kommt ohne den Hinweis auf die (reale) koloniale Welt aus. Der Philosoph wird in erster Linie als aufklärerisches (nahezu ahistorisches oder radikal zeitgenössisches) Ideal skizziert und auf seine Gesinnung und seine Nützlichkeit für die Gesellschaft hin fokussiert. Unter der Maxime der Vernunft versucht er jegliche störenden Affekte zu vermeiden: «Ainsi il évite les objets qui peuvent lui causer des sentimens qui ne conviennent ni au bien-être, ni à l’être raisonnable».463 Er hat sich der Wahrheit verschrieben und erkennt Falsches, Zweifelhaftes oder aber Wahrscheinliches: La vérité n’est pas pour le philosophe une maîtresse qui corrompe son imagination, & qu’il croie trouver par-tout ; il se contente de la pouvoir démêler où il peut l’appercevoir, Il ne la confond point avec la vraissemblance ; il prend pour vrai ce qui est vrai, pour faux ce qui est faux, pour douteux ce qui est douteux, & pour vraissemblable ce qui n’est que vraissemblable. Il fait plus, & c’est ici une grande perfection du philosophe, c’est que lorsqu’il n’a point de motif propre pour juger, il fait demeurer indéterminé.464

Diese Textpassage ist aus mehreren Gründen für die Analyse der Wissenskonstruktionen interessant. Zum Ersten werden hier Wahrheit und Imagination explizit kontradiktorisch kontrastiert, indem dem philosophe die Aufgabe zukommt, sich von seiner Imagination nicht korrumpieren zu lassen. Dies widerspricht der von d’Alembert angelegten Konzeption des Wissens, das sich sowohl aus Imagination, Erinnerung und Vernunft generieren kann. Zum Zweiten eröffnet es ein aufklärerisches Moment der Unentschlossenheit und des Zweifelns, das nun autoritär aufgeladen wird. Dem philosophe ist weder aufgetragen, in allen Wissensobjekten die Wahrheit zu finden, noch muss er zu einem definitiven und definitorischen Schluss in seinen Beurteilungen kommen. Er dürfe und müsse geradezu «indéterminé» bleiben, wenn sich kein Urteil bilden lasse. In dieser Volte wird

461 Louis de Jaucourt: Suisse, la, in: Denis Diderot/Jean Le Rond d’Alembert (Hg.): Encyclopédie (ENCCRE). Bd. 15, S. 646–648, hier S. 648. 462 Ebd. 463 Gabriel François Venel: Philosophes (Alchimie et Chimie), S. 511. 464 Ebd.

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dann aus dem Moment einer epistemischen Unsicherheit eines der epistemischen Autorität. Und zum Dritten ist die rationale im Sinne von nicht durch Imagination oder Gefühle beeinflusste Wissensgenese eine enzyklopädische Haltung, die dem philosophe insbesondere in den Beschreibungen des kolonialen Anderen einiges abverlangt. Hier ist der philosophe nolens volens affektiv involviert, weil sich im relationalen und reziproken Vergleich jenes Anderen mit dem Selbst stets Anteilevon Sympathie und Antipathie, von Empathie, von Angst und Abscheu mit Bewunderung oder erotischer Faszination mischen. Keineswegs ist es ja in den Beschreibungen der kolonialen Anderen so, dass der philosophe sich emotional auf Abstand halten kann, da Deskription, Evaluation und Emotion koinzidieren. Und zwar nicht nur in Bezug auf den kolonialen Anderen – darauf werde ich in der weiteren Typologie noch zurückkommen – sondern auch in Bezug auf das europäische Selbst. Wissenskonstruktion. Während Europa als geographisch-historischer Referenzrahmen der Encyclopédie festgelegt wird, und der philosophe als aufklärerischer Typus der rationalen Weltvermessung zu ihrem Akteur avanciert, ist die Konstruktion von Wissen ihre politisch-philosophische Treibkraft. Der philosophe zeichnet sich durch vernünftiges Denken aus, das wiederum unmittelbar an Erkenntnisse und Wissen gekoppelt ist, wie auch das Wissen der Aufklärung idealerweise durch den philosophe hergestellt wird.465 Nun ist bereits in den oben ausgeführten Analysen zur Selbstkonstruktion des europäischen philosophe, der von seinem Schreibtisch ausgehend die Welt vermisst und hier Wahres von Falschem und Wahrscheinlichem unterscheidet, deutlich geworden, dass die Denkoperation der raison den Königsweg des großen Aufklärungsprojektes Encyclopédie darstellt. Und insbesondere im Nachgang zu den durchaus haarsträubenden Geschichten und Legenden der anthropophagischen Völker ist der philosophe herausgefordert, die Kenntnisse zu sammeln und aufzuschreiben, vor allem aber sie argumentativ zu verketten und zu bewerten. Handelt es sich bei den Geschichten der Reisenden und der Forschungen der Gelehrten der Welt um Phantasien oder Tatsachenberichte? Handelt es sich um Geschichtsschreibung oder Legende? Und wo verlaufen da die Differenzachsen? Insbesondere bei jenen Wissensgebieten, bei denen Erfahrungswissen und Wissen, das aus Texten bezogen wird, derart divergieren wie bei den Beschreibungen der Menschen in der kolonialen Welt, ist der philosophe auf sein Urteilsvermögen zurückgeworfen und hat zugleich die Pflicht, seine Denkoperationen

465 Die drei Gelehrtentypen, die grob den enzyklopädischen Wissensbereichen der mémoire, raison und imagination zugeordnet sind und die das Wissen generieren, sind laut d’Alembert die érudits, die philosophes sowie die beaux-esprits (vgl. Jean le Rond d’Alembert: Discours préliminaire, S. 102.

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transparent zu machen. So ist es nicht verwunderlich, dass nicht nur in den Artikeln zu den kolonialen Anderen immer wieder räsonniert wird, ob und in wiefern sich die geschilderten Informationen faktisch oder eher fiktiv einzuordnen sind, sondern auch in den Artikeln zur Imagination und Fiktion überhaupt. Im Artikel Fiction wiederum lotet Marmontel das Verhältnis zwischen Fiktion, Wissen und Imagination aus, indem er Imagination als mimetische Kopie degradiert, während er vier Arten («genres») von Fiktion unterscheidet: «le parfait, l’exagéré, le monstrueux, & le fantastique». Dabei ist die Wahrheit ein wichtiges Element, das sich – so Marmontel – immer durchsetzen wird gegenüber dem Falschen und dem Fehlers und überdies universell für alle Zeiten und Länder ist: «tout ce qui est faux est passager: l’erreur elle-même méprise l’erreur: la vérité seule, ou ce qui lui ressemble, est de tous les pays & de tous les siecles.»466 Selbst sprachlich schlägt sich die Problematik nieder über Länder zu sprechen, von denen man nur wenig weiß. Das berücksichtigt einerseits die oben angeführten Phrasen darüber, das nur wenig, nichts oder kaum etwas bekannt sei zu spezifischen Völkern und ihren Lebensweisen in der kolonialen Welt. Das betrifft aber auch das Sprachvermögen selbst. Unter En & Dans etwa tritt unvermittelt die koloniale Welt ein, indem an Asien und China die unlogische Verwendung der Partikel «en» und «dans» erläutert wird. Cette distinction d’idée vague & indéterminée ou de sens général pour en, & de sens plus individuel & plus particulier pour dans ; cette distinction, disje, a son usage ; mais on trouve des occasions où il paroît qu’on n’y a aucun égard, ainsi l’on dit bien il est en Asie, sans déterminer dans quelle contrée ou dans quelle ville de l’Asie il est ; mais on ne dit pas il est en Chine, en Pérou, &c. on dit à la Chine, au Pérou, &c.467

Doch die Argumentation bleibt nicht bei diesem unlogischen Gebrauch der Partikel stehen, sondern sucht nach den Gründen dafür und vermutet sie in der Distanz und der Unwissenheit über die Länder: «Il semble que l’éloignement & le peu d’usage où nous sommes de parler de ces pays lointains, nous les fasse regarder comme des lieux particuliers.»468 Fasst man nun Sprachvermögen und Imagination bzw. Fiktion zusammen, so überrascht es nicht, dass auch in den Einträgen zu literarischen Formen der Sprache Hinweise auf die koloniale Welt vorhanden sind: Hier räsonnieren die

466 Jean-François Marmontel: Fiction, in: Denis Diderot/Jean Le Rond d’Alembert (Hg.): Encyclopédie (ENCCRE). Bd. 6, S. 679–683, hier S. 680. 467 César Cheneau Du Marsais: En & Dans, in: Denis Diderot/Jean Le Rond d’Alembert (Hg.): Encyclopédie (ENCCRE). Bd. 5, S. 603–604, hier S. 603. 468 Ebd.

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enzyklopädischen Instanzen über die Universalität von sprachlichen Kunstformen, wie etwa den Reim. Im Eintrag zum Rime gibt es einerseits die historische Argumentation, dass der Reim seinen Ursprung in der «barbarie de nos ancêtres»469 habe. Jene Völker hätten, obwohl barbarisch, auch schon ihre Poeten gehabt. Nach einigen Überlegungen zu den Völkervermischungen und sprachgeschichtlichen Entwicklungen470 kommt die enzyklopädische Instanz zu der Aussage, dass auch in Asien und Amerika Reime etabliert seien. Dabei werden hier die barbarischen Wurzeln europäischer Reimkunst unterstrichen und en passant ein Hierarchiedenken zwischen europäischen und barbarischen Völkern in Abrede gestellt: [...] la plûpart de ces peuples rimeurs sont barbares ; & les peuples rimeurs qui ne le sont plus, italiens, françois, anglois, espagnols & qui sont des nations polies, étoient des barbares & presque sans lettres lorsque leur poésie s’est formée. Les langues qu’ils parloient n’étoient pas susceptibles d’une poésie plus parfaite, lorsque ces peuples ont posé, pour ainsi dire, les premiers fondemens de leur poétique. Il est vrai que les nations européennes, dont je parle, sont devenues dans la suite savantes & lettrées ; mais comme leurs langues avoient déja ses usages établis & fortifiés par le tems, quand ces nations ont cultivé l’étude judicieuse de la langue grecque & de la latine, elles ont bien poli & rectifié ces usages, mais elles n’ont pu les changer entierement.471

Nun dient die Poesie, oder allgemeiner gesprochen: dienen Kunst und Literatur, durchaus der Wahrheitsfindung. Normativ-poetisch soll die Fiktion gar der verschönerten Wahrheitsabbildung dienen: «La fiction doit donc être la peinture de la vérité, mais de la vérité embellie, animée par le choix & le mélange des couleurs qu’elle puise dans la nature.»472 Dies ist von d’Alembert ja bereits durch die Platzierung der Imagination schon in das enzyklopädische Projekt konzeptuell eingelassen. Die Wissensgenese bzw. die Bewertung der Nützlichkeit des enzyklopädischen Wissens findet nun in einem berühmten Eintrag zu einer amerikanischen Pflanze ihren Höhepunkt. Dort wird der Nutzen bzw. die Unnützigkeit von Wissen thematisiert und beinahe ridikulisiert und damit der selbstkritische Auftrag der Encyclopédie metareferenziell vorgeführt:

469 N. N. Rime, hier: S. 291. 470 Analog ist auch die Argumentation von Voltaire zum Begriff «Garant»: Garant, adj. pris subst. (Hist.) est celui qui se rend responsable de quelque chose envers quelqu’un, & qui est obligé de l’en faire joüir. Le mot garant vient du celte & du tudesque warrant.» (Voltaire: Garant, in: Denis Diderot/Jean Le Rond d’Alembert (Hg.): Encyclopédie (ENCCRE). Bd. 7, S. 479– 480. 471 N. N. Rime, S. 291. 472 Jean-François Marmontel: Fiction, S. 680.

2.1 Figuren und Figurationen kolonialer Macht

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AGUAXIMA, (Hist. nat. bot.) plante du Brésil & des isles de l’Amérique méridionale. Voilà tout ce qu’on nous en dit ; & je demanderois volontiers pour qui de pareilles descriptions sont faites. Ce ne peut être pour les naturels du pays, qui vraissemblablement connoissent plus de caracteres de l’aguaxima, que cette description n’en renferme, & à qui on n’a pas besoin d’apprendre que l’aguaxima naît dans leur pays ; c’est, comme si l’on disoit à un François, que le poirier est un arbre qui croît en France, en Allemagne, &c. Ce n’est pas non plus pour nous ; car que nous importe qu’il y ait au Brésil un arbre appellé aguaxima, si nous n’en savons que ce nom ? à quoi sert ce nom ? Il laisse les ignorans tels qu’ils sont ; il n’apprend rien aux autres: s’il m’arrive donc de faire mention de cette plante, & de plusieurs autres aussi mal caractérisées, c’est par condescendance pour certains lecteurs, qui aiment mieux ne rien trouver dans un article de Dictionnaire, ou même n’y trouver qu’une sottise, que de ne point trouver l’article du tout.473

In diesem berühmten Artikel zeigt sich die aufklärerische Rhetorik in mehrerer Hinsicht: Es geht um die Reflexion des Nutzens von Wissen ; es zeigt sich aber auch eine (selbst-)ironische Kommentierung exotischen Wissensbestandes. Ähnliches findet sich im Eintrag zur Colinil-Pflanze, «dont voilà le nom ; n’ayant rien à dire de ses caracteres, j’ai cru pouvoir omettre ses propriétés»474 oder über die Pflanze Colcaquahuitl: «plante de l’Amérique. Voilà le nom ; le reste est à connoître, excepté les propriétés, sur lesquelles Ray s’est fort étendu.»475 Es stellt sich die Frage, ob und in welcher Form etwa botanisches Spezialwissen in der Encyclopédie sinnvoll sein kann. Die exotische Pflanzenart der Ficoïdes etwa, die nur den Fachleuten bekannt sein dürfte: FICOÏDES, (Bot. exot.) genre de plante exotique, qui n’est connue que des Botanistes & des curieux, & beaucoup plus en Hollande & en Angleterre, qu’en France & en Allemagne. […] Presque tous les ficoïdes sont originaires d’Afrique, sur-tout des environs du cap de Bonne-Espérance dont nous les tirons.476

An anderer Stelle wird das Wissen nicht nur als ein lokales markiert, sondern teilweise auch dem geistigen Niveau und Anspruch der Leserschaft angepasst. So etwa in Diderots Eintrag zu Achanaca, den er für die Afrikaner noch passend findet, für «uns» aber als nicht ausreichend erachtet: «Cette description seroit passable pour des Africains: mais elle est insuffisante & mauvaise pour nous. C’est une réflexion qu’on n’a que trop souvent occasion de faire sur la botani-

473 Denis Diderot: Aguaxima, S. 191. 474 N. N.: Colinil, in: Denis Diderot/Jean Le Rond d’Alembert (Hg.): Encyclopédie (ENCCRE). Bd. 3, S. 618. 475 N. N.: Colcaquahuitl, in: Denis Diderot/Jean Le Rond d’Alembert (Hg.): Encyclopédie (ENCCRE). Bd. 3, S. 613. 476 Louis de Jaucourt: Ficoïdes, S. 678.

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que des plantes étrangeres.»477 Die Frage nach der Nützlichkeit von Informationen bezieht sich auch und diskurstheoretisch gesehen: insbesondere im Bereich der Benennung. Die machtvollste Art der Wissensproduktion aber ist, und dies hat sich schon in den sprachgeschichtlichen Herleitungen gewisser Wissensbestände angedeutet, die des naming. Hier werden sehr eindrücklich und machtvoll koloniale und epistemische Besitzverhältnisse ausgedrückt. Beispiele dafür finden sich in der Encyclopédie zuhauf, weil doch ein nicht gerade marginaler Teil der enzyklopädischen Einträge zur kolonialen Welt mit der Benennung durch die Europäer einsetzen. Damit ist gleichzeitig die Rückbindung an das europäische Kolonialprojekt und die Hierarchie von sprechendem und wissendem Subjekt und aphasischem und unwissendem Objekt deutlich vor Augen geführt (und nicht zuletzt auch eine strukturelle Ähnlichkeit zur Taufe alludiert). Ad absurdum wird dieses naming in einem Artikel geführt, der dann gar keine Informationen mehr enthält, sondern allein die unterschiedlichen Bezeichnungen für einen afrikanischen Küstenabschnitt enthält: Zeng, (Géog. mod.) mot arabe qui désigne cette côte orientale de l’Afrique, sur la mer des Indes que nous appellons aujourd’hui le Zanguebar ; c’est une partie de ce qu’on nomme la Cafrerie, ou côte des Cafres ; les peuples qui l’habitent s’appellent aussi en arabe Zengi, & en persien Zenghi ; ce sont proprement ceux que les Italiens appellent Zingari, & que l’on nomme ailleurs Egyptiens ou Bohémiens.478

Beim Akt des naming geht es um den Versuch einer Etymologie und/oder um die Kennzeichnung der europäischen ‹Taufgeste›, bei der sich der Name aus den Riten, Gewohnheiten oder Sprachäußerungen der Völker ableitet. Auffällig ist in dieser Textpassage, dass die Namensgebung, die ja aus Unwissenheit über den Eigennamen des Volkes erfolgt, nicht als Geste der deklamatorischen Ohnmacht, sondern als beiläufige, wenn nicht gar souveräne Handlung beschrieben wird. Die Wissensgenerierung im Falle des naming ist folglich gekoppelt an eine deutliche Machthierarchie, die sich auf der Ebene von Wissen und Unwissen, Sprache und Aphasie, Subjekt und Objekt der Erkenntnis zugunster der Europäer ausdeutet. Das naming wird sogar als onomatopoetisches Verfahren ausgewiesen, indem etwa die Holländer für afrikanische Völker ‹sprechende› Namen finden: so auch die Quaqua.479

477 Denis Diderot: Achanaca, in: Ders./Jean Le Rond d’Alembert (Hg.): Encyclopédie (ENCCRE). Bd. 1, S. 95. 478 Louis de Jaucourt: Zeng, in: Denis Diderot/Jean Le Rond d’Alembert (Hg.): Encyclopédie (ENCCRE). Bd. 17, S. 704. 479 Vgl. N. N. Quaqua, les, in: Denis Diderot/Jean Le Rond d’Alembert (Hg.): Encyclopédie (ENCCRE). Bd. 13, S. 658.

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Oftmals spielt die Namensgebung im Eintrag eine explizite Rolle, da sie Auskunft über den Wissensstand über das zu beschreibende Objekt gibt und gleichzeitig die Informationen immer immanent mit der europäischen Wissensproduktion verknüpft: «AMORAVIS, nom que nos anciens romanciers donnent aux Sarrasins ou aux Maures d’Afrique. L’étymologie de ce nom ressemble à beaucoup d’autres, qu’on ne lit point sans se rappeller l’épigramme du chevalier d’Aceilly.»480 Auch die alten Griechen wendeten diese Beherrschungsgeste auf der sprachlich-denominativen Ebene an. Damit wird die Geste des namings im Eintrag Liguriens (ähnlich auch im Eintrag zur afrikanischen Stadt Zama481) als eine genuin westlich-europäische und machtvolle Strategie der sprachlichen Dominanz historisch fundiert und legitimiert: Les Grecs ont souvent imposé aux nations d’Europe, d’Asie & d’Afrique, des noms sous lesquels nous les reconnoissons encore aujourd’hui, parce qu’ils les ont tirés de quelque qualité morale ou corporelle qui leur étoit particuliere.482

Barbares. Von der Antipode zum alter ego Die Beschreibung des kolonialen Anderen gerinnt oftmals in der Encyclopédie zur einer Wiederholung und recht kurzen Wiedergabe bekannter Stereotype. Dies sind Diskursfiguren, die tief inder europäischen Geschichte verankert sind, die mit einem bekannten Set an Alteritätsmerkmalen recht einfach auf die kolonialen Anderen der Neuen Welt appliziert werden können und die überdies in unterschiedlichem Maße als Kontrastfolie zum europäischen Selbst dienen. Als Projektionsfiguren sind sie, wie bereits aus den diskursiven Alteritätsfiguren deutlich wurde, weniger beschriebene Alteritätssubjekte, als vielmehr Objekt der europäischen Selbstversicherung qua Othering. Eine der paradigmatischen Projektionsfiguren der Alteritätskonstruktion ist der Barbar. Diese tradierte Alteritätsfigur, deren Wortsuche in der Encyclopédie zu knapp 700 Fundstellen führt,483 scheint mir aus thematisch-inhaltlichen, kulturphilosophischen und poietischen Gründen sinnvoll. Die unterschiedlichen in-

480 Denis Diderot: Amoravis, S. 366. 481 Vgl. Louis de Jaucourt: Zama, S. 689–690. 482 N. N.: Liguriens, in: Denis Diderot/Jean Le Rond d’Alembert (Hg.): Encyclopédie (ENCCRE). Bd. 9, S. 530. 483 Es finden sich laut Recherchetool der ENCCRE-Ausgabe 408 Fundstellen zum Begriff «barbares» und 273 Fundstellen für «barbare», 112«barbares»-Fundstellen und 50 «barbare»Fundstellen davon im Wissensgebiet Geographie (vgl. Diderot, Denis/d’Alembert, Jean Le Rond (Hg.): Encyclopédie (ENCCRE). Bd. 8, S. 165–167. Diese Zahlen unterstreichen bereits die Transformation der historischen Diskursfigur der Alterität in eine geographisch-kolonialistische.

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haltlichen Merkmale der ökonomischen, moralischen und kulturellen Alteritätsfiguren, die im vorangegangenen Kapitel analysiert wurden, entsprechen (verblüffend kongruent) jenen tradierten Charakteristika, die in der Forschung für das Stereotyp des Barbaren angeführt werden: So definiert etwa Todorov den Barbaren u. a. entlang dessen Sprachunfähigkeit oder Aphasie, Animalisierung, Asozialität in Form von Kriegsführung und Anthropophagie, Nomadismus und Unfähigkeit zur Freiheit (und deshalb lieber untertänige Unterwerfung), Erotisierung in Form von Schamlosigkeit und Promiskuität etc.484 Als generelle Merkmale macht Todorov aus: Barbaren sind diejenigen, die gegen die elementarsten Gesetze des menschlichen Zusammenlebens verstoßen [...]: Muttermord, Vatermord, Kindesmord einerseits und Inzest andererseits [...] Barbaren sind diejenigen, die sich von den anderen Menschen absolut unterscheiden [...], die systematisch Gewalt anwenden und Krieg führen [...] Das Gegenteil von Barbarei besteht hier in der Gastfreundschaft auch Fremden gegenüber oder in der Pflege von Freundschaft [...]. Ein weiteres Anzeichen für Barbarei: Es gibt Menschen, die selbst bei den intimsten Handlungen keine Rücksicht auf die anderen nehmen. [...] Barbaren sind diejenigen, die in vereinzelten Familienverbänden leben, anstatt sich zu Siedlungen zusammenzuschließen oder, besser noch, Gesellschaften zu bilden [...]. Barbaren sind diejenigen, die nicht anerkennen, dass die anderen Menschen sind wie sie selbst, sondern sie in die Nähe von Tieren rücken, indem sie sie verspeisen; pder soe sprechen ihnen die Fähigkeit zu rationalem Denken und somit zum Verhandeln ab [...]; oder sie halten sie nicht für würdig, ein freies Leben zu führen [...]; sie verkehren nur mit ihren eigenen Blutsverwandten und wissen nichts von einem [...] Gemeinwesen [...].485

Kulturphilosophisch bildet der Barbar zudem die antithetische Kontrastfolie für das zivilisierte Selbstbild des europäischen Aufklärers – sei es nun dämonisiert oder idealisiert. Der Barbar fungiert insofern als probater Antagonist, die (allein) der Selbsterzählung des europäischen philosophe dient. Schon 1989 pointierte Todorov im Vorwort zu Nous et les autres diesen Rückkopplungseffekt: «Les barbares sont ceux qui croient que les autres, autour d’eux, sont barbares.»486 Die Art dieser Fremdkonstruktion ist dabei immanent imaginativ und po(i)etisch, denn der Barbar dient als narrativ-tradierte Figur auch (und vielleicht in erster Linie) der stabilisierenden Selbsterzählung. Müller-Funk führt Identitätsbildung und Narration zusammen, indem er die Funktion des Fremden im klassischen Narrativ der okzidentalen Philosophie und Literatur darin ausmacht, dass das

484 Vgl. Tzvetan Todorov: Die Angst vor den Barbaren. Kulturelle Vielfalt versus Kampf der Kulturen, Bonn: Landeszentrale für politische Bildung [2008] 2011, S. 28 ff. 485 Ebd., S. 29 f. 486 Tzvetan Todorov: Nous et les autres. La réflexion française sur la diversité humaine, Paris: Seuil 1989, S. 26.

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Ich stabilisiert und vertieft werden soll: «Der klassischen Narration liegt eine Matrix zugrunde, deren Kern darin besteht, ein kompaktes Ich zu konstituieren.»487 Auch im Encyclopédie-Eintrag Barbares werden diese zunächst dem Wissensbereich der Philosophie, dann dem Rechtswesen zugeordnet und als paradigmatische Gegenfiguren zum Europäer eingeführt. Als Begriff der griechischen Antike für all jene, die nicht sie selbst waren,488 weiten sie die Bezeichnung noch weiter aus. Sie nutzten die Figur des Barbaren um die extremste Distanz zu sich selbst zu kennzeichnen «l’extrème opposition qui se trouvoit entr’eux & les autres nations».489 Die Barbaren werden hier durch eine ex negativo-Argumentation machtvoll auf größtmöglicher Distanz gehalten. Barbaren seien unkultiviert: Sie hätten nicht am «progrès de l’esprit humain» teil; ihnen fehle es an einer gewissen «politesse»; sie seien primitiv (und immer noch mit einer «rudesse des premiers siecles» behaftet) und der Sprache der modernen Griechen nicht mächtig. Damit avancieren die Barbaren als Stereotype über die Aspekte des phylogenetischen Vorstadiums, der Unzivilisiertheit, der sprachlichen Unterentwicklung zur paradigmatischen, antithetischen Figur der Zivilisation. Und in dieser geographisch wie historisch dekontextuellen Form ist er auch auf andere Länder und Menschen übertragbar, sodass im Artikel weiter ausgeführt wird, dass sich der Begriff auch auf all jene anwenden lässt, die sich von den Franzosen und ihren Gebräuchen unterscheiden («tout ce qui s’éloigne de nos usages»490). Dass diese Distanz keineswegs horizontal angelegt ist, sondern ein deutliches Machtgefälle impliziert, zeigt sich in der pejorativen Lexik und in der ex negativo-Konstruktion des Anderen. Die Griechen – oder auch die Franzosen – generieren sich hier als Vergleichsebene und mehr noch: als zivilisatorischer Maßstab. Eine Argumentation der Degradierung und Diskriminierung ist die Folge, die auf einen zweiten zentralen Aspekt der Alteritätskonstruktionen hinweist: Die Figuren des Anderen entstehen nicht nur in einem relationalen, sondern auch in einem reziproken Verhältnis. Kurz gesagt scheint der Europäer immer nur so fortschrittlich, so modern, zivilisiert und vielleicht auch nur so aufgeklärt, wie er den kolonialen Anderen als Gegenspieler der Primitivität bezichtigen kann. Damit wird der Barbar als Antipode zu einer Art alter ego. Die

487 Wolfgang Müller-Funk: Theorien des Fremden, Tübingen: Narr Francke Attempto Verlag 2016, S. 127. 488 Im Eintrag Ame werden aus der Sicht der Griechen sogar die Ägypter als Barbaren bezeichnet: «l’ancienne philosophie des Barbares (sous ce nom les Grecs entendoient les Egyptiens comme les autres nations» Abbé Claude Yvon/Denis Diderot: Ame, in: Denis Diderot/Jean Le Rond d’Alembert (Hg.): Encyclopédie (ENCCRE). Bd. 1, S. 327–343, hier S. 327. 489 Abbé Claude Yvon/François Vincent Toussaint: Barbares, in: Denis Diderot/Jean Le Rond d’Alembert (Hg.): Encyclopédie (ENCCRE). Bd. 2, S. 68–69, hier S. 68. 490 Ebd.

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eigene Selbstversicherung oder Selbstidealisierung funktioniert folglich auf der Grundlage der Degradierung des kolonialen Anderen: der klassische Mechanismus des Othering. Die Machtposition erstreckt sich dabei nicht nur auf die Einordnung, Benennung und Differenzziehung zwischen Selbst und Anderem, sondern zieht auch weitere, Unterdrückung und Ausbeutung legitimierende Argumentationen nach sich. Neben der Argumentation der natürlichen oder biologischen Unterlegenheit der Anderen (hier sei nochmals auf den paradigmatischen Artikel zum Nègre491 verwiesen, in dem die biologische Unterlegenheit als Modell der Degeneration mit charakterlichen Verfehlungen und nicht zuletzt einem religiösen Motiv des Sündenfalls kombiniert wird und sich somit eine biologische wie ideologische Rechtfertigung der Kolonisierung und des Sklavenhandels scheinbar zwangsläufig ergeben muss) wird weiterhin formuliert, dass sich der Andere, der oftmals als Barbar labellisiert wird, durch eine geistige Unterlegenheit auszeichnet. Erziehungs- und Dominierungsbestrebungen innerhalb des europäischen Kolonialprojektes ergeben sich dann scheinbar zwangsläufig daraus. Inhaltlich werden Barbaren in erster Linie über ihre Unfähigkeit zu einer für die Griechen verständlichen Sprache identifiziert und charakterisiert. Dabei ist diese Sichtweise der Griechen auf die fremdsprachigen Barbaren als verachtungsvoll markiert («par mépris»): Barbares, adj. (Philosophie) c’est le nom que les Grecs donnoient par mépris à toutes les nations qui ne parloient pas leur langue, ou du moins qui ne la parloient pas aussi-bien qu’eux. Ils n’en exceptoient pas même les Egyptiens, chez lesquels ils confessoient pourtant que tous leurs philosophes & tous leurs législateurs avoient voyagé pour s’instruire.492

In der Folge geht es dann mehr um die Griechen und ihre Attribuierung als modern als um jene Barbaren. Das moderne Moment generiert sich dabei aus der Überlegenheit im Geschmack, im Anteil an der menschlichen Entwicklung, an der Eleganz der Sprache: les Grecs ne s’en servirent que pour marquer l’extrème opposition qui se trouvoit entr’eux & les autres nations, qui ne s’étoient point encore dépouillées de la rudesse des premiers siecles, tandis qu’eux-mêmes, plus modernes que la plupart d’entr’elles, avoient perfectionné leur goût, & contribué beaucoup aux progrès de l’esprit humain. Ainsi toutes les nations étoient réputées barbares, parce qu’elles n’avoient ni la politesse des Grecs, ni une langue aussi pure, aussi féconde, aussi harmonieuse que celle de ses peuples.493

491 Vgl. Alexandre Formey: Nègre, S. 76–79. 492 Ebd. 493 Ebd.

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In Analogie dazu benutzten die Römer zur Absetzung von fremden Anderen dasselbe Attribut des Barbaren, und der Text zieht unmittelbar den Vergleich zu den xenophoben Strategien der Franzosen: En cela ils furent imités par les Romains, qui appelloient aussi barbares tous les autres peuples, à l’exception des Grecs, qu’ils reconnoissoient pour une nation savante & policée. C’est à-peu-près comme nous autres François, qui regardons comme grossier tout ce qui s’éloigne de nos usages. Les Grecs & les Romains étoient jaloux de dominer plus encore par l’esprit, que par la force des armes, ainsi que nous voulons le faire par nos modes.494

Erst in der Folge wurde das Barbarische auch für die Bezeichnung und Abwertung von religiösen Gruppen angewendet, so in umgekehrter Dynamik von den Christen zur Bezeichnung der Römer: Lorsque la religion Chrétienne parut, ils n’eurent pas pour elle plus de ménagement qu’ils en avoient eu pour la philosophie des autres nations. Ils la traiterent elle-même de barbare ; & sur ce pié ils oserent la mépriser. C’est ce qui engagea les premiers Chrétiens à prendre contre les Grecs & les Romains, la défense de la philosophie barbare. C’étoit un détour adroit dont ils se servoient pour les accoutumer peu-à-peu à respecter la religion Chrétienne, sous cette enveloppe grossiere qui leur en déroboit toute la beauté, & à lui soûmettre leur science & leur orgueil.495

Im Folgenden wird, dramatisch aufgeladen (und weniger zitatgetreu als vielmehr Wissen authentifizierend) in einer wörtlichen Rede, die Reinheit und europäische Genese der Wissenschaften demontiert. Im Eintrag werden nun in einer intertextuellen Ansprache an die Griechen etwa Traumdeutung und Wahrsagen nach Italien verortet und den Karern zugeordnet und weitere Wissenschaften als außergriechische Errungenschaften bezeichnet: Tatien de Syrie, & disciple de S. Justin, leur a prouvé qu’ils n’avoient rien inventé d’euxmêmes, & qu’ils étoient redevables à ces mêmes hommes, qu’ils traitoient de barbares, de toutes les connoissances dont ils étoient si fort enorgueillis. " Quelle est, leur reprochoitil malignement, la science parmi vous, qui ne tire son origine de quelqu’étranger, Vous n’ignorez pas que l’art d’expliquer les songes vient de l’Italie ; que les Cariens se sont les premiers avisés de prédire l’avenir par la diverse situation des astres ; que les Phrygiens & les Isauriens se sont servis pour cela du vol des oiseaux, & les Cypriotes des entrailles encore fumantes des animaux égorgés. Vous n’ignorez pas que les Chaldéens ont inventé l’Astronomie ; les Perses la Magie ; les Egyptiens la Géométrie, & les Phéniciens l’art des Lettres. Cessez donc, ô Grecs, de donner pour vos découvertes particulieres, ce que vous n’avez fait que suivre & qu’imiter […].496

494 Ebd. 495 Ebd. 496 Ebd.

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Die enzyklopädische Instanz folgt aber diesem Aufruf nach Bescheidenheit nicht, sondern überhöht sie als jene, die als einziges Land fähig zur vernünftigen Überlegung seien und auf der Suche nach Wahrheit (im Gegensatz zu den sozusagen vor-wissenschaftlichen Tätigkeiten des Wahrsagens, der Astronomie und der Magie) seien: Quoi qu’il en soit de ces reproches, il est certain qu’ils sont les premiers inventeurs de cette philosophie systématique, qui bravant toute autorité, ne veut se laisser conduire qu’à la lueur de l’évidence dans la recherche de la vérité. La Philosophie des autres peuples, & même des Egyptiens, n’étoit, ainsi que nous l’avons remarqué à l’article de l’ame, qu’un amas de maximes, qui se transmettoient par tradition, & qui prenoient sur les esprits le même ascendant que les oracles de leurs dieux. Ce n’est qu’en Grece qu’on osoit raisonner ; & c’est aussi là le seul pays où l’esprit subtil & raffiné enfantoit des systèmes. La Philosophie des autres peuples, n’étoit, à proprement parler, qu’une Théologie mystérieuse. Ainsi l’on peut dire que les Grecs ont été les premiers philosophes, dans le sens rigoureux que l’usage attache à ce terme.497

Als juristischer Terminus werden die barbarischen Gesetze konkreten Völkern aus der Dekadenz-Zeit des römischen Reiches zugeordnet: Barbares (Lois) Jurisprudence ; ce sont celles qui furent faites lors de la décadence de l’empire Romain, par les différens peuples qui le démembrerent, tels que les Goths, les Visigoths, les Ripuariens, les Francs-Allemands, Anglo-Saxons, &c. Voyez au mot CODE.498

Ohne Schriftkenntnisse bzw. einsatz wurde die Rechtssprechung mündlich und in Kollektiven vorgenommen. Die schließliche schriftliche Fixierung sei durchsetzt von barbarischen Wörtern: On voit par ces lois la forme qui s’observoit dans les jugemens. Ils se rendoient dans de grandes assemblées où toutes les personnes de distinction se trouvoient. Pour les preuves, on se servoit plus de témoins que de titres, par la raison qu’on ne faisoit presqu’aucun usage de l’écriture, sur-tout dans les commencemens. Faute de preuves on employoit le combat, ou l’on faisoit des épreuves par les élémens. Voyez COMBAT & ÉPREUVE. […] Ces lois sont écrites d’un style si simple & si court, qu’il seroit fort clair si tous les mots étoient latins: mais elles sont remplies de mots barbares, soit faute de mots latins qui fussent propres, soit pour leur servir de glose.499

Die Barbarie wird zwar zunächst geographisch lokalisiert, dann aber weitestgehend als Liste von Städten, Ländern und den zugehörigen Handelswaren präsentiert. Auch der Aufstieg des Königreichs Mazedonien unter Alexander dem

497 Ebd. 498 Ebd. 499 Abbé Claude Yvon/François Vincent Toussaint: Barbares, S. 69.

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Großen, der ganz Griechenland und Asien und Teile Afrikas hinzufügt, wird im Eintrag Macédoine mit den Barbaren in Verbindung gebracht.500 Nicht selten werden Charakterschwächen wie Feigheit mit Barbarei korreliert: Dans le gouvernement despotique tel qu’il est souffert en Asie, les grands sont les esclaves du tyran, & les tyrans des esclaves ; ils tremblent & ils font trembler: aussi barbares dans leur domination que lâches dans leur dépendance, ils achetent par leur servitude auprès du maître, leur autorité sur les sujets, également prêts à vendre l’état au prince, & le prince à l’état ; chefs du peuple dès qu’il se révolte, & ses oppresseurs tant qu’il est soûmis.501

Die enzyklopädische Instanz operiert dabei mit viele Chiasmen («les grands sont les esclaves du tyran, & les tyrans des esclaves ; ils tremblent & ils font trembler: aussi barbares dans leur domination que lâches dans leur dépendance»502 ) und unterstreicht so auch formal-ästhetisch die despotische Interdependenz von Herr und Knecht. In jedem Fall aber stellt der Barbar die antithetische Folie für den europäischen Aufklärer dar. Daraus leiten sich vielfältige Dominanzansprüche ab: Es gilt, jene Barbaren, die wie eine Sintflut über das Römische Reich und Europa hereinbrachen: «un déluge de barbares, Goths, Hérules, Huns, Vandales, inondoient l’Europe», wie es im Eintrag Mahométisme heißt, zu beherrschen und zu kontrollieren, zu erziehen, zu missionieren und zu kolonisieren.503 Sauvages und bons sauvages. Negative und positive Spiegelbilder In der Beschäftigung mit der kolonialen Welt taucht eine weitere Projektionsfigur auf, die dem europäischen philosophe zur kritischen Spiegelung dient: der sauvage.504 Hier werden die europäisch-xenophoben Attribute des Barbarischen

500 Vgl. Louis de Jaucourt: Macédoine, Empire de, in: Denis Diderot/Jean Le Rond d’Alembert (Hg.): Encyclopédie (ENCCRE). Bd. 9, S. 788–789. 501 Edmé-François Mallet: Grand, in: Denis Diderot/Jean Le Rond d’Alembert (Hg.): Encyclopédie (ENCCRE). Bd. 7, S. 848–850, hier S. 849. 502 Ebd. 503 Vgl. Laine, Manufacture en laine ou Draperie, S. 184–197. 504 Es finden sich laut Recherchetool der ENCCRE-Ausgabe 465 Fundstellen zum Begriff «sauvage», 140 davon im Wissensgebiet der «Histoire naturelle» und 539 Fundstellen zu «sauvages», von denen wiederum 139 dem Gebiet der Geographie zugeordnet sind (vgl. Diderot, Denis/d’Alembert, Jean Le Rond (Hg.): Encyclopédie (ENCCRE). Bd. 8, S. 165–167. Als Adjektiv wird der Begriff «sauvage» meist auf Pflanzen bezogen (Bäume, Äpfel etc.), gelegentlich auf die Tierwelt (etwa den Esel). So auch im Eintrag Batard wird das Attribut des Wilden noch biologistisch allein an die Flora gebunden im Bereich «en jardinage» (vgl. Toussaint, François Vincent: Batard ou Enfant naturel, in: Denis Diderot/Jean Le Rond d’Alembert (Hg.): Encyclopédie (ENCCRE). Bd. 2, S. 138–139.

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auf den Wilden in der Neuen Welt übertragen: «Sauvages, s. m. plur. (Hist. mod.) peuples barbares qui vivent sans loix, sans police, sans religion, & qui n’ont point d’habitation fixe.»505 Wieder tauchen in der ex negativo-Rhetorik des «sans» die Topoi der Unzivilisiertheit auf: Die Wilden seien gesetzlos, ohne Religion und ohne feste Heimstatt. Sie werden darüber hinaus als Kannibalen apostrophiert, «féroces, & qui se nourrissent de chair humaine»,506 und dann im Laufe des Eintrags von den Barbaren differenziert: Il y a cette différence entre les peuples sauvages & les peuples barbares, que les premiers sont de petites nations dispersées qui ne veulent point se réunir, au-lieu que les barbares s’unissent souvent, & cela se fait lorsqu’un chef en a soumis d’autres.507

Während die barbarischen Völker also immerhin einen gewissen Gemeinsinn und hierarchische Strukturen der Unterwerfung aufweisen (hier scheint eine gewisse Nähe zum europäischen Kontext durch), zeichnen sich die Wilden durch (vermutlich sogar noch gefährlicheren) Separatismus aus. Selbstredend wird das Wilde des Menschen auch an seinen geistigen Fähigkeiten und seinem Wissenshorizont gemessen. So etwa im Eintrag Innombrable: «esprit des hommes: pour un sauvage qui ne peut pas compter jusqu’à cinquante, l’innombrable commence au-de-là de ce nombre.»508 Der sauvage wird in den Encyclopédie-Artikeln als historische, geographische und philosophische Diskursfigur diskutiert. Er ist aber auch eine Art evolutionäre Vorstufe des europäischen Menschen des 18. Jahrhunderts. Im Eintrag zur Infidelité wird eine Art moralische, man könnte auch sagen: zivilisatorische Evolution adressiert. Die Perfektibilität des Europäers wird hier mit aller Macht – und stilistisch mit einem involvierenden «nous» – auf allen Ebenen behauptet und mit dem unmoralischen, animalischen Urzustand des Wilden kontrastiert (auch wenn sich hier in der Begrifflichkeit sauvage und barbare überdecken) und die Nachkommen des Wilden als Tiere degradiert: Nous ne sommes plus dans l’état de nature sauvage, où toutes les femmes étoient à tous les hommes, & tous les hommes à toutes les femmes. Nos facultés se sont perfectionnées ; nous sentons avec plus de délicatesse ; nous avons des idées de justice & d’injustice plus développées ; la voix de la conscience s’est éveillée ; nous avons institué entre nous une infinité de pactes différens ; je ne sais quoi de saint & de religieux s’est mêlé à tous nos engagemens ; anéantirons-nous les distinctions que les siecles ont fait naître, & ramene-

505 (Jaucourt 1751bg-1772). 506 Ebd. 507 Ebd. 508 Denis Diderot: Innombrable, in: Ders./Jean Le Rond d’Alembert (Hg.): Encyclopédie (ENCCRE). Bd. 8, S. 755.

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rons-nous l’homme à la stupidité de l’innocence premiere, pour l’abandonner sans remords à la variété de ses impulsions ? les hommes produisent aujourd’hui des hommes ; regretterons-nous les tems barbares où ils ne produisoient que des animaux ?509

Diese Überlegenheit der europäischen Kultur und Zivilisation ist in den Einträgen omnipräsent. Soll diese Überlegenheit selbstkritisch beleuchtet werden, so bedient sich die enzyklopädische Instanz durchaus auch der Figur des sauvage (noch nicht in seiner Stilisierung als bon sauvage), indem etwa der virulente Luxus-Diskurs (siehe meine Ausführungen weiter oben) über diese topische Figur gespiegelt wird: Ce desir doit nécessairement leur faire aimer & rechercher les richesses ; le desir de s’enrichir entre donc & doit entrer dans le nombre des ressorts de tout gouvernement qui n’est pas fondé sur l’égalité & la communauté des biens ; or l’objet principal de ce desir doit être le luxe ; il y a donc du luxe dans tous les états, dans toutes les sociétés: le sauvage a son hamac qu’il achete pour des peaux de bêtes ; l’européen a son canapé, son lit ; nos femmes mettent du rouge & des diamans ; les femmes de la Floride mettent du bleu & des boules de verre.510

Der Figur des Wilden kommt insbesondere in der Beschreibung des kolonialen Anderen in den Amerikas die zentrale Rolle zu. Paradigmatisch dafür sei der Eintrag über Kanada erwähnt. Auch hier wird der koloniale Andere direkt in die Wissensordnung des Handels eingebaut. Der Artikel beginnt zunächst mit Handelswissen: Ein Kanada ist hier die Maßeinheit für Wein oder Wasser für die Seefahrer auf portugiesischen Schiffen.511 Erst danach folgt der geographische Eintrag zu Kanada als englische Kolonie, um sie dann als unbekannten Norden, von wilden Nationen, vornehmlich sonnenanbetenden Jägern und Fischern, bevölkert, zu zeichnen. Die Franzosen betrieben dort großen Handel mit den abermals kooperativen Wilden: CANADA ou NOUVELLE FRANCE, (Géogr.) pays fort vaste de l’Amérique septentrionale, borné à l’est par l’Océan, à l’oüest par le Mississipi, au sud par les colonies angloises, & au nord par des pays deserts & inconnus. Ce pays est habité par plusieurs nations sauvages, qui ne vivent que de la chasse & de la pêche. Outre ces nations, les François y ont des établissemens considérables, & on y fait un grand commerce de pelletteries, que les sauvages apportent en quantité du produit de leur chasse. Le Canada est rempli de forêts, & il y fait très-froid. Les sauvages qui habitent ce pays adorent le soleil, & un premier esprit qu’ils regardent comme au-dessus de lui. Voyez CANADIENS.512

509 N. N.: Infidelité, S. 701. 510 [Saint Lambert, Jean-François de]: Luxe, S. 763. 511 N. N.: Canada ou Canade, in: Denis Diderot/Jean Le Rond d’Alembert (Hg.): Encyclopédie (ENCCRE). Bd. 2, S. 581. 512 Ebd.

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Im Gegensatz dazu stehen die mondanbetenden, kannibalistischen Wilden im südlichen Kalifornien, die in Familienverbünden ohne Unterwerfung unter eine Regierung leben.513 Die exotistische Distanz zu diesen kolonialen Anderen wird durch die Attribuierung mit Nacktheit, lasziven und rituellen Tänzen, Körperbemalungen, Kriegslust, der Nutzbarkeit im kolonialen Warenhandel mit den europäischen Großmächten, mit der Anwendung von technischen Geräten, insbesondere der spanischen kolonialen Überlegenheit in Kriegsführung, mit dem Missionarswesen und religiösen Kulten generiert. Die Eskimos im Norden werden indes zu unbezähmbaren Tieren degradiert. Ihre Art der Fortbewegung und Behausungen erinnern an das Tierreich, wie auch ihre Kleidung und das Stillen der Kinder befremdlich wirken: ESKIMAUX, (Géog.) peuple sauvage de l’Amérique septentrionale, sur les côtes de la terre de Labrador et de la baie d’Hudson, pays extrèmement froids. Ce sont les sauvages des sauvages, et les seuls de l’Amérique qu’on n’a jamais pû apprivoiser; petits, blancs, gros, et vrais antropophages. On voit chez les autres peuples des manieres humaines, quoiqu’extraordinaires, mais dans ceux-ci tout est féroce et presqu’incroyable. Malgré la rigueur du climat, ils n’allument point de feu, vivent de chasse, et se servent de fleches armées de pointes faites de dents de vaches marines, ou de pointes de fer quand ils en peuvent avoir. Ils mangent tout crud, racines, viande, et poisson. Leur nourriture la plus ordinaire est la chair de loups ou veaux marins; ils sont aussi très-friands de l’huile qu’on en tire. Ils forment de la peau de ces sortes de bêtes, des sacs dans lesquels ils serrent pour le mauvais tems une provision de cette chair coupée par morceaux.Ils ne quittent point leurs vêtemens, et habitent des trous soûterrains, où ils entrent à quatre pattes. Ils se font de petites tuniques de peaux d’oiseaux, la plume en-dedans, pour se mieux garantir du froid, et ont par-dessus en forme de chemise d’autres tuniques de boyaux ou peaux d’animaux cousues par bandes, pour que la pluie ne les pénetre point. Les femmes portent leurs petits-enfans sur leur dos, entre les deux tuniques, et tirent ces pauvres innocens par-dessous le bras ou par-dessus l’épaule pour leur donner le teton. [...] Ainsi les Eskimauxsont le peuple sauvage de l’Amérique que nous connoissons le moins jusqu’à ce jour.514

Der sauvage zeigt sich als eine Art Kippfigur: Fallen seine Lebensweisen und körperliche Attribute eher animalisch aus, so kann er leicht als Antithese zum zivilisierten Europäer instrumentalisiert werden. Zeigen sich aber eher menschliche Wesenszüge, so kann der antithetische Nutzen ausgedehnt werden bis zu einer europäischen Selbstkritik: Es entsteht die Diskursfigur des bon sauvage. Bon sauvage. Gleichwohl sind die Alteritätsdiskurse in der Encyclopédie nicht nur von Dämonisierung und Diskriminierung geprägt. Ein weiterer Diskurs ist

513 Vgl. N. N.: Californie, in: Denis Diderot/Jean Le Rond d’Alembert (Hg.): Encyclopédie (ENCCRE). Bd. 2, S. 560. 514 Louis de Jaucourt: Eskimaux, S. 953.

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ebenso präsent, der ganz in der Tradition der aufklärerischen Selbstkritik steht: der bon sauvage oder homme naturel 515 Rousseau’scher Prägung. Hier wird der sauvage in seiner kulturphilosophischen Ausdeutung dargestellt. Rousseau verknüpft ja auch Fragen des ökonomischen Besitzes mit jenen des Verfalls des Naturzustands des sauvage.516 In diesem Falle bildet der koloniale Andere die positive Kontrastfolie für ein Selbstbild des Europäers, der als nun als zivilisatorisch deformiert und gesellschaftlich selbstentfremdet kritisiert wird. So lebe bspw. in der afrikanischen Provinz Oacco in Ethiopien der bon sauvage, da es dort weder Industrialisierung noch Grundbesitz gebe. Allein der Informationsquelle, den Berichten von Labat sei keinerlei Glaubwürdigkeit/Lüge zu schenken: Oacco, (Géog.) province d’Afrique dans l’Ethiopie au royaume d’Angola. C’est une espece de désert habité, dont les peuples n’ont pas l’industrie de cultiver les terres avec art: & pourquoi l’auroient-ils, ils n’ont point de terres en propriété ? Tout ce qu’en dit le pere Labat ne mérite aucune créance.517

Und auch in Asien gebe es schöne, rechtschaffene und fleißige Menschen wie die Einwohner von Kaschmir, deren religiöse Äußerungen jedoch zu Unstimmigkeiten in der Bestimmung ihrer Glaubenszugehörigkeit führen: «Les habitans sont adroits & laborieux, & les femmes y sont belles. On les croit Juifs d’origine, parce qu’ils ont toûjours à la bouche le nom de Moyse, qu’ils croyent avoit été dans leur pays, ainsi que Salomon. Ils sont aujourd’hui Mahométans ou Idolâtres. Dict, de M. de Vosgien.»518 Diese zivilisationskritische Figur tritt etwa in einem Artikel auf, in dem man Ausführungen zum Edelmut und zur Natürlichkeit des bon sauvage vielleicht zunächst einmal nicht erwartet: im Artikel zur Wollherstellung. Nach langen Ausführungen über die Herstellung und die Beschaffenheit der Wolle in unterschiedlichen Ländern wird unter dem Lemma Laine, Manufacture en Laine, ou Draperie dieser Abschnitt zwar der Kategorie des «art méchanique» zugeordnet, der Artikel entpuppt sich dann nicht als technische Anleitung, denn als Mög-

515 Zum homme naturel vgl. Manfred Gsteiger: Vom ‹edlen Wilden› zum ‹homme naturel›, in: Horst Albert Glaser/György Mihály Vajda (Hg.): Die Wende von der Aufklärung zur Romantik 1760–1820. Band: Epoche im Überblick, Amsterdam/Phildelphia: J. Benjamins 2001, S. 649–662 und spezifisch als Rousseau’scher homme naturel Urs Bitterli: Die Wilden und die Zivilisierten, S. 280–288. 516 Vgl. Jean-Jacques Rousseau: Discours sur l’origine et les fondements de l’inégalité parmi les hommes. 517 N. N.: Oacco, in: Denis Diderot/Jean Le Rond d’Alembert (Hg.): Encyclopédie (ENCCRE). Bd. 11, S. 296. 518 N. N.: Cachemire, in: Denis Diderot/Jean Le Rond d’Alembert (Hg.): Encyclopédie (ENCCRE). Bd. 2, S. 503–504.

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lichkeit, kulturelle Differenz und Narration miteinander zu verknüpfen. «[L]a laine habille tous les hommes policés» heißt es dort bereits im ersten Satz, während im Gegensatz dazu die Wilden nackt oder mit Tierhäuten bekleidet sind. Unmittelbar darauf erfolgt dann ein Perspektivwechsel, der die Sicht jener Wilden auf die Mühen der Europäer imaginiert und sogar in einer fingierten Figurenrede gipfelt: Ils regardent en pitié les peines que nous prenons pour obtenir de notre industrie un secours moins sûr & moins promt que celui que la bonté de la nature leur offre contre l’inclémence des saisons. Ils nous diroient volontiers: Tu as apporté en naissant le vêtement qu’il te faut en été, & tu as sous ta main celui qui t’est nécessaire en hiver. Laisse à la brebis sa toison. Vois-tu cet animal fourré. Prend ta fleche, tue-le, sa chair te nourrira, & sa peau te vêtira sans apprêt.519

Hier werden die Topoi des homme naturel oder des bon sauvage deutlich, indem nicht nur der unangemessene technische Produktionsaufwand bemängelt, sondern auch die Einfachheit des Lebens in der Natur betont werden – stilistisch werden literarische Traditionen des «conte oriental» und Vorbilder aufgegriffen, die etwa an die Lettres Persanes von Montesquieu erinnern, an Voltaires L’ingénu520 oder Diderots Supplément au voyage de Bougainville521 und überdies thematisch an den Luxus-Diskurs der Aufklärung angeknüpft. Im Encyclopédie-Eintrag wird hier eine Sprechsituation inszeniert, die die Leserschaft involvieren, überzeugen, vielleicht anrühren und authentisch wirken soll. Mit desinteressiertem bis fast mitleidigem Blick lehnt der Wilde wollene Kleidung ab: On raconte qu’un sauvage transporté de son pays dans le nôtre, & promené dans nos atteliers, regarda avec assez d’indifférence tous nos travaux. Nos manufactures de couvertures en laine parurent seules arrêter un moment son attention. Il sourit à la vue de cette sorte d’ouvrage. Il prit une couverture, il la jetta sur ses épaules, fit quelques tours ; & rendant avec dédain cette enveloppe artificielle au manufacturier: en vérité, lui dit-il, cela est presqu’aussi bon qu’une peau de bête.522

Ob der Wilde nun von oben herab betrachtet oder auf vermeintlicher Augenhöhe dem Europäer den Spiegel vorhält: Der koloniale Andere erhält eine spezifische Funktion innerhalb des aufklärerischen, kolonialistischen Diskurses. Der philosophe weist dem Wilden den Platz in der Ferne und als zur Selbstversicherung dienende Antithese zu – ob als Edler Wilder idealisiert oder als Barbar

519 520 521 522

N. N.: Laine, Manufacture en laine ou Draperie, S. 184. Voltaire: L’Ingénu, Paris: Flammarion [1767] 2004. Vgl. Denis Diderot: Supplément au voyage de Bougainville. N. N.: Laine, Manufacture en laine ou Draperie, S. 184.

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dämonisiert. Stets wird der Andere also – so scheint es – in eine kolonialistische, eurozentristische und egozentristische Diskurslogik eingebaut. Les Indiens, ce peuple compatissant, qui traitoit les esclaves comme eux-mêmes, pouvoient-ils ne pas bien accueillir les voyageurs ? ils allerent jusqu’à établir, & des hospices, & des magistrats particuliers, pour leur fournir les choses nécessaires à la vie, & prendre soin des funérailles de ceux qui mouroient dans leurs pays. Je viens de prouver suffisamment, qu’autrefois l’hospitalité étoit exercée par presque tous les peuples du monde ; mais le lecteur sera bien aise d’être instruit de quelques pratiques les plus universelles de cette vertu, & de l’étendue de ses droits: il faut tâcher de contenter sa curiosité.523

Das Wissen über den kolonialen Anderen ist folglich selbst erschaffenes Spiegelbild des europäischen philosophe, aufklärerisches Konstrukt, zivilisatorisches, phylogenetisches Phantasma, literarische Fiktion und Antithese zur europäischen Machtposition zugleich.

Anthropophages. Das Monster des Menschenfressers Während der Edle Wilde die idealisierte Kontrastfolie darstellt, die in der Encyclopédie der Zivilisationskritik und Selbstversicherung der europäischen philosophe dient, gibt es in der Encyclopédie auch die dämonisierte Projektionsfigur. Die größtmögliche Distanz zum europäischen philosophe stellt sich durch die Figur des Menschenfressers her.524 Im paradigmatischen Eintrag zu den Kariben bzw. Kannibalen525 finden sich alle Alteritätsmerkmale vereint: Sie sind Wilde und zeichnen sich durch charakterliche Schwächen aus, sie bewegen sich (auch hier scheint wieder das Degenerations- bzw. Entwicklungsmodell durch) eher

523 Louis de Jaucourt: Hospitalité, S. 315. 524 Vgl. etwa Sabine Hofmann: Die Konstruktion kolonialer Wirklichkeit. Hier lässt sich im Vergleich zum Barbaren und Wilden eine deutliche Abweichung feststellen. Es finden sich laut Recherchetool der ENCCRE-Ausgabe nämlich nur sieben Fundstellen zum Begriff «anthropophages», fünf davon im Wissensgebiet Geographie; nur drei Fundstellen zum adjektivischen «anthropophage»; nur sechs Fundstellen zu «cannibales», von denen zwei Fundstellen dem Bereich der Medizin zugeordnet sind (vgl. Diderot, Denis/d’Alembert, Jean Le Rond (Hg.): Encyclopédie (ENCCRE). Bd. 8, S. 165–167. Gleichwohl ist das Kannibalische eine sehr häufige Attribuierung von Wilden und Barbaren in der außereuropäischen Welt. Aus den Fundstellen aber folgt, dass das Attribut des Menschenfressers weniger über dessen Benennung als Kannibale oder Anthropophage konstruiert wird, sondern durch die Tätigkeit des Essens von Menschenfleisch (vgl. die folgenden Textanalysen). 525 Diese Amalgamisierung oder Ineinssetzung des Volkes der Kariben mit den Kannibalen hat eine lange Tradition, die nicht zuletzt auf Kolumbus zurückgeht (vgl. dazu den bereits erwähnten historischen Überblick von Joseph Jurt: Die Kannibalen: erste europäische Bilder der Indianer – von Kolumbus bis Montaigne.).

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animalisch. Und auch wenn sie sich damit so schnell wie ein Europäer bewegen können, verharren sie eher in einem kindlichen Stadium: Caraibes ou Cannibales, sauvages insulaires de l’Amérique, qui possedent une partie des îles Antilles. Ils sont en général tristes, rêveurs & paresseux, mais d’une bonne constitution, vivant communément un siecle. Ils vont nuds, leur teint est olivâtre. Ils n’emmaillotent point leurs enfans, qui dès l’âge de quatre mois marchent à quatre pattes ; & en prennent l’habitude au point de courir de cette façon, quand ils sont plus âgés, aussi vîte qu’un européen avec ses deux jambes. Une grande partie de l’Amérique est peuplée de sauvages, la plûpart encore féroces, & qui se nourrissent de chair humaine. Voyez Anthropophages.526

Dass Kariben und Kannibalen hier gleichgesetzt werden, unterstreicht nicht nur ihre Alterisierung, sondern ist auch einem Topos geschuldet, der seit den Tagebüchern des Kolumbus gepflegt und perpetuiert wird.527 Aufschlussreich in diesem Sinne ist der Eintrag zum afrikanischen Königreich Ansico. Die enzyklopädische Instanz beschreibt zwar die kannibalistischen Gepflogenheiten der Bewohner, die er einer europäischen Wissensquelle entnimmt, aber er zweifelt auch unmittelbar den Wahrheitsgehalt der Informationen an. Dies tut er aber nicht auf der Grundlage der Menschlichkeit auch jener Völker, sondern fundiert seine Überlegungen auf mathematischen Unwahrscheinlichkeiten. Gleichwohl erscheint dem Autor die Anthropophagie möglich, denn wenn schon die Vorurteile über Witwenverbrennungen528 wahr seien, dann könnten auch die Informationen zu den Bewohnern von Ansico wahr sein: ANSICO, (Géog. mod.) royaume d’Afrique sous la ligne. On lit dans le dictionnaire géographique de M. Vosgien, que les habitans s’y nourrissent de chair humaine ; qu’ils ont des boucheries publiques où l’on voit pendre des membres d’homme ; qu’ils mangent leurs

526 N. N.: Caraibes ou Cannibales, in: Denis Diderot/Jean Le Rond d’Alembert (Hg.): Encyclopédie (ENCCRE). Bd. 2, S. 669. 527 Selbst wenn die Information des Kannibalischen im Zusammenhang mit Völkern unsicher ist, bleibt dieser Wissensbestand im Encyclopédie-Artikel. Im Falle des Volkes der afrikanischen der Cafres wurde weiter oben schon deutlich, dass die Kannibalisierung dieser kolonialen Anderen trotz eines gewissen Unwissens über sie vorgenommen wird. «Ce pays est peu connu des Européens, qui n’ont point encore pû y entrer bien avant: cependant on accuse les peuples qui l’habitent d’être anthropophages.» (N. N.: Cafrerie, S. 529.) In dem Verb des «accuser» transportiert sich aber auch eine Kritik an der Denominations- und Zuschreibungspraxis, die eine gewisse Distanz des enzyklopädischen Erzählers gegenüber den berichteten Quellen zum Ausdruck bringt. 528 Zur Diskussion der Witwenverbrennung in Indien (sati) und in Mittelamerika in der Aufklärung vgl. Frédéric Tinguely: Aux limites du relativisme culturel: les Lumières face à l’immolation des veuves de l’Inde, in: Dix-Huitième siècle 1, 38 (2006), S. 449, https://www.cairn. inforevue-dix-huitieme-siecle-2006-1-page-449.htm (24. 09. 2019).

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peres, meres, freres & soeurs, aussi-tôt qu’ils sont morts ; & qu’on tue deux cens hommes par jour, pour être servis à la table du grand Macoco, c’est le nom de leur monarque. Plus ces circonstances sont extraordinaires, plus il faudra de témoins pour les faire croire. Y a-t-il sous la ligne un royaume appellé Ansico ? les habitans d’Ansico sont-ils de la barbarie dont on nous les peint, & sert-on deux cens hommes par jour dans le palais du Macoco ? ce sont des faits qui n’ont pas une égale vraisemblance: le témoignage de quelques voyageurs suffit pour le premier ; les autres exigent davantage. Il faut soupçonner en général tout voyageur & tout historien ordinaire d’enfler un peu les choses, à moins qu’on ne veuille s’exposer à croire les fables les plus absurdes. Voici le principe sur lequel je fonde ce soupçon, c’est qu’on ne veut pas avoir pris la plume pour raconter des aventures communes, ni fait des milliers de lieues pour n’avoir vû que ce qu’on voit sans aller si loin ; & sur ce principe j’oserois presque assûrer que le grand Macoco ne mange pas tant d’hommes qu’on dit: à deux cens par jour, ce seroit environ soixante & treize mille par an ; quel mangeur d’hommes ! mais les seigneurs de sa cour apparemment ne s’en passent pas, non plus que les autres sujets. Si toutefois le pays pouvoit suffire à une si horrible anthropophagie, & que le préjugé de la nation fût qu’il y a beaucoup d’honneur à être mangé par son souverain, nous rencontrerions dans l’histoire des faits appuyés sur le préjugé, & assez extraordinaires pour donner quelque vraisemblance à celui dont il s’agit ici. S’il y a des contrées où des femmes se brûlent courageusement sur le bûcher d’un mari qu’elles détestoient ; si le préjugé donne tant de courage à un sexe naturellement foible & timide ; si ce préjugé, tout cruel qu’il est, subsiste malgré les précautions qu’on a pû prendre pour le détruire, pourquoi dans une autre contrée les hommes entêtés du faux honneur d’être servis sur la table de leur monarque, n’iroient-ils pas en foule & gaiment présenter leur gorge à couper dans ses boucheries royales ?529

Hervorzuheben ist an diesem Artikel die Verknüpfung von expliziter Unwissenheit über ein Volk und die pejorative, um nicht zu sagen xenophobe Attribuierung mit dem Kannibalismus (zu dem ironischen Kommentar Diderots vgl. Kapitel 2.2.1.2) Auch über die Cafres sei dem Europäer kaum etwas bekannt. Dennoch gelingt es der enzyklopädischen Instanz, gleichzeitig den Kariben als Kannibalen zu bezeichnen und durch das «on accuse» auf Distanz zu dem übernommenen Wissen zu gehen: «Ce pays est peu connu des Européens, qui n’ont point encore pû y entrer bien avant: cependant on accuse les peuples qui l’habitent d’être anthropophages.»530 Im Eintrag zu den afrikanischen Jagos kommt das anthropophagische Attribut in einer ähnlich zwiespältigen Figur fast beiläufig vor. Es wird in einer Reihung oder gar Steigerung mit den typischen alteritären Attributen angefügt und gleichzeitig durch das «ils passent pour» angezweifelt. Die Jagos seien nomadisch, agil, robust, diebisch und anthropophagisch: JAGOS, s. m. (Géog.) nom d’un peuple d’Afrique, dont il est parlé dans Maty & de la Croix: ce sont des Arabes errans, adorateurs de la lune & du soleil, hommes agiles & robustes, &

529 Denis Diderot: Ansico, S. 490. 530 N. N.: Cafrerie, S. 529.

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voleurs de profession. Ils sont armés d’une hache, d’arc & de fleches, & passent pour antropophages ; ils habitent la basse Ethiopie, sur-tout le royaume d’Anzico.531

Das Extrem an Grausamkeit und Unmenschlichkeit aber liegt im Anthropophagismus eines anderen Volkes, der Jagas – und zwar de jure. Auch hier findet sich die skeptische Ambivalenz, dass grausame Riten zwar anschaulich und relativ ausführlich geschildert werden, die Informationsquelle aber nicht glaubwürdig erscheint («Dapper nous les donne pour»). Die Grausamheit steigert sich neben der Existenz von öffentlichen Menschenfleischereien (welche es auch beim Volk der Macoco geben soll, so im selbigen Eintrag: «Macoco, (Géog.) Voyez Ansico […] Son roi s’appelle le grand Macoco,& les habitans Mouzoles: Dapper nous les donne pour antropophages, décrit leur pays & leurs boucheries publiques d’hommes, comme s’il les eût vûes.»532 noch darin, dass der gesetzliche Verbot, Frauenfleisch zu verzehren, noch noch dessen Reiz befördere. Gleichwohl sei es Ehemännern durchaus gestattet, ihre unfruchtbaren Frauen zu essen. Den exotisch-dramatischen Höhepunkt des Artikels aber bilden die Weisungen der einstigen Königin. Denn zum Ziel des «éteindre en eux toute pudeur», verfügte die grausame Königin, dass Soldaten vor dem Feldzug ihren ehelichen Pflichten vor den Augen der gesamten Armee nachkommen müssen. Auch das Motiv des Menschenopfers kommt in übersteigerter Form als religiöse Handlung zur Sprache, als wahres Blutbad und als Beerdigung von Lebendigen: De plus, on sacrifioit des hécatombes entieres de victimes humaines aux funérailles des chefs & des rois ; on enterroit tout vifs plusieurs de ses esclaves & officiers pour lui tenir compagnie dans l’autre monde, & l’on ensevelissoit avec lui deux de ses femmes, à qui on cassoit préalablement les bras.533

All diese bildreichen und detaillierten Schilderungen lassen keinen Zweifel über die Bewertung von Seiten des philosophe: Es handelt sich ihmzufolge um ein unmenschliches, barbarisches, entartetes, abscheuliches Volk («nation abominable»; auch im Eintrag zum Service militaire werden «fort barbare et fort inhumain» korreliert,534 die einem verabscheuungswürdigen Kultus dienen («culte

531 N. N.: Jagos, in: Denis Diderot/Jean Le Rond d’Alembert (Hg.): Encyclopédie (ENCCRE). Bd. 8, S. 434. 532 N. N.: Macoco, S. 802. 533 Ebd. Auch dies scheint ein Topos der Aufklärung zu sein (vgl. dazu Cornelius de Pauw: Recherches Philosophiques Sur Les Américains, Ou Mémoires intéressants pour servir à l’histoire de l’espèce humaine. Tome Second, London 1771, https://gallica.bnf.fr/ark:/12148/bpt6k821053 (24. 09. 2019), partie, Section II). 534 Vgl. Guillaume Le Blond: Service militaire, in: Denis Diderot/Jean Le Rond d’Alembert (Hg.): Encyclopédie (ENCCRE). Bd. 15, S. 121.

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exécrable») und infernalische Riten folgen, vor allem aber «leur goût pour la chair humaine» frönen.535 Den Abschluss des Artikels der Jagas bildet ein Verweis auf das Kompendium The Modern Part of Universal History, Vol. XVI. (1759). Diese Referenz hat einen‘faktualisierenden’ Effekt: Diese wissenschaftliche, historiographische Quelle ist einerseits ein intertextueller Garant für die Belegbarkeit und Zuverlässigkeit der Informationen. Sie steht für die Demonstration eines verbürgten Wissens, das neben dem aktuellen Wissen und dem anwendungsbereiten Wissen zu der Trias jener Merkmale zählt, die die neuen Enzyklopädien der frühen Neuzeit von ihren Vorgängern unterscheidet.536 Andererseits bewirkt er einen poetischen Bruch mit den exotisierenden, monströsen, schauerhaften Erzählungen, die bis zu dieser Passage eine starke Nähe zu den Sitten und Gebräuchen der Jagas bewirken, sehr bildhaft und plastisch die unmenschlichen Riten des afrikanischen Volks schildern. Daran schließt sich auch die Evaluation der geschilderten Wissensbestände im Artikel an. Auch im Hinblick auf die metatheoretische Thematisierung der Wissensgenerierung ist der Eintrag der Jagas typisch: Der enzyklopädische Erzähler beschreibt und bewertet nicht das Wissen über die Jagas und dessen Wahrheitsstatus. Schon eingangs wird in diesem Artikel die Wissensproduktion explizit thematisiert bzw. die Anerkennung der Faktizität der Quellen problematisiert und gleichzeitig durch die Übereinstimmung der Quellen («unanime») validiert: «Si l’on en croit le témoignage unanime de plusieurs voyageurs & missionnaires».537 Als Zwischenfazit bleibt festzuhalten, dass die Figuren des Wilden, Edlen Wilden, selbst des Barbaren und Anthropophagen nur insofern alteritäre Figuren sind, als sie selbst- und rückbezügliche Kontrastfolien für den philosophe darstellen. Dies lässt sich in der steten Bezugnahme – auf inhaltlicher wie auf stilistischer Ebene, wie im Folgekapitel zu den Figurationen des kolonialen Anderen noch deutlich wird – auf den europäischen Standard ebenso ausmachen, wie auf der stereotypen und damit dekontextualisierten Repräsentation des Anderen. Daraus folgt aber auch eine Forschungshypothese, die der gängigen Forschung zur Aufklärung und zum Projekt der Encyclopédie widerspricht: Die Encyclopédie-Artikel scheinen keine Relativierbarkeit des eigenen Standpunkts zu artikulieren, keinen Kulturrelativismus globalen Ausmaßes. Der philosophe schreibt scheinbar nachgerade nur über sich selbst, über sein eigenes Gegenbild und sich selbst als unhintergehbare Vergleichsgröße. Elemente der Alteri-

535 [d’Holbach, Jean-Heni Thiry]: Jagas, S. 433. 536 Vgl. Ulrich Johannes Schneider: Die Erfindung des allgemeinen Wissens, S. 28–37. 537 Ebd.

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tätskonstruktionen in der Encyclopédie sind demnach die Beschreibungen des kolonialen Subjekts als Wissensobjekt einerseits und die Selbstinszenierungen des wissenden europäischen Subjekts andererseits. Als affektive Modi der Bezugnahme oder des Vergleichs mit dem kolonialen Anderen scheinen sich zwei machtvolle Verfahren herauszukristallisieren: Abwertung und Aufwertung/Idealisierung. Diese sind aber nicht als neutral-normative Devianzen formuliert, sondern affektiv aufgeladen, indem Antipathien und Sympathien, Bewunderung und Furcht, Begehren und Abscheu u. ä. mitschwingen. Immer aber, so scheint es, dient der enzyklopädische Erzähler als Fluchtpunkt der Beschreibungen: Von ihm geht die Definitionsmacht aus und auf ihn zielen jegliche Alteritätskonstruktionen letztlich wieder ab.

Fazit: Wissen über den kolonialen Anderen als Interaktionsund Projektionsfigur Der koloniale Andere taucht in der Encyclopédie nicht nur als ökonomische, moralische oder kulturhistorische Figur aus, sondern auch als eine anthropologische, die die Nähe und Distanz zum europäischen philosophe artikuliert. Diese Alteritätskonstruktionen sind dabei einerseits anthropologisch, weil sie inhaltlich das Mensch-Sein des kolonialen Anderen thematisieren. Sie ist aber andererseits grundlegend xenologisch, weil sie vermittels Stereotypen eine schnelle Einordnung erlauben: identifikatorisch als Beziehungsfiguren, episemtologisch aber auch als Figuren, die eingeschätzt, eingeordnet und hierarchisch untergeordnet werden können. Der Modus zur Alteritätskonstruktion ist epistemologisch gesehen jener der ‹compa-raison›: Mittels vernunftgeleiteten Vergleichens538 positioniert der europäische philosophe den kolonialen Anderen in Bezug auf sich selbst. Er sieht entweder Parallelen und Analogien und leitet daraus Universalien ab (das Menschliche, Luxus, Habgier, Empathie etc.). Oder aber er konstatiert Differentes, das dann mit Bedeutung, Ab- oder Aufwertung, aufgeladen wird.539 Aus diesen machtvollen Diskursen erwachsen dann oftmals keine konkreten, kontextualisierten kolonialen Anderen, sondern es werden oftmals Stereotype und

538 Vgl. im Eintrag Réflexion wird der Vergleich unmittelbar mit den Wissensbereichen der Encyclopédie in Verbindung gebracht: «[...] les rapports que nous y trouvons établissent entre elles des liaisons très propres à augmenter & à fortifier la mémoire, l’imagination, & par contrecoup la réflexion.» (Jean Le Rond d’Alembert: Réflexion, in: Denis Diderot/Ders. (Hg.): Encyclopédie (ENCCRE). Bd. 13, S. 885–886, hier S. 886). 539 Vgl. dazu Michèle Vallenthini/Charles Vincent/Rainer Godel, (Hg.): Classer les mots, classer les choses. Synonymie, analogie et métaphore au XVIIIe siècle, Paris: Garnier 2014.

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Chiffren repetiert, die letztlich in erster Linie die machtvolle Geste der Wissensproduktion und der Selbstversicherung demonstrieren. In Bezug auf die eingangs gestellten Forschungsfragen ist zu konstatieren, dass hinsichtlich der Relationalität der kolonialen Alteritätsbeziehung der koloniale Andere zunächst einmal als Wissensbestand und Untersuchungsgegenstand auf Abstand gehalten wird (und werden muss). Die anthropologische Grundfrage und der enzyklopädische Ausgangspunkt allen Wissens im Menschen zielt aber – und dies wird in der Analyse kolonialer Alteritätskonstruktionen erst richtig sichtbar –, viel weniger darauf ab, inwiefern der koloniale Andere ein Mensch ist, sondern inwiefern der koloniale Andere auch ein Mensch wie der philosophe ist. An diesem Punkt schlägt die relationale Anlage der Alteritätskonzeption in eine reziproke Beziehung um. Und mit der Feststellung, dass der koloniale Andere nicht als distantes Wissensobjekt erfasst werden kann, sondern unmittelbar die eigene Positionierung des philosophe in Frage stellt. Und damit geht unmittelbar einher, was eingangs als Ebene der machtvollen Alteritätskonstruktion eingeführt wurde. Sei es als idealisierte, zivilisationskritische Kontrastfolie, sei es als dämonisierte Figur kolonialen Othering: Der koloniale Andere dient als Gegenüber, um die eigene europäische Situation zu reflektieren und vor allem zu bestätigen. Epistemische wie diskursive Macht zur Wissensgenese und Differenzierung zwischen wissendem Subjekt und gewusstem Objekt verlaufen dabei – so scheint es – eindeutig zugunsten des enzyklopädischen Erzählers. Ette konstatiert für die Konstruktion der nordamerikanischen Indianer im Supplément-Eintrag von de Pauw: «Die Normen für die Beurteilung dessen, was in dieser Welt der Texte als glaubwürdig gilt oder als lügenhaft ausgeschlossen werden muß, können allein von einem aufgeklärten Europa, ja von Preußen aus definiert werden.»540 Der enzyklopädische Erzähler lässt zwar unterschiedlichen, durchaus auch widersprüchlichen Thesen ihren Raum, gewährt auch Phantasmen und Legenden Zutritt zum enzyklopädischen Artikel, situiert sich aber stets als orientierendes und ordnendes Moment oberhalb der Wissensbestände. Die machtvollen Inszenierungen des kolonialen Anderen – sei es als kulturrelativierende Horizonterweiterung oder als permanent selbstbezügliche Kontrastfolie – spielen sich aber nicht nur auf inhaltlicher Ebene ab. Vielmehr sind diese machtvollen Marginalisierungs- und Exklusionsverfahren auch in den stilistisch-rhetorischen Verfahren des Schreibens kolonialer Alterität wirksam.

540 Ottmar Ette: TransArea. Eine literarische Globalisierungsgeschichte, S. 111.

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2.1.2 Textfiguren. «Contre-faire l’autre»: Machtvolle Textverfahren der Alterität Die enzyklopädischen Repräsentationen des kolonialen Anderen sind eine Herausforderung: auf der Ebene der argumentativ-systematischen Zuordnung zu Wissensgebieten, aber auch aufder formal-ästhetischen Ebene. Der koloniale Andere, so ließe sich emblematisch formulieren, ist nämlich nicht nur eine Wissensfigur, sondern auch eine Textfigur. Auf welche Art und Weise kann der koloniale Andere im Encyclopédie-Artikel artikuliert werden? Welche narrativen Verfahren werden entwickelt, um Informationen in Argumente und plausible Bewertungen zu überführen? Welcher Verfahren der Einbettung und Umschreibung von Intertexten bedarf es? Gipper sieht in diesen Verfahren «massive[ ] Persuasionstechniken».541 Im Rahmen der vorliegenden Untersuchung sollen diese formal-ästhetischen Verfahren aber über das rhetorisch-argumentative Moment hinaus (vgl. dazu meine Ausführungen in der Einleitung) wirkungsästhetisch und literar-ästhetisch gefasst werden. Damit werden die rhetorischen Verfahren als ästhetische betrachtet und zudem der Intentionalität der textuellen Wissenskonstruktion entkleidet. Anders gesagt: Die formal-ästhetischen Verfahren in den Darstellungen des kolonialen Anderen in der Encyclopédie werden nicht als ausschließlich intendierte Strategien (der Persuasion, des Schocks, des Amüsements etc.) verstanden. Vielmehr gehe ich davon aus, dass es einerseits in den Artikeln die Funktion eines enzyklopädischen Erzählers gibt, der weder mit dem Enzyklopädisten noch mit einer fiktiven Erzählerfigur übereinstimmt, sondern als Narrativierungsinstanz den Narrationsakt gestaltet und selbst mitreflektiert. Andererseits werden jenseits des Intentionalismus, der in der Encyclopédie-Forschung oftmals im Vordergrund steht, mittels der kontrapunktischen Perspektive Macht- und Widerstandsverfahren im Text analysiert, so dass auch die textimmanenten Auslassungen, argumentative Brüche, narrative Volten und intertextuelle Zirkelschlüsse in den Blick kommen.542 Damit versteht die im Folgenden angelegte Textanalyse jene Irrwege und Störmomente nicht als Lapsus der enzyklopädischen Instanz (oder womöglich gar des Enzyklopädisten), son-

541 Andreas Gipper: Wunderbare Wissenschaft, S. 314. 542 Diese Auslassungen werden als textimmanente Brüche oder Streichungen und nicht als Lapsus oder Verdeckungsverfahren des Enzyklopädisten untersucht. Damit ist das Vorgehen kein kontextuell-kontrastiv/komparatives, sondern ein textimmanentes. Der Grund liegt in der diskursanalytisch-wissenspoetologischen Herangehensweise, die an den machtvollen (oder ohnmächtigen) Textverfahren interessiert ist und die Autorität des Enzyklopädisten als Textstruktur untersucht. Folglich geht es mir nicht darum, dem jeweiligen Enzyklopädisten Unwissen, falsche Informationen, tendenziöse oder gar manipulative Textstrategien nachzuweisen und mittels der kontrapunktischen Lektüre dann zu plausibilisieren.

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dern als immanentes diskursives Moment, das durch das Eindringen des kolonialen Anderen in die europäische Wissenswelt der Aufklärung hervorgebracht wird (vgl. dazu Kapitel 2.2). Die hier vertretene Perspektive auf die textuelle Faktur des kolonialen Anderen, auf die Figurationen, lässtdabei die formal-ästhetischen Alteritätsverfahren nicht als schlichte Unterkategorie enzyklopädischen Schreibens erscheinen, ja nicht einmal als eine spezifische historisch-lokale Ausprägung der von Gipper insbesondere bei Diderot nachgewiesenen Ästhetik des Monströsen (wie in der Einleitung der vorliegenden Arbeit bereits angedeutet). Dass sich Wissen und Wunder, Tatsachen und Monster543 innerhalb der Encyclopédie nicht widersprechen müssen, hat Gipper in seiner überzeugenden Arbeit zur Vulgarisierung innerhalb von Wissenschaftstexten und insbesondere zu den ästhetischrhetorischen Persuasionsverfahren in der Encyclopédie gezeigt. Er sieht in der Encyclopédie eine Ästhetik der Irregularität und des Monströsen am Werke und stellt diese in eine Traditionslinie mit der Prodigienästhetik seit dem 17. Jahrhundert.544 Das Monströse ist damit einem Ideal der Heterogenität und Diversität verpflichtet. Gipper bescheinigt den Einträgen in der Encyclopédie, und hier insbesondere denen aus der Feder Diderots, eine «Poetik der ‹hétérogénéité›, ‹diversité› und ‹variété› mit ihrer Inklusion des Wunderbaren und Spektakulären».545 Gipper kommt zu dem Schluss, dass Diderot «die Vielfalt und Vielförmigkeit zum eigentlichen ästhetischen Prinzip erhebt und damit ihrem Einheitsstreben einen mächtigen Kontrapunkt entgegensetzt».546 Hierbei beruft sich Gipper auf Diderots Ausführungen zur Programmatik, Zielsetzung und poetischen Umsetzung in dessen Eintrag Encyclopédie. Diderot insistiert hier auf dem Variantenreichtum der Artikel: malgré cette unité commune à tous les articles, il n’y aura ni trop d’uniformité, ni monotonie. J’insiste sur la liberté & la variété de cette distribution, parce qu’elle est en même tems commode, utile & raisonnable. Il en est de la formation d’une Encyclopédie ainsi que de la fondation d’une grande ville. Il n’en faudroit pas construire toutes les maisons sur un même modele, quand on auroit trouvé un modele général, beau en lui-même & convenable à tout emplacement. L’uniformité des édifices, entraînant l’uniformité des voies publiques, répandroit sur la ville entiere un aspect triste & fatiguant. Ceux qui mar-

543 Zum Monster als antithetische Projektionsfigur des Menschlichen vgl. die Beiträge in Laura K. Davis/ Cristina Santos (Hg.): The monster imagined. Humanity’s recreation of monsters and monstrosity, Oxford: Inter-Disciplinary Press 2010 sowie zum Monströsen zwischen Wissen und Literatur Urte Helduser: Imaginationen des Monströsen. Wissen, Literatur und Poetik der «Missgeburt» 1600–1835, Göttingen: Wallstein-Verlag 2015. 544 Vgl. Andreas Gipper: Wunderbare Wissenschaft, S. 322. 545 Ebd., S. 328. 546 Ebd., S. 326.

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chent ne résistent point à l’ennui d’un long mur, ou même d’une longue forêt qui les a d’abord enchantés.547

Die Variationen der Artikel, die in der Stadtmetaphorik548 einem interessanten Stadtbild mit unterschiedlichen Häusern gleichen sollen, dienen dabei in dieser Passage weniger der Abbildung der Diversität der Welt, sondern sind explizit wirkungsästhetisch begründet. Die Leserschaft solle sich nicht langweilen, keinem eintönig tristen und ermüdendem Anblick ausgesetzt werden. Diversität und Unterhaltung gehen hier Hand und Hand und richten sich nach den Prinzipien der rationalen Überlegung, der Angemessenheit und Nützlichkeit. Hier wird deutlich, dass die explikative Sprache, die in der Encyclopédie angeschlagen wird, keinesfalls mit jener der modernen Wissenschaften übereinstimmt, so dass Vernunft und anschaulich-variantenreiche enzyklopädische Darstellung keine Gegensätze darstellen. Die Ästhetik der Irregularität, wie Gipper sie nennt, ist kein Zusatz, Schmuck oder Beiwerk zum vernünftigen Encyclopédieprojekt sondern eine Art logische Konsequenz: «Die rhetorisch-ästhetische Aufbereitung des enzyklopädischen Stoffes ist deshalb eine Forderung der Vernunft».549 Mit dieser ästhetischen Fundierung der enzyklopädischen Artikel, deren utilité also sowohl aus der Leserschaftsadressierung als auch aus der vernünftigen Vertextung resultiert, benennt Gipper ein grundlegendes Argument für die in der vorliegenden Untersuchung angelegte wissenspoetologische Perspektive. Allerdings fokussieren die folgenden Analysen der diskursiven Konstruktionen des Wissens nicht allein deren (adäquate) rhetorisch-ästhetische Diskursivierung, sondern insbesondere die Erzählverfahren zur Herstellung von Wissen. Der zentrale Unterschied aber zwischen meinem und Gippers Ansatz liegt in der postkolonialen Perspektivierung der wissenspoetologischen Analysen. Gipper geht davon aus, dass alles Abseitige, Heterogene, Anormale und Monströse Teil der Diderot’schen enzyklopädischen Ästhetik ist, weil nur sie die Heterogenität der Welt abzubilden vermag.550 Demzufolge ist sie als eine dezidiert

547 Denis Diderot, Encyclopédie, S. 635–648. 548 Zum Einsatz der Stadtmetapher als epistemologisches Konzept in der Encyclopédie vgl. Karen Struve: Stadt-Wissen: Überlegungen zu Stadtkonstruktionen in der Encyclopédie ou Dictionnaire Raisonné des Sciences, des Arts et des Métiers (1750–1772), in: lendemains: Dossier: Stadtkonstruktionen in der französischen Literatur vom Mittelalter bis zur Romantik 142, 3 (2011), S. 136–148. 549 Andreas Gipper: Wunderbare Wissenschaft, S. 326. Gipper zeigt die rhetorische Ausdeutung der Encyclopédie ausführlicher an den Planches, welche in der vorliegenden Arbeit nicht berücksichtigt werden können. 550 Andreas Gipper: Logik der Sammlung und Ästhetik der Curiositas in Diderots Encyclopédie und Andreas Gipper: Wunderbare Wissenschaft, S. 320 ff. Dass diese Heterogenität schon allein durch den Produktionskontext entsteht (hier insbesondere der langjährige Entstehungs-

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intentionale Strategie zu werten. Eine postkoloniale, kontrapunktische Lektüre geht hingegen davon aus, dass sich diese Störmomente in den Beschreibungen des unbeschreiblichen fremden, kolonialen Anderen unweigerlich in den Text einschreiben. Damit ist diese Ästhetik des kolonialen Anderen keine kontrollierte oder intendierte Textstrategie, sondern ist immanenter Teil des Diskurses und der Diskursivierung. Eine kontrapunktische Lektüre rückt diese Kehrseite der diskursiven Macht in den Blick, als Widerstand oder aber – so mein Ansatz – als Ambivalenz. Der Wissenskonstruktion des kolonialen Anderen geht vielleicht nicht unbedingt eine (womöglich noch explizit gemachte) formal-ästhetische Entscheidung voraus, wie Vogl dies in Anlehnung an White als Grundlage wissenspoetologischer Beschreibung annimmt («jeder epistemologischen Klärung geht eine ästhetische Entscheidung voraus»551). Aber der koloniale Andere bringt spezifische enzyklopädische Textverfahren hervor, die epistemologische wie xenologische Dimensionen formal-ästhetisch ausformulieren. Doch wie genau wird der koloniale Andere in der Encyclopédie evoziert? Lassen sich spezifische wissenspoetologische Verfahren der kolonialen Alterität ausmachen? Welche enzyklopädischen Textverfahren werden entwickelt, die Dimensionen von Vorwissen, Wissensvorsprung, Wissensartikulationen, Wissensproduktion und -evaluation literar-ästhetisch modellieren und mit Machtaspekten verknüpfen? Erkenntnisleitend für die folgenden Analyse ist ein bereits in der Explication détaillée du système des connaissances humaines552 genanntes Textverfahren, das dort allerdings eher als Marginalie auftaucht: das des «contrefaire».553 Im dritten großen Wissensbereich neben der raison und der mémoire, der imagination, wird die Fiktion von d’Alembert mit Poésie gleichgesetzt («Nous n’entendons ici par Poësie que ce qui est Fiction»554) und als Organisationsprinzip eingesetzt. Die grundlegende Operation der Fiktion ist die treue

zeitraum, die schwierigen Verhältnisse zwischen Verleger Le Breton und den sich schließlich entzweienden Herausgebern d’Alembert und Diderot, die stete Angst vor Zensur, Verbot, Bann oder Verhaftung und schließlich die starke Heterogenität der zahlreichen Enzyklopädisten selbst), wurde in der Einleitung bereits erläutert. An dieser Stelle ist das Argument, dass Heterogenität auch ein wissenspoetologisches Prinzip ist, das mit den Ausschließungen (den Monstern, den Lügen oder Dogmen) der Encyclopédie nachgerade arbeiten muss und damit nicht nur eine intentional-poetische Umsetzung des Wissens der Welt darstellt. 551 Joseph Vogl: Einleitung, S. 13. 552 Denis Diderot/Jean Le Rond d’Alembert: Explication détaillée du système des connaissances humaines, in: Dies (Hg:): Encyclopédie (ENCCRE). Bd. 1, S. xlvij–lj. 553 Vgl. dazu auch die Ausführungen von Alexia Steinhauser: D’Alembert linguiste, Marburg: Tectum Verlag 1995. 554 Denis Diderot/Jean Le Rond d’Alembert: Explication détaillée, S. lj.

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Nachbildung der Natur oder deren unterhaltsame Imitation «Le Poëte, le Musicien, le Peintre, le Sculpteur, le Graveur, &c. imitent ou contre-font la Nature».555 In der mimetischen Bezugnahme auf die Realität gewinnt sie ihre ästhetische wie aufklärerisch-didaktische Qualität, gebiert aber auch ihre Monster («La Poësie a ses monstres comme la Nature») und Abweichungen («l’imagination déreglée»556). Neben der Konnotation als mimetischer Modus spielt der Begriff für eine moderne Leserschaft aber auch auf das Kontrafaktische an, das auf die problematische Bezugnahme auf kontextuelle Faktizität verweist. In diesem repräsentationalen Spannungsfeld – zwischen Rekonstruktion und Produktion – siedeln sich die Verfahren des «contre-faire» des kolonialen Anderen an. Die textuellen Verfahren der Annäherung an den bzw. Distanznahme gegenüber dem kolonialen Anderen fallen dabei sehr unterschiedlich aus. Oftmals setzt sich die enzyklopädische Instanz auch in ironische Distanz zum referierten Wissen, um kritische und skeptische Denkprozesse zur Schau zu stellen. Und schon auf einen ersten metanarrativen Blick weisen die Artikel ein ganzes Spektrum an mimetischen Modi des «contre-faire» auf: Sie bewegen zwischen Wissen Berichten und Erklären, zwischen Dokumentieren und Erzählen, zwischen Schweigen und Fabulieren, zwischen Zitieren und Referieren. Diese Modi werden im Folgenden durch die Analysen der narratologischen Verfahren und der intertextuellen Bezugnahmen herausgearbeitet.

2.1.2.1 Narratologische Verfahren: Sprechbeziehungen Alteritätsfigurationen: Den Anderen erzählen – «Contre-faire» l’autre colonial – Narratologische Analysen: Distanz: Erzählen von Informationen und Ereignissen − Ökonomisches und epistemologisches Erzählen – Parteiische Positionierungen − Solidarisierungsalteration − Chi-

555 In dieser Passage ist nicht recht deutlich, ob die Konjunktion «ou» («imitent ou contrefont») mit «contre-faire» einen alternativen oder synonymen Begriff zur Imitation einführt. Im Eintrag Contrefaire selbst gilt die synonymische Verwendung, die allerdings eine unterhaltende Konnotation erfährt: «Contrefaire, imiter, copier, verb. act. (Gramm.) termes qui désignent en général l’action de faire ressembler. On imite par estime, on copie par stérilité, on contrefait par amusement. On imite les écrits, on copie les tableaux, on contrefait les personnes. On imite en embellissant, on copie servilement, on contrefait en chargeant.» (Jean Le Rond d’Alembert: Contrefaire, imiter, copier, in: Denis Diderot/Ders. (Hg.): Encyclopédie (ENCCRE). Bd. 4, S. 133. 556 Ebd. «Voilà toute la Partie Poëtique de la Connoissance humaine ; ce qu’on en peut rapporter à l’Imagination, & la fin de notre Distribution Généalogique (ou si l’on veut Mappemonde) des Sciences & des Arts, que nous craindrions peut-être d’avoir trop détaillée, s’il n’étoit de la derniere importance de bien connoître nous-mêmes, & d’exposer clairement aux autres, l’objet d’une Encyclopédie.» (Ebd.).

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astische und parallelisierte Verschränkungen – der enzyklopädische Erzähler: nicht der Enzyklopädist – elektive, individuelle und narrative Wissens-konstruktion – Distanz: Redeinszenierungen – Distanz: Erzählen von Gedanken – Fokalisierungen: Erzählen vom kolonialen Anderen. Sichtfelder und Wissensvorsprung – Sichtbeschränkungen – Stimme. Erzählen und der koloniale Andere – Extra- und Intradiegesen – Hetero-, Homo- und Autodiegesen – Stimme. Subjekt und Adressat des Erzählens – (extra-)diegetischer narrataire – (intra)diegetischer narrataire: Aufklärungsfunktion – Fazit: Narratologische Verfahren der Alteritätserzählungen. Merkmale der relationalen Narrativierung – der enzyklopädische Erzähler

Besonders ‹wissensafin› erscheinen narratologische Verfahren, die Wissensdiskrepanzen zwischen der Erzählinstanz und den erzählten Informationen und Subjektenformulieren. Besonders alteritätsaffin wiederum erscheinen die Verfahren der Relationierung des kolonialen Anderen zum europäischen philosophe, also jene, die mit mehr oder weniger Distanz die Erzählung von Ereignissen und Worten inszenieren.557 Diese wissenspoetologischen Fragen zur Erzählung des Wissens über den kolonialen Anderen werden im Folgenden mithilfe narratologischer Konzepte von Genette untersucht und jeweils mit Fragen nach der Macht oder Autorität in Bezug auf die Erzählung des Alteritätswissensverknüpft. Es geht in einer Makroperspektive um die «régulation de l’information narrative»558. Auf einer mikrotextuellen Ebeneerlauben besonders die Genette’schen Kategorien des Modus («mode») die Nähe bzw. Distanz zum Erzählten; die Kategorie der Stimme («voix») dessen perspektivische Formungzu untersuchen. In dieser Perspektive kann Fragen danach nachgegangen werden, wie mittelbar oder unmittelbar die enzyklopädische Instanz Wissen über den kolonialen Anderen in Form von Ereignissen, Worten oder Gedanken des Erzählten wiedergibt, welche Perspektiven und ggfs. Perspektivwechsel zwischen Weltsichten als Wissensformationen (Fokalisierung) artikuliert werden und wen dieses Wissen eigentlich adressiert («narrataire»). Dabei ist die Übertragung der Genette’schen Kategorien zur Analyse der Wissenserzählungen in den enzyklopädischen Artikeln nicht unbedingt evident. Die höchste Transferhürde scheint dabei zu sein, dass Genette dezidiert mit literarischen Texten arbeitet und seine Terminologie anhand der Analysen von Prousts Recherche entwickelt (bei aller generischen Offenheit dieses umfangreichen und weltliterarischen Textes). Die narratologische Untersuchung der Encyclopédie-Artikel ist im Hinblick auf die narrativen Verfahren zwar durchaus möglich, denn in ihnen mischen sich (wie bereits einleitend erläutert)

557 Vgl. zur postkolonialen Narratologie weiterhin Ruth Gilligan: Towards a ‹narratology of Otherness› und Gerald Prince: On a Postcolonial Narratology. 558 Gérard Genette: Figures III, Paris: Seuil 1972, S. 184, Hervorhebung im Original).

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fiktionale und faktuale Erzählungen avant la lettre, so dass auch die zeitgenössische Leserschaft ohne Schwierigkeiten in den ‹enzyklopädischen Pakt› einwilligt, literarisch-philosophische Texte (um es einmal verkürzt so auf den Begriff zu bringen) zu rezipieren. Nicht unproblematisch aber ist der Einwand, dass die kolonialen Anderen, die in der Encyclopédie auftauchen, nicht als literarische Figuren untersucht werden können, da sie weder fiktiv noch im Sinne einer Einbettung in eine Diegese (vgl. Einleitung) erdacht sind. Mir scheint diese Analogie aber dennoch fruchtbar, weil auf diese Weise zum einen die wissenspoetologische Dimension der Artikel akzentuiert wird, indem der (narrative) Konstruktcharakter der kolonialen Anderen, der eben nicht auf der mimetischen Wiedergabe von (textuellen) Quellen beruht, betont wird. Zum anderen wird durch die Figur-Analogie das Machtverhältnis zwischen Erzählstimme und erzählten Figuren überhaupt erst analysierbar, da erst auf diese Weise eine enzyklopädische Diegese sichtbar wird. Und innerhalb dieser enzyklopädischen Diegese wiederum werden dann Narrationen der epistemischen und der kolonialen Macht entworfen, die etwa Verfahren von Ein- und Ausschlüssen, von Alterisierungen und Selbstinszenierungen ausbilden. Mittels der analytischen Kategorien von Genette lassen sich diese Verfahren als Narrationen der kolonialen Macht beleuchten und im Anschluss dann kontrapunktisch hinterfragen. Im Folgenden werden die Textanalysen entlang der Genette’schen Kategorien strukturiert. Dieses Vorgehen impliziert, dass die Diskursachsen ökonomischen, moralischen und kulturellen Wissens, wie sie im vorangegangenen Kapitel heuristisch getrennt wurden, die Analysen nicht mehr vorstrukturieren, sondern den narratologischen Verfahren untergeordnet werden. In Anlehnung an Genette (und seiner Argumentation folgend) lassen sich diese Erzählverfahren in eine Heuristik überführen, die unter der Kategorie der ‹Distanz› das Erzählen von Wissen in Form von Ereignissen («Récit d’événement»559), in Form von Worten («Récit de parole»560) und in Form von Gedanken (als «discours intérieur» oder «pensées»561) unterteilen. Alle drei Ebenen sind in den Encyclopédie-Artikeln präsent und formulieren das Verhältnis von wissendem Subjekt und den Wissensbeständen aus. Distanz: Erzählen über den kolonialen Anderen Erzählen von Informationen und Ereignissen In den enzyklopädischen Einträgen werden Sachinformationen im Überblick in geordneter Reihenfolge dargelegt. In den vorangegangenen Analysen ist bereits 559 Ebd., S: 186. 560 Ebd., S. 189. 561 Ebd., S. 197.

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deutlich geworden, dass der koloniale Andere als eine Art Sachinformation oder WIssensobjekt in den enzyklopädischen Artikeln präsent ist, indem er als eine Komponente der kolonialen Welt beschrieben wird. Insbesondere im Zusammenhang mit dem ökonomischen Alteritätsdiskurs ist dies auffällig: Hier wird der koloniale Andere in die Auflistungen der Handelswaren eingereiht und/ oder aber er bleibt hinter einer additiven Ansammlung von Waren (ob nun als Produzent, als Handelspartner oder als Lieferant) blass bzw. verschwindet gänzlich. Jene Erzählung einer Art Listenwissen über die koloniale Welt beinhaltet zwei enzyklopädische Verfahren: ein ökonomisches und ein epistemologisches. Einerseits repräsentieren diese Warenauflistungen nämlich den ökonomischen Diskurs selbst, der mit Buchhaltung und Warenverwaltung, mit Anhäufung von (als im Sinne des Luxus-Diskurses überflüssigen) Handelswaren aufwartet. Auf der formal-ästhetischen Ebene kommentiert und repetiert sich also der ökonomische Diskurs selbst: Warenlisten werden auch listenartig narrativiert, Akkumulation durch Enumeration textuell konstruiert.562 Allerdings wird der Ökonomiediskurs auch kulturalistisch aufgeladen, indem Handelswaren mit Handelsverfahren verbunden werden. Dies zeigt sich etwa in einer nahezu szenischen Darstellung eines Marktplatzes, auf dem die Akkumulation auch in ihrer horizontalen Struktur kontraintenional durchaus unübersichtlich wird. In diesen Passagen wird dann die Ordnung ambivalent und droht in eine Art Gewimmel zu kippen. Darauf wird im folgenden Kapitel zur Ambivalenz des ökonomischen Alteritätsdiskurses noch näher eingegangen (vgl. 2.2.2.1). Andererseits aber sind diese Listungen auch enzyklopädischer Natur, ist doch eines der Anliegen der Encyclopédie, das Wissen der Welt den Forschungsund Entdeckungsreisen zu entnehmen und zu (ver-)sammeln. Diese autoenzyklopädischen Textverfahren als Selbstreflexionen enzyklopädischen Sammelns sieht Gipper563 etwa auch im Eintrag zum Cabinet d’histoire naturelle564 am Werk. Damit ist aber auch implizit die Instanz des akkumulierenden enzyklopädischen Erzählers als zentrales Organisationsprinzip des Encyclopédie-Artikels präsent, das sich als Zentrum bzw. in die Übersicht setzt und in einiger Distanz von Objekten erzählt, diese anordnet und systematisiert.565 Es ist daher nicht

562 Dabei muss man festhalten, dass die Warenlisten nicht vertikal, sondern horizontal akkumulierend aufgeführt sind. Es handelt sich insofern eher um eine Warenreihung denn um eine Liste. 563 Vgl. Andreas Gipper: Wunderbare Wissenschaft, S. 331. 564 Vgl. Denis Diderot: Cabinet d’Histoire Naturelle, S. 489–492. 565 Ganz im aufklärerischen (bzw. die Port-Royal-geprägte Rhetorik von Paralogismen, vgl. Andreas Gipper: Wunderbare Wissenschaft, S. 315) und kolonial-exploratorischen Sinne wird der koloniale Andere narrativ eingehegt.

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verwunderlich, dass sich die narrativen Inszenierungen des ökonomischen Wissens meist in der Erzählung von Ereignissen bzw. Informationen erschöpfen und weniger auf die Inszenierung von mündlicher Rede oder sogar Gedanken setzt (darauf wird im Folgenden in der Analyse der Redeerzählungen noch näher eingegangen). Diese Objekt- oder aber im ökonomischen Diskurs: Warenhaftigkeit wird insbesondere sichtbar in den Artikeln über Sklavenwirtschaft, in denen der koloniale Sklave zur Ware degradiert wird und damit automatisch als menschlicher, personaler Erzähler ausfallen muss. Auf welche Weise diese Sprecherrollen gestaltet werden, wird Gegenstand der folgenden Analysen der Redeinszenierungen sein. Anders ist die Positionierung der enzyklopädischen Instanz bei den narrativen Inszenierungen des kulturellen Wissens über den kolonialen Anderen, die nicht primär akkumulativ wie in ökonomischen Zusammenhängenverfahren. Da die Informationen deutlich häufiger Handlungen des kolonialen Anderen beinhalten oder historische Ereignisse paraphrasieren, scheint sich die enzyklopädische Instanz in seiner narrativen Distanz deutlicher positionieren zu müssen. Die Informationen über Kriegertum oder Gastfreundschaft macht esoffenbar erforderlich, eine Art Parteilichkeit im Verhältnis von narrativer Instanz und beschriebenen Ereignissen herzustellen. Dies geschieht etwa durch den Einsatz von Personalpronomina oder spatiale Semantisierungen, um Nähe oder DistanzRelationen zu verdeutlichen. «Nos colonies» stehen dann «notre patrie» gegenüber, «ils» und «eux» als die Wilden einem «je» oder «nous»; Wörter wie «s’éloigner», «s’approcher» vermessen die kulturelle und moralische Distanz zwischen dem Europäer und jenen Fremden in der kolonialen Welt. Immer wieder muss in den Encyclopédie-Artikeln ausgehandelt werden, wer inwiefern als Anderer zu betrachten ist, was immer mit einem In-VerhältnisSetzen und somit mit einer narratologischen Inszenierung von Distanz einhergeht. Dies wirkt sich bis in die Mikrostruktur der Einträge aus. Exemplarisch sei hier der Eintrag zur Baumwolle noch einmal genannt, in dem ein unmerklicher rhetorischer Seitenwechsel stattfindet, der zwar nicht als narratologische Fokalisierungsalteration, aber als Solidarisierungsalterationbezeichnet werden kann. Jene îles françoises de l’Amérique fournissent les meilleurs cotons qui soient employés dans les fabriques de Roüen & de Troyes. Les étrangers, nos voisins, tirent même les leurs de la Guadeloupe, de Saint-Domingue, & des contrées adjacentes. Ils ont différentes qualités.566

566 Denis Diderot: Coton, S. 306.

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Die enzyklopädische Instanz arbeitet hier mit der überraschenden Attribuierung des Fremden für die Europäer, die dann aber als «nos voisins» wieder aus der Warte der Europäer bezeichnet werden: Als fremd können die Handelsmächte nur aus der Sicht der Einheimischen bezeichnet werden; das «nos voisins» aber zeigt die parteiische, solidarische und womöglich analogische Konzeption der enzyklopädischen Instanz an. Das Machtgefälle transportiert sich hier über die Reibungsfläche zwischen «nos voisins» und «étrangers» sowie über die abermals fehlenden akteurialen Antagonisten in Gestalt der kolonialen Anderen und noch weniger selbstredend der Sklaven. Gleichwohl sind die Alteritätskonstruktionen, dies haben die vorausgegangenen Analysen des kolonialen Anderen als Wissensfiguren gezeigt, nicht nur antithetisch konstruiert, sondern auch immanent miteinander verschränkt. Signifikant ist in diesem Zusammenhang, dass sich die reziproke Anlage der kolonialen Alterität, die mit dem europäischen Selbstbild verschränkt ist, auch auf der rhetorisch-stilistischen Ebene ihre Entsprechung findet: vornehmlich in Form von Parallelismen und Chiasmen. Parallelismen (à la «comme chez nous») zeigen die relationale, Chiasmen wiederum die reziproke Interdependenz auf. Dies ist – und hier lässt sich die aufklärerische Programmatik der Encyclopédie auf der stilitischen Ebene auffinden – insbesondere bei der Beschreibung der despotischen Regierung bei fremden Völkern der Fall. So etwa im Eintrag zur Türkei, in der die despotischen Sitten mit den europäischen nicht nur kontrastiert, sondern antithetisch angelegt sind: On ne leve en Turquie qu’un seul droit d’entrée fort modique, après quoi tout le pays est ouvert aux marchandises. Les déclarations fausses n’emportent même ni confiscation ni augmentation de droits. Tout le contraire se pratique en Europe ; les peines fiscales y sont très-séveres. C’est qu’en Europe le marchand a des juges qui peuvent le garantir de l’oppression ; en Turquie les juges seroient eux-mêmes les oppresseurs ; & le trésor de Constantinople ne retireroit rien.567

In chiastischer Verschränkung sind Unterdrückung und Richter in Europa und der Türkei verbunden und dennoch dezidiert kontrastiert: «en Europe le marchand a des juges qui peuvent le garantir de l’oppression ; en Turquie les juges seroient eux-mêmes les oppresseurs».568 Die Ereignisse bzw. Funktionsweisen des Kolonialhandels sind nicht als subjektive Einschätzungen oder Kommentare markiert; die rhetorische Aufbereitung der kulturell-ökonomischen Gegensätzlichkeit aber zeigt die machtvolle, tendenziöse, zugespitzt formuliert auch die

567 Louis de Jaucourt: Turquie, in: Denis Diderot/Jean Le Rond d’Alembert (Hg.): Encyclopédie (ENCCRE). Bd. 16, S. 755–759, hier S. 758. 568 Ebd.

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orientalistische Abwertung türkischer Rechtssprechung und Machtausübung. Die enzyklopädische Instanz ist also nicht nur im Wissensvorsprung verglichen mit der Leserschaft, sondern artikuliert explizit wie in der narrativ-rhetorischen Inszenierung einer vermeintlichen Information als orientalistische Trope avant la lettreauch die machtvolle normative Verurteilung alteritären Wissens. Ob Textregie,569 Evaluation der Quellentexte oder kritischer Kommentar: Stets markiert das «je» (oder das analog zu verstehende «nous», das zwar auch kollektiv-plural, tendenziell aber eher als wissenschaftlicher pluralis einer Einzelstimme funktioniert und bis heute den französischsprachigen Wissenschaftsduktus beherrscht) machtvoll die eigene Beschreibungsposition, die bei Weitem nicht nur auf die Deskription beschränkt bleibt, sondern ‹kreativ› Wissen generiert, in das die Erzählinstanz aber immer kognitiv wie affektiv involviert ist (und dieser Aspekt wird insbesondere in den Analysen zu den Ambivalenzmomenten immer deutlicher, vgl. Kapitel 2.2). Ferner ist in der Einleitung (vgl. Kapitel 1.1) schon der Konnex von Wissen und Erzählung dargelegt worden, so dass in Bezug auf den enzyklopädischen Erzähler konstatiert werden kann, dass er aus Informationen in den enzyklopädischen Narrationen Wissen generiert. Demgemäß soll im Folgenden die Erzählinstanz als enzyklopädischer Erzähler bezeichnet werden. Dieser Begriff betont zum Ersten, dass die Wissenskonstruktion im enzyklopädischen Artikel nicht allein auf die diskursive Definitionsmacht des individuellen, realhistorischen Enzyklopädisten zurückzuführen ist und der enzyklopädische Erzähler damit nicht mit dem Enzyklopädisten identisch ist. Vielmehr ist der enzyklopädische Erzähler als strukturelles Textelement im Eintrag vorhanden. Zum Zweiten betont der Terminus der enzyklopädischen Erzählers, im Gegensatz zu dem der Erzählinstanz, dass es sich hier sowohl um eine personale Konzeptmetapher handelt, die für die Fragestellungen der Identitäts- und Alteritätskonstruktionen geeigneter ist, als auch die persönliche Weltsicht des Erzählenden akzentuiert.570 Mit dieser selektiven enzy-

569 Exemplarisch im Eintrag zu Sevilla: «Je n’entrerai pas dans d’autres détails sur Séville, parce qu’on peut s’en instruire dans plusieurs ouvrages traduits en françois ; mais il faut que je parle de quelques hommes célebres dans les lettres, dont elle a été la patrie.» (Louis de Jaucourt: Séville, in: Denis Diderot/Jean Le Rond d’Alembert (Hg.): Encyclopédie (ENCCRE). Bd. 15, S. 132–136. 570 Die starke Bindung des enzyklopädischen Erzählaktes an eine sprechende Person, die insbesondere in den Konstruktionen des kolonialen Anderen an eine Subjektvorstellung gebunden ist, die zwischen ratio und Affekten pendeln muss, ist der Grund für meine Entscheidung für den Terminus des Erzählers und nicht für den der narrativen Stimme, wie man mit Genette auch hätte argumentieren können. Das Konzept des enzyklopädischen Erzählers akzentuiert folglich Konnotationen von Subjektivität, Körperlichkeit, Affektökonomien und identitätsstiftenden Narrativierungen. Die Verwendung der männlichen Form ist dem historischen Kontext geschuldet, da die reale wie implizite Autorschaft in der Encyclopédie männlich war

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klopädischen Erzählhaltung wird gleichzeitig die von d’Alembert geforderte arbiträre und elektive Wissenskonstruktion als auch der Akt der Wissensgenerierung selbst im Blick behalten. Zum Dritten schließlich integriert der Begriff auch die wissenspoetologische Dimension der Wissenskonstruktion. Damit werden gleichzeitig der narrative Akt der Wissenskonstruktion und die subjektive Weltsicht ausgedrückt. Mit Genette gesprochen wird das Wissen fokalisiert, indem dem enzyklopädischen Erzähler gleichzeitig die Aufgabe der Inszenierung von Übersicht und Mitsicht obliegt (vgl. dazu meine Ausführungen in der Einleitung zur poetologischen Konzeption des philosophe-Standpunkts). Dies wird im Folgenden noch deutlicher, wenn sich bspw. ein «je» in den enzyklopädischen Narrationsakt einschaltet. Erzählen von Worten Für die Frage nach den kolonialen Alteritätskonstruktionen noch signifikanter ist die Erzählung von Worten, denn hier werden Fragen nach dem Mensch-Sein des kolonialen Anderen (kann er überhaupt sprechen?), nach seinem Artikulationsraum (wird ihm das Wort erteilt?) und den Kommunikationsmöglichkeiten (spricht er zum Europäer? hört dieser ihn?) verhandelt. In den Artikeln werden demgemäß Redesituationen inszeniert, in denen neben dem enzyklopädischen Erzähler weitere Figuren zur Sprache kommen und sich das Machtverhältnis in der Wiedergabe von mündlicher Rede formal ausgestalten muss. So finden sich in den Encyclopédie-Artikeln Inszenierungen von direkter und indirekter Rede, die die im Eintrag zuvor genannten Erzählungen von Wissensbeständen oder Ereignissen illustrieren, plausibilisieren oder gar dramatisieren. Während in den ökonomischen Diskursen über die Handelsbeziehungen zum kolonialen Anderen im Grunde keine Redeinszenierung vorkommt, wird diese eher in Bezug auf die Kriegs- bzw. Gastfreundschaftsgesten des kolonialen Anderen eingesetzt und vor allem zur Beschreibung von kulturellen Handlungen genutzt. Für die narratologische Analyse der Redeeinszenierungen soll nochmals der Eintrag zur Wollverarbeitung (Laine, Manufacture en laine ou Draperie) in den Blick genommen werden, in dem ja eine Dialogsituation571 suggeriert und ein Monolog wiedergegeben wird, indem der fremde Wilde durch die europäische Wollmanufaktur schweift und versucht den Europäer davon zu überzeugen, zu einer ‹natürlicheren› Bekleidung zurückzukehren:

(im Übrigen auch der Leserschaft, sieht man einmal ab von großen Ausnahmen wie Mme de Pompadour). 571 Diese Dialogsituation findet sich im paradigmatischen Text von La Hontan (vgl. Louis Armand de Lom d’Arce de Lahontan/Henri Coulet: Dialogues de Monsieur le Baron de Lahontan et d’un sauvage dans l’Amérique, Paris: Desjonquères [1703] 2007).

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Ils nous diroient volontiers: Tu as apporté en naissant le vêtement qu’il te faut en été, & tu as sous ta main celui qui t’est nécessaire en hiver. Laisse à la brebis sa toison. Vois-tu cet animal fourré. Prend ta fleche, tue-le, sa chair te nourrira, & sa peau te vêtira sans apprêt. […] Il prit une couverture, il la jetta sur ses épaules, fit quelques tours ; & rendant avec dédain cette enveloppe artificielle au manufacturier: en vérité, lui dit-il, cela est presqu’aussi bon qu’une peau de bête. Les manufactures en laine, si superflues à l’homme de la nature, sont les plus importantes à l’homme policé.572

Hier wird eine Kommunikationssituation in direkter Rede als adressierender Monolog inszeniert: Auf der einen Seite steht dabei jener edle Wilde, der durch die Manufacture spaziert und die handwerkliche Verarbeitung milde und mitleidig belächelt. Er spricht zu einem «nous», das mehrfach belegt ist: Dieses «nous» kann auf der einen Seite ganz konkret den/die Arbeiter in der Wollmanufaktur meinen, die in der diegeseimmanenten Dialogsituation die angesprochenen Figuren wären (als narrataire, worauf später zurückzukommen sein wird). Das «nous» funktioniert aber auf der anderen Seite als Bezeichnung für den europäischen Menschen, jenem generalisierten und kontrastiv angelegten «homme policé». Der Text inszeniert also als Antagonisten die europäische Leserschaft, die die Erzählinstanz einschließt, indem im Artikel schon vor der Redewiedergabe das «nous» eingeführt wird («les peines que nous prenons pour obtenir de notre industrie»). Als ein für die moderne Leserschaft durchaus überraschendes, für das zeitgenössische Lesepublikum aber aus philosophischen und journalistischen Texten gewohntes Verfahren, ist die Verwendung identifizierender Personalpronomina zu nennen. Diese identifzieren in Form von «nous» und «on»-Formulierungen die Leserschaft auf der europäischen Seite und involvieren sie folglich auch in kulturpolitische, kulturphilosophische oder kolonialistische Diskurse. Bereits im Eintrag zu Afrique wurde dies sichtbar, wo das Wissen und Unwissen über den kolonialen Anderen primär über die Präsenz des Franzosen hergestellt wurden: «Nous faisons quelque commerce sur les côtes de Malaguette ou de Greve [...] On ne fait rien dans la Cafrerie.»573 Diese Identifzierung dient der Positionierung innerhalb des Kolonialprojektes auf der Seite der europäischen Kolonialherren; sie ist aber auch (oder in Ergänzung dazu) im Zusammenhang mit den europäischen nation building-Prozessen im 18., vor allem aber im 19. Jahrhundert zu verstehen.574

572 N. N.: Laine, Manufacture en laine ou Draperie, S. 184. 573 Denis Diderot: Afrique, S. 164. 574 Vgl. Susanne Greilich: Französische Volksalmanache des 18. und 19. Jahrhunderts, Heidelberg: Winter 2004, zur Tradierung von Nationalstereotypen in Enzyklopädien der Aufklärung vgl. Ina Ulrike Paul: «Wache auf und lies…»: Zur Tradierung von Nationalstereotypen in europäischen Enzyklopädien des 18. Jahrhunderts, in: Ingrid Tomkowiak (Hg.): Populäre Enzyklo-

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Für die Inszenierung der direkten Rede werden in den Encyclopédie-Artikeln Paraphrasen und direkte Zitate genutzt, in denen der enzyklopädische Erzähler vom narrativen Modus abweicht und seine Distanz zum Erzähltenminimiert. Hier wendet sich der Wilde dann direkt an das europäische «nous» und spricht zu ihm. Seine Rede wird im dramatischen Modus inszeniert, markiert etwa durch verba dicendi, Doppelpunkt («Ils nous diroient volontiers:», «lui ditil») oder durch Kursivierung der direkten Rede.575 Diese Kursivierung ist in nahezu allen Artikeln zu finden, in denen die direkte Rede inszeniert, also im dramatische Modus direkte Figurenrede mit und ohne verba dicendiwiedergegeben wird. So etwa auch im Eintrag zu den Fêtes des Hebreux, in dem Moses selbst (verständlicherweise, weil die Autorität des Sprechers anerkennend ohne verba dicendi) zu Wort kommt: «C’est la raison pour laquelle Moyse en ordonna la sanctification, non comme une institution nouvelle, mais comme la confirmation d’un ancien usage. Souvenez-vous, dit-il, de sanctifier le jour du sabbat.»576 Die Inszenierung der Dialogsituation findet sich etwa im Encyclopédie-Artikel zur Insensibilité. Dabei wird hier im Gegensatz zur der Redesituation in der Wollmanufaktur, die der Text ja immerhin noch mit der Angabe einer vagen Referenz («On raconte qu’un sauvage») absichert, eine monologische Ansprache einer kolonisierten Frau inszeniert ohne Angabe einer referierten konkreten Kommunikationssituation oder Quelle. Hier wird eine authentische Kommunikationssituation fingiert, die unvermittelt einsetzt: Les Barbares & les Sauvages avec lesquels ce peuple si vanté avoit plus d’un trait de ressemblance, ont souvent montré une pareille force, ou pour mieux dire, une semblable insensibilité apparente. Aujourd’hui dans le pays des Iroquois la gloire des femmes est d’accoucher sans se plaindre ; & c’est une très grosse injure parmi elles que de dire, tu

pädien. Von der Auswahl, Ordnung und Vermittlung des Wissens, Zürich: Chronos 2002, S. 197– 220. 575 An dieser Stelle muss betont werden, dass es in den Textanalysen nicht um eine konsistente Poetik der Redewiedergabe in der Encyclopédie geht und gehen kann, da die Inkonsistenzen der Zitierweisen keine formal-ästhetischen Strategien sind, sondern der Unübersichtlichkeit des Encyclopédie-Projektes, der Heterogenität der Schreibweisen (der unterschiedlichen Autoren) und damit eher spezifisch-historischen Editionsbedingungen denn ästhetischen Produktionsstrategien geschuldet ist. In den Textanalysen geht es um die textuellen Markierungen der Distanznahme zum sprechenden kolonialen Anderen – wie auch immer die formalen Verfahren dann im Einzelnen ausfallen mögen. Die Kursivierungen der mündlichen Rede findet auch bei den Redeinszenierungen statt, die die Rede des Europäers wiedergeben und ist demgemäß keine typographische Alteritätsmarkierung per se. 576 Edmé-François Mallet: Fete des Hebreux, in: Denis Diderot/Jean Le Rond d’Alembert (Hg.): Encyclopédie (ENCCRE). Bd. 6, S. 564.

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as crié quand tu étois en travail d’enfant ; tant ont de force le préjugé & la coutume ! Je crois que cet usage ne sera pas aisément transplanté en Europe ; & quelque passion que les femmes en France aient pour les modes nouvelles, je doute que celle de mettre au monde les enfans sans crier ait jamais cours parmi elles.577

Die Funktionen der imaginierten Rede sind dabei vielfältig: Sie dient dazu, eine ‹monologische Gesprächssituation› zwischen den Irokesen-Frauen zu inszenieren und damit besonders lebendig, vielleicht auch authentisch zu wirken. Interessanterweise ist die Adressatin der Rede hier eine weitere Irokesen-Frau und nicht die europäische Leserschaft. Im Encyclopédie-Eintrag wird damit ein Gespräch unter den kolonialen Anderen evoziert. Der wirkungsästhetische Effekt ist dabei besonders signifikant: Der europäische Blick auf diese Gesprächssituation ist gleichzeitig distanziert (fast wie in einer Mauerschau) und involviert, weil man meint, einem Gespräch lauschen zu können. Überdies ist diese wiedergegebene Rede eingebettet in Werturteile: Vor der Rede wird bereits die normative Ausdeutungexpliziert, nämlich, dass es sich im Folgenden um eine große Beleidigung handeln wird; nach der wörtlichen Rede wird zunächst die Schlagkraft dieser gesellschaftlich-kulturellen Norm betont («tant ont de force le préjugé & la coutume!»578). Darauf schaltet sich die Erzählinstanz durch eine Personalisierung als «je» ein und macht den ihmzufolge unmöglichen Kulturtransfer zu französischen Verhältnissen deutlich. In der direkten Konfrontation mit mündlicher Rede wird das (kulturelle) Wissen des kolonialen Anderen durch die enzyklopädische Erzählinstanz gleichzeitig durch die wörtliche Rede anerkannt und exotisiert. Einen ganz anderen Adressaten als eine Stammesgenossin spricht im Eintrag Maramba ein Gefangener an: Hier wird eine Anrufung eines Gottes inszeniert, einer berühmten afrikanischen Gottheit der Loango. Mit der Anrufung fällt die Entscheidung über Leben oder Tod: Maramba, (Hist. mod. superstition) fameuse idole ou fétiche adorée par les habitans du royaume de Loango en Afrique, & auquel ils sont tous consacrés dès l’âge de douze ans. […] Alors l’accusé embrasse l’idole, & lui dit: je viens faire l’épreuve devant toi, ô Maranba [sic] ! les negres sont persuadés que si un homme est coupable, il tombera mort sur le champ ; ceux à qui il n’arrive rien sont tenus pour innocens.579

In diesem Eintrag kommt der fremde Angeklagte zu Wort, indem die direkte Rede abermals durch das verbum dicendum «lui dit» eingeführt wird und die

577 N. N.: Insensibilité, S. 788. 578 Ebd. 579 [Paul-Henri Thiry d’Holbach]: Maramba, in: Denis Diderot/Jean Le Rond d’Alembert (Hg.): Encyclopédie (ENCCRE). Bd. 10, S. 66.

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Anrufung nach der Redewiedergabe direkt in ihrer Sinnhaftigkeit beschrieben und durchaus mit Distanz, durch die Einschränkung des «persuader» beurteilt wird.580 In diesen exotisierten, religiös motivierten und von daher auch fremd wirkenden Anreden an Gottheiten kommt der koloniale Andere ab und an zur Sprache. So auch im Eintrag Canadiens, (Philosophie des), in dem der Wilde die Präsenz seiner Gottheit in einer Weise überall wahrnimmt, dass er alles insbesondere Schöne oder die Sonne in direkter Rede anspricht: «Cela est si vrai, que lorsqu’ils voyent quelque chose de beau, de curieux & de surprenant, sur-tout le soleil & les autres astres, ils s’écrient: O grand esprit, nous te voyons par-tout !»581 Weitestgehend stumm bleibt er, wie oben bereits ausgeführt, im Zusammenhang mit den ökonomischen Betrachtungen des Kolonialwesens. Da er als Handelspartner hinter Handelswaren, strategische geographische Knotenpunkte oder Handelswege zurücktritt, bekommt er auch keine Stimme. Selbst in der Beschreibung von Handelssitten, die dem Europäer vertraut oder gar gänzlich fremd erscheinen, wird das Handeln weitestgehend ohne Worte inszeniert. Erst in den ausdifferenzierten kulturellen Praktiken kommen die enzyklopädischen Artikel nicht umhin, den kolonialen Anderen zu Wort kommen zu lassen. Bezeichnenderweise haben die als nomadisch beschriebenen Anderen keine Redeanteile, was als die formale Entsprechung der Nicht-Sesshaftigkeit, des Entzugs vor (kolonialer) Machtausübung und territorialer Kontrolle gelesen werden kann: Der koloniale Andere als Nomade wird keine Rede zugestanden. Und noch deutlicher fällt dies naturgemäß für die Figur des Sklaven aus, weil dieser in seiner Objekthaftigkeit verharren muss (und nicht als Ausdruck einer Subjektivität sprechen darf) und sich mehr noch mit Blicken gar entblößen lassen muss.582 Eine paradigmatische Anschaulichkeit bekommt die Redeinszenierung in jenen enzyklopädischen Passagen, in denen über die Sprachfähigkeit des kolonialen Anderen reflektiert wird. Wird den kolonialen Anderen die Fähigkeit zur Sprache abgesprochen, werden ihre Laute mit Tierlauten verglichen oder erscheinen sie gar aphasisch, ist eine Wiedergabe mündlicher Rede unnötig. Wörter in ihrer (Fremd-)Sprachekommen zwar durchaus in der Encyclopédie vor, doch diese werden als Wissensbestände gesetzt, die allein zu Ausführun-

580 Ein weiteres Beispiel ist die Passage im bereits erwähnten Eintrag Victime humaine, in der eine Bitte um die Annahme von Menschenopfern formuliert wird, in direkter Rede ohne Interpunktion, wohl aber mit verbum dicendum: «Seigneur, lui dirent ces trois députés, voilà cinq esclaves que nous t’offrons [...].» (Louis de Jaucourt: Victime Humaine, S. 242. 581 Jean Pestré: Canadiens (Philosophie des), in: Denis Diderot/Jean Le Rond d’Alembert (Hg.): Encyclopédie (ENCCRE). Bd. 2, S. 581–582, hier S. 582. 582 Vgl. Denis Diderot: Constantinople, in: Ders./Jean Le Rond d’Alembert (Hg.): Encyclopédie (ENCCRE). Bd. 4, S. 59.

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gen über die Etymologie (hier folgen die Encyclopédie-Artikel dem Modell enzyklopädischer Traditionen) oder unterschiedliche Bezeichnungen in den Sprachen der jeweiligen europäische Kolonialmächte. Die Sprachgewalt liegt nun nicht im fremden Wort und damit in den fremden Sprechern, sondern wieder in der enzyklopädischen Definitionsstimme. Die Nennung von idiomatischen Wendungen und fremdsprachlichen Ausdrücken dient in der Perspektive der kolonialistischen Machtartikulation mehr der eigenen Souveränität: der Demonstration des Polyglottenund des Etymologie-Wissens. Hier dient das Alteritäre dem Beweis der eigenen rationalen, weltmännischen Überlegenheit und der gewissermaßen toleranten, in jedem Fall aber machtvollen Einbettung jeglicher menschlichen Ausdrucksweisen in die eigenen Sprachstrukturen und Argumentationslogiken. Eine analoge epistemologische Dominanz ist auch in den Definitionen des kolonialen Anderen über dessen Geschichtserzählungen oder technische Errungenschaften angelegt. Auch hier sind konkrete Geschichtserzählungen oder gesprochene Beschreibungen von Wissen oder Technik inexistent. Dies ist insbesondere im Fall der technischen Errungenschaften der kolonialen Anderen insofern erstaunlich, als auf der inhaltlichen Ebene in den Artikeln Bewunderung und Anerkennung artikuliert wird. In den narrativen Inszenierungen der wörtlichen Rede zumindest ist erkennbar, dass der koloniale Andereals sprechender Akteur ebenfalls nicht vorkommt. In den Artikeln steht, wie oben ausgeführt, auch auf der formalen Ebene die Technik in Form von Geräten, Instrumenten, Apparaten o. ä. im Vordergrund. Die menschliche Leistung ist mit diesen Geräten verschmolzen; als technische oder wissenschaftliche Akteure kommen die kolonialen Anderen im Grunde nicht vor. Dies ist insofern eine extreme Diskrepanz zu den Inszenierungen des europäischen Subjekts, als die antiken und europäischen Geschichtsschreiber, Erfinder und Wissenschaftler und ihre Texte explizit als Akteure zitiert, genannt, auf sie rekurriert wird (vgl. dazu konkreter die intertextuellen Analysen in Kapitel 2.1.2.2). Autorität über Wissen und Sprache, über Selbstdefinition und europäische Zugehörigkeit (bezugnehmend oder zugehörig zur Aufklärung) besitzt allein das europäische wissende Subjekt. Im Hinblick auf die oben entworfene Typologie des kolonialen Anderen geht die zunehmende Distanznahme (vom Zentrum des europäischen philosophe aus gesehen) nicht zwingend mit zunehmender Verstummung einher. Anders herum geht größere Nähe zum philosophe auch nicht zwingend mit der Inszenierung von wörtlicher oder indirekter Rede einher. Grosso modo kann man feststellen, dass die Rede immer dort eingesetzt wird, wo der Alteritätsdiskurs besonders anschaulich (im Sinne des oben genannten «contre-faire») gestaltet werden muss, weil er überzeugend die enzyklopädische Beurteilung stüt-

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zen, weil er schockieren, erregen, affektiv anrühren will. Unter der Maßgabe der Exotisierung im Spannungsfeld von eros und thanatos sind Wilde und Barbaren, Anthropophagen und Monster durchaus auch so inszeniert, dass sie schreckliche Reden an ihr Volk (wie etwa die monströs-anthropophage Königin der Jagas583) richten können. Diese Wiedergabe von Wissen dient aber gerade nicht einer Egalisierung (der Wissensbestände) des kolonialen Anderen. Die Rede resultiert nicht in der Individualisierung oder Subjektivierung der kolonialen Anderen, sondern hier wirkt sie effekthascherisch und dramatisierend, um ein dezidiertes Befremden, einen Schockmoment und eine Ablehnung aufseiten der europäischen Leserschaft zu evozieren. Die Effekte bzw. die Funktionen dieser Redewiedergabe des kolonialen Anderen sind divers: als Redeerteilung in der Perspektive des machtvollen kolonialen Diskurses in der Wissensrepräsentation; als Redeermächtigung in der Perspektive des selbstkritischen philosophe, der Selbstkritik durch die Spiegelung am anderen (ernsthaft) betreibt. Dabei ist die unterschiedliche Beurteilung der enzyklopädischen Redeinzseniernug angelegt in einem Spektrum zwischen einer Auffassung von «Sprechen durch», d. h. dass der koloniale Andere schlicht als alteritärer, unterentwickelter Exot karrikiert wird oder aber als Instrument zur Selbstkritik (im Sinne des bon sauvage) dient; und der Auffassung von «zu Wort kommen», d. h. dass der koloniale Andere als gleichwertiger Dialogpartner (oder zumindest als Sprecher) in die Encyclopédie als Stimme aus der kolonialen Welt außerhalb Frankreichs und Europas verstanden wird. Nach den erfolgten Textanalysen aber ist die Redeermächtigung, bei der der Fremde nicht mehr paraphrasiert wird, sondern durch die eigene direkte Rede mehr «zu Wort kommt», weniger autonom als angenommen. Denn diese mündlichen Reden sind immer eingebettet in den explizierenden, kommentierenden oder bewertenden Diskurs der enzyklopädischen Erzählinstanz. Eine veritable Rücknahme der Erzählinstanz, ein Beiseite-Treten, um den kolonialen Anderen sichtbar werden und zu Wort kommen zu lassen, scheint es auf den ersten Blick nicht zu geben. Erzählen von Gedanken Diese Kategorie ist insofern für die Analyse der enzyklopädischen Artikel aufschlussreich, als sich die Frage nach dem Unterschied zwischen der Erzählung von Informationen/Ereignissen und der Erzählung von Gedanken stellt. In (modernen) literarischen Erzähltexten, die ja die empirische Grundlage für die Genette’schen Termini darstellen, ist das Erzählen von Gedanken an der starken

583 Vgl. Paul-Henri Thiry d’Holbach: Jagas, Giagas ou Giagues, S. 433.

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Präsenz des Erzählers und der expliziten Markierung als innerer Reflexionsprozess zu erkennen. Die artikulierten Gedanken einer Figur kommen dabei klassischerweise als innerer Monolog vor, als affektiv und stark auf das Subjekt bezogene und als solche markierte Wahrnehmungsweise bis hin zu einem streamof-consciousness, der die erzählte Welt in das Subjekt hineinzieht und nur noch ein Innen inszeniert. In der Narration wird in diesem Falle ein Grad höchster Unmittelbarkeit inszeniert, der die Grenzen zwischen Erzähler und erzählter Figur, zwischen Innen- und Außenwelt verschwimmen und unsicher werden lässt. Die Narration der Innenwelt einer Figur findet sich in der Encyclopédie meines Wissens nach in keiner Passage, in denen der koloniale Andere eine Rolle spielt. Der enzyklopädische Erzähler entfaltet dessen Innenwelt nicht: Selbst wenn er ihm menschliche Züge zugesteht, maßt er sich nicht an (oder lässt er sich nicht dazu herab), die (spekulative) Gedankenwelt des kolonialen Anderen zu schildern. Damit hält der enzyklopädische Erzähler den kolonialen Anderen als Menschen auf kulturelle Distanz: Als problematisches Wesen, dem Menschlichkeit zugestanden oder aberkannt werden muss, kann der koloniale Andere auch keine Gedankenwelt artikulieren; der philosophe kann keine empathischen Überlegungen zu einer (in einer europäischen Begriffssprache formulierten) inneren Gedankenwelt anstellen. Die Distanz zum kolonialen Anderen, so könnte man narratologisch resümieren, ist immer narrativ ausgestaltet und rahmt oder zwängt den kolonialen Anderen stets in die enzyklopädische Narration (hier wird ein narratologisches «telling» kein «showing» betrieben.584 Der koloniale Andere bekommt keine Bühne, um sich unmittelbar selbst zeigen zu können, sondern er wird narrativ eingehegt. Fokalisierung: Erzählen vom kolonialen Anderen Genette schlägt mit der Fokalisierung einen Begriff vor – und diesen entnimmt er den Arbeiten von Todorov, der selbst wiederum auf Pouillons «catégories du récit littéraire» rekurriert –, der ihm das Verhältnis von Wissen zwischen Erzähler und Figur zu beschreiben erlaubt. Pouillon war bezeichnenderweise Ethnologe und entwickelt vor diesem strukturalistisch-disziplinären Hintergrund Kategorien, derer sich Genette für die Beschreibung von narrativen Verfahren bedient. Die Verquickung von Beschreibung und Alterität scheint mir hier kein Zufall zu sein; sie nimmt in gewisser Weise die repräsentationskritische Writing

584 Vgl. Gérard Genette: Figures III, S. 188 und Seymour Benjamin Chatman: Story and discourse. Narrative structure in fiction and film, Ithaca: Cornell University Press 1978, S. 32.

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Culture-Debatte585 in der europäischen Ethnologie vorweg, die erst seit den 1970er/80er Jahren als solche auf den Begriff gebracht werden sollte. Pouillons586 Überlegungen sind deshalb aufschlussreich, weil sie gleichzeitig mit einer Vorstellung von Wissensdiskrepanz und Blickhierarchien operieren. Die ethnologische Notwendigkeit über den Fremden zu schreiben und sich mit Perspektiven auseinanderzusetzen, moduliert Todorov gemäß der Heuristik von Pouilloneinerseits durch die mathematischen Operatoren «>», « personnage», als jenen Fall, in dem der Erzähler mehr weiß als seine (!) Figur («Dans ce cas, le narrateur en sait davantage que son personnage.»587 Der Blick ist bestimmt als könne der Erzähler durch Mauern sehen, ihm werden also gleichzeitig «supériorité» und «connaissance» zugesprochen.588 Gilt die Formel «narrateur = personnage», so gilt: «Dans ce cas, le narrateur sait autant que ses personnages.»589 Und weiß nun der Erzähler weniger als die Figuren im Verhältnis «narrateur < personnage» («Dans ce troisième cas, le narrateur sait moins que n’importe lequel des personnages.»590), so wird dies beschrieben als «pur ‹sensualisme›, da nur sinnlich wahrgenommenes erzählbar «mais il n’a accès à aucune conscience.»591 Genette umgeht nun die Beschreibungskategorie von Perspektive (oder den von Todorov vorgeschlagenen «point de vue»), indem er das Konzept der Fokalisierung als eine Art Gesichtsfeld einführt (das sich die Fokalisierung ebenfalls aus einer visuellen Semantik speist und daher keine rundum überzeugende Alternative zu Perspektive darstellt, zeigt bspw. Schmid 592 auf. Die zweite Analysekategorie der Fokalisierung ist für die Untersuchung der enzyklopädischen Artikel gar nicht so evident. Aus der im Discours préliminaire von d’Alembert geforderten gleichzeitigen Übersicht (und vielleicht übersieht man damit auch vieles?) und persönlichen Perspektive, wenn man so will die Forderung nach enzyklopädischer Allwissenheit, müsste sich die narratologische Umsetzung in Form einer unfokalisierten Narration, mit Pouillon noch näher an der D’Alembert’schen Blickmetaphorik: die Inszenierung einer «vision par derrière» ergeben. Allerdings lautet die Forderung, dass der enzyklopädische Erzähler seine Sichtbegrenzungen deutlich machen und folglich nur intern

585 Vgl. James Clifford/George E. Marcus, (Hg.): Writing culture. The Poetics and Politics of Ethnography, Berkeley: University of California Press 1986. 586 Vgl. Jean Pouillon: Temps et roman, Paris: Gallimard 1946. 587 Tzvetan Todorov: Les catégories du récit littéraire, in: Communications 8 (1966), S. 141. 588 Ebd. 589 Ebd., S. 142. 590 Ebd. 591 Ebd. 592 Vgl. Wolf Schmid: Elemente der Narratologie, Berlin/Boston: De Gruyter 2014, S. 110.

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fokalisieren kann. Der Wissensvorsprung, also die Wissensasymmetrie zwischen enzyklopädischem Erzähler und den erzählten kolonialen Anderen, sollte zwar immer zugunsten des enzyklopädischen Erzählers ausfallen, aber es bleibt eine Herausforderung, wie sich die Ambivalenz von Allwissenheit und Wissen artikulieren lässt. Die Lösung ist eine Art narratologisches Paradoxon. Die Erzählungen des Alteritätswissens sind, wie oben erläutert, dominant intern fokalisiert. Diese Mitsicht wird normalerweise als Abnahme von Wissen (im Vergleich zur Nullfokalisierung) aufgrund der zunehmenden Einschränkung des Sicht- und Wahrnehmungsfeldesverstanden. In der enzyklopädischen Narration aber gehtdie interne Fokalisierung gerade nicht einher mit einer Destabilisierung oder Entmachtung der enzyklopädischen Position. Die intern fokalisierte Inszenierung von Wissensgrenzen, so die These, befördert und stärkt geradezu die epistemische Macht des enzyklopädischen Erzählers. Diese definitorische Macht stellt enzyklopädische Erzähler schon auf der inhaltlichen Ebene zur Schau, indem er nahezu sokratisch auf das Nichtwissen durch Benennung der epistemischen Grenzen (und damit auch der eigenen Erkenntnisgrenzen) hinweisen kann. Es obliegt seiner Definitionsmacht, Wissenslücken als solche zu benennen und zuzugeben; aus dem einstimmig-monologischen enzyklopädischen Text einen vielstimmigen Kanon komponieren zu können (denn zumeist singt der enzyklopädische Erzähler mit sich selbst, aber darauf komme ich noch unter der Analysekategorie der Stimme noch zurück). Er lässt den kolonialen Anderen auf- und abtreten, er lässt ihn sprechen, den Europäer belehren oder als monströs-animalisches Gegenüber kontrastiv zivilisierter und menschlicher erscheinen. Allerdings bleibt die Innenwelt dieser kolonialen Anderen vollkommen ausgeblendet. Hier endet nun das Wissen des europäischen enzyklopädischen Erzählers auf formal-ästhetischer Ebene. Dieser Befund ist umso erstaunlicher, als von einer enzyklopädischen Instanz, die alles und noch mehr weiß und in alles Einblick hat, eigentlich eine unfokalisierte Narration erwartet werden könnte. Welthandel und Kontakte zwischen kolonialen Anderen betrachtet der enzyklopädische Erzähler aus der erhöhten Position, wie auf einem Spielbrett, und ihm allein obliegt die ökonomische Effizienzbeurteilung bzw. die moralische Beurteilung menschlicher Akte von Kriegsführung oder Gastfreundschaft. Der enzyklopädische Erzähler bleibt aber gerade in der Konfrontation mit dem kolonialen Anderen auf seine Sicht der Dinge beschränkt. Es bleibt dem enzyklopädischen Erzähler nur die Möglichkeit, die eigenen Mutmaßungen zu artikulieren über Sinnhaftigkeit oder Sinnlosigkeit, über Funktionen oder Traditionen von religiösen Praktiken, von Herrschergesten oder Opferriten, von Körperpolitiken und -zeichen (vgl. die obigen Ausführungen zum Sujet des Menschenopfers). Die interne Fokalisierung ist aber die nachgerade adäquate Entsprechung einerseitsder Aufklärungsprogrammatik der Encyclopédie, denn

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hier entsteht fokalisiertes Wissen und keine quasi göttliche oder theologischklerikale Allwissenheit. Wissen soll immer in seinem Entstehungsprozess und damit immanent an die Denkoperationen und Erkenntnisse von Subjekten gebunden inszeniert werden. Mittels der internen Fokalisierung führt der enzyklopädische Erzähler damit nachgerade vor, dass sich hier eine Weltsicht entfaltet (und zwar nicht kulturrelativistisch eine von vielen, sondern schlicht nur eine singuläre). Er koppelt diese Individuation des Wissens sehr stark an Expertise, an Reflexionsvermögen und Induktion (vgl. meine Ausführungen zum philosophischen Wissenskonzept in der Aufklärung) und an normative Bewertungen, Urteile, utilité-Kritikerien. Und andererseits entspricht sie aus postkolonialer Sicht der starken Bindung von Wissen an den europäischen philosophe-Erzähler und der massiven Zentrierung des europäischen Subjekts, das weiterhin die epistemischen Felder und ihre Grenzen absteckt. Das Einschränken der Allwissenheit auf das rational-erfassbare Wissen und die gleichzeitige machtvolle Geste der Wissenseingrenzung versetzt den enzyklopädischen Erzähler wieder in eine autoritäre Position. Diese Vorstellung von Wissen, das mit Macht anreichert und um Wissen um das eigene Unwissen sogar mehrt, ist von Genette nicht vorgesehen. Schmid verweist in diesem Zusammenhang auf die Problematik des vagen Wissensbegriffs von Genette.593 Der Effekt der Fokalisierung wird dann besonders interessant, wenn es um die textuelle Konstruktion der Stereotype bzw. der Alteritätstypologie geht, wie sie im vorangegangenen Kapitel eingeführt wurden. Die Etikettierung der kolonialen Völker mit den Stereotpyen von barbare, sauvage oder anthropophage erfordert keine besondere Anstrengung in Sachen Konkretion, Detailgenauigkeit oder normativ-moralischer Beurteilung vom enzyklopädischen Erzähler. Hier scheint der Erzähler auf eine Art Allgemeinwissen zu rekurrieren, das vermeintlich nicht subjektiv und damit die Erzählverfahren auch extern fokalisiert sein könnten. Gleichwohl stellt auch dies einen individuellen, moralischen Horizont dar, der nur unter dem Deckmantel vermeintlicher Gemeinplätze als neutrale Information reist.

Stimme. Erzählen und der koloniale Andere Nun ist für die Aushandlung epistemischer Macht über die Wissenskonstruktionen des kolonialen Anderen auch die Positionierung des enzyklopädischen Erzählers zum Erzählten aufschlussreich. Dazu bietet Genette unter der Kategorie der (Erzähl)Stimme, der «voix narrative», einige Perspektiven und die entspre-

593 Vgl. ebd.

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chende Terminologie an u. a. in Bezug auf ihren Ort, ihre Positionierung zur Handlung und innerhalb einer innerliterarischen Kommunikationssituation.594 Ort des Erzählens: Extra- und Intradiegesen Der Erzählort für die Erzählungen über den kolonialen Anderen scheint evident zu sein: Er umschließt und rahmt den enzyklopädischen Diskurs, der auch bspw. historisch-mythischen Geschichten beinhält, die quasi nacherzählt oder mit Rekurs auf einen Referenztext wiedergegeben werden (vgl. zur intertextuellen Ebene das nachfolgende Kapitel) oder die in Paraphrasierungen von Gesagtem oder kurzen Einschüben wörtlicher Rede der kolonialen Anderen. Genette entwickelt für diese Verschachtelungen das Modell narrativer Ebenen, bei denen aus einer ersten Erzählebene heraus eine zweite durch eine weitere Erzählung eröffnet wird. Nun stellt sich die Frage, ob die Berichte und Erzählungen über den kolonialen Anderen eine andere diegetische Ebene595 im Verhältnis zu jenen Passagen darstellen, die insbesondere durch die «je»-Markierungen die Kommentierungen der enzyklopädischen Instanz beinhalten. In der Konfrontation mit dem kolonialen Anderen (bzw. dem Wissen über ihn) entfaltet die Erzählinstanz zweifellos Narrationen, die sich durch thematische Neuausrichtungenauszeichnen. Gleichwohl ist es so, dass die enzyklopädischen Artikel durch eine enzyklopädische Instanz und nicht nur unterschiedliche narrative Stimmen gekennzeichnet sind. Exemplarisch sei hier nochmals der Eintrag zu den Jagas angeführt, in dem der Mythos ihrer Königin Ten-bandumba nacherzählt wird, welcher wiederum die Grausamkeit und Unmenschlichkeit des afrikanischen Volkes illustrieren soll. In diesem Artikel ist insbesondere jene Passage interessant, in der die Handlungen der Königin beschrieben werden. Die formal-ästhetischen Verfahren zur Wiedergabe dieser Geschichte sind wissenspoetologisch ein anschauliches Beispiel für die Inszenierung der kolonialen Alterität: Denn die enzyklopädische Erzählinstanz spart hier nicht mit

594 Mit dem Ort der narrativen Stimme meint Genette ihre Position auf den narrativen Ebenen der Rahmenhandlung («extradiégétique») oder der Binnenhandlung («diégétiques, ou intradiégétiques») (Gérard Genette: Figures III, S. 238) bzw. auf weiteren zu differenzierenden Erzählebenen. Um die Stellung der Erzählstimme zur Handlung, also deren Involviertheit, beschreiben zu können, entwickelt Genette die Konzepte der homodiegetischen Erzählstimme, die Teil der Diegese ist, der heterodiegetischen Erzählstimme, die außerhalb der Erzählung steht sowie der autodiegetischen Erzählstimme, die in der Form des «ich» das Zentrum der erzählten Handlung bildet. Schließlich kommt in der vorliegenden Untersuchung die Perspektive auf die innerliterarische Kommunikation zum Einsatz, mittels derer Subjekt und Adressat des Erzählens fokussiert werden können. 595 Genette definiert: «tout évenement raconté par un récit est à un niveau diégétique immédiatement supérieur à celui o’u se situe l’acte narratif producteur de ce récit.» (Ebd., S. 238).

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aufklärerisch-kritischen Etikettierungen, abwertenden Attribuierungen («superstition», «un crime si abominable», «raison fut reduite au silence», «la barbarie la plus horrible»)und setzt sich so in ein intern fokalisiertes Wissen sehr normativ und dominant dem kolonialen Anderen gegenüber. Der enzyklopädische Erzähler paraphrasiert im Eintrag Jagas die afrikanische Legende bzw. Geschichte, setzt aber durch die parataktische Satzkonstruktion die kindstötende Königin ins Zentrum, deren «harangue» wiedergegeben wird: Persuadée que la superstition seule étoit capable de faire taire la nature, Ten-ban-dumba l’appella à son secours ; elle parvint à en imposer à ses soldats par un crime si abominable, que leur raison fut reduite au silence ; elle leur fit une harangue, dans laquelle elle leur dit qu’elle vouloit les initier dans les mysteres des Jagas, leurs ancêtres, dont elle alloit leur apprendre les rites & les cérémonies, promettant par-là de les rendre riches, puissans, & invincibles. Après les avoir préparés par ce discours, elle voulut leur donner l’exemple de la barbarie la plus horrible ; elle fit apporter son fils unique, encore enfant, qu’elle mit dans un mortier, où elle le pila tout vif, de ses propres mains ; aux yeux de son armée ; après l’avoir réduit en une espece de bouillie, elle y joignit des herbes & des racines, & en fit un onguent, dont elle se fit frotter tout le corps en présence de ses soldats ; ceux-ci, sans balancer, suivirent son exemple, & massacrerent leurs enfans pour les employer aux mêmes usages. Cette pratique abominable devint pour les Jagas une loi qu’il ne fut plus permis d’enfreindre ; à chaque expédition, ils eurent recours à cet onguent détestable.596

Neben der Parataxe ist die starke Präsenz des anaphorischen Personalpronomens «elle» auffällig, das anzeigt, dass sich die referierte Geschichte, eingeleitet durch die Nennung der «harangue», um die Königin herum aufbaut. Doch die Schreckensgeschichte eröffnet keine veritable neue narrative Ebene im Sinne einer Intradiegese, weil die Königin keinen eigenen Redeanteil hat, weil selbst die Paraphrase kein discours indirecte libre, sondern ein discours rapporté durch den enzyklopädischen Erzähler ist und weil die Geschichte dann ein jähes Ende findet, das mit der bewertenden Analyse als «pratique abominable» operiert. Obwohl hier also relativ ausführlich eine alte Legende des afrikanischen Volkes rekapituliert wird, wird dem kolonialen Anderen keine eigene, autonome Diegese zugestanden. Der koloniale Andere entfaltet hier keine eigene narrative Welt mit eigenen Deutungen. Hier zeigt sich auf der Ebene der «voix narrative», das die enzyklopädischen Artikel nur über eine narrative Ebene verfügt, in die anderen Erzählungen zwar eingebettet sind, die aber nie autonom zur enzyklopädischen Erzählebene funktioniert. Die Erzählinstanz ist immer enzyklopädisch, auch wenn einmal eine direkte Rede eine andere Stimme einfügt, die ob

596 Paul-Henri Thiry d’Holbach: Jagas, Giagas ou Giagues, S. 433.

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der Prägung durch die enzyklopädische Erzählinstanz auch keine Erzählstimme ist, die eine eigene Diegese entstehen lässt. Der enzyklopädische Erzähler ist vielleicht eher einer jener von Genette bezeichneten «narrateurs auteurs».597 Der enzyklopädische Erzähler inszeniert zwar nicht unbedingt einen expliziten Schreib- sehrwohl aber einen Reflexionsakt innerhalb des Encyclopédie-Artikels, der die Kompilation und Paraphrasierung des Wissens ausstellt. Die Autorität, die in diesem Terminus steckt, wird besonders dann sichtbar, wenn sich im Encyclopédie-Artikel ein «je» einschaltet und mit seinen kritischen Kommentaren distanzierend absetzt. Und so entstehen hier keine Genette’schen Intradiegesen, die enzyklopädische Erzählinstanz und die narrative Instanz fallen in eins, weil der koloniale Andere keine narrative Ausfaltung einer eigenen Welt zugestanden wird. Stellung des Erzählers zum Geschehen: Hetero-, homo-, autodiegetische Erzähler Neben dem Ort des Erzählens ist das Nähe-Distanz-Verhältnis zum kolonialen Anderen insbesondereüber die Stellung oder Positionierung des Erzählers zum Geschehen artikulieren. Genette unterscheidet hier zwischen hetero-, homound autodiegetischen Erzähl(er)typen,598 die keinen, einen oder den zentralen Teil der Diegese ausmachen. Wie genau wird nun das Involviertsein in das narrativierte Wissen über die koloniale Welt in der Encyclopédie gestaltet? Ist die enzyklopädische Instanz Beobachter oder Teil der Welt? Nun ließen sich in Bezug auf diese Erzählerstellung Annahmen skizzieren, die aus der ‹wissenspoetologischen Handreichung› aus d’Alemberts Discours préliminaire und Diderots Encyclopédie-Eintrag resultieren. Einerseits müsste der enzyklopädische Erzähler in der Position der Übersicht heterodiegetisch angelegt sein, weil er über die koloniale Welt in der Ferne berichtet, deren Beobachter, aber nicht Teil er ist. Gleichwohl operiert er in den kommentierenden Passagen oftmals mit einem «je», das zwar Ausgangspunkt der Überlegungen ist, aber ist es aus diesem Grunde als autodiegetische Erzählstimme ausgestaltet? Tatsächlich kontrastiert diese Vorstellung eines autodiegetischen Stars, um Genettes saloppen «vedette»-Begriff noch einmal aufzunehmen, mit der Erzäh-

597 Gérard Genette: Figures III, S. 239). 598 Genette differenzier zwei Erzählungstypen hier: «l’un à narrateur absent de l’histoire qu’il raconte [...], l’autre à narrateur présent comme personnage dans l’histoire qu’il raconte [...]. Je nomme le premier type, pour des raisons évidentes, hétérodiégétique, et le second homodiégétique. [...] Tout se passe comme si le narrateur ne pouvait être dans son récit un comparse ordinaire: il ne peut être que vedette ou simple spectateur. Nous réserverons pour la première variété [...] le terme, qui s’impose, d’autodiégétique.» (Ebd., S. 252 f.).

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lerposition innerhalb der kritischen, abwertenden und in jeglicher Hinsicht alterisierenden Aussagen in der Metalepse. In den Kommentaren, welche oftmals Stellung zum Wahrheitsgehalt der soeben berichteten Informationen beziehen, schließt sich der enzyklopädische Erzähler zwar in die erzählte Wissenswelt als rational denkender philosophe mit ein, nimmt sich aber von den Wissensbeständen, den berichteten Handlungen und Geschichten wiederum aus. Hier ist also wiederum ein interessanter, ambivalenter Mechanismus am Werk: Der «je»-artikulierenden enzyklopädische Erzähler ist zwar das Zentrum des Wissens, aber in der heterodiegetischen Anlage nicht das Zentrum der enzyklopädisch-narrativen Welt. Indem der enzyklopädische Erzähler kommentierend aus der enzyklopädischen Diegese heraustritt und durch die Abwägung und Diskussion von Argumenten vernünftiges Denken vorführt, vollzieht er sowohl wirkungsästhetisch als auch narratologisch die formal-ästhetische Umsetzung des aufklärerischen «sapere aude». Die Einführung des «je» schafft eine Kommunikationssituation, die sich nunmehr (selbst ohne die explizite Ansprache in Form von Imperativen: «Prenez garde de vous laisser séduire à ce ton emphatique ; ouvrez les annales de toutes les religions, & jugez vous-même.»599 an die Leserschaft wendet und so unmittelbar die diegetische Illusion zerstört. Nun sind diese Verfahren keine spezifisch enzyklopädischen noch allein (und innovativ) der Encyclopédie zuzurechnen; sie rekurrieren auf bereits generisch und narrativ tradierte Formen, da sie in den populären contes philosophiques, den contes exotiques oder orientaux eine Rolle spielen. Insofern ist die Illusionsbrechung nicht als frappierend oder schockierend einzuschätzen, da die Leserschaft an den kommentierenden Eingriff der Erzählinstanz gewöhnt ist. Die Analysen der diegetischen Positionierungen der Erzählinstanz stützen die Einführung der Kategorie des enzyklopädischen Erzählers, der für Disjunktion von Autor und textinternem Sprecher eingeführt wurde und überdies, folgt man Schneider u. a., ein Grundelement des Fiktionalen ist und damit die Nähe der enzyklopädischen Artikel zum Literarischen belegt.600 Die Einführung des «je» – mehr noch als jene des identifkatorischen, wirkungsästhetischen «nous» – soll nicht nur die individuelle Expertise des nämlichen Enzyklopädisten akzentuierenund diesen quasi biographisch als Wissensakteur in den Text mit einschreiben. Die Kopplung von fokalisiertem, diegetisch-positioniertem Wissen und einem erläuterndem «je» soll aufklärerische Reflexionsprozesse vorführen, die sehr kartesianisch an ein denkendes Subjekt gebunden sind und keine insti-

599 Alexandre Deleyre: Fanatisme, S. 396. 600 Vgl. Ulrike Schneider/Anita Traninger (Hg.): Fiktionen des Faktischen in der Renaissance, Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2010.

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tutionelle Deutungsmacht repräsentieren wollen. Der Gestus der Aufklärung ist vorzuführen, wie Denkprozesse funktionieren und gerade nicht, dieses rationale Denken an (klerikale) Deutungshoheiten und autoritäre Exegeten zu koppeln. Dieses «je» ist kein individuelles, sondern ein kollektives, wenn nicht gar anthropologisches; und dies wiederum ist kongruent mit der Betonung der Herausgeber, dass die Encyclopédie dezidiert ein Werk vieler savants und gens de lettres darstelle. Und auch narratologisch lässt sich der Begriff nochmals plausibilisieren: Die den narrativen Akt in den Encyclopédie-Artikeln initiierende Instanz ist damit kein reiner Autor-Erzähler (s. o.), wie Genette ihn beschreibt, sondern ein enzyklopädischer Erzähler, der gleichermaßen einen Definitions-, Schreib- und Kompilationsakt vollführt und diese Ebenen auch in die Narration einfließen lässt. In den kommentierenden Passagen rückt sich der enzyklopädische Erzähler dann aber auch wieder in die Welt ein, indem er eine intratextuelle Kommunikationssituation schafft, die die Verbindung zur Leserschaft herstellt. Und dies führt zu der Frage danach, welche Stimmen in der Encyclopédie eigentlich wen adressieren. Subjekt und Adressat des Erzählens Durch die Inszenierung von Ereignissen, Worten und Gedanken werden innerhalb der diegetischen Ebenen Kommunikationssituationen evoziert, die neben dem enzyklopädischen Erzähler und den kolonialen Anderen als Sprecher (oder Denker) auch eine angesprochene Instanz einbaut. Damit überträgt Genette das Modell einer realen Kommunikationssituation auf die literarischen Erzählsituationen, indem er ihnen kommunikative Akteure in Form vom narrateur und adressiertem narrataire zuschreibt. Das Adressieren selbst ist als Ansprache einer Leserschaft, die instruiert und unterhalten werden soll, bereits in den poetologischen Einträgen der Encyclopédie verankert. So sollen die Artikel in erster Linie der Instruktion und Information des Lesers dienen («D’ailleurs un dictionnaire est fait pour être consulté ; & le point essentiel, c’est que le lecteur remporte nettement dans sa mémoire le résultat de sa lecture.»601) ; sie sollen verständlich für die Leserschaft geschrieben sein («Plus les matieres seront abstraites, plus il faudra s’efforcer de les mettre à la portée de tous les lecteurs.»602), sie haben den Charakter einer Informationsdienstleistung, denn: «Il vaut encore mieux qu’un article soit mal fait, que de n’être point fait. Rien ne chagrine tant un lecteur, que de ne pas trouver le mot qu’il cherche.»603 und sind nicht zuletzt

601 Denis Diderot: Encyclopédie, S. 641. 602 Ebd. 603 Ebd.

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auf die Zukunft ausgerichtet für die nachkommende Leserschaft, die d’Alembert betont («à embrasser à la fois le passé, le présent & l’avenir, […] De-là l’origine & l’étude de l’Histoire, qui nous unissant aux siecles passés par le spectacle de leurs vices & de leurs vertus, de leurs connoissances & de leurs erreurs, transmet les nôtres aux siecles futurs.»604) Selbstredend korrespondiert die Leserschaft der Encyclopédie nicht mit den narrativen Adressaten auf den unterschiedlichen diegetischen Ebenen. In Analogie zur Systematik von Genette: «Le narrateur extradiégétique, au contraire, ne peur viser qu’un narrataire extradiégétique, qui se confond ici avec le lecteur virtuel, et auquel chque lecteur réel peut s’identifier.»,605 aber adressiert der enzyklopädische Erzähler einen enzyklopädischen Leser, mit dem sich der reale Leser identifizieren kann. Der enzyklopädische Erzähler adressiert demnach einen enzyklopädischen narrataire – niemals aber den kolonialen Anderen. Der narrataire ist demgemäß als eine Art idealer impliziter Leser in den Text eingelassen, um einmal die Terminologie von Iser606 hier zu bemühen. Gelegentlich ist dieser narrataire in den Alteritätskonstruktionen in der Encyclopédiedirekt adressiert in Form von Imperativen, «imaginez-vous», «ne croyez point» etc.; zumeist aber steht der belehrende Monolog des enzyklopädischen narrateur im Vordergrund. Dies ändert sich in zwei Fällen: Erstens, wenn der koloniale Andere in den intradiegetischen Einschüben zu Wort kommt, ob nun in direkter oder indirekter Rede, und damit eine neue Kommunikationssituation entfaltet wird. Dabei spricht der koloniale Andere niemals den enzyklopädischen Erzähler selbst an, oftmals nicht einmal den Autor der zitierten Wissensquelle, sondern zumeist handelt es sich um eine intrafremdkulturelle Kommunikation, in der Gott angerufen oder Stammesgenossen, andere Frauen, andere Krieger etc. angesprochen werden (vgl. dazu meine Ausführungen weiter oben). In den Erzählebenen, in denen der koloniale Andere kommunikativ agieren kann, gibt es fast keine Ansprache an einen narrataire, der auf einen impliziten Leser und damit auf die textexterne Leserschaft verweisen könnte. Der vermeintliche kosmopolitische Dialog zwischen den Kulturen ist hier nicht aufzufinden; vielmehr endet der kulturelle Kommunikationsraum an den Rändern Europas. Außer in dem seltenen zweiten Fall, nämlich in jenem, in dem der Edle Wilde als zivilisationskritische Figur genutzt wird und dem narrateur und der europäischen Leserschaft den Spiegel vorhalten soll. Hierzu sei noch einmal auf den Eintrag Laine, Manufacture de hingewiesen. Hier läuft ja ein Wilder durch

604 Jean Le Rond d’Alembert: Discours Préliminaire, S. 62. 605 Gérard Genette: Figures III, S. 266. 606 Vgl. Wolfgang Iser: Der implizite Leser. Kommunikationsformen des Romans von Bunyan bis Beckett, München: Wilhelm Fink Verlag 1972.

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die Manufaktur und spricht direkt die zivilisatorischen (luxuriösen) Unnötigkeiten an. Mit dieser direkten Ansprache eines prototypischen bon sauvage an einen fiktiven Gesprächspartner stellt der Adressat der Erzählung, in diesem Falle der französische Arbeiter in der Wollmanufaktur, den intradiegetischen narrataire dar. Aber durch die direkte Anrede als «tu», durch das identifizierende «nous» und den Imperativ geht die Adressierung über die intratextuelle Kommunikationssituation hinaus. Der intradiegetische narrataire wird so durchsichtig, dass die Aufforderungen auch an die Leserschaft gerichtet sein könnten: Ils nous diroient volontiers: Tu as apporté en naissant le vêtement qu’il te faut en été, & tu as sous ta main celui qui t’est nécessaire en hiver. Laisse à la brebis sa toison. Vois-tu cet animal fourré. Prend ta fleche, tue-le, sa chair te nourrira, & sa peau te vêtira sans apprêt.607

Hier findet sich in der Adressierung der mündlichen Rede, insbesondere, wenn man den Blick auf die diegetische Kommunikationssituation lenkt, in der der zivilisationskritischen sauvage narrativiert wird. Es ist nicht nur die mündliche Rede, die ihn hier zum Menschen werden lässt, sondern er bekommt auch eine Stimme, die noch bis zur Leserschaft vor den Encyclopédie-Folianten hallt. Fazit: Narratologische Verfahren der Alteritätserzählungen Damit aber werden in den Encyclopédie-Artikeln Kontaktsituationen geschaffen, die den europäischen Erzähler und den kolonialen Anderen in diegetische und kommunikative Zusammenhänge bringen, in denen sie aber immer voneinander getrennt sind. Dem enzyklopädischen narrateur steht ein enzyklopädischer narrataire gegenüber, welche über die unterschiedlichen Othering-Verfahren reziprok aufeinander bezogen sind. Allein durch den narrativen Modus, die interne Fokalisierung, die Inszenierung einer einzigen Erzählebene und Diegese und die heterodiegetische Positionierung vermag sich der enzyklopädische Erzähler daraus zu lösen – allerdings nur so weit, dass er immer noch in Relation zum kolonialen Anderen und damit im Artikulationsraum der relationalen Narrativierung steht. Wissen und Autorität werden in der Encyclopédie monologisch und dialogisch inszeniert. Dies führt zu zwei Konsequenzen: Einerseits gibt es einen enzyklopädischen Erzähler, der das rational-deskriptiv Rekonstruierte zu einer subjektiv-arbiträren Narration werden lässt. Andererseits rückt ein wissendes Subjekt ins Zentrum, das weniger an den konkreten realhistorischen Enzyklopädisten gekoppelt ist, noch den gelehrten enzyklopädischen Erzähler meint, son-

607 N. N.: Laine, Manufacture en laine ou Draperie, S. 184.

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dern mehr ein kritischer Narrationsakt ist, den jeder rational denkende Mensch nachvollziehen kann. Allerdings ist diese universale und demokratische Geste immanent an eine Vorstellung europäischer Subjektivität, ratio und Selbstreflexion geknüpft.608 Denn es ist der enzyklopädische Erzähler, der die Fäden in der Hand hält: Er inszeniert sich als sprechende Instanz, die Wissensobjekte auf Abstand hält und (von einem erhöhten Standpunkt aus) zu beschreiben vermag. Die dialogischen Anteile und Inszenierungen, in denen die enzyklopädischen Erzähler den kolonialen Anderen zu Wort kommen lässt, andere Quellen zitiert (zu den intertextuellen Strategien wird ausführlicher im folgenden Kapitel eingegangen) und sogar Gesprächssituationen wie in einem Dialog oder einem Salongespräch evoziert, zeugen von der aufklärerischen Relativierung der Wissensbestände, der Wahrheiten und Überzeugungen. Gleichwohl bringen jene anderen Stimmen die Position des philosophe scheinbar zu keinem Zeitpunkt nachhaltig ins Wanken; die enzyklopädischen Artikel kommen stets zu einem Fazit, einem kritischen Schluss, nicht immer zu einer definitorischen Entscheidung, immer aber zur epistemologischen Selbstbestätigung. Kurz gesagt: Das, was der Enzyklopädist wissen kann, das scheint spätestens seit der kolonialen Expansion zwar relativierbar. Dass er aber über das gültige (und wahre) Wissen verfügt, entscheidet und urteilt, das scheint unverhandelbar. Damit sind aber entschieden beide Ebenen gemeint: die Ebene des Gegenstands, also der Wissensobjekte, und die Ebene der Wissensgenese, also der Generierung von Wissen als rationaler Vorgang. Die Dominanz einer enzyklopädischen Diegese-Ebene ist unterschiedlich motiviert: Sie hängt intertextuell gesprochen mit der Quellenlage zusammen (vgl. das folgende Kapitel); sie hängt generisch gesprochen mit der Umgehung genuin literarisch-fiktionaler Verfahren, denn obwohl die imagination als Erkenntnisproduzentin in der Encyclopédie anerkannt ist, würde hier doch relativ leicht eine inszeniert-imaginierte Szenerie zu erkennen sein; die Dominanz hängt machtkritisch gesprochen mit der Unterdrückung der fremden Welten und Stimmen im machtvollen Wissensdiskurs zusammen, und postkolonial perspektiviert mit der kolonialistischen Anlage des Wissensprojekts, das unter der

608 Gleichzeitig artikuliert sich hier schon ein Prinzip der Wissenskonstruktion, das die Wissensnarration mit grundlegenden Modi von Wissenschaft und Moderne verbindet. Die Inszenierung einer intradiegetischen Ebene könnte man auch als eine Art wissenschaftlichen Beobachtungsmodus begreifen, wie weiter oben mit der dramaturgischen Analogie der Mauerschau erwähnt wurde. Und dies wiederum entspricht Moderne-Theorien wie dem Latour’schen Paradigma der Symmetrierung der Anthropologie und der Selbstbeobachtung der Wissenschaft – nur dass hier nicht Wissenschaft, sondern die Encyclopédie quasi als Laboratorium funktioniert (vgl. Bruno Latour: Nous n’avons jamais été modernes; vgl. dazu weiterhin die Ausführungen im Schlusskapitel der vorliegenden Arbeit).

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Flagge der Toleranz (zum Toleranz-Begriff der Aufklärung, der weniger mit Anerkennungs- als mit Duldungs-Logiken operiert vgl. Schlüter und Weiershausen609) und des Kosmopolitismus zwar andere und womöglich alternative Lebenswelten zur Kenntnis nimmt, dieser aber (bei aller Faszination doch aus Angst) keinen Artikulationsraum zugesteht. Auf narratologischer Ebene artikuliert sich die machtvolle Erzählung des kolonialen Anderen in der Distanznahme zu ihm, in der Bindung von Weltsicht und Wissen an den enzyklopädischen Erzähler und in der steten narrativen Eindämmung der kolonial-alteritären Geschichten. Die enzyklopädische Konstruktion von Wissen innerhalb inszenierter Kommunikationssituationen verstärkt einen epistemologischen Prozess, der Wissensformationen grundlegend prägt: Wissenskonstruktionen implizieren Asymmetrien zwischen den Kommunikationspartnern – also dem, der weiß, und dem, der (noch) nicht weiß – und zwischen den Textdimensionen – also zwischen der Wissensquelle und dem reformulierten Text.610 Allerdings ändert sich die Asymmetrie (oder verschiebt sich zumindest) in dem Moment, in dem der enzyklopädische Erzähler die Wissensquelle in seinen Worten paraphrasiert, ihren Status evaluiert und kommentierend eingreift. Hier wird ein neues, und für das Aufklärungsprojekt zentral: ein modernes und in diesem Sinne besseres Wissen konstruiert. Im Modus des «contre-faire» wird Wissen nicht imitiert und reartikuliert, sondern neu fokalisiert und übersetzt. Und dieses Wissen kommt in der Encyclopédie nur gelegentlich aus dem Mund eines kolonialen Anderen, sondern zumeist speist es sich aus gelehrten Texten. Der enzyklopädische Erzähler generiert sich als enzyklopädischer Kompilator. 2.1.2.2 Intertextuelle Verfahren: Textbeziehungen. Sorties, Renvois und Kommentare Intertextuelle Verfahren der epistemischen Narrativierung – Intertextualität als grundlegendes, enzyklopädisches Textprinzip − Sorties zum Diskursfeld. Text-Transformationen – Textimmanente Verfahren – Transtextualität nach Genette – Kontrapunktisches bei Genette – lecture palimpsestueuse – Postkoloniale Intertextualität als kontrapunktische Verfahren: kein rewriting oder writing back – Hypotexte der Encyclopédie für die Konstruktion des kolonialen Anderen – Architextuelle Verfahren – Hypertextuelle Verfahren als Transformationen – Allusionen, Transformationen, Zitate, Paraphrasen, Parodien – Intradiegese: Verschränkung von Narratologie und Intertextualität – Intratextuelles Feld: Das enzyklopädische Verweissystem als wis-

609 Vgl. Gisela Schlüter: Die französische Toleranzdebatte im Zeitalter der Aufklärung. Materiale und formale Aspekte sowie Romana Weiershausen/Insa Wilke: Aufgeklärte Zeiten? Religiöse Toleranz und Literatur. Einleitung, in: Dies./Nina Gülcher (Hg.): Aufgeklärte Zeiten? Religiöse Toleranz und Literatur, Berlin: Erich Schmidt 2011, S. 7–20, bes. S. 10 f. 610 Vgl. Ralf Klausnitzer: Literatur und Wissen.

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senspoetologisches Prinzip (der Kritik) in der Encyclopédie – Fazit: Intertextuelle Verfahren der Alteritätserzählungen – Deiktische Richtungen und Wissenspoetologische Funktionen der intertextuellen Erzählverfahren Ils [les habitants, K. S.] sont robustes, très-jaloux, & les femmes fort adonnées à l’amour: quoique Mahométans, ils ne savent ce que c’est que Mahomet & sa secte ; mais ils font & disent tout ce qu’ils voyent faire & entendent dire à leurs alfaquis ; ils n’ont ni medecins, ni chirurgiens, ni apoticaires, & n’en sont pas plus malheureux. Marmol a décrit amplement leurs moeurs & leur façon de vivre ; consultez-le.611

Im Eintrag zur afrikanischen Provinz Héa verknüpft de Jaucourt kunstvoll die Wissensquelle für die Informationen in diesem Artikel mit dem Rezipienten und stellt sich gleichzeitig sichtbar wie unsichtbar zwischen diese Instanzen: Im Verweis auf Marmols Beschreibungen zu den Sitten und Lebensweisen der Einwohner, die er nur lakonisch erwähnt, fordert er die Leserschaft explizit dazu auf, bei Marmol selbst nachzulesen («consultez-le»). In dieser Passage werden schon mehrere Aspekte sichtbar, die für die formal-ästhetischen Verfahren der Wissenskonstruktionen wichtig sind: der intertextuelle Bezug auf eine Wissensquelle in Form eines Rekurses auf einen (berühmten) Autor, der Hinweis auf eine selbstkritische Lektüre der Quelltexte und die Paraphrase der Informationen. Intertextuelle Verfahren spielen naturgemäß bei der Konstruktion von Wissen in den Encyclopédie-Artikeln eine zentrale Rolle – wie auch andersherum der Transfer und die Transformation von Wissen (Bildungswissen, Poetologisches Wissen etc.) in der Intertextualitätsforschung von Interesse sind. Dass Intertextualität in der Produktion und Rezeption der Encyclopédie von großer Bedeutung ist und war,612 zeigen einerseits die inter- wie intratextuellen Verweisstrukturen innerhalb der Encyclopédie-Artikel (als verbürgtes Wissen und Prinzip der Wissensordnung sind diese ja sogar basal für die Encyclopédie, vgl. die Ausführungen in der Einleitung) und andererseits die heftige, kritische Reaktion auf das aufklärerische Projekt. So finden sich innerhalb der Artikel sowohl zahlreiche Verweise auf konsultierte Quellen und normative Kommentierungen zu Autorität, Kompetenz, Glaubwürdigkeit bzw. Plausibilität als auch ein ausgeklügeltes, in der Forschung bereits ausgiebig beforschtes internes Verweissystem zwischen den Einträgen (zu den konkreten Verfahren und Funktionen vgl. die jeweiligen Kapitel in den folgenden Textanalysen). Ferner wurde das Projekt aber auch offen und polemisch insbesondere wegen der intertextu-

611 Louis de Jaucourt: Héa, S. 75. 612 Die intertextuellen Bezugnahmen benennt Schneider als literaturhistorisch, da hier «älteres Schreiben» fortgesetzt wird (Ulrich Johannes Schneider: Die Erfindung des allgemeinen Wissens, S. 19.

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ellen Übernahmen heftig kritisiert und diesem Fehler und Ungenauigkeiten, nicht selten sogar Plagiat vorgeworfen.613 Dass die philosophische Konzeption und die praktische Umsetzung in der Encyclopédie auseinanderklaffen, liegt Schneider zufolge an vier Faktoren: Erstens seien die Texte nicht im Encyclopédie-Sinne neu verfasst, sondern größtenteils «ab- und umgeschrieben»; zweitens sei das Verweissystem nicht stringent durchgeführt worden; drittens hätten sich die Wissenschaften im Laufe des Encyclopédie-Projekts immer wieder neu zueinander positioniert; und viertens «wurde historisch-empirisches Wissen hineingeschmuggelt, das keine wissenschaftliche Systematisierung verträgt»,614 was Schneider exemplarisch an den unscharfen Abgrenzungen zwischen medizinischem und botanischem Wissen aufzeigt.615 Wenn der philosophe sich nun zur Aufgabe macht, das Wissen der Welt einzusammeln und verständlich zu vermitteln, so ist er zwangsläufig auf das Wissen aus Texten angewiesen. Da er aber auch die Umwege und Wege zwischen den Wissensgebieten ausmachen soll, muss er auch textimmanent Verfahren erarbeiten, die die Vernetzung und die Transformation von Wissen repräsentieren. Als paradigmatische, in der Encyclopédie-Forschung sehr beliebte Vernetzungsstrategie gilt dabei das système de renvoi, das über Querverweise die Artikel untereinander in Beziehung setzt und als ein spezifisches, aufklärerisch-kritisches und durchaus auch kontingentes Verfahren eingesetzt wird. Darauf wird nachfolgend im Hinblick auf die intratextuellen Verfahren noch näher eingegangen. In der Encyclopédie wird das Wissen über den kolonialen Anderen erzählt, indem das Wissen in einer bestimmten Textarchitektur aus anderen, sehr unterschiedlich gestalteten Textbausteinen erbaut wird. Und diese Textbausteine verweisen gleichzeitig auf den ‹Textsteinbruch›, dem sie entnommen sind, wie sie innerhalb der Encyclopédie-Artikel ihren architektonischen Platz einnehmen. Damit ist Intertextualität aber ein basales wissenspoetologisches Konstruktionsmoment der Encyclopédie und textimmanent analysierbar. Im Sinne von Genette und Riffaterre ist sie also kein dem Text äußerliches Moment, sondern ein immanentes Textverfahren, ein «aspect de la textualité».616 Diese basale textuelle Komponente der Encyclopédie-Artikel liegt nun produktionstechnisch und -ästhetisch auf der Hand; ein intertextuelles im Sinne

613 Vgl. Cerstin Bauer-Funke: Die französische Aufklärung, S. 75 zu den Polemiken vgl. JeanLouis Vissière: La secte des empoisonneurs. Polémiques autour de l’Encyclopédie de Diderot et D’Alembert, Aix-en-Provence: Publication de l’Université de Provence 1993. 614 Ulrich Johannes Schneider: Die Erfindung des allgemeinen Wissens, S. 57. 615 Ebd., S. 61 f. 616 Gérard Genette: Palimpsestes, S. 18.

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von polyphones ‹Textergebnis› aber bedarf schon eines wissenspoetologischen und kulturhistorischen Perspektivwechsels. Die Encyclopédie schreibt sich eine gewisse Vielstimmigkeit in den Artikeln auf die Fahnen, weil sie ja das gesamte und damit auch: disparate Wissen der Welt in sich aufnehmen will. Damit kommen unterschiedliche Stimmen zu Wort und der enzyklopädische Erzähler, dies ist oben schon deutlich geworden, schaltet sich räsonnierend, oftmals evaluierend, aber nicht immer definierend ein. Die Dialogizität bei Bachtin meint aber noch mehr (und ist dann im Anschluss an Foucault in den postkolonialen Studien weiterentwickelt worden): nämlich die unvermeidliche Dialogizität im Sinne von Präsenz unterdrückter Stimmen im Text. Damit enstpricht dieser literaturwissenschaftlich-textuelle Zugang dem, was Said in Anschluss an Foucault als die Dekonstruktion des univoken Archivs beschrieben hat: Die Analysen gelten der Aufdeckung dissimulierter Stimmen und Erzählungen. Zur Untersuchung jener textuellen Verweisungs-und textimmanenten Konstruktionsverfahren617 sollen im Folgenden intertextuelle literaturwissenschaftliche Ansätze, maßgeblich nach Genette, zum Einsatz kommen. Um jenen «aspect de la textualité» analysieren zu können, gehen die folgenden Untersuchungen textimmanent vor, indem als textanalytische Heuristik zunächst die Referenzvon der Transformationsebene (also «was wird rekonstruiert» vs. «wie wird rekonstruiert») differenziert wird. Textausgänge zum hypotextuellen Feld. Die Encyclopédie weist intertextuelle Anschlüsse oder mit Barthes gesprochen: «sorties»618 auf. Ein sich am Rande zum Ko(n)text befindlicher Anschlusstypus ist jener zum (hypo- oder prätextuellen) Diskursfeld. Dies besteht aus der Anordnung von Texten als Wissensquellen, die das große Wissensprojekt der Aufklärung arrondieren. In einem ersten Schritt wird die Analyse dieses von der Encyclopédie aufgespannte Diskursfeld von Fragen geleitet wie: Aus welchen Texten wir das Wissen über den kolonialen Anderen in der Encyclopédie generiert? Welche Texte finden also als Wissensquellen Eingang in die Encyclopédie? Auf welche Texte blickt man durch die intertextuellen Ausgänge in der Encyclopédie?619 Dieses intertextuelle Referenzfeld soll im Folgenden im Hinblick auf die den Einzeltexten zugestandene

617 Damit bildet die Analyse eine Art erste Antwort auf die von Proust (allerdings für Diderot) geforderte Untersuchung einer «écriture encyclopédique» auf drei Ebenen: auf der Ebene der «réécriture» der Prätexte, auf der Ebene eines Dialogs mit zeitgenössischen wie referierten Autoren und textkompositorisch auf der Ebene einer «écriture fragmentaire», die die Textmontage fokussiert (Jacques Proust: Diderot et l’Encyclopédie, Paris: A. Michel [1962] 1995, S. XIV). 618 Vgl. Georges Bataille/Roland Barthes: Le gros orteil. Les sorties du texte, Tours: Farrago 2006. 619 Es ist hier kein Lapsus, dass die Rede von Eingängen adäquater ist als die der Ausgänge, vgl. Kapitel 3.1.

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Autorität, die referierten Textkonventionen (etwa als Genre) oder die historischen Bezugsahmen skizziert werden. Textimmanente Verfahren. Die Textausgänge verweisen weiterhin nicht nur auf den kotextuellen Raum, sondern bilden unweigerlich auch spezifische formal-ästhetische Verfahren zur Integration und Transformation der Prätexte aus, jene «notwendigen Techniken für die Umschreibung älteren Wissens».620 Daher wird es im zweiten Schritt um die artikelimmanenten, intertextuellen Verfahren gehen: Auf welche Art und Weise wird der Referenztext reformuliert? Wird er respektvoll zitiert, wird er in die eigene Argumentation und narrative Ausgestaltung eingepasst oder kritisch in Form einer ironischen, parodierenden etc. Replik unterminiert? Um Lachmanns Systematik aufzunehmen: Handelt es sich um Partizipation, Transformation oder Tropik, gibt es also «Strategien des Weiter-, Um- und Widerschreibens, die der manifeste Text im Umgang mit dem Vorläufertext einsetzt».621 Zeigen die Encyclopédie-Artikel folglich eher Textverfahren, die am Diskursfeld in einer «Geste der Berührung, der Kontiguität»622 teilhaben und diese bewahren? Oder artikulieren sich in den Einträgen eher Verfahren, die das Diskursfeld eher überschreiben, indem sie die vorgängigen Texte quasi unkenntlich machen oder überdecken in einer Geste der «Similaritäts-Intertextualität»?623 Oder aber arbeiten sich die Encyclopédie-Artikel an ihren Informationsquellen nahezu ab, indem sie diese gleichzeitig annehmen und ablehnen (hier folgen Lachmann und Schahdat den psychoanalytisch inspirierten Überlegungen von Bloom zur Trope) in einem «mis-reading der fremden Texte» und «re-writing als revisionäre[n] Akt»?624 Umjene beiden Ebenen, die intertextuelle textexterne Relationalität und die textinterne Inszenierung, in den Blick zu bekommen, werden für die folgenden Analysen die von Genette entwickelten Konzepte zur Transtextualität genutzt. Die anschließende kontrapunktische Gegenlektüre wird dann mithilfe des Bachtin’schen Konzepts der Dialogizität, Polyphonie oder Ambivalenz in den Fokus der Analyse gerückt (vgl. Kapitel 2.2.2.2). Genette unterscheidet in seiner Untersuchung Palimpsestes. La littérature au second degré625 bekanntermaßen fünfverschiedene Typen von Text-Text-

620 Ulrich Johannes Schneider: Die Erfindung des allgemeinen Wissens, S. 34. 621 Renate Lachmann/Schamma Schahadat: Intertextualität, in: Helmut Brackert/Jörn Stückrath (Hg.): Literaturwissenschaft. Ein Grundkurs, Reinbek/Hamburg: Rowohlt 2000, S. 677–685, hier S. 682. 622 Ebd. 623 Ebd. 624 Ebd., S. 683. 625 Vgl. Gérard Genette: Palimpsestes.

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Beziehungen, die er unter dem Begriff der Transtextualität versammelt: die Intertextualitätals «relation de coprésence entre deux ou plusieurs textes» und hier insbesondere in der abstufenden Reihung ihrer Form «la plus explicite et la plus littérale [...] de la citation», in ihrer Form «moins explicite et moins canoniques, celle du plagiat», in einer Form «encore moins explicite et moins littérale, celle de l’allusion».626 Interessanterweise kommt Genette gegen Ende seiner Studie auch auf andere ästhetische Bereiche zu sprechen, u. a. die Musik. Er findet hier wegen der mangelden Linearitätszwänge eine größere Vielfalt an Transformationen und benennt sogar explizit das Kontrapunktische: «La superposition, harmonique ou contrapuntique, de plusieurs lignes mélodiques multiplie encore ce répertoire déjà considérable.»627 Genette lässt im Kontrapunktischen insbesondere die Konnotation des Dissonanten anklingen, welches er mit dem Harmonischen kontrastiert und auf das ja auch Said mit seiner Idee des ‹Gegenläufigen› anspielt. Genette bezieht sich nun in seinen einleitenden Bemerkungen auf Riffaterre, der die Intertextualität einerseits auf der Mikroebene des Textes ansetzt. Andererseits, und dies ist für die konzeptuelle Anlage der Intertextualität sowie für die Analyse der Encyclopédie relevant, siedelt Riffaterre die Intertextualität nicht nur oder nicht so sehr auf der Ebene des Textes selbst an, sondern sieht sie als dem Text eingeschriebene Rezeptionsweise. Der Intertext sei nach Riffaterre, resümiert Genette dann recht bündig, «la perception, par le lecteur»; Intertextualität sei «le mécanisme propre de la lecture littéraire».628 Erst am Ende seiner Studie kommt Genette überhaupt auf den Begriff des Palimpsestes und verwendet ihn abermals (nicht ohne einen clin d’œil) für eine Lesart, die «lecture palimpsestueuse».629 Demzufolge können die in der Encyclopédie vorliegenden intertextuellen Verfahren weniger als intendierte Produktionsstrategien, denn als wirkungsästhetische Lektüreergebnisse verstanden werden. An dieser Stelle wird abermals deutlich, dass die écriture encyclopédique des großen Wissensprojekts nicht nur explizit auf spezifische Wirkungsweisen ausgerichtet ist, sondern dass sie implizit und immanent (und unweigerlich) mit ihrer lecture zusammenhängt. Als Wirkungsebenen differenziert Genette jene der Paratextualität, unter die er alle Rahmentexte (wie Klappentexte, Pro- und Epilog, Motti, Umschlag, Schleifen, Titel, Unter- und Zwischentitel etc.) fasst und damit die «dimension pragmatique de l’œuvre» anvisiert. Diese wirke dann als generischer Kontrakt (in An-

626 627 628 629

Ebd., S. 8. Ebd., S. 540. Riffaterre nach ebd., S. 9. Ebd., S. 557.

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lehnung an Lejeune) auf die Rezeption der Leserschaft.630 Weiterhin unterscheidet Genette Metatextualität, bei der ein Text eine Art kritischen Kommentar zum anderen darstellt,631 von der abstraktesten und implizitesten, weil unmarkierten («tout à fait muette») Architextualität. Diese Architextualität wiederum definiert Genette als eingeschriebene generische Textbeziehung, die den Erwartungshorizont der Leserschaft beeinflusst.632 Im Zentrum seiner Studie aber steht die Genette’sche Hypertextualität. Genette fasst darunter (in Anlehnung an Bal) toute relation unissant un texte B (que j’appellerai hypertexte) à un texte antérieur A (que j’appellerai, bien sûr, hypotexte), sur lequel il se greffe d’une manière qui n’est pas celle du commentaire. [...] Pour le prendre autrement, posons une notion générale de texte au second degré [...] ou texte dérive d’un autre texte préexistant.633

Diese Taxonomie erlaubt eine (strukturalistisch geschulte) Unterscheidung unterschiedlicher Modi der intertextuellen Beziehung – und zwar sowohl als Genre als auch als Bezugsart.634 Diese werden von Genette an literarischen Beispielen (der europäischen Literatur) von der Antike bis zur Gegenwart konkretisiert und ausdifferenziert. Genette unterscheidet zwei grundlegende Modi der intertextuellen Bezugnahme als Transformation oder Imitation, die er je nach ‹Gesinnung› der Relation (spielerisch, satirisch oder ernsthaft) den Genres der Parodie, des Pastiche o. ä. (vgl. das Schaubild 635 sowie das Résumé636) zuordnet. Diese Beziehungsmodi bewirken dann auf der Ebene des Hypertextes dessen Schreib- wie Funktionsweise etwa als Kommentar, als Übernahme generischer Konventionen, als Wechsel von Perspektiven, von dramatischer oder narrativer Adaption, von Metrik oder Stilelementen (hier erfindet Genette dann ein ganzes Feld transtextueller Semantik etwa als transmodalisation, transformation in Form von réduction oder augmentation, transstylisation, transmétrisation, versification und prosification). Daraus folgt, dass sich ein Text der intertextuellen Einschreibung gar nicht erwehren kann. Genette konstatiert hier, dass jeder Text in einer Art transtextuellen Kette steht (als Hypertext eines vorgängigen Hypotextes und wiederum als Hypotext für nachgängige Hypertexte) und dass

630 Vgl. ebd., S. 10. 631 Vgl. ebd., S. 11. 632 Vgl. ebd., S. 12. 633 Ebd., S. 13. 634 Vgl. dazu grundlegend Manfred Pfister: Konzepte der Intertextualität, in: Ulrich Broich/ Ders. (Hg.): Intertextualität. Formen Funktionen anglistische Fallstudien, Tübingen: Niemeyer 1985, S. 1–30. 635 Ebd., S. 45. 636 Ebd., S. 111 f.

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jeder Moment der Textredaktion und -genese hypertextuell ist: «la genèse d’un texte est une affaire d’auto-hypertextualité.»637 Als Einreihung in eine Textkette würde man diskursanalytisch ein Textkonzept formulieren, dass den Text als Knotenpunkt der Diskurse fasst, die einen Text unweigerlich durchziehen und der nicht nur durch die bewusste, intentionale Bezugnahme durch den Autor/ die Autorin hergestellt wird. Damit tritt auch – und insbesondere für die vorliegende Untersuchung – die Frage nach der Intentionalität und einer evidenzbasierten Begründung des poetischen oder biographischen Lese-Hintergrundes des Autors in den Hintergrund, da auf der Ebene des Hypertextes selbst die Adaptionen und Transformationen wirksam sind und erkennbar werden. Auf dieser Ebene der intertextuellen Verfahren erlaubt die Genette’sche Palimpsest-Metapher, die transtextuellen Einschreibungen in einer Semantik von Schicht(ung)en zu denken: als Überlagerungen und Überschreibungen oder mit Osthues als Verschiebungen.638 Auch wenn Genette diese Palimpsest-Metapher (obwohl titelgebend) gar nicht ins Zentrum seiner Analysen stellt, sondern erst am Ende seiner Studie darauf eingeht, hat sie sich doch als fruchtbar erwiesen und ist in diskursanalytischer, wissenspoetologischer und postkolonialer Hinsicht äußerst anschlussfähig. Diese Schicht-Metaphorik weist erstens eine interessante Nähe zur Konzeptmetapher der Archäologie von Foucault auf, in der eine Vertikalität angelegt ist, auch wenn die Sedimente bei Foucault als überlagert und verschüttet gedacht werden und nicht palimpsestartig durchscheinen. Die Schichtungen korrespondieren zweitens mit spezifischen intertextuellen Ästhetiken. Genette operiert hier mit unterschiedlichen Textschichten wie Stil, Metrik, Fokalisierung u. ä., mit spezifischen Modi von spielerischer, satirischer oder ernsthafter Bezugnahme unddiversen Textgenres von Parodie, Travestie oder Transposition. Drittens haben auch postkoloniale Literaturtheoretiker_innen das Konzept des Palimpsestes genutzt für Analysen des Umschreibens, Neuschreibens und machtkritischen Aufdeckens unterdrückter Stimmen und Diskurse.639 In einer postkolonialen Perspektive werden im Folgenden die Analysen der intertextuellen Verfahren mit Fragen der machtvollen Wissensverhältnisse in den Text-Text-Beziehungenverknüpft. Mir scheinen die Begrifflichkeiten von Hyper- und Hypotext sowie eine palimpsestartige Konzeption der Encyclopédie-Artikel zu heuristischen Zwecken fruchtbar, weil sie – über Genette hinausgehend – zeitliche wie hierarchisierende Konnotationen zu dekonstruieren erlauben. Die Verwendung der Begriffe Hypo- und Hypertext impliziert zwar eine systematische Unterscheidung von

637 Ebd., S. 551. 638 Vgl. Julian Osthues: Literatur als Palimpsest, S. 89 ff. 639 Vgl. ebd.

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Bezugs- und beziehendem Text. Siekann aber, insbesondere durch die spatiale Semantik des Hypo- und des Hypertextuellen, gleichzeitig die chronologische und vor allem hierarchisierende Anordnung durch die Bezeichnung als Prätext und Textumgehen. Der koloniale Anderen wird in der Encyclopédie als Wissensfigur zwar aus einer historisch tradierten Stereotypik heraus konstruiert, als Textfigur aber tritt der enzyklopädische Konstruktionsakt hinzu (wenn nicht gar in den Vordergrund).640 Und in diesen Alteritätskonstruktionen wird die Autorität der Hypotexte nicht nur ehrfürchtig anerkannt und repetiert, sondern durchaus auch unterminiert und subsumiert. Zwar berücksichtigen die EncyclopédieArtikel autoritäres und kanonisches Wissen und stützen sich auch explizit darauf, aber die Vorzeitigkeit der textuellen Wissensquellen wird nicht automatisch an eine epistemologische oder poetologische Superiorität gekoppelt.641 Auf der theoretischen Ebene wird damit auch die Fokusverschiebung hin zur Inter-Textualität akzentuiert: weg von hypotextbezogenen Verfahren der antiken bis frühneuzeitlichen «imitatio» und aemulatio» hin zu einer eigenständigen Textualität (die Gegenposition vertritt Semsch, der die Encyclopédie noch in dieser antiken Rhetorik-Tradition verhaftet sieht 642). Das führt in einer machtkritischen Perspektive zu der Annahme, dass auch die Hypotexte neu eingeordnet und bewertet werden und damit eine Art intertextueller Rückkopplungseffekt eintritt. So wie die Aufklärung des Wissens der Zeit für ihre Zwecke neu anordnet und am Telos ihrer Werte ausrichtet, so werden auch die Hypotexte affiziert. Anders als Genette also, der sich auf die Transformationen in den Hypertexten konzentriert, wäre die postkolonial inspirierte These eine machtkritische (Prätexte gelten nicht mehr als kanonisch-autoritäre Garanten und gate keeper des Wissens)und zugleich eine hybridisierende, die

640 Die Intertextualitätsansätze wurden in der Forschung als Rezeptions- wie Produktionsphänomene in erster Linie anhand von literarischen Texten konzeptuell neugefasst und methodisch angewendet (zentral etwa bei Bachtin). Gleichwohl beschränkt sich das Phänomen der Neu- und Umschreibung nicht allein auf literarische Texte, was u. a. dem weiten Textbegriff seit den 1960er Jahren geschuldet ist (hierin liegt ja die basale Umdeutung Bachtins durch Kristeva). Und so können auch die Encyclopédie-Artikel einer intertextuellen Lektüre unterzogen werden, die die Textbeziehungen und die -verfahren zur Übernahme literarischer, wissenschaftlicher, essayistischer etc. Texte untersucht. 641 Hier ist insbesondere der Rekurs auf das Wissen der Antike und die Bedeutung moderner, zeitgenössischer Erkenntnisse aus Forschungsreisen und wissenschaftlichen Essays und Studien interessant. In den Encyclopédie-Artikeln lässt sich eine Entmystifizierung der Antike beobachten und gleichzeitig eine Aufwertung von modernem, mit neuen Forschungsmethoden und entsprechenden Gerätschaften erworbenem Wissen feststellen. Vgl. dazu meine Ausführungen zum enzyklopädischen Wissenskonzept in der Einleitung sowie die folgenden Analysen zur hypotextuellen Struktur des enzyklopädischen Diskursfeldes. 642 Vgl. Klaus Semsch: Abstand von der Rhetorik.

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auch die Hypotexte in Transformation sieht. Im Palimpsest-Bild gedacht bedeutet dies, dass auch der Hypotext, der ja immer wieder teilweise ausradiert und überschrieben wird, auch eine Veränderung erfährt. Hierhin liegt der doppelte Zug des postkolonialen rewriting und writing back:643 In diesen Umschreibeverfahren sollen nicht nur postkoloniale Hypertexte kolonialistische Hypotexte revidieren, neu perspektivieren und kritisch ausleuchten, sondern auch die Hypotexte sollen einen postkolonialen Index bekommen, der sie für neuen Hermeneutiken aufschließbar macht. Allerdings geht es in der vorliegenden Studie weder zentral um die Hypotexte, noch kann man die Encyclopédie ohne Weiteres als postkoloniales rewriting oder writing back beschreiben, da in ihr kein machtkritisches Interesse zur Revision kolonialer Prätexte dominiert. Die postkoloniale Akzentuierung der intertextuellen Verfahren dient dazu, Machteinwirkungen (und im Kapitel 2.2.2.2 dann auch die Ambivalenzen) sichtbar zu machen: etwa die Übernahme und Modifikation von (textuell tradierten) Stereotypen, die kritische Auseinandersetzung mit epistemischen Autoritäten (Mythen, Texte und Autoren/Gelehrte) und die Strategien der Kompilation, der argumentativen und narrativen Anordnung, der ironischen Transformationen etc. der Prätexte. Dabei ist zwischen den Verfahren zur Artikulation der Textkontaktbeziehungen und den Verfahren der Konstruktion der Kulturkontaktbeziehungen eine offensichtliche Analogie am Werke: So wie der koloniale Andere in die Welt des europäischen philosophe eindringt und letzteren zu neuen Positionierungen herausfordert, so ist es ebenso eine Herausforderung, mit anderen (wenn man so will: alteritären) Texten ein neues Textgewebe zu formulieren, das trotz des Fremden im Eigenen klar eine europäische Position artikuliert. Hypotexte als arrondierendes Diskursfeld Die Encyclopédie verweist auf sehr unterschiedliche Hypotexte als Wissensquellen für die Konstruktion des Wissens über den kolonialen Anderen: Es sind dies in erster Linie naturwissenschaftliche Abhandlungen, medizinische Studien,

643 Beide Termini werden zur Beschreibung eines gegendiskursiven Schreibverfahrens genutzt, das koloniale Kanones revidieren, kommentieren und kritisieren will (vgl. Gisela Febel: Postkoloniale Literaturwissenschaft. Methodenpluralismus zwischen Rewriting, Writing back und hybridisierenden und kontrapunktischen Lektüren, in: Julia Reuter/Alexandra Karentzos (Hg.): Schlüsselwerke der Postcolonial Studies, Wiesbaden: VS Verlag 2012, S. 229–247 und Julian Osthues: Literatur als Palimpsest, S. 204–2011) sowie zum «Rewriting» Julian Osthues: Rewriting, S. 216–219 und zum «Writing Back» Thieme 2001 und Marion Gymnich: Writing Back, in: Dirk Göttsche/Axel Dunker/Gabriele Dürbeck (Hg.): Handbuch Postkolonialismus und Literatur, Stuttgart: Metzler 2017, S. 235–238.

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Berichte von Reisenden und Missionaren, aber auch historiographische Texte der Antike oder philosophische, im heutigen Jargon: anthropologische Essays (vgl. Übersicht der «Top Thirty Figures of Authority»644). Schon in dieser Reihung wird offensichtlich, dass diese Diversität von Quellen auch ein großes Spektrum an Textgenres beinhaltet, die wiederum auf sehr unterschiedliche Weise Formen von Fiktionalität, Fiktivität oder Faktualität aus- und abbilden. Viele Beschreibungen des kolonialen Anderen entstehen im Rückgriff auf die literarische Tradition der Reiseberichte und reihen sich in die literarischen Moden der Aufklärung ein, in denen hybride Textgenres des conte philosophique beliebt waren und in Form etwa von contes orientaux Exotismus und Orientalismus Eingang fanden, so dass der koloniale Andere als Textfigur einerseits in seiner textuellen Konstruiertheit, andererseits in seiner literarischen Tradierung als Stereotyp, als Motiv, als Allegorie etc. hervortritt (vgl. die Überlegungen von Mackenthun, Nicolas und Wodianka645 zum Verhältnis von Reiseberichten und Wissenszirkulation und insbesondere zur eigenen generischen Logik des Reiseberichts). Eine kursorische Übersicht über die Wissensquellen, die für die Erstellung der Einträge über die koloniale Welt und den kolonialen Anderen in der Encyclopédie genutzt wurden, zeigt, dass diese sehr unterschiedlichen Textzusammenhängen entstammen: Es sind dies Texte der antiken griechischen wie römischen Philosophie, hier etwa Platon, Vergil, Horaz; von Entdeckern und Reisenden wie Pinto, portugiesischer Entdecker aus dem 16. Jahrhundert, Reisenden und Geistlichen wie de Léry (16./17. Jhd), des französischen Forschungsreisenden de Tournefort aus dem 16. Jahrhundert, des zeitgenössischen Reisenden Chevalier des Marchais, des französischen Missionars, Reisenden und Kolonialherren Labat aus dem 17./18. Jahrhundert; von Verfassern bzw. Herausgebern anderer Wissenskompendien wie etwa von de Vosgien, dem berühmten Dictionnaire de Trévoux oder Dictionnaire de Commerce etc.; dem niederländischen Humanisten Dapper, dem schwedischen Universalgelehrten Rudbeck etc. pp. Allen und Cooney u. a. haben 2010 eine Studie zu den «Plundering philosophers» vorgelegt und eine statistische Auswertung der intertextuellen Bezugnahmen der Encyclopédie (auf der Grundlage ihres Digitalisats) auf das Dictionnaire de Trévouxund auf das Grand Dictionnaire historique untersucht,646 weiterhin exemplarisch die Arbeiten 644 Dan Edelstein: The Enlightenment. A Genealogy, Chicago/London: University of Chicago Press 2010, S. 50. 645 Gesa Mackenthun/Andrea Nicolas/Stephanie Wodianka: Introduction, in: Dies. (Hg.): Travel, agency, and the circulation of knowledge, Münster/New York: Waxmann 2017, S. 7–36, bes. S. 12. 646 Vgl. Timothy Allen/Charles Cooney/Stéphane Douard u. a.: Plundering Philosophers: Identifying the Sources of the Encyclopédie, in: Journal of the Association for History and Computing 1, 13 (2010), http://hdl.handle.net/1885/37389 (24. 09. 2019).

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von Edelstein647 oder Descargues-Grants Sammelband zum Reisebricht und der Encyclopédie.648 In der 2017 veröffentlichten digitalisierten und kommentierten Ausgabe der Encyclopédie im ENCCRE-Projekt werden als Quellen der Encyclopédieetwa das Dictionnaire universel de Trévoux,649 das Dictionnaire universel de commerce de Savary,650 das Dictionnaire géographique portatif von Vosgienangeführt und kommentiert.651 Die Hypotexte werden oftmals mit generischen Attributen versehen und daraus Autoritätsfragen abgeleitet. Die generischen Zuschreibungen, die auf eine konventionalisierte Gattungshierarchie zwischen den Texten rekurrieren, haben aber neben dem Aspekt der Evaluation652 der Autorität der Wissensquelle noch einen weiteren, für enzyklopädischen Erzähler wie Leserschaft zentralen Effekt: Die Bezeichnungen etwa als Märchen oder Untersuchung gibt Auskunft über den ontischen Status der dort verhandelten Sachinformationen. Das Genre präfiguiert damit gleichzeitig die Form und den Inhalt des Wissenstextes. Ob ein Wissenstext von wahren oder falschen Gegebenheiten berichtet, wird durch die generische Zuordnung schon einmal vorsortiert, bevor der enzyklopädische Erzähler selbst noch einmal den Inhalt der Information kommentiert. Eine wichtige metatextuelle Funktion kommt daher den generischen Zuschreibungen der konkreten Hypotexte zu. In vielen Fällen werden die explizit referierten Quellen mit einer Zuordnung zu Textgenres attribuiert, wie etwa als Legende, Märchen, Reisebericht etc. Diese generischen Zuschreibungen fallen zwar nicht immer eindeutig und unproblematisch aus, sie werden dennoch gesetzt und selten bis nie begründet. Ein Problem stellen etwa schon seit der Anti-

647 Dan Edelstein: The Enlightenment. 648 Vgl. Madeleine Descargues-Grant: Récit de voyage et ‹Encyclopédie›. 649 Vgl. Marie Leca-Tsiomis: Le Dictionnaire universel de Trévoux. 650 Vgl. Ryuji Kojima: Le Dictionnaire universel de commerce des frères Savary, Les sources de l’Encyclopédie, in: Édition Numérique Collaborative et CRitique de l’Encyclopédie, 2014, http://enccre.academie-sciences.fr/encyclopedie/documentation/?s=115& (24. 09. 2019). 651 Vgl. Takeshi Koseki: Le Dictionnaire géographique portatif de Vosgien, Les sources de l’Encyclopédie, in: Édition Numérique Collaborative et CRitique de l’Encyclopédie, 2015, http:// enccre.academie-sciences.fr/encyclopedie/documentation/?s=124& (24. 09. 2019). 652 Auch im Artikel Uranus ist die Beschreibung von Wissensgebieten bzw. und -transfer explizit als zweifelhaft und unsicher markiert, wohingegen gesicherte Informationen mit der aufklärerischen Metaphorik des Lichts («on voit clairement») verbunden werden: «On peut lire dans Diodore de Sicile, l. III. c. iv. les autres détails de la théogonie des Atlantides, qui est assez semblable à celle des Grecs, sans qu’on sache s’ils l’ont reçue de ces peuples d’Afrique, ou si les Atlantides l’ont tirée d’eux ; ce que l’on voit clairement, c’est que le culte du soleil & de la lune a été la plus ancienne religion des Atlantes, ainsi que de tous les autres peuples du monde.» (Louis de Jaucourt: Uranus, in: Denis Diderot/Jean Le Rond d’Alembert (Hg.): Encyclopédie (ENCCRE). Bd. 17, S. 487.

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ke die Schriften von Herodot dar, der als Geschichtsschreiber und Erzähler von Geschichten uneindeutig lässt, wo sich Fakten und Fiktionen trennen. Die Referenzen auf Herodot bleiben aber oftmals im Ton des Faktischen, wie etwa beim afrikanischen Volk der Auses.653 Diese Gattungsformatierungen spielen nicht nur auch auf der Ebene der metatextuellen, kommentierenden, sondern auch auf jener der architextuellen Transformation eine Rolle in der Encyclopédie. Anders formuliert: Die Encyclopédie-Artikel beziehen sich nicht nur auf unterschiedliche Textgenres, sie formulieren sie auch selbst aus. Gipper bescheinigt der Encyclopédie, dass diese «eine Vielzahl literarischer Kleinformen in den Diskurs integriert, die historisch aufs Engste mit der merveille-Tradition verbunden sind und oftmals bruchlos an diese anknüpfen: anecdote, exemple, fait divers, nouvelle, histoire merveilleuse etc.»654 Die Einbindung von Anekdoten, Episoden etc. folgt nach Gipper dem Ziel/der Funktion der curiosité und ist damit nicht nur schlicht Textdekor sondern immanente Textstrategie. Werden die referierten Quellen als Legende, Märchen, Reisebericht, als Wörterbuch oder Studie ausgewiesen, tritt die Funktion von Textgattungen (und mit Genette gesprochen damit die architextuellen Verfahren) in Bezug auf Wissenskonstruktionen in den Vordergrund: Sie bezeichnen gleichzeitig textinterne Regeln der Narrativierung von Wissen, den Status des Bezugs zu(m) textexternen Referenten sowie der Autorität des Urhebers. Zur Analyse der Beziehung zwischen Wissensartikulationen und Textgenres hat Berg einen Sammelband herausgegeben, in dem Gattungen als «Wissenstexturen» und damit als eine spezifische Aussageweise von Wissen gefasst werden. Gattung wird ihrzufolge verstanden als «signifikanter Artikulationstyp, der auf implizitem Regelwissen basiert, innerliterarisches Wissen konstruiert und außerliterarisches Wissen spezifisch literarisch inszeniert.»655 Dabei funktionieren diese Wissenstexturen als eine Art Formatierung der Wissensinhalte und ihrer Vertextungen, nach Bies u. a. produktions- wie rezeptionstechnisch (so «regulieren generische Wissenstexturen die Produktion und Rezeption von Texten»656). Berg weist explizit darauf hin, dass Wissen in den Texten nicht nur behauptet, sondern stabilisiert wird: «Gattungstexturen stabilisieren Wissensansprüche.»657 Dabei wird dieses

653 Vgl. Denis Diderot, Auses, S. 890. 654 Andreas Gipper: Wunderbare Wissenschaft, S. 329. 655 Gunhild Berg: Literarische Gattungen als Wissenstexturen: Zur Einleitung und zur Konzeption des Bandes, in: Dies. (Hg.): Wissenstexturen. Literarische Gattungen als Organisationsformen von Wissen,Frankfurt a. M.: Peter Lang 2014, S. 1–19, hier S. 6. 656 Michael Bies/Michael Gamper/Ingrid Kleeberg: Einleitung, in: Dies. (Hg.): GattungsWissen. Wissenspoetologie und literarische Form, Göttingen: Wallstein Verlag 2013, S. 7–18. 657 Gunhild Berg: Literarische Gattungen als Wissenstexturen, S. 3.

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Gattungsverständnis von wissenspoetologischen Annahmen fundiert, indem sie die Interdependenz von literarischer Gattung und Wissen ausstellt: «Das Interesse des Bandes richtet sich folglich sehr viel weniger auf die Abbildung eines Wissensbereichs in Gattungen als vielmehr auf literarische Gattungen als Konstituenten von Wissen.»658 Aus diesem poetologischen Grund optiert Berg auch (im Rückgriff auf Baßler) für den Begriff der Texturen: Aufgrund der spezifischen Literarizität dieser Wissen ordnenden Strukturen werden diese hier «Texturen» genannt. Gemeint sind damit die texturierten Formierungen, kurz: Vertextungen von Wissen in fiktionalen wie nichtfiktionalen Literaturen.659

Durch den Einschluss von fiktionalen wie nichtfiktionalen Texten ist Bergs Konzept der Wissenstextur auch für die Analysen der Encyclopédie fruchtbar. Überdies betont Berg in der Folge zwei weitere Aspekte, die unmittelbar mit den Wissenskonstruktionen in der Encyclopédie verbunden werden können. Einerseits betont Berg die Problematik des Überblicks über das unüberschaubare Wissen der Zeit, in dem die Handhabbarkeit des Wissens durch einen «fixen Referenz- oder erhöhten Standpunkt»660 erreicht werden soll – dies gemahnt an die analoge Formulierung bei d’Alembert des über dem Labyrinth stehenden philosophe. Berg versteht die Implementierung literarischer Gattungen wie Panorama, Galerie, Ansichten als Reaktion auf das aus dem erhöhten Standpunkt resultierende «Schwindelgefühl».661 Die Partialität wird eingefangen durch die Rhapsodie, das Fragment oder die Skizze.662 Andererseits betont Berg die rezeptionssteuernde Wirkung der Wissenstexturen, die mit Fakten und Argumenten, Geschichten und Beispielen gleichermaßen arbeiten.663 Wie bereits gesehen, kommentiert und reflektiert der enzyklopädische Kompilator (szientifischen) Autorität des Verfassers, inwiefern die Informationenrational-erklärbar, empirisch nachweisbar und demzufolge wahrscheinlich sind und verbunden damit schließlich – und dies ist unter wissenspoetologischen Gesichtspunkten relevant – auch nach dem Modus ihrer Narration. Allerdings bedeutet ein negatives Ergebnis dieser Überlegungen keineswegs den Ausschluss von Wissensbeständen aus der Encyclopédie. Sagenumwobene Städte und Völker, Tiermenschen oder etwa abergläubische Phantasmen verlieren ihren Wissensstatus nicht unbedingt dadurch, dass sie eindeutig dem Reich der

658 659 660 661 662 663

Ebd. Ebd., S. 5. Ebd., S. 11. Ebd. Ebd., S. 12. Vgl. ebd., S. 8.

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Phantasie zuzuordnen sind. Die enzyklopädischen Verfahren der intertextuellen Bezugnahme auf Hypotexte zur kolonialen Welt veranschaulichen Reflexionen, die nicht der Exklusion dienen, sondern der (durchaus auch didaktischen) Demonstration der räsonnierenden Abwägungen. Problematisch werden die epistemologischen Gegenstände auch nicht, wenn sich die Quellen widersprechen, indem sie denselben Dingen oder Menschen unterschiedliche oder gar widersprüchliche Attribute zuschreiben. Die Pluralität des hypotextuellen Diskursfeldes in Bezug auf die Attribuierungen und Evaluation des kolonialen Anderen soll sich in einer objektiven Bestandsaufnahme spiegeln, die alle relevanten Hypotexte zu einem spezifischen Thema versammelt, sortiert und beurteilt. Problematisch wird das Wissen, wenn die texturierte und narrative Formierung des Wissens nicht zum ontischen Status der Information passt oder oder wenn ein autoritärer Anspruch auf Tatsachenberichte behauptet wird, der den Reflexionen des philosophe dann nicht Stand hält. Zur adäquaten Wissenstextur: Haarsträubende Geschichte über menschenfressende Königinnen und kriegerische, kaltblütige Völker, schwärmerische Berichte über sanfte Wilde und ihre lustvollen Frauen finden sich in der Encyclopédie ja durchaus. Allerdings sind sie in ihrem pragmatischen Status als Fiktion stets eindeutig zugeordnet. Muss sich der enzyklopädische Erzähler aber auf Berichte von Reisenden stützen, die als Wissenstexte im Sinne von ‹faktualen› Texten daherkommen, aber moderne, wissenschaftliche Methoden und/oder vernunftgeleitete Argumentationen vermissen lassen, dann ergibt sich daraus ein widersprüchliches Verhältnis, das zur Problematisierung der Quelle, aber (und vor allem:) auch des Wissens führt. Eine Herausforderung stellt ferner jenes Wissen dar, dass sich nicht ohne Weiteres aus hypotextellen Quellen generieren lässt; also in den Fällen, in denen mehr unsicheres Wissen oder Ahnungslosigkeit als gesicherte Erkenntnisse einen Gegenstand auszeichnen. Im Eintrag zu Mauritius etwa wird vom enzyklopädischen Erzähler sogar offen Unwissenheit thematisiert bzw. zugegeben («Les Portugais l’appellent ilha do Cerno ; j’ignore pourquoi ; car ce n’est point l’île de Cerné dont Pline fait mention»664), die externe Fokalisierung aber tut seiner Macht zur Benennung von Fakten keinen Abbruch, kommt sie hier doch in der immer noch autor-itären Form der «je»-Metalepse vor.665 Auch dann wird das Wissen nicht aus der Encyclopédie ausgeschlossen, aber die Artikel fallen dann in der Regel sehr kurz aus, mit dem Verweis, dass es darüber nur wenig oder nichts zu sagen gäbe. Dies richtet sich allein auf den Modus der Wissenser-

664 N. N.: Maurice, l’île, in: Denis Diderot/Jean Le Rond d’Alembert (Hg.): Encyclopédie (ENCCRE). Bd. 10, S. 211. 665 Vgl. ebd.

2.1 Figuren und Figurationen kolonialer Macht

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zählung und der Konstruktionsverfahren im Text selbst und adressiert erst in zweiter Linie die Leserschaft. Wenn wenig bekannt ist, ist die Unterscheidung zwischen Sage und Tatsache nicht eben einfach. So etwa im Eintrag über die berühmte antike Stadt Tyr,666 in dem die Spekulation darüber, ob sie die Erfinder von Handel und Schiffsfahrt waren, gleichzeitig als Sage und als Fakt rhetorisch behandelt wird: «Les Tyriens passoient pour être les inventeurs du commerce & de la navigation, & ils l’étoient en effet.»667 Durch die Formulierung «Dans ces tems-là» wird gleichzeitig die historische, aber auch die pragmatische Distanz zum Wirklichkeitswissen des philosophe markiert, wenn de Jaucourt weiterhin fortfährt, dass Wissen dazu eingesetzt wurde, Völker ökonomisch zu übervorteilen und Macht über sie zu erlangen. Koloniale Macht avant la lettre begründet sich auf ausbeuterischem Handel, Navigationswissen und der Manipulation von fremden, unwissenden («ignorants») Völkern: Le peu de connoissance que la plûpart des peuples avoient de ceux qui étoient éloignés d’eux, favorisoit les nations qui faisoient le commerce d’économie. Elles mettoient dans leur négoce les obscurités qu’elles vouloient ; elles avoient tous les avantages que les nations intelligentes prennent sur les peuples ignorans. […] Recapitulons en peu de mots les vicissitudes de Tyr. Bâtie sur les côtes de la Phénicie, dans une île éloignée de quatre stades du bord de la mer, peu de villes anciennes ont joui d’une plus grande célébrité. Reine des mers, suivant l’expression des écrivains sacrés, peuplée d’habitans dont l’opulence égaloit celle des princes, elle sembloit embrasser l’univers par l’étendue de son commerce ; ses vaisseaux parcouroient toutes les côtes de l’Afrique & de l’Europe, celles de la mer Rouge & du golfe Persique. Par terre, ses négocians trafiquoient au-delà de l’Euphrate, qui fut longtems le terme des connoissances géographiques des anciens. Le nombre de ses colonies l’a mise au rang des métropoles les plus illustres. Plusieurs, comme Utique & Carthage, ont joué de grands rôles ; d’autres, comme Cadix, subsistent encore avec éclat.668

Auch die berühmte Geschichte über den gordischen Knoten hat als mythische Erzählung, als Helden- und Eroberungsgeschichte Eingang in die Encyclopédie gefunden. Sie wird durch die Zuordnung zum Wissensgebiet der Literatur, durch die Benennung als histoire und überdies durch die Wiedergabe mündlicher Rede als fiktionale Erzählung markiert: Gordien (NŒud), s. m. (Littérat.) noeud du char de Gordius qu’Alexandre coupa ne pouvant le dénoüer: en voici l’histoire. […] Alexandre passant dans la ville de Gordium, anci-

666 Vgl. Louis de Jaucourt: Tyr, in: Denis Diderot/Jean Le Rond d’Alembert (Hg.): Encyclopédie (ENCCRE). Bd. 16, S. 783–784. 667 Ebd. 668 Ebd.

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en & fameux séjour du roi Midas, souhaita de voir le fameux chariot du noud gordien, se persuadant aisément que la promesse de l’oracle le regardoit: après avoir considéré attentivement ce noeud, il fit plusieurs tentatives pour le délier ; mais n’ayant pû y réussir, & craignant que les soldats n’en tirassent un mauvais augure: « il n’importe, s’écriat-il, comment on le dénoue ». Alors l’ayant coupé avec son épée, il éluda ou accomplit l’oracle, dit Quinte-Curce, sortem oraculi vel elusit vel implevit. Arrien ajoûte qu’Alexandre avoit réellement accompli l’oracle, & que cela fut confirmé la nuit même par des tonnerres & des éclairs ; de sorte que le prince n’en doutant plus, offrit le lendemain des sacrifices aux dieux pour les remercier de la faveur qu’ils vouloient bien lui accorder, & des marques authentiques qu’ils venoient de lui en donner. Tout cela n’étoit qu’un stratagème qu’Alexandre imagina pour encourager ses troupes à le suivre dans son expédition d’Asie.669

Die Funktionen dieses Wissens sind intradiegetisch Motivation oder gar Manipulation, indem die Geschichte die bei der Expedition nach Asien Mut machen und das Durchhaltevermögen steigern soll. Diese Art der intradiegetischen Rezeptionslenkung wird explizit als Stratagem gekennzeichnet. Damit aber wertet der enzyklopädische Erzähler als fiktive Geschichte ab, die als bloßes Stratagem und eben nicht als Bericht einer historischen Begebenheit erkannt wird. In der Beurteilung, wobei es sich bei den Indes orientales handeln möge, muss der enzyklopädische Erzähler Fakt von Fiktion scheiden und nimmt dazu Verse von Vergil zu Hilfe. Die «anciens» werden hier zwar als zentraler Referenzpunkt generiert, das Kartenmaterial aber als unzulänglich beurteilt, da abweichend vom «véritable état»: Cependant il importe de remarquer ici que les anciens ont quelquefois nommé Indiens, les peuples de l’Ethiopie ; un seul vers le prouveroit. Ultrà Garamantas & Indos Proferet imperium. Ce vers est de Virgile, en parlant d’Auguste, qui ayant effectivement conquis quelques villes d’Ethiopie, obligea ces peuples à demander la paix par des ambassadeurs. De plus, Elien met aussi des indiens auprès des Garamantes dans la Libye ; & pour tout dire, l’Ethiopie est nommée Inde dans Procope. Mais les Indiens dont parle Xénophon dans sa Cyropédie, ne sont point les peuples de l’Inde proprement dite, qui habitoient entre l’Indus & le Gange, ni les Ethiopiens de Virgile, d’Elien, & de Procope ; ce sont encore d’autres nations qu’il faut chercher ailleurs. M. Freret croit que ce sont les peuples de Colchos & de l’Ibérie. Voyez ses raisons dans les Mém. des Belles-Lettres, Tome VIII. Pour les Indiens de Cornélius Népos jettés par la tempête sur les côtes de Germanie, si le fait est vrai, ce ne seront vraisemblablement que des Norvégiens ou des Lapons, qui navigeant ou pêchant sur le golphe Bothnique, furent poussés par la tempête dans la mer Baltique, vers la côte méridionale. Leur couleur étrangere, la simplicité des Germains chez

669 Louis de Jaucourt: Gordien Nœud, S. 742.

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lesquels ils aborderent, l’ignorance où l’on étoit alors de la Géographie du Nord & du Levant, purent les faire passer pour Indiens. On donnoit ce nom aux étrangers venus des régions inconnues, & même par le manque de lumieres, sur le rapport de l’Amérique avec les Indes, ne lui a-t-on pas donné le nom d’Indes occidentales ?670

In dieser Passage wird deutlich, dass die Wissensgenerierung über die Evaluation der Quellen und deren Gegenüberstellung funktioniert – ob in Versform oder als Geschichtsbericht («Mémoire») ; im Weiteren aber die Überlegenheit der aufklärerischen Epoche belegt werden soll. Hier kontrastieren also nicht poetische oder literarische Texte mit historiographischen oder geographischen, sondern hier werden antikes, mythisches Wissen und Wissensirrtümer faute de mieux den Erkenntnissen der Aufklärung gegenübergestellt. Damit aber zeigt sich auch, dass die verwiesenen Hypotexte eher einem Diskursfeld um das Wissen über die koloniale Welt und den kolonialen Anderen zugehörig sind, denn nach Gattungen oder Wissenstexturen ausgewählt zu werden. Unwissen wird aber nicht immer selbstkritisch ausgewiesen oder argumentativ benannt. Zur Beschreibung der Fauna auf Madagaskar etwa greift der enzyklopädische Erzählerauf Analogisierungen und Vergleiche zurück, die in ihrer Allgemeinheit keinen Aussagewert mehr haben: «On voit à Madagascar presque tous les animaux que nous avons en Europe, & un grand nombre qui nous sont inconnus.»671 Schließlich wird auch explizit thematisiert, dass eine Beschreibung im Grunde unmöglich sei: «Enfin, on n’a point encore assez pénétré dans ce vaste pays, ni fait des tentatives suffisantes pour le connoître & pour le décrire.»672 Im Eintrag über die asiatische Stadt Chalcédoine wird explizit in der historischen Rekonstruktion der Größe der Stadt in der Argumentation mit «on dit que» und explizit mit «fait merveilleux» gearbeitet und damit lakonisch, aber sehr effektiv Zweifel über die Wahrheit der Geschichte(n) bzw. die Glaubwürdigkeit der Quellen formuliert: On dit que les Chalcédoniens ayant négligé le culte de Vénus, cette déesse les affligea d’une maladie qui a quelque rapport avec celle à laquelle on s’expose aujourd’hui, non par le culte qu’on lui refuse, mais par celui qu’on lui rend. Arien ajoûte que les Chalcédoniens ne trouvant point de remede à leur mal, crurent que le plus court étoit de retrancher la partie malade, quelque importante qu’elle pût être pour la conservation du tout. Autre fait merveilleux. Les Perses ayant ruiné Chalcédoine, Constantin entreprit de la rebâtir, & l’eût sans-doute préférée à Bysance: mais les aigles vinrent enlever avec leurs serres les pierres d’entre les mains des ouvriers. Ce prodige fut répété plusieurs fois, & toute la cour

670 Louis de Jaucourt: Inde, L’ , S. 661. 671 N. N.: Madagascar, S. 839. 672 Ebd.

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en fut frappée. Il faut bien se garder de comparer ce fait rapporté par le crédule Cedrene, avec celui qu’on lit dans Ammien Marcellin. Cet historien dit que Julien (quoique payen) voulant relever les murs de Jérusalem, il s’éleva des fondemens des tourbillons de flammes qui dévorerent les ouvriers, & firent échoüer cette entreprise. Chalcédoine a éprouvé beaucoup de révolutions: ce n’est plus aujourd’hui qu’un village.673

Paradigmatisch für fiktive Wissensbestände ist der Eintrag zur berühmten Stadt Atlantis. Interessant ist der Artikel insofern, als er sich weniger mit Atlantis und den Bewohnern beschäftigt, als vielmehr mit der Validierung unterschiedlicher Quellen, die die untergegangene Stadt mal im Atlantik, mal in Skandinavien, mal in der Nähe der Neuen Welt, mal auf Höhe der Azoren verorten. Dabei gehen mythische Genealogien auf Neptun zurück, es finden sich Reflexionen von Platon, die beinahe unmerklich zu wissenschaftlichen Studien des schwedischen Professors Rudbeck bis hin zu Thematisierungen von Kolonialreichen übergehen: Atlantique ou Isle atlantique, (Géog.) île célebre dans l’antiquité, dont Platon & d’autres écrivains ont parlé, & dont ils ont dit des choses extraordinaires. Cette île est fameuse aujourd’hui par la dispute qu’il y a entre les modernes sur son existence & sur le lieu où elle étoit située. L’île Atlantique prit son nom d’Atlas, fils aîné de Neptune, qui succéda à son pere dans le gouvernement de cette île. Platon est de tous les anciens auteurs qui nous restent, celui qui a parlé le plus clairement de cette île. Voici en substance ce qu’on lit dans son Tymée & dans son Critias. L’Atlantique étoit une grande île dans l’Océan occidental, située vis-à-vis du détroit de Gades. De cette île on pouvoit aisément en gagner d’autres, qui étoient proche un grand continent plus vaste que l’Europe & l’Asie. Neptune regnoit dans l’Atlantique, qu’il distribua à ses dix enfans. Le plus jeune eut en partage l’extrémité de cette île appellée Gades, qui en langue du pays signifie fertile ou abondant en moutons. Les descendans de Neptune y régnerent de pere en fils durant l’espace de 9000 ans. Ils possédoient aussi différentes autres îles ; & ayant passé en Europe & en Afrique, ils subjuguerent toute la Lybie & l’Egypte, & toute l’Europe jusqu’à l’Asie mineure. Enfin l’île Atlantique fut engloutie sous les eaux ; & long-tems après la mer étoit encore pleine de bas-fonds & de bancs de sable à l’endroit où cette île avoit été. Le savant Rudbeck, professeur en l’université d’Upsal, dans un traité qu’il a intitulé Atlantica sive manheim, soûtient que l’Atlantique de Platon étoit la Suede & la Norvege, & attribue à ce pays tout ce que les anciens ont dit de leur île Atlantique. Mais après le passage que nous venons de citer de Platon, on est surpris sans doute qu’on ait pû prendre la Suede pour l’île Atlantique ; & quoique le livre de Rudbeck soit plein d’une érudition peu commune, on ne sauroit s’empêcher de le regarder comme un visionnaire en ce point.674

673 N. N.: Chalcédoine, in: Denis Diderot/Jean Le Rond d’Alembert (Hg.): Encyclopédie (ENCCRE). Bd. 3, S. 19. 674 Edmé-François Mallet: Atlantique ou Isle atlantique, in: Denis Diderot/Jean Le Rond d’Alembert (Hg.): Encyclopédie (ENCCRE). Bd. 2, S. 818–819.

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In diesem Eintrag zeigt sich paradigmatisch, dass durch die Eruierung des hypotextuellen Diskursfeldes und die argumentative Kopplung der Referenztexte im Eintrag die enzyklopädische Stimme viel Platz einnimmt. Auch hier führt der enzyklopädische Erzähler wieder vor, dass Atlantis hauptsächlich, wenn nicht gar ausschließlich eine Rolle spielt im berühmten Streit der modernen (Wissenschaften). D’autres prétendent que l’Amérique étoit l’île Atlantique,& concluent de-là que le nouveau monde étoit connu des anciens. Mais le discours de Platon ne paroît point s’accorder avec cette idée: il sembleroit plûtôt que l’Amérique seroit ce vaste continent qui étoit par-delà l’île Atlantique,& les autres îles dont Platon fait mention. Kircher dans son Mundus subterraneus,& Becman dans son Histoire des îles, chap. v. avancent une opinion beaucoup plus probable que celle de Rudbeck. L’Atlantique, selon ces auteurs, étoit une grande île qui s’étendoit depuis les Canaries jusqu’aux Açores ; & ces îles en sont les restes qui n’ont point été engloutis sous les eaux.675

Altes und neues Wissen tritt hier sichtbar in Konkurrenz zueinander; wobei der enzyklopädische Erzähler sich nicht mit der bloßen Diskussion aufhält, sondern durchaus evaluierende Orientierung gibt: Rudbecks Annahmen werden falsifiziert, Argumentationen als unstimmig klassifiziert und stimmigere Thesen («plus probable») ausgewiesen. Damit ergibt sich aber trotz aller hypotextueller Universalität ein poetologischer Effekt: Im Eintrag werden das Imaginierte und wissenschaftliche Explikationen dergestalt gegeneinander ausgespielt, dass die mythischen Trugbilder empirischen, rationalen Erklärungsmustern unterworfen werden. Damit aber entscheidet Mallet die «dispute» der Modernen, in die er die Diskussionen um Atlantis ja schon zu Beginn des Artikels positioniert, setzt der vernunftgeleiteten Debatte ein Ende und evaluiert damit quasi rückwirkend die herangezogenen Hypotexte (und rekategorisiert sie als mythisch-antik-überholt-phantastisch oder als vernünftig-modern-wahrscheinlich).676

675 Ebd. 676 Nicht immer aber entscheidet der enzyklopädische Erzähler die dispute zwischen den wissenschaftlichen Quellen oder nimmt eine tendenziöse Artikulation vor. Die Benennung unterschiedlicher Völker in der Geschichte u. a. römische Freigelassene verharrt auch oftmals in der Unsicherheit über den Wahrheitsgehalt der Quellen: «Libertini, Les, (Littérat. sacrée) […] Après les libertini, le livre des actes nomme les Cyrénéens, les Alexandrins, peuples d’Afrique, & commence par les plus éloignés. Les Romains auroient-ils eu en Afrique une colonie nommée Libertina, où il y auroit eu des Juifs, comme il y en avoit à Alexandrie & à Cyrène ? c’est ce qu’on ignore. On sait seulement qu’il y avoit en Afrique un siege épiscopal de ce nom ; car à la conférence de Carthage, ch. cxvj, il se trouva deux évêques, Victor & Janvier, l’un catholique, l’autre donatiste, qui prenoient chacun la qualité de episcopus ecclesiae libertinensis.» (Louis de Jaucourt: Libertini, Les, in: Denis Diderot/Jean Le Rond d’Alembert (Hg.): Encyclopédie (ENCCRE). Bd. 9, S. 476.

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Gänzlich falsifizierbares oder schlicht: falsches Wissen wird in der Encyclopédie durchaus auch noch deutlicher als solches normativ markiert. So etwa auch Irrtümer, denen die Griechen aufgesessen sind: «Cimmériens, s. m. plur. (Géog. anc. & mod.) peuples anciens qui habiterent les environs des palus Méotides & du Bosphore Cimmérien. Les Grecs en avoient une si fausse idée, que le croyant couvert d’épaisses ténebres, ils le plaçoient sur les confins de l’enfer.»677 Eine dritte Position neben der Deklaration als richtiges oder falsches Wissen ist die Unentscheidbarkeit zwischen diesen Aussagen, indem divergierende Quellenlagen zwar als solche kommentiert, nicht aber durch eine eigene Reflexion entschieden werden. So etwa im Eintrag über das asiatische Volk der Chalybes, deren Determinierung und Situierung nach Diderot umstritten ist. Er stellt diese Uneinigkeit im Eintrag explizit dar: «Les auteurs ne sont point d’accord sur ces peuples: les uns les confondent ; d’autres prétendent être bien fondés à les distinguer.»678 Die hypotextuellen Stränge bilden ein Diskursfeld, das sich schwerlich nur als extratextuell fassen lässt. Die Hypotexte sind dem Hypertext nicht äußerlich, prädiskursiv und stellen damit Bezugsgrößen dar, auf die sich der Hypertext nur beziehen muss. Der referierende Text selbst ist von diesem hypotextuellen Feld durchzogen. Die Intertextualitätsforschung nach Bachtin, Kristeva oder Genette beschreibt dies als den intertextuellen Aspekt des (literarischen) Textes, die Diskursanalyse beschreibt sie als den Text unweigerlich durchziehende Diskursstränge. Mit dieser Perspektive auf die intertextuelle Prägung von Texten aber kommen für die vorliegende Untersuchung stärker die enzyklopädischen Verfahren der Adaptionen in den Blick.679 Hypertexuelle Verfahren als Transformationen Trotz der poststrukturalistischen Ausrichtung der Intertextualitätsforschung in der Nachfolge Kristevas unternimmt Genette Anfang der 1980er Jahre den Versuch, eine (strukturalistische) Systematik für die Textanalyse vorzulegen. Hier

677 N. N.: Cimmeriens, in: Denis Diderot/Jean Le Rond d’Alembert (Hg.): Encyclopédie (ENCCRE). Bd. 3, S. 454. 678 Denis Diderot: Chalybes, in: Ders./Jean Le Rond d’Alembert (Hg.): Encyclopédie (ENCCRE). Bd. 3, S. 42. 679 So entkommt man auch der Enge einer evidenzbasierten Intertextualität, die ausschließlich nach jenen Texten fahndet, auf die sich der Textproduzent in Gestalt des Autors explizit bezogen hat oder die er nachweislich gelesen hat, so dass er sie implizit eingebauen konnte (und diese Lektüren lassen sich wiederum anhand von Privatbibliotheken, Briefwechseln o. ä. rekonstruieren).

2.1 Figuren und Figurationen kolonialer Macht

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führt er den mittlerweile sehr entgrenzten Text- und Intertextualitätsbegriff (etwa die telquelistische Haltung bei Kristeva,680 auf den Boden der Strukturanalyse von Erzähltexten zurück. Und er führt einen restriktiveren Begriff der Intertextualität ein, unter den erallein die bewusste Bezugnahme auf Texte meint, sei es in Form von Zitat, Anspielung oder Paraphrase.681 Die explizite nominelle/tituläre Bezugnahme auf Hypotexte kommt in den Encyclopédie-Artikeln als Nennung des Autornamens und des konkreten Titels (so etwa im Eintrag zum Kaffee, in dem der Autor schon qua Ruf/Namen über jeden Zweifel erhaben ist: «Ce que nous en allons dire est tiré d’un mémoire contenu dans le recueil de l’Académie des Sciences, année 1713. Ce mémoire est de M. de Jussieu, le nom de l’auteur suffit pour garantir les faits»,682 als Nennung des Autors ohne konkreten Texttitel (etwa im Montesquieu blumig huldigenden Eintrag Fief: «M. de Montesquieu tenant le bout du fil est entré dans ce labyrinthe, l’a tout vû, en a peint le commencement, les routes, & les détours, dans un tableau lumineux dont je viens de donner l’esquisse, en empruntant perpétuellement son crayon, je ne dis pas son coloris»,683 als Nennung des Titels ohne seinen Autor (etwa im selben Eintrag gleich zu Beginn, erst später ist überhaupt in der o. a. Form von Montesquieu die Rede684) oder aber als Umschreibung ohne Nennung des Textes oder des Autors (etwa im Eintrag zur chinesischen Philosophie nur «quelques auteurs» genannt werden: «au jugement de quelques auteurs, aux contrées de l’Europe les plus éclairée».685 Diese intertextuellen Erzählverfahren sind durch ein ganzes Spektrum an hypertextuellen Rekonstruktionen gekennzeichnet, die wiederum mit unterschiedlichen Markierungen einhergehen. Dies geht von einem direkten Zitat mit Markierung durch Interpunktion (Anführungszeichen)686 und Typographie (Kursivierung) über die Paraphrasierung durch Nennung des referierten Textes oder des Autors bis hin zu impliziten Übernahmen. Diese impliziten Übernah-

680 Vgl. Julia Kristeva: Séméiôtikè. Recherches pour une sémanalyse, Paris: Seuil 1969, bes. S. 84 f. 681 Vgl. Gérard Genette: Palimpsestes. La littérature au second degré, Paris: Seuil 1982, S. 8 f. 682 Denis Diderot/Urbain de Vandenesse: Caffé, S. 527. 683 Louis de Jaucourt: Fief, in: Denis Diderot/Jean Le Rond d’Alembert (Hg.): Encyclopédie (ENCCRE). Bd. 6, S. 688–693, hier S. 693. 684 Vgl. ebd. 685 Denis Diderot: Chinois, Philosophie des, in: Ders./Jean Le Rond d’Alembert (Hg.): Encyclopédie (ENCCRE). Bd. 3, S. 341–348, hier S. 341. 686 In der Encyclopédie sind die Anführungszeichen nicht nur vor dem ersten Wort des zitierten oder als Redewiedergabe markierten Wortes gesetzt, sondern finden sich jeweils vor jeder Zeile. Damit tritt insbesondere durch den relativ engen Kolonnensatz und bei längeren Zitaten die fremde Rede sehr augenfällig hervor.

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2 Macht und Ambivalenz in den Narrationen des kolonialen Anderen

men wiederum zeichnen sich durch die Absenz einesmanifesten Verweises aus etwa als Argumentationslinien (hier insbesondere die Übernahme von Artikelstrukturen bei Chambers, die noch sehr an die ursprüngliche Übersetzung gemahnen) oder als Imitationen von referierten Texten in Form von Parodien (Übernahme erkennbarer Struktur- und Gestaltungsmerkmale einer Vorlage zur Komisierung und Herabsetzung dieser Vorlage) oder Travestien (Übernahme erkennbarer Inhalte einer Vorlage, aber Veränderung der Formung dieser Inhalte zur Herabsetzung und Komisierung der Vorlage). Zitieren und Paraphrasieren (etwa als «Recapitulons un peu»687) sind in der Encyclopédie oftmals nicht trennscharf voneinander unterschieden. Schon Proust hatte in den 1970er Jahren auf diesen enzyklopädischen Kompilationsmodus hingewiesen: «Tous les articles de l’Encyclopédie, même les plus «originaux» sont faits de matériaux en partie empruntés. Ce ne sont parfois que de longues citations mises bout à bout, avec ou sans indication de source.»688 Leca-Tsiomis fasst dies als basalen lexikographischen Modus der Textproduktion zusammen, indem sie ein ganzes (textgewebe-metaphorisches) Spektrum an inter- bzw. hypertextuellen Textverfahren anführt: «Emprunt de passages, découpage d’ouvrages, remaniement de citations, réécriture sont ainsi parmi les pratiques obligées de l’écriture lexicographique depuis que les dictionnaires existent.»689 Diese Techniken der «Plundering philosophers» haben 2010 Allen u. a. aufgezeigt,690 und sie sind nur im direkten Vergleich mit den Prätexten auszumachen. An dieser Stelle sei ein kontrastives Beispiel herausgegriffen, an diesem diese Verfahren verdeutlicht werden können. Bezugnehmend auf das eingangs zitierte Beispiel zum Königreich Ansico etwa ist zu bemerken, dass der enzyklopädische Kompilator zwar auf das Dictionnaire géographique von Vosgien verweist. «on lit dans le dictionnaire [...] que». Aber er tilgt zum einen die Attribuierungen «vigoureux, lestes & intrépides, & si barbares», zum anderen macht er nichtrecht deutlich, dass es sich um eine weitestgehende Übernahme des Hypotextes handelt. Ein Vergleich der betreffenden Passagen zeigt dies auf: ANSICO, Anzicanum, R. d’Afr. sous la Ligne. On y trouve deux fortes de bois de Sandal, dont les habitans font un onguens pour s’en froter le corps & conserver leur santé. Ils sont vigoureux, lestes & intrépides, & si barbares, qu’ils se nourrissent de chair humaine.

687 Louis de Jaucourt: Tyr, S. 783. 688 Jacques Proust: Questions sur l’Encyclopédie, in: Revue de l’histoire littéraire de France 1, 72 (1973), S. 36–52, hier S. 40. 689 Marie Leca-Tsiomis: La place de la compilation, La fabrique de l’Encyclopédie, in: Édition Numérique Collaborative et CRitique de l’Encyclopédie, 2016, http://enccre.academiesciences.fr/encyclopedie/documentation/?s=97& (24. 09. 2019). 690 Vgl. Timothy Allen u. a.: Plundering Philosophers.

2.1 Figuren und Figurationen kolonialer Macht

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On dit qu’ils ont des boucheriespubliques, où l’on voit pendre des membres d’hommes; ils mangent leurs peres, meres, freres & sœurs, aussi-tôt qu’ils sont morts. Ils adorent le Soleil, la Lune & une infinité d’idoles. Leur R. se nomme le grand Macoco, & passe pour le plus puissant Monarque de toute l’Afr. On dit que l’on tue tous les jours dans son Palais 200 hommes pour être servis à sa table.691 ANSICO, (Géog. mod.) royaume d’Afrique sous la ligne. On lit dans le dictionnaire géographique de M. Vosgien, que les habitans s’y nourrissent de chair humaine ; qu’ils ont des boucheries publiques où l’on voit pendre des membres d’homme ; qu’ils mangent leurs peres, meres, freres & soeurs, aussi-tôt qu’ils sont morts ;& qu’on tue deux cens hommes par jour, pour être servis à la table du grand Macoco, c’est le nom de leur monarque.692

Derart unzureichende bis hin zu unmarkierte Übernahmen von Textpassagen693 lassen sich zahlreich in der Encyclopédie finden, und ein Teil der EncyclopédieForschung hat sich dem Nachweis verschrieben, inwiefern Textübernahmen etwa als Plagiate in der Encyclopédie vorzufinden sind.694 Als weiteres Beispiel sei (bezeichnenderweise) nochmals auf den Eintrag Europe hingewiesen, in dem de Jaucourt ja den europäischen Überlegenheitsanspruch unter kurzem Verweis auf Montesquieu (hier nur in Form des Titels Esprit des lois ohne Autorennamennennung) formuliert. So heißt es «l’Europe [...] est la plus considérable de toutes par [...] la connoissance des Arts, des Sciences, des Métiers, & ce qui est le plus important, par le Christianisme, dont la morale bienfaisante ne tend qu’au bonheur de la société.»695 Wie Steinkamp nachweist, handelt es sich um eine quasi wörtliche Übernahme aus Martinières Grand dictionnaire géographique, historique et critique (1726–1739).696 Hier wird eine Art interenzyklopädischer und selbstversichernder Diskurs über die europäische Identität repetiert, der die europäische Vormachtstelllung und Überlegenheit konsolidieren soll. Nun kommen aber auch hypotextuelle Stimmen zu Wort, die sich nicht als Zitat aus einem vorgängigen Text, sondern als Wiedergabe mündlicher Rede in der Encyclopédie auftauchen. Hier ist die Nähe zwischen narratologischen

691 Vosgien/Ladvocat:: Dictionnaire géographique, 1749, S. 31, Hervorhebungen K. S. 692 Denis Diderot: Ansico, in: Ders./Jean Le Rond d’Alembert (Hg.): Encyclopédie (ENCCRE). Bd. 1, S. 490, Hervorhebungen K. S. 693 In der Ausgabe von 1825 bleibt von dem Eintrag nur noch: «ANSICO, roy. d’Afr. Sous la ligne; produit du bois de Sandal. Ses habitants sont vigoureux, lestes, intrépides et féroces. Leur roi se nomme grand-macoco.» (Vosgien: Ansico, in: Ders.: Dictionnaire géographique, ou: Description de toutes les parties du monde, 1825, S. 36, https://gallica.bnf.fr/ark:/12148/ bpt6k24597x.image (24. 09. 2019). 694 Vgl. bspw. Dan Edelstein/Robert Morrissey/Glenn Roe: To Quote or not to Quote: Citation Strategies in the Encyclopédie, in: Journal of the History of Ideas 2, 74 (2013), S. 213–236. 695 Louis de Jaucourt: Europe, S. 212. 696 Vgl. Volker Steinkamp: Europa, S.195.

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Überlegungen und intertextuellen Verfahren besonders gegeben, als es sich hier um einen Textkontakt handelt, der nicht schriftliche, sehrwohl aber mündliche Rede zitiert, paraphrasiert, rekonstruiert und konstruiert. Durch die intertextuelle (Re-)konstruktion eines anderen Textes wird eine neue narrative Ebene eröffnet, so dass hier von ‹intertextuellen Verfahren enzyklopädischen Schreibens› gesprochen werden kann. Oftmals werden diese Reden mit einem Quellenverweis versehen oder dienen dem Beleg der redeumrahmenden Werturteile der Erzählinstanz. Darin liegt das Spezifikum der enzyklopädischen Intradiegesen und Extradiegesen: Hier werden auf einen ersten Blick weitere Texte zitiert oder paraphrasiert, die als Illustration oder Beleg für die argumentative Beweisführung dienen sollen. Dass sich überhaupt die Behauptung der Eröffnung einer Intradiegese in diesem Zusammenhang ermöglicht, liegt daran, dass der enzyklopädische Erzähler die Bezugnahmen auf die Hypotexte narrativ gestaltet und das bedeutet hier konkret: narratologisch als Intradiegesen aufbaut (vgl. dazu die vorangegangenen Analysen). Damit aber wird die wissenspoetologische Dimension des enzyklopädischen Artikels akzentuiert, denn durch die narratologische Einbettung der Hypotexte im Hypertext werden zwar nicht literarische Welten im Sinne von klassischen, und auch von Genette gemeinten Diegesen im Erzähltext gebaut; es wird aber sehr wohl eine Art Wissenswelt erzählt. Und diese dreht sich im Falle der vorliegenden Untersuchung um das Verhältnis zwischen dem europäischen philosophe und dem kolonialen Anderen. So werden aus den Hypotexten diegetische Einlassungen in den Text; gleichzeitig werden aber auch die Hypertexte diegetisch aufgeladen und poetologisiert. Und überdies auch noch durch den kolonialen Anderen beeinflusst – wenn nicht gar ‹infiziert›. Diese letzte Behauptung wird Gegenstand der kontrapunktischen Lektüren im folgenden Kapitel sein. Innerhalb der Paraphrase kann unterschieden werden in zwei normative Formen, die der enzyklopädische Erzähler zur Beurteilung und metatextuellen Kommentierungen des Hypotextes integriert. Weitaus häufiger als der nüchterne Verweis auf Hypotexte ist nämlich die Beurteilung und Bewertung der Informationsquellen. Das normative Spektrum liegt dabei zwischen Aufwertung bzw. respektvoller Anerkennung der Expertise einerseits (mit Lachmann also in einer Geste der Partizipation) und der deutlichen Abwertung (mit Lachmann als Transformation oder gar Tropik) etwa durch Disqualifizierung des ontologischen Status andererseits. Die Aufwertung der referierten Quelltexte und die archivarisch-bewahrende Zielsetzung lässt sich an den ehrfürchtigen Attribuierungen der Autoren wie Texte ablesen, mit denen sie der enzyklopädische Erzähler belegt. Dies sind insbesondere die antiken Denker wie Platon oder Aristoteles, aber auch etwa Montesquieu (dessen Esprit des loispräsenter erscheint als der Autorenname

2.1 Figuren und Figurationen kolonialer Macht

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selbst) und nicht zuletzt auch die Enzyklopädisten selbst (wie bspw. de Jaucourts Studien). Zur Abwertung sei exemplarisch nochmals der Eintrag zum Tinagogo genannt, eine indische Götze, die der puren Phantasie von Pinto zu entspringen soll.697 Mit dem intertextuellen Verweis auf Autoren und der generischen Bezeichnung als «contes», «récit» und fictions gehen spezifische Bewertungen einher, die meist deutlich negativ ausfallen: Pinto wird zum «voyageur romanesque» degradiert, der mit imaginierten Informationen aufwartet. Kontrastiert werden Pintos Geschichten mit dem Wissen der Geographen, welche wiederum keinen Beweis für die Existenz des Volkes oder der Gottheit Tinagogo liefern können. Eine besondere Form der Parodie ist die Verfremdung des Eigenen durch dessen Alienisierung. Ein besonderes Beispiel kann aus dem Artikel Fanatisme angeführt werden, in dem der enzyklopädische Erzähler explizit markiert, dass er im Folgenden ein Gebet/eine Art Fürbitte parodiert, die als angemessene Gegenrede fungieren soll: Mais s’il étoit permis d’emprunter un moment, en faveur de l’humanité, le style enthousiaste, tant de fois employé contr’elle, voici l’unique priere qu’on opposeroit aux fanatiques: « Toi qui veux le bien de tous les hommes, & qu’aucun ne périsse ; puisque tu ne prens aucun plaisir à la mort du méchant, délivre nous, non pas des ravages de la guerre & des tremblemens de terre, ce sont des maux passagers, limités, & d’ailleurs inévitables, mais de la fureur des persécuteurs qui invoquent ton saint nom. Enseigne-leur que tu hais le sang, que l’odeur des viandes immolées ne monte point jusqu’à toi, & qu’elle n’a point la vertu de dissiper la foudre dans les airs, ni de faire descendre la rosée du ciel. Eclaire tes zélateurs, afin qu’ils se gardent au-moins de confondre l’holocauste avec l’homicide. Remplis-les tellement de l’amour d’eux-mêmes, qu’ils puissent oublier leur prochain, puisque leur pitié n’est qu’une vertu destructive. Hé ! quel est l’homme que tu as chargé du soin de tes vengeances, qui ne les mérite cent fois plus que les victimes qu’il t’immole ? Fais entendre que ce n’est ni la raison ni la force, mais ta lumiere & ta bonté, qui conduisent les ames dans tes voies, & que c’est insulter à ton pouvoir, que d’y mêler le bras de l’homme. Quand tu voulus former l’Univers, l’appellas-tu à ton secours ? & s’il te plaît de m’introduire à ton banquet, n’es-tu pas infini dans tes merveilles ? mais tu ne veux pas nous sauver malgré nous. Pourquoi n’imite-t-on pas la douceur de ta grace, & prétend-ton m’inviter par la crainte à t’aimer ? Répands l’esprit d’humanité sur la terre, & cette bienveillance universelle, qui nous remplit de vénération pour tous les êtres avec qui nous partageons le don précieux du sentiment, & qui fait que l’or & les émeraudes fondus ensemble ne sauroient jamais égaler devant toi le voeu d’un coeur tendre & compatissant, encore moins expier l’horreur d’un homicide ».698

697 Vgl. Louis de Jaucourt: Tinagogo, S. 335–336. 698 Alexandre Deleyre: Fanatisme, S. 401.

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2 Macht und Ambivalenz in den Narrationen des kolonialen Anderen

In diesem Artikel werden intertextuell-poetische Verfahren der Parodie und der direkten Rede eingesetzt und somit eine religiöse Redeform (wenn man so will eine Art religiös-klerikale Wissenstextur) parodiert, die sowohl die Ziele der Aufklärung in Form von Forderungen (sprachlich-rhetorisch durch Imperative) als auch die Kritik am religiösen Fanatismus zu artikulieren erlaubt. Intratextuelles Feld: Das enzyklopädische Verweissystem Schließlich gibt es neben den Textausgängen zum ko-textuellen Feld auch intratextuelle ‹Schlupflöcher› zu den anderen Encyclopédie-Artikeln in Form des berühmten système de renvois. Dieses textuelle Umfeld ist insofern interessant, als die Genette’schen Intertextualitätstermini von Hypo- und Hypertext unbrauchbar werden, weil diese intratextuellen Verweisungszusammenhänge Text-Text-Beziehungen zu chronologischen und alphabetischen Ko-Texten darstellen. Ob der Verweis chronologisch auf einen Prätext verweist, hängt immanent von der Positionierung innerhalb des Alphabets ab und von der konkreten Rezeptionssituation der Leserschaft.699 Dieses Verweissystem ist als ein intratextuelles Verfahren zu bezeichnen, das nicht nur inhaltlich logisch eingesetzt wird zur Verknüpfung von Themen, sondern auch rhetorisch-argumentativ-ästhetisch zur Ironisierung, Überraschung oder Diversifizierung des Wissens genutzt.700 Im Eintrag Encyclopédie wird die Funktionsweise der renvois expliziert: Tous ces arbres particuliers seront soigneusement recueillis ; & pour présenter les mêmes idées sous une image plus exacte, l’ordre encyclopédique général sera comme une mappemonde où l’on ne rencontrera que les grandes régions ; les ordres particuliers, comme des cartes particulieres de royaumes, de provinces, de contrées ; le dictionnaire, comme l’histoire géographique & détaillée de tous les lieux, la topographie générale & raisonnée de ce que nous connoissons dans le monde intelligible & dans le monde visible ; & les renvois serviront d’itinéraires dans ces deux mondes, dont le visible peut être regardé comme l’Ancien, & l’intelligible comme le Nouveau. […] Je distingue deux sortes de renvois: les uns de choses, & les autres de mots. Les renvois de choses éclaircissent l’objet, indiquent ses liaisons prochaines avec ceux qui le touchent immédiatement, & ses liaisons éloignées avec d’autres qu’on en croiroit isolés ; rappellent les notions communes & les principes analogues ; fortifient les conséquences ;

699 Ob es sich bei einem Lemma um einen chronologischen Prätext handelt, hängt davon ab, ob der Leserschaft der jeweilige Band unter dem Buchstaben zugänglich ist. Eine moderne Leserschaft bzw. jene ab den 1780er Jahren war die Gesamtausgabe – zumindest theoretisch – zugänglich; einer zeitgenössischen Leserschaft ggfs. nur die bereits erschienenen Bände. So kann ein Verweis ggfs. auf einen Eintrag in einem Band führen, der noch gar nicht erschienen ist und damit nahezu proleptische Qualitäten aufweist. 700 Vgl. Andreas Gipper: Wunderbare Wissenschaft, S. 324.

2.1 Figuren und Figurationen kolonialer Macht

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entrelacent la branche au tronc, & donnent au tout cette unité si favorable à l’établissement de la vérité & à la persuasion. Mais quand il le faudra, ils produiront aussi un effet tout contraire ; ils opposeront les notions ; ils feront contraster les principes ; ils attaqueront, ébranleront, renverseront secrettement quelques opinions ridicules qu’on n’oseroit insulter ouvertement. Si l’auteur est impartial, ils auront toujours la double fonction de confirmer & de réfuter ; de troubler & de concilier.701

Insbesondere die letzten Ausführungen sind als intertextuelles Erzählverfahren interessant, weil sie die aufklärerische Wissenspoetik der Encyclopédie unterstreichen: Es geht in der Encyclopédie nicht nur um Setzungen, um Definitionen und klare Distinktionen, sondern es geht auch um die Dynamisierung des Wissens. Da werden, dies ist oben schon mehrfach angeklungen, antike und moderne Wissensbestände durch die Bezugnahme zwischen entfernten Lemmata kontrastiert; es werden divergierende, kontrastierende und teils sogar kontradiktorische Wissensbestände in Verbindung gebracht. Die «impartialité» allerdings ist eine nachvollziehbar wissenschaftlich-ethische Selbststilisierung, in der enzyklopädischen Erzählweise aber eine Illusion. Denn den Anspruch des Unparteiischen (der sich ja noch einmal anders ausnimmt als der Anspruch der Objektivität) kann allein schon durch die epistemische und in Bezug auf den kolonialen Anderen auch auf die koloniale Position des europäischen philosophe, aber auch durch die enzyklopädisch-poetologische Forderung nach elektiver Wissenskonstruktion nicht eingehalten werden. Und auch das système de renvoi gehorcht dem philosophe nicht ganz. Es ist mittlerweile ein Gemeinplatz der Encyclopédie-Forschung, dass das Verweissystem als aufklärerisch-kritisches Textverfahren kontingent, chaotisch und unsystematisch verläuft und zahlreiche Verweise auch ins Nichts führen, weil es den nämlichen Artikel in der Encyclopédie dann gar nicht (mehr) gibt.702 Auch hier spielen naturgemäß die Produktionsbedingungen der Encyclopédie eine wichtige Rolle, die u. a. bewirken, dass insbesondere Diderot z. T. vollkommen den Überblick über die Artikel-Verbindungen verliert. Demzufolge ist das système de renvoi auch nicht ohne Einschränkungen als eine intentionale Textstrategie zu werten. Über den Grad und den textuellen Niederschlag der Intentionalität in Bezug auf das Verweissystem sollen in dieser Arbeit keine Analysen angestellt

701 Denis Diderot: Encyclopédie, S. 642. 702 Vgl. bspw. Gilles Blanchard/Mark Olsen: Le système de renvois dans l’Encyclopédie: Une cartographie des structures de connaissances au XVIIIe siècle, in: Recherches sur Diderot et sur l’Encyclopédie 31–32 (Avril 2002), DOI:10/4000/rde.122. Seit es die Encyclopédie als Digitalisat gibt, sind auch die Forschungen zum «système de renvoi» hiervon beeinflusst worden, lassen sich doch intratextuelle Bezüge nun mithilfe von Algorithmen und spez. Graphen ausmachen und (bildlich) darstellen.

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und Aussagen gemacht werden. Für die Konstruktion des kolonialen Anderen ist das Verweissystem aus den z. T. bereits genannten Gründen relevant: Es funktioniert einerseits als kritisches Instrument der Zivilisations- oder Religionskritik wie im Falle der Korrelation von Anthropophagie und Abendmahl. Es verbindet andererseits, scheinbar ausdifferenzierend, die modern-geographischen und ökonomischen Einträge zu den Kontinenten der Welt mit Artikeln zu einzelnen Landstrichen, Völkern, Hauptstädten, Gottheiten, Kolonialwaren und Luxusgütern oder Flora und Fauna. Doch auch hier hat sich bereits gezeigt, dass die vermeintlich kontextualisierenden und konkretisierenden Artikel oftmals nur auf ein Stereotyp verweisen, das diskursiv in die Ausführungen der Kontinent-Einträge passt und für die Wissenskonstruktion des kolonialen Anderen den bekannten Orientierungsrahmen der Stereotype bereitsstellt und damit festigt. Der Einzelfall, der den Reisebeschreibungen entnommen wird, wird generalisiert; und die Anekdote, wie Schneider für seine Analysen des Zedler’schen Universal-Lexicons konstatiert, wird zum imagologischen Muster: Wenn so das anekdotisch Erzählte zum Stereotyp verändert wird, findet eine Art Arbeit am nationalen Klischee statt. Reiseberichte bieten etwas, was Lexika brauchen und sonst kaum zu finden ist: Beschreibung verbunden mit Urteil, Ausführlichkeit im Dienste der Abkürzung, Detailfreude im Abstand von der Sache selbst. So werden Artikel durch Redaktion konstruiert und eine neue Textsorte entsteht: nicht zusammengesetzt, nicht neu geschrieben, aber gekürzt und umgeschrieben.703

Schneiders Argument läuft hier auf ein neues enzyklopädisches Schreiben und Textgenre hinaus. Für die vorliegende Arbeit aber ist ein weiteres Moment in Schneiders Ausführungen relevant, das er aber nicht expliziert kommentiert: das der narrativen Inszenierung von Alteritätswissen – und zwar sowohl mittels der narratologischen Verfahren innerhalb des Textgenres Reisebericht, als auch mittels der intertextuellen Verfahren der hypertextuellen Transformationen. Meine These ist ja gerade, dass insbesondere die Wissenskonstruktion des Anderen in der kolonialen Welt narrative und intertextuelle Inszenierungen nachgerade erfordert. Und diese sind dann (über Schneider hinausgehend) keine einfachen Modi der Umschreibung oder Verkürzung, sondern machtvolle Textkonstruktionen – die eine kolonial-indizierte Ambivalenz in sich tragen. Fazit: Intertextuelle Verfahren der Alteritätserzählungen In einer diskursanalytisch-postkolonialen Perspektive sind daher die unterschiedlichen Modi der intertextuellen Übernahmen und Inszenierungen nicht

703 Ulrich Johannes Schneider: Die Erfindung des allgemeinen Wissens, S. 121.

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als Textadaptionen oder –transformationen zu deuten, die allein textuelle Verschiebungsphänomene beschreiben. Mit Blick auf die machtvollen, kolonialen Wissensordnungen, die sich hier konstituieren, stellen sich Fragen nach den kontextuellen Wissensquellen und dem textuell-intertextuellen Artikulationsraum für die Beziehung zwischen europäischem philosophe und kolonialem Anderen innerhalb der Encyclopédie-Artikel. Demgemäß kommen machtvolle Sprecher- und Sprachpositionen in den Blick, die über die hypotextuelle Auswahl und die enzyklopädische Zentrierung entscheiden unddie Techniken von Zitat und Paraphrase des kolonialen Anderen unter diskursmächtigen Vorzeichen ausdeuten.704 Damit aber steht auch in der Perspektive der intertextuellen Erzählverfahren der philosophe im Zentrum: Zur Konstruktion des kolonialen Anderen zieht er entsprechende Texte heran, stellt sie in einen Zusammenhang (und damit jeweils auch eine Art Diskurs- oder Forschungsstand her) und diskutiert ihre Vor- und Nachteile sowie ihre Glaubwürdigkeit/Wahrscheinlichkeit. Dass die intertextuellen Referenzen also deiktische Funktion haben, ist evident. In einer diskursanalytischen und postkolonialen Perspektive aber ist die Richtung der Deixis interessant. Wird im Text auf den referierten Text verwiesen, gleichsam aus ihm hinaus und damit von der eigenen Textautorität weg? Oder dient die deiktische Struktur der Integration des Wissens und weist damit eher wieder auf sich selbst zurück? Ein Beispiel für die Zentrierungskraft der intertextuellen Verfahren ist im Eintrag Georgien zu finden. Im Hinblick auf die Autorisierungsstrategien der Alteritätsdiskurse705 sind hier die Verweise auf die Hypotexte von Interesse, da der enzyklopädische Erzähler sich nicht nur als Kompilator und Kollektor generiert, sondern sich selbst als Lesenden und als ‹platzierende› («digne d’avoir ici sa place») Konstruktionsinstanz ins Spiel bringt. Hier zeigt der enzyklopädische Erzähler nicht nur seinen Lesehorizont auf, er weist auch seine Selektionskraft aus: «Voilà le précis de ce que j’ai lû de plus curieux sur la Géorgie dans Chardin, Tavernier, Thévenot, Tournefort & la Motraye, & ce précis m’a paru digne d’avoir ici sa place […].»706 Die Verweise

704 Vgl. Dan Edelstein/Robert Morrissey/Glenn Roe: To Quote or not to Quote. Zur Strategie des Nicht-Zitierens als philosophische, weil popularisierende («worldly style») und subversive, weil die Zensurpolitik umgehende editorische Strategie vgl. Dan Edelstein: The Enlightenment. Die Autoren gehen hier mithilfe digitaler Algorithmen (Progamm PhiloLine) vor. 705 Die Modi der intertextuellen Verarbeitung des Prätextes können sehr unterschiedlich bewertet werden. Sind sie – insbesondere in der Form des Zitats – nur Wiederholung? Und folgt die Encyclopédie noch der ästhetischen Maxime von imitatio und aemulatio? Wissenspoetologisch wäre das so denkbar und ausdeutbar. In der folgenden Ambivalenz-Relektüre aber wird deutlich, dass neben imiatio und aemulatio eine kontrapunktische Dissonanz tritt (vgl. Kapitel 2.2.2.2). 706 Louis de Jaucourt: Georgie, S. 641.

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auf die Hypotexte sind keine Textausgänge, weil sie die Referenztexte nur qua Autorennamen andeuten und weder inhaltlich noch narrativ eine weitere Lektüre dieser Texte anregen. Die intertextuelle Verweisstruktur wirkt damit nicht nach außen. Weder situiert noch legitimiert sie die Aussagen im EncyclopédieArtikel im hypotextuellen Feld. Vielmehr lässt dieses «name-dropping-Verfahren» das hypotextuelle Wissensfeld auf wenige Namen zusammensurren und zieht es in den Artikel hinein. Und mehr noch: Die Integration der Textverweise in den Encyclopédie-Artikel geschieht weniger zur Absicherung bestimmter Inhalte und Informationen, sondern vielmehr zur Zentrierung des enzyklopädischen «je». Neben der Ich-Unterstreichung aber ist ein weiterer Effekt, der die Mutmaßungen über Etymologie und Plausibilität der zitierten Quellen erzielt wird, nach Gipper «genau jenes Traditionsmaterial wieder in den Diskurs einzuspeisen, das eigentlich aus ihm eliminiert werden soll.»707 Dies lässt sich auch für die Konstruktionen des kolonialen Anderen konstatieren, werden hier doch oftmals Textbelege aus Mythologie und Geschichtsschreibung herangezogen, obwohl die moderne Geographieund Studien anderer Provenienz plausiblere Bilder zeichnen.708 Die Funktionen dieser intertextuellen Transformationen in Form von Zitat oder Paraphrase sind divers, aber in den Grundzügen (natürlich) rein eurozentrisch. Paraphrasieren und Zitieren sind spezifische formal-ästhetische Strategien, die auf die Vermittlung von Wissen abzielen, indem sie die Leserschaft «für sich gewinnen» wollen – in welcher Form auch immer: dass diese überzeugt ist von Argumentation, dass diese Geschichte plastisch vor Augen hat und damit Textwissen und Erfahrungswissen sich annähern, dass diese Teil des aufklärerischen Wissensprojektes werden.709 Der Ausgang des Menschen aus

707 Andreas Gipper: Wunderbare Wissenschaft, S. 335. 708 Gleichwohl haben auch diese modern-geographischen Erkenntnisse nicht immer zu eindeutigem Wissen geführt. So zeigt Schneider einige Doppelungen von Artikeln auf, zu denen die unterschiedliche Schreibung geführt habe bspw. des asiatischen Königreichs Achem und Asem oder der Stadt Bachara und Bockara. Diese Fehler seien nicht nur bereits Zeitgenossen aufgefallen, sondern haben auch zu Diderots Ausführungen im Avertissement des dritten Bandes geführt, indem er die Reduktion der Geographie-Einträge versprach (vgl. Ulrich Johannes Schneider: Die Erfindung des allgemeinen Wissens, S. 63). 709 Am Ende des historiographisch angelegten Artikels, der Bewertungen eher ausspart, folgt dann aber doch ein erstaunlicher Hinweis. Hier kolportiert de Jaucourt eine Wunder wirkende Quelle, ohne diese Information in ihrer Fiktionalitätoder Fiktivität zu bewerten: «d’une fontaine près de cette ville, dont les eaux rendoient la voix forte & sonore.» (Louis de Jaucourt: Zama, in: Denis Diderot/Jean Le Rond d’Alembert (Hg.): Encyclopédie (ENCCRE). Bd. 17, S. 689– 690, hier S. 690.

2.1 Figuren und Figurationen kolonialer Macht

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seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit wird hier in eine Lese-handlung überführt; die Aufklärung ‹aktiviert› Menschen. Ergo: Die Einträge sind nicht nur selbstbezüglich auf den enzyklopädischen Kompilator, sondern in sich schon dialogisch in einer Kommunikationssituation mit der Leserschaft und damit dezidiert rezeptions- und wirkungsästhetisch ausgerichtet. Im Zusammenhang mit den inter- und architextuellen Verfahren geht es auffallend oft um die Eruierung der Referenztexte hinsichtlich ihres ontologischen Status. In Bezug auf die wissenspoetologischen Dimensionen sind dabei die unterschiedlichen Funktionen interessant, die in den Encyclopédie-Artikeln den Fiktionen beigemessen oder artikuliert werden. Die Funktionen jener intertextuellen Erzählverfahren in der Encyclopédie lassen sich auf unterschiedlichen Ebenen ausmachen Sie wirken erstens didaktisch/pädagogisch/wirkungsästhetisch: Die Hypotexte dienen dem Credo des prodesse et delectare. Sie sind zweitens als aufklärerisch/kulturphilosophisch zu verstehen: Die Hypotexte dienen insbesondere in ihren intertextuellen Spielformen der Inszenierung des kritischen Denkens, indem sie ihre Prätexte kommentieren, evaluieren und transformieren; die Autorität über Wissen zwar teilweise anerkennen, einen Großteil aber von den Hypotexten abziehen und in die hypertextuellen Erzählverfahren verlagern. Die intertextuellen Verfahren haben drittens argumentativ-rhetorische Funktion: Sie dienen der Persuasion, indem sie insbesondere in ihren fiktionalen Formen die Leserschaft auch affektiv involvieren. (Die antithetische Position dazu vetritt Semsch). Viertens ist eine literatur- und rezeptionsästhetische Funktion auszumachen: Durch die fiktionalen Hypotexte werden tradierte Wissenstexturen der Prodigien- und merveille-Traditionen710 aufgenommen und bekannte Erzählmuster genutzt. Fünftens schließlich lassen sich aber auch postkoloniale und machtkritische Effekte ausmachen: Die Degradierung des kolonialen Anderen wird erreicht durch Dämonisierung (wie im Falle der Jagas) oder seiner Instrumentalisierung (wie im Falle des Wilden in der Wollmanufaktur). Die Alteritätskonstruktionen zielen damit auf die Selbstinszenierung des europäischen philosophe – sei es nun seine Selbstbestätigung oder Selbstkritik. Der koloniale Andere lässt sich in Kategorien einpassen, auch wenn er diese immer wieder problematisiert; er ist beschreibbar und damit machtvoll ein- und unterzuordnen. Die oben genannten scheinbar widersprüchlichen Forschungshypothesen, ob der koloniale Andere nun eher der Selbstrelativierung oder der Selbstbestätigung des europäischen philosophe dient, sind insofern vereinbar, als beide lediglich Formen eines epistemischen und epistemologischen Othering

710 Vgl. Andreas Gipper: Wunderbare Wissenschaft, S. 329.

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in den enzyklopädischen Konstruktionen meinen. Beide Diskursmechanismen wären jene machtvoller Alteritätskonstruktionen: sei es in Form von Egalisierung fremder Kulturen durch die Horizonterweiterung und die Relativierung des eigenen Standpunkts, sei es durch die egozentrische Rückbezüglichkeit und die permanente Bezugnahme auf die europäischen Aufklärungsvorstellungen. Spätestens an dieser Stelle sollte sich aber Skepsis regen. Sind diese textuellen Gestalten und Gestaltungsformen wirklich nur als machtvolle Textverfahren auszudeuten? Zunächst scheint es so zu sein: Der koloniale Andere ist beschreibbar, Kategorien zuzuordnen und wird – ganz im Dienste der aufklärerischen Grundideen des Projekts – als kulturelles Objekt in die Wissenssammlungen integriert. Dies geschieht, indem der koloniale Andere unter Rückgriff auf möglichste seriöse Quellen beschrieben und bewertet wird. Schon die Aufnahme dieses extra-europäischen Wissens kann man als kulturrelativierend oder als kolonialistischen Machtgestus lesen; die unterschiedlichen diskursiven Ausgestaltungen in ihren Funktionalitäten (Dämonisierung, Exotisierung, Idealisierung) können als machtvolles epistemologisches Othering begriffen (und kritisiert) werden. Die folgenden Analysen aber zielen auf einen anderen Punkt, der nicht auf der inhaltlichen Ebene der Auseinandersetzung mit den Alteritätskonstruktionen in der Encylcopédie ansetzt, sondern schon die grundlegende Prämisse des Selfing-Othering-Textes hinterfragt. Sind die textuellen Alteritätskonstruktionen also kolonialistische Diskursivierungen, die ein binäres und eindeutiges Machtverhältnis widerspiegeln? Sind die enzyklopädischen Erzähler selbst in den Beschreibungen ihrer Wissenslücken und ihrer Zweifel über das beschriebene Wissen ausschließlich im machtvollen Textproduktionssinn zu verstehen? Kann es nicht vielmehr sein, dass schon die epistemologisch-alteritäre Anlage des Projekts – der philosophe beschreibt hoch oben über dem Wissenslabyrinth stehend den kolonialen Anderen – in seiner hierarchischen wie binären Struktur (philosophe/kolonialer Anderer, europäisch/kolonial, Wissender/Nichtwissender, Zivilisierter/Barbar, Beschreibender/Beschriebener etc.) zu hinterfragen ist? Wird die Gefahr und die Bedrohung, die vom kolonialen Anderen für den Europäer ausgehen, durch die epistemologische und xenophobe Einreihung in der Encyclopédie gebannt? Oder hält er sich, mit Bauman gesprochen, immer noch in der Nähe auf? Daß man den Fremden dadurch auf geistige Distanz hält, daß man ihn in einer Muschel des Exotizismus «einschließt», reicht freilich nicht aus, um seine inhärente und gefährliche Inkongruenz zu neutralisieren. Schließlich bleibt er ja in der Nähe.711

711 Zygmunt Bauman: Moderne und Ambivalenz, S. 113.

2.1 Figuren und Figurationen kolonialer Macht

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Die vorangegangenen Analysen fordern eine differenziertere und komplexere Sichtweise auf die Alteritätskonstruktionen in der Encyclopédie heraus. Die folgende kontrapunktische Lesart der Fremd- und Selbstkonstruktionen in der Encyclopédie zielt genau auf diese vermeintlich eindeutigen und dominanten Binaritäten, um sie zu dekonstruieren. Dieser Ansatz versucht, weder die These des Kulturrelativismus noch die der eurozentrischen Selbstbezüglichkeit des philosophe zu bestätigen. Diese Perspektive legt den Fokus auf die Widerständigkeiten im Diskurs, die sich auch schon in der ersten Sichtung der Einträge angedeutet haben: Je näher der enzyklopädische Erzähler und Kompilator hinsieht, desto verschwommener wird das vormals so eindeutige Fremdbild. Und desto problematischer wird auch der Blick in den eigenen Spiegel.

«Je länger man Europa vernünftig anschaut, desto unvernünftiger schaut es zurück.»1

1 Hauke Brunkhorst: Das doppelte Gesicht Europas. Zwischen Kapitalismus und Demokratie, Berlin: Suhrkamp 2014, S. 7.

2.2 Figuren und Figurationen kolonialer Ambivalenz Die vorangegangenen Analysen der Encyclopédie haben zu einem ersten Ergebnis geführt, dass sich der koloniale Andere epistemischen Einordnungen und kolonialistischen Diskriminierungen fügen muss: Er hat im Grunde keine eigene Stimme, wird mal in die Nähe, mal in größere Distanz zum europäischen Menschen der Aufklärung gerückt und dient oftmals mehr der europäischen Selbstbespiegelung denn der Beschreibung kolonialer Alterität. Bisher konnten Hierarchisierungen zugunsten des Europäers nachgezeichnet werden; bis hierhin haben sich in den Analysen offenbar nur Figuren gezeigt, die sich widerspruchslos als alter ego des philosophe, wie Kristeva es für den Fremden formuliert, generieren lassen.2 Allerdings ist auch deutlich geworden, dass der enzyklopädische Erzähler einigen Aufwand betreibt, um sein Gegenüber in der kolonialen Welt plastisch und antithetisch im Text heraufzubeschwören. Und es ist an einigen Stellen schon die Frage aufgetaucht, wie ungebrochen machtvoll diese eruierenden Textgesten sind. Geht denn der koloniale Andere wirklich vollends in der Beschreibung etwa als Tier auf? Welche Erkenntnisse über die kolonialistischen Alteritätskonstruktionen lassen sich gewinnen, wenn man die Perspektive darauf richtet, dass der koloniale Andere auch aus den Encyclopédie-Artikeln zurückblickt? In dem Kupferstich auf der vorangegangenen Seite (vgl. Abbildung 2)3 lässt die anthropomorphisierte Darstellung eines Affen dessen biologischen Status unsicher werden: Ist das noch ein Tier oder blickt hier (schon) ein Mensch zurück? Für die Beschreibung des kolonialen Anderen obliegt dem enzyklopädischen Erzähler oftmals sogar eher die entgegengesetzte Aufgabe: Sind die kolonialen Anderen Menschen oder sind es eher Tiere? Welches Entwicklungspotenzial gesteht man ihnen zu: Sind sie schon Menschen oder noch Tiere? Und wenn man diese kolonialen Anderen einer Seite zuschlägt, wie wirkt sich das dann auf das eigene Selbstverständnis aus?

2 Vgl. Julia Kristeva: Étrangers à nous-mêmes, Paris: Fayard 1988, S. 196. 3 Zur Abbildung 3: Diese Abbildung zeigt einen Ausschnitt von «Le Jocko» im Planches-Band VI in Denis Diderot/Jean Le Rond d’Alembert: Receuil de planches, sur les sciences, les arts libéraux et les arts méchaniques. Tome I: Édition Numérique Collaborative et CRitique de l’Encyclopédie ou Dictionnaire raisonné des sciences, des arts et des métiers (ENCCRE) (1751–1772). 1768. Bd. VI. Pl. XIX, Fig. 1. http://enccre.academie-sciences.fr/encyclopedie/ (27. 09. 2019). In diesem Bild ist die graphische Repräsentation eines Jocko-Affen zu sehen, der sehr menschenähnlich den Bildbetrachter anblickt und überdies in der Planche auch eine menschenähnliche Haltung annimmt (stehend auf einen Stock gestützt). Durch die Anthropomorphisierung des Affen artikuliert sich hier eine graphische Ambivalenz zwischen Mensch und Tier.

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2 Macht und Ambivalenz in den Narrationen des kolonialen Anderen

Die (anthropologischen, moralischen, kulturellen und ökonomischen) Beschreibungen des kolonialen Anderen sind immer mit Rückkopplungseffekten verbunden und folglich keine schlichten enzyklopädischen Wissensobjekte. Wenn man diese rückwirkende Reziprozität des Kolonialverhältnisses berücksichtigt: Welche diskursiven Textfiguren und welche formal-ästhetischen Textfigurationen ergeben sich dann? Welche Textmomente werden sichtbar, wenn nach den kolonialen Beziehungen und gleichzeitig nach ihren Bedingungen gefragt wird? Zur Beantwortung dieser Fragen wird im Folgenden die kontrapunktische Faktur des Kolonialdiskurses in der Encyclopédie untersucht, die neben den machtvollen Textmomenten gleichzeitig jene des Widerstands herstellt (vgl. dazu meine einführenden methodologischen Überlegungen in der Einleitung). An dieser Stelle sei noch einmal kurz das Verständnis von Widerständigkeit expliziert, die ich im Rahmen der vorliegenden Studie als Ambivalenz fassen möchte. Als widerständige Figuren könnte man auf den ersten Blick jene kolonialen Anderen identifizieren, die sich als Rebellen, als gefährliche und unbezwingbare/unbezähmbare Wilde oder aber als zivilisationskritische, naturnahe und friedliche Edle Wilde der Kolonialmacht widersetzen. Eine kontrapunktische Lesart im Anschluss an und in Fortschreibung von Said geht aber ja noch einen entschiedenen Schritt weiter und zielt weniger auf die offensichtliche konterdiskursive Rebellion bzw. Idealisierung des kolonialen Anderen oder nur dessen manifeste Stimmermächtigung im Text. Widerständigkeit meint hier eine dem machtvollen Kolonialdiskurs innewohnende Dimension, die die Stabilisierung, Legitimierung und die gängigen apologetischen kolonialistischen Argumentationsfiguren unterläuft. Nun stellt sich einerseits die Frage, wie widerständig ein diskursives Moment sein kann, dass von der Kolonialmacht artikuliert wird; und andererseits, ob eine derart binäre Betrachtung kolonialer Diskursverfahren nicht eher in die Falle führt, das koloniale Andere wieder in (machtasymmetrischer) Position zum europäischen philosophe anzunehmen, ihn stets relational-reaktiv zu fassen und damit die verstörenden Potenziale des kolonialen Anderen entweder den Kolonialdiskurs entlarvend zu idealisieren oder aber zu verkennen. Um dieser Dichotomie zu entgehen, wird in der vorliegenden Untersuchung der Begriff der Ambivalenz favorisiert, der die Gleichzeitigkeit von Macht und Ohmacht auf eine Weise akzentuiert, in der diese Relation unweigerlich, reziprok und machtdestabilisierend funktioniert (vgl. Kapitel 1.1). Das Widersprüchliche ist damit kein souveräner, autoritärer Gestus der Aufklärung, sondern dem Diskurs als eine Art Kippfigur immer schon eingeschrieben und überdies jenes Moment, das Aufklärer und koloniale Welt gleichermaßen affiziert und problematisiert. Widersprüche und Brüche sind in dieser Sichtweise keine Abweichungen, Feh-

2.2 Figuren und Figurationen kolonialer Ambivalenz

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ler oder diskursive Überschüsse. Mit Foucault wären dies die dem Diskurs inhärenten Widersprüche, die mittels der Archäologie zu beleuchten, nicht aber aufzulösen oder auf ein grundlegendes Prinzip rückführbar sind («Le discours est le chemin d’une contradiction à l’autre»;4 zum archäologischen Zugang5). Und an dieses als innewohnend angelegte Konzept der Ambivalenz schließen ja auch postkoloniale Annahmen von Widerständigkeit an (vgl. dazu die Erläuterungen aus der Einleitung, Kapitel 1.1). Ein Widerstandsmoment ist also dem machtvollen Kolonialdiskurs inhärent; die Kontrapunktik ist folglich a. kein Resultat intentionaler, kritischer Strategie des Enzyklopädisten, sondern als Kehrseite in den machtvollen Kolonialdiskurs über den kolonialen Anderen eingelassen; b. kein Phänomen rein enzyklopädischer Natur, da sie sich nachgerade der Wissensordnung entzieht und c. auch nicht auf den Status reiner Kolonialphantasien reduzierbar, da die Alteritätskonstruktionen in der Encyclopédie einen dezidiert epistemologischen Grundzug aufweisen und ihnen damit Wissen als Produktions- und Rezeptionsmodus zugrunde liegt. Zum Vorgehen. Die folgenden kontrapunktischen Lektüren stellen eine Relektüre jener Textpassagen dar, die im vorangegangenen Kapitel als machtvolle Konstruktionen der kolonialen Alterität gelesen wurden. Analog zum Kapitel 2.1 werden erstens zunächst auf der inhaltlich-thematischen Ebene die Interaktionsfiguren des ökonomischen, moralischen und kulturellen Wissens und anschließend die Projektionsfiguren im relationalen Spektrum von Barbar, Wildem und Anthropophagen analysiert. Dabei werden auch neue Figuren in den Blick kommen, die sich etwa als Widerstands- oder als Zwischenfiguren auf widerständigem oder widersprüchlichem Terrain befinden. Zweitens werden Ambivalenzen auf der formal-ästhetischen Ebene in den Figurationen des kolonialen Anderen, also in seinen textuellen Konstruktionen, sichtbar. Inwiefern lassen sich Störmomente in den Erzählverfahren und den intertextuellen Bezugnahmen ausmachen? Die forschungsleitenden, Ambivalenz fokussierenden Fragen der folgenden Textanalysen lauten: Welche inhaltlichen wie formalen Ambivalenzen lassen sich in den enzyklopädischen Konstruktionen des kolonialen Anderen ausmachen? – Relationale Ambivalenz: Inwiefern wird die Relation zwischen kolonialem Anderen und europäischem Selbst problematisch? Wann erfährt das relationale, machtasymmetrische Verhältnis eine Umdeutung in ein reziprokes, und damit wechselseitig abhängiges? Wie sehen die Zwischenfiguren aus?

4 Michel Foucault: L’archéologie du savoir, Paris: Gallimard 1969, S. 198. 5 Vgl. ebd., S. 198 ff.

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2 Macht und Ambivalenz in den Narrationen des kolonialen Anderen

Machtvolle Ambivalenz: Wann funktionieren europäische Selbststilisierung oder Selbstdegradierung nicht mehr? Inwiefern lassen sich diskursive Asymmetrien nicht mehr aufrechterhalten, die Hierarchien, Macht- oder gar Gewaltverhältnisse reproduzieren und validieren? Wie sieht die Dezentrierung des europäischen philosophe aus? Epistemische Ambivalenz: Inwiefern wird das Wissen über den kolonialen Anderen problematisch? Wann ist die Unterscheidung zwischen Fakt und Fiktion, zwischen Tatsachenbericht und Phantasie nicht mehr ohne Weiteres zu treffen? Und welche Rolle spielt dann das Thema Alterität in diesem Zusammenhang?

Auf welche Weise wird das Wissen über den kolonialen Anderen formal-ästhetisch konstruiert? Welche diskursiven, und hier insbesondere: literarischen Verfahren werden zur Konstruktion des kolonialen Anderen als Figurationen der Ambivalenz entworfen? – Ambivalente relationale Narrativierung: Wie wird die problematische Relation zwischen kolonialem Anderen und Europäer narratologisch und intertextuell konstruiert? Wer glaubt nur über den Anderen zu erzählen? Wer spricht zu wem, wer hört wem zu? – Ambivalente, um Macht ringende Narrativierung: Auf welche Weise wird das Ringen um die Erzählmacht narratologisch wie intertextuell ausgestaltet? Wer kann überhaupt erzählen? Wer kann, darf oder muss schweigen? Und wer ist in dieser relationalen Kommunikationssituation auf wen angewiesen? – Epistemische Narrativierung: An welchen Punkten wird unklar, ob es sich um Geschichte oder Geschichten handelt? Unter welchen Bedingungen entsteht Wissen und wann ist es nur (Aber-)Glaube? Wie entzieht sich der koloniale Andere als Wissensobjekt und tritt in die Verhandlungen um Wissen und Wahrheit ein? Wann werden die Unterschiede zwischen Fakt und Fiktion unscharf?

2.2.1 Ambivalente Wissensfiguren 2.2.1.1 Beziehungsfiguren. Problematisches Gegenüber Ökonomisches Wissen. Handels- und Warengeschichten mit gefährlichen Leerstellen – Asien: Ambivalenz des Unwissens − Amerika: Leerstelle hinter Warenlisten – Indien: Ambivalenz der Kuriositäten – Navigation und Kartographie: an den europäischen Grenzzonen des Wissens – Kolonialwaren: Luxus und Gefahr – Handeln. Ambivalente Sklavengeschichten – Moralisches Wissen: Befreundete Feinde/Vertraute Gefahren? – Kulturelles Wissen: Zivilisierte Barbaren und Tiermenschen – Intentionale Alienisierung des Eigenen zur Selbstkritik ist noch keine

2.2 Figuren und Figurationen kolonialer Ambivalenz

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kontrapunktische Ambivalenz – Ambivalente Körperlichkeiten: Abscheu und begehren − Herrschen und regieren. Despotismus – Töten und opfern. Menschenopfer – Wohnen und reisen. Nomadismus – Sprechen und erzählen: Sprachvermögen – Erinnern und erzählen. Geschichtsbewusstsein – Wissen und können. Wissenschaft und Technik. Überraschungsmoment – pensée sauvage – Wider die koloniale (Definitions-)Macht: Rebellen und Zwischenfiguren – Zwischenwesen: Ambivalente Figuren als Tiermenschen, Chimären und Phantasievölker – Zwischen Wissen und glauben: Charlatan und Jongleur – Zwischen Mann und Frau: Androgyne und Hermaphroditen – Zwischen schwarz und weiß: Foules, Hottentotten, «Nègres blancs» Kritische Reflexion der kontrapunktischen Ambivalenzlektüre – Zwischen Mensch und Tier: Menschtiere und Tiermenschen – Zwischen Realität und Imagination: Phantasievölker – Fazit: Ökonomische Ambivalenz: Leerstelle – Moralische Ambivalenz: Konträrfaszination – Kulturelle Ambivalenz: Beängstigende Vertrautheit

Ökonomisches Wissen. Handels- und Warengeschichten mit gefährlichen Leerstellen In den bisherigen Analysen zu den Diskursfiguren des ökonomischen Wissens wurde deutlich, dass der koloniale Andere in erster Linie nur dann sichtbar wird, wenn er in die Wissensordnung der kolonialen Ökonomie eintritt: als Warenlieferant oder als Ware. Diese diskursive Ordnung erlaubt es, den kolonialen Anderen als Wissensobjekt warengleich zu dehumanisieren und definitorisch einzuhegen und im Zuge dessen den Europäer ins Zentrum der (Handels-)Macht zu stellen. Gleichwohl ist in den Einträgen auch auffällig, wie schwierig die Beschreibung des Handelspartners ist, denn der koloniale Andere muss im Moment des Eintritts in den ökonomischen Diskurs zwar nicht unbedingt als Akteur, zumindest aber als Aktant 6 beschrieben und damit in eine Relation mit dem Europäer gebracht werden. Im Zuge dessen muss der enzyklopädische Erzähler Relationen, Machthierarchien, Positionen vereindeutigen, wenn nicht gar erfinden. Wenn Handel in Aushandlung umschlägt, wird dies in unterschiedlichen Formen artikuliert: Es gibt Völker, deren Handelssitten anders geartet sind als jene, die dem Europäer vertraut sind; es gibt Völker, die gar nicht handeln und damit als Rebellen und Widerständler gegen die europäische Kolonialmacht agieren; und schließlich gibt es jene, die gar nicht beschrieben werden und als eine Art

6 Die Unterscheidung zwischen Akteur und Aktant knüpft hier einerseits an die Latour’schen Überlegungen zur Akteur-Netzwerk-Theorie an (vgl. Bruno Latour: Eine neue Soziologie für eine neue Gesellschaft. Einführung in die Akteur-Netzwerk-Theorie, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2014) und andererseits an die strukturalistisch-formalistische literaturanalytische Kategorie innerhalb der Aktantenanalyse nach Greimas, vgl. Algirdas Julien Greimas: La structure des actants du récit: Essai d’approche générative, in: Ders. (Hg.): Du Sens. Essais sémiotiques, Paris: Seuil 1970, S. 249–270.

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2 Macht und Ambivalenz in den Narrationen des kolonialen Anderen

Leerstelle im Handelsgefüge und folglich auch oftmals als Figuren des Unwissens artikuliert werden. Im Eintrag Asie7 finden sich zwar Aufzählungen der unterschiedlichen Regionen, die Bevölkerung aber des «vaste continent» seien nur «peu connu». Das Wissen endet hinter den Küstenstrichen und in diesem Überblickseintrag, so dass der enzyklopädische Erzähler sein Unwissen aus-, und über den Artikel hinaus auf die thematischen Einzelartikel verweisen muss: S’il y a quelque chose d’important à observer sur le commerce d’Asie, cela ne concerne que les côtes méridionales & orientales: le lecteur trouvera aux différens articles des noms des lieux, les détails généraux auxquels nous nous sommes bornés sur cet objet.8

In einer Lektüre der machtvollen Narrativierung des Wissens über den kolonialen Anderen ist dies als machtvolle Geste der Wissensgrenzen zu verstehen. In einer kontrapunktischen Lektüre aber, welche die Ambivalenzen innerhalb des kolonialen Wissensdiskurses fokussiert, erscheinen diese Verweise und Grenzziehungen nicht allein als souveräne Gesten und machtvolle Exklusionen kolonialen Wissens und kolonialer Agenz. Denn die Absenz des Handelspartners ist durchaus problematisch. Schon in den (vermeintlich) eindeutig hierarchischen ökonomischen Machtbeziehungen wurde ja deutlich, dass die Kontrolle über den kolonialen Handels‹partner› immer wieder hergestellt werden muss, weil der Kolonisator nachgerade auf ihn angewiesen ist, will er das Kolonialprojekt als ökonomisches System und nicht als ein kriegerisch-ausbeuterisches konstruieren. Diese Dialektik in den ökonomischen Beziehungen deutet sich auch schon im basalen Eintrag Commerce9 an; im Eintrag Colonie10 wird die Problematik der Kontrolle über den kolonialen Anderen expliziert. Diese Kontrolle manifestiert sich etwa sehr technisch-bürokratisch an der Akzeptanz von Steuerabgaben. Im Eintrag erscheint es problematisch, dass sich der koloniale Andere dem europäischen Kolonialhandel mit seinen Säulen des Steuer- und Abgabewesens sogar zu entziehen vermag. Der koloniale Andere ist insofern sehr schwierig in das Kolonialsystem einzubinden, als seine Lebensweise nicht europäischen gesellschaftlich-staatlich-administrativen Gepflogenheiten ähnelt. Sein Nomadentum, sein Aufenthaltsort jenseits zentral(isierter) Städte (im Gegensatz zur europäischen urbanen Sesshaftigkeit) oder seine Abneigung gegen alles, was überflüssig ist, machen aus dem kolonialen

7 Vgl. N. N.: Asie, in: Denis Diderot/ Jean Le Rond d’Alembert (Hg.): Encyclopédie (ENCCRE). Bd. 1, S. 755. 8 Ebd. 9 Vgl. François Véron de Fortbonnais: Commerce, S. 690–699. 10 Vgl. François Véron de Fortbonnais: Colonie, S. 648–651.

2.2 Figuren und Figurationen kolonialer Ambivalenz

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Anderen einen Handelspartner, der sich nicht festmachen lässt: «La plûpart des peuples avec lesquels ils trafiquoient, ou ne se rassembloient point dans des villes, ou uniquement occupés de leurs besoins, ne mettoient aucune valeur au superflu.»11 Hier kündigt sich ein (klassisch hegelianisches) dialektisches Moment an, das die Abhängigkeit des Kolonialherren aufscheinen lässt. Und das betrifft nicht nur den Handel in der kolonialen Welt vor Ort, sondern auch den Handel und die wirtschaftliche Situation der französischen Gesellschaft, wenn sich der koloniale Andere weder verlässlich lokalisieren, noch in den (wenn auch oftmals kritisierten) Luxus-Diskurs einbinden lässt. Und folglich ist der koloniale Andere als ökonomische Figur auch nicht mehr nur in der exotischen Ferne, sondern direkt in Frankreich von Relevanz. Hier sei an die Kolonialwirtschaftsapologetik im Eintrag Luxe erinnert, der skizziert, dass der Kolonialhandel nicht nur Reichtum, Luxus und (warenförmige) Abwechslung nach Frankreich bringt, sondern dass er auch die französische Gesellschaft aus der Armut zu befreien erlaubt. Führt der Artikel etwa aus, dass die Tabakwirtschaft etwa 35.000 Franzosen aus ihrem Elend werde befreien können,12 diese Dependenz unterstreicht auch Benot,13 so kann dies in einer kontrapunktischen Lektüre nicht nur als ein Akt der Ausbeutung nordamerikanischer Menschen und Ländereien gelesen werden. Hier wird in der globalen Beziehung zwischen Frankreich und seinen nordamerikanischen Kolonien kein wirtschaftlicher Transfer von Luxusgütern thematisiert, sondern eine das Kolonialsystem legitimierende Argumentation aufgebaut, die die Kolonialwirtschaft geradzu notwendig macht, um Franzosen aus der «misère» zu befreien. Damit aber ist auch das eigene Leid in Frankreich ebenso angesprochen wie eine gewisse Abhängigkeit von den wirtschaftlichen Erfolgen in Übersee. Und so rückt der koloniale Andere als Wissensfigur im Kolonialhandel an eine ambivalente Stelle, an der er ausgebeuteter Warenlieferant und notwendiger Handelspartner ist und auf die der (in einer kolonialistischen Argumentation agierende) Europäer für den eigenen Wohlstand nahezu angewiesen ist. Dieser eigenwillige Händler aber ist keine souveräne Figur, die per Handschlag mit dem Europäer Geschäfte besiegelt. Wie im vorangegangenen Kapitel bereits ausgeführt, eliminiert der Kolonialdiskurs den kolonialen Anderen als Handelspartner nahezu, so dass hier eine Leerstelle im ökonomischen Gefüge entsteht. Diese Leerstelle artikuliert sich aber nicht nur in der Verweigerung der Sesshaftigkeit oder der Steuerabgaben. Ganz anders ist ihre Anlage im Falle der

11 Ebd. 12 Vgl. [Jean-François de Saint Lambert]: Luxe, in: Diderot, Denis/Jean Le Rond d’Alembert (Hg.): Encyclopédie (ENCCRE). Bd. 9, S. 763–771. 13 Vgl. Yves Benot: Les Lumières, l’esclavage, la colonisation, S. 166.

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2 Macht und Ambivalenz in den Narrationen des kolonialen Anderen

Sauvages in Nordamerika, wie etwa im Eintrag Amérique, in dem die Leerstelle ja unmittelbar mit der Eroberungs-und Entdeckungsgeschichte durch Kolumbus und dem geographischen Wissen der Europäer über diese Gegend der Welt verknüpft ist.14 Hier wird nicht explizites Unwissen über den sich entziehenden kolonialen Anderen artikuliert, sondern ein Sachwissen vor ein (kulturelles) Menschenwissen platziert. In den Einträgen zum nordamerikanischen (Kultur-)Raum wird eine massive Akkumulation von Handelswaren artikuliert, die als Listenwissen auf einen ersten Blick sehr informativ, kenntnisreich und repräsentativ erscheint. In einer kontrapunktischen Lektüre aber zeigt diese Eindimensionalität die Schwierigkeit für den enzyklopädischen Erzähler, Aussagen jenseits der Warenströme zu machen. Als ökonomische Diskursfigur taucht der koloniale Andere quasi gar nicht auf, während gleichzeitig Waren und Warenwissen massiert Europa erreicht. Dies zeigt die problematische Wissenskonstruktion des amerikanischen Kontinents: Auf der Basis von Handelsströmen ist die Narrativierung von Wissen eine reine Sachaddition. Gleichwohl sind die europäischen Handelspartner sehr wohl präsent als Engländer, Portugiesen und Holländer (allerdings auch eher summarisch und nicht in ihrer Herrschaft über spezifische Landstriche), die dann aber nicht über ansässige Völker, sondern über Landstriche herrschen und zahllose Waren und Güter aus dem Land nach Europa exportieren. Ergo: Diese Akteursleerstellen hinter Warenlisten und hinter Landstrichen lassen in einer kontrapunktischen Lektüre nur umso deutlicher hervortreten, dass sich der koloniale Andere auch hier als Gegenüber nicht beschreiben lässt. Dies ist nun kein widerständiges Versteck des kolonialen Anderen, aus dem heraus er sich dem europäischen Kolonialherren als identifikatorische Kontrastfolie verweigert. Aber durch die Massierung der Waren und die unsystematische und nahezu ermüdende Auflistung der Handelsgüter tritt umso deutlicher hervor, dass diese Handelsbeziehungen auf reiner Ausbeutung beruhen.15 Die Mög-

14 Vgl. Denis Diderot: Amérique, ou le Nouveau-monde, ou les Indes occidentales, S. 356. 15 Diese Kolonialkritik richtet sich in dieser Explizitheit vornehmlich an die Zustände in Südamerika und damit an die spanische bzw. portugiesische Kolonialherrschaft. Damit gerät Frankreich einerseits nicht so sehr ins Visier, weil es in Südamerika vergleichsweise wenig kolonialisierend aktiv war. Andererseits ist aber auch eine generelle Kritik am Kolonialsystem möglich, die dann Frankreich doch wieder tangiert. Dieses Verfahren deckt sich mit den kolonialkritischen Passagen von Diderot in Raynals Histoire des deux Indes (vgl. Abbé G. Th. Raynal, (Hg.): Histoire philosophique & politique des deux Indes. Avertissement et choix des textes par Yves Bénot, Paris: La Découverte [1781] 2001); als einschlägige Forschungsarbeit vgl. HansJürgen Lüsebrink/Manfred Tietz: Lectures de Raynal. L’‹Histoire des deux Indes› en Europe et en Amérique au XVIIIe siècle ; actes du Colloque de Wolfenbüttel, Oxford: Voltaire Foundation 1991.

2.2 Figuren und Figurationen kolonialer Ambivalenz

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lichkeit eines romantisierenden Bildes von Warentausch wird im Keim erstickt, eine kolonialkritische Haltung klingt innerhalb des machtvollen Diskurses an. Die kontrapunktische Lektüre aber würde über diese intentionale, wenn auch implizite Strategie der kritischen Auseinandersetzung mit dem Kolonialsystem hinausgehen. In dieser Perspektive sind die Leerstellen Störmomente und selbstbezügliches, kritisches Verfahren zugleich. Die Leerstelle als ambivalentes Moment stellt aber gleichzeitig die machtvollen Verfahren von Ausbeutung, Wissensüberschreibungen (wo zugegebenermaßen kein Wissen ist) und zur Selbstbespiegelung auch in Form von Selbstkritik aus wie die nahezu verzweifelten Versuche des enzyklopädischen Erzählers, aus inexistenten Handelspartnern Warenlisten, Marktplätze oder Schiffsladungen zu evozieren, aus inexistenten Informationen die souveräne Geste der Reflexion über die blinden Flecke auf der Wissenslandkarte zu inszenieren und schließlich aus dem fehlenden wildbarbarischen Gegenüber ein legitimiertes, europäisch-aufklärerisches Selbstbild zu generieren. Selbst in jenen Regionen der kolonialen Welt, mit denen historisch weiter zurückreichende Handelsbeziehungen bestehen, zeigt sich eine ambivalente Positionierung des kolonialen Anderen. Mit den Indes orientales etwa, so ist im vorangegangenen Kapitel deutlich geworden, besteht eine lange Geschichte des Kulturkontakts mit Europa, die Wissenstransfer, aber auch den Handel von Luxusgütern wie Gewürzen, Stoffen etc. einschließt. Im ökonomischen Diskurs über den kolonialen Anderen aber wird der koloniale Andere – sei es als Warenhändler oder als Gelehrter – weitestgehend ausgespart. Im Eintrag zum indischen Kontinent etwa verweigert sich der enzyklopädische Erzähler ganz explizit den Aussagen über den Menschen. Er begründet dies mit der «konfusen» Informationslage in den Quellen, deren Evaluation (vgl. Kapitel 2.1.1) dann ja deutlich mehr Raum einnimmt als die Vermittlung von Informationen über Land und Leute. Die Beziehungsgeschichte wird hier sehr markant an eine Handelsgeschichte geknüpft, in der der koloniale andere als Leerstelle erscheint, allen anderen aber Gold und Reichtum einbrachte: «Tous les peuples qui ont négocié aux Indes, y ont toûjours apporté de l’or, & en ont rapporté des marchandises.»16 Gleichwohl kommen aus Indien nicht nur das Nützliche und Angenehme, sondern auch das Kuriose nach Europa: «Tout ce que la nature produit d’utile, de rare, de curieux, d’agréable, fut porté par eux en Europe»17. Insbesondere die Warenkategorie des Kuriosen legt eine Spur für die kontrapunktische Lektüre dieser Handelsbeziehung, schwingt doch neben der exotischen Faszination eine Art enzyklopädische Ratlosigkeit mit. Jene

16 Louis de Jaucourt: Inde, L’, S. 17 Ebd.

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2 Macht und Ambivalenz in den Narrationen des kolonialen Anderen

Waren lassen sich nämlich gerade nicht einordnen, weil sie weder in ihrer Funktionsweise noch in ihrer Wirkung (angenehm, nützlich oder als seltene Ware kostbar) eingeschätzt werden können. Das «curieux» birgt zwar nicht explizit Affekte von Gefahr oder Angst, aber die fehlenden Akteure und die Konturierung der Waren als kurios deuten doch die problematische Einordnung der kolonialen Alterität an. Nun mag es nicht überraschend sein, dass in Einträgen, die vornehmlich geographisches und ökonomisches Wissen über die koloniale Welt zusammentragen, keine detaillierten oder differenzierten Portraits kolonialer Menschen Platz gefunden haben. Bemerkenswert ist dennoch, dass in einer ökonomischen Perspektivierung jener Länder der Handelspartner im Handelsgefüge fehlt. Im Artikel Commerce wird der koloniale Handel als reziprok definiert und folglich grundlegend in eine Interaktions- und ggfs. auch Kommunikationssituation eingebunden.18 Die auffälligen Listungen und Leerstellen weisen damit auf ein für die enzyklopädische Darstellung problematisches Dilemma hin, diese Handelsbeziehung nur einseitig beschreiben zu können und/oder zu wollen. Folgt man dann weiter der akteurialen Leerstelle als Ambivalenzmoment in den Konstruktionen des kolonialen Anderen, so ist in der Relektüre der Artikel auffällig, dass selbst in den expliziten Einträgen zu den Völkern, Stämmen oder Gemeinschaften der kolonialen Welt deren Portraits erstaunlich unkonkret ausfallen. Als ökonomische Diskursfigur werden auch hier die kolonialen Anderen als Objekte bzw. Akteure entweder vage gehalten oder aber klischiert. Zu den stereotypen Darstellungen des kolonialen Anderen als Ausdruck der Ambivalenz im Kolonialdiskurs werde ich im Kapitel zum kolonialen Anderen als Projektionsfigur zurückkommen (vgl. 2.2.1.2). Unmittelbar verbunden mit den Handelsbeziehungen ist das gesamte Wissensfeld um Navigation und Kartographie. Dieses Wissen erlaubt es den Europäern, nicht nur die Welt zu entdecken und abzustecken, sondern auch Handelswege zu eruieren, Handelsrouten zu etablieren und die unmittelbare ökonomische Verbindung zwischen Europa und den kolonisierten Gebieten herzustellen und zu stabilisieren. Was aber, wenn das Navigationswissen gar nicht so sehr in europäischer Hand liegt? Wenn die Entdeckungsgeschichte von Kontinenten nicht mit europäischer Überlegenheit erzählt werden kann? Dann können zwar unterschiedliche Theorien und Hypothesen dazu erörtert werden, wer als Erster über die Ziellinie des Entdeckungswettlaufes auf dem Globus fuhr. Auch die Situierung der Ursprünge der Navigation erschwert die europäische Inanspruchnahme im

18 Vgl. François Véron de Fortbonnais: Commerce, S. 690–699.

2.2 Figuren und Figurationen kolonialer Ambivalenz

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Eintrag Navigation, denn sie liegen in den Randbereichen Europas und in den Grenzzonen des rationalen Wissens. Die Navigationskunst entspringe entweder dem Reich der Mythen und Phantasien («Les Poëtes attribuent à Neptune l’invention de l’art de naviguer ; d’autres l’attribuent à Bacchus, d’autres à Hercule, d’autres à Jason, d’autres à Janus, qu’on dit avoir eu le premier un vaisseau.»19), oder der Geschichte der griechischen Ägineten, Phönizier, Tyrier oder Briten; oder aber die Navigationskunst geht auf Gott zurück, der Noah beim Bau der Arche instruierte («L’Ecriture attribue l’origine d’une si utile invention à Dieu même, qui en donna le premier modele dans l’arche qu’il fit bâtir par Noé.»20). Welche Konsequenzen ergeben sich daraus für den Überlegenheitsanspruch des Europäers? Dieser historische wie zivilisatorische Superioritätsanspruch wird dann empfindlich gestört und in Frage gestellt. Dabei geht es auch hier nicht um jene Textpassagen, in denen diese Eroberungsmanie der Europäer offen oder implizit kritisiert wird. Die kontrapunktische Lektüre deutet die Neigung des enzyklopädischen Diskurses, Navigationskunst und Kartographie21 unmittelbar mit kompetitiven Elementen zu verknüpfen, als Obsession. Es ist in dieser Perspektive keine rhetorische Finte, die Überlegenheit des Europäers an die Pionierleistungen in den Entdeckungsfahrten zu knüpfen. Der Europäer muss sich beweisen, als erster in die Welt hinausgefahren und die Welt in den zivilisatorischen Fortschritt geholt zu haben, um die eigene Überlegenheit und das Kolonialprojekt insgesamt immer wieder zu legitimieren. Handeln. Ambivalente Warengeschichten Ingwer, Zucker, Kaffee, Tabak: All diese Kolonialwaren werden in der Encyclopédie angeführt, indem sowohl eine akteurielle Leerstelle erzeugt wird, als auch eine affektive Aufladung dieser vermeintlich objekten Handelswaren stattfindet. Dabei reicht das Spektrum der Wahrnehmung jener Kolonialwaren, die zum Teil schon lange innerhalb Europas auf den europäischen Märkten zu finden sind, von Be-wunder-ung über Verunsicherung bis Bedrohung. Diese Waren sind zunächst, wie bereits weiter oben ausgeführt wurde, im ökonomischen Kolonialdiskurs als Luxusgüter markiert oder aber Motoren für die wirtschaftliche Versorgung der französischen Gesellschaft.

19 Edmé-François Mallet: Navigation, S. 54. 20 Ebd. 21 Im Eintrag Navigation wird der immanente Zusammenhang zwischen Navigationskunst und Kartographie explizit ausgewiesen. Während die einfache Navigationskunst entlang und auf Sichtweite der Küsten noch von jedermann zu bewerkstelligen sei, gelänge die «navigation propre» nur mit Kenntnissen von Karten, Längengraden oder Sternennavigationsgeräten (Ebd., Hervorhebung im Original).

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2 Macht und Ambivalenz in den Narrationen des kolonialen Anderen

Das ambivalente Wirkungspotential dieser Waren entfaltet sich exemplarisch in ihrem Einsatz als Remedium. Denn obwohl vielen Waren wie Kaffee, Tee oder Ingwer der Nimbus des Exotischen in der Zeit der Encyclopédie mittlerweile nicht mehr anhaftet und diese als alltäglich-heimische Ware wahrgenommen werden, taucht ihre Alteritätsdimension doch immer wieder auf. So bewundert und warnt de Jaucourt gleichzeitig im Eintrag zum Thé vor dessen angenehmen Geschmack, der aber nahezu süchtig mache («le meilleur, pour la conservation de la santé, est d’en user en qualité de remede, & non de boisson agréable, parce qu’il est ensuite très-difficile de s’en priver») und markiert überdies ihren natürlichen Fremdheitscharakter als «feuille étrangere».22 Mit den Waren reist koloniales Wissen: verdeckt kolonial-ausbeuterisches und offensichtlicher medizinisches. Die akteurielle Leerstelle, die sich in den Einträgen über die Kolonialwaren ausmachen lässt, deutet auf die Verdrängung der Herstellung jener Pflanzen und Waren hin. Kontrapunktisch könnte die Ignoranz etwa der Plantagen- oder der Sklavereiwirtschaft zur Gewinnung der Kolonialwaren umgedeutet werden in eine bewusste Verdrängung. Das medizinische Wissen wiederum, das mit den Pflanzen aus der kolonialen Welt nach Europa importiert wird, beinhaltet das Wissen um die Wirkung, Krankheiten zu heilen. Hier obliegt den enzyklopädischen Artikel die Aufgabe, diese Wirkungen nicht als Wunder, sondern als rational erklärbare (und womöglich wissenschaftlich belegbare) Vorgänge zu erläutern. Diese heilende Wirkung aber hat eine gefährliche und bedrohliche toxische Rückseite: Die kolonialen Nahrungsmittel können auch gefährlich sein und der Gesundheit nachgerade schaden, wie etwa in den Einträgen über Ingwer oder Chinarinde zu lesen ist. Damit aber kommt die bedrohliche Seite der Kolonialwaren ins Spiel: Hier ist es weniger das mangelnde Wissen um die Anwendung der Pflanzen, das die gesundheitsgefährdende Wirkung begründet, sondern oftmals die Pflanze selbst. Die Ambivalenz jener Kolonialwaren liegt damit in ihrer heilenden und additiven bzw. toxischen Wirkung und in ihrer Unkontrollierbarkeit. Ein bedrohliches Alteritätsmoment wohnt damit diesen Waren immer noch inne. Diese Kolonialwaren tragen das wilde, mythische oder grausame Andere einerseits und die verschwiegenen Grauen der Plantagen- und Kolonialwirtschaft andererseits in sich. Exemplarisch sei diesbezüglich auf den Eintrag Coton hingewiesen, in dem die Plantagenwirtschaft als Produktionsstätte vollkommen inexistent ist.23 Der Artikel dreht sich primär um die Verfahren der Herstellung und ist in weiten Teilen im imperativischen Duktus einer Handlungsanweisung oder Bedienungsanleitung geschrieben. Eine kontrapunktische

22 Louis de Jaucourt: Thé, S. 226. 23 Denis Diderot: Coton, S. 306–315.

2.2 Figuren und Figurationen kolonialer Ambivalenz

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Lektüre würde dies als (verzweifelten) Versuch lesen, Kolonialwaren und ihre Herstellung rational, technisch und kontrollierbar zu konturieren. Diese aber nahezu hermetische Abdichtung, wie Said es formuliert (vgl. dazu Kapitel 1.2), gegenüber den lokalen Bedingungen und vor allem den menschlichen Ausbeutungen, die handwerkliche Konzentration auf die verschiedenen Arbeitsschritte und die nahezu minutiöse Beschreibung der jeweiligen Handgriffe und Verfahren könnten als Ausweichbewegung gegenüber dem gedeutet werden, was an Spuren von Sklavenhänden auf der Wolle zu sehen wäre. Handeln. Ambivalente Sklavengeschichten In den Encyclopédie-Einträgen zum Sklavenhandel stellt sich die Lage anders dar: Hier sind die Handelserfahrungen und die Produktionsbedingungen in den Kolonien sehr präsent. Allerdings sind die Sklaven selbstredend keine Handelspartner, sondern Handelsware oder ‹Herstellungsmaterial› selbst. Die Ambivalenz innerhalb des Sklavereidiskurses ist nicht auf einen ersten Blick auszumachen, sind doch die rassistischen, diskriminierenden, ökonomischen und moralischen Diskurse über den Sklaven – auch in ihrer sklavereikritischen Form – dominant. Vartija diagnostiziert sogar eine neue rassistische Anthropologie, die in der Encyclopédie ihren Ausgang nimmt: As compared with Chambers’ Cyclopaedia and the Supplement, we see the beginning of a new ‘science of racial classification’ in Diderot’s Encyclopédie, which the encyclopaedists and other philosophes believed could explain human development in all its variation. A diverse number of contributors, from the atheist Diderot in ‘Humain esepce’ [sic!] to the Protestant clergyman Formey in the entry ‘Negre,’ utilised the work of eighteenth-century naturalists and anatomists to develop a racial classificatory framework that approaches the ‘modern’ understanding of the concept.24

Gleichwohl scheinen einige Indizien dafür zu sprechen, dass die Reifizierung der Sklaven nicht ganz so eindeutig funktioniert, wie es zunächst den Anschein hat. Bereits das diskursiv-argumentative Oszillieren zwischen ökonomischen und juristischen Diskursen, zwischen Fragen des Naturrechts der menschlichen Freiheit und der Positionierung des Sklaven zwischen Ding und Mensch zeigt an, wie schwierig die kritische Beurteilung der Esclavage in der Encyclopédie ausfällt. In der Encyclopédie finden sich sowohl apologetische wie abolitionistische oder zumindest sklaverei-kritische Stimmen. Aufgrund dieser Heterogenität der Positionierungen insbesondere zur Sklavereithematik wird bis heute in der Aufklärungs- und Encyclopédie-Forschung

24 Devin Vartija: Racial Hierarchy and Natural Equality: Contradictions and Ambiguities in Eighteenth-Century Encyclopaedias, S. 61.

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darüber gestritten, welcher Stellenwert der Encyclopédie im Kolonialismus- und Sklavereidiskurs zuzuschreiben ist. Denn an der in der Einleitung ausgeführten Heterogenität der Positionen zur Sklaverei scheiden sich die Forschungsmeinungen, die in der Encyclopédie mal eine dezidiert sklaverei- und kolonialismuskritische Stimme artikuliert sehen, so exemplarisch jüngst Leca-Tsiomis, die die Sklavereikritik gleich zu Beginn ihrer Ausführungen zur enzyklopädischen «Dénonciation des barbaries» anführt, während andere, wie Dobie, die ausweichenden oder pro-kolonialistischen Artikel anklagen.25 Mir geht es bei den folgenden kontrapunktischen Ambivalenzlektüren nicht um die Heterogenität oder die Inkonsistenz innerhalb der Encyclopédie-Artikel gegenüber kolonialen Thematiken in der Gesamtschau der Encyclopédie-Artikel. Diese unterschiedlichen Positionen lassen sich m. E. recht problemlos auf die Heterogenität der Autorschaft, auf den Kolonialdiskurs mit eben diesem argumentativen Spektrum oder auf die Publikationsbedingungen (allen voran die drohende Zensur) zurückführen. Die Ambivalenzen aber, die exemplarisch und paradigmatisch in den Artikeln Esclave und Esclavage zum Ausdruck kommen, liegen innerhalb des enzyklopädischen Narrativs und hier insbesondere in der ambivalenten Positionierung des Sklaven selbst begründet. Weder ökonomischer noch juristisch-moralphilosophischer Diskurs vermögen den kolonialen Anderen in der Figur des Sklaven eindeutig zu verorten. Während im Eintrag Esclave bei den römischen Sklaven der Status als Hab und Gut noch eindeutig ist: «Les esclaves n’étoient point mis au rang des personnes, on ne les regardoit que comme des biens»,26 kreist der Eintrag Esclave um Fragen der Freiheit, des Besitzes von Menschen (im Gegensatz zu Sachen) und der ‹Dinglichkeit› des Sklaven. Zugespitzt formuliert: Für einen Menschen ist der Sklave innerhalb der Sklavereiwirtschaft zu sehr Produktionsmittel, für eine Erntemaschine wiederum zu sehr mit menschlichem Willen (der sich in kriminellen Handlungen oder Fluchtversuchen, in Eheschließungen oder Geburten zeigt) ausgestattet. Dieser Ambivalenz versucht der ökonomische Diskurs Herr zu werden, indem er den Sklaven innerhalb der Kolonialwirtschaft als Ware oder Dienstleister deklariert und hierarchisch degradiert. Doch schon die juristisch-motivierten Ausführungen zum Umgang und zum Strafmaß mit widerständigen oder illegalen Handlungen zeigen auch die Unberechenbarkeit des Sklaven an. Folglich sind in der kontrapunktischen Lektüre nicht die kolonialoder sklavereikritischen Passagen interessant und in ihrer Widerständigkeit ef-

25 Vgl. Marie Leca-Tsiomis: L’Encyclopédie entre héritage et innovation, sowie Madeleine Dobie: Trading places. 26 Antoine-Gaspard Boucher d’Argis: Esclave, in: Denis Diderot/Jean Le Rond d’Alembert, (Hg.): Encyclopédie (ENCCRE). Bd. 5, S. 939–943, hier S. 940.

2.2 Figuren und Figurationen kolonialer Ambivalenz

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fektiv, sondern jene Passagen, in denen zwischen Reifizierung, Kodifizierung und Humanisierung geschwankt wird. Und nicht zuletzt steckt eine gewisse Semantik des Umwegs oder Auswegs auch darin, dass die Behandlung des Themas Sklaverei, wie etwa im Eintrag Esclavage,27 stärker Bezug nimmt auf die Sklaverei in der Antike als auf die zeitgenössischen Zustände in den europäischen Kolonien.28 Ähnliches gilt zunächst für den Eintrag Population, der sich ausgehend von der Sklaverei in der Antike, einer dezidierten Kritik an der Kolonialwirtschaft nicht enthält (vgl. meine Ausführungen dazu in Kapitel 2.1.1.1). Gleichwohl findet sich hier eine kontrapunktische Figur, die auch Said für die Rolle von Kunst und insbesondere des Romans formuliert hatte. Im Eintrag Population werden wirtschaftlicher Wohlstand und Kunst und Wissenschaft nämlich auf eine interessante Art korreliert: Le commerce produit les richesses, & les richesses produisent le luxe: les Arts & les Sciences naissent des richesses & du luxe. On en a conclu que sans luxe il n’y avoit ni commerce, ni richesses, ni arts, ni sciences ; mais en raisonnant ainsi, on a fait une pétition de principe ; on ne s’est pas apperçu que de ce qui ne doit être que l’effet du commerce, on en faisoit la cause ; & qu’alors on sembloit dire que le seul qui pût produire les Arts & les Sciences, étoit celui de luxe ; ce qui n’est pas juste.29

Wie bereits weiter oben ausgeführt, verkehrt der Eintrag die gängige Perspektive und Apologetik für die koloniale Warenwirtschaft in der Verklammerung mit dem Luxus-Diskurs zunächst ins Gegenteil: Dem Artikel zufolge sei der Luxus nicht Grund für den Handel, sondern allererst sein Effekt. In einem zweiten Schritt werden nun Kunst und Wissenschaft (und in Andeutung damit womöglich sogar auch das aufklärerische Projekt der Encyclopédie selbst) in diesen Kausalzusammenhang eingebettet: Kunst und Wissenschaft seien nicht Produkte des Luxus. Neben der Deutung, die der Artikel vorlegt, nämlich der Hinweis auf Griechenland, das ohne eine derartige luxusorientierte Warenwirtschaft herausragende Wissenschaften und Künsten entwickelt habe, ließe sich die Argumentation auch dahinführen, dass Kunst und Wissenschaft nicht Folge der Kolonialwirtschaft, sondern eher deren Grundlagen bilden. In dieser Perspektive entstehen Kunst und Wissenschaft nicht abgesehen von einem Luxus-Diskurs, sondern nachgerade auf ihn ausgerichtet. Ein Luxus-Diskurs, der weiterhin in wirtschaftliche Zusammenhänge eingebettet ist, die wiederum koloniale Fundierung haben. Verknüpft man diese Argumentationsfigur mit den kontrapunk-

27 Vgl. Louis de Jaucourt: Esclavage, in: Denis Diderot/Jean Le Rond d’Alembert (Hg.): Encyclopédie (ENCCRE). Bd. 5, S. 934–939. 28 Vgl. Madeleine Dobie: Trading places, S. 300. 29 Etienne Noel d’Amilaville: Population, S. 101.

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tischen und postkolonialen Überlegungen Saids, so stellt der Encyclopédie-Artikel hier Kunst und Wissenschaft auf den Prüfstand und deren apologetische Rolle für den Kolonialismus. So, wie bei Said der Roman den Kolonialismus nicht als sein Folgeprodukt nur spiegelt, sondern dessen tropisches oder imaginäres Reservoir ist und befördert (vgl. Kapitel 1.2), so müssen sich auch Kunst und Wissenschaft in der Aufklärung über ihre Indienstnahme für den Kolonialismus befragen lassen. Und auch wenn dies eine intendierte (wenn auch nicht explizierte Kritik) an Kunst und Wissenschaft in der Aufklärung ist, so ist die kausale Neuperspektivierung für den Kolonialidiskurs in der Aufklärung doch herausfordernd und überraschend. Denn hier werden Kunst und Wissenschaft nicht als kritische Instrumente entworfen, sondern danach befragt, ob sie eher Gehilfen eines kolonialistischen Systems seien. Zwischenfazit. Zusammenfassend lässt sich das Handelswissen als ein unsicheres Wissen einstufen, das von den Erfahrungen und dem Wissen über den kolonialen Anderen abhängt. Gibt es keine Handelsbeziehungen, so verkommt das geographische oder botanische Wissen zu leblosen Listen, die zwar Waren akkumulieren, aber keine Erkenntnisse produzieren. In dieser Perspektive aber verkehren sich die Machtverhältnisse: Zwar ist der europäische philosophe mit seinen Denkoperationen Ausgangs- und Mittelpunkt der enzyklopädischen Narrativierung. In der Darstellung des Wissens über den kolonialen Anderen aber ist er abhängig von den Interaktionen, die Waren und Wissen einbringen sollen. In dieser Perspektive ist Wissen kein europäisches Gepäckstück mehr, das als Handelsware nach Europa verbracht wird und dort – nun auf dem Markt der Encyclopédie – Umschlag erhält. Diese Abhängigkeit, die in der wechselseitigen Anlage des (bereichernden) Handels und der (identifizierenden) Alteritätsauffassung bereits angelegt ist, ist der Angriffspunkt der kontrapunktischen Analysen, da in ihr die Dichotomien nicht ins Gegenteil umschlagen, sondern Ambivalenzen sichtbar machen können. In der kontrapunktischen Lektüre wird nun deutlich, dass jene enzyklopädischen Darstellungen ambivalent werden, die den Europäer als machtvollen Händler, als Schöpfer von Handelsinfrastrukturen und klugen Lenker der Handelsbeziehungen konstruieren und ihn bei der Inventur der Kolonialwaren zeigen, die wiederum die vernünftige Beherrschung des kolonialen Anderen als Ware und Handelsobjekt demonstriert. Die Wirkung dieser ökonomischen Diskursfigur des kolonialen Anderen ist nicht mehr die eines rein selbstbezüglichen europäischen Imaginariums. Vielmehr zeigt sich die ökonomische Abhängigkeit vom Anderen als Handelspartner und Wissenslieferant.

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Moralisches Wissen: Befreundete Feinde Während der koloniale Andere im ökonomischen Diskurs eine störende Leerstelle einnimmt, an den Kolonialwaren die Unterdrückungsgeschichte der Plantagen klebt oder bei Tee oder Kaffee der Genuss in Gefährdung umschlägt, so zeigt sich die ambivalente Widerständigkeit der Alteritätskonstruktionen inneralb moralischer Diskurse im Gefahrenpotenzial und in der Unkontrollierbarkeit für den Europäer. Geht es um die Interaktion des kolonialen Anderen mit seinem Nachbarn, so versucht der enzyklopädische Erzähler dessen moralische Handlungen erklärbar, plausibel, selbst das Inhumane und Triebhafte beschreibbar und damit auch kalkulierbar zu machen. Das Verständnis der moralischen Handlungsmaxime dient sowohl der Einschätzung der Zivilisiertheit des kolonialen Anderen, wenn nicht überhaupt der Beurteilung, ob es sich um einen Menschen oder ein Tier handelt, als auch der Einschätzung der Gefahr, die vom kolonialen Anderen auch im Kontakt mit dem Europäer ausgehen könnte. In der Lektüre der machtvollen Diskursivierungen haben sich im vorangegangenen Kapitel Kriegslust und Gastfreundschaft als konträre Modi des alteritären Kontakts zu den kolonialen Nachbarn in den Artikeln dargestellt. Ob nun aus unmoralischer Gesinnung, aus religiösen Gründen oder aus Existenzsicherung: Als Krieger überfallen etwa die Jagas oder die Galles angrenzende Völker und lassen diese buchstäblich ausbluten. Diese unmoralischen, weil kriegerischen und anthropophagischen Attribuierungen des kolonialen Anderen erscheinen als klare Kontrastfolie zum Europäer. In ihnen schwingt allerdings auch die Gefahr mit, die von den kolonialen Anderen ausgeht. Explizit wird diese Gefahr für die Nachbarvölker der Jagas formuliert: «non seulement ils brûlent & détruisent tous les pays par où ils passent, mais encore ils attaquent leurs voisins, pour faire sur eux des prisonniers dont ils mangent la chair, & dont ils boivent le sang».30 Das Kannibalische aber wirkt nicht nur für die konkreten Nachbarn, sondern auch als stereotype Alteritätsfigur furchteinflößend (vgl. dazu die Analysen zum Anthropophagen in 2.1.1.2 und 2.2.1.2). Sehr anschaulich wird die Ambivalenz von Gefahr und Nähe zum Europäer in der feindseligen Beschreibung der Patagonier. Diese sind nämlich einerseits vergleichbar mit «nos houssards d’Europe» und andererseits Todfeinde der Spanier: Les Patagons [...] sont très-belliqueux, & haïssent mortellement les Espagnols, & leur font une guerre continuelle ; ils sont comme les autres de haute taille, & d’un teint basané [...]

30 [Paul-Henri Thiry d’Holbach]: Jagas, Giagas ou Giagues, S. 433.

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Ils se dispersent en différens partis dans ces vastes plaines [...] montent à cheval comme à-peu-près nos houssards d’Europe.31

Die Ambivalenz der kriegslustigen kolonialen Anderen ist dabei gleich auf zwei Ebenen anzusiedeln. Zum einen scheinen die fernen Patagonier durchaus mit den bekannten Husaren vergleichbar zu sein. Im Zuge dieser Analogisierung aber werden sie ihrer Alterität beraubt und gleichzeitig die Husaren alteritärkolonial aufgeladen. Zum anderen aber ist schon die Analogie-Bildung ambivalent. Das «à-peu-près» zeigt eine Vagheit an, die keine präzise Determinierung oder Definition zulässt. Diese Annäherungsfigur (im Englischen als «quite»-Formulierung) ist in den Postcolonial Studies insbesondere von Bhabha als eine paradigmatische Figur des Dritten Raums bzw. der Mimikry ausgewiesen worden.32 Der Mimikry-Vergleich ist insofern unpassend, als die Patagonier ja bei Weitem nicht danach streben, europäischen Reitervölkern zu ähneln. Aber die Formulierung unterstreicht den Vergleichsversuch aufseiten der enzyklopädischen Definitionsmacht. Und diese Definitionsmacht wird in diesem Versuch sichtbar, in der Beibehaltung des Vagen und Approximativen, das gerade nicht mehr binäre Muster von europäisch/südamerikanisch zu stabilisieren vermag. Es findet sich also gleichzeitig ein bedrohlicher und eindeutig kontrastiv-antithetischer Bezug zwischen Patagoniern und Spaniern und eine vage Annäherung an europäische Völker. Die Markierung der kulturellen Differenz wird damit in ihrer Eindeutigkeit verwischt: Der Mörder wird zum Mit(st)reiter. Viel ‹effektiver› scheinen da die lakonischen Beschreibungen einiger (nordund süd)amerikanischer Stämme. In nur wenigen Zeilen Gesamtartikellänge werden die Chevelus oder die Créecks zwar als sehr kriegerisch tituliert, es folgen aber keine (erklärenden) Details, Belege oder Illustrationen.33 Hier eröffnen nicht die Argumentationsfiguren oder narrativen Verfahren den Blick auf die kontrapunktische Ambivalenz, sondern die Kürze der Einträge und die argumentativen Setzungen. Das Unwissen und die Dürftigkeit der Informationen lassen sich auch insofern als definitorische Schwierigkeiten des enzyklopädischen Erzählers werten, als dieser nicht intentional die lakonische Form des Eintrags wählt, sondern nachgerade dazu gezwungen ist. In der Relektüre dieser Figuren, die in der Wissensordnung des moralisch konnotierten Kontaktwissens generiert werden, gelingt die Inszenierung alsfeindliche, unmenschliche koloniale Andere nicht mehr so widerspruchslos,

31 Louis de Jaucourt: Patagons, S. 160. 32 Vgl. Homi K. Bhabha: The Location of Culture, 2007, S. 157 f. 33 Vgl. N. N.: Chevelus, in: Denis Diderot/Jean Le Rond d’Alembert (Hg.): Encyclopédie (ENCCRE). Bd. 3, S. 688 und N. N.: Créecks, S. 452.

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und das Ausweisen der Wissensgrenzen ist nicht mehr so souverän, wie es in den kolonialistischen Wissensordnungen zunächst den Anschein hat. Dies liegt u. a. am Rückkopplungseffekt der kriegslustigen Anderen: Denn inwiefern lassen sich Grenzziehungen zum Wilden, zu dieser antithetischen, abgegrenzten Alteritätsfigur, noch aufrechterhalten, wenn die Parallelen zu den europäischen Hunnen oder Goten unübersehbar sind? Inwiefern sind die evolutionistischen Zivilisationstheorien keine autoritären Erklärungsmuster mehr, sondern Affekte werden relevant, die den philosophe als objektiven Beobachter geradezu aus der Rolle fallen lassen? Kann man die Analogien dann nur evolutionistisch auflösen, indem man diese Völker als historische Vorstadien der zeitgenössischen europäischen aufgeklärten Gesellschaft versteht? Und ist dieser Definitionsakt einer der machtvollen Geschichtserzählung oder eher einer der definitorischen Notlösung? Die Antworten auf diese Fragen können nicht eindeutig ausfallen. In der Perspektive der alteritären Ambivalenz sind die Momente von Macht und Ohnmacht immer gleichzeitig am Werke. Damit aber sind die machtvollen Geschichtserzählungen weder rein autoritäre Geste noch ohnmächtige Notlösung, sondern beinhalten die Möglichkeit und Unmöglichkeit von Machtartikulationen gleichzeitig. Auch im Hinblick auf den zweiten ‹Kontaktmodus›, die Gastfreundschaft, fallen die Darstellungen ambivalenter aus, als es zunächst den Anschein hat. Die als Universalie gesetzte Gastfreundschaft bringt den kolonialen Anderen in die Nähe des europäischen philosophe, so dass eine klare Abgrenzung zu ihm (etwa auf historischer, anthropologischer und zivilisatorischer Ebene) problematisch wird. Soll die moralische Differenz zum kolonialen Anderen weiterhin abgrenzend aufrechterhalten werden können, so muss die Gastfreundschaft etwa in das Stereotyp des Edlen Wilden überführt werden. Erst dann dient die Gastfreundschaft der Idealisierung und der zivilisationskritischen Spiegelung und wird so funktional eingebettet (vgl. dazu die Analysen im folgenden Kapitel 2.2.1.2). Genau diese Entscheidung zur Universalisierung stellt den enzyklopädischen Erzähler vor eine heikle Aufgabe. Gleichzeitig identitär und alteritär: Wie ist das zu formulieren? Die Analysen zum Eintrag Hospitalité haben schon gezeigt, dass der Verlust der Gastfreundschaft in Europa zivilisationskritisch und kulturpessimistisch beklagt wird und durch die globale Durchsetzung des Handels begründet werden kann: «L’hospitalité s’est donc perdue naturellement dans toute l’Europe, parce que toute l’Europe est devenue voyageante & commerçante.»34 Zur Abwägung der ambivalenten Rolle des Handels für die univer-

34 Louis de Jaucourt: Hospitalité, S. 316.

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selle Gastfreundschaft kontrastiert der Artikel Nutzen und Schaden («il a fait beaucoup de bien & de mal»), formuliert aber auch die ambivalente zerschlagene Verbindungskette: «en unissant toutes les nations, a rompu les chaînons de bienfaisance des particuliers».35 Doch diese Ambivalenz ist nur schwer in der Schwebe zu halten, so dass der Eintrag den Handel in eine rousseausche Zivilisationskritik überführt, in der Luxus und Profitgier den Menschen von seiner Natur entfernen und das natürliche, liebevolle («tendre») Band zwischen ihnen zerreißen lassen. Zwischenfazit. Das Ausloten der Gesinnung des kolonialen Anderen hat für den europäischen philosophe zwei Funktionen: Einerseits bemisst er am Grad der Kriegslust bzw. Gastfreundschaft dessen Menschlichkeit und Zivilisationsgrad. Andererseits eruiert er aber auch, inwiefern der koloniale Andere als Gefahr an Leib und Leben einzuschätzen ist. Und diese potenzielle Gefahr ist es auch, die in einer kontrapunktischen Lektüre als widerständiges und ambivalentes Moment funktionieren kann. Das Attribut des Kriegerischen kann nicht ohne Weiteres an den kolonialen Anderen geheftet werden, ohne dass dies unmittelbar historisch gesehen auch Teil des Europäischen ist. Diese historisch-überwundene Phase des Kriegerischen scheint nun zunächst sehr klar als Selbstkritik des europäischen philosophe zu fungieren. Aber der enzyklopädische Erzähler muss diese überwundene Affektstruktur auch als eine solche immer wieder beschreiben, um ein aufklärerisches Selbstbild konstruieren und die triebhaften Affekte an den kolonialen Anderen auslagern zu können. Die Ambivalenz des kolonialen Anderen als moralische Diskursfigur – so ließe sich zusammenfassend konstatieren – liegt in seinem Gefährdungspotenzial, das sich aus den unberechenbaren, triebhaften, agressiven oder (vermeintlich) friedlichen Interaktionen mit Anderen ergibt. Die moralischen Alteritätskonstruktionen sind geprägt von affektiven Konnotationen wie Angst, Abscheu, Ekel oder aber Sicherheit und Geborgenheit, die unweigerlich bei den enzyklopädischen Beschreibungen mitschwingen und wegführen von einer erhabenen, distanzierten Beobachtersituation und objektiv-szientifischen Sprache. Und hierin liegt auch die Ambivalenz in der wissenspoetologischen Ausrichtung der Encyclopédie-Einträge: nicht in der pädagogischen oder politischen Explizierung anthropologischer Grundfragen über sich selbst und den kolonialen Anderen, nicht in der programmatischen Formulierung von Widersprüchen, Inkongruenzen und Kontingenzen, sondern in den identifikatorischen Ambivalen-

35 Ebd.

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zen. Die enzyklopädische Auffaltung der Weltsichten ergibt in dieser Hinsicht gerade kein eurozentrisches Weltbild, sondern artikuliert die Gefahr, jenseits aller Intentionalität und jenseits der Produktionsbedingungen (Autorschaft, Herausgabeorganisation, Zensur, Inhaftierung etc.), komplexen Wahrheiten und Realitäten der kolonialen Welt des 18. Jahrhunderts gerade nicht Herr zu werden. Diese Kontingenzen sind weder Lapsus noch Produkt intentionaler Selbstkritik, sondern immanenter Bestandteil des Aufklärungsprojektes und besonders dringlich in Alteritätsfragen. Die anthropologische Grundfrage, ob es sich bei dem kolonialen Anderen um Freund oder Feind handelt, ob und als wie gefährlich der Kontakt mit ihm einzuschätzen ist, lässt sich nicht eindeutig entscheiden bzw. bedarf eines definitorischen Aktes der Vereindeutigung, der in der kontrapunktischen Lesart weit weniger souverän daherkommt, als es zunächst den Anschein hat.

Kulturelles Wissen: Zivilisierte Barbaren und Tiermenschen Rituelle Kuriositäten, Despotismus, Nomadismus, eigenartige Sprachlaute, unverständliche Körperpraktiken und manchmal sogar eine ganz eigene Art technischer Gerätschaften: All dies kennzeichnet den kolonialen Anderen im Spannungsfeld von menschlicher Analogie und kultureller Differenz. In den Encyclopédie-Artikeln werden die unterschiedlichen kulturellen Handlungen des kolonialen Anderen zumeist kulturkomparativ gefasst, ausgerichtet am europäischen Standard, normativ eingeordnet und hierarchisiert und durchaus auch affektiv konnotiert. Die unterschiedlichen Manifestationen kultureller Differenz werden nämlich mit Vertrautheit und Sympathie, Gefahr und Ekel, mit Begehren und Faszination, mit Bewunderung und vernichtender Abwertung belegt. Die kulturelle Ambivalenz des kolonialen Anderen, die sich in der Gleichzeitigkeit dieser affektiven Bewertungen ausdrückt, resultiert aus der Problematik, dass sich die kulturelle Differenz zwischen Europäern und kolonialen Anderen in einem permanenten Aushandlungsprozess befindet, der nur mit Mühe definitorisch arretierbar ist. Und diese Aushandlungen lassen sich besonders ausdifferenziert in den Konstruktionen des kolonialen Anderen als kulturelle Diskursfigur beobachten: Nahezu alle kulturellen Dimensionen seines Alltagslebens und seiner gesellschaftlich-identifizierenden Organisation scheinen dem Europäer gleichermaßen fremd und vertraut.

Leben und sterben. Religiösität Religiösität ist für die französischen Aufklärer in mehrfacher Hinsicht paradigmatisches Moment der Alterität: Als kulturelle Lebenspraxis macht sie den Menschen unmündig und ist daher zentral zu bekämpfen; religiöse Praktiken die-

334

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nen als gesellschaftlich-institutionalisierte Formen als eine Art Gradmesser für gesellschaftliche Entwicklung und Zivilisiertheit. Als irrationale und vor allem unmündig machende Gesinnungen stehen sie der Aufklärung diametral gegenüber. Überdies ist auch unabhängig vom kolonialen Kontext die Spannung zwischen Glaube und Wissen bzw. Vernunft zentrales und ungelöstes Problem in der europäischen Aufklärung.36 Aus diesem Grund sind religiöse Attribute oftmals besonders dienlich, um die Alterität des kolonialen Anderen zu verdeutlichen oder aber um innerhalb der französischen (bzw. europäischen) Gesellschaft auf Missstände aufmerksam zu machen. Eines der berühmtesten Beispiele für die Exotisierung des Eigenen zur Religionskritik ist der intratextuelle Bezug zwischen dem Eintrag Anthropophages und den Verweisen auf die Eucharistie oder den Altar. Hier wird, so wurde im vorangegangen Kapitel erläutert, das Eigene durch die exotische Figur des Kannibalen scharf kritisiert, auch wenn dies aus Zensurgründen auf diese im Vergleich dezente, intratextuelle Weise geschieht. Damit hebt der enzyklopädische Erzähler die alteritären Momente innerhalb der eigenen religiösen Riten hervor. Die kulturelle Ambivalenz liegt hier aber nicht in der schwierigen Einordnung religiöser Alterität, sie besteht auch nicht in der Kritisierung mithilfe des Kannibalismus, sondern wird im Eigenen hervorgehoben. Das europäische Christentum wirkt durch diese Parallelisierung und Analogisierung mit dem Anthropophagen zwar weniger zivilisiert, human und fortschrittlich, weil es in die Nähe von Naturreligionen bei den Barbaren gerückt wird. Aber diese Exotisierung christlicher und vor allem klerikaler Elemente ist eine offensichtlich aufklärerische Geste. Hier wird das koloniale Moment intentional und offensichtlich zur Selbstkritik in den Dienst genommen; eine Kontrapunktik oder Ambivalenz ergibt sich dadurch aber noch nicht. In Bezug auf den Fanatismus lässt der enzyklopädische Erzähler keinen Zweifel daran, dass dieses Phänomen einerseits universell ist und folglich an den kolonialen Anderen wie an den europäischen (christlichen) Herrscher zu knüpfen ist. Andererseits nutzt der enzyklopädische Erzähler den Fanatismus im Besonderen für eine heftige Kritik am Kolonialwesen, welches fanatisch vorgegangen sei (vgl. dazu die Fanatismus-Analysen in Kapitel 2.1.1.1). Im Kolonialwesen also, das ja auch innerhalb der Encyclopédie durchaus mit vernünfti-

36 Vgl. bspw. Barbara Stollberg-Rilinger: Nachwort, S. 131–139, für die Encyclopédie im Besonderen relevant durch die intertextuelle Verknüpfung und Tradierung von Bayle, vgl. dazu etwa Jacques Proust: Diderot et l’Encyclopédie, Paris: A. Michel [1962] 1995, bes. S. 238 ff. sowie den religionsphilosophischen Diskurs der Aufklärung um das Konzept der Vernunftreligion, vgl. Immanuel Kant: Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft, Hamburg: Felix Meiner Verlag [1794] 2017.

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gen Argumenten legitimiert wird, scheiden oder verbinden sich Aufklärung und Fanatismus. Aber schon am anthropologischen Ausgangspunkt kommen sich Aufklärung und religiöser Fanatismus gefährlich nahe. Im Eintrag Fanatisme wird ja unmittelbar an die christliche Lichtmetaphorik angeschlossen, von der sich ja auch die Aufklärungsrhetorik inspirieren ließ: Fanatismus «a donc pris naissance dans les bois, au milieu des ombres de la nuit».37 Aus dieser Dunkelheit aber will auch die Aufklärung herausführen, die gerade auf die Macht der vernünftigen Abwägung und nicht auf den blinden Glauben setzt. Für das Phänomen des Atheismus ist die (funktionale) Einordnung etwas schwieriger: Ist es nun ein Zeichen von Wildheit und zivilisatorischem Vorzustand, wenn der koloniale Andere an keinen Gott glaubt? Sind nicht der Glaube und dessen institutionalisierte Organisation Gradmesser für die Zivilisiertheit eines Volkes? Und damit auch Maßband für den Abstand zum kolonialen Anderen? Oder aber ist der Atheismus ein Zeichen für die Nähe zur europäischen Aufklärung, weil er Subjekte ohne autoritäres spirituelles System hervorbringt? Wäre dann nicht der Atheismus nachgerade das Ideal einer aufgeklärten Gesellschaft und müsste innerhalb der Enyclopédie in Dienst genommen werden? Die Bestimmung des Verhältnisses von kolonialen Völkern und Atheismus erweist sich im Eintrag Athées als unlösbar und unfixierbar. Dies führt der enzyklopädische Erzähler zunächst auf die Quellenproblematik zurück, d.h. auf die unterschiedlichen Positionen von Strabon und Reiseberichten und allgemeiner die Problematik der Wissensgenese ohne eigene Anschauung: «Mais comment peut-on savoir les sentimens de gens dont on ne voit pas la pratique, & dont on n’entend point la langue ?»38 Darüber hinaus werden aber auch Quellen angeführt, in denen etwa Völker in Florida gleichzeitig keine sichtbare Religion, sehr wohl aber innere religiöse Vorstellungen haben («Il est vrai qu’ils n’ont ni idoles, ni temples, ni aucun culte extérieur ; mais ils sont vivement persuadés d’une vie à venir, d’un bonheur futur pour récompenser la vertu, & de souffrances éternelles pour punir le crime»39) und andere, in denen die Hottentotten barbarisch, aber nicht ohne Vernunft gezeichnet werden. Die Unentschlossenheit oder aber auch argumentative Ausweichbewegung (sicherlich auch aufgrund der drohenden Zensur) findet ihren Ausdruck demzufolge in der Diskussion von Quellentexten (und nicht der Inhalte) und in der (zitierten) kritisch-rhetorischen Frage: «Que savons-nous, ajoûte-t-il, si les Hottentots & tels autres peuples qu’on nous représente comme athées, sont tels qu’ils nous paroissent?»40 In einer kont-

37 38 39 40

Vgl. Alexandre Deleyre: Fanatisme, S. 393. Abbé Claude Yvon: Athées, S. 799. Ebd. Ebd.

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rapunktischen Lektüre ist diese Ausweichbewegung als jene Grenze des Enzyklopädischen zu deuten, an der der koloniale Andere offenbar nicht so ohne Weiteres mit diesem (vermeintlich pejorativen, aufklärerisch ja sogar aufwertenden) Attribut des Atheismus zu belegen ist. Noch deutlicher wird diese Ausweichbewegung in der Textpassage, die mit der Beschreibung des transkontinentalen Anderen (Amerika oder Afrika) als durch ein typisches «sans…sans»-Othering evozierter Wilder beginnt: «Il est vrai que ces athées sont des sauvages, sans lois, sans magistrats, sans police civile». Allerdings wird dann das Pejorative in eine positive Umdeutung überführt: mais de ces circonstances il en tire des raisons d’autant plus fortes en faveur de son sentiment ; car s’ils vivent paisiblement hors de la société civile, à plus forte raison le feroient-ils dans une société, où des lois générales empêcheroient les particuliers de commettre des injustices.41

Hier klingt die Idealisierung des Rousseau’schen bon sauvage an, der im friedlichen Naturzustand jenseits der Gesellschaft lebt. Die Ambivalenz dieses Edlen Wilden wird im folgenden Kapitel (Kap. 2.2.1.2) näher ausgeführt. Zunächst aber ist die Engführung der «raisons d’autant plus fortes en faveur de son sentiment» als ambivalente affektiv-rationale Denkfigur interessant. Hier zeigt sich am kolonialen Anderen, dass Vernunft und Emotionen sich – zumindest in einem idealisierten Naturzustand – nicht exkludieren müssen. Der Atheismus führe nicht in eine (durchaus erstrebenswerte) gesellschaftlich-staatliche Organisation der Menschen, sondern als Verbindung von «raison» und «sentiment» in eine ideale Gesellschaft ohne Ungerechtigkeiten und Illegalitäten («injustices»). Noch expliziter, wenn auch gewissermaßen versteckt in den Artikeln zu fremden Religionen, ist die Ambivalenz zwischen Glaube und Vernunft in der Engführung modernen, aufklärerischen Wissens und des Glaubens. «Il est vrai que», heißt es da im Eintrag Mahométisme, les contradictions, les absurdités, les anachronismes, sont répandus en foule dans ce livre. On y voit sur-tout une ignorance profonde de la Physique la plus simple & la plus connue. C’est-là la pierre de touche des livres que les fausses religions prétendent écrits par la Divinité ; car Dieu n’est ni absurde, ni ignorant: mais le vulgaire qui ne voit point ces fautes, les adore, & les Imans emploient un déluge de paroles pour les pallier.42

Was sich zunächst eindeutig diskriminierend ausnimmt, wie die logischen, chronologischen oder entwicklungstheoretischen («les contradictions, les absurdités, les anachronismes») Verfehlungen im Koran, wird in der Folge nach-

41 Ebd. 42 Louis de Jaucourt: Mahométisme, S. 864.

2.2 Figuren und Figurationen kolonialer Ambivalenz

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gerade zum Gottesbeweis umgedeutet. Es wird deutlich: Die Religions- und Kirchenkritik innerhalb der Encyclopédie führt schon per se – und eben nicht nur im Falle der Naturreligionen der kolonialen Anderen – zu doppelbödigen Artikeln, die Kritik formulieren und gleichzeitig vor der Zensur verstecken müssen. Ein nahezu unüberwindbares Problem ist der Fall des Missionarswesens. Es ist einerseits das religiös-kirchliche Expansionsprojekt europäischer Provenienz par excellence und in den kolonial-apologetischen Passagen durchaus positiv bewertet – nicht zuletzt hat das Christentum ja in den Kolonien humanere Lebensbedingungen und Richtlinien (etwa den Code Noir) zum Umgang mit Sklaven gebracht.43 Andererseits zählt das Christentum zu einem zentralen Feind der Aufklärung, weil es nicht Mündigkeit und Vernunft, sondern Unmündigkeit und Religion in die koloniale Welt bringt.44 Und das Missionarswesen ist, da es sich ja im semantischen Feld des Religiösen befindet, ebenfalls unter scharfer Beobachtung der Zensur. So verweigern sich die Enzyklopädie-Artikel, wie im besonders brisanten Eintrag Jésuite, oftmals überhaupt einer Aussage – was wiederum eine vielsagende Aussage ist: «Nous ne dirons rien ici de nousmêmes.»45 und verweisen auf andere Schriften. Dies ist aber keine ambivalente, weil ohnmächtige Definitionsgeste, sondern den Produktionsbedingungen geschuldet. Ein weiteres Verfahren, um Kritik an Staat und Kirche zu formulieren, ist das der intratextuellen Relationierung vermeintlich konträrer (semantischer) Bereiche, wie im Eintrag Anthropophages der Verweis auf Altar oder Abendmahl (wobei die intentionalistische Dimension dieser Kritik durchaus umstritten ist 46). Ein weiteres Verfahren ist jenes der Tiermetaphorik für das Staatswesen. Hier wird exemplarisch immer wieder der Eintrag Abeille genannt, in dem unschwer eine Karrikatur des Adels- und der Staatsmänner erkennbar ist.47 Oder aber eine relativ offensive Ironisierung, wie im Eintrag zu den Capucins, als deren religiöser Bezugspunkt nur ihre Kapuzen benannt wird: «Capucins, religieux de l’ordre de S. François, de la plus étroite observance. Voyez Religieux. On leur donna ce nom par rapport à la réforme extraordinaire de leur capuchon.»48 43 Vgl. Jean Henri Samuel Formey: Nègre, S. 76–79. 44 Und überdies entstammt das große Konkurrenzprojekt, das Dictionnaire universel de Trévoux, dem jesuitischen Orden, der religiöse Dogmen, machtvolle Kirchenämter und auch Kolonialprojekte in sich vereint. 45 [Denis Diderot]: Jésuite, S. 512. 46 Vgl. Claudia Albert: Imitation de la nature?, S. 200–2014. 47 Vgl. Louis Jean Marie, Daubenton: Abeille, in: Denis Diderot/Jean Le Rond d’Alembert (Hg.): Encyclopédie (ENCCRE). Bd. 1, S. 18–23. 48 Edmé-François Mallet: Capucins, in: Denis Diderot/Jean Le Rond d’Alembert (Hg.): Encyclopédie (ENCCRE). Bd. 2, S. 640–641, hier S. 640.

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2 Macht und Ambivalenz in den Narrationen des kolonialen Anderen

Neben dieser relativ offenen ironischen Kritik zeigt sich in der Perspektive der Ambivalenz auch etwa die ‹maschinelle Rhetorik›, mit der das Missionarswesen narrativiert wird: Missionaire, s. m. (Théol.) ecclésiastique séculier ou régulier envoyé par le pape, ou par les évêques, pour travailler soit à l’instruction des orthodoxes, soit à la conviction des hérétiques, ou à la réunion des schismatiques, soit à la conversion des infideles. Il y a plusieurs ordres religieux employés aux missions dans le Levant, les Indes, l’Amérique, entr’autres les Carmes, les Capucins, les Jésuites, & à Paris un séminaire d’ecclésiastiques pour les missions étrangeres. On donne aussi le nom de missionnaires aux prêtres de saint Lazare. Voyez Lazaristes.49

Der Missionar wirkt hier wie eine Art Maschine oder wie ein befohlener Soldat: «instruction», «conviction», «réunion» und «conversion» sind seine Aufgaben. Keine Begründungen, keine inhaltlichen Ausführungen, keine Plausibilisierungen oder narrativen Ausführungen begleiten den Missionar; in dieser Aufzählung wird er ebenso weltumspannend und mächtig wie er inhaltsleer und technisch er wirkt. Und selbst der Verweis auf die «Lazaristes» am Ende des Eintrags läuft ins Leere, da es diesen eigenständigen Eintrag – obwohl er in einem vorangegangenen Band hätte sein können – nicht gibt. Körperpraktiken. Sexualität/Jungfräulichkeit Die kontrapunktische Anlage der erotisierend-skandalisierenden Passagen in der Encyclopédie kann man als eine beschreiben, die die obsessive Beschäftigung mit Fragen der Scham, der Jungfräulichkeit, Sauberkeits- und Intitiationsriten u. ä. kolonialer Völker zur Schau stellt. Die moralische Abwertung und normative Regulierung gehen folglich oftmals mit einer erotischen Faszination einher. Dies ist epistemologisch und moralisch zu begründen: Dass nämlich insbesondere die menschliche Sexualität ein Wissensbereich ist, in dem sich viele Unwahrheiten, Imaginationen und ‹Glaubensfragen› ansiedeln, wird im Eintrag Virginité explizit gemacht: On ne doit pas espérer de réussir à détruire les préjugés ridicules qu’on s’est formé sur ce sujet ; les choses qui font plaisir à croire seront toujours crues, quelque vaines & quelque déraisonnables qu’elles puissent être ; cependant comme dans une histoire on rapporte souvent l’origine des opinions dominantes, on ne peut se dispenser, dans un dictionnaire général, de parler d’une idole favorite à laquelle l’homme sacrifie, & rechercher si la virginité est un être réel, ou si ce n’est qu’une divinité fabuleuse.50

49 N. N.: Missionnaire, in: Denis Diderot/Jean Le Rond d’Alembert (Hg.): Encyclopédie (ENCCRE). Bd. 10, S. 578. 50 Louis de Jaucourt: Virginité, S. 327.

2.2 Figuren und Figurationen kolonialer Ambivalenz

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Die Beschreibungen zur weiblichen Sexualität werden oftmals dazu genutzt, libertine oder promiskuitive Szenerien und Phantasien heraufzubeschwören. Hier werden etwa weibliche Freizügigkeit, Schamlosigkeit oder Promiskuität oftmals in Verbindung mit religiösen Vorstellungen der Wilden in der kolonialen Welt gebracht, etwa bei den Völkern der Auses, Arder, Whidah, Capes, in Borno oder bei den Veteres (vgl. die Analysen in Kapitel 2.1.1.1). Dass dies aber mehr ist als eine libertine Projektion europäischer Fantasien auf den kolonialen Anderen, sondern eine veritable ambivalente Alteritätskonstruktion, zeigt sich etwa im Eintrag Sandi-Simodisino, ein afrikanischer Name für junge Frauen: SANDI-SIMODISINO, (Hist. mod. superst.) c’est le nom que les negres du royaume de Quoja, dans les parties intérieures de l’Afrique, donnent à des jeunes filles, qui sont pendant quatre mois séparées du reste des humains, & qui vivent en communauté sous des cabanes bâties dans les bois, pour recevoir de l’éducation […] les jeunes filles qui doivent être élevées dans cette retraite, sont toutes nues, pendant le tems de leur séjour dans cette école ; on les conduit à un ruisseau où on les baigne, on les frotte avec de l’huile, & on leur fait la cérémonie de la circoncision, qui consiste à leur couper le clitoris, opération très-douloureuse, mais qui est bientôt guérie ; l’éducation consiste à leur apprendre des danses fort lascives, & à chanter des hymnes très-indécens, en l’honneur de l’idole sandi […].51

In diesem Eintrag schwankt die Beschreibung der Mädchen zwischen Andeutungen erotischer Faszination (Nacktheit, Abgeschiedenheit in einer Hütte, Waschung und Ölung an einem Fluss) und nüchterner, ablehnender Beschreibung der weiblichen Beschneidung als qualvoller Operation, um dann über einen raschen Heilungsprozess zur Lehre lasziver Tänze und obszöner Lieder zurückzukehren. Die Ambivalenz der sexuellen Moralvorstellungen und entsprechenden Riten, die in der Encyclopédie oftmals am Umgang mit der weiblichen Sexualität festgemacht, illustriert und imaginiert werden, findet ihre Entsprechung in der schwankenden Argumentation zwischen Nähe und Distanz, Faszination und Abscheu, Beschreibung und Abwertung.

Herrschen und regieren. Despotismus Viel Raum nimmt in den einzelnen Einträgen zum kolonialen Anderen auch die Frage ein, wie Gesellschaften gesteuert und organisiert werden, indem Staatsführung und insbesondere Despotismus und Steuerwesen zur Sprache kommen. Dabei sind einerseits unabhängige Völker im Fokus, die an keinen König Tribu-

51 [Paul-Henri Thiry d’Holbach]: Sandi-Simodisino, in: Denis Diderot/Jean Le Rond d’Alembert (Hg.): Encyclopédie (ENCCRE). Bd. 14, S. 610.

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te/Steuern zahlen, d. h. die Unabhängigkeit wird daran festgemacht, wie sie Abgaben an einen Herrscher zu leisten haben oder sich diesem eben verweigern. Die Staatsführung selbst wird oftmals in Zusammenhang mit despotischer Gewalt und Willkür und/oder einer Organisation des Herrscherhauses thematisiert, das, mit Beratern ausgestattet, den europäischen Gepflogenheiten dann doch gar nicht so unähnlich ist. Als Alteritätsmarker ist Despotismus für den enzyklopädischen Text von besonderer Bedeutung. Das liegt an zwei Gründen: Erstens lässt sich so die Alterität der kolonialen Anderen besonders ausstellen, indem Gewalt und Willkür, Unterdrückung und Grausamkeit als vermeintlich negative Kontrastfolie zu den europäischen Herrschaftsprinzipien und entwickelten Staatstheorien fungieren. Zweitens aber lassen sich diese Beschreibungen auch als kritische Spiegelung der Zustände in Europa lesen, wollen die Enzyklopädisten doch gerade eine tendenzielle Befreiung aus unterdrückenden Machtstrukturen. Dies (unter Berücksichtigung der historischen Bedrohung durch die Zensur) macht es nicht nur einfacher, sondern nachgerade erforderlich, sich über den Umweg der Schilderungen über den kolonialen Anderen über die eigenen politischen Herrschaftsstrukturen kritische Gedanken zu machen. Doch auch hier schiebt sich eine störende Ambivalenzebene zwischen die Darstellungen des gewaltvollen kolonialen Herrschers und die willfährige Kontrastfolie zur europäischen Autokritik. Wenn der koloniale Andere mit den politischen Handlungen europäischer Herrscher in Analogie zu bringen ist: Wer kann doch noch über wen urteilen? Die Ambivalenz des Verhältnisses zwischen Herrscher und Untertan entsteht immer dann (hier zeigt sich in gewisser Weise die hegelianische Dialektik des Herr-Knecht-Verhältnisses), wenn sich der Untertan dem Herrscher in Loyalität, in Dienstleistungen oder Zensus nicht unterwirft und wenn anders herum der Herrscher keine deutliche Machtausübung erkennen lässt. Wenn die Machtasymmetrien zwar erkennbar, die Hierarchien aber nicht eindeutig ausfallen, muss der enzyklopädische Erzähler argumentative und identifikatorische Entscheidungen für Werturteile, Zuschreibungen oder Enthaltung von Kommentaren fällen, die in den Artikeln selbst als Kippfiguren in einer kontrapunktischen Lektüre sichtbar werden. Die Irokesen etwa seien diesbezüglich nicht recht einzuschätzen, unkontrollierbar und wankelmütig in ihrer Kooperationsbereitschaft, die sie mal den Franzosen und mal den Engländern antragen («tantôt attachés aux Anglois, & tantôt aux François, selon qu’ils croyent y trouver leurs intérêts»52).

52 Louis de Jaucourt: Iroquois, in: Denis Diderot/Jean Le Rond d’Alembert (Hg.): Encyclopédie (ENCCRE). Bd. 8, S. 906. http://enccre.academie-sciences.fr/encyclopedie/ (27. 09. 2019).

2.2 Figuren und Figurationen kolonialer Ambivalenz

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In dieser Perspektive ist der Widerstand gegen Regeln und Gesetze des Herrschers weder Attribut barbarischer Unzivilisiertheit noch aufklärerische Verklärung eines autonomen Naturzustandes. Das Widerstandsmoment liegt in der Ambivalenz, die sich innerhalb der Machtartikulationen zeigt. Und es liegt in den Momenten der Unentschlossenheit, wie etwa im Eintrag Victime humaine53 bei der Übergabe von Friedensgeschenken an den spanischen Konquistador Cortès (vgl. Kapitel 2.1.2.1), bei der sich eine Unterwerfungsgeste mit einer Unklarheit über die genaue Machtposition des Europäers verbindet. Ob Cortès nun als Gott die Sklaven wählt, um sie zu verspeisen, oder ob er sich als Mensch für die dargebotenen Früchte entscheidet, wird weder durch Erzählerkommentar noch durch eine Redereplik entschieden. Somit wird in der Kommunikationssituation der symbolischen Anrufung als Herrscher eine Vagheit eingeführt, die Widerstand in der Ambivalenz artikulierbar macht. Töten und opfern. Menschenopfer Die kontrapunktische Dimension der rituellen Menschenopfer ist auf den ersten Blick nur schwer erkennbar. Diese zutiefst unmenschliche Praktik wird von den aufklärerischen Wissenserzählern einhellig verabscheut: Die Tötung von (Mit-)Menschen oder gar Verwandten aus spirituellen, metaphysischen Gründen ist nicht einmal im Tierreich zu beobachten. Die Alienisierung des kolonialen Anderen geht hier über eine Animalisierung weit hinaus, kennzeichnet sie als barbarische oder gar monströse Wesen, die weder Empathie noch die Fähigkeit zur rationalen (Selbst-)Reflexion besitzen. Die Ambivalenz des Menschenopfers tritt dann zutage, wenn seine narrative Ausgestaltung in der Encyclopédie näher in den Blick gerückt wird. Denn so eindeutig die normativ und explizit formulierte Bewertung auch ausfällt, so verwunderlich ist es doch, dass durchaus detaillierte Schilderungen und spannungserzeugende Inszenierungen gewählt werden. Dies dient in der kontrapunktischen Lesart weniger dem intentional-persuasiven Othering des kolonialen Anderen oder einer unterhaltenden Wissensvermittlung in der Tradition des plaire et instruire, sondern deutet auch auf eine Art ‹Konträrfaszination› hin, die von diesem schrecklichen Ritual ausgeht. Die enzyklopädischen Schilderungen der Informationen über Menschenopfer lassen in dieser Perspektive die ambivalenten Affekte von Ekel und Faszination durchscheinen. Je detaillierter die Beschreibungen, je szenischer und bildlicher die Konstruktionen des Menschenopfers ausfallen, desto mehr entgleitet die vielleicht angestrebte Abschreckung dem enzyklopädischen Erzähler.

53 Vgl. Louis de Jaucourt: Victime humaine, S. 240–242.

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2 Macht und Ambivalenz in den Narrationen des kolonialen Anderen

Wohnen und reisen. Nomadismus Im vorangegangenen Kapitel ist bereits ausgeführt worden, dass Nomadismus als Alteritätsmarkierung für vor- und unzivilisierte Stadien fremder Völker genutzt wird. Das Fehlen einer Heimstatt und die damit einhergehende scheinbare Unfähigkeit zu Sesshaftigkeit (als menschliche Qualität), zu Handwerk, Viehzucht etc. werden als degradierende Argumente angeführt. Allerdings wird in den Artikeln auch sichtbar, dass nomadische Völker nicht nur Sesshaftigkeit und daraus resultierende gesellschaftlich-kulturelle Organisationsformen negativ spiegeln, sondern dass sie damit auch Lebensweisen und Ländergrenzen in Frage stellen.54 Entweder der koloniale Andere ist als Nomade historisch gewandert, er lebt ohnehin noch im zivilisatorischen Vorstadium des Nomadentums, oder er passiert als Grenzgänger geo-politsche Grenz/zonen und Zwischenorte. Die lokale Fixierung kostet den Enzyklopädisten in der Regel eine deutliche Determinisierungsrhetorik, und diese Arretierungsbemühungen stellen die Encyclopédie-Artikel ja auch selbst als solche aus. Die Ambivalenz von Verortung und lokaler Unschärfe lässt sich mithin schon auf der Ebene der geographischen Lokalisierung finden. Erstaunlicherweise führt hier die sonst immer kontrastiv angeführt moderne Geographie nicht zu klaren, determinierenden Aussagen über die Lage und Historie von Ländern.55 Beispielhaft sei hier etwa das Land Äthiopien genannt, das sogar

54 Vgl. bspw. Nicolas-Antoine Boulanger: Guebres, S. 979–981. 55 Eine ähnliche undeterminierte Lage zwischen Asien und Europa wird Ungarn zugeschrieben, das asiatische und europäische Anteile hat (vgl. Louis de Jaucourt: Hongrie, in: Denis Diderot/Jean Le Rond d’Alembert (Hg.): Encyclopédie (ENCCRE). Bd. 8, S. 284–286. In dieser Hinsicht ist auch der ökonomische Eintrag zum (transarealen) Orient paradigmatisch, da er trotz der kategorialen Einordnung in Commerce nur marginal mit ökonomischen Informationen aufwartet, aber großen Aufwand für die Lokalisierung des Orients betreibt. Während es schon in der Kategorie Geographie nur dann möglich ist, den Orient zu bestimmen, wenn dies vom europäischen Standpunkt aus, «par rapport à nous», geschieht: «Oriental, adj. (Ast. & Géog.) se dit proprement de quelque chose qui est située à l’est ou au levant par rapport à nous ; il est opposé à occidental ; mais on dit plus généralement oriental de tout ce qui a rapport aux pays situés à l’orient par rapport à nous. Voyez Est, Levant & Occidental» (Jean le Rond d’Alembert: Oriental, S. 642), ist der Orient in ökonomischer Hinsicht von China bis Persien zu verorten: «Orient, (Commerce) ce terme s’entend de toutes les parties du monde qui sont situées à notre égard vers les lieux où nous voyons lever le soleil. Il ne se dit néanmoins communément que de celles qui sont les plus éloignées de nous, comme la Chine, le Japon, le Mogol, & le reste de l’Inde, l’Arabie, & la Perse. Les autres dont nous sommes plus voisins, comme les îles de l’Archipel, & les côtes de la Méditerranée, où sont Constantinople, Smyrne, Alep, Seyde, &c. même le Caire, ne sont connues dans le Commerce que sous le nom du Levant.» (Louis de Jaucourt: Orient, in: Denis Diderot/Jean Le Rond d’Alembert (Hg.): Encyclopédie (ENCCRE). Bd. 11, S. 641–642.

2.2 Figuren und Figurationen kolonialer Ambivalenz

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selbst in Bewegung sei: Es strecke sich nämlich gen Osten und Süden aus («celle qui s’avance davantage, tant vers l’orient que vers le midi principalement»56) und war in der Antike – nicht zuletzt auf Herodot zurückgehend – gar ein Sammelbegriff für viele Länder in Afrika, Asien und Indien. Damit stoßen der moderne Enzyklopädist und der moderne Geograph an ihre Grenzen: le nom d’Ethiopie est commun à divers pays d’Asie & d’Afrique ; voilà pourquoi ils ont donné si souvent le nom d’Indiens aux Ethiopiens, & le nom d’Ethiopiens aux véritables Indiens. […] Les Grecs s’embarrassant peu de la science géographique, nommerent Ethiopiens tous les peuples qui avoient la peau noire ou basanée: c’est pour cela qu’ils appellerent les Colches Ethiopiens, & la Colchide Ethiopie.57

Seine Bewohner seien in der Antike gar bekannt als «deux sortes d’Ethiopiens, ceux d’Asie & ceux d’Afrique». Nach der Erörertung der richtigeren oder falschen Benennung der Äthopier führt de Jaucourt die Geschichtlichkeit des Volkes und die damit einhergehende Hierarchisierung gegenüber den Ägyptern ein. L’Ethiopie est illustre dans l’antiquité à plusieurs égards ; & comme il ne se trouve guere sous le ciel aucun peuple (ainsi qu’il n’y a presque aucune grande maison) qui ne se fasse gloire à-présent, ou qui ne se soit autrefois vanté d’être plus ancien que ses voisins, les Ethiopiens disputerent aux Egyptiens la primauté de l’ancienneté, & ils étoient fondés à la prétendre suivant M. l’abbé Fourmont.58

An dieser Stelle erläutert de Jaucourt die zeitgenössischen Kenntnisse der Geographen die eher als Meinungen zu bezeichnen sind und deren Fundierung (und damit Wissenschaftlichkeit) fragwürdig sei: «Nos géographes ne s’accordent point sur les pays que l’on doit nommer l’Ethiopie ; il me paroît seulement que l’opinion la plus reçûe, fondée ou non, donne pour bornes à l’Ethiopie […]».59 In der Perspektive der Kontrapunktik zeigt sich hier nicht nur die souveräne Ausformulierung der Unsicherheit über die Lokalisierung des afrikanischen Landes, über die divergierenden Positionen der Geographen oder die Solidarisierung und Indienstnahme von «nos géographes». Hier zeigt sich auch die relativierende Konturierung der Wissensbestände in doppelter Unterstreichung: durch «il me paraît seulement que» und «fondée ou non». Diese Relativierung des Wissens ist in der Massierung als eine Geste des Insistierens zu

56 Louis de Jaucourt: Ethiopie, in: Denis Diderot/Jean Le Rond d’Alembert (Hg.): Encyclopédie (ENCCRE). Bd. 6, S. 54. 57 Ebd. 58 Ebd. 59 Ebd.

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lesen, die das Wissen, das so unsicher ist, mit allen Mitteln an die Definitionsmacht binden und in die Encyclopédie einschleusen will. Der enzyklopädische Erzähler der hier sogar von inhaltlichen Argumenten absehen und mit der Quantität bzw. der meistakzeptiertesten Meinung, «l’opinion la plus reçûe», arbeiten muss, zeigt gleichzeitig die Möglichkeit und die dringliche Notwendigkeit der Wissenslegitimierung und enzyklopädischen Einbettung des Wissens als Forschungsposition – und nicht als Forschungsinhalt! – an.

Sprechen und erzählen: Sprachvermögen Die Sprachfähigkeit stellt den enzyklopädischen Erzähler vor einige Herausforderungen. An der Fähigkeit zur Sprache, im Gegensatz zu animalischen Lauten, macht sich die Menschlichkeit des kolonialen Anderen aus. Problematisch stellt es sich nun für den enzyklopädischen Erzähler dar, wenn er sich fremdsprachlichen Ausdrücken gegenübersieht. Sind dies sprachliche Laute oder animalische? Und wenn dem kolonialen Anderen eine Sprache zugestanden wird und er menschliche Attribute zuschrieben bekommt, wie lässt sich über ihn erzählen, wenn der europäische philosophe ihn nicht verstehen kann? Wenn der koloniale Andere über seine Sprachfähigkeit als Mensch identifizierbar ist, aber nicht verstanden werden kann, muss der enzyklopädische Erzähler narrative Verfahren finden, um eine Verständnis- oder gar eine Kommunikationssituation herzustellen (vgl. dazu die Artikel zu den Hurons, Hottentots, transversale Einträge zur Sprachfähigkeit). In dieser Hinsicht werden in einigen Einträgen mündliche Redebeiträge des kolonialen Anderen inszeniert, in denen er direkt oder indirekt zu Wort kommt, wie bereits in den narratologischen Analysen zu den machtvollen Redeinszenierungen ausgeführt wurde. Welche ambivalenten Dimensionen sich in der Inszenierung von Sprache und Kommunikationssituationen ausmachen lassen in einer kontrapunktischen Lektüre, wird weiter unten ausgeführt (vgl. Kapitel 2.2.2.1).

Erinnern und erzählen. Geschichtsbewusstsein Im vorangegangenen Kapitel zu den Analysen der machtvollen Konstruktionen der Geschichtserzählungen und Mythologien der kolonialen Anderen ist bereits ein Spektrum an Möglichkeiten aufgezeigt worden, innerhalb derer dem kolonialen Anderen eine eigene Geschichte und ein Geschichtsbewusstsein zugestanden werden: von der Absenz einer eigenen Mythologie über eine Ableitung der Geschichte anderer Völker aus der europäisch-griechischen Mythologie heraus, über exotisch-schockierende Erzählungen über grausame Handlungen von Königinnen und Despoten bis hin zur Eloge gewisser Völker, die der enzyklopädische Erzähler nebst ihrer Wissensquellen untereinander um die Vormachtstel-

2.2 Figuren und Figurationen kolonialer Ambivalenz

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lung ringen lässt, wer sich als das älteste Volk bezeichnen könne (wie etwa im Eintrag zu den Chaldäern60). In allen Fällen ist der inszenatorische und machtvolle Gestus des enzyklopädischen Erzählers sichtbar, der dem kolonialen Anderen eigene Gründungsmythen abspricht oder zutraut, zuweist oder zuschreibt und der sich auf oftmals disparate Quellenlagen einen Reim machen muss. Allerdings sind auch diese Geschichtserzählungen der kolonialen Anderen und ihr historisches Bewusstsein eine ambivalentere Angelegenheit, als es zunächst den Anschein hat. Wie schon ausgeführt wurde, sind die enzyklopädischen Darstellungen zum Geschichtsbewusstsein, zu Mythen und Erinnerungskulturen der kolonialen Anderen in einen universalgeschichtlichen Diskurs eingebettet und warten deshalb immer wieder mit stadientheoretischen, zivilisatorischen und fortschrittstheoretischen Argumentationslinien auf (vgl. Kapitel 2.1.1.1); aus der Sicht der machtvollen Wissenskonstruktionen sind dies massive Hierarchisierungs- und Diskriminierungsdiskurse. Aus der Perspektive der Kontrapunktik aber ist auch hinsichtlich der historiographischen bzw. geschichtsphilosophischen Selbstkonstruktion festzuhalten, dass die Verbindung zum kolonialen Anderen, der als eine Art evolutionäre Referenz fungiert, nicht nur eine der Absetzung, sondern auch eine der Reziprozität ist. Auf diesen Punkt wird detaillierter im Rahmen der Projektionsfiguren in Kapitel 2.2.1.2 eingegangen, in denen die alteritären Projektionen auch als kontrapunktische Reflektionen funktionieren. Wissen und können. Wissenschaft und Technik Technische und geistige, vor allem: philosophische Errungenschaften des kolonialen Anderen sind für den enzyklopädischen Erzähler brisante Felder der Alteritätskonstruktionen. Im vorangegangen Kapitel wurde deutlich, dass die kolonialen Anderen zwar in ihrem Wissen und Können wertgeschätzt werden, die Definitionsmacht über die Grenze zwischen Wissen und Aberglaube, zwischen Wissen und Nicht-Wissen aber immer auf der Seite des Europäers liegt. Ob es sich bei den Handlungen und Überzeugungen des kolonialen Anderen um Wissen oder um Aberglaube handelt, um Können und Technik oder bloße, unverständliche bricolage: Dies entscheidet der europäische philosophe, indem er benennt, beschreibt, valorisierende Attribute hinzufügt o. ä. Die ambivalente Figur in diesen Beschreibungen ist die der Überraschung: Auffällig häufig operieren die Encyclopédie-Einträge mit expliziten Überraschungsmomenten, die sowohl das Fremdbild verändern als auch die europä-

60 Vgl. [Denis Diderot]: Chaldéens, (Philosophie des), in: Ders./Jean Le Rond d’Alembert (Hg.): Encyclopédie (ENCCRE). Bd. 3, S. 20–23.

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ische Superiorität nicht unangetastet lassen. Zwei Formen lassen sich dabei differenzieren: einerseits die staunende Überraschung darüber, dass der koloniale Andere auch in einem europäisch-(vor)szientifischen Sinne über Wissen verfügt; andererseits die Verunsicherung über die Originalität des europäischen Denkens und Wissens in Anbetracht historischer Wissenstransfers. Das Moment des Staunens liegt u. a. darin begründet, dass dem kolonialen Anderen in der Regel ein vorrationales Denken, mit Lévi-Strauss gesprochen: eine pensée sauvage, zugeschrieben wird.61 Dieses wilde Denken impliziert Aberglaube und Erklärungsmuster, die naturwissenschaftliche Vorgänge metaphysisch erklären. Dass nun diese kolonialen Anderen zu technischen Errungenschaften gekommen sind (vgl. bspw. im Eintrag Machine, in dem die Überraschung der spanischen Konquistadoren artikuliert wird: «les Espagnols […] furent surpris qu’un peuple qu’ils croyoient sauvage & ignorant, fût parvenu à élever des masses énormes»62), lässt sich zwar mit einer generellen und universellen anthropologischen Fertigkeit erklären, stellt aber dennoch die Überlegenheitsansprüche des Europäers durchaus in Frage. Und da diese Überlegenheitsansprüche sich auf den alleinigen Anspruch auf zivilisatorischen Fortschritt und rationale Denkoperationen einerseits stützen und andererseits das europäische Selbstbild stabilisieren und Überlegenheitsansprüche legitimieren, stellt die Entdeckung technischer, quasi szientifischer Fähigkeiten beim kolonialen Anderen das eigene Wissens- und Selbstverständnis in Frage. Das ambivalente Moment liegt weder darin, den kolonialen Anderen auch als wissend zu konstruieren, noch liegt es in einer Selbstkritik durch den Einsatz des wissenden, wilden Anderen. Die Ambivalenz liegt in der Gleichzeitigkeit von technischer Überlegenheit und Unterlegenheit, von einer pensée sauvage und einer pensée ratio-technique, durch die es für die Konstruktion kultureller Alterität unmöglich wird, in (kolonial) binären kulturellen Mustern und Klischees zu bleiben. Der koloniale Andere stellt durch die technischen Errungenschaften, durch Kenntnisse in Medizin oder Naturgeschichte unter Beweis, dass eine Art raison barbare63 existiert, die als aufklärerisch-oxymorotische Figur Rationalität auch beim kolonialen Anderen erklärbar macht, der aber nicht – im vermeintlichen

61 Vgl. Claude Lévi-Strauss: La pensée sauvage, Paris: Plon 1962. 62 Jean Le Rond D’Alembert: Machine, in: Denis Diderot/Ders. (Hg.): Encyclopédie (ENCCRE). Bd. 9, S. 794–795, S. 794. 63 Der Begriff dient hier dezidiert der Illustration des ambivalenten Verhältnisses von Wissen und Nichtwissen bzw. Aberglauben in der Konstruktion des kolonialen Anderen. Eine konzeptuelle Linie zur Verwendung des Begriffs – etwa in Corneilles Theaterstück Ariane von 1672 (Thomas Corneille: Ariane, Tragédie en Cinq Actes, 1757, in: http://mdz-nbn-resolving.de/ urn:nbn:de:bvb:12-bsb10098571-1 (28. 10. 2019) – ist nicht angelegt und kann nicht weiterverfolgt werden.

2.2 Figuren und Figurationen kolonialer Ambivalenz

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Gegensatz zum aufgeklärten Europäer – Metaphysik, Spiritualität oder Aberglaube hinter sich lässt. Diese rational-irrationale bricolage, wie diese Welterklärungsformen mit Lévi-Strauss beschreibbar wären,64 hat ein hohes Maß an kultureller Ambivalenz in sich, das, wie bereits ausgeführt, die kategoriale, systematische und vor allem dialektische Einordnung in einem enzyklopädischen Artikel erschwert. Die zweite ambivalente Figur ist die des ‹nomadischen Wissens›, also des Wissenstransfers zwischen unterschiedlichen Völkern und – besonders aufschlussreich für die vorliegenden Fragestellungen – zwischen Europäern und Außereuropäern. Dem Wissenstransfer liegen schon implizit all jene Wissensobjekte und technischen Fertigkeiten zugrunde, die im vorangegangenen Kapitel zu den Machtanalysen als transkontinentale Wissensobjekte untersucht wurden wie bspw. Rechenfähigkeit, Wagen, Bogen, Barke, Kanu etc. (vgl. Kapitel 2.1.1.1). Hier generiert sich die enzyklopädische Instanz oftmals als Ausgangs- oder Orientierungspunkt für die global omnipräsenten Phänomene. Sie zeigt durchaus selbstkritisch, aber immer noch auf der Seite der Wissenden, die Interdependenzen zwischen den europäischen Wissenschaften und Erkenntnissen der großen Philosophen und außereuropäischen Wissensbeständen auf. Im Eintrag Barbares wurden zahlreiche Wissenschaften, bezeichnenderweise in einer belehrenden, mündlichen Rede, ja nachgerade ihrer Eurozentrik65 beraubt: Astronomie, Geometrie, Schriftsprache, aber auch Magie, Traumdeutung etc. haben außereuropäische, im Eintrag: außerchristliche Ursprünge.66 Damit aber sind die Wissensbestände nicht nur von einem Kontinent und einem Volk zum anderen gewandert, sondern sie führen in dieser Argumentationslinie auch den Anspruch auf Besitz durch eine Nation (oder eine Glaubensgemeinschaft) ad absurdum.

Wider die koloniale (Definitions-)Macht: Rebellen und Zwischenfiguren Die kontrapunktischen Lektüren legen aber nicht nur die Ambivalenzmomente in den Mikrostrukturen der enzyklopädischen Erzählungen des kolonialen Anderen frei. Die Widerstandsmomente, die insbesondere Said unter diesem Konzept im Blick hat, sind auch an Widerstandsfiguren geknüpft. In der Encyclopédie kommen demgmäß auch ambivalente Figuren vor, die in ihrer Vieldeutigkeit explizit ausgestellt sind und widerständig im Hinblick auf die machtvollen kolonialen Wissensdiskurse funktionieren. Es sind dies einerseits Widerständler und

64 Vgl. Claude Lévi-Strauss: La pensée sauvage. 65 Wie bereits im Kapitel 2.1.1.1 ausgeführt ist das Ziel der Kritik hier sogar der Antichristianismus. 66 Vgl. Abbé Claude Yvon/François Vincent Toussaint: Barbares, S. 68–69.

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2 Macht und Ambivalenz in den Narrationen des kolonialen Anderen

Rebellen. Andererseits sind es aber auf epistmologischer Ebene auch jene kolonialen Anderen, die sich als ‹Zwischen-Figuren› eindeutigen Kategorien nicht zuweisen lassen bzw. die Differenzziehung zwischen als binär gefassten Konzepten, Identitäten oder Attributen in Frage stellen. In der Encyclopédie finden sich explizite Widerstandsfiguren (wenn auch eher selten), die als Rebellen gegen die europäische Kolonisierung bezeichnet werden. Dabei richtet sich der Hass und das Kriegertum gegen die spanische Krone – und hier zeigt sich einmal explizit der Bedrohungscharakter des Kriegertums, das sich nicht nur gegen die Nachbarn, sondern vor allem gegen die europäischen Invasoren richtet. Die kriegerischen Patagonier etwa richten ihren Hass gegen die Spanier (vgl. weiter oben): Les Patagons qui habitent les contrées voisines de la montagne des Cordilieres sont trèsbelliqueux, & haïssent mortellement les Espagnols, & leur font une guerre continuelle ; ils [...] montent à cheval comme à-peu-près nos houssards d’Europe. [...] Ils n’ont point de demeures fixes, sont errans, & par-là même inaccessibles aux Espagnols ; ils font de tems en tems des courses sur les frontieres espagnoles, enlevent le bétail & les habitans ; mais de tous les prisonniers qu’ils font, ils ne gardent que les femmes & les enfants pour en faire des esclaves, & tuent le reste.67

Interessant ist in diesem Artikel, dass die Patagonier nostrifiziert werden: Sie werden einerseits mit den europäischen Husaren verglichen, andererseits machen sie ihre ‹Einkäufe› an Vieh und Gefangenen aufseiten der spanischen Besitzungen und bedeuten weitestgehend Lebensgefahr. Die Widerstandsformen sind vielfältig: Da wehren sich Völker gegen Steuerabgaben, verwehren sich ‹humanen› Naturgesetzen und geben sich der Anthropophagie, der Polygamie oder der Anbetung wilder Gottheiten hin. Dem enzyklopädischen Erzähler obliegt dann die Aufgabe, den Widerstand gegen Kolonialmächte und gegen zivilisatorische Maßstäbe überhaupt zu thematisieren und gleichzeitig zu verurteilen. Exemplarisch seien etwa die afrikanischen Circoncellions oder Scotopistes aus dem 15. Jahrhundert genannt, die in jeglicher Hinsicht aus Ordnung Unordnung68 machen: Sie streunen in der Gegend umher 67 Louis de Jaucourt: Patagons, Les, in: Denis Diderot/Jean Le Rond d’Alembert (Hg.): Encyclopédie (ENCCRE). Bd. 12, S. 160. 68 Zum désordre äußert sich Diderot in seinem Eintrag Encyclopédie: «Mais en général les inventions & les idées nouvelles introduisant une disproportion nécessaire ; & la premiere édition étant celle de toutes qui contient le plus de choses, sinon récemment inventées, dumoins aussi peu connues que si elles avoient ce caractere, il est évident & par cette raison & par celles qui précedent, que c’est l’édition où il doit régner le plus de désordre ; mais qui en revanche montrera à-travers ses irrégularités un air original qui passera difficilement dans les éditions suivantes.» (Denis Diderot: Encyclopédie, S. 641).

2.2 Figuren und Figurationen kolonialer Ambivalenz

349

und rächen Ungerechtigkeiten, indem sie etwa Sklaven freilassen oder Schuldnern ihre Schulden erlassen: «se donnant pour vengeurs publics des injures & réparateurs des injustices, ils mettoient en liberté les esclaves sans la permission de leurs patrons, déclaroient quittes les débiteurs comme il leur plaisoit, & commettoient mille autres insolences.»69 Sie bekämpfen auch Katholiken und zeichnen sich vor allem durch ein perfides Märtyrersystem aus: Un faux zele de martyre les porta à se donner la mort ; les uns se précipiterent du haut des rochers, ou se jetterent dans le feu ; d’autres se couperent la gorge. Les évêques ne pouvant par eux-mêmes arrêter ces excès de fureur, furent contraints d’implorer l’autorité des magistrats. On envoya des soldats dans les lieux où ils avoient coûtume de se répandre les jours de marchés publics: il y en eut plusieurs de tués, que les autres honorerent comme de vrais martyrs. Les femmes perdant leur douceur naturelle, se mirent à imiter la barbarie des Circoncellions ; & l’on en vit qui, sans égard pour l’état de grossesse où elles se trouvoient, se jetterent dans des précipices.70

Beängstigend ist bei diesen Märtyrer-Praktiken sowohl der Umstand, dass die Patagonier diese Riten wider menschliches und besseres Wissen vollziehen, als auch die Tatsache, dass selbst die Kirchenmänner vor Ort diesen «excès de fureur» keinen Einhalt gebieten können. Damit wird hier menschliches Handeln beschrieben, das zwar aus der Sicht der Patagonier tradiert und sinnvoll erscheinen muss, dem aber weder mit menschlichem Verstand noch mit kirchlicheuropäischer Autorität beizukommen ist. In dieser Passage artikuliert sich eine doppelte Gefahr: jene, die von diesen Vernunft- und Humanismusargumenten unzugänglichen Wilden ausgeht und jene, die spezifisch für die Europäer und ihr Kolonialprojekt besteht. Ergo: Die Bedrohung, die von den kolonialen Anderen ausgeht, die uneindeutige und kontingente Verhaltensweisen an den Tag legen, wird evoziert durch jene Menschen, die irrational an eine Gottheit glauben und Priester, die Ämter bekleiden/missbrauchen sowie Gläubige, die das mitmachen; durch Menschen, die ihre Haut/-Farbe verändern; durch Menschen, die sich körperlicher Extase etwa im Tanz hingeben; durch Menschen, die sich zu Despoten aufschwingen, um ein Volk zu unterjochen und gleichzeitig durch ihre willfährigen, unmündigen Untertanen; durch Menschen, die Tod bringen in Form von Menschenopfern; durch Menschen, die als Nomaden nicht an einem Ort bleiben und sich damit zugehörig fühlen bzw. sich einem Staat/Nation/Gemeinschaftsgefüge unterordnen; durch Menschen, die man nicht versteht, die nicht oder

69 Edmé-François Mallet: Circoncellions ou Scotopites, in: Denis Diderot/Jean Le Rond d’Alembert (Hg.): Encyclopédie (ENCCRE). Bd. 3, S. 458. 70 Ebd.

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2 Macht und Ambivalenz in den Narrationen des kolonialen Anderen

anders sprechen; durch Menschen, die eigene Geschichtserzählungen und Kosmologien entwickeln; durch Menschen, die eigene Technik und Wissensordnungen schaffen. Diese Aufzählung nimmt noch einmal die Alteritätskonstruktionen aus den vorangegangenen Diskursanalysen auf, zeigt aber in einer Perspektive, die den kolonialen Anderen als widerständiges Moment ins Zentrum stellt, dass der europäische philosophe abwehren und kontrollieren, einordnen und festschreiben muss, um das Gefahrenpotenzial, das von den kolonialen Anderen nur qua Spiegelung und reziproker Beziehung zum Europäer ausgeht, zu bannen. In dieser kontrapunktischen Perspektive ist der philosophe gleichzeitig in einer Position der überschauenden und machtvollen Einordnung und Unterjochung des kolonialen Anderen und in einer, die mit Abwehr, Kontrollverlustängsten, Sprachlosigkeit, Unsicherheit ob Quellenlage, Wissen und Wahrheit einhergeht. Der koloniale Andere wiederum ist nicht mehr eindeutig als stummes Wissensobjekt bestimmbar. Anders gesagt: Dringt der koloniale Andere in die Encyclopédie ein, so hat der enzyklopädische Erzähler einiges zu tun, ihn narrativ, epistemologisch und kolonial-identifikatorisch einzuhegen und die eigenen Ängste im Zaum zu halten. Und diese Affekte von unbehaglicher Unsicherheit, denen sich der philosophe aussetzen muss, werden oftmals insbesondere durch undefinier- und ungreifbare Zwischenwesen evoziert. Zwischenwesen: Ambivalente Figuren als Tiermenschen, Chimären und Phantasievölker. Diese problematische Mittlerposition kann zwischen Geschlechtern (etwa Androgyne, Hermaphroditen) oder Kulturen/Ethnien (in der Encyclopédie oftmals als rassische Figur zwischen den Hautfarben) positioniert sein, zwischen Moral und Normen (etwa Batard, Charlatan, Jongleur), zwischen Mensch und Tier (etwa Tiermenschen und Menschen mit animalischen Körperteilen) oder zwischen Wahrheit und Fiktion (etwa Amazonen, Astomen).71 Zwischenfiguren, die sich in der Grauzone zwischen medizinischem Wissen und Aberglauben befinden und kolonialer Provenienz sind, ziehen oftmals Reflexionen nach sich, die zwischen redlichem Wissen und betrügerischem, durchaus manipulativ eingesetztem Aberglauben/vorgegaukeltem Wissen zu unterscheiden suchen wie exemplarisch beim Charlatan und dem Jongleur. Beide Figuren beziehen ihr Wissen aus ihren (angeblichen) Reisen nach Nordamerika, von wo sie unlauteres Wissen mitbrachten und nun mit falschem medizini-

71 Diese problematischen kategorialen Einordnungen sind auch im Hinblick auf jenes Phänomen zu finden, das Gipper als die (omnipräsente) Ästhetik des Monströsen bezeichnet hat. Im Folgenden soll es aber spezifisch um das koloniale Monströse gehen, also um jene Zwischenwesen, bei denen sich Exotisierung und Uneindeutigkeit überkreuzen.

2.2 Figuren und Figurationen kolonialer Ambivalenz

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schem Wissen vortäuschen, Krankheiten heilen zu können. Dabei werden weite Reisen und geheimes Wissen aus der Ferne vermengt mit Abenteuergeschichten von Monstern, damit das ‹vulgäre› Volk staunt und dem Charlatan glaubt: Comme rien n’est plus propre pour en imposer au vulgaire, que d’étonner son imagination & entretenir sa surprise, les charlatans des îles britanniques se font annoncer sous le titre de docteurs nouvellement arrivés de leurs voyages, dans lesquels ils ont exercé la Médecine & la Chirurgie par terre & par mer, en Europe & en Amérique, où ils ont appris des secrets surprenans, & d’où ils apportent des drogues d’une valeur inestimable pour toutes les maladies qui peuvent se présenter. Les uns suspendent à leurs portes des monstres marins farcis de paille, des os monstrueux d’animaux, &c. ceux-ci instruisent le public qu’ils ont eu des accidens extraordinaires à leur naissance, & qu’il leur est arrivé des desastres surprenans pendant leur vie ; ceux-là donnent avis qu’ils guérissent la cataracte mieux que personne, ayant eu le malheur de perdre un oeil dans telle bataille, au service de la patrie. Chaque nation a ses charlatans ; & il paroît que par-tout ces hommes mettent autant de soin à étudier le foible des autres hommes, que les véritables Médecins à connoître la nature des remedes & des maladies. […] Cet article est l’extrait d’un excellent mémoire de M. le Chevalier DE JAUCOURT, que les bornes de cet ouvrage nous forcent à regret d’abréger.72

Im Gegensatz zu diesem universellen Charlatan («Chaque nation a ses charlatans») wird der Jongleur als autochthone Figur der ‹Wilden Amerikas› verortet. Er stellt unter der Wissenkategorie «Divination» jene Figur dar, die nicht nur Krankheiten heilen, sondern auch mit Geistern sprechen, in die tiefste Vergangenheit blicken, Götter für Kriege und die Jagd wohlgesonnen stimmen und mit Tieren sprechen kann: Jongleur, (Divination) magiciens ou enchanteurs fort renommés parmi les nations sauvages d’Amérique, & qui font aussi parmi elles profession de la Médecine. Les jongleurs, dit le P. Charlevoix, font profession de n’avoir commerce qu’avec ce qu’ils appellent génies bienfaisans,& ils se vantent de connoître par leur moyen ce qui se passe dans les pays les plus éloignés, ou ce qui doit arriver dans les tems les plus reculés ; de découvrir la source & la nature des maladies les plus cachées, & d’avoir le secret de les guérir ; de discerner dans les affaires les plus embrouillées le parti qu’il faut prendre ; de faire réussir les négociations les plus difficiles ; de rendre les dieux propices aux guerriers & aux chasseurs ; d’entendre le langage des oiseaux, &c.73

Die normative Beurteilung aber scheint eindeutig: Jongleure werden als «imposteurs» bezeichnet. Staunend werden jene gutgläubigen Menschen geschildert, die ihnen Glauben schenken und sich betrügen lassen: 72 N. N.: Charlatan, in: Denis Diderot/Jean Le Rond d’Alembert (Hg.): Encyclopédie (ENCCRE). Bd. 3, S. 317. 73 N. N.: Jongleur, in: Denis Diderot/Jean Le Rond d’Alembert (Hg.): Encyclopédie (ENCCRE). Bd. 8, S. 875–876, hier S. 875.

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Quoiqu’on ait vu naître ces imposteurs, s’il leur prend envie de se donner une naissance surnaturelle, ils trouvent des gens qui les en croyent sur leur parole, comme s’ils les avoient vus descendre du ciel, & qui prennent pour une espece d’enchantement & d’illusion de les avoir crus nés comme les autres hommes.74

Ihr Kerngeschäft bestehe in Weissagungen und medizinischen Behandlungen. In Trance spreche der Jongleur mit seltsamen Lauten, die der enzyklopädische Erzähler erstaunlich vorsichtig als möglichen Täuschungsversuch ausweist: Le langage qu’ils parlent dans leurs invocations n’a rien de commun avec aucune langue sauvage ; & il est vraisemblable qu’il ne consiste qu’en des sons informes, produits sur le champ par une imagination échauffée, & que ces charlatans ont trouvé le moyen de faire passer pour un langage divin ; ils prennent différens tons, quelquefois ils grossissent leurs voix, puis ils contrefont une petite voix grêle, assez semblable à celle de nos marionnettes, & on croit que c’est l’esprit qui leur parle.75

In der Folge erscheint sogar die Möglichkeit, dass einige Weissagungen kein Betrug oder Zufall waren: «Cette circonstance & quelques prédictions singulieres […] font penser qu’il entre quelquefois du surnaturel dans leurs opérations, & qu’ils ne devinent pas toujours par hasard.»76 So übernehmen sie in ihren Völkern die Rolle der Schlangenbeschwörer, der Übersetzer der Götter, der Traumdeuter, um wiederum die Kriegsgeschicke des Volkes positiv zu beraten und zu lenken. Ferner ist der Charlatan ein Mediziner, der eine interessante Mischung aus fundiertem Wissen («des principes fondés sur la connoissance des simples, sur l’expérience & sur la conjecture»)77 und Aberglaube und Scharlatanerie exerziert. Relativ detailliert wird in der Folge beschrieben, auf welche Weise der Jongleur ein medizinisches Spektakel u. a. mit toten Tieren inszeniert, um Menschen an ein Wunder glauben zu lassen. Aber der Jongleur agiert auch als eine Art Antwort auf ein Krankheitsbild, das sich der Patient einbildet. «Si le malade se met en tête que son mal est l’effet d’un maléfice, alors toute l’attention se porte à le découvrir, & c’est le devoir du jongleur.»78 Gleichwohl bewertet der Artikel das Verhalten des Jongleurs (recht abwehrend). Er bezeichnet ihn als Besessenen und nicht als Sprachrohr der Götter, gibt aber gleichzeitig zu, dass seine Diagnosen mitunter recht genau seien: «Alors plein de sa prétendue divinité, & plus semblable à un énergumene qu’à un homme inspiré du ciel, il pro-

74 75 76 77 78

Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd.

2.2 Figuren und Figurationen kolonialer Ambivalenz

353

nonce d’un ton affirmatif sur l’état du malade, & rencontre quelquefois assez juste.»79 Erst am Ende des Artikels verortet der enzyklopädische Erzähler den Jongleur endlich konkreter und gibt Beispiele aus Arkadien und dem Volk der Natchez, die sehr detailliert unterschiedliche Praktiken beschreiben und eine Paraphrase der entsprechenden Passagen der «Histoire de la Nouvelle France/Journal d’un voyage d’Amérique»80 darstellen. Auffällig ist, dass der enzyklopädische Erzähler sich hier mit bewertenden Kommentaren sehr zurückhält. Eigenartig unentschlossen beschreibt er diese Figuren einerseits als Betrüger und zeichnet recht detailliert das Schauspiel nach, das sie für Untersuchungen oder Weissagungen veranstalten. Andererseits aber räumt der Artikel insbesondere beim Jongleur ein, dass sich doch einige Aussagen als nicht so falsch herausstellen. Diese Unentschlossenheit ist lesbar als die tolerante und enzyklopädische Reaktion und Haltung gegenüber dem kolonialen Anderen. Sie ist aber auch als Ambivalenzmarker zu verstehen, indem sich der enzyklopädische Erzähler nicht determinierend entscheiden kann, weil die Grenzgänge: zwischen Medizin und Aberglaube, zwischen Realität und Phantasie, zwischen Betrug und (wissenschaftlichem und handwerklichem) Können zu zahlreich sind. Weiterhin werden jene Menschen, deren Geschlecht nicht eindeutig bestimmt werden kann, seit der Antike nach Afrika verortet (salopp formuliert gar ausgelagert) wie etwa die Androgynen: Androgynes, (Géog. anc.) anciens peuples d’Afrique dont Aristote & Pline ont fait mention. Ils avoient, à ce qu’on dit, les deux sexes, la mammelle droite de l’homme, & la mammelle gauche de la femme.81

Die Überblendungen von Zwischenfiguren und kolonialen Exotismen gehen meist mit der Frage nach der Wahrheit einher. Die Frage «Mais y a-t-il de véritables hermaphrodites?» leitet mithin den Eintrag Hermaphrodite.82 Die Entscheidung über diese Frage wird dabei sehr explizit an den aufgeklärten Menschen («gens éclairés») geheftet, der eigentlich über diese Frage, die aus der natürlichen Abweichung, Metamorphose, Verwirrung und Vermischung der Geschlechter resultiert, in Zeiten der Aufklärung nicht mehr nachdenken dürfte:

79 Ebd. 80 Ebd., S. 876. 81 Denis Diderot: Androgynes, in: Ders./Jean Le Rond d’Alembert (Hg.): Encyclopédie (ENCCRE). Bd. 1, S. 448. 82 Vgl. Louis de Jaucourt: Hermaphrodite, in: Denis Diderot/Jean Le Rond d’Alembert (Hg.): Encyclopédie (ENCCRE). Bd. 8, S. 165–167.

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On pouvoit agiter cette question dans les tems d’ignorance ; on ne devroit plus la proposer dans des siecles éclairés. Si la nature s’égare quelquefois dans la production de l’homme, elle ne va jamais jusqu’à faire des métamorphoses, des confusions de substances, & des assemblages parfaits des deux sexes. […] Tout cela se trouve également vrai pour l’un & l’autre sexe: que la nature puisse cacher quelquefois la femme sous le dehors d’un homme, ce dehors, cette écorce extérieure, cette apparence, n’en impose point aux gens éclairés, & ne constitue point dans cette femme le sexe masculin.83

In gleichem Maße trägt die Eruierung der wissenschaftlichen Erkenntnisse zu keiner definitorisch-rationalen Antwort bei, da sie Wissen aus unterschiedlichen Ländern in beinahe anekdotischer Manier zusammenträgt, wie das italienische Mädchen, das zu Konstantins Zeiten zum Mann wurde; wie die hermaphroditischen Männer vom italienischen Anatom Colomobo. Es taucht aber auch der «L’hermaphrodite negre d’Angola» auf, der in London für Aufsehen gesorgt hatte, dennoch «ce cas est moins rare dans les pays brûlans d’Afrique & d’Asie, que parmi nous.»84 Hier wird also hervorgehoben, dass dieses Phänomen klimatologisch bedingt und in Afrika oder Asien weitaus häufiger anzutreffen sei. Nach weiteren Bezugnahmen auf unterschiedliche Quellen und durch Benennung der Personen selbst (Marguerite Malaure als eingewanderte Hermaphroditin in Paris 1693) kommt de Jaucourt zu dem Schluss, dass es sich um einfach erklärbare Krankheiten handele, die man zu heilen im Stande sei,85 und: Concluons donc, que l’hermaphrodisme n’est qu’une chimere, & que les exemples qu’on rapporte d’hermaphrodites mariés, qui ont eu des enfans l’un de l’autre, chacun comme homme & comme femme, sont des fables puériles, puisées dans le sein de l’ignorance & dans l’amour du merveilleux, dont on a tant de peine à se défaire.86

Hier wird nicht nur definitorisch entschieden, dass es sich bei diesen Phänomenen um Krankheiten handele, die man kurieren und dann in eine geschlechtliche Eindeutigkeit überführen kann, sondern hier wird der Hermaphrodit eindeutig ins Reich der Phantasie (und als Begriff auch in Allusion der antiken Mythologeie) als Chimäre, «fables puériles» und «dans le sein de l’ignorance & dans l’amour du merveilleux»87 verbannt. Während die Existenz der Androgynen und Hermaphroditen relativ eindeutig in das Reich der Phantasie verortet wird, scheinen die Zwischenfiguren, die

83 84 85 86 87

Ebd. Ebd. Vgl. ebd. Ebd. Ebd.

2.2 Figuren und Figurationen kolonialer Ambivalenz

355

sich durch die Mischung der Hautfarben ergeben, sehr wohl bei den unterschiedlichsten Völkern nachweisbar zu sein. Gleichwohl ist diese klassische Figur des (rassisch und teils auch rasssistisch konnotierten) ‹Mischlings› eine Herausforderung, da mit der Hautfarbe spezifische Bewertungen einhergehen, die auch die Beurteilung der Menschlichkeit berühren.88 So auch bei den afrikanischen Foules, über die so wenig bekannt ist, dass deren Benennung und religiös-zivilisatorische Zuordnung gleichermaßen schwierig erscheint. Hinsichtlich ihrer Hautfarbe jedoch werden sie in die Mitte zwischen Mauren und ‹Neger› gesetzt: FOULES, (Géog.) peuples d’Afrique dont les voyageurs écrivent le nom diversement, Faluppos, Feluppes, Floupes, & par les François Foules. Ces peuples habitent au nord & au midi du Sénégal ; mais d’ailleurs nous les connoissons si peu, que quelques voyageurs nous assûrent qu’ils sont mahométans & assez civilisés, tandis que d’autres prétendent qu’ils sont payens & sauvages. On convient en général que le pays des Foules abonde en pâturages, en dattes, & miel, & que ces peuples tiennent le milieu pour la couleur entre les Maures & les Negres, moins noirs que ces derniers, & plus bruns que les premiers.89

Definitorische Schwierigkeiten bereiten auch die Nègres blancs, die unter dem Eintrag Nègre behandelt werden. Sie seien laut Reisendenberichten nämlich nur so eine Art Schwarze: «Les Voyageurs qui ont été en Afrique, parlent d’une espece de negres»,90 die trotz Abstammung von schwarzen Eltern, weiß wie Europäer seien. Dies ließe sich auch nicht damit erklären, dass alle Schwarze ja weiß zur Welt kommen und dann schwarz würden, denn jene weißen Neger blieben ihr Leben lang weiß. Um die Anormalität pejorativ zu markieren und mit einer monströsen Morbidität zu attribuieren, spricht der enzyklopädische Erzähler hier von einem morbiden Weiß («On dit que ces negres blancs sont d’un blanc livide comme les corps morts ; leurs yeux sont gris, très-peu vifs, &

88 Vartija kommt zu der Erkenntnis, dass der Eintrag nicht nur Passagen der Buffon’schen Histoire Naturelle repetiert (um nicht zu sagen kopiert: «Nearly the whole of the article ‘Humaine espece’ is derived from Buffon’s Histoire naturelle and the chapter ‘Variétés dans l’espèce humaine’ in particular.» (Devin Vartija: Racial Hierarchy and Natural Equality: Contradictions and Ambiguities in Eighteenth-Century Encyclopaedias, S. 49), sondern den Buffon’schen Rassebegriff mit einer kulturalistisch-evolutionistischen, normativen Differenzierung zwischen primitiveren und entwickelteren Völkern angereichert (vgl. ebd., S. 50). 89 Louis de Jaucourt: Foules, in: Denis Diderot/Jean Le Rond d’Alembert (Hg.): Encyclopédie (ENCCRE). Bd. 7, S. 221. Dies wird im Eintrag Humaine Espece repetiert: «Il y a au nord & au midi du fleuve, des hommes qu’on appelle Foules, qui semblent faire la nuance entre les Maures & les Negres. Les Foules ne sont pas tout-à-fait noirs comme les Negres, mais ils sont bien plus bruns que les Maures.» (Denis Diderot: Humaine Espece, S. 346). 90 Formey, Jean Henri Samuel: Nègre, in: Denis Diderot/Jean Le Rond d’Alembert (Hg.): Encyclopédie (ENCCRE). Bd. 11, S. 76–79, hier S. 79.

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2 Macht und Ambivalenz in den Narrationen des kolonialen Anderen

paroissent immobiles»91). Er rückt sie animalisierend in die Nähe von Eulen («ils ne voient, dit-on, qu’au clair de la lune, comme les hibous»92) und verortet sie nach Afrika zu den Loango (am Ende des Eintrags werden auch Fälle in den Indes orientales denkbar): On prétend que l’on a trouvé pareillement des negres blancs dans différentes parties des Indes orientales, dans l’île de Borneo, & dans la nouvelle Guinée. Il y a quelques années que l’on montroit à Paris un negre blanc, qui vraisemblablement, étoit de l’espece dont on vient de parler. Voyez the modern part of an universal History vol. XVI pag. 293 de l’édition in-8 °. Un homme digne de foi a vu en 1740 à Carthagène en Amérique, un negre & une negresse dont tous les enfans étoient blancs, comme ceux qui viennent d’être décrits, à l’exception d’un seul qui étoit blanc & noir ou pie: les jésuites qui en étoient propriétaires, le destinoient à la reine d’Espagne.93

An dieser Stelle fällt die portugiesische Bezeichnung als Albinos und der Hinweis, dass diese Albinos vom Volk der Loango selbst verachtet und bekämpft würden. Dabei werden ihre Kampfhandlungen bezeichnenderweise in die Nacht verlegt. Neben der Animalisierung und Dämonisierung erfolgt schließlich die Diabolisierung:94 «Les negres ordinaires du pays appellent les negres blancs mokissos ou diables des bois.»95 Gleichwohl (oder aus diesem Grund) befänden sich einige weiße Neger auch am Hofe des Königs, um diesen als Priester und Magier zu beraten.96 Der enzyklopädische Erzähler gibt hier freimütig an, dass die Gelehrten in Erklärungsnöte kamen, wenn sie die Ursache der Hautfarbe erklären sollten: «Les savans ont été très-embarrassés de savoir d’où provenoit la couleur des negres blancs.»97 Nachdem unterschiedliche Hypothesen vorgestellt wurden und zudem ihr Stolz begründet wurde («Les Portugais ont essayé d’en faire passer quelques-uns dans leurs colonies d’Amérique pour les y faire travailler aux mines, mais ils ont mieux aimé mourir de faim que de se soumettre à ces travaux.»98), kommt der philosophe zu einem banalen und eher resignierten Schluss:

91 Ebd. 92 Ebd. 93 Ebd. 94 Eine ähnliche Dämonisierung, wenn auch in nüchtern-deskriptorischer Manier, findet sich im Eintrag zu den Gelons, den asiatischen und europäischen Pferdebluttrinkern (vgl. Louis de Jaucourt: Gelons, in: Denis Diderot/Jean Le Rond d’Alembert (Hg.): Encyclopédie (ENCCRE). Bd. 7, S. 544. 95 Formey, Jean Henri Samuel: Nègre, S. 79. 96 Vgl. ebd. 97 Ebd. 98 Ebd.

2.2 Figuren und Figurationen kolonialer Ambivalenz

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Quoi qu’il en soit, il paroît que l’on ne connoît pas toutes les variétés & les bisarreries de la nature ; peut-être que l’intérieur de l’Afrique, si peu connu des Européens, renferme des peuples nombreux d’une espece entierement ignorée de nous.99

In dieser Passage wird das Unwissen über die vielen Völker des afrikanischen Kontinents zwar offen zugegeben; allerdings deutet die Begrifflichkeit der «bisarreries» nicht nur als Synonym auf die Mutationen der Natur hin, sondern zeigt auch die Unsicherheit gegenüber den Seltsamkeiten der Welt an. Eine ähnliche bisarrerie ist überdies der weiße Wilde, etwa bei den asiatischen Bedas: Ce sont des sauvages blancs, fort adroits à tirer de l’arc. Ils apprêtent leur viande avec du miel ; ils la mettent avec cet assaisonnement dans un trou d’arbre, bouché d’un tampon, où ils la laissent pendant un an ; après quoi, ils l’en retirent & la mangent. Il y a beaucoup d’abeilles dans leurs forêts ; ils n’ont aucune demeure fixe ; ils errent, habitant tantôt un lieu tantôt un autre.100

Als Zwischenfigur dem weißen Wilden recht ähnlich sind auch die Mulatten, denen in der Encyclopédie ebenfalls ein eigener Eintrag gewidmet ist. Hier allerdings dient die elterliche Abstammung zur Beschreibung im spanisch-portugiesischen Kontext, während für den französischen Kolonialkontext eine rassi(sti)sche Zuordnung vorgenommen wird. Zudem wird etymologisch gleich zu Beginn die Tierwelt hinzugezogen (als Animalisierung und Biologisierung bzw. Naturalisierung) und knüpft den/die «mulatre» als «terme de voyageur» direkt an das Entdeckungs- und Kolonialwesen: Mulatre, s. m. & f. (Terme de voyageur) en latin hybris pour le mâle, hybryda pour la femelle, terme dérivé de mulet, animal engendré de deux différentes especes. Les Espagnols donnent aux Indes le nom de mulata à un fils ou fille nés d’un negre & d’une in dienne, ou d’un indien & d’une négresse. A l’égard de ceux qui sont nés d’un indien & d’une espagnole, ou au contraire, & semblablement en Portugal, à l’égard de ceux qui sont nés d’un indien & d’une portugaise, ou au rebours, ils leur donnent ordinairement le nom de métis,& nomment jambos, ceux qui sont nés d’un sauvage& d’une métive: ils different tous en couleur & en poil. Les Espagnols appellent aussi mulata, les enfans nés d’un maure & d’une espagnole, ou d’un espagnol & d’une mauresse. Dans les îles françoises, mulâtre veut dire un enfant né d’une mere noire, & d’un pere blanc ; ou d’un pere noir, & d’une mere blanche. Ce dernier cas est rare, le premier trèscommun par le libertinage des blancs avec les négresses. Louis XIV. pour arrêter ce desordre, fit une loi qui condamne à une amende de deux mille livres de sucre celui qui sera convaincu d’être le pere d’un mulâtre […].101

99 Ebd. 100 Denis Diderot: Bedas, in: Ders./Jean Le Rond d’Alembert (Hg.): Encyclopédie (ENCCRE). Bd. 2, S. 188. 101 Louis de Jaucourt: Mulatre, in: Denis Diderot/Jean Le Rond d’Alembert (Hg.): Encyclopédie (ENCCRE). Bd. 10, S. 853, Hervorhebungen K. S.

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2 Macht und Ambivalenz in den Narrationen des kolonialen Anderen

Es scheint, als versuche die enzyklopädische Instanz hier mittels Systematisierung Ordnung in das begriffliche wie generationelle Chaos zu bringen, indem er unterschiedliche Elternzusammensetzungen mit unterschiedlichen, spanischen oder portugiesischen Begriffen belegt und die juristische Regulierung erwähnt (die in der Folge des Eintrags aber als gescheitert beurteilt wird). Tatsächlich aber stellt der Encyclopédie-Eintrag auch gleichzeitig die Unmöglichkeit der definitorischen Beschreibung der Mulatten aus, indem er nicht nur offen mit dem Wort «chaos» operiert, sondern auch ihre physische Beschreibung nicht für eine Kategorisierung nutzen kann: «ils different tous en couleur & en poil».102 Und zudem liegt dieses Abstammungschaos auch noch an der libertinen Freizügigkeit der Weißen und ausnahmsweise einmal nicht in erster Linie an der Promiskuität der kolonisierten Frauen. In einer kontrapunktischen Perspektive aber ist dies nicht nur ein Ausdruck aufklärerischer Selbstkritik, nicht einmal ausschließlich als kolonialkritische Position gegenüber der kolonialen Gesetzgebung zu verstehen. In der dezidiert wissenspoetologischen Ausrichtung der kontrapunktischen Lektüre tritt an dieser Stelle auch die Reibungsfläche zwischen Möglichkeit und Unmöglichkeit der Wissenssystematisierung zutage: Die Ausdifferenzierung der unterschiedlichen Abstammungsvarianten führt demgemäß nicht zu einer klaren Einordnung, sondern mündet geradezu in eine wimmelnde Unübersichtlichkeit der ‹Kombinationen›. Kategorisierungen und Ordnungen – seien es enzyklopädische oder kolonialjuristische – verlieren ihre Aussage- und vor allem ihre Überzeugungskraft. Eine primär rassistisch argumentierte Zwischenfigur ist jene des Hottentotten. Im Eintrag Humaine espece wird erläutert, dass die Figur des Hottentotten doch nicht ganz so trennscharf vom Europäer abzugrenzen ist und dieser Andere sich – hier: in Bezug auf seine Hautfarbe – einer eindeutigen Kategorisierung eher entzieht: On pourrait les regarder dans la race des noirs comme une espece qui tend à se rapprocher des blancs, ainsi que dans la race des blancs, […] comme une espece qui tend à se rapprocher des noirs.103

Die Hottentotten werden zwar immer noch als Fremde markiert, jedoch sind sie nicht eindeutig als Schwarze oder Weiße einzuordnen. Hier scheint ähnlich wie in der Beschreibung des «nègre blanc» oder des Mulatten ihre Position die einer Art Zwischenstellung zu sein. Sie sehen, dass hier mit der spatialen Vokabel des «rapprocher» gearbeitet wird, die einerseits die Distanz zum kolonialen Ande-

102 Ebd. 103 Denis Diderot: Humaine Espece, S. 347.

2.2 Figuren und Figurationen kolonialer Ambivalenz

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ren in die Möglichkeit der Proximität vewandelt. Und andererseits gerade keine Position, keinen festen Ort, sondern eine Bewegung kennzeichnet. Eine Bewegung, die sich offenbar nicht recht definitorisch arretieren und im Modus von Binarismen einfangen lässt. Das Moment der Ambivalenz liegt hier also nicht in einer rassischen Gegenposition, sondern in der Zwischenpositionierung, die die vorhandenen Normen und Diskriminierungsmuster weder bestätigt noch offen kritisiert und auf diese Weise unterläuft. Eine solche kontrapunktische Lektüre, die in diesen rassisch markierten Zwischenfiguren Widerstandsmomente in der Indeterminiertheit durch die enzyklopädische Beschreibung erkennt, ist allerdings nicht ganz unproblematisch. Rassismus und Dehumanisierung als epistemologisches Ohnmachtsmoment zu begreifen, ist eine Lesart, die die realhistorischen und politischen Implikationen zu verkennen scheint. Die Machtasymmetrie fällt immer noch zugunsten des philosophe aus, der benennen und aus menschlichen Subjekten diskriminierte Wissensobjekte machen kann. Das will auch eine kontrapunktische Lektüre nicht leugnen, durch die Analyse widerständiger Momente gar kompensieren oder die Machtverhältnisse umkehren. Durch die Betonung der Ambivalenz in den epistemologischen Alteritätskonstruktionen (und seien sie noch so deutlich rassisch konnotiert und durch die Stigmatisierung physischer Merkmale xenophob) eröffnet sich eine Möglichkeit, koloniale Machtverhältnisse nicht nur affirmativ als asymmetrisch zwischen Kolonisiertem und Europäer, Wissensobjekt und philosophe, Europa und den kolonialen Besitzungen etc. zu denken. Der Ambivalenz-Begriff öffnet überhaupt erst die Möglichkeit des Zweifels an der uneingeschränkten, souveränen und stabilen (Definitions-)Macht des philosophe. Auf die kritische Reflexion der Ambivalenzlektüre wird im Schlussteil (Kapitel 3.1) zurückgekommen. Eine weitere Zwischenfigur ist jene, bei der dem philosophe die Entscheidung zwischen Mensch und Tier unmöglich ist oder schwerzufallen scheint. Es gibt hier in einen Diskurs des Monströsen eingelassen jene Wesen in der kolonialen Fauna, die als Tiere104 menschenähnliche Züge haben. Zu jenen Mensch104 Hier ließen sich – analog zu den Warengeschichten im Bereich des ökonomischen Diskurses in der Aufklärung – auch eine Vielzahl von Tiergeschichten erzählen, die durch das Kolonialprojekt und die Entdeckungsfahrten als Wissen, oder aber als reale Importe, nach Europa gelangten. Rhinozerosse, Elephanten, Tiger oder Papageien spielen dabei nicht nur eine Rolle als monströse Kuriosiäten in den Ausstellungen und Zoos, sondern auch als Projektionsflächen für Ängste, Mythen, als Krankheitsträger und damit als Bedrohung und Faszination zugleich (etwa Fledermaus, Rhinozeros, Tiger, Papagei etc.). Auffällig sind ebenfalls Schilderungen von Parasiten, die aus den Kolonien stammen und etwa durch Penetration der Haut Krankheiten verursachen. Dieses Bedrohungsszenario, das sich auch als kolonialistische Metapher lesen ließe, findet sich bspw. im Eintrag zu Guinea: «Presque tous les naturels de Guinée sont exposés à des dragonneaux, espece de vers qui entrent dans leur chair, & la rongent

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tieren105 zählen etwa das afrikanische Dabach, der Demoiselle de Numidie oder der Pesce-Donna. In Afrika lebt das wolfähnliche Dabach, das Menschenhände und -füße hat und überdies noch vor lauter Fleischgier die Toten aus ihren Gräbern zerrt. Auch hier findet sich am Ende des kurzen Eintrags die lapidare Feststellung, dass das alles sei, was man wisse, allerdings erstaunlicherweise ohne einen Kommentar über den Wahrscheinlichkeitsgrad dieser monströsen Beschreibung.106 Ein ähnlicher Fall ist der afrikanische Vogel Demoiselle de Numidie, der menschliche Bewegungen und Gesten imitiert. Ihn zu fangen ist daher denkbar einfach und wird in einer detaillierten, beinahe schon anekdotischen Beschreibung illustriert: On prétend qu’elle imite autant qu’elle le peut les gestes qu’elle voit faire aux hommes ; & on a rapporté que les chasseurs qui veulent prendre ces oiseaux, se frottent les yeux en leur présence avec de l’eau qu’ils tirent d’un vase, & qu’ensuite ils s’éloignent en emportant ce vase, auquel ils en substituent un autre pareil qui est plein de glu. Les demoiselles de Numidie viennent auprès du nouveau vase, & se collent les piés & les yeux avec la glu, en imitant les gestes qu’elles ont vû faire aux hommes.107

Hier ist durch den Modus der Imitation («qu’elle imite») immer noch deutlich, dass das Original und der Höhepunkt der Schöpfung immer noch der Mensch ist, denn an seine List kommt das Tier durch bloße Nachahmung nicht heran. Gleichwohl handelt es sich hier um einen besonderen Fall von Mimikry: Hier nähert sich das Tier dem Menschen auf eine Art und Weise an, die unheimlich wirkt. Damit ist aber ein Mechanismus alludiert, der in der postkolonialen Theoriebildung als kulturelle Mimikry (insbes. nach Bhabha) beschrieben wird. Und schließlich sei noch der Frauen-Fisch Pesce-Donna erwähnt, der in den kongolesischen Flüssen und Seen lebt und aufgrund seiner Physis – Kopfform, Zähne, lange Arme, Bauch, schillernde Schuppen, Bauch, der in einen Fischschwanz übergeht, und lange Haare – Vorbild für Fabelwesen wie Meerjungfrauen u. ä. war («ce sont peut-être des poissons de cette espece qui ont donné nais-

par des ulceres qu’ils y causent.» (Louis de Jaucourt: Guinée, in: Denis Diderot/Jean Le Rond d’Alembert (Hg.): Encyclopédie (ENCCRE). Bd. 7, S. 109. 105 Die klassische, mythologische Figur des Zentauren wird nicht mit kolonialistischen Stereotypen überblendet; es gibt einen vagen Hinweis auf seine mögliche Herkunft aus Ägypten, verbleibt aber in dieser antiken/vorzeitlichen Genese ohne weiteren Kommentar (vgl. Denis Diderot: Centaures, in: Ders./Jean Le Rond d’Alembert (Hg.): Encyclopédie (ENCCRE). Bd. 2, S. 820–821. 106 Vgl. N. N.: Dabach, in: Denis Diderot/Jean Le Rond d’Alembert (Hg.): Encyclopédie (ENCCRE). Bd. 4, S. 609. 107 Louis Jean Marie Daubenton: Demoiselle de Numidie, in: Denis Diderot/Jean Le Rond d’Alembert (Hg.): Encyclopédie (ENCCRE). Bd. 4, S. 818.

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sance aux fables des naïades, des sirènes, &c.»). Die Überblendung von Fabulösem und der Verortung in der kolonialen Welt (wie etwa bei den Androgynen) ist auch deutlich ausformuliert; aber auch die Unterscheidung zwischen naturwissenschaftlich-biologischem Wissen und der märchenhaften, fabulierenden Ableitung. Schließlich unterscheidet der Artikel zwischen unmenschlichen und menschlichen Umgangsweisen und Regungen gegenüber diesem Mensch-Fisch: Geht es um dessen Tötung und Verspeisung, so setzen sich die Afrikaner über den für Europäer unerträglichen Geschmack und – noch schlimmer – über die herzerweichenden Schreie hinweg.108 Doch die Enzyklopädisten müssen gar nicht erst in die koloniale Welt gehen, um monströse Mensch-Tier-Verbindungen beschreiben zu können. Denn sie lassen sich auch im europäischen Raum finden: allerdings eindeutig in das Reich der (europäischen) Märchen109 verortet und seit der Antike im kulturellen Gedächtnis Europas verankert. Exemplarisch seien die Harpien genannt, die als «monstres fameux dans la fable» seit der Antike bekannt sind. Für die Genese der Harpien werden nun mehrere Theorien expliziert, von denen eine einen Ursprung in Afrika behauptet: So seien die Harpien nichts anderes als Heuschrecken (hier klingt die biblische Plage nur vage an), die mit dem Wind aus Afrika und vom Roten Meer kamen. Mallet fügt dann im abschließenden, chiastischen Kommentar noch hinzu, dass die Transformation von Heuschrecken in Monster von den Dichtern («Poètes») durch bloße Imagination sehr einfach sei; dass aber die Reduktion der Monster zu schlichten Heuschrecken eine gelehrte Denkoperation erfordere: «Il n’a fallu aux Poëtes que de l’imagination, pour transformer des sauterelles en monstres ; mais il faut bien de la sagacité pour

108 Vgl. N. N.: Pesce-Donna, in: Denis Diderot/Jean Le Rond d’Alembert (Hg.): Encyclopédie (ENCCRE). Bd. 12, S. 449. 109 Einigen Tieren, die eindeutig in das Reich der Phantasie verortet werden, wird interessanterweise eine koloniale Provenienz zugeschrieben. So auch dem Einhorn, das Afrika zugeordnet wird und hier interessanterweise als schwarz beschrieben wird: «Licorne, s. f. (Hist. nat.) animal fabuleux: on dit qu’il se trouve en Afrique, & dans l’Ethiopie ; que c’est un animal craintif, habitant le fond des forêts, portant au front une corne blanche de cinq palmes de long, de la grandeur d’un cheval médiocre, d’un poil brun tirant sur le noir, & ayant le crin court, noir, & peu fourni sur le corps, & même à la queue. Les cornes de licorne qu’on montre en différens endroits, sont ou des cornes d’autres animaux connus, ou des morceaux d’ivoire tourné, ou des dents de poissons.» (N. N.: Licorne, in: Denis Diderot/Jean Le Rond d’Alembert (Hg.): Encyclopédie (ENCCRE). Bd. 9, S. 486, hier S. 586). Die Überblendung von Wissen, das sich aus Fabeln generiert, und afrikanischer Lokalisierung unterstützt die Unwahrscheinlichkeit und Exotik des Einhorns. Gleichwohl wird es nicht als Nicht-Wissen aus der Encyclopédie aussortiert, sondern findet hier Eingang in das große Aufklärungsprojekt. Damit ist es eine jener Zwischenfiguren, die das Wiss- und Erfahrbare ausloten, das sich dem Enzyklopädisten erschließt oder zur Verfügung stellt.

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réduire des monstres en sauterelles.»110 Auffällig ist an diesen Beschreibungen, dass sich hier tradiertes Fabelwesen, naturgeschichtliches Wissen und Exotisierung vermengen. Dies wäre zunächst als bloße Machtdemonstration und Überblendung von Alteritätsverfahren zu verstehen. Aber die kontrapunktische Perspektive auf diese Passage macht deutlich, dass es einer definitorischen Anstrengung bedarf, die dann aber auch sehr deutlich und mit einiger Vehemenz artikuliert werden muss. Eine ähnliche Zwischenfigur zwischen Märchen und Phantasie nehmen etwa die Astomen ein, deren Lokalisierung und Porträtierung ein Problem darstellt: ASTOMES, s. m. pl. peuples fabuleux qui n’avoient point de bouches ; Pline les place dans l’Inde ; d’autres les transportent bien avant dans l’Afrique: ce nom vient de l’privatif, & de , bouche. On prétend que cette fable a été occasionnée par l’aversion que certains Africains qui habitent sur les bords du Sénéga, branche du Niger, ont de montrer leur visage.111

Es ist überraschenderweise keineswegs so, dass jene Figuren, die von Seiten des enzyklopädischen Erzählers als eindeutig erfunden und irreal identifiziert werden, aus der Encyclopédie ausgeschlossen würden. Vielmehr werden sie einerseits als Wissensbestand aufgenommen und im Sinne des EncyclopédieProjektes gelistet und gespeichert; andererseits kann der philosophe hier seine rationale und logische Argumentation und Deduktionskraft unter Beweis stellen. Damit aber kommt auch ein kreativ-konstruktives Moment in der Narrativierung des enzyklopädischen Wissens in den Blick, das nicht mehr nur auf Bewahrung und Rekonstruktion zielt. Damit funktioniert das enzyklopädische Schreiben, wie Schneider es allgemein (und nicht spezifisch auf die Encyclopédie bezogen) formuliert, «konservativ und konservierend; häufig gehorcht es einem Imperativ der Bildung, der ältere Autoritäten zu rechtfertigen und zu bewahren sucht.»112 Ähnlich wie die Astomen hat auch das bereits erwähnte Volk der Hyperboréens eine Geschichte, die bis in die Antike zurückreicht. Gleich zu Beginn werden sie in das Reich des Märchenhaften verortet («Les Grecs qui aimoient le merveilleux […] imaginerent qu’un pays»113) sowie als irdisches Paradies be-

110 Edmé-François Mallet: Harpies, in: Denis Diderot/Jean Le Rond d’Alembert (Hg.): Encyclopédie (ENCCRE). Bd. 8, S. 58–59, hier S. 59. 111 Denis Diderot: Astomes, in: Ders./Jean Le Rond d’Alembert (Hg.): Encyclopédie (ENCCRE). Bd. 1, S. 777. 112 Ulrich Johannes Schneider: Die Erfindung des allgemeinen Wissens, S. 33. 113 Louis de Jaucourt: Hyperboréens, in: Denis Diderot/Jean Le Rond d’Alembert (Hg.): Encyclopédie (ENCCRE). Bd. 8, S. 405–406, hier S. 405.

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zeichnet. Diese paradiesischen Zustände schließen ein, dass die Menschen selbst über den Zeitpunkt ihres Todes entscheiden können («Si l’on veut les croire, les habitans de cette heureuse terre ne mouroient que quand ils étoient las de vivre»114), dass sie in Frieden und ohne Sorgen und Krankheiten leben. Sie geben sich hingegen alltäglich Tanz, Musik und Gesang hin. Ein gegenteiliges Bild zu dieser utopistischen Welt zeichnen, so de Jaucourt, andere Autoren («les bons auteurs», «sous un climat très-âpre, où l’éloignement du soleil, les frimats, la glace & la neige, n’inspiroient ni la gaieté, ni les plaisirs.»115) Nach Vergil seien die Hyperboräer wild und klimatisch bedingt kaltblütig. Als relevante(re)s Wissen («la question importante») aber bestimmt der enzyklopädische Erzähler die geographische Lokalisierung des Volkes. Dies wiederum erweist sich als schwierig, weil auch hier unterschiedlichste Meinungen («sentimens &d’idée» und nicht Wissen) herrschen: «plus on lit les écrits des anciens, plus on trouve qu’ils different de sentimens &d’idées pour fixer ce lieu»116. Dies geht sogar so weit, dass die Hyperboräer mals als Europäer, mal als Asiaten bezeichnet werden.117 Dies lässt sich nach de Jaucourt mit der Unwissenheit in der Antike begründen: Schon jenseits der Elbe wurden da die Kenntnisse unsicher («on ne connoissoit pas même les pays situés au-delà de l’Elbe»118), so dass als Quelle die Märchenerzähler durchaus in Betracht gezogen werden müssen. Aber auch die Konsultation moderner Geographen produziert nur noch mehr ‹Wissenskonkurrenzen›: Die Hyperboräer werden als Russen, Kelten oder Thraker eingeordnet. Dass sie sogar als Schweden bezeichnet werden, geht auf den schwedischen Gelehrten Rudbeck zurück, der das Volk tendenziös gar in das eigene Land verorten würde.119 Die Alteritätsfiguren aus der Antike werden hier aufgeführt, weil sie dem gleichen diskursiven Konstruktionsmechanismus des Othering unterliegen (und den zentralen Aufklärungsstudien Gays120 zufolge zur Identifikation gegen das Christentum dienten). Damit wird zwar eine sehr große historische wie lokale Klammer für das Konzept des kolonialen Anderen geöffnet, die zugegebenermaßen mit einer gewissen historischen Ignoranz diese Alteritäten subsumiert und damit sicherlich auch an ihre Grenzen gerät. Das Potenzial aber scheint mir

114 Ebd. 115 Ebd. 116 Ebd. 117 Vgl. ebd. 118 Ebd. 119 Vgl. ebd., S. 405–406. 120 Vgl. Peter Gay: The enlightenment. An interpretation: the science of freedom, New York/ London: W. W. Norton [1969] 1977 sowie Peter Gay: The Enlightenment. An interpretation: the rise of modern paganism, New York: Norton [1966] 1977.

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darin zu bestehen, dass in dieser außer- und grenzeuropäischen Quersicht der Artikel Diskursivierungsverfahren der Alteritätskonstruktionen in den Blick geraten, die die globalen Verflechtungen der aufklärerischen Wissensordnungen zu berücksichtigen vermögen. Und diese Verflechtungen werden auch in den Argumentationsfiguren eines ähnlich berühmten und phantastischen Volks sichtbar: der Pygmäen.121 Diese werden eindeutig als Phantasiewesen ausgezeichnet («peuples fabuleux», «selon la tradition fabuleuse», «On raconte qu’une de leurs armées») und dienen als Vorbilder für fiktive Geschichten. Eine dieser inspirierten Geschichten seien die Liliputaner auf der Seite der «modernes» (allerdings ohne den Namen des Autors zu nennen); auf der Seite der alten Griechen dienten die Pygmäen als Antaogonisten zu den Riesen: Les Pygmées, selon la tradition fabuleuse, étoient des hommes qui n’avoient au plus qu’une coudée de haut. Leurs femmes accouchoient à 3 ans & étoient vieilles à huit. Leurs villes, leurs maisons n’étoient bâties que de coquilles d’oeufs ; à la campagne ils se retiroient dans des trous qu’ils faisoient sous terre & coupoient leurs blés avec des coignées, comme s’il se fût agi d’abattre des forêts. On raconte qu’une de leurs armées ayant attaqué Hercule endormi & l’assiégeant de toutes parts avec beaucoup d’ordre & de méthode, ce héros enveloppa tous les combattans dans sa peau de lion & les porta à Euristée ; on les fait encore combattre contre les grues leurs ennemis mortels, & on les arme à proportion de leur taille ; les modernes ont ressuscité cette fable dans celle des habitans de Lilliput, mais ils y ont semé beaucoup plus de morale que les anciens. Les Grecs qui reconnoissoient des géans, c’est-à-dire des hommes d’une grandeur extraordinaire, pour faire le contraste parfait imaginerent ces petits hommes qu’ils appellerent Pygmées.122

De Jaucourt überträgt nun diese Figuren auf die koloniale Welt, genauer: auf Afrika, denn er vermutet die Inspirationsquelle für die Imaginationen der Griechen in Äthiopien: Peut-être, dit M. l’abbé Banier, l’idée leur en vint de certains peuples d’Ethiopie appellés Pechiniens (nom qui a quelque analogie avec celui de pygmée), & ces peuples étoient d’une petite taille comme sont encore aujourd’hui les peuples de Nubie. Les Grecs se retirant tous les hivers dans les pays les plus méridionaux, ces peuples s’assembloient pour les chasser & les empêcher de gâter leurs semailles, & de-là la fiction du combat des Pygmées contre les grues.123

121 Vgl. Louis de Jaucourt: Pygmées, in: Denis Diderot/Jean Le Rond d’Alembert (Hg.): Encyclopédie (ENCCRE). Bd. 13, S. 591–592. 122 Ebd., S. 591. 123 Ebd.

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Den Irrtum in der Wissensproduktion vermutet de Jaucourt in der schlichten Übernahme und veritablen Abschrift der Erzählungen über die Pygmäer von Homer («Plusieurs historiens ont parlé des Pygmées, mais on croit qu’ils n’ont été que les copistes ou les amplificateurs d’Homere, qui n’en avoit fait mention que dans un membre de comparaison qui ne peut jamais fonder une certitude historique.»124). Einen besonderen Grenzfall stellen jene Völker dar, die in der Encyclopédie noch Überreste eines Kuriositätenkabinetts bestücken. Interessant im Zusammenhang mit der Alteritätskonstruktion ist, dass die Enzyklopädisten durchaus eine Vorliebe für die exotistische und insbesondere kuriose Seite der kolonialen Anderen in Afrika hegen. So umgibt sich der König Mimos der afrikanischen Loango mit Zwergen: Mimos, s. m. (Hist. mod.) Lorsque le roi de Loango en Afrique est assis sur son trône, il est entouré d’un grand nombre de nains, remarquables par leur difformité, qui sont assez communs dans ses états. Ils n’ont que la moitié de la taille d’un homme ordinaire, leur tête est fort large, & ils ne sont vêtus que de peaux d’animaux. On les nomme mimos ou bakke-bakke ; leur fonction ordinaire est d’aller tuer des éléphans qui sont fort communs dans leur pays, on dit qu’ils sont fort adroits dans cet exercice. Lorsqu’ils sont auprès de la personne du roi, on les entremêle avec des négres blancs pour faire un contraste, ce qui fait un spectacle très-bizarre, & dont la singularité est augmentée par les contorsions & la figure des nains.125

Und neben den Zwergen finden sich auch Beschreibungen afrikanischer Lotophagen, denen schon Odysseus begegnete und die durch die Referenz auf die Odyssee damit in einen Grenzbereich zwischen Fakt und Mythos gelangen: LOTOPHAGES, (Géog. anc.) peuples d’Afrique, auprès du golfe de la Sidre, ainsi nommés, parce qu’ils se nourrissoient du fruit du lotus. […] Ulysse, dit Homere, ayant été jetté par la tempête sur la côte des Lotophages, envoya deux de ses compagnons pour la reconnoître. Les habitans enchantés de l’abord de ces deux étrangers, ne songerent qu’à les retenir auprès d’eux, en leur donnant à goûter de leur lotus, ce fruit agréable qui faisoit oublier la patrie à tous ceux qui en mangeoient ; c’est qu’on l’oublie naturellement au milieu des plaisirs.126

124 Ebd. Unter der Rubrik der «Géographie ancienne» führt de Jaucourt das Volk ebenfalls als eindeutig märchenhaft ein, geht aber in der Lokalisierung transkontinental vor. Als Quellen nennt er Reisende und bewertet die Wissensbestände über die Pygmäen recht eindeutig: Für de Jaucourt sind sie unmissverständlich fiktiv und von den antiken Dichtern erdacht, die selbst sich nur daran amüsierten und niemals an ihre Existenz glaubten (vgl. ebd., S. 592). 125 [D’Holbach, Henri-Thiry]: Mimos, in: Denis Diderot/Jean Le Rond d’Alembert (Hg.): Encyclopédie (ENCCRE). Bd. 10, S. 520. 126 Louis de Jaucourt: Lotophages, in: Denis Diderot/Jean Le Rond d’Alembert (Hg.): Encyclopédie (ENCCRE). Bd. 9, S. 696.

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Diese Liste ließe sich sicherlich noch verlängern, finden sich doch noch weitere Völker, die auf der Schwelle zwischen Wahrheit und Imagination, zwischen den Schriften der «historiens» und «poetes» stehen und mit kolonialer Exotik und Stereotypen (wie die Anthropophagie) aufgeladen werden. Beispielhaft seien hier die Lestringons («De-là vint que ce monstre a servi d’exemple pour désigner la barbarie & l’inhospitalité»127) oder die omnipräsenten Lamies («Ce qu’il y a de sûr, c’est que de tout tems & en tout pays, on a inventé de pareilles chimeres, dont les nourrices, les gouvernantes, & les bonnes femmes, se servent comme d’un épouventail pour faire peur à leurs enfans»128) genannt. Oftmals werden die Alteritätskonstruktionen auf körperliche Devianzen zurückgeführt, die wiederum die fiktive Ausgestaltung der Zwischenfiguren nach sich ziehen oder aber in die körperliche Ausgestaltung der Animalisierung münden. Auf den Inseln Mindoro und Formose soll es beispielsweise sogar Menschen mit Schwänzen geben; eine Information, die Diderot sofort als suspekt bewertet: On prétend que dans l’îsle de Mindoro & dans l’isle Formose il y a des hommes à queue: ce fait est suspect ; mais un autre fait qui ne l’est pas, c’est qu’il n’est permis aux femmes mariées d’avoir des enfans qu’à 35 ou 37 ans. Si elles deviennent grosses plûtot, les prêtresses les foulent aux piés & les font avorter.129

Warum nun die zweite Information über das Gebäralter der Frauen wesentlich glaubwürdiger ist, begründet der Enzyklopädist nicht weiter. Daran wird abermals deutlich: Diderot behält nicht nur die Definitionsmacht dessen in der Hand, der über Wahrheit und Lüge entscheiden kann. Vielmehr streicht Diderot diese Kuriosität nicht etwa aus seinen Ausführungen. Warum? Dies hängt mit mindestens zwei, die Encyclopédie konstituierenden Aspekten zusammen, auf die bereits in der Einleitung der vorliegenden Arbeit hingewiesen wurde. Zum einen findet das Unbeschreibbare Eingang in das große Wissensprojekt, weil die irrégularité integraler Bestandteil der Systematisierungen und ihrer Grenzen ist; zum anderen weil der Encyclopédie eine gewisse Ästhetik des Monströsen innewohnt.130 An diesen Zwischenfiguren zeigt sich in besonderem Maße die narrative Konstruktion der kolonialen Alterität, deren

127 N. N.: Lestrigons, in: Denis Diderot/Jean Le Rond d’Alembert (Hg.): Encyclopédie (ENCCRE). Bd. 9, S. 402–403, hier S. 403. 128 Louis de Jaucourt: Lamies, in: Denis Diderot/Jean Le Rond d’Alembert (Hg.): Encyclopédie (ENCCRE). Bd. 9, S. 229. 129 Denis Diderot: Humaine Espece, S. 345. 130 Vgl. Andreas Gipper: Wunderbare Wissenschaft sowie Andreas Gipper: Logik der Sammlung und Ästhetik der Curiositas in Diderots Encyclopédie, S. 233–248.

2.2 Figuren und Figurationen kolonialer Ambivalenz

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monströse und vor allem imaginierte Spielarten gerade nicht aus der Encyclopédie getilgt werden, sondern in einen rationalen Diskurs gekleidet werden, der aber immer wieder durch die anekdotische Nacherzählung oder durch die fehlende Kommentierung ins Irrationale kippt. Fazit: Ambivalentes Alteritätswissen in Diskursformationen Der koloniale Andere stellt als Wissensfigur, also als Figur des ökonomischen, moralischen und kulturellen Wissens, im Kolonialsystem einen höchst ambivalenten Wissensakteur dar. Er stört die Vorstellung eines an Europa gekoppelten Wissens empfindlich: durch die Bewusstmachung einer Art nomadischen Wissens, das durch komplexe Wissenszirkulationen und Wissenskonkurrenzen unklar werden lässt, was genau als europäische Errungenschaft gelten kann und was nicht. Diese Infragestellung ereignet sich etwa auf der Ebene der Originalität (Wer war Erster bei Entdeckungen und Erkenntnissen? Wer ist der Urheber?) oder der Abkopplung von technischem/zivilisiertem Wissen von Europa (Was passiert, wenn der koloniale Andere auch über Techniken und Wissensformen verfügt?). In den Beschreibungen des kolonialen Anderen werden, bedingt durch die reziproke Anlage der Alterität, drei Dimensionen thematisiert: erstens die Fremdbeschreibung, zweitens die affektiv aufgeladene Beziehungsebene und drittens die Selbstkonzeption. Werden diese Ebenen allein als machtvolle Kolonialdiskursivierungen analysiert, geraten die beschriebenen kolonialen Anderen als Wissensobjekte und die Selbstinszenierungen des enzyklopädischen Erzählers in den Blick. Die Relation zum kolonialen Anderen scheint demzufolge sehr grob in zwei Beziehungsmodi zu zerfallen: Abwertung in Form von normativer Abweichung, aber auch in Form von Hass, Ablehnung, Ekel, Marginalisierung, Diskriminierung oder Ignoranz; oder Aufwertung in Form von Sympathie, Idealisierung, Bewunderung oder Toleranz. Die Ambivalenzlektüren haben nun gezeigt, dass diese Bewertungen nicht eindeutig ausfallen und das ambivalente Moment in den Alteritätskonstruktionen diese normativen Beurteilungen (und Selbstpositionierungen) oszillieren, sich überblenden und oftmals gleichzeitig artikulieren lässt. Die Ambivalenz des kolonialen Anderen als ökonomische Diskursfigur artikuliert sich in der problematischen Leerstelle, die sie hinter Warenlisten oder als blasser Akteur oder Warenlieferant/-produzent einnimmt. Als moralische Diskursfigur provoziert die Ambivalenz des kolonialen Anderen die Gleichzeitigkeit seiner triebhaften Handlungen und seiner Erklärbarkeit in der Simultanität von Verurteilung bzw. Idealisierung im Falle der Gastfreundschaft und Faszination. Die Ambivalenz des kolonialen Anderen als kulturalistische Diskursfigur zeigt sich in der Devianz und in der beunruhigenden Vertrautheit mit europäisch-

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aufklärerischen Normen. Als freiwilliges Menschenopfer, als Fanatiker oder Atheist, als dynamisierende und sich entziehende Nomaden, als schweigende oder allophone Andere, als wissende Magier und Betrüger oder aber als Widerständler und wahre Zwischenwesen bestätigen und negieren sie gleichzeitig die europäische Vergleichsfolie. Faszination und Abwehr werden ex aequo in den Beschreibungen evoziert und so normative, anthropologische und definitorische Entscheidungen oftmals in der Schwebe gehalten. Das ‹Gefahrenpotenzial› dieser Zwischenwesen und Rebellen erwächst nicht nur aus ihrer widerständig-akteuriellen Position, sondern aus der Uneindeutigkeit, der problematischen epistemologischen wie anthropologischen Zuordnung und damit aus dem Effekt, dass sich der koloniale Andere (als Monster) dem kontrollierten Zugriff des europäischen philosophe entzieht. An dieser Stelle zeigt sich der Vorteil des Ambivalenz-Begriffs, betont er doch die Zwischenstellung als Gleichzeitigkeit von unterschiedlichen Elementen oder Dimensionen, ohne diese in eine Dichotomie und in ein statisches Machtverhältnis verorten zu müssen. Durch die Ambivalenz wird ein komplexes Spektrum von Machtasymmetrien beschreibbar, die nicht auf mächtige vs. ohnmächtige oder schlicht konterdiskursiv-widerständige Figuren rückführbar sein müssen.

2.2.1.2 Projektionsfiguren. Problematische Fremdbilder Dezentrierungen. Vom prekären Philosophen zum kirchlichen Kannibalen – Ambivalente Dezentrierungen des philosophe – Ambivalentes Europa – «notre philosophe» als ambivalente Position – Ambivalente Selbstkritik als Satire – Ambivalentes naming: Deklamation als Illusion? – Barbares. Ambivalentes alter ego – Sauvages und bon sauvages. «Tout cela n’est point si sauvage» – Sauvage ist nicht Beziehungs- sondern Kontaktwissen – Bon sauvage als imaginierte Kontrastfolie nur in der Rückkopplung ambivalent – Anthropophages: Faszinierende Dämonen – Kannibale als notwendige Entlastungsfigur – Fazit: Ambivalentes stereotyp-typologisches Alteritätswissen – Ambivalenz der Stereotype: keine Fixierung, sondern Verhandlungsfiguren – Leerstellenobsession

Den kolonialen Anderen als Figuren des ökonomischen, moralischen oder kulturellen Diskurses darzustellen, gelingt den enzyklopädischen Erzählern oftmals innerhalb stereotyper Schablonen: Als Barbaren, Wilde oder gar Kannibalen werden sie mit tradierten Merkmalen ausgestattet, die ein unmittelbares Othering erlauben, ohne konkrete lokal-historische Details ausführen zu müssen. Wie im Kapitel zu den machtvollen Konstruktionen dieser stereotypen Projektionsfiguren gesehen, muss der koloniale Andere dabei auf doppelte Distanz gehalten werden: auf einer epistemologischen Achse als Wissensobjekt und auf einer postkolonial-identifikatorischen als antithetischer Anderer. In der Perspektive kontrapunktischer Ambivalenz wird aber sichtbar, dass sich der koloniale Andere in dieser alteritären Typologie vom Barbaren bis zum Anthropo-

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phagen doch nicht so einfach (mittels kultureller Differenz) bestimmen lässt. Welche Haltung muss artikuliert werden: Empathie, Mitgefühl, aufklärerischer Bildungsanspruch, Bewunderung, Abwertung? Wenn der koloniale Andere auch ein Mensch ist, welche narrativen Darstellungsmodi sind zu wählen? Und was sagt das dann gleichzeitig über das eigene Selbstbild aus? Dezentrierungen. Vom prekären Philosophen zum kirchlichen Kannibalen Eine kontrapunktische Lektüre des alteritären Spektrums stellt zunächst einmal sein vermeintliches Zentrum in Frage. Wie machtvoll wird der Aktionsraum des philosophe konstruiert, der vom Schreibtisch aus Kolonialwirtschaft und damit Waren- und Sklavenströme überwacht? Im Eintrag zum Comptoir deutet Diderot bereits ein kritisch-distantes Verhältnis zum europäischen Zentrum der globalen Kolonialwirtschaft an. Hier findet sich kein solidarisierendes oder identifiziertes «nous», sondern der Hinweis, dass «les Européens» den Zahltisch zu dem gemacht haben, was ‹sie› («qu’ils regardent») als Handelszentrum betrachten: «il se dit d’un lieu que les Européens ont fait, & qu’ils regardent comme le centre de leur commerce dans l’Inde, en Afrique, &c.»131 Nun ist aber eine selbstkritische Haltung zum Kolonialprojekt noch keine kontrapunktische Artikulation. Aber sie weist auf ein grundsätzlicheres Problem hin, mit dem sich der philosophe konfrontiert sieht: Was genau macht das Europäische noch aus? Was steht im Zentrum Europas? Und was stellt der Europäer selbst ins Zentrum seines Handelns und seines Selbstbildes? In der Zusammenschau der Encyclopédie-Artikel wird sichtbar, dass Europa sich selbstversichernd als Zentrum, Maßstab und Orientierungspunkt generieren muss, dass durch die globalen Handelsbeziehungen, durch die verflochtenen Geschichten und Geschichte immer wieder Kräfte in Richtung Dezentrierung und Peripherisierung wirken. Kein Meer, kein Gebirge, kein Fluss und keine Sprach- oder Kulturgrenze sichert mehr die Grenzen und damit die Selbstbestätigung der europäischen Überlegenheit. Die Kolonien finden Eingang in die Encyclopédie-Einträge als Teil eines ökonomischen Systems, diversifizieren oder hinterfragen damit aber gleichzeitig anthropologische wie kulturelle Grenzen, Machtverhältnisse und Selbstbilder der Europäer. Und hier beginnen die tatsächlichen Herausforderungen für den enzyklopädischen Erzähler, denn es obliegt ihm, Grenzen, Differenzen, Unterschiede auszumachen, um definitorisch qua Diskriminierung vorgehen zu können. Doch schon im Wort Europa wird dies problematisch und selbst die sonst so oft bemühte moderne Geographie stößt an ihre Grenzen:

131 Denis Diderot: Comptoir, in: Ders./Jean Le Rond d’Alembert (Hg.): Encyclopédie (ENCCRE). Bd. 3, S. 297.

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Europe, (Géog.) grande contrée du monde habité. L’étymologie qui est peut-être la plus vraisemblable, dérive le mot Europe du phénicien urappa, qui dans cette langue signifie visage blanc ; épithete qu’on pourroit avoir donné à la fille d’Agénor soeur de Cadmus, mais du moins qui convient aux Européens, lesquels ne sont ni basanés comme les Asiatiques méridionaux, ni noirs comme les Africains.132

Das Wissen über Europa ist auf einen zweiten Blick durchaus unsicher: Die Etymologie ist nur wahrscheinlich («peut-être», «la plus vraisemblable»), nicht aber gesichert oder wahr. Das Wort Europa ist dann auch noch auf mehreren Ebenen auf den Anderen angewiesen: Es generiert sich aus dem Phönizischem und der griechischen Mythologie. Interessanterweise werden die Europa und der zentrale Mythos ihres Raubes durch Zeus gar nicht als individuelle Figur erwähnt. Im Eintrag geht es um Europa als Agenors Tochter, was allein die männliche Genealogie im Zuge der Nennung von Cadmus und dem König Agenor aufruft. Die durchaus rassistische Konnotation des phönizischen Wortes, das für das weiße Gesicht steht und das dann auf die Europa appliziert wird, muss in Abgrenzung zum «basanés» der Asiaten und zum schwarz der Afrikaner bestimmt werden. In kontrapunktischer Hinsicht ist hier bezeichnend, wie autoritär und rassistisch die Selbstbestimmung der Europäer in dem Eintrag einerseits konstruiert wird (vgl. dazu nochmals die Analysen im Machtkapitel, die die Superiorität des Europäischen auf kultureller, geographischer, ökonomischer etc. Ebene herausgestellt haben); andererseits aber die Definition aus dem Europäischen selbst heraus, quasi in einem sui generis-Modus, nicht gelingt. Der philosophe benötigt die Herleitung aus den Randbereichen des europäischen Wissens: geographisch-historisch aus der griechischen Antike, etymologisch-linguistisch aus dem Phönizischen, kulturell-rassistisch aus der Abgrenzung zu den Asiaten und den Afrikanern. Dies deutet nicht nur auf die globale Einbindung Europas hin – hier sei auf die oben bereits erwähnte Passage: «toute l’Europe est devenue voyageante & commerçante»133 aus dem Eintrag Hospitalité hingewiesen –, vielleicht sogar auf seine kolonialen Verstrickungen, sondern auch darauf, dass es sich unbedingt als weiß, männlich und mächtig generieren muss. Und dann aber nicht umhinkommt, dies nur in der Kontrastierung zum Anderen erlangen zu können. Beinahe das Gegenteil ist im Eintrag Philosophe der Fall, der das enzyklopädische und europäische Ideal darstellt, das hinter allen Encyclopédie-Artikeln steht. Hier wird der philosophe zwar in Kontrast zu den «autres hommes» gesetzt, aber in zunächst scheinbar universeller, historisch-geographischer Ab-

132 Louis de Jaucourt: Europe, in: Denis Diderot/Jean Le Rond d’Alembert (Hg.): Encyclopédie (ENCCRE). Bd. 6, S. 211–212, hier S. 211. 133 Louis de Jaucourt: Hospitalité, S. 316.

2.2 Figuren und Figurationen kolonialer Ambivalenz

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straktion und Selbstbezüglichkeit inszeniert. Der kontrastierende Andere verschwimmt nämlich in einem allgemeinen «les autres hommes» und in einem nahezu beiläufigen Verweis auf die Stoiker und einem blassen «[l]e monde est plein de personnes d’esprit».134 Die Differenz zu «notre philosophe», wie es auffällig häufig in dem Eintrag heißt, liegt in den Bereichen und den Arten des Denkens: gegen religiöse Dogmen, gegen irreleitende Affekte oder Überbetonung der Vernunft, gegen Lebensferne oder obsessive Urteilspflicht. Der philosophe habe die Fesseln der Religion abgeschüttelt, gehe den Ursachen auf den Grund und habe seinen festen Sitz im Leben, in der Gesellschaft und im kontrollierten Umgang mit seinen Emotionen. Im Gegensatz zu den Stoikern glaube er nicht «au chimérique honneur de détruire les passions, parce que cela est impossible ; mais il travaille à n’en être pas tyrannisé, à les mettre à profit, & à en faire un usage raisonnable, parce que cela est possible, & que la raison le lui ordonne.»135 Das nahezu penetrante «notre philosophe» zeigt den identifizierenden Eurozentrismus, die selbstbewusste Selbstinszenierung (wenn nicht gar Selbsterfindung) und die universelle Fundierung des Ideals durch die Absenz jeglicher historischer oder geographischer Bezüge an. Die Universalität aber wirkt in diesem programmatisch-aufklärerischen Eintrag eigenartig (oder aber bezeichnenderweise, da nur als Abstraktum artikulierbar) inhaltsleer und durch die identifizierende Possessivpronomen-Konstruktion eurozentrisch und daher eher kontra-universell. Die Problematik, die sich immer dann ergibt, wenn der enzyklopädische Erzähler universalisierende Aussagen über den kolonialen Anderen treffen will und damit gleichzeitig Nähe herstellen und Distanz wahren muss, ist omnipräsent. Und so ist es auch nicht verwunderlich, dass die enzyklopädischen Reflexionen zum menschlichen Denkvermögen und zur Wissensproduktion im vagen, eurozentrischen Bereich verbleiben, und die Artikel zum Sprachvermögen und zur Rhetorik nicht minder selbstbezüglich sind, wie etwa die Einträge Fiction, Rime oder En & Dans gezeigt haben. Die sprachliche Kraft

134 Gabriel François Venel: Philosophes (Alchimie et Chimie), in: Denis Diderot/Jean Le Rond d’Alembert (Hg.): Encyclopédie (ENCCRE). Bd. 12, S. 511. «Le monde est plein de personnes d’esprit & de beaucoup d’esprit, qui jugent toujours ; toujours ils devinent, car c’est deviner que de juger sans sentir quand on a le motif propre du jugement. Ils ignorent la portée de l’esprit humain ; ils croient qu’il peut tout connoître: ainsi ils trouvent de la honte à ne point prononcer de jugement, & s’imaginent que l’esprit consiste à juger. Le philosophe croit qu’il consiste à bien juger: il est plus content de lui-même quand il a suspendu la faculté de se déterminer que s’il s’étoit déterminé avant d’avoir senti le motif propre à la décision. Ainsi il juge & parle moins, mais il juge plus surement & parle mieux ; il n’évite point les traits vifs qui se présentent naturellement à l’esprit par un prompt assemblage d’idées qu’on est souvent étonné de voir unies.» (Ebd.). 135 Ebd.

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der Poesie aber wird im Eintrag Rime gleichzeitig als anthropologische Konstante und als Vorstadium der Zivilisiertheit gedacht. Dabei schließen sich poetische Fertigkeit als «peuples rimeurs» und Barbarei nicht aus und dienen auch nicht der Abgrenzung von den europäischen, zivilisierten Völkern, sondern bilden (als eine Art blasse Erinnerung an zivilisatorische Vorstadien) eher eine Brücke zu ihnen: [...] la plûpart de ces peuples rimeurs sont barbares ; & les peuples rimeurs qui ne le sont plus, italiens, françois, anglois, espagnols & qui sont des nations polies, étoient des barbares & presque sans lettres lorsque leur poésie s’est formée. Les langues qu’ils parloient n’étoient pas susceptibles d’une poésie plus parfaite, lorsque ces peuples ont posé, pour ainsi dire, les premiers fondemens de leur poétique. Il est vrai que les nations européennes, dont je parle, sont devenues dans la suite savantes & lettrées ; mais comme leurs langues avoient déja ses usages établis & fortifiés par le tems, quand ces nations ont cultivé l’étude judicieuse de la langue grecque & de la latine, elles ont bien poli & rectifié ces usages, mais elles n’ont pu les changer entierement.136

Es ist diese ‹anthropologische Brücke› in Gestalt der Fähigkeit zu poetischer Sprache bzw. zu Reimen, die der kontrapunktischen Lektüre den Weg ebnet. Denn einerseits lässt sich diese Argumentation natürlich leicht als eine verstehen, die den kolonialen Anderen an den ästhetischen und vor allem zivilisatorischen Maßstäben europäischer Kultur misst. Der barbarische Andere wird hier in den europäischen Werthorizont eingepasst und machtvoll auf einer Entwicklungslinie auf dieses Telos hin positioniert. Andererseits aber ist durch die historische Verbindung aller europäischer Nationen mit einer barbarischen Vergangenheit gleichzeitig auch eine kulturelle Verbindung mit allen aktuellen barbarischen Völkern denkbar, die diese nicht mehr als radikal Andere fassen kann. Durch die historisch-evolutionäre Verbindungslinie haben die europäischen Völker ein barbarisches Erbe, das sie in der zivilisatorischen Argumentation zwar hinter sich lassen wollen und müssen, aber weiterhin als Spur im Selbstbild in sich tragen. Jede narrative Kontaktfigur, die der enzyklopädische Erzähler als alteritären Wissensbeständen oder Subjekten entwirft, bringt ihn in eine irreversible und reziproke Verbindung mit kolonialer Alterität. Als ambivalente Kontaktfigur sind hier dann konträre diskursive Bewegungen gleichzeitig am Werke: Bewunderung und Abscheu, Idealisierung und Dämonisierung, Solidarisierung und gewaltvolle Unterwerfung. Auf den ersten Blick selbstbezüglich, weil satirisch gegen die eigene Wissensproduktion und sogar gegen das Encyclopédie-Projekt selbst gewendet, generieren sich all jene Artikel, die eine gewisse Skepsis oder gar offene Kritik mit-

136 N. N.: Rime, S. 291.

2.2 Figuren und Figurationen kolonialer Ambivalenz

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hilfe von Exotisierungsverfahren gegen die enzyklopädischen Wissensbestände artikulkieren (wie ja sehr eindrücklich im weiter oben analysierten Eintrag Aguaxima oder den Ficoïdes).137 In der Analyse als machtvolle Textverfahren wurde dies als souveräne Wissensgeste gedeutet, bei der die kolonial-exotischen Informationen allein zur selbstbezüglichen Nabelschau – und sei es auch im kritischen Modus – dienen. In einer kontrapunktischen Lektüre ist nun fraglich, ob diese Selbstkritik nicht auch nachhaltig auf das Encyclopédie-Projekt zurückschlagen kann. Räumt Diderot noch ironisch bzw. eher satirisch ein, dass der Eintrag Aguaxima ein Zugeständnis (gegen eine Art horror vacui) an jene Leser sei: «qui aiment mieux ne rien trouver dans un article de Dictionnaire, ou même n’y trouver qu’une sottise, que de ne point trouver l’article du tout»,138 so öffnet diese Reflexion doch Tür und Tor für die Vermutung und Befürchtung, dass mit den – insbesondere aus der kolonialen Welt stammenden! – Wissensbeständen auch Unsinn («sottise») in die Encyclopédie gelangen kann und dass dieser weder durch den vermeintlich autoritären Enzyklopädisten noch durch kenntliche Textverfahren und -kommentare noch durch den Intellekt der Leserschaft zu detektieren ist. Hier kann also, mit Said gesprochen, all jenes in die enzyklopädischen Artikel eindringen, wogegen der Enzyklopädist diese eigentlich «abgedichtet» hat (vgl. Ausführungen in der vorliegenden Einleitung). Und dies wird eben nicht nur durch die Reflexion der Grenze zwischen Sinn und Unsinn in der Encyclopédie artikuliert, sondern in Form eines Encyclopédie-Artikels selbst inszeniert. Dies ist durchaus als souveräner Akt der Selbstkritik zu bewerten; eine andere Möglichkeit ist in kontrapunktischem Sinne aber auch, dass sich in diesem Moment Skepsis, Zweifel und Unsicherheit in die Encyclopédie miteinschreibt: jenseits der Intentionalität der enzyklopädischen Erzählinstanzen oder gar der Enzyklopädisten als wirkungsästhetisch-kontrapunktischer Zweifel. Die stilistische Strategie der Ironie ist dabei ein probates Mittel, gleichzeitige Zustimmung und Kritik zu artikulieren. Dieses für die Aufklärung (und insbesondere für Diderot) recht typische Stilmittel ist in der Hinsicht von Ambivalenzartikulationen eine anschauliche Möglichkeit, Nähe und Distanz gleichzeitig zu inszenieren.139 Für die spezifische Textsorte der Encyclopédie aber ist sie ein Wagnis

137 Denis Diderot: Aguaxima, S. 191 und Louis de Jaucourt: Ficoïdes, S. 678–679. 138 Denis Diderot: Aguaxima, S. 191. 139 Baron zeigt in ihrer Studie zu Diderots Erzählungen sogar eine weitere Ambivalenz auf: Ihr zufolge ist das Schlüsselkonzept der Diderot’schen Moralphilosophie ein dezidiert ambivalentes, nämlich zugleich philosophisches wie ästhetisches Konzept des Charakters (vgl. Konstanze Baron: Diderots Erzählungen. Die Charaktergeschichte als Medium der Aufklärung, Paderborn: Fink 2014).

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und nicht unproblematisch, ist sie doch wirkungsästhetisch durchaus eine Strategie der Verunsicherung, des Spiels mit den normativen Deutungsmustern. Schließlich eröffnet die kontrapunktische Perspektive auf die machtvollen Verfahren des naming in der Encyclopédie eine Art Janusköpfigkeit, die auch die terminologische Ohnmacht der enzyklopädischen Erzähler innerhalb der Artikel und sogar mehr noch: des gesamten deklamatorischen Wissensdiskurses, in den die entsprechenden Begriffe eingebettet sind, zum Ausdruck bringt. In dieser Perspektive deuten die vielsprachigen, europäischen Begriffe für ein Objekt oder einen Menschen in der kolonialen Welt nicht nur auf die europäisch-kolonialistische Praktik des naming hin. Vielmehr verweisen sie gleichzeitig darauf, dass das jeweilige Phänomen nicht mit einem Begriff belegt werden, sondern unter vielen Namen kursieren kann. Damit aber werden die Benennungen von Objekten in der kolonialen Welt nicht nur historisiert (welche Kolonialmacht gab welchen Namen?) oder alterisiert (wie nannten die Einheimischen das jeweilige Phänomen/Objekt?), sondern durch die deklamatorische Diversifizierung wird die Repräsentationsmacht in Zweifel gezogen. In den Artikeln wird vorgeführt, dass die Etymologie nicht auf den festen Grund einer historischen Genese und ‹Grund›bedeutung zurückführt, sondern dass sie im Gegenteil ins Vage, in die Vieldeutigkeit und in die Randbereiche zur Mythologie oder zur Imagination führt. Gleichzeitig zeigt sich darin, dass in so vielen Artikeln die etymologische Herleitung genannt wird, dass dies nicht nur eine enzyklopädisch-europäische Tradition der Begriffsbestimmung ist, sondern dass dies auch nur ein Versuch ist, die europäische (sprachliche) Dominanz und transparente Repräsentation über die koloniale Welt herzustellen und zu beweisen. Anders gesagt: Hinter dem diversifizierten naming zeigt sich eine Welt, die mit Foucault gesprochen in der Epoche eines Epistembruchs keine transparente Repräsentation mehr ermöglicht und die dies gleichzeitig als europäische Kolonialphantasie enttarnt. Das Unverständnis und die Ohnmacht gegenüber den fremden Dingen, Menschen und Sprachen artikulieren sich in approximativen Versuchen, über die etymologische Herleitung von Begriffen Kontrolle, Aussagekraft und Sinn herzustellen. Von diesen nunmehr ambivalenten Effekten des naming ausgehend werden auch in den Textstrategien zur Evozierung der xenophoben Stereotype vom Barbaren bis zum Kannibalen kontrapunktische Unschärfen bzw. Tiefenschärfe sichtbar. Barbares. Ambivalentes alter ego In der «extrème opposition» zu den Griechen bilden die Barbaren die paradigmatische antizivilisatorische Kontrastfolie und dienen allein dazu, die eigene Position zu stabilisieren und sich als Antonym – in unterschiedlichsten Facet-

2.2 Figuren und Figurationen kolonialer Ambivalenz

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ten – zu begreifen. Gleichwohl ist das Attribut des Barbarischen weder in historischer noch in systematischer Hinsicht allein dem kolonialen Anderen zuzuordnen: Schon die ersten/frühen Christen wurden einst von den Griechen und Römern als Barbaren bezeichnet und gegen sie in Stellung gebracht. Damit wankt bereits die Möglichkeit der eigenen Positionierung: Analogisierten die enzyklopädischen Erzähler eben noch die Griechen und die Franzosen und trennten sie von allem «ce qui s’éloigne de nos usages», ist nun die Heteroproklamation der christlichen Religion als barbarisch problematisch. Der Eintrag fährt ja bekanntlich fort mit der Zuordnung der Wissenschaften zu unterschiedlichen Nationen und Ländern: Vous n’ignorez pas que les Chaldéens ont inventé l’Astronomie ; les Perses la Magie ; les Egyptiens la Géométrie, & les Phéniciens l’art des Lettres. Cessez donc, ô Grecs, de donner pour vos découvertes particulieres, ce que vous n’avez fait que suivre & qu’imiter.140

In dieser Auflistung werden moderne ‹Wissenschaften› mit anderen Wissensformen auf eine Ebene gebracht (ganz im Sinne der enzyklopädischen Systematik des Wissens), wie etwa die Astronomie und die Magie. Es wird ihnen auch die außereuropäische Provenienz bescheinigt und eine rhetorische Anklage und Warnung an die Griechen ausgegeben, sich nicht mit fremden Federn zu schmücken. Auf diese Rückführung, De-Essenzialisierung und De-Europäisierung der Wissenschaften und Wissensregime in wörtlicher, akklamatorischer Rede und mit intertextuellem Verweisen wird im folgenden Kapitel zu den intertextuellen Ambivalenzen näher eingegangen. An dieser Stelle ist insbesondere die gezeigte Reziprozität relevant, da sie in dieser Anlage durchaus ambivalent ist. Denn die Notwendigkeit der Degradierung des Anderen deutet mithin auf eine Abhängigkeit von ihm hin. Funktioniert der Barbar nicht mehr nur als Antipode, sondern wird zum alter ego des europäischen Subjekts, so zeigt dies mehr an als eine Nostrifizierung des kolonialen Anderen. Hier werden nicht einfach unheimliche, monströse Aspekte des europäischen Selbst in die Alteritätsfigur des Barbaren hineinprojiziert, damit ausgelagert und beherrschbar. In einer kontrapunktischen Lektüre kann sich der europäische philosophe nicht mehr am kolonialen Anderen perfektibilisieren, sondern muss im kolonialen Anderen immer die eigenen Schatten erkennen. Damit ist das Othering des kolonialen Anderen durch stereotype Charakteristika des Barbaren nicht mehr entlastend, sondern konfrontierend und gerät nahezu zur Notwendigkeit (ähnlich argumentiert Bhabha in seiner postkolonialen Ausdeutung des Stereotyps141).

140 Vgl. Abbé Claude Yvon/François Vincent Toussaint: Barbares, S. 69. 141 Vgl. zum postkolonialen Stereotyp Homi K. Bhabha: Die Verortung der Kultur, S. 97–124.

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Das Barbarische lässt sich nicht vom Europäer trennen. Lässt man den Eintrag Rime in diesem Zusammenhang noch einmal Revue passieren, dann zeigen sich unter kontrapunktischen Vorzeichen in der historischen Entwicklungslinie gleichzeitig Verbindung und Abgrenzung. Das Barbarische stelle ja laut Artikel eine Frühphase der zivilisierten, modernen Nationen dar.142 Die Kontrapunktik in dem Versuch, den Barbaren als historische und prä-evolutionäre Figur auf Abstand zum europäischen philosophe zu halten, liegt darin, dass dieser durch die Einordnung in eine teleologische, zivilisatorische Entwicklungslinie gleichzeitig die Verbindung und die Abgrenzung zum Barbaren artikuliert. Und in dieser Hinsicht sind all die barbarischen Attribute: Aphasie, Nomadentum, Unterwerfung unter einen Despoten, Fanatismus/Religiösität, Promiskuität oder Inzest, Kannibalismus etc. nur unterschiedliche Stadien auf einer universellen, anthropologischen Entwicklungslinie, auf der die Erinnerung an die eigene evolutionistische Vorvergangenheit möglichst schwach und in historischer Distanz gehalten werden soll. Anders formuliert: Gelingt es zwar, den Barbaren als Frühstadium historisch abzugrenzen und zu degradieren, so droht doch permanent die Gefahr, von diesem ‹älteren Ego› wieder eingeholt zu werden. Die Konturierung des Barbaren wandelt sich dann von einer möglichen Differenzierung zu einer notwendigen Abgrenzung. Und damit wird das Stereotyp als degradierende Form der Alteritätskonstruktion zu einer ambivalenten Figur, die durch die wiederholende Tradierung den kolonialen Anderen nicht nur zu zähmen versucht, sondern ihn nachgerade im Zaum halten muss. Sauvages und bon sauvages. «Tout cela n’est point si sauvage» Auch der Wilde rückt in der kontrapunktischen Lesart (gefährlich) nah an den europäischen philosophe heran. Schon im Eintrag Sauvages selbst ist auffällig, dass die genaue Beschreibung dessen, was ein Wilder ist, nicht in der Kontrastierung zum Europäer, sondern in der Kontrastierung mit dem Barbaren erfolgt. Zwar deutet die massive Sans-Rhetorik («peuples barbares qui vivent sans loix, sans police, sans religion, & qui n’ont point d’habitation fixe»143 auf die Abgrenzung hin. Doch hier bleibt der Europäer als unsichtbar gesetzte Norm im Hintergrund. Durch die Analogisierung mit dem Barbaren wird die Animalisierung des kolonialen Anderen als Wilder abgesichert.144 Lokalisiert wird der Wil142 Vgl. N. N.: Rime, S. 291–292. 143 Louis de Jaucourt: Sauvages, S. 729. 144 Manchmal ist das deklamatorische Verfahren sogar umgekehrt: Da wird etwa eine bestimmte, menschenfleischfressende Affenart in Borneo als «homme sauvage» bezeichnet: «Borneo, (Géog.) île d’Asie, […] Il y a aussi de grandes forêts remplies d’animaux singuliers ; le plus extraordinaire sans-doute, est celui que l’on appelle homme sauvage ; il est, à ce qu’on dit, de la hauteur des plus grands hommes, il a la tête ronde comme la nôtre, des yeux, une

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de zumeist in Nordamerika zur Bezeichnung der Einheimischen; als Stereotyp aber dient er der normativen Einordnung und Degradierung des kolonialen Anderen in vielfältigen kolonialen Zusammenhängen. Im Eintrag Canadiens, (Philosophie des) etwa entfaltet sich das gesamte Spektrum des Stereotypen des Wilden: von der Dämonisierung bis zu seiner Idealisierung.145 Der Eintrag beginnt mit der Nennung La Hontans als Quelle des Wissens über die Wilden Kanadas. Die Referenz dient einerseits der europäisch-szientifischen Fundierung des Wissens, sie fungiert als Beleg für ein Erfahrungwissen, denn La Hontan habe etwa ein Jahrzehnt bei den Wilden gewohnt; und folglich ermöglicht sie es sogar, den europäischen Forscher als Dialogpartner für die Wilden einzuführen. Andererseits artikuliert der Eintrag unmittelbar Skepsis über den Wahrheitsgehalt dessen, was La Hontan über die Kanadier zu berichten weiß. Selbstkritisch und kulturchauvinistisch zugleich werden La Hontan die Inszenierung der Redesituation unterstellt und dem kanadischen Huronen Reflexionsniveau abgesprochen. La Hontan ziehe nämlich, so fährt der Eintrag fort, in der (gelehrten) Diskussion sogar manchmal den Kürzeren, und der enzyklopädische Erzähler wundert sich über die rhetorisch-dialektischen Fähigkeiten eines Huronen: «de voir un huron abuser assez subtilement des armes de notre dialectique pour combattre la religion chrétienne»,146 mit deren Hilfe er die christliche Religion kritisieren kann und überdies die scholastische Terminologie fast so gut wie ein Europäer beherrsche: «les abstractions & les termes de l’école lui sont presqu’aussi familiers qu’à un européen qui auroit médité sur les livres de Scot.»147

bouche, un menton un peu différens des nôtres, presque point de nez, & le corps tout couvert d’assez longs poils. Ces animaux courent plus vîte que des cerfs ; ils rompent dans les bois des branches d’arbre, avec lesquelles ils assomment les passans, dont ensuite ils sucent le sang: c’est ce qu’en rapporte une lettre inserée dans les Mémoires de Trévoux en 1701. Ces bêtes, que l’on trouve au premier coup d’oeil ressembler si fort à l’homme, & qui examinées en détail en différent presque dans tous les traits, pourroient bien n’être que des singes, dont des voyageurs, amis du merveilleux, ont exagéré un peu la taille, l’agilité à la course, & beaucoup la conformité à l’espece humaine. On y voit aussi des singes rouges, noirs ou blancs, appellés oncas, qui fournissent de très-beaux bézoards. Cette île contient plusieurs royaumes ; le principal est celui de Borneo, dont la capitale est la ville du même nom ; elle est bâtie dans un marais, sur pilotis comme Venise ; son port est grand & beau. Le roi de Borneo n’est que le premier sujet de sa femme, à qui le peuple & les grands déferent toute l’autorité: la raison en est qu’ils sont extrèmement jaloux d’être gouvernés par un légitime héritier du throne, & qu’une femme est certaine que ses enfans sont à elle, ce qu’un mari n’ose assûrer. Journal des Savans du mois de Février 1680.» (N. N.: Borneo, in: Denis Diderot/Jean Le Rond d’Alembert (Hg.): Encyclopédie (ENCCRE). Bd. 2, S. 336. 145 Vgl. Jean Pestré: Canadiens (Philosophie des), S. 581–582. 146 Ebd. 147 Ebd.

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2 Macht und Ambivalenz in den Narrationen des kolonialen Anderen

Diese unmögliche europäische und zivilisierte Bildung habe Anlass zum Zweifel gegeben, ob La Hontan nicht vielmehr seine Gedanken (aus Angst vor Zensur) dem Huron in den Mund gelegt hätte: «Cela a donné lieu de soupçonner le baron de la Hontan d’avoir voulu jetter un ridicule sur la religion dans laquelle il avoit été élevé, & d’avoir mis dans la bouche d’un sauvage les raisons dont il n’auroit osé se servir lui-même.»148 Hier wird das Erzählverfahren der Redeerteilung bzw. Redeerfindung, wie es im Kapitel 2.1.2.1 analysiert wurde, sogar explizit als Kritik an La Hontan formuliert. Die Erzählsituation selbst ist dabei kein singuläres Phänomen, sondern nahezu generischer Bestandteil von Alteritätserzählungen unterschiedlichster Textsorten innerhalb der Aufklärung. Dieser Aspekt wird im Kapitel zu den intertextuellen Ambivalenzlektüren noch vertieft. Im weiteren Verlauf artikuliert sich eine doppelbödige normative Argumentation, denn der Eintrag räumt zwar mit den imaginierten Bildern auf, die Wilden wären behaarte Einzelgänger, die in den Wäldern lebten, und er gesteht ihnen eine eigene, den Europäern unverständliche, weil recht einsilbige («taciturne») Art der Zivilisation zu; gleichzeitig stellt er aber (damit diese Aufwertung überhaupt möglich ist) den kanadischen Wilden in die unmittelbare Nähe zum Europäer (er wird weißer Hautfarbe geboren; «comme nous gardons chez nous les nôtres» und ist ähnlich gastfreundlich). Diese Nähe wird gestützt durch die Absenz physischer Differenz (keine körperlichen Deformationen): La plûpart de ceux qui n’ont point vû ni entendu parler des sauvages, se sont imaginés que c’étoient des hommes couverts de poil, vivant dans les bois sans société, comme des bêtes, & n’ayant de l’homme qu’une figure imparfaite: il ne paroît pas même que bien des gens soient revenus de cette idée. Les sauvages, à l’exception des cheveux & des sourcils, que plusieurs même ont soin d’arracher, n’ont aucun poil sur le corps ; car s’il arrivoit par hasard qu’il leur en vînt quelqu’un, ils se l’ôteroient d’abord jusqu’à la racine. Ils naissent blancs comme nous ; leur nudité, les huiles dont il se graissent, & les différentes couleurs dont ils se fardent, que le soleil à la longue imprime dans leur peau, leur hâlent le teint. Ils sont grands, d’une taille supérieure à la nôtre ; ont les traits du visage fort réguliers, le nez aquilin. Ils sont bien faits en général, étant rare de voir parmi eux aucun boiteux, borgne, bossu, aveugle, &c.149

Gleichwohl benötige es schon ein geschultes Auge, um diese Wohlgestalt überhaupt erkennen zu können. Neben dem eher kulturrelativistischen Zug der Argumentation ist aber auch ein emanzipatorischer Unterton hörbar, denn der Wilde stellt sich nur aus der Sicht des Europäers so eigen («farouche») dar. Es ist die unwissende Position des Europäers, der von Oberflächlichkeiten ausgeht, wie im Eintrag immer wieder betont wird:

148 Ebd. 149 Ebd. Hervorhebung K. S.

2.2 Figuren und Figurationen kolonialer Ambivalenz

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A voir les Sauvages du premier coup-d’oeil, il est impossible d’en juger à leur avantage, parce qu’ils ont le regard farouche, le port rustique, & l’abord si simple & si taciturne, qu’il seroit très-difficile à un européen qui ne les connoîtroit pas, de croire que cette maniere d’agir est une espece de civilité à leur mode, dont ils gardent entr’eux toutes les bienséances ; comme nous gardons chez nous les nôtres, dont ils se moquent beaucoup. Ils sont donc peu caressans, & font peu de démonstrations ; mais nonobstant cela ils sont bons, affables, & exercent envers les étrangers & les malheureux une charitable hospitalité, qui a dequoi confondre toutes les nations de l’Europe. Ils ont l’imagination assez vive, ils pensent juste sur leurs affaires, ils vont à leur fin par des voies sûres ; ils agissent de sangfroid, & avec un phlegme qui lasseroit notre patience. Par raison d’honneur & par grandeur d’ame, ils ne se fâchent presque jamais. Ils ont le coeur haut & fier, un courage à l’épreuve, une valeur intrépide, une constance dans les tourmens qui semble surpasser l’héroïsme, & une égalité d’ame que ni l’adversité ni la prospérité n’alterent jamais.150

Dieses Lobeslied auf die Gesinnung der Wilden wird dann aber relativiert durch eine Aufzählung ihrer «quantité de défauts»: […] ils sont legers & volages, fainéans au-delà de toute expression, ingrats avec excès, soupçonneux, traîtres, vindicatifs, & d’autant plus dangereux, qu’ils savent mieux couvrir & qu’ils couvrent plus longtems leurs ressentimens. Ils exercent envers leurs ennemis des cruautés si inoüies, qu’ils surpassent dans l’invention de leurs tourmens tout ce que l’histoire des anciens tyrans peut nous représenter de plus cruel. Ils sont brutaux dans leurs plaisirs, vicieux par ignorance & par malice ; mais leur rusticité & la disette où ils sont de toutes choses, leur donne sur nous un avantage, qui est d’ignorer tous les raffinemens du vice qu’ont introduit le luxe & l’abondance.151

In diesem letzte Satz kippt dann die ohnehin schon generalisierende Beschreibung der wilden Kanadier in das Klischee des bon sauvage: Wurden bis hierher schon Naturverbundenheit, Ferne von der Gesellschaft, edle Gesinnung, Ehre und Geistesgröße als die typischen Charakteristika des bon sauvage repetiert, so wird nun explizt die zivilisationskritische Funktion adressiert, indem der enzyklopädische Erzähler feststellt, dass die Wilden zu ihrem eigenen Vorteil weder Luxus noch Überfluss kennen. Und eine weitere deutliche Kontrastierung findet in der Rekonstruktion ihrer Glaubensgrundsätze statt: Während die Wilden den Monotheismus und den Glauben an eine unsterbliche Seele aus ihren Lebensumständen heraus plausibilisieren können und damit auch das gottgewollte Unglück gewisser Menschen akzeptabel werden lassen, sei dies nicht mit den aufklärerischen Überzeugungen vereinbar («qui ne s’accorde pas avec nos lumieres»):

150 Ebd., Hervorhebung K. S. 151 Ebd.

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Ils prétendent donc que Dieu veut, par une conduite qui ne s’accorde pas avec nos lumieres, qu’un certain nombre de créatures souffrent en ce monde, pour les en dédommager en l’autre ; ce qui fait qu’ils ne peuvent souffrir que les Chrétiens disent que tel a été bien malheureux d’être tué, brûlé, &c. prétendant que ce que nous croyons malheur, n’est malheur que dans nos idées ; puisque rien ne se fait que par la volonté de cet Etre infiniment parfait ; dont la conduite n’est ni bizarre ni capricieuse. Tout cela n’est point si sauvage.152

In diesem Eintrag zum Kanadier artikuliert sich nur auf einen ersten Blick eine ausschließlich machtvolle Objektivierung des Wilden. Ob ungerechtfertigterweise mit Vorurteilen behaftet, ob im Gespräch eloquent oder manipulativ inszeniert, ob ehrenvoll, schweigsam, ob mit einer «espece de civilité à leur mode»153 oder aber grausam oder boshaft: Dem Wilden wird die Wissensobjektposition zugeschrieben, die dem europäischen philosophe zur Demonstration kulturrelativistischer Überlegungen, zur kritischen Betrachtung von Wissensquellen oder der eigenen Gesellschaft gerade nutzbringend erscheint. Interessant für eine kontrapunktische Lektüre ist die Bewegung, die gerade nicht die aufklärungstypische tolerante Duldung anderer Lebensweisen artikuliert (die wiederum eine Asymmetrie herstellt, da der Geltungsbereich immer noch vom europäischen philosophe abgesteckt wird), sondern die Unsicherheit, die sich im Artikel wiederfinden lässt. «Tout cela n’est point si sauvage»,154 konstatiert der enzyklopädische philosophe, enthält sich aber einer weiteren Kommentierung, einer Positionierung oder einer Ausführung dieses Gedankens. Zwei Lesarten sind nun möglich: In der Logik der Encyclopédie-Programmatik würde man diesen Abbruch der Diskussion so verstehen, dass sich der enzyklopädische Erzähler hier eines abschließenden Urteils enthält, um Denkprozesse bei der Leserschaft in Gang zu bringen und um absichtlich die Unmöglichkeit der Artikulation unsicheren Wissens zum Ausdruck zu bringen. Eine zweite Lesart wäre die der kontrapunktischen Ambivalenz: Der enzyklopädische Erzähler artikuliert in diesem Artikel gleichzeitig seine epistemologische, definitorische und grundlegend vernünftige Fähigkeit, widersprüchliche, unwahrscheinliche oder zumindest kontrastierende Aussagen über die kolonialen Anderen treffen zu können; und er muss die Alteritätskonstruktion in dem Moment abbrechen, in dem sich die Nähe, wenn nicht gar die Kongruenz zum Europäer andeutet. Die Ambivalenz besteht also nicht in der toleranten Akzeptanz dessen, dass die Kanadier Wilde und Edle Wilde zugleich sein können. Die Ambivalenz besteht in der gleichzeitigen Nähe, Sicherheit, Kontrolle über den kolonialen Anderen als

152 Ebd. 153 Ebd. 154 Ebd.

2.2 Figuren und Figurationen kolonialer Ambivalenz

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Wissensobjekt und als spiegelnde Alteritätsfigur und der Distanz, seiner sich entziehenden Ferne und unmöglichen definitorischen Arretierung. «Tout cela n’est point si sauvage» funktioniert hier nicht als nostrifizierendes Einverleiben des kolonialen Anderen in Analogie mit dem Europäer, sondern repräsentiert das staunende Innehalten – und vielleicht auch den Schrecken über die unheimliche Nähe zwischen dem kanadischen Wilden und dem enzyklopädischen Erzähler. Und überdies funktioniert das Attribut des Wilden nicht mehr eindeutig zur Alienisierung des kolonialen Anderen, so dass es unbrauchbar wird und sich als Stereotyp selbst unbrauchbar macht.155 Die Figur des bon sauvage wird in der Encyclopédie in ihrer Idealisierung des kolonialen Anderen nur gelegentlich genutzt und ist in einer ersten Lektüre die machtvolle Inszenierung eines normativ-affektiv aufgeladenen Phantasmas oder Stereotyps, das allein der Zivilisationskritik dient. Eine kontrapunktische Gegenlektüre muss nun zur Analyse des ambivalenten Charakters dieser Figur auch nach der Kehrseite der Idealisierung des kolonialen Anderen fragen. Jene Kehrseite des bon sauvage ist dabei nicht die Entlarvung des Stereotyps als eurozentrisches Phantasma einer antizivilisatorischen, der aufklärerischen Selbstkritik dienenden Diskursfigur. Der bon sauvage ist in der Aufklärung nicht nur eine literarische Trope, sondern auch ein zivilisationskritischer Kampfbegriff, der von Beginn an – und sehr stark bei Rousseau in seinen Discours schon angelegt 156 – nicht auf die Konturierung oder gar konkrete Portraitierung eines Menschen oder Volkes in der kolonialen Welt angelegt ist. Beim Stereotyp des bon sauvage geht die kontrapunktische Lektüre noch über dessen Ausdifferenzierung im moralischen Diskurs hinaus. Die Ambivalenz in dieser Figur liegt

155 Zugleich greift es ein zeitgenössisches diskursives und literarisch-narratives Phänomen auf, das in anderen Texten als Wildheit des Europäers ausgelotet wird. Exemplarisch sei die 1755 erschienene Histoire d’une jeune fille sauvage, trouvée dans les bois à l’âge de dix ans von La Condamine genannt, die die Entwicklung, Erziehung oder als Zähmung zu apostrophierende Geschichte eines Mädchens erzählt, das als Mädchen in einem wilden, unzivilisierten Zustand aus einem Wald in der Nähe des französischen Städtchens Songy tritt (vgl. Charles Marie de La Condamine: Histoire d’une jeune fille sauvage trouvée dans les bois à l’age de dix ans, Paris 1755, https://gallica.bnf.fr/ark:/12148/bpt6k67832q.texteImage (24. 09. 2019). Diese literarische Figur stellt zwar die (zu erziehende) Wilde als klassisches zivilisatorische Vorstadium dar, ist aber insofern eine interessante Figur, als sie ein anachronistisches Moment im zeitgenössischen, modernen Europa repräsentiert. Als paradigmatische Figur kommt der «weiße Wilde» bis heute in Literatur und Film sporadisch wieder auf, so bspw. im Film «Nell» (vgl. Michael Apted: Nell, 1994) oder als aktuelleres, literarisches Beispiel im Roman «Ce qu’il advint du sauvage blanc» von François Garde (vgl. François Garde: Ce qui advint du sauvage blanc, Paris: Gallimard 2012.). 156 Vgl. Jean-Jacques Rousseau: Discours sur l’origine et les fondements de l’inégalité parmi les hommes.

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2 Macht und Ambivalenz in den Narrationen des kolonialen Anderen

darin, dass die Selbstentlastung des europäischen Aufklärers keine Möglichkeit, sondern nachgerade eine Notwendigkeit ist. Damit ist die machtvolle Asymmetrie zwar nicht aufgehoben oder gar zugunsten des kolonialen Anderen verkehrt, aber die Abhängigkeit von dieser positiven Entlastungsfigur des bon sauvage (die nicht allein aus Zensurgründen erfunden werden musste) stört die Waage empfindlich und macht in der Perspektive von Ambivalenz unklar, welche Gewichte zum Auswiegen des relationalen Alteritäts-Identitäts-Verhältnisses genutzt werden müssen. Die Ambivalenz liegt also in der Gleichzeitigkeit der Idealisierung oder Bewunderung des Edlen Wilden und der Abgründigkeit der europäischen défauts, die durch die Spiegelung ja zum Vorschein kommen sollen.

Anthropophages: Faszinierende Dämonen Mallets Eintrag zu den Anthropophages zeigt auf einen ersten Blick eine mehrdimensionale Distanzierung: Sie werden historisch in die mythischen Vorzeiten und in das literarische Werk von Homer eingeordnet; sie werden anthropogenerisch als weibliche Monster konturiert und schließlich evolutionistisch-zivilisatorisch in die Vorzeiten gebannt. Gleichwohl macht der enzyklopädische Erzähler selbst bei den «nations les plus policées» Spuren des Kannibalischen aus; setzt dann innerhalb der christlich-mythologischen Geschichte noch einmal neu an, um das Anthropophagische auch als Etikett für die frühen Christen und in der Folge in Verbindung mit Abendmahl und Altar zu konstruieren: Anthropophages, s. f. (Hist. anc. & mod.) d’, homme,& , manger. Les anthropophages sont des peuples qui vivent de chair humaine. Voyez ANTHROPOPHAGIE. Les cyclopes, les lestrygons & Scylla sont traités par Homere d’anthropophages ou mangeurs d’hommes. Ce poëte dit aussi que les monstres féminins, Circé & les Syrenes attiroient les hommes par l’image du plaisir, & les faisoient périr. Ces endroits de ses ouvrages, ainsi qu’un grand nombre d’autres, sont fondés sur les moeurs des tems antérieurs au sien. Orphée fait en plusieurs occasions la même peinture des mêmes siecles. C’est dans ces tems, dit-il, que les hommes se dévoroient les uns les autres comme des bêtes féroces, & qu’ils se gorgeoient de leur propre chair. On apperçoit, long-tems après ces siecles, chez les nations les plus policées, des vestiges de cette barbarie, à laquelle il est vraisemblable qu’il faut rapporter l’origine des sacrifices humains. Voyez SACRIFICE. Les payens accusoient les premiers chrétiens d’anthropophagie ; ils permettent, disoient-ils, le crime d’Oedipe, & ils renouvellent la scene de Thyeste. Il paroît par les ouvrages de Tatien, par le chapitre huitieme de l’apologie des Chrétiens de Tertullien, & par le IV.e livre de la Providence, par Salvien, que ce fut la célébration secrette de nos mysteres qui donna lieu à ces calomnies. Ils tuent, ajoûtoient les payens, un enfant, & ils en mangent la chair ; accusations qui n’étoient fondées que sur les notions vagues qu’ils avoient pri-

2.2 Figuren und Figurationen kolonialer Ambivalenz

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ses de l’eucharistie & de la communion, sur les discours de gens mal instruits. Voyez EUCHARISTIE, COMMUNION, AUTEL,&c.157

Eine kontrapunktische Lesart der kannibalischen Diskursfiguren des kolonialen Anderen scheint auf den ersten Blick sehr entlegen, wenn nicht gar unmöglich. Auch hier ist das Argument erneut, dass die Inszenierung der exotistisch-dämonischen Figur des Kannibalen zum Zwecke der Selbstkritik europäischer Verhältnisse – und dies war ja im Eintrag zum Anthropophagen mit der Verweisrichtung auf Abendmahl und Altar der Fall – keine kontrapunktische Multidimensionalität des Stereotyps ist. Die Kontrapunktik liegt auch hier in der Denkfigur, dass es sich bei der Anthropophagisierung des kolonialen Anderen nicht um eine machtvolle Klischierung handelt, sondern um eine notwendige Auslagerung der triebhaften und tödlichen Monster im europäischen Selbst, die in der detaillierten Beschreibung ja sogar in Faszination und Begehren umschlägt. Als Belege dienen einerseits die unmittelbaren Analogien zu den ‹weiblichen Monstern› der Homer’schen Welt wie Kirke oder den Sirenen, die mit ihren weiblichen Reizen die Männer um den Verstand und ums Leben bringen, und die «vestiges de cette barbarie» bei den zivilisierten Gesellschaften. Auf einen ersten Blick leistet diese Argumentationsfigur natürlich dem kritischen Angriff auf Kirche und Religion Vorschub. Auf einen zweiten Blick aber ist mit der Nennung dieser Spuren und der Verbindung von anthropophages und den «nations policées» eine trennscharfe Differenzierung problematisch geworden. Diese Spuren weisen darauf hin, dass das kannibalische Monströse auch in den modernen, zivilisierten Gesellschaften noch vorhanden ist – wenn auch nur in Spuren – und damit das bedrohliche Andere im Eigenen immer aufgehoben ist. Abhilfe scheint da das Stereotyp des Anthropophagen zu schaffen, der ausgelagert in die koloniale Welt oder ein zivilisatorisches Frühstadium als alteritäre Kontrastfolie dienen kann. Allerdings ist diese ablehnende Auslagerung immer wieder herzustellen, um sie abzusichern. Und diese Wiederholung bewirkt gleichzeitig eine alterisierende Stabilisierung und eine verunsichernde Aktualisierung des bedrohlichen alteritären Moments. Mit Bhabha gesprochen könnte hier das Stereotyp sogar in einen Fetisch umschlagen, der die Machtverhältniss nachhaltig stört und das begehrte Objekt in eine machtvollere Position bringt.158 157 Edmé-François: Anthropophages, S. 498. 158 Vgl. bspw. Homi K. Bhabha: The location of culture, 2007, S. 188). Hier ist (wieder einmal) die Nähe der postkolonialen Theoriebildung zur insbesondere Freud’schen Psychoanalyse erkennbar, operiert doch insbesondere Bhabha mit Konzepten wie Ambivalenz (s. Erläuterungen zur psychoanalytischen Fundierung des Ambivalenzbegriffs in der Einleitung, Kapitel 1.1) oder eben dem Fetisch. Neumann erhebt die Fetischisierung zu einer Art Schlüsselkonzept für die literarische Modellierung der Ambivalenz als Denkfigur und Erzählverfahren. Mittels der Fetischisierung ergeben sich Metanarrative, mittels derer sowohl das sprachliche Zeichen als auch

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Damit eröffnet sich eine Perspektive auf die kolonialen Anderen, die diesen nicht allein als kontrollier- und manipulierbare Projektionen und Selbstversicherungsstrategien des europäischen philosophe fassen. Aus dem Wechselverhältnis von Selbstidealisierung des Europäers und Diskriminierung des kolonialen Anderen in den Figuren des Barbaren und Wilden; aus dem Verhältnis von Selbstdegradierung des Europäers und Idealisierung des kolonialen Anderen als bon sauvage und homme naturel erwachsen in dieser die kolonialistischen Ambivalenzen fokussierenden Lesart hybride Figuren wie der kannibalische Christ oder der zivilisierte Wilde, aber auch Figuren der Annäherung, aber nicht Unterordnung des «rapprochement», des «à peu près», des «comme». Und selbst in jenen Artikeln, in denen das Unwissen und die unsichere Information über den Kannibalismus eines Volkes offengelegt (und zugegeben) wird (exemplarisch etwa bei den Cafres, über die kaum etwas bekannt ist, die aber dennoch als Kannibalen gelten, so durchaus skeptisch der Artikel Cafrerie159), nutzt der enzyklopädische Erzähler das Unwissen dennoch zur Projektion des unmenschlichen Schreckens. Insofern ist der Kannibale keine logische, rationale Figur der Kritik, sondern eine, die so unmittelbar mit Emotionen von Angst, Ekel, Faszination und Begehren verknüpft ist, dass sie den affektiven Kontrapunkt in ihrer kolonialen Alteritätsform zum aufklärerischen Denken und zum aufklärerischen Subjekt bildet.160 Fazit: Ambivalentes stereotyp-typologisches Alteritätswissen Stereotype sollen der eindeutigen Positionierung des kolonialen Anderen und der stabilisierenden Selbstversicherung des europäischen Selbst dienen, so dass sich eine Machthierarchie etablieren und mittels Abwertung und Aufwertung, Ausgrenzung und Abgrenzung geschichtsphilosophisch oder evolutionistisch legitimieren lässt. In einer kontrapunktischen Lektüre aber werden diese diskursiven Alterisierungsverfahren nicht nur als Möglichkeit, sondern nachgerade als Notwendigkeit für die Selbsterzählungen der europäischen Aufklärung sichtbar und deuten damit auf eine Interdependenz, wenn nicht gar eine gewisse Abhängigkeit vom kolonialen Anderen als Antagonisten hin. Diese Notwen-

die Erzählung und Erzählbarkeit selbst ambivalent werden (vgl. Gerhard Neumann: Fetischisierung: Zur Ambivalenz semiotischer und narrativer Strukturen, in: Frauke Berndt/Stephan Kammer (Hg.): Amphibolie – Ambiguität – Ambivalenz, Würzburg: Königshausen & Neumann 2009, S. 61–76). 159 Vgl. N. N.: Cafrerie, in: Denis Diderot/Jean Le Rond d’Alembert (Hg.): Encyclopédie (ENCCRE). Bd. 2, S. 529. 160 Vgl. zum Kannibalismus in der Literatur über die Aufklärung hinausgehend Daniel Fulda/ Walter Pape, (Hg.): Das andere Essen. Kannibalismus als Metapher und Motiv in der Literatur, Freiburg: Rombach Verlag 2001.

2.2 Figuren und Figurationen kolonialer Ambivalenz

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digkeiten artikulieren sich im Bereich der stereotypen Figurenkonstruktionen in Form von zwanghafter Unterdrückung im Diskurs, in Form von Wiederholungen eines relativ überschaubaren Sets an Charakteristika, die den kolonialen Anderen vage, unkonkret, ahistorisch und delokalisiert werden lassen. Damit erleichtert sich der enzyklopädische Erzähler die persuasive Argumentation, weil er durch die Verwendung des Barbaren, Wilden oder Anthropophagen spezifische xenophobe Wahrnehmungs- und Deutungsmuster aufruft und damit normative Wertungen nicht mehr explizit machen muss bzw. diese nurmehr stützt. In einer kontrapunktischen Perspektive werden die Fremdbilder nicht nur ausdifferenziert, sondern durch inhärente Widersprüchlichkeiten ambivalent, in denen Wilde und Kannibalen Ehre und Anstand, Einfachheit und stabile kulturelle Sinnsysteme ausbilden können und gleichzeitig ihre Feinde aufessen, ihre Frauen opfern oder ihre Nachbarn kaltblütig ermorden. Damit sind die kolonialen Anderen nicht mehr in ein tradiertes und einfaches Stereotyp zu verbannen. Daraus ergeben sich zwei Konsequenzen: Die Ambivalenz tritt erstens in die Alteritätskonstruktionen ein, weil in der textuellen Konstruktion Stereotype als kulturelle Schablonen für die unbekannten kolonialen Anderen instabil, brüchig oder so unbrauchbar werden. Folglich werden sie entweder im Text zu einer schwachen Beschreibungsmetapher oder aber sie werden so penetrant wiederholt und pejorativ markiert, dass die Schemenhaftigkeit des dämonischen Anderen nur umso deutlicher zutage tritt. Die Brüchigkeit der Stereotpye sind dabei bemerkenswerterweise kein Resultat der epistemologischen Aufrüstung der Aufklärung, als sie systematisch, kritisch und szientifisch etwa mit dem real-historischen kolonialen Anderen oder neuen, einmal in Gänze zusammengetragenen Informationsquellen konfrontiert werden und folglich korrigiert werden müssen. Die Brüchigkeit der Stereotype entsteht aus und innerhalb der ‹modernen› wissenspoetologischen Konstruktion kolonialer Alterität, also weniger durch die repetierten Inhalte als durch die Form der Repetition selbst. Dies wird nach den folgenden Analysen der formal-ästhetischen Verfahren der kontrapunktischen Alteritätskonstruktionen noch näher ausgeführt. In der kontrapunktischen Lektüre werden aber zweitens Leerstellen, Argumentationsbrüche, Hinweise auf Spuren des kolonialen Anderen im Eigenen sichtbar, die für eine Problematisierung des europäischen Selbstbildes sorgen. Durch die Artikulation des kolonialen Anderen im Selbst (und damit ist nicht zwingend eine Anerkennung oder eine intentionale Indienstnahme gemeint) erhält dieses einen grundlegend ambivalenten Charakter. Diese Ambivalenz kann kontrapunktisch angelegt sein, wenn textuelle Hinweise auf Widerstands- und Ohnmachtserfahrungen gegeben sind, muss aber nicht zwingend in dieser dichotomen Vorstellung der Machtverteilungen verharren. Die Leerstellen werden

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aber auch zu einer Art aufklärerischer Obsession. Sie zu eliminieren ist eines der zentralen Anliegen der Encyclopédie im Kampf gegen die weißen Flecken auf der globalen Wissenskarte, es ist aber auch zentrales Moment der Moderne überhaupt. Bauman sieht in der Bekämpfung der Leerstelle sogar die Antriebsfeder des Eroberungs-, bzw. der Kolonialprojekte, und zwar nicht aus ökonomischen, moralischen oder kulturellen Interessen, sondern dezidiert aus epistemologischen: «Die moderne Praxis ist nicht auf Eroberung fremder Länder gerichtet, sondern auf das Ausfüllen der leeren Stellen in der completa mappa mundi.»161 Und wie genau diese Leerstellen nicht mit einer Information gefüllt werden, sondern weiterhin im Modus auch ästhetischer Ambivalenz bestehen, wird im Folgenden im Hinblick auf die Konstruktionen des kolonialen Anderen als Textfiguren im Zentrum der Analysen stehen.

2.2.2 Textfiguren. «Contre-faire l’autre»? Ambivalente Textverfahren der Alterität Die enzyklopädische Abbildung, das «contre-faire», des kolonialen Anderen ist offensichtlich doch nicht so eindeutig, autoritär und objektiv herzustellen, wie es ein definitorisches Projekt wie die Encyclopédie anstrebt. In einer kontrapunktischen Lektüre der textuellen Verfahren wendet sich das «contre» im «contre-faire» in eine diskursimmanente, ambivalente Widerstandsfigur, auch und insbesondere auf der formal-ästhetischen Ebene. Zur Untersuchung dieser ambivalenten Textmomente wird es im Folgenden – analog zu den Analysen der machtvollen Textverfahren der Macht – in einem ersten Schritt um die narratologische Relektüre des machtvollen Sprechens über den kolonialen Anderen gehen. In einem zweiten Schritt werden die intertextuellen Ambivalenzen in der Verwebung mit dem hypotextuellen Umfeld und den hypertextuellen Transformationen in den Blick genommen.

2.2.2.1 Narratologische Ambivalenzen: Distanzierungen, Fokalisierungen, Adressierungen Ambivalente Distanzierungen: Erzählen von Informationen über den kolonialen Anderen – Narrative Ambivalenzen im ökonomischen Diskurs: unübersichtliche Warenübersichten und ambivalente Handels-und Kontaktsituationen – Fanatismus-Szenerien – Inszenierung als Kontrollversuch – Konzentrierung als ambivalente Machtfigur – Erzählen von Worten: Ambivalente Redeinszenierung: Sprich! Damit ich dich überhaupt einordnen kann! – Wissen erzählen, ohne

161 Zygmunt Bauman: Moderne und Ambivalenz, S. 22.

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zu Wort zu kommen – Ambivalente Adressierung als Widerstand – Erzählen von Gedanken – Ambivalente Fokalisierungen – Ambivalenz zwischen Erzählautorität und Absenz fremder Gedanken – Fokalisierungsambivalenzen – Ambivalente Stimme. Erzählen und der koloniale Andere – Ort des Erzählens. Extra- und Intradiegesen – Ambivalenz der narrativen Ebenen – Heterodiegetische Positionierungen – Subjekt und Adressat des Erzählens: narrateur ohne narrataire zu sein – Fazit: Narratologische Verfahren der Ambivalenzerzählungen – Fokalisierungsfunktionen der Macht sind Fokalisierungsfunktionen der Ohnmacht

Der enzyklopädische Erzähler lässt den kolonialen Anderen direkt oder indirekt sprechen und kommentiert mal mehr, mal weniger normativ. Determinierungsund Artikulationsmacht scheinen dabei eindeutig beim enzyklopädischen Erzähler zu liegen. Anknüpfend an die Ambivalenzmomente und -figuren des vorangegangenen Kapitels wird nun nach den störenden narrativen und intertextuellen Verfahren gefragt, die den machtvollen Kolonialdiskurs in Frage stellen, die ihn subvertieren oder schlicht mit einem alternativen Artikulationsraum konfrontieren, so dass sich der koloniale Andere und die enzyklopädische Stimme in einem gemeinsamen Artikulationsraum neu zueinander positionieren müssen bzw. der vermeintlichen Stabilität und dialektischen Anordnung ihrer Positionen beraubt sehen.162 Dazu kommt erneut die Genette’schen Kategorie des Modus zum Einsatz, mit deren Hilfe sich Wissens- und Artikulationsasymmetrien beleuchtet lassen – nun aber mit einem dezidierten Blick auf die kontrapunktische Ambivalenz.

Ambivalente Distanzierungen: Erzählen über den kolonialen Anderen Im Kapitel zu den machtvollen narratologischen Figurationen der Rede über, mit und durch den kolonialen Anderen sind unterschiedliche Verfahren herausgearbeitet worden: die Einführung eines räsonnierenden und vor allem textlen-

162 Das Erzählen von Ambivalenzen in seinen besonders narratologischen Gestaltungsformen hat Scheffel exemplarisch untersucht. «Zu den besonderen Möglichkeiten des literarischen Erzählens gehört es, gezielt Mehrdeutigkeiten im Blick auf den ontologischen Status des Erzählten, den pragmatischen Status der Erzählrede und auf die zeitlich-räumliche und kausale Ordnung von Geschehen zu schaffen. [...] Dabei ist das Spiel mit der Mehrdeutigkeit [...] durchaus kein Spezifikum der modernen Erzählliteratur. Das Spiel mit der Ambivalenz [...] ist so alt wie das Phänomen des fiktionalen Erzählens selbst.» (Michael Scheffel: Formen und Funktionen literarischer Ambiguität in der literarischen Erzählung. Ein Beitrag aus narratologischer Sicht, S. 89–103, hier S. 97) In Bezug auf die narrative Inszenierung von kultureller Ambivalenz vgl. weiterhin Bernhard Greiner: Beglaubigung von Ambiguität im Konflikt kultureller Systeme. Shakespeares Komödie The Merchant of Venice, in: Frauke Berndt/Stephan Kammer (Hg.): Amphibolie – Ambiguität – Ambivalenz, Würzburg: Königshausen & Neumann 2009, S. 291– 305.

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kenden «je», die Inszenierung von Monologen, von direkter Rede, von fingierter Rede oder etwa der Ansprache eines «tu»-narrataire. Erzählen von Informationen und Ereignissen Mit besonders vielen vermeintlich ‹sach-lichen› Informationen warten die Einträge über den kolonialen Anderen als ökonomische Wissensfigur auf. Hier herrschen, wie oben erläutert wurde, als diskursive Alteritätskonstruktionen die Akkumulation von Waren und die Eliminierung des Handelspartners vor. Allerdings ist auf einen zweiten Blick die Akkumulation von Waren nicht nur als eine souveräne Strategie der Listung und Ordnung von Dingen und Menschen zu lesen. Denn erstens sind die endlosen Aufzählungen von Kolonialwaren alles andere als übersichtlich, geordnet oder entsprechen formal einer kolonialen Buchführung. In der Lektüre der (auch noch horizontal, in der Zeile gereihten) Warenliste wird gleichzeitig Ordnung und Chaos sichtbar. Und zweitens entstehen Fragen wie: Ist die massive Warenlistung ein Versuch, den kolonialen Anderen dahinter zu verdecken? Den ökonomischen Kolonialdiskurs mit aller Gewalt zu dehumanisieren und akteursfrei zu gestalten, damit Zweifel an der Kolonialwirtschaft nicht aufkommen können? Mit Waren kann man kein Mitleid haben, sie höchstens begehren oder eine exotische Neugier auf das Unbekannte befriedigen. Mit handelnden oder produzierenden Menschen aber kann sich eine affektive Involviertheit anbahnen. Die Distanznahme des enzyklopädischen Erzählers, der im narrativen Modus auch die Ereignisse und Sachinformationen erzählt, verhindert als Auflistung eine mögliche affektive Bindung an den kolonialen Anderen als Menschen. Und ist damit umso deutlicher ein Versuch der hermetischen Abdichtung gegen den kolonialen Anderen und gegen die daraus folgenden Emotionen. Dass sich der koloniale Andere in diese ökonomischen Kolonialgleichungen als Variable aber immer wieder einschleicht, zeigen in der Encyclopédie insbesondere zwei formale Verfahren: die bildlich-szenische Evozierung von Handelssituationen in Form von Marktplatz-Analogien einerseits und in Form von Rede andererseits. Im Eintrag Constantinople ist in dieser Hinsicht nicht nur eine akkumulative Warennennung zu finden, sondern auch die szenische Schilderung des Sklavenmarktes: Constantinople, (Géog. & Comm.) [...]. Il faut que ces marchandises soient bien teintes, bien travaillées, bien aulnées. Il leur en vient aussi d’Espagne. On y commerce aussi beaucoup d’étoffes précieuses, en soie, or, & argent. Les François y débitent beaucoup de papier. Le reste des marchandises convenables pour ce lieu consiste en quincaillerie, aiguilles, rocailles, pierre de mine, fer-blanc, or & argent filés ; de la bonnetterie ; quelques préparations pharmaceutiques, comme huile d’aspic, verdet, tartre, &c. certaines

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épiceries, comme sucre, camfre, vif-argent, cochenille, céruse, plomb, &c. On reçoit en échange des lettres, quelques laines, quelques peaux, de la potasse, de la cire, &c. On y vend beaucoup d’esclaves de l’un & de l’autre sexe: ils viennent principalement de Georgie, de Mingrelie, de Circassie, & de divers lieux voisins de la mer noire. La vente s’en fait au jassir-barat ou marché des esclaves. C’est un endroit fermé de murailles & planté de grands arbres. On commence par prier pour le sultan. Les jeunes filles sont nues, sous une couverture qui les enveloppe en un crieur en publie le prix: le marchand visite la marchandise ; si elle lui convient, il la paye & l’emmene.163

Diese Reihung ist zwar in sich mittels Kategorien und Subkategorien strukturiert («quelques préparations pharmaceutiques, comme huile d’aspic [...] &c. certaines épiceries, comme sucre, camfre [...]»164), wirkt aber in der Gesamtheit eher unübersichtlich. Die Beschreibung des Frauensklavenmarktes wiederum zeigt keine ambivalente geordnete Ordnung, sondern den Blick auf eine ambivalente Ware. Einerseits wird der Sklavenmarkt spatial narrativiert, indem ein vor Blicken geschützter Raum «fermé de murailles» evoziert und die Nacktheit der jungen Mädchen vor Augen geführt wird, die wiederum unter den einhüllenden Decken nicht zu sehen, wohl wissend aber zu vermuten ist. Die textuelle Konstruktion von Enthüllung und Verhüllung des weiblichen Körpers, die insbesondere die kolonialistisch-orientalistisch-exotische (und erotisch-voyeuristische) Literatur mit ihren männlichen Blickachsen und -hierarchien prägt, kommt hier zum Einsatz (und wird in der orientalistischen und kolonialistischen Literatur des 19. Jahrhunderts noch stärker ausformuliert). Im Anschluss werden die jungen Sklavinnen direkt wieder als «marchandise» dehumanisiert, und so reihen sie sich wieder neben Stoffe, Felle, neben Zucker und Gewürze ein. Bildlich gesprochen ist in der enzyklopädischen Beschreibung eine Art Umschlag von einem geordneten europäischen Markt in den wimmelnden orientalischen Bazar zu beobachten. Damit aber nähert sich das narrativ auf Distanz gehaltene Geschehen einem dramatisch inszenierten an; hier scheint sich eher ein «showing» denn ein «telling» zu artikulieren. Dies ist allerdings nicht als exotistische oder intendierte Strategie des enzyklopädischen Erzählers zu werten. Der narrative Umschlag von der Warenliste zum Blick auf verhüllte Mädchen wieder zurück zu den «marchandises» ist vielmehr die formal-ästhetische Entsprechung dessen, was in den Diskursfiguren als ambivalenter Status der Sklaven zwischen Ware und Mensch beschrieben wurde. Der enzyklopädische Erzähler muss offensichtlich sehr auf der Hut sein, sich nicht vom Chaos, der Unordnung und der erotisch-exotischen Szenerie des Sklavenmarktes von sei-

163 Denis Diderot: Constantinople, S. 59. 164 Ebd.

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nem enzyklopädischen Projekt, zu sammeln, zu ordnen und zu beschreiben, abbringen zu lassen. Und jene Gefahr schwingt ebenfalls in den Beschreibungen des kolonialen Anderen als moralische Diskursfigur mit. Hier ging es ja unter den Attribuierungen als kriegerischer oder gastfreundlicher Anderer u. a. darum, einzuschätzen, wie Zivilisationsgrad, anthropologischer Status einzuschätzen sind und nicht zuletzt auch, welche Art der Gefährdung von ihm ausgehen könnte. Die Erzählungen sind hierbei in großer Distanz narrativiert: Zahlreiche moralische Bewertungen gehen mit den Beschreibungen der kolonialen Anderen einher – und müssen offensichtlich auch sein, damit die Dämonisierung als kannibalische Monster oder aber die Verharmlosung als ungefährliche Nomaden auch zweifelsfrei ist. Der enzyklopädische Erzähler artikuliert zugleich einen selbstbewussten Standpunkt, wie er sich mit einem dezidierten «je» als erzählerischwissende und moralische Instanz nachgerade dem kolonialen Anderen entgegenstemmen muss. Noch deutlicher wird diese problematische narrative Distanzierung vom kolonialen Anderen in den Einträgen zum kulturellen Wissen über ihn, da hier eigentlich kein ambivalenter anthropologischer Status bestehen bleiben kann. An dem Grad und den Formen seiner Kulturalisierung oder Naturalisierung soll immerhin entschieden werden, welcher anthropologische Status ihm zuerkannt werden darf. Hier finden sich Artikel, die sehr bewusst mit einer Anschaulichkeit der Szenerie operieren und versuchen, das Monströse im Menschen vorzuführen – in der Perspektive der Ambivalenz ist nun fraglich, ob es sich hier um ein rein rhetorisch-persuasives oder argumentatives Verfahren handelt. Beispielhaft sei nochmals der Eintrag Fanatisme genannt. Der enzyklopädische Erzähler geht (erstaunlich) anschaulich vor: Er erfindet eine Szene in einer Rotunde, in der sich alle möglichen Gläubigen mit ihren jeweiligen Gottheiten zusammenfinden: Imaginez une immense rotonde, un panthéon à mille autels ; & placé au milieu du dôme, figurez-vous un dévot de chaque secte éteinte ou subsistante, aux piés de la divinité qu’il honore à sa façon, sous toutes les formes bisarres que l’imagination a pû créer. A droite, c’est un contemplatif étendu sur une natte […] à gauche, c’est un énergumene prosterné qui frappe du front contre la terre, pour en faire sortir l’abondance: là, c’est un saltinbanque qui danse sur la tombe de celui qu’il invoque ; ici c’est un pénitent immobile & muet, comme la statue devant laquelle il s’humilie: l’un étale ce que la pudeur cache, parce que Dieu ne rougit pas de sa ressemblance ; l’autre voile jusqu’à son visage, comme si l’ouvrier avoit horreur de son ouvrage: un autre tourne le dos au midi, parce que c’est-là le vent du démon ; un autre tend les bras vers l’orient, où Dieu montre sa face rayonnante: de jeunes filles en pleurs meurtrissent leur chair encore innocente, pour appaiser le démon de la concupiscence par des moyens capables de l’irriter ; d’autres dans une posture toute opposée, sollicitent les approches de la divinité: un jeune homme, pour amortir l’instrument de la virilité, y attache des anneaux de fer d’un poids proportionné à ses forces ; un

2.2 Figuren und Figurationen kolonialer Ambivalenz

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autre arrête la tentation dès sa source, par une amputation tout-à-fait inhumaine, & suspend à l’autel les dépouilles de son sacrifice.165

In dieser Passage wird keine Anekdote wiedergegeben, keine Geschichte aus der Geschichtsschreibung generiert, sondern eine Szenerie voller Dichotomien imaginiert: mit unterschiedlichen kulturalisierten und gegenderten Akteuren («jeunes filles», «chair encore innocente», «jeune homme», «virilité» sowie der angedeuteten Kastration als «amputation tout-à-fait inhumaine»), spatial ausgestaltet mittels lokaler Richtungen («ici» und «là», «A droite», «à gauche») und globaler Positionierungen mittels Himmelsrichtungen («vers l’orient» «jusqu’à midi») und mittels der Imperative direkt an die Imaginationskraft der Leserschaft appeliert. Die unterschiedlichen Gläubigen werden wie Schachfiguren oder Schauspieler im Raum positioniert und zur Anschauung instrumentalisiert. Auf einen ersten Blick scheint diese Art der Inszenierung allein schon vor dem philosophisch-ideologischen Hintergrund der Aufklärung auf der Hand zu liegen, da die religiösen Überzeugungen und Handlungen immer kontrastiv und sogar kontradiktorisch inszeniert werden. Da entblößt sich etwa der eine, weil Gott nicht erröten wird, und verschleiert sich der andere, als würde Gott sich für die eigene Schöpfung schämen. Die Ambivalenz liegt also einerseits in der arbiträren und eben teils sogar kontradiktorischen religiösen Praktik, die der enzyklopädische Erzähler hier strategisch vor Augen führt. Andererseits liegt eine gewisse Doppelbödigkeit (die nur bedingt einen ambivalenten Charakter hat) auch im Gottesbegriff selbst. Es wird in dem Encyclopédie-Eintrag keineswegs nur die exotische Gläubigkeit der kolonialen Anderen ridikülisiert, sondern Gott (und keine Göttlichkeit, kein «idole» oder göttliche Natur o. ä.) wird mittels Personalisierung als Akteur eingeführt und ironisch kommentiert. Da kann Gott etwa erröten oder sich nicht schämen. Ähnlich wie im Eintrag zu den Anthropophagen und ihrer Verbindung zum Abendmahl also wird hier der exotische koloniale Andere zur Selbstkritik genutzt und damit das Eigene verunsichert. Eine zweite Lesart aber hebt nicht diese aufklärerische religionskritische, strategische Inszenierung von Ambivalenz, Widersprüchlichkeit oder Selbstkritik hervor. Die kontrapunktische Ambivalenz zeigt sich vielmehr einerseits in der Konstruktion dieser spielfigurenartigen Szenerie, die einen keineswegs spielerischen oder ausschließlich religionskritischen Versuch darstellt, den kolonialen Anderen kulturell einzuordnen und in seiner religiösen Unmündigkeit zu degradieren. Der enzyklopädische Erzähler muss den kolonialen Anderen auf seinen Platz verweisen, ihn einordnen und dominieren, bis hin zu einer Entmenschlichung (die Praktik der unausgesprochenen (!) Kastration wird als un-

165 Alexandre Deleyre: Fanatisme, S. 393.

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2 Macht und Ambivalenz in den Narrationen des kolonialen Anderen

menschlich abgewertet). Diese Kontrolle muss sein, denn von dem Fanatiker geht eine große Gefahr aus: Der Artikel fährt mit dem (nahezu apokalyptischen: «tremblent», «tumultueux», «le vertige») Schreckensszenario fort, dass jene Fanatiker die ganze Welt unter ihre Kontrolle bringen und ins Chaos stürzen: Voyez-les tous sortir du temple, & pleins du dieu qui les agite, répandre la frayeur & l’illusion sur la face de la terre. Ils se partagent le monde, & bientôt le feu s’allume aux quatre extrémités ; les peuples écoutent, & les rois tremblent. Cet empire que l’enthousiasme d’un seul exerce sur la multitude qui le voit ou l’entend, la chaleur que les esprits rassemblés se communiquent ; tous ces mouvemens tumultueux augmentés par le trouble de chaque particulier, rendent en peu de tems le vertige général.166

Der Punkt ist, dass hier nicht nur ein monströses koloniales Gegenüber artikuliert wird, das die Erde bedroht, sondern dass die vorangegangene Spielfigurenszenerie auf genau dieses Chaos reagiert bzw. es präludiert und so ein Spannungsfeld der Ambivalenz zwischen Gedankenspielen entsteht. Und schließlich schwenkt der Blick im Folgenden auch auf den innerlich zerrissenen und ängstlichen Menschen, der zum Monster mutieren muss, weil er fehlgeleitet durch die religiösen Dogmen im ewigen Widerspruch mit sich selbst, «une contradiction éternelle avec lui-même», stehe: […] il se forme un mélange corrompu des faits de la nature avec les dogmes de la religion, qui mettant l’homme dans une contradiction éternelle avec lui-même, en font un monstre assorti de toutes les horreurs dont l’espece est capable: je dis la peur, car l’amour de la divinité n’a jamais inspiré des choses inhumaines. Le fanatisme a donc pris naissance dans les bois, au milieu des ombres de la nuit ; & les terreurs paniques ont élevé les premiers temples du Paganisme.167

Und so wird auch die Erklärung problematisch, dass die evozierte Szenerie in der Rotunde rhetorisch-argumentative Kraft entfaltet und jenes Bild des souveränen, überblickenden und hier sogar aus der Imaginationskraft schöpfenden philosophe allegorisch fasst. Diese Szenerie wirkt nun mehr als ein nur leidlich beruhigendes Gedankenspiel, das die Kontrolle über die irrationale Gläubigkeit der Menschen vorführt und überdies, in der sich auflösenden räumlichen Systematisierung (die Rotunde ist ja nicht nur ein kirkensischer Raum der Aufführung, sondern auch einer, der auf ein Zentrum hinweist und alles miteinander in Beziehung bringt – und damit auch umzingelt ist – und nicht etwa, wie in einer Bibliothek, in Regalen nebeneinander verstaut), die Hybris des enzyklopä-

166 Ebd. 167 Ebd.

2.2 Figuren und Figurationen kolonialer Ambivalenz

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dischen Arrangements eher ausstellt als sie zu plausibilisieren. Angst, nicht der Wille zum Wissen, prägt das enzyklopädische Projekt. Die Ambivalenz in der Erzählung von Ereignissen liegt darin, dass diese, sobald sie den kolonialen Anderen inkludieren, unmittelbar in die Selbstkonstruktionen und damit auch in die problematische Erzählbarkeit von Alterität eingreifen. Die Geschehnisse werden zwar in der Distanz im narrativen Modus beschrieben, kippen aber ganz leicht in Richtung des dramatischen Modus aufgrund der anschaulichen, lebendigen Szenerien mit menschlichen Akteuren, obwohl sie enzyklopädisch-epistemisch zu handhabbaren menschheitsgeschichtlichen oder kuriosen Gegebenheiten transformiert werden sollen. Von einer veritablen Ambivalenz von narrativem und dramatischem Modus zu sprechen, wäre über das Ziel hinausgeschossen. Aber innerhalb des eindeutigen narrativen Modus finden sich Hinweise, dass sich die Distanz zur Wissenswelt des kolonialen Anderen doch nicht so eindeutig aufrechterhalten lässt. Erzählen von Worten Wenn Menschen stumm bleiben in der Encyclopédie, dann ist das nicht nur eine machtvolle Unterdrückungsgeste im Diskurs. Dann könnte das auch, ähnlich wie im Falle des Nomadismus, ausdrücken, dass sich der koloniale Andere den epistemologischen wie kolonial-identitären Positionierungen durch den europäischen philosophe entzieht. Wenn der koloniale Andere nicht spricht, enthält er dem enzyklopädischen Erzähler die Wahrnehmung vor, ob der Andere nun Mensch oder Tier ist, und dient gleichzeitig nicht der Spiegelung. Der narrative Ausweg aus diesem Sprech- oder Schweigedilemma besteht entweder darin, dem kolonialen Anderen die Sprachfähigkeit gänzlich abzusprechen und ihn damit in das Stereotyp des aphasischen Barbaren zu verbannen; oder aber der koloniale Anderen bekommt eine mehr oder weniger ausgeprägte Sprechrolle, in der er dann aber der Degradierung anheimfällt bzw. für die zivilisatorische Selbstkritik genutzt wird. Damit kann die Inszenierung von menschlicher Rede gleichzeitig etwa ein Akt emanzipatorischen Kulturrelativismus sein oder Ausdruck der Wissensdiversifizierung, die auch anderer Menschen Meinungen und Überzeugungen gelten lässt, und ein Akt der zwingend erforderlichen Artikulation, ohne die es dem enzyklopädischen Erzähler unmöglich wäre, den kolonialen Anderen einzuordnen, ihn als Gegenüber zu inszenieren und damit ein differenziertes Selbstbild zu entwickeln. Die Ambivalenz in der inszenierten Rede liegt in ihrer Notwendigkeit für den enzyklopädischen Erzähler, ohne die dieser sich nicht relational-reziprok als wissend-diskursivierend begreifen könnte. Bei der göttlichen Ansprache muss der Europäer staunend zusehen. Im Eintrag zu den Kanadiern wird, wie oben schon ausgeführt, eine mündliche Rede inszeniert. Der Kanadier glaube auf so unumstößliche Weise an die Omniprä-

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2 Macht und Ambivalenz in den Narrationen des kolonialen Anderen

senz Gottes, dass er ihn überall erkenne.168 Diese Redewiedergabe hat einerseits die Funktion, die Religiösität des kolonialen Anderen auszustellen, und wie eine Art Stoßgebet oder Anrufung ist dies auch einem europäischen Gläubigen nicht fremd. Der enzyklopädische Erzähler lässt hier eine Situation entstehen, in der er – nahezu ethnologisch – neben dieser Szenerie steht und aus der Kommunikationssituation ausgeschlossen bleibt: Die narratologische Inszenierung der Rede lässt ihn auf Distanz bleiben (keine nostrifizierende wiedergegebene Rede, Markierung der alteritären und mündlichen Sprache durch Kursivierung und die Interjektion «O»). Adressiert wird der «grand esprit», die Sprechenden sind die Kanadier, zusätzlich markiert mit einem «nous». Die distanzierende Inszenierung der mündlichen Rede zeigt hier gleichzeitig einerseits einen kulturtoleranten Zug, da der koloniale Andere zu Wort kommt, eine relativ nüchterne Rekonstruktion des göttlichen Omnipräsenz-Prinzips dieser Rede vorangeht und keinerlei normative, evaluative oder alterisierende Kommentierung im Nachgang folgt. Andererseits aber ist der enzyklopädische Erzähler auf die Beobachterposition zurückgeworfen, weil er aus der Kommunikationssituation ausgeschlossen ist, da er nicht adressiert wird, und offensichtlich auch keinen machtvollen, normativen Kommentar anhängen kann oder will. Die machtvolle Inszenierung der mündlichen Rede ist zwar immer noch da; die Inszenierung der mündlichen Rede des Europäers aber tritt in den Artikeln zum kolonialen Anderen deutlich zurück bzw. ist quasi inexistent. Damit beschreibt, definiert und bewertet der enzyklopädische Erzähler zwar permanent die Wissensbestände, von denen er erzählt, aber ‹zu Wort› kommt er nicht; auch nicht in jenen Passagen, in denen er als «je» das Wissen bewertet. Dies mag ein Beweis für die Literarizität des europäischen Wissens sein, während die mündliche Rede der kolonialen Anderen deren analphabetische, orale Kulturen ausweist und toleriert. Es wird aber auch deutlich, dass der enzyklopädische Erzähler sich selbst nie in einen veritablen Dialog mit dem kolonialen Anderen setzt. Und damit selbst in der enzyklopädischen Diegese ungestört, aber auch ungehört bleibt – inmitten der machtvollen epistemologischen Definitionen. Allerdings adressiert der koloniale Andere in der Encyclopédie auch hin und wieder den europäischen Menschen oder Herrschern. Und dies nicht nur in der zivilisationskritischen Ansprache des Wilden in der Wollmanufaktur,169 sondern etwa auch bei dem Friedensangebot an Cortès in Mexiko. So wird im Eintrag Victime humaine (vgl. die Analysen im Kapitel 2.1) eine Ansprache mexikanischer Gesandter an den europäischen Eroberer geschildert, in der sie ihm unterschiedliche Friedensgeschenke darbieten:

168 Vgl. Jean Pestré: Canadiens (Philosophie des), S. 582. 169 N. N.: Laine, Manufacture en laine ou Draperie, S. 184–194.

2.2 Figuren und Figurationen kolonialer Ambivalenz

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Quelques peuples du Mexique ayant été battus par Fernand Cortès, lui envoyerent des députés avec trois sortes de présens, pour obtenir la paix. Seigneur, lui dirent ces trois députés, voilà cinq esclaves que nous t’offrons ; si tu es un dieu qui te nourrisses de chair & de sang, sacrifie-les ; si tu es un dieu débonnaire, voilà de l’encens & des plumes ; si tu es un homme, prens ces oiseaux & ces fruits.170

Diese Passage ist nicht nur aufschlussreich, weil hier die mexikanischen Einwohner mit einer (typographischen und die Interpunktion betreffend unmarkierten) direkten Rede inszeniert werden und so die situative, kommunikative Inszenierung dieser Szene plastischer wird. Diese Anrede der kolonialen Anderen ist vielmehr in sich ambivalent angelegt, denn sie artikuliert gleichzeitig einen Unterwerfungsgestus und eine angedeutete Infragestellung von Status und entsprechenden Autoritätsansprüche des spanischen Konquistadors. Die Gesandten eröffnen demzufolge die Möglichkeit, Cortès könne dämonischer bzw. gutmütiger Gott oder aber Mensch sein. Sie erkennen seine göttliche Allmacht hingegen nicht per se an: Cortès kann ein Gott, aber durchaus auch nur ein Mensch sein und ist damit in seiner Autorität nicht eindeutig. Hier wird gleichzeitig mit der Opfergabe der Adressat in seiner Autorität bestätigt und vage belassen. Denn auch der enzyklopädische Erzähler enthält sich eines Kommentars, er inszeniert nicht einmal eine Replik des spanischen Eroberers auf diese ambivalente Anrufung. In dieser Unentschiedenheit zwischen Gott und Mensch, zwischen Allmacht und Macht liegt das Potenzial des Widerstands in der Ambivalenz. Und dieser Widerstand kommt sowohl der enzyklopädischen Erzählstimme zu, denn er lässt sich als leise Kolonialkritik ausdeuten, als auch den unterworfenen Gesandten durch die Diversifizierung der Machtpositionen. Anders sind da jene Passagen, in denen die mündliche Rede des kolonialen Anderen narrativ und ohne Distanz wiedergegeben wird, um sie anschließend normativ bewerten und kommentieren zu können. So im bereits erwähnten Artikel Insensibilité, in dem die gebährenden Frauen ja in einem kulturimmanenten Dialog beschrieben werden: [...] c’est une très grosse injure parmi elles que de dire, tu as crié quand tu étois en travail d’enfant ; tant ont de force le préjugé & la coutume ! Je crois que cet usage ne sera pas aisément transplanté en Europe [...].171

Hier sind die anderen Frauen der Irokesen adressiert; abermals ist der enzyklopädische Erzähler aus der Kommunikationssituation ausgeschlossen. Hier allerdings ist diese externalisierte Situation für den enzyklopädischen Erzähler

170 Louis de Jaucourt: Victime Humaine, S. 242. 171 N. N.: Insensibilite, S. 788.

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2 Macht und Ambivalenz in den Narrationen des kolonialen Anderen

offenbar eine Herausforderung – und diese ergibt sich vielleicht aus der Verwendung des Personalpronomens «tu», das zwar die anderen Frauen adressiert, aber auch den enzyklopädischen Erzähler und wirkungsästhetisch gar die Leserschaft adressiert und damit involviert – denn er schaltet sich nicht nur direkt kommentierend und abwertend ein («préjugé» und «coutume»), sondern fährt unmittelbar mit einem kontrastierenden und «je» fort. Die Analyse dieser Redeinszenierung als machtvolles narratologisches Verfahren zur Stärkung der Machtasymmetrien führt hier zunächst die machtvolle Redeerteilung, die abwertende Kulturevaluation und das machtvolle wissenspoetische «je» vor Augen. Die kontrapunktische Lektüre kann nun die Ambivalenz in dieser Redesituation verdeutlichen, indem sie die Ausgeschlossenheit des europäischen Erzählers herausarbeitet, die für den Erzähler nicht gewählte, sondern nachgerade zwingende persönliche (durch das «je» als Redepositionierungsgeste, aber auch als Annäherung an eine eigene mündliche Rede, die durch ein «ich» angeführt wird) Einmischung, Kommentierung und Abwertung sind. Hier zeigt sich dann, dass die kulturtolerante Haltung, den Anderen zu Wort kommen zu lassen, gar nicht zu einer Aufhebung der Machtasymmetrien führt. In diesem Falle führt die Evozierung der kolonialen Rede- oder Gesprächssituation dazu, dass sich der enzyklopädische Erzähler als ausgeschlossen erfährt und offensichtlich dringend Präsenz demonstrieren muss – nicht kann. Mit dieser Positionierung aber ist die dritte Untersuchungsebene im Bereich der narratologischen Distanz in Sicht: die erzählerische Konstruktion von Gedanken. Erzählen von Gedanken Die Gedanken des kolonialen Anderen werden in der Encyclopédie nicht artikuliert. In den Machtanalysen ist dies als Distanzwahrung des enzyklopädischen Erzählers gegenüber dem kolonialen Anderen gedeutet worden. Der enzyklopädische Erzähler gibt aufgrund der inexistenten Quellenlage (vgl. Kapitel zum hypotextuellen Diskursfeld der Encyclopédie) und aus einer gewissen Kulturtoleranz heraus nicht vor, die Gedankenwelt des kolonialen Anderen artikulieren zu können. Aber er lässt sich kulturrassistisch auch nicht dazu herab, dem kolonialen Anderen einen derartigen Subjektstatus zuzuerkennen, dass er es für wichtig (und empathisch möglich) erachtet, ihm in die fremden Gedanken zu folgen. Während in den exotistisch-literarischen Texten der Aufklärung der innere Monolog als Gedankeninszenierung (zu exotistischen oder zivilisationskritischen Zwecken) durchaus gängig ist (exemplarisch etwa Voltaires Ingénu), wird dieses Verfahren in der Encyclopédie nicht genutzt. Grund dafür könnte die Unmöglichkeit zu sein, die sich in der empathischen Spiegelung fremder Gedanken ausdrückt. Der koloniale Andere ist in seiner Gedankenwelt vollkommen unzugänglich und muss nachgerade von außen beschrieben werden. Eine

2.2 Figuren und Figurationen kolonialer Ambivalenz

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auktoriale (um einmal die Terminologie von Stanzel zu bemühen) Erzählhaltung artikuliert sich hier nicht, denn hier stößt selbst der alles überschauende philosophe an seine Grenzen. Und diese kann er gerade nicht souverän abstecken und benennen. Ambivalente Fokalisierungen. Erzählen vom kolonialen Anderen Auch im Bereich der Fokalisierung war der Befund bisher eindeutig: Der enzyklopädische Erzähler nimmt eine interne Fokalisierung vor, denn so wird auf der narratologischen Ebene die von d’Alembert formulierte Übersicht des philosophe über das Wissenslabyrinth konstruiert. Der koloniale Andere gerinnt dadurch zum Anschauungsobjekt, da er im Gesichtsfeld des enzyklopädischen Erzählers steht. Ausgangspunkt dieser Fokalisierungen ist immer der enzyklopädische Erzähler; Wissensobjekt ohne psychologische Tiefe der koloniale Andere (als animalischer Wilder ohnehin nicht und selbst mit menschlichen Zügen eher stereotyp als konkret-individualisiert). Die Fokalisierungshierarchie ist also asymmetrisch und vermeintlich eindeutig zugunsten des enzyklopädischen Erzählers ausgestaltet. Auf einen zweiten Blick aber ist diese Blickasymmetrie nicht zwingend so eindeutig in machtvolle und ohnmächtige Positionen einzuteilen. Handelt es sich hier tatsächlich um den Über- und Durchblick? Oder inwiefern artikulieren sich in den Encyclopédie-Artikeln auch Diskursmomente, in denen der enzyklopädische Erzähler die Außensicht nicht als epistemisches Prinzip, sondern als einzige Möglichkeit zur Wissenskonstruktion ergreifen muss und folglich auf die Fassaden angewiesen und auf sie zurückgeworfen ist? Sieht man das auf die Sicht des enzyklopädischen Erzählers begrenzte Gesichtsfeld einmal nicht als gewählte Perspektive, sondern als begrenztes Sichtfeld, dann steckt nicht der Erzähler seine Wissensgrenzen ab, sondern dann bildet die Außengrenze des kolonialen Anderen seinen Wissenshorizont. Alle Geschichten und Handelsmotive, alle Sinnzusammenhänge und kulturellen Riten kann er ausschließlich von außen beschreiben. Dies ist nicht nur ein reifzierender, kulturarroganter Gestus vermeintlicher Wissenschaftlichkeit gegenüber dem Wissensobjekt des kolonialen Anderen, sondern auch eine Notwendigkeit, die der enzyklopädische Erzähler nicht umgehen und nicht auflösen kann. Deshalb ist er einerseits auf die Außendarstellung des kolonialen Anderen angewiesen,172 andererseits ist er dann in ethischen, moralischen, identitären Fragen immer wieder auf sich zurückgeworfen.

172 Diese Außendarstellung ließe sich auch als kulturtolerante Geste der Aufklärungsdiskurse werten; bei der die Machthierarchie dann immer noch zugunsten des toleranten philosophe laufen würde.

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2 Macht und Ambivalenz in den Narrationen des kolonialen Anderen

Übersicht und interne Fokalisierung des enzyklopädischen Erzählers treten in ein epistemisches Spannungsverhältnis, das die enzyklopädische Souveränität in ihrer Allwissenheit (auch und gerade durch die Benennung der Grenzen des Wissens) nachgerade ins Wanken bringt. Der Anspruch, alles Wissen der Welt zu überblicken und es gleichermaßen systematisch zu durchdringen, wird in den Fremdbildern des kolonialen Anderen besonders herausgefordert, wirft den enzyklopädischen Erzähler auf seine Position zurück und verweigert jeden Einblick in die fremden Gedankenwelten. Das ist insofern überraschend, als es, wie oben angedeutet, durchaus fiktionale Vorbilder bzw. einen literarischen Diskurs gibt, in denen der koloniale Andere – zumeist in exotistischer Stereotypisierung und/oder als zivilisationskritischer bon sauvage – sprechen, zweifeln, fühlen und denken darf (hier sei nochmals auf Voltaires kritisch-spöttelnden Ingénu173 verwiesen, aber auch auf Lahontans Dialogues avec un sauvage,174 auf Diderots mahnend-verzweifelten Alten in den Suppléments au voyage de Bougainville,175 auf die Lettres d’un sauvage depaysé176 oder auf die Kritik an der Encyclopédie ausgerechnet in der imaginierten Parodie der Enzyklopädisten als quakendes fremdes Volk der Cacouacs).177 Diese Absenzen begründen sich sowohl aus der Quellenlage als auch aus der Poetizität des enzyklopädischen Textes. Die Innenperspektive des kolonialen Anderen ist in der Encyclopédie nicht rekonstruierbar, weil es keine Quellen dazu gibt. Sie ist aber auch nicht (die Ausnahmen wurden bereits zitiert) konstruierbar, weil zwar die Imaginationskraft und das literarische Genre dieses fiktive Wissen ermöglicht hätten, der enzyklopädische Erzähler aber schon in der Bestimmung des kolonialen Anderen als Mensch (und damit als sprach- und denkfähiges Wesen) durchaus in Schwierigkeiten kommt. Damit ist die Absenz der Gefühls- und Gedankenwelt des kolonialen Anderen nicht nur ein Akt der narrativen Macht der Exklusion und Dehumanisierung, sondern auch ein Zeichen der narrativen Ohnmacht und Ratlosigkeit ob der Perspektivwechsel im Blick auf die Welt.

173 Vgl. Voltaire: L’Ingénu, Paris: Flammarion [1767] 2004. 174 Vgl. Louis Armand de Lom d’Arce de Lahontan: Dialogues avec un sauvage, Montréal: Lux [1702/3] 2010 sowie Louis Armand de Lom d’Arce de Lahontan/Henri Coulet: Dialogues de Monsieur le Baron de Lahontan et d’un sauvage dans l’Amérique. 175 Vgl. Denis Diderot: Supplément au Voyage de Bougainville, Paris: Librairie Générale Française [1796] 1995. 176 Vgl. Jean Joubert de LaRue: Lettres d’un sauvage depaysé. Contenant une critique des moeurs du siècle et des réflexions sur des matières de religion et de politique, Amsterdam: Jolly 1738. 177 Vgl. Anonyme/Jacob Nicolas Moreau: Nouveau Mémoire pour servir de l’histoire des Cacouacs, in: Mercure de France 8 (1757), S. 103–108.

2.2 Figuren und Figurationen kolonialer Ambivalenz

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Ambivalente Stimme. Erzählen und der koloniale Andere Auch die erzählerische Stimme kann in einer kontrapunktischen Relektüre neu akzentuiert werden, indem ihre Position als Positionierungen, ihre Involviertheit als Nähe-Distanz-Oszillationen und ihre innertextuelle Kommunikationssituation neu perspektiviert werden.

Ort des Erzählens. Extra- und Intradiegesen Zur Inszenierung von Informationen oder Ereignissen, zur Einführung der Rede des kolonialen Anderen oder zur Absetzung als enzyklopädische Erzählinstanz nutzen die Encyclopédie-Artikel oftmals narrative Einschübe. Wie im vorangegangenen Kapitel gesehen, dienen diese Geschichten oftmals der vermeintlich authentischen oder aber distanzierenden Wiedergabe von Wissensbeständen, ohne diese aber als veritable Intradiegesen an eine Sprach- und Erzählmacht des kolonialen Anderen zu knüpfen. Die durchgehende interne Fokalisierung bedingt, einen kommentierenden, vernünftig diskutierenden und oftmals auch evaluierenden Erzähler zu Wort zu kommen lassen, der die koloniale Welt als Wissensobjekt systematisch zu beschreiben hat. Nun wird in den Geschichten über die kolonialen Anderen aber auch deutlich, dass diese in ihrer Welt fest identifiziert und in ihr wie in einem geschlossenen Sinnsystem beheimatet sind. Hier präsentiert sich ein orientierendes Sinnsystem in Form einer (zwar nicht immer für die enzyklopädischen Erzähler verständlichen, aber immerhin doch konsistenten) Kultur. In der enzyklopädischen Narration wiederum wird die kulturelle Welt des enzyklopädischen philosophe zwar als Kontrastfolie und in ihrer Überlegenheit zu Vergleichen herangezogen, scheint aber als identifizierend immer wieder bestätigt werden zu müssen. In dieser Perspektive wird die vermeintlich eindeutige Hierarchie zwischen den narrativen Ebenen uneindeutig, und es stellt sich die Frage, inwiefern es ein eindeutiges Zeichen narrativer Macht ist, dass dem kolonialen Anderen eine Diegese vorenthalten wird. Der enzyklopädische Erzähler muss sich immer wieder in die Alteritätsgeschichten kulturevaluierend einschalten: durch pejorative Attribuierungen bestimmter kultureller Praktiken und durch normative Unterbrechungen (idealisierend, rassistisch, diskriminierend, abwägend), die der steten Rahmung des kolonialen Anderen dienen. Der enzyklopädische Erzähler lässt die Illusion eigener kolonialer Lebenswelten nicht zu einer eigenständigen Diegese avancieren, er muss abbrechen und vernunftgeleitet kommentieren, um den monströsen Begebenheiten und nicht zuletzt auch den eigenen Phantasmen Einhalt zu gebieten. In dieser Perspektive wird die enzyklopädische Diegese von den alterisierenden Geschichten herausgefordert und in Bezug auf die Artikulation von kolonialer Macht ambivalent: Bildlich gesprochen zieht der enzyklopädische Erzähler

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die Welt des kolonialen Anderen ebenso sehr in die Encyclopédie hinein, wie der koloniale Andere den enzyklopädischen Erzähler aus seiner Welt heraushält und dessen Lebenswelt verunsichert.

Stellung des Erzählers zum Geschehen: Hetero-, homo-, autodiegetische Erzähler Die Stellung des enzyklopädischen Erzählers zum erzählten Wissen ist in der enzyklopädischen Wissenspoetik bereits ambivalent angelegt, da ja einerseits die bekannte Maxime des externen, überhöhten Standpunkts gilt und damit eine Externalität vom Erzählten gefordert ist; andererseits aber räumt d’Alembert auch die ‹Individualität› der Weltsicht (eine mit Genette gesprochen: interne Fokalisierung) ein, indem er die Wissensordnungen an den persönlichen Standpunkt des philosophe bindet: «la forme de l’arbre encyclopédique dépendra du point de vue où l’on se mettra pour envisager l’univers littéraire».178 Diese Perspektivierung ist in den Fokalisierungen ja schon eingehend untersucht worden. Doch die Forderung nach Übersicht und Sichtbeschränkung schlägt sich auch in der Positionierung des erzählenden philosophe nieder. Eine ambivalente Stellung des Erzählers wird dann sichtbar, wenn die Reziprozität der Alteritätskonstruktionen die Lektüre perspektiviert und in der Folge sich Machtrelationen und Erzählpositionen doch nicht so eindeutig korrelieren lassen. Der heterodiegetische Erzähler ist demgemäß genauso souverän in seinem distanten Blick auf seine Wissensobjekte, wie er dieser Wissenswelt äußerlich bleiben muss. Schweigt der koloniale Andere, ist also seine Stellung zum Geschehen nicht zu erkennen (s. o.), dann ist auch die Machtstellung qua diegetischer Positionierung des enzyklopädischen Erzählers unklar und muss unbedingt wieder hergestellt werden. Die narratologischen Kategorien des auto-, hetero- oder homodiegetischen Erzählers sind nicht mehr eindeutig an narrative Positionen der Macht gekoppelt und bekommen eine beunruhigende Unschärfe. In der oben bereits besprochenen Passage aus dem Eintrag Fanatisme meldet sich der enzyklopädische Erzähler in der «je»-Form zu Wort, um die Verwendung des Begriffs Angst («je dis la peur») reflektiert zu begründen. In einer kontrapunktischen Lektüre scheint nun auffällig, dass der enzyklopädische Erzähler offenbar jene Monster, die aus dem religionsindizierten Selbstwiderspruch erwachsen, nicht unwidersprochen stehen lassen kann. Und so folgt unmittelbar auf den unaushaltbaren inneren Widerspruch, auf das Monster und alle «horreurs dont l’espece est capable» (über die Verbindung durch einen Doppelpunkt)

178 Jean Le Rond d’Alembert: Discours Préliminaire de l’Encyclopédie, S. 86.

2.2 Figuren und Figurationen kolonialer Ambivalenz

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der vernünftige, sprachphilosophisch gebildete und argumentativ umsichtige enzyklopädische Erzähler, der mit dem determinierenden Sprechen als «je» dem Chaos und der Monströsität Einhalt zu bieten verspricht. Er stellt sich zwischen die Angst und die Liebe: […] il se forme un mélange corrompu des faits de la nature avec les dogmes de la religion, qui mettant l’homme dans une contradiction éternelle avec lui-même, en font un monstre assorti de toutes les horreurs dont l’espece est capable: je dis la peur, car l’amour de la divinité n’a jamais inspiré des choses inhumaines.179

Die inhärente Ambivalenz im Menschen muss der philosophe nachgerade benennen und sich ihr entgegenstellen. Und so kann die Artikulation des «je» nicht nur als eine Geste der Souveränität und als Garant sprachlicher wie argumentativer Präzision gelesen werden, sondern steht auch für die eigene Angst. Und so wird das «je» nicht ambivalent in einem Sinne, dass die Sprecherposition nicht mehr eindeutig wäre: Es stellt sich nie die Frage, wer als «ich» eigentlich spricht; auch wenn in den Redewiedergaben dem kolonialen Anderen durchaus das Sprechen in der Ich-Form zugestanden wird, so gibt es keinen Zweifel an der Position des enzyklopädischen «je». Gleichwohl ist auch deutlich geworden, dass diese Position nicht als autodiegetisch beschrieben werden kann, da das «je» der gewussten Welt äußerlich bleibt und bleiben muss. Und damit stellt sich der enzyklopädische Erzähler nicht machtvoll außerhalb der Diegese, vielmehr rückt das «je» ihn in ein sehr einsames, losgelöstes Zentrum. Ein Zentrum, das in dieser Hinsicht weniger an Macht als an eine ambivalente Position des Wissenden gekoppelt ist. Subjekt und Adressat des Erzählens In den Ambivalenzlektüren der Inszenierungen der mündlichen Rede, sei es als direkte oder als indirekte Rede, ist schon angedeutet worden: Der enzyklopädische Erzähler beschreibt und bewertet, rahmt und erteilt dem kolonialen Anderen ab und an das Wort; zu Wort kommt er selbst aber nie. Der koloniale Andere stellt, wie oben gesehen, oftmals intrakulturelle Kommunikationssituationen her: etwa die Anrufung der Götter oder die Ansprache von Stammesgenossen. Das kommunikative Dilemma für den enzyklopädischen Erzähler wird nun sichtbar: Wie soll die Alteritätskonstruktion vonstatten gehen, wenn der koloniale Andere entweder schweigt und sich so einem Verständnis, einer Kontrolle und einer Spiegelung entzieht, oder wenn der koloniale Andere immerzu nur einen kolonialen narrataire adressiert? Dieses Dilemma löst der enzyklopädische narrateur, indem

179 Alexandre Deleyre: Fanatisme, S. 393.

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er im Anschluss an solche evozierten Kommunikationssituationen zumeist kritische Kommentare, kurze Analysen oder aber pejorative Deutungslenkungen (unmenschlich, barbarisch, schrecklich, monströs etc.) unterbringt. Auf diese Weise versucht er zu verhindern, dass das Fokalisierungs- und Wissenszentrum aus dem Blick zu geraten droht. Damit ist die epistemische Hierarchie, die sich zwischen Subjekt und Adressat des Erzählens normalerweise zugunsten des wissenden Subjekts ausgestalten sollte, durch mehrfache Ambivalenzen gekennzeichnet: Der koloniale Andere adressiert einen narrataire in seiner kulturellen Welt, und hält damit den europäischen philosophe paradoxerweise auf Abstand, wo dieser ihm doch wissend und erklärend über die Schulter schaut. Der enzyklopädische Erzähler wiederum wird vom kolonialen Anderen nie adressiert und ist auf diese Beobachterposition auch verwiesen. Der enzyklopädische Erzähler wiederum spricht stets kritisch über den kolonialen Anderen. Hier adressiert er einen enzyklopädischen narrataire, der gemäß der eigenen epistemischen Programmatik und Poetik der Encyclopédie wiederum auf die textexterne Leserschaft verweisen soll. Gleichzeitig aber stellen die kritischen Kommentare und die Analysen normativer wie metareflexiver, Wissen evaluierender Art immer auch eine Art Replik auf die erzählten kolonialen Anderen dar.

Fazit: Narratologische Verfahren der Ambivalenzerzählungen Der Befund, dass Wissen in der Encyclopédie erzählt und nicht definiert und objektiv geschildert wird, verkehrt sich in der kontrapunktischen Lektüre von einer Option zu einer Notwendigkeit: Wissen zu beschreiben mittels objektiver Kriterien ist – insbesondere im Falle des kolonialen Anderen – illusorisch bzw. eine große Herausforderung. Durch die reziproke Anlage der Alterität, durch die Wissenslücken in der Informationslage, vor allem aber durch die diskursive Gestalt des kolonialen Anderen muss sich der enzyklopädische Erzähler zwar immer wieder in das Projekt einschreiben, die Erzählautorität aber auch anderen zuteilen oder diese sogar abgeben. Das eingeschriebene «je» zeugt in dieser Perspektive weniger von einer Textregie als vielmehr von der Relativierung eines Standpunktes. Nun ist die Annahme, dass in dem großen Projekt der französischen Aufklärung Relativierung eine zentrale Rolle spielt, nicht neu. Die Enzyklopädisten selbst schreiben sich ja Kulturrelativismus und globalen Weitblick, das diskursive Erörtern statt autoritärer Setzungen, Wissensgenese durch Demokratisierung der beteiligten Wissensproduzenten (viele Experten und überdies handwerkliche Praktiker sind beteiligt) auf die Fahnen. Die kontrapunktische Lektüre aber bringt zum Vorschein, dass dem Diskurs ein das Wissen problematisierendes Moment immanent ist. Und diese dialektische Immanenz ist gerade kein Ergebnis

2.2 Figuren und Figurationen kolonialer Ambivalenz

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absichtsvoller, aufgeklärter Epistemologie, sondern Zeichen von Ohnmacht und Störung und deshalb gerade nicht intentional herzustellen und aufzufangen.180 Die narratologischen Analysen können diese Störungsmomente, die sich nicht in einem selbstbewussten Gegen-Reden, sondern in Erzählmomenten der Ambivalenz artikulieren, sichtbar machen. Diese Ambivalenzen, die den sprechenden, Wissen generierenden enzyklopädischen Erzähler seiner eindeutigen Machtposition berauben und aufzeigen, dass gleichzeitig weder sein diegetischer Ort noch seine Perspektive oder seine Stellung im Kommunikationssystem mit dem kolonialen Anderen stabil ist, deuten auf einen vielstimmigen Alteritätsdiskurs hin. Mit Vielstimmigkeit ist dabei noch mehr gemeint als jene, die Said im Kontrast zu dem machtvollen, univoken Archiv kolonialer Wissensordnungen und Narrationen konzipiert und anvisiert (vgl. die Ausführungen im Kapitel 1.2). Die in der Encyclopédie vorfindliche ambivalente Polyphonie bezieht sowohl die dissimulierten, externalisierten wie die internen Stimmen ein: also sowohl jene Stimmen, die quasi unterhalb der monologischen enzyklopädischen Erzählstimme vorkommen und die entweder verstummt sind oder die es durch einen machtvollen Gestus stumm zu halten gilt, als auch darüber hinaus jene Gegenstimmen innerhalb der Machtposition des enzyklopädischen philosophe. Die Erklärung bzw. die Funktion dieser internen Fokalisierung liegt auf mehreren Ebenen. Erstens: Der enzyklopädische Erzähler hat an zahlreichen Stellen durch die kritische Reflexion über Informationen oder aber über den eigenen Wissenshorizont (selbst-)kritisch dargelegt, dass die Übersicht über das Wissen nicht mit Allwissenheit gleichzusetzen ist. Dies ist eine wichtige Dimension der enzyklopädischen Programmatik und der Aufklärung insgesamt: Wissen über die Welt zu erlangen bedeutet, die eigenen Wissensgrenzen immer vor Augen zu haben und dann mithilfe anderer Experten, mithilfe von kritischer Reflexion oder schlichter Benennung der eigenen epistemischen Beschränkungen jenes Wissen immer mehr zu erweitern. Narratologisch gesprochen muss sich die aufklärerische Selbstkritik von der Nullfokalisierung in die interne Fokalisierung zurückziehen. Genau diese Attitude soll den Aufklärern ja die Hybris (oder den theologischen Nimbus) von Allwissenheit nehmen und die Selbstermächtigung über Andere, die unwissend sind. So versteht es sich für den enzyklopädischen Er-

180 Hier scheinen die Begrifflichkeiten von implizitem Wissen und unbewussten Phänomenen wieder durch, die von dem begriffsetymologischen Gepäck des Ambivalenzbegriffs aus der Diskursanalyse vor allem aber auch aus der Psychoanalyse zeugen (vgl. dazu meine Ausführungen in der Einleitung). Gleichwohl soll hier die postkolonial-diskursanalytische Untersuchungsrichtung im Vordergrund stehen und kann eine psychoanalytische Ausdeutung nicht vorgenommen werden.

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zähler fast von selbst, dass er nicht in die Innenwelt der kolonialen Anderen blicken und von dort berichten kann. Zweitens: Mit diesem aufklärerischen Willen zum Wissen (Foucault) aber schreibt sich das Projekt auch in die philosophischen Diskurse der Zeit ein, die zwischen Sensualismus und Empirismus schwanken (und die dann ja erst Kant versöhnt) und die Diderot auch paradigmatisch in seinem Jacques le fataliste et son maître181 literarisch ausbuchstabiert. Drittens: Die fehlende Introspektion des kolonialen Anderen in den Encyclopédie-Artikeln ist auf der anthropologisch-philosophischen Ebene ein hochgradig brisanter und durchaus ambivalenter Befund. Wäre die narrative Inszenierung von Gedanken und Emotionen des kolonialen Anderen der Indikator für dessen (Fähigkeit zur) Menschlichkeit, so käme man zu dem Schluss, dass der koloniale Andere in der Encyclopédie weiterhin von der Humanität ausgeschlossen ist. In dieser Perspektive würde sich narratologisch bestätigen, was das koloniale Wissensregime prägt: Dem kolonialen Anderen wird das Mensch-Sein nicht zugestanden; er gerinnt zu schablonenhaften Stereotypen, gemessen an zivilisatorischen Maßstäben agiert und denkt er nicht. In dieser Lesart wäre die fehlende Innensicht der kolonialen Anderen auch der Beleg für die nach wie vor kulturignorante bis -rassistische, gerade nicht auf Emanzipation (auch im Sinne auf die Natur des Menschen rekurrierender Menschenrechte) ausgelegte Haltung des enzyklopädischen philosophe gegenüber dem kolonialen Anderen. Doch auch die nahezu gegenteilige Position wäre mit der mangelnden internen Fokalisierung auf den kolonialen Anderen zu belegen, insofern als die Absenz inszenierter fremder Gedanken und Gefühle gerade von dem Respekt vor dem kolonialen Anderen zeugt. In dieser Perspektive maßt sich der enzyklopädische Erzähler gerade nicht an, das Innenleben der kolonialen Anderen überhaupt skizzieren zu können. Mir scheint diese kulturtolerante Ausdeutung aber nicht tragfähig genug zu sein, denn diese kulturtolerante Haltung wird in jeglicher Hinsicht in den Konstruktionen des kolonialen Anderen als ökonomische, moralische oder kulturelle Diskursfigur und im gesamten typologischen Spektrum der Stereotypie nachgerade konterkariert. In den Encyclopédie-Artikeln ist kaum Zurückhaltung oder Scheu zu bemerken, die sich auf die Darstellung des kolonialen Anderen bezieht. Skepsis und Zweifel beziehen sich immer nur auf die Verlässlichkeit, die Glaubwürdigkeit oder Objektivität der Wissensquellen und an keiner Stelle darauf, ob schon der Entwurf des kolonialen Anderen opportun ist. Dies bezeugt ja auch die häufige Inszenierung von szenischen Passagen und die Wiedergabe der mündlichen Rede, in der der enzyklopädische Erzähler dem kolonialen Anderen die Worte in den Mund legt.

181 Vgl. Denis Diderot: Jacques le Fataliste et son maître, Paris: Flammarion [1796] 2006.

2.2 Figuren und Figurationen kolonialer Ambivalenz

405

Indes überzeugt eine (postkoloniale) Relektüre der Encyclopédie als ein ausschließlich und grundlegend xenophobes Konvolut auch nicht, da die selbstkritische Haltung gegenüber Wissensgenese und Autoritäten über Wissen auch die Konstruktionen des kolonialen Anderen touchiert. Meines Erachtens ist es ein grundlegender Zug der Encyclopédie, Fremd- und Selbstbilder in einen umkämpften, weil ambivalenten Bezug zueinander zu bringen, um den in jedem Artikel wieder gerungen werden muss. Es ist diese Ambivalenz zwischen Bevormundung und Ehrfurcht, zwischen Faszination und Ekel, zwischen Respekt und Degradierung, die das Projekt der Encyclopédie ausmacht und nicht zuletzt auch ein wesentliches (schwieriges) Movens der Moderne darstellt. Diese Denkfigur, die als Verschränkung postkolonialer und modernekritischer Überlegungen fungieren soll, wird im Sinne eines Moderneprojekts als Ambivalenzerzählung im abschließenden Kapitel 3.2 wiederaufgenommen und ausgeführt. Die enzyklopädischen Verfahren für den Umgang mit den Ambivalenzen sind nicht nur narrative Verfahren, die auf die Stabilisierung der Position des enzyklopädischen Erzählers ausgerichtet sind und gleichzeitig seine Unsicherheit, Instabilität und den Zwang zur dialogischen Spiegelung zum Ausdruck bringen. Darüber hinaus werden in der Encyclopédie Verfahren entwickelt, die über intertextuelle Bezüge den epistemologischen Status der Informationen und damit der kolonialen Anderen zu bestimmen versuchen. Doch auch hier, so werden die folgenden Analysen zeigen, herrschen vielschichtige intertextuellen Ambivalenzen.

2.2.2.2 Intertextuelle Ambivalenzen: Ausgänge und Eingänge, Zentrifugale Kräfte, Quellenqual Intertextuelle Ambivalenzen: Intertextuelle Kontrapunktik und Bachtins Dialogiztät – Rekapitulation: Funktionen der enzyklopädischen Intertextualität – Kontrapunkt: Grenze zwischen Polylogik und Kulturrelativismus – Hypotexte als Diskursfeld. Zwischen Einschlüssen und Ausgängen – Kontrapunkte im Umgang mit Hypotexten – Problematisches testimoniales Potenzial des Diskursfeldes – Hypertextuelle Verfahren. Ambivalente Transformationen – Naming als anti-enzyklopädisches Verfahren – Intratextuelle Ambivalenzen. Verweissystem – Kontrapunkte im Hypertext: Intratextuelle Verfahren – Verweise mehr als nur intentionale Störmanöver – Fazit: Intertextuelle Verfahren der Ambivalenzerzählungen

Die Wissenskonstruktionen in der Encyclopédie basieren auf dem Wissen, das in anderen Texten formuliert wird und das der enzyklopädische Erzähler als souveräner Kompilator transformiert und zu einem ‹besseren›, aufklärerischen Wissen neu konstruiert. Jene doppelte textuelle Ausrichtung aber, also die Anschlüsse an das Diskursfeld und die Transformationen innerhalb der Encyclopédie-Artikel, stellt eine Herausforderung an die wissenspoetologischen Verfahren dar. Welche intertextuellen Ambivalenzen artikulieren sich in einer Perspektive,

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2 Macht und Ambivalenz in den Narrationen des kolonialen Anderen

die gerade die Polyvalenzen und Störmomente innerhalb der Alteritätskonstruktionen fokussiert? Inwiefern setzt sich der enzyklopädische Erzähler nicht nur in ein überlegen(d)es hierarchisches Verhältnis zu den Prätexten? Inwiefern scheint in einer hypertextuellen Schichtung eine Dissonanz zum Hypotext auf, die entweder kritisch-widerständig artikuliert wird oder aber als ambivalenter Kontrapunkt funktioniert? Da es auch im Hinblick auf die intertextuellen Verfahren keine (von Said) operationalisierte Methodologie zur kontrapunktischen Analyse der Texte gibt, soll im Folgenden die Idee des Kontrapunktischen für die Analyse intertextueller Ambivalenzen neu perspektiviert werden. Für die intertextuelle Akzentuierung der kontrapunktischen Lektüre soll an zwei Forschungszusammenhänge der postkolonial orientierten Literaturwissenschaft (wie in der Einleitung bereits näher ausgeführt) angeknüpft werden: einerseits an die germanistischen Studien zur intertextuellen Kontrapunktik etwa nach Honold, Osthues oder Dunker,182 andererseits an die Ansätze von Dialogizität und Ambivalenz in der Romantheorie von Bachtin.183 Intertextuelle Ambivalenz. Die Metapher des Kontrapunktischen auf das Verständnis von Intertextualität zu übertragen scheint auf der Hand zu liegen. Insbesondere die postkoloniale Beschäftigung mit Phänomenen intertextueller Übersetzungen und Transformationen zeigt die Bezugnahme, Transformation, Travestie oder Parodie von kolonialen Prätexten auf, die dann als «rewriting», «writing back», Verschiebungen184 oder translatorische Formen der Um-schreibung gefasst werden. Diese postkolonialen Formen der «réécriture»185 kolonialer Erzähltexte wird im Sinne einer emanzipatorischen und selbstermächtigenden Geste von agency und empowerment verstanden. Die Texte werden demgemäß als Gegendiskurs verstanden: Sie dienen der Kanonkorrektur, Geschichtsrevision und der fundamentalen Kritik westlicher Selbstbespiegelung. Es entwickelt sich dann eine «kontrapunktische Ästhetik» nach Honold,186 die sich durch die konterdiskursive Positionierung zu den kolonialen Texten (und dem kolonialen Literaturbetrieb) und durch die responsive Anlage zum Kolonialkanon entfaltet. Für

182 Vgl. Alexander Honold: Poetik des Fremden?, S. 71–103; Julian Osthues: Literatur als Palimpsest sowie Dunker, Axel: Kontrapunktische Lektüren. 183 Vgl. Michail M. Bachtin/Rainer Grübel: Die Ästhetik des Wortes, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1979. 184 Vgl. Marion Gymnich: Writing Back, S. 235–238 und Julian Osthues: Rewriting, S. 216–219. 185 Zum literaturwissenschaftlichen Konzept der «récriture» (ohne postkoloniale Stoßrichtung) im Vergleich zur Intertextualität und zu dessen textanalytischer Operationalisierbarkeit vgl. bspw. Anne-Claire Gignoux: De l’intertextualité à la récriture, in: Cahiers de Narratologie 13 (2006), DOI : 10.4000/narratologie.329. 186 Alexander Honold: Poetik des Fremden?, S. 89.

2.2 Figuren und Figurationen kolonialer Ambivalenz

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die Encyclopédie sind diese postkolonialen Konzepte zwar nur mit Einschränkungen (vgl. die Argumentation dazu in der Einleitung) und insbesondere in ihrer intendierten Stoßrichtung nicht übertragbar, aber in Bezug auf die transformatorischen und kritischen Textverfahren sind diese Ansätze für die Analyse der enzyklopädischen Alteritätskonstruktionen durchaus fruchtbar. Nun kann die Metapher des Kontrapunktischen auf zwei Ebenen analytisch nutzbar gemacht werden, um diese textuelle Widerständigkeit herauszuarbeiten: erstens auf einer inter-textuellen Ebene, auf der textuelle Verfahren als Reaktion bzw. ausgehend von einem Prätext konzipiert werden und die nur komparativ als Abweichungen oder Ähnlichkeiten zwischen Prä- und referierendem Text zu erfassen sind; zweitens auf einer intra-textuellen Ebene, auf der innerhalb des literarischen Textes die unterschiedlichen Textschichten freigelegt werden müssen. Es ist diese zweite intratextuelle Perspektive, die der Said’schen Kontrapunktik nahekommt, da sie die Kontrapunkte auf einer Vertikalen innerhalb des Textes angesiedelt sieht.187 Und an dieser Stelle kommen dann auch die Bachtin’schen Überlegungen zur Dialogizität des Wortes im Roman ins Spiel, da sich mit ihnen jene Tiefendimension188 eines ganzen Echoraums von dissimulierten Stimmen abhören lässt. In der vorliegenden Untersuchung soll auf Bachtin rekurriert werden, weil er einerseits ein intertextuelles Verständnis entwickelt, das auch Bezüge auf Texte mitdenkt, die nicht dominant literarisch, sondern «sozioideologische Stimmen der Epoche»189 sind. Damit lässt sich eine generische Ebene mitperspektivieren, die dann einerseits nicht mehr den individuellen Prätext anvisiert, sondern den Bezug auf Textformate in den Mittelpunkt stellt und andererseits eine Unterscheidung in literarische und nicht-literarische

187 Die musikalische Kontrapunktik sieht hingegen durchaus einen Moment der Horizontalen und der Vertikalen vor. Ich betone hier das vertikale Moment, um die von Said anvisierten verborgenen Schichten und die gegenläufige Stimme fokussieren zu können. Allerdings gerät die musikalische Metapher hier auch an ihre Grenzen, denn die postkoloniale Kontrapunktik zielt auf eine dissonante, widerständige Stimme quasi aus dem Untergrund, während sich die musikalische Kontrapunktik durchaus als ein Konzept der Harmonie in der Spannung von «diaphon» und «symphon» ausnimmt, wie Honold aufzeigt (Alexander Honold: Kontrapunkt: Zur Geschichte musikalischer und literarischer Stimmführung bis in die Gegenwart, in: Nicola Gess/Alexander Honold (Hg.): Handbuch Literatur & Musik, Berlin/Boston: De Gruyter 2017, S. 508–534, hier S. 508). 188 Die Verankerung im psychoanalytischen Forschungsdiskurs zeigt sich etwa in der Intertextualitätstheorie von Bloom, der die Auseinandersetzung mit den autoritären, kanonischen Prätexten gar in Analogie zur ödipalen Grundstruktur konzipiert und deshalb mit der angstund lustvollen Auseinandersetzung mit dem literarischen Vorbild in einer «anxiety of influence» operiert (vgl. Harold Bloom: The Anxiety of Influence. A Theory of Poetry, Oxford/New York: Oxford University Press 1973). 189 Michail M. Bachtin: Die Ästhetik des Wortes, S. 290.

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Texte obsolet macht. Insbesondere aber soll das Bachtin’sche Ambivalenzkonzept, wie er es in seinen Karneval-Studien entwickelt,190 für die vorliegende Untersuchung genutzt werden. Denn dieses in das Denken der Dialogizität eingefasste Konzept soll mit Bachtin dazu dienen, der Dialektik von Rede und Gegenrede und vor allem einer Synthese zu entkommen. Bachtins Ambivalenzbegriff erlaubt es, die Dimension der Polyphoniezu akzentuieren, in der die Gleichzeitigkeit unterschiedlicher, durchaus auch kontradiktorischer Stimmen artikulierbar wird. Lachmann zufolge gelänge es Bachtin dadurch, «de Saussures binäre Oppositionen in der Ambivalenz aufzuheben»,191 und nach Berndt/ Tonger-Erk in der Simultanität von eigenem und fremdem Wort zu fassen:192 Mit der doppelten Ausrichtung des dialogischen Wortes steht seine Bedeutung zur Disposition. Dass die präsente, eigentliche Äußerung und die absente, fremde Äußerung interferieren, macht eine eindeutige Sinnsetzung unmöglich. Stattdessen zeichnet sich ein dialogisches Wort durch eine grundsätzliche Ambivalenz (Zweiwertigkeit) aus. Nur die Hinzuziehung verschiedener fremder Wörter führt zur Bedeutung des Wortes − und zwar auf immer neuen und anderen Wegen.193

Und auch mit Zima kann die Stoßrichtung des Bachtin’schen Ambivalenzbegriffs auf die Überwindung der hegelianischen Dialektik zurückgeführt werden: Wie die Junghegelianer, wie Nietzsche, geht er [Bachtin, K. S.] von der offenen, durch keine bestimmte Verneinung oder Synthese zu bändigenden Ambivalenz aus. Dadurch zweifelt er Hegels systematische, auf totale Erkenntnis und absolute Idee ausgerichtete Dialektik an und entwickelt eine offene, negative Dialektik, die zwar die Einheit der Gegensätze und die Vermittlung, nicht jedoch die Aufhebung im Positiven kennt.194

Bachtins Ambivalenzkonzept entstammt seinen Studien zum Karneval als parodierendem Verfahren. Da in den Texten immer schon die parodierte Welt mitschwingt, diese auf der Textoberfläche ja aber gerade verkehrt, «umgestülpt» wird, wie Bachtin es selbst formuliert, besteht die Ambivalenz in der Gleichzeitigkeit von machtvollen Diskursen und ihren Gegengeschichten. Diese Argumentation ist – übertragen auf die Methodik der vorliegenden Arbeit – die um-

190 Vgl. Michail M. Bachtin: Rabelais und seine Welt. Volkskultur als Gegenkultur, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1987. 191 Renate Lachmann: Dialogizität und poetische Sprache, in: Dies. (Hg.): Dialogizität, München: Fink 1982, S. 51–62, hier S. 54. 192 Vgl. Frauke Berndt/Lily Tonger-Erk: Intertextualität. Eine Einführung, Berlin: Erich Schmidt Verlag 2013, hier S. 25. 193 Ebd., S. 19. 194 Zima nach Anabel Ternès: Intertextualität. Der Text als Collage, Wiesbaden: Springer VS 2016, S. 44.

2.2 Figuren und Figurationen kolonialer Ambivalenz

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gekehrte Denkfigur zur Said’schen Kontrapunktik, die aber strukturell das Gleiche ins Visier nimmt: Es geht um die Gleichzeitigkeit von Macht und Ohnmacht, Macht und Widerstand, Stimmen und Gegenstimmen. Während bei Bachtin im subversiven, parodierenden Text immer der Bezugsrahmen mitschwingt und damit eine vollkommene Negation unmöglich ist, ist mit Said innerhalb des machtvollen Diskurses eine vollkommene autoritäre Wissensordnung wiederum unmöglich, weil in ihr immer ihr Gegenteil (etwa Nicht-Wissen, Unsagbares) mitschwingt. Auf diese Dekonstruktion des machtvollen Diskurses zielt aber auch Bachtin ab, wenn er das Monologische im Roman als Illusion konstatiert, da auch er hier unterdrückte Gegenstimmen am Werke sieht, die als polyphon oder dialogisch beschrieben werden können. Bachtin benutzt diese Begriffe zwar weitestgehend synonym; es ist aber darauf hingewiesen worden, dass in der konzeptuellen Fassung des Dialogischen die unterschiedlichen Stimmen im Roman nicht nur nebeneinanderstehen, sondern vielmehr miteinander in Dialog treten (vgl. Sasses Ausführungen zu diesem Unterschied, den Bachtin selbst nicht reflektiert 195). Dieses Verständnis korrespondiert wiederum mit dem reziproken Alteritätsverständnis der vorliegenden Arbeit. Pointiert formuliert: Durch das Eintreten des kolonialen Anderen in die Encyclopédie entsteht in den enzyklopädischen Narrativen ein Kommunikationsraum mit dem europäischen philosophe, in dem sie nicht einfach nebeneinanderstehen, sondern durch die wechselseitigen, dialogischen und identitären Spiegelungen unmittelbar miteinander verbunden sind. In der Perspektive der Bachtin’schen Dialogizität oder Ambivalenz bekommt der Hypertext eine Tiefenstruktur, die ihn als veritable intertextuelle Schichtung oder als gewebten Text erscheinen lassen. Ganz in der Bildlichkeit der Kontrapunktik werden dann inferiore Diskurse (oder Hypotexte) sichtbar, die auf der Oberfläche – man kann es explizit oder manifest nennen – nicht sichtbar sind oder nicht sichtbar sein sollen. Hier taucht mit Bublitz das Foucault’sche Archiv als kulturell Unbewusstes auf.196 Und auch Kristeva entwickelt im Anschluss an Bachtin in psychoanalytischer Analogie die Denkfiguren des latenten unterhalb des manifesten Textes.197 Bachtins Konzept ist hier dienlich, weil es, mit Pfister formuliert, den «Dialog der Stimmen innerhalb eines literarischen Texts» anvisiert: «Damit ist Bachtins Theorie dominant i n t r a t e x t u e l l , nicht i n t e r t e x t u e l l .»198 Zentral ist in dieser Denkfigur des Intertextuellen die Transparenz des Hypertextes, d. h. «unter dem Hypertext bleibt der Prä- oder

195 196 197 198

Sylvia Sasse: Michail Bachtin zur Einführung, Hamburg: Junius Verlag 2010, S. 84. Vgl. Hannelore Bublitz: Foucaults Archäologie des kulturellen Unbewussten. Vgl. Julia Kristeva: Séméiôtikè. Recherches pour une sémanalyse. Manfred Pfister: Konzepte der Intertextualität, S. 4 f., Hervorhebung im Original.

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Hypotext sichtbar und beide Schriften treten in ein komplexes dialogisches (Bedeutungs-)Spiel ein.»199 Erst in der Gleichzeitigkeit von Hypo- und Hypertext oder anders formuliert: erst im Bewusstsein der hypotextuellen Einschreibung in den Hypertext vermag der Ansatz der Kontrapunktik als Dissonanz erkenntnisleitend zu funktionieren. Damit ist die intertextuelle Lektüre nicht nur eine der Fahndung nach (impliziten) Hypotexten, sondern eine, die textuelle Dissonanz als textimmanentes Prinzip, als «textuellen Aspekt», mit Genette gesprochen, erkennt. In der Encyclopédie ist der intertextuelle Einsatz in mehrfacher Hinsicht von zentraler Bedeutung, und dies haben bereits die vorangegangenen Analysen zu den machtvollen Verfahren intertextueller Textkompilation gezeigt: Intertextuelle Referenzen sind wichtig als stützende Beweise, als Persuasionsmomente in einer argumentativen Textdramaturgie; sie sind gleichermaßen Beleg, Illustration und anekdotische oder bildliche Plausibilisierung der eigenen Argumente, wie sie im Nebeneinander die Widersprüchlichkeit von Quellen oder Inkongruenzen mit dem eigenen Erfahrungswissen aufzeigen. Die kompilierende Autorität wird mit einer normativ-evaluierenden korreliert – ob die zitierten oder paraphrasierten Referenztexte nun bekräftigt oder angezweifelt werden, ob sie der Stärkung oder aber der kritischen Selbstbetrachtung der Enzyklopädisten oder gar des gesamten enzyklopädischen Projekts dienen. Was geschieht aber, wenn diese intendierten Inkongruenzen, Kontingenzen und Widersprüchlichkeiten Zeichen für eine polylogische Polyphonie sind, die sich nicht mehr durch den räsonnierenden enzyklopädischen Erzähler bezähmen lässt, sondern die in sich die Möglichkeiten trägt, dass alles ganz anders sein könnte? Wenn also hinter den polyphonen Stimmen innerhalb einer monologisch-autoritären Wissenserzählung eine veritable Polylogik steckt? Wo liegt die Grenze zwischen diesem widerständigen Moment und einem bloßen intertextuellen Kulturrelativismus? Die Grenze verläuft, so meine These, genau dort, wo die Definitionsmacht des enzyklopädischen Erzählers zurücktritt; und zwar nicht in einem Akt der aufklärerischen Selbstkritik und Relativierung von Standpunkten – dies wäre nach wie vor ein machtvoller wissenkompilierender Gestus –, sondern in Form einer definitorisch-epistemologischen Unentschlossenheit oder Unsicherheit. Und genau an dieser Stelle bietet der ‹postkolonialisierte› Ansatz der Bachtin’schen Polyphonie Hilfe an: «Worauf es Bachtin ankommt», resümiert Aumüller,

199 Axel Dunker: «Es ist eine Frage des Gedächtnisses»: Relektüren historischer und literarischer Texte in Christof Hamanns Roman Usambara, in: Hansjörg Bay/Wolfgang Struck (Hg.): Literarische Entdeckungsreisen. Vorfahren – Nachfahrten – Revisionen, Köln/Weimar/Wien: Böhlau 2012, S. 157–171, hier S. 167.

2.2 Figuren und Figurationen kolonialer Ambivalenz

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ist die Unentscheidbarkeit, ob ein Standpunkt richtig ist oder nicht. Die verschiedenen Standpunkte heben einander nicht auf, sondern ergänzen sich wechselseitig. Bachtin spricht von ‹Unabgeschlossenheit› des polyphonen Romans. Diese Eigenschaft, keine Welt darzubieten, in der jedes Element seinen fest zugewiesenen Platz hat, sondern eine Welt, die nur durch verschiedene, gleichermaßen gültige Perspektiven und Deutungen der Figuren gegeben ist, stellt ein Kennzeichen moderner Literatur überhaupt dar [...].»200

In dieser Passage zeigen sich zunächst die Problematiken bei der Übertragung der Bachtin’schen Intertextualitätskonzeptionen auf die Encyclopédie: Bachtins empirische Grundlage ist die russische Romanliteratur des 19. Jahrhunderts; die Encyclopédie ist ein Sachtext aus dem 18. Jahrhundert. Den Enzyklopädisten war es selbstredend nicht darum zu tun, unterschiedliche Figuren innerhalb einer Romanwelt zu entwickeln. Aber ihnen ging es um die ‹ganzheitliche› Beschreibung einer Welt des Wissens, die aus unterschiedlichen Perspektiven beleuchtet wird. Interessant an Aumüllers Bachtin-Paraphrase ist die Feststellung, dass im Roman keine normativen Unterscheidungen mehr getroffen werden können zwischen ‹richtig› und ‹falsch›. Dieser normative Schwebezustand innerhalb des Bachtin’schen Dialogizitätsparadigmas kann dazu dienen, die Grenze oder Trennlinie zwischen den offensichtlich intentionalen Akten der Inszenierung von Multiperspektivik (man könnte auch sagen: von unterschiedlichen Hypothesen zu Sachverhalten) in den einzelnen enzyklopädischen Artikeln zu unterscheiden von jenen Artikulationen, in denen die Definitionsmacht ins Wanken gerät.

Hypotexte als Diskursfeld. Zwischen Einschlüssen und Ausgängen Die hypotextuelle Dimension soll im Folgenden nur exemplarisch angedeutet werden, da die vorliegende Untersuchung nicht auf Kategorien ‹korrekter› oder ‹falscher› Übernahme von Textpassagen und damit in die Richtung einer evidenzbasierten Intertextualitätsforschung abzielt. Die Inkongruenzen interessieren primär aus diskursiven Gründen, d. h. aus Gründen für oder gegen strukturelle Sage- oder Schweigegebote innerhalb des kolonialistischen Diskurses. Anders formuliert: Mir geht es nicht um die intertextuellen Kompetenzen oder Inkompetenzen der Enzyklopädisten, sondern um die Möglichkeiten und Grenzen der diskursiven Vertextung des kolonialen Anderen. In dieser Perspektive werden die Übernahmen oder Auslassungen von Figuren und Figurationen des

200 Aumüller, Matthias: Michail Bachtin, in: Matías Martínez/Michael Scheffel (Hg.): Klassiker der modernen Literaturtheorie. Von Sigmund Freud bis Judith Butler, München: Beck 2010, S. 105–126, hier S. 113.

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kolonialen Anderen als Diskursstrukturen gewertet und damit an Fragen von Macht gekoppelt. Im vorangegangenen Kapitel der machtvollen intertextuellen Verfahren wurde deutlich, dass die Encyclopédie-Artikel weniger Barthes’sche Ausgänge zu den Hypotexten bauen in dem Sinne, dass sie hierarchisch nach außen verweisen, sondern dass sie eher die Hypotexte in sich hineinziehen und eurozentrisch sich zu Nutze machen. In einer kontrapunktischen Lektüre, die nach den Ambivalenzmomenten fragt, ist nun auch diese textorganisatorische Zielrichtung zu hinterfragen. An welchen Momenten kehrt sich diese Dynamik um? Wann entgleitet dem enzyklopädischen Kompilator der Bezug auf den Hypotext; wann scheint ein sorgsam eingehegter und narrativierter Hypotext widerständig wieder durch? Die testimonialen Texte (Reiseberichte, Reisetagebücher etc.) wie die wissenschaftlichen Abhandlungen über die koloniale Welt beinhalten keine Rede des kolonialen Anderen. Das Schweigen des kolonialen Anderen ist neben der kolonialen Dissimulation auch eine realhistorische Texttatsache. Der koloniale Andere schweigt in den Hypotexten, weil der Forscher oder Entdecker oder Reisende ihn nicht versteht, ihn angreift und ausbeutet o. ä. Dieses Schweigen der Quellen hat zur Folge, dass der enzyklopädische Erzähler auf die Artikulationen des Zentrums angewiesen und auf diese zurückgeworfen ist. Ein Ausweg aus dieser monologischen Situation ist jener, den kolonialen Anderen zu paraphrasieren oder seine Rede zu erfinden. In dieser nahezu kontrafaktischen, konterdiskursiven oder aber ambivalenten Inszenierung von aphasischen Wilden und sprechenden Anderen treten nur die Projektionen des europäischen philosophe zu Tage. Im vorangegangenen Kapitel zu den machtvollen Verfahren der Intertextualität in der Encyclopédie ist deutlich geworden, dass sich der normative Gestus, also die explizite Kommentierung der Wissensquellen, in einem Spannungsverhältnis zwischen Aufwertung und Abwertung befindet. Dabei ist schon deutlich geworden, dass die normativen Einordnungen keineswegs mit den intertextuellen Verfahren übereinstimmen müssen: Explizit als verlässlich-kompetent bewertete Hypotexte werden nicht zwingend zitiert; andersherum werden Textpassagen aus als märchenhaft oder imaginär abgewerteten Hypotexten nicht etwa eliminiert oder ausschließlich paraphrasiert. Als hypertexuelle Funktion wurde bisher angenommen, dass diese intertextuellen Verfahren der Vorführung aufklärerischen Räsonnierens dienen und damit gleichzeitig beweisen sollen, dass Wissen (durchaus auch im Gegensatz zur Religion) vernünftig erklärbar und plausibel und logisch herzuleiten ist. Eine kontrapunktische Lektüre würde nun aber zum einen nach jenen Momenten fahnden, in denen für den enzyklopädischen Erzähler die Eruierung

2.2 Figuren und Figurationen kolonialer Ambivalenz

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und Evaluierung der Hypotexte problematisch werden. Eine an Bhabha angelehnte Lektüre würde bereits den ‹Zwang›201 zur bewertenden Kommentierung der Hypotexte – u. a. auch in seiner formal-ästhetischen Ausprägung einer Setzung als «je» in den Encyclopédie-Einträgen – als Zeichen diskursiver Unsicherheit bzw. Ohnmacht werten. Die Angriffe auf Pinto im Eintrag zur indischen Götze Tinagogo202 oder auf La Hontan als reisender Schwindler im Eintrag zu den Eskimaux203 sind dann nicht nur als machtvolle Textstrategien, sondern als notwendige Selbstversicherungsverfahren zu werten. Die zweite Argumentationsfigur des massiven Insistierens auf der europäischen Überlegenheit, die stereotypische Beschreibung der unterschiedlichen Völker der Welt, die europäische Selbststilisierung und -ästhetisierung könnten in Bhabhas Sinne nicht nur als Gesten der Macht gedeutet werden, sondern auch der Ohnmacht in der nahezu zwanghaften Degradierung und Selbstversicherung. In diesem Sinne sind die stereotypen Beschreibungen des kolonialen Anderen weniger als Geste der Macht zu verstehen als vielmehr als eine notwendige Bestätigung von Fremdbildern, die in unentwegten Wiederholungen illustriert und bekräftigt werden müssen. Zum anderen wäre es eine Aufgabe, sichtbar zu machen, dass das, wogegen der enzyklopädische Erzähler die Encyclopédie abgedichtet hat (wie Said formulieren würde, vgl. dazu Kapitel 1.2), wie man das epistemologische Exklusionsverfahren in Anlehnung an Said nennen könnte, doch Eingang gefunden hat in den großen aufklärerischen Wissenstext. Diese Abdichtungen erfolgten in der Logik der Encyclopédie als Wissensprojekt gegen jeden Aberglauben und jegliche entmündigenden Dogmen; als eurozentrisches Selbstinszenierungsprojekt sind koloniale Andere zwar konzeptuell inkludiert, da das gesamte Wissen der Zeit aufgezeichnet werden sollte und somit auch Alteritäres, Abstruses, Imaginiertes, sogar: Monströses aufgenommen wird. Als gleichwertige Dialogpartner aber sind die kolonialen Anderen exkludiert. Ersteres ließe sich verifizieren, letzteres jedoch nicht, da die ‹faktischen Stimmen› des kolonialen Anderen in Form von ‹authentischen› Quellen in der Encyclopédie quasi inexistent sind. Hypertextuelle Verfahren. Ambivalente Transformationen Die hypertextuelle Transformation der Hypotexte stellt für den enzyklopädischen Kompilator ein besonderes Problem dar. Ein besonderes intertextuelles Verfahren, das eine Art verweigerte Paraphrase darstellt, ist der explizite Textverweis ohne Referieren. So etwa auch im Eintrag zum Jésuite, in dem sich der

201 Vgl. etwa Homi K. Bhabha: Die Verortung der Kultur, S. 97. 202 Vgl. Louis de Jaucourt: Tinagogo, S. 335–336. 203 Vgl. Louis de Jaucourt: Eskimaux, S. 953.

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Wiedergabe des Hypotextes ja dezidiert verweigert wird. «Nous ne dirons rien ici de nous-même»,204 heißt es an dieser Stelle – augenscheinlich um Zensurangriffen aus dem Weg zu gehen. Bezeichnenderweise werden dann in der Folge zwar die hypotextuelle Autorität und Kompetenz anerkannt, aber weder Autorname noch Quelltexttitel oder inhaltlich-thematische Fokussierung erwähnt. Wenn man so will: die ideale, aufklärerische Art der ambivalenten Verquickung von Zitat und Paraphrase, ohne inhaltliche Aussage und in deutlicher Markierung der kritischen Distanz: Cet article ne sera qu’un extrait succinct & fidele des comptes rendus par les procureurs généraux des cours de judicature, des mémoires imprimés par ordre des parlemens, des différens arrêts, des histoires, tant anciennes que modernes, & des ouvrages qu’on a publiés en si grand nombre dans ces derniers tems.205

Gewissermaßen eine Ausnahme kann die Nennung von idiomatischen Wendungen und fremdsprachlichen Ausdrücken sein: Während sie in der Perspektive von Macht als Demonstration von Polyglossie und etymologischer Expertise gewertet werden kann, zeigen die fremdsprachlichen Ausdrücke in der Perspektive der Ambivalenz, dass die Strategie des naming eine Macht- und keine inhaltliche Definitionsgeste ist, die das Objekt sinnhaft erfasst oder füllt. Und damit verfehlt sie ihren enzyklopädischen Auftrag. So ist im relativ kurzen Eintrag zu den afrikanischen Massæsyliens zwar eine ausführliche Auseinandersetzung mit deren Namen zu finden, aber keinerlei weitere Informationen über die Menschen: MassÆsyliens, Les (Géog. anc.) Massaesylii, peuple de l’Afrique propre. Peut-être que les peuples nommés Massaesyli, Massae-Libyi, Massagetae, ont pris cette addition de massa dans la langue grecque, du mot, qui signifie toucher. Supposez que cette conjecture soit bonne, ce mot joint au nom d’un peuple, signifieroit un peuple qui confine à celui qui est nommé ; par exemple, les Massae-Sylii seroient un peuple ainsi nommé à cause des Syliens dont ils étoient voisins.206

Auch wenn de Jaucourt hier eingehend die Namensvarianten, deren Etymologie und Komposition diskutiert und überdies noch einen Namen vorstellt, der den Akt der Namensgebung selbst zum Ausdruck bringt, bleibt das Volk der Massæsyliens hinter der Namens- und naming-Diskussion unsichtbar. Eine Ambivalenz

204 [Denis Diderot]: Jésuite, S. 512. 205 (Ebd.). 206 Louis de Jaucourt: Massæsyliens, les, in: Denis Diderot/Jean Le Rond d’Alembert (Hg.): Encyclopédie (ENCCRE). Bd. 10, S. 177.

2.2 Figuren und Figurationen kolonialer Ambivalenz

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von Wissen und Nichtwissen tritt zutage.207 Die enzyklopädische Instanz benötigt in diesem Eintrag die Interaktion (oder das Einverständnis) der Leserschaft, «[s]upposez que cette conjecture soit bonne», wie auch das afrikanische Volk offensichtlich der Bennung durch den Nachbarn bedarf, um sich selbst benennen zu können. Doch in der Regel gilt: Man findet eine Rede über den kolonialen Anderen, nicht des kolonialen Anderen. Dies ist selbstredend und evidenterweise der Quellenlage geschuldet, denn die Berichte und Untersuchungen über die koloniale Welt entstammten nun einmal europäischen Federn. Gleichwohl soll jene alteritäre Rede im Folgenden näher beleuchtet werden, denn als hypertextuelle Phänomene, als Diskursstörer, sind die kolonialen Anderen doch in die Encyclopédie eingedrungen. Intratextuelle Ambivalenzen. Verweissystem Die oben angesprochene Etablierung einer notwendigen Distanz zum kolonialen Anderen zeigt sich auch auf der intratextuellen Ebene des discours: Proximität wird nicht nur durch spatiale Semantik hervorgerufen, sondern schon durch die Anordnung der Artikel nach Alphabet und durch die Verbindung der Einträge untereinander durch das berühmte Verweissystem der Encyclopédie. In einer kontrapunktischen Perspektive wirkt das enzyklopädische Verweissystem zwar als ein effektives Instrument, um versteckte wie offene Kritik zu formulieren und formal-ästhetisch nochmals eine die Ordnung störende Ebene unterhalb des Enzyklopädie-Textes einzuziehen. Als Kontrapunkt eignet sich das système de renvoi jedoch nicht per se, weil es intentional maßgeblich von Diderot gesteuert ist, weil es als aufklärerisches Verfahren zur Kritik und Selbstkritik eingesetzt wird und weil selbst jene Verweise, die nachweislich bspw. ins Leere laufen, keine widerständigen Textmomente darstellen, sondern schlicht Redaktions- und Produktionsproblematiken entspringen. Als kontrapunktisch ließe sich das Verweissystem nur dann lesen, wenn die intendierte interne Verweisstruktur sich dieser Intention – der Klassifizierung, der Ordnung, der Systematisierung oder aber der Kritik durch Bezüge zwischen vermeintlich kontra-

207 Dass auch die fremden Nachbarn die Europäer benennen, belegt und beschreibt der Eintrag Franc, in dem der ungewöhnliche Blick der kolonialen Anderen auf die Europäer diskutiert wird: «Franc, Frankis ou Franquis, (Hist. mod.) est le nom que les Turcs, les Arabes & les Grecs donnent à tous les Européens occidentaux. On croit que ce nom a commencé dans l’Asie, au tems des croisades, les François ayant eu une part distinguée dans ces entreprises ; & depuis les Turcs, les Sarrasins, les Grecs & les Abyssins, l’ont donné à tous les Chrétiens européens, & à l’Europe celui de Frankistan. Les Arabes & les Mahométans, dit M. d’Herbelot, appellent Francs, les François, les Européens, les Latins en général.» (Denis Diderot: Franc, Franche, in: Ders./Jean Le Rond d’Alembert (Hg.): Encyclopédie (ENCCRE). Bd. 7, S. 279.

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2 Macht und Ambivalenz in den Narrationen des kolonialen Anderen

diktorischen Begriffen – entzieht. Als Verstörung ist das Verweissystem aber zumindest von Diderot tatsächlich angelegt. Diderot selbst formuliert eine Strategie zum Umgang mit dem Widersprüchlichen in seinem umfangreichen Eintrag Encyclopédie.208 Ein effektives Mittel sei ihmzufolge der Einsatz von Verweisen zwischen den Einträgen. Es diene dabei nach Diderot der wechselseitigen Kommentierung und der Kritik – in der Rezeption diene es auch der versteckten Aufklärungskritik von Kirche und Staat. Unabsichtlich ist es, wie schon gesehen, aber eher ein unterirdisches Chaossystem inmitten der enzyklopädischen Ordnung, denn viele Verweise führen ins Nichts. Jene intendierten Verweise sollen nach Diderot, wie bereits im Kapitel zu den Machtanalysen ausgeführt, die Beziehungen zwischen den Dingen aufzeigen – und zwar auf eine gleichzeitig bekräftigende wie entkräftende Art und Weise: «ils auront toujours la double fonction de confirmer & de réfuter ; de troubler & de concilier.»209 Diese intentionale Doppelfunktion der Bestätigung und des Widerspruchs ist die intentional-poetologische Anlage jener Ambivalenz, die mit einer kontrapunktischen Lektüre auf die gerade nicht beabsichtigten Störmomente zielt. Zunächst sollen die Verweise also jene Dinge miteinander verbinden, die sich offensichtlich und unmittelbar nahestehen. Dann aber auch jene, die entfernt scheinen, um schließlich das Bild einer Einheit zu plausibilisieren. Aber wenn es nötig sei, so fährt Diderot fort, dann bewirken die Verweise auch einen ganz und gar gegenteiligen Effekt. Sie kontrastieren die Prinzipien, sie attackieren, erschüttern und verkehren heimlich einige lächerliche Überzeugungen, die man niemals öffentlich verhöhnen würde. Auch wenn der Autor unparteiisch sei, würden die Verweise immer eine Doppelfunktion haben: Bestätigung und Widerlegung, Verstörung und Versöhnung. Ferner ist zunächst überraschend, dass Artikel mit globalen Thematiken nicht zwingend auch raumgreifende, vernetzende textuelle Strategien entwickeln. So wird etwa im Eintrag Humaine Espece zwar eine Weltreise durch alle Völker der Erde unternommen, allerdings finden sich kaum Verweise auf andere Einträge in der Encyclopédie, obwohl sich eine Vielzahl der genannten Völker mit eigenen Lemmata beschrieben sieht – wohingegen der Artikel mit den meisten renvois der Eintrag zum Lemma Chatelêt mit 124 Verweisen ist.210 Und auch der Eintrag Continent hat einen geringen Umfang.211 Über die Gründe lässt sich nur spekulieren. In der Perspektive von epistemischer Macht und Ohnmacht über den kolonialen Anderen ließe sich dies lesen als ein Versuch, den Anderen einzusperren in die Kategorie der menschlichen

208 209 210 211

Denis Diderot: Encyclopédie, S. 635–648. Ebd. Vgl. Gilles Blanchard/Mark Olsen: Le système de renvois dans l’Encyclopédie, S. 47. Vgl. Jean Le Rond d’Alembert: Continent, S. 113.

2.2 Figuren und Figurationen kolonialer Ambivalenz

417

Gattung, seine globalen Ausmaße auf die Grenzen des Encyclopédie-Eintrags zu beschränken und die Illusion der klaren Definierbarkeit und damit auch Differenzierbarkeit dessen, wer und was der koloniale Andere ist, auf der Ebene der formalen Textgrenze zu unterstreichen. Fazit: Intertextuelle Verfahren der Ambivalenzerzählungen In der kontrapunktischen Relektüre der intertextuellen Verfahren in der Encyclopédie wird sichtbar, dass die Strategien von imitatio und aemulatio in eine kontrapunktische Dissonanz überführt werden, die jenseits der enzyklopädischen Programmatik der Aufklärung funktioniert. Inkohärenzen und Widersprüche sind in der Encyclopédie intentional angelegt; die Ambivalenzen aber eröffnen sich erst in der kontrapunktischen Lektüre als Störmomente und Unsicherheiten aufseiten des enzyklopädischen Erzählers. Die intertextuellen Erzählverfahren deuten auf einen Konstruktionsakt hin, der weniger «compilation», «rassemblage» oder schlichte «collection» ist, sondern der inszeniert und – mit Blick auf die störenden, ambivalenten Textmomente – eher einen enzyklopädischen bricoleur als einen Kompilator bei der Arbeit zeigt.

«ZZUÉNÉ ou ZZEUENE, (Géog. anc.) ville située sur la rive orientale du Nil, dans la haute Egypte, au voisinage de l’Ethiopie. Voyez Syéné. C’est ici le dernier mot géographique de cet Ouvrage, & en même tems sans doute celui qui fera la clôture de l’Encyclopédie. […]»1

1 Louis de Jaucourt: Zzuéné ou Zzeuene, S. 750. https://doi.org/10.1515/9783110660425-003

3 Enzyklopädische Ambivalenznarrationen kolonialer Alterität. Zusammenfassung und Ausblick 3.1 Zusammenfassung Der koloniale Andere als Wissens- und Textfigur – Koloniale Alterität als wissenspoetologisches Konzept und das ambivalente Verhältnis von Aufklärung und Kolonialismus – Theoretisches Résumé. Alterität als wissenspoetologische und kulturphilosophische Ambivalenz – Wille zum Wissen wird Narrativierungszwang – Wissen, Wissenschaft und Narration – Absenz des Edlen Wilden: affektive Eindeutigkeit? – Narratologische und intertextuelle Akzentuierungen der kontrapunktischen Lektüre als Ambivalenzlektüren – Methodologisches Résumé. Kontrapunktische Ambivalenzlektüren – Fokussierungen auf diskurs-analytischen/archäologischen Zugang – Narratologische Ambivalenzlektüre – Der enzyklopädische Erzähler – Intertextuelle Ambivalenzlektüre – der enzyklopädische bricoleur – Kontrapunktische und palimpsestuöse Lektüre – Intertextuelle Plünderung? – Kolonial-wissenspoetologische Akzentuierungen der Encyclopédie – Empirisches Résumé. Encyclopédie als ambivalentes Wissensnarrativ – Funktionen von Fiktionen – Funktionen der Fiktivität – Kulturhistorisches Résumé: Aufklärung und Kolonialismus – Ambivalenz als Egalitäts- oder Differenzbegriff? – Inventive Dimension des Ambivalenzbegriffs

Der koloniale Andere als Wissens- und Textfigur Der koloniale Andere ist in vielen Wissenserzählungen in der Encyclopédie präsent: in Handelsgeschichten, die kolonialwirtschaftliches Wissen mit Alteritätskonstruktionen verknüpfen und den kolonialen Anderen zwar als Händler gelegentlich inkludieren, als Produzenten aber zumeist exkludieren; in Kontaktgeschichten, die die moralisch-ethische Gesinnung des kolonialen Anderen ausloten und damit sein Gefahrenpotenzial zu bestimmen suchen; in Menschengeschichten, die die kulturellen Praxen des kolonialen Anderen mal verklärend, mal dämonisierend darstellen und damit gleichzeitig den Versuch der Ordnung2 und den Blick des Europäers mit seinen Affekten einschreiben.

2 Zu Abbildung 4: Diese Abbildung der Steinsetzer ist ein Ausschnitt aus der ersten Abbildung der Planche «Architecture, Carreleur», in: Denis Diderot/Jean Le Rond d’Alembert: Receuil de planches, sur les sciences, les arts libéraux et les arts méchaniques. Tome I: Édition Numérique Collaborative et CRitique de l’Encyclopédie ou Dictionnaire raisonné des sciences, des arts et des métiers (ENCCRE) (1751–1772) (2017). 1762. Bd. I. Pl. 1, Fig. 3. http://enccre.academie-sciences.fr/ encyclopedie/ (27. 09. 2019).

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3 Enzyklopädische Ambivalenznarrationen kolonialer Alterität

All diesen Alteritätsgeschichten liegt eine wechselseitige Bedingtheit zugrunde, die im vorangegangenen Textanalyseteil als Reziprozität der Alterität und als immanente Ambivalenz ausgedeutet wurde. Diese Ambivalenz ist auf mehreren Ebenen wirksam: etwa auf der diskursiven Ebene zwischen Wissen und Unwissen, auf der sich ein ganzes Spektrum von Nicht-Wissen,3 Ignoranz, Zweifel, Unsicherheit oder Gerücht in der Encyclopédie ausbildet; auf der ontologischen oder referenziellen Ebene von gesicherter Faktizität und tradierter Stereotypik bis zu unsicherer bzw. verunsichernder Imagination und neuen Fremdheitsbildern; auf der Machtebene von der Dominanz über Wissensproduktion und -objekte bis zu bedrohlichen Störmomenten in der enzyklopädischen Darstellung; auf der figuralen Ebene zwischen der eigenen und der fremden Stimme und schließlich auf der intertextuellen Ebene zwischen eigenen und fremden Texten. Diese Ambivalenzen umfassen dabei mehr als Zwischenfiguren und intermediäre Dynamiken, sondern betonen die simultane Anwesenheit differenter (devianter, konträrer, kontradiktorischer, agonaler, binärer) Positionen, die über dynamisierende (und gerade nicht stabilisierende) Machtasymmetrien miteinander verbunden sind. Die Gleichzeitigkeit von Inkohärenzen in den textuellen Alteritäts- und Identitätskonstruktionen entfaltet sich demzufolge keineswegs nur in den Zwischenräumen, also nur in Gestalt jener Halbwesen und Zwischenfiguren, die der enzyklopädische Erzähler zwischen gesicherten dichotomen Kategorien positioniert. Die Ambivalenz versetzt den kolonialen Anderen auch nicht einfach nur hie und da in einen artikulatorischen Raum des empowerment oder der Rebellion. Vielmehr ist in einer kontrapunktischen Perspektive auf die Ambivalenzen innerhalb der machtvollen Diskursivierungen erkennbar geworden, dass alle – und insbesondere die vermeintlich mächtigen, univoken, homogenen und eindeutigen – Machtpositionen im Moment der wissenspoetologischen Erfassung des kolonialen Anderen problematisch und vage werden. Im Folgenden sollen nun die in der Einleitung der Arbeit anvisierten Erkenntnisinteressen noch einmal aufgenommen und pointiert werden. Diese sind theoretischer, methodologischer und empirisch-historisierender Natur. Welche Schlüsse lassen sich aus den vorangegangenen Textanalysen ziehen in Bezug auf

3 In der Nachfolge der Forschungen über das Verhältnis von Wissen und Literatur hat sich eine eigene Forschungsliteratur des Konzepts des Nichtwissens angenommen. Für den Aufklärungskontext einschlägig ist hier Hans Adler/Rainer Godel (Hg.): Formen des Nichtwissens der Aufklärung, München: Fink 2010; für einen weiteren historischen und medientheoretischen Horizont vgl. etwa Peter Wehling/Stefan Böschen (Hg.): Nichtwissenskulturen und Nichtwissensdiskurse. Über den Umgang mit Nichtwissen in Wissenschaft und Öffentlichkeit, BadenBaden: Nomos 2015.

3.1 Zusammenfassung



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das kulturphilosophische Konzept der Alterität einerseits, d. h. das Verständnis von kolonialer Alterität als wissenspoetologisches Konzept, und das ambivalente Verhältnis von Aufklärung und Kolonialismus andererseits? die Methode der kontrapunktischen Lektüre, wenn hier insbesondere narratologische und intertextuelle Fokussierungen vorgenommen werden? das Verständnis der Encyclopédie, wenn diese in der Perspektive der Narrativierung von Alteritätswissen fokussiert wird?

Die folgenden resümierenden Überlegungen werden also nicht nochmals die Argumentationslinien der Arbeit chronologisch nachzeichnen, sondern die Ergebnisse auf einer theoretischen, methodologischen und empirischen Ebene zusammenfassen. Im Anschluss daran werden zwei sich anschließende Forschungskomplexe ausblickartig skizziert und weitere Anschlussmöglichkeiten für weitere Forschungsfelder und -fragen vorgeschlagen, die nicht zuletzt in der Wissensgesellschaft des 21. Jahrhunderts ihren vorläufigen Endpunkt finden.

Koloniale Alterität als wissenspoetologisches Konzept und das ambivalente Verhältnis von Aufklärung und Kolonialismus Der poststrukturalistische und psychoanalytisch informierte Ansatz, Alteritätskonstruktionen stets als affektive wie rationale Relationsgrößen zwischen Selbst- und Fremdbild zu verstehen, hat sich auch für die Analysen des Aufklärungsprojektes als fruchtbarer Zugang erwiesen. Die Beziehungen wirken sich in Rückkopplungseffekten auf Selbstbeschreibungen, Wissenskategorien und nicht zuletzt auch auf die sprachlichen und vor allem narrativen Gestaltungen aus. Die Annahme eines stabilen Verhältnisses zwischen europäischem, denkendem Subjekt und kolonialem Anderen als gewusstem Objekt ist in diesem oppositionellen und binären Denkmodell nicht haltbar; es zeigen sich vielmehr permanente Aushandlungsprozesse von Subjektpositionen. Diese Aushandlungsprozesse sind in der Encyclopédie wissenspoetisch ausgestaltet. Die Analyse der kolonialen Alteritätskonstruktionen in der Encyclopédie als Narrationen hat zu einer theoretischen Fokussierung geführt, die die Interdependenz zwischen Erzählung und Wissen berücksichtigt und diese als wechselseitige Bedingtheit konzipiert. Koloniale Alterität muss zwingend narrativ ausgestaltet werden (und zwar nicht nur im Sinne der Narration von Wissen als anthropologischer Konstante eines homo narrans). Der Umschlag von vermeintlich neutralen Fakten zu szenischen, imaginierten, fokalisierten und intertextuell bricolierten Wissenserzählungen ist dabei weniger eine intentionalisti-

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3 Enzyklopädische Ambivalenznarrationen kolonialer Alterität

sche Strategie zur Persuasion oder zum Amüsement der Leserschaft, sondern erfolgt nachgerade zwingend aus der Alteritätsthematik. Diese Diskursivierungen sind durch die narrative Imagination und die polysemisch-polyphone Aufladung der Texte zwar erzähl-, aber nicht kontrollierbar. Der enzyklopädische Erzähler scheitert immer wieder an der faktischen Bestimmung des kolonialen Anderen und muss auf literarisch-fiktionales Terrain ausweichen; der koloniale Andere wiederum ist nicht nur willfähriges Beschreibungsobjekt, sondern entzieht sich immer wieder definitorischen Versuchen, wirkt verstörend, abschreckend und anziehend 4 zugleich. Information, Imagination und ihre Darstellungsverfahren geraten in einen Prozess der permanenten Aushandlung. Die wissenspoetologisch-alteritäre Ambivalenz ist demzufolge etwas anders akzentuiert als jener Ambivalenzbegriff, der für die Aufklärung virulent ist (vgl. bspw. Stollberg-Rilingers Unterkapitel zur Ambivalenz der Aufklärung5). Jener adressiert entweder die Heterogenität der Strömungen innerhalb der Aufklärung und deren innere Widersprüchlichkeit, oder aber er bezeichnet die paradoxe Zuschreibung, die Aufklärung könne aus sich selbst heraus Fortschritt gebären.6 In der vorliegenden Arbeit hingegen wird der Ambivalenzbegriff explizit für die Dekonstruktion vermeintlich stabiler, kolonial geprägter Positionen genutzt, die im Spannungsfeld von Wissen, Alterität und Narration stehen. Die Ambivalenz, die durch den kolonialen Anderen in der Encyclopédie oder gar in der gesamten europäischen Aufklärung entsteht, erwirkt ferner einen Rückkopplungseffekt auf den enzyklopädischen Betrachter. Sowohl der Standpunkt, von dem aus der philosophe die Wissenssystematisierungen vornehmen will, als auch die kategoriale Sprache werden unsicher, weil letztere permanent zu komparativen und approximativen Formulierungen («à-peuprès», «se rapproche de» etc.) gezwungen ist. Diese Sprache kann aber nicht nur mit Kategorien, Konzepten oder im Modus der connaissance operieren, son-

4 Diese epistemische Ambivalenz des kolonialen Anderen könnte man mit Latour auch als eine Gestaltungsform des «faitiche» beschreiben, so dass mit diesem Begriff gleichzeitig die Diskursivität, die Referenzialität und die affektive Besetzung, das Begehren, adressiert werden können. Im Latour’schen «faitiche» nimmt der koloniale Andere als wissenschaftlicher Gegenstand nämlich die symbolischen Zuschreibungen in sich auf und bleibt gleichzeitig in seiner Faktizität bestehen (vgl. Bruno Latour: Nous n’avons jamais été moderne; Bruno Latour: Die Hoffnung der Pandora, Frankfurt a. M.: Suhrkamp [1999] 2002, bes. S. 334–337; sowie Jeannie Moser: Poetologien/Rhetoriken des Wissens: Einleitung, S. 13. 5 Barbara Stollberg-Rilinger: Die Aufklärung. Europa im 18. Jahrhundert, Stuttgart: Reclam 2011, bes. S. 256–284. 6 Vgl. Ulrich Johannes Schneider: Die Erfindung des allgemeinen Wissens, S. 217 und als künstlerische Replik exemplarisch Francisco de Goyas «El sueño de la razón produce monstruos» (1797–99).

3.1 Zusammenfassung

425

dern muss sich im Modus der expérience gerade der Unvorhersehbarkeit, dem Unwahrscheinlichen und Erschreckenden stellen und nachgerade fiktionale Textverfahren generieren. Diese wissenspoetologische Seite ist allerdings nicht nur Ausdruck einer genuin enzyklopädischen Grundbedingung, also nicht nur innerhalb der Logik und Rhetorik des enzyklopädischen Projekts angelegt. Sie ist kein Ausweichen weg von der objektiven Beschreibungssprache in die narrative Inszenierung, das sich allein aus dem Encyclopédie-Projekt selbst heraus erklären lässt. Diese Position vertritt etwa Albert, die ja sogar so weit geht zu behaupten, dass die Encyclopédie niemals überhaupt einen informativen Gebrauchswert gehabt habe in dem Sinne, «dass das hochgemute und mit beträchtlichem Selbstbewusstsein vorgetragene Projekt der Encyclopédie eher eine Erzählung und Inszenierung von Wissenschaft ist als dass es je einen praktischen Nutzwert enthalten hätte».7 Für Albert ergibt sich aus den systematischen Mängeln der Encyclopédie deren Neubewertung als narrativierendes Textkonvolut. Unter Bezugnahme auf die Arbeiten von Ehrhard weist Albert viele Monita der Encyclopédie nach: etwa die veraltete, aber als aktuell behauptete Technik, die in der Encyclopédie abgebildet wird, die begriffliche Inkonsistenz im Discours préliminaire zwischen Baum, Wissen, Weltkarte und Theater des Wissens (vgl. dazu auch die Ausführungen in der Einleitung der vorliegenden Arbeit), das Nichtfunktionieren des Verweissystems und die widerlegte subversive Absicht dahinter.8 Für Albert «bieten die Mängel Chance für eine poetologische Neubewertung der Encyclopédie als literarischer Text».9 Im Zuge dessen deutet sie die Anlage eines unreliable narrator an und bringt die kompensatorische Funktion des Literarischen nochmals auf den Punkt: «Literatur [...] kann die Defizite des enzyklopädischen Projekts in poetisches Kapital ummünzen».10 Den literarischen Verfahren eine lediglich kompensatorische Funktion zuzuschreiben, d. h. die Literarisierung oder Narrativierung des kolonialen Anderen nur als Reaktion auf die enzyklopädisch-systematischen Mängel zu verstehen, greift m. E. insbesondere im Falle des kolonialen Alteritätsdiskurses zu kurz. Die poetischen bzw. literarischen Verfahren bieten zwar immer dort die

7 Claudia Albert: Imitation de la nature?, S. 85. Der zweite Grund für den wenig instruktiven Charakter liegt in der rezeptions- bzw. wirkungsästhetischen Anlage der Encyclopédie-Artikel, die laut Albert einen ideal(isiert)en Genie-Leser voraussetzen: «Diderots Wissenschaftspoetik etwa setzt einen überaus souveränen Leser voraus, einen ‹homme de génie› geradezu» (ebd.: 91). 8 Ebd., S. 86. 9 Ebd. 10 Ebd., S. 92.

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3 Enzyklopädische Ambivalenznarrationen kolonialer Alterität

Möglichkeit der Artikulation, wo objektiv-analytische Beschreibungsverfahren den kolonialen Anderen nicht mehr zu fassen vermögen. Der Grund dafür scheint mir vielmehr die reziproke und ambivalente Anlage des kolonialen Anderen im Verhältnis zum enzyklopädischen Erzähler zu sein, die eine Erzählung der Unsicherheit, der Unentscheidbarkeit und ein Ringen um die eigene europäische Position erforderlich macht. Damit aber verschließt sich die Möglichkeit, koloniale Alterität als rein eurozentrisches, selbstbezügliches Narrativ zu verstehen. Im Zuge dieser narrativen Inszenierung des kolonialen Anderen entsteht nicht nur koloniale Information, sondern ein ambivalentes Wissen. Damit ist es tendenziell eher abgekoppelt vom Referenz- oder Wahrheitsgehalt und angeschlossen an die Aushandlung kultureller Selbst- und Fremdbilder. Plausibilität resultiert demzufolge nicht aus Information, sondern aus der Narration. Plausibilität entsteht also weder durch die ontologische Bestimmung der kolonialen Anderen, noch durch eine definitorische Arretierung von Selbst- und Fremdbestimmung, noch durch die Autorität der Quelltexte oder die rein rhetorisch-persuasive Argumentation, sondern durch die narratologische und intertextuelle Schlüssigkeit des Narrationsakts. Dies bekräftigt auch Albert, die die Tragfähigkeit der Encyclopédie (insbesondere in ihrer wirkungsästhetischen Dimension) nicht in der Nachvollziehbarkeit oder Verlässlichkeit der Inhalte begründet, sondern aus der «Kontinuität des Erzählstroms»11 und greift implizit auf die wissenspoetologischen Annahmen Vogls zurück, der den propositionalen Gehalt hinter die poetischen Verfahren stellt. Die die koloniale Alterität betreffende enzyklopädische Ambivalenz hat folglich (post)koloniale und wissenspoetologische Dimensionen. Eine Art Narrativierungszwang ist Folge der alteritären Herausforderung und der Unmöglichkeit, eurozentrisch räsonabel und rhetorisch zu argumentieren. Die Alteritätsfiktionen, die sich innerhalb der Encyclopédie finden lassen, sind damit keine rhetorischen Volten zu einer plausibleren, persuasiven oder auch vergnüglichen (plaire et instruire) Beweisführung. Sie sind auch kein ‹argumentatives Kontrastmittel›, das die vernunftbasierten und wahrheitsgemäßen Aussagen nur umso deutlicher vor dem Hintergrund der imaginierten Wilden, Kannibalen und Monster in der kolonialen Welt hervortreten lässt. Mit Eintritt des kolonialen Anderen in die große Encyclopédie der französischen und europäischen Aufklärung muss ein literarisches, poetisches Erzählen entwickelt werden, und zwar dezidiert auch, um über sich selbst, also europäische Wissensbestände, zu sprechen. Dies ist zwar mit Koschorke im Zuge wissenspoetologischer Annahmen zur narrativen bzw. poetischen Faktur von Wissen zu behaupten; bezogen auf die

11 Ebd., S. 93.

3.1 Zusammenfassung

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Wissenschaft aber und damit wissenschaftshistorisch hingegen durchaus problematisch. Elm zufolge ist seit dem 17. Jahrhundert die Erzählung bei der Vermittlung von Wissen suspekt geworden: «Wenn sich die Wissenschaftstheorie des 17. Jahrhunderts in einem Punkt einig war,», so konstatiert er, «dann darin, dass die Erzählung als Medium des Wissens ungeeignet, ja gefährlich sei».12 Wissen, das in Erzählungen kolportiert wurde, wurde zur Meinung degradiert, was zur Folge hatte, «dass Erzählungen verschiedenster Art der Status von Literatur zugeschrieben wurde».13 Dieser Status allerdings ist kein bequemes Abstellgleis für die Narrationen, sondern ihm wohnt, so konstatiert Elm in Anlehnung an Voltaire, ein großes Gefahrenpotenzial inne: «Erzählungen, die sich den Anschein von Wissenschaftlichkeit geben, hätten, wie Voltaire hier ausführt, das Potential, Nationen zu spalten und die Glaubenskämpfe der Zukunft auszulösen».14 Auf die sog. littérature scientifique, wie sie sich insbesondere im 19. Jahrhundert entwickeln wird, komme ich später zurück. An dieser Stelle aber bleibt die Frage, welche Rolle dann der enzyklopädische Diskurs einnimmt? Kulturphilosophisch soll er entschieden gegen die literarische Wissensvermittlung in Anschlag gebracht werden: «Die wichtigste Alternative zur narrativen Wissensvermittlung war insbesondere in Frankreich jedoch die Enzyklopädik».15 Nun finden sich aber in enzyklopädischen Texten ebenfalls Narrationen – und hier bezieht sich Elm dezidiert auf den Encyclopédie-Vorläufer des Dictionnaire historique et critique von Bayle und auf die Encyclopédie selbst. Allerdings artikuliert sich in der Encyclopédie eine große Vielzahl an Narrationen. Und so bringen die enzyklopädischen Großprojekte derart disparate Erzählungen von Wissensbeständen hervor, dass sich daraus keine univoke, autoritäre oder manipulative (und in diesem Sinne gefährliche) Definitionsmacht extrahieren lässt. Elm konstatiert sowohl bei Bayle als auch in der Encyclopédie: Informationen werden zu Erzählungen gebündelt. Die Vervielfältigung und Parallelisierung dieser episodenhaften Geschichten macht [sic!] es unmöglich, einzelne Erzählungen zu einer narrativen oder systematischen Totalerklärung zu ergänzen. Zur Legitimation dieses Verfahrens bedient sich auch die Enzyklopädik einer Großerzählung. Wichtigster Protagonist ist [...] die Bereitschaft zur beständigen Auflösung und Neukonstitution von Ordnungsmodellen.16

12 Veit Elm: Einleitung, in: Ders. (Hg.): Wissenschaftliches Erzählen im 18. Jahrhundert. Geschichte, Enzyklopädik, Literatur, Berlin: Akademie Verlag 2010, S. 7–17, hier: S. 7. 13 Ebd. 14 Ebd., S. 8. 15 Ebd., S. 9. 16 Ebd., S. 13.

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3 Enzyklopädische Ambivalenznarrationen kolonialer Alterität

Neben der Vielfältigkeit der Erzählungen bringt Elm hier das Moment der Auflösung und Neuschreibung von Wissen und seiner Systematiken ins Spiel: ein Moment, das in der vorliegenden Arbeit als dekonstruktive Ambivalenz beschrieben wurde. Bei Elm aber klingen die wissenspoetologischen Beschreibungen so, als sei die permanente Auflösung und Neuformulierung von Wissen und Wissensordnungen ein gangbarer, nahezu leichter Weg zur Narrativierung von Wissen. Die vorangegangenen Analysen aber zeugen eher von dem Ringen, dem kolonialen Anderen eine narrative Form zu geben und ihn damit einzuhegen. Der enzyklopädische Erzähler thematisiert durchaus Zweifel und legt die vielfältigen, mithin sogar widersprüchlichen Informationen offen. Damit aber artikuliert sich keine wohlwollende, beherrschte Einstellung gegenüber den Ambivalenzen der (kolonialen) Welt, sondern auf der Textebene zeigen sich die vielfältigen Verfahren des Umgangs mit problematischen, störenden und verängstigenden und/oder faszinierenden Wissensbeständen. Das wissenspoetologische ‹Verdienst› (und das ist hier nicht intentionalistisch gemeint) der Encyclopédie ist in dieser Hinsicht, dass sie ein heterogenes, hypotextuelles Diskursfeld von widersprüchlichen Informationen über den kolonialen Anderen in ein enzyklopädisches Ambivalenzwissen narrativ transformiert. Das diskursive Störmoment scheint dagegen bei eindeutig imaginierten, weil bereits zur literarischen Trope geronnenen Figuren nicht im Vordergrund zu stehen. Dies wird insbesondere im Falle des bon sauvage deutlich. Es ist ein interessanter und durchaus überraschender Befund der vorangegangenen Untersuchung der Alteritätstypologien, dass sich der Edle Wilde als die paradigmatische zivilisationskritische Figur in der Encyclopédie insgesamt eher marginal ausnimmt. Die Gründe dafür könnten in der eher ästhetischen denn epistemischen Anlage dieser Alteritätsfigur liegen. Ist der Edle Wilde in der Encyclopédie so wenig präsent, weil er als Trope bereits tradiert ist, damit zwar literar-ästhetische Anschaulichkeit, aber keinen epistemischen (Mehr-)Wert besitzt? Und eignet er sich so wenig für die Encyclopédie, weil er das Spiegelbild des philosophe ausschließlich als Idealisierung darstellen kann? Ist in ihm zu wenig ambivalentes Potenzial, als er sich für eine Aufklärungsfigur eignen würde? Hängt dies immanent mit der positiven affektiven Besetzung des bon sauvage zusammen? Lässt sich Ambivalenz insbesondere in Bezug auf Machtverhältnisse nicht auf inszenierten Affekten von Bewunderung, Sehnsucht oder Melancholie aufbauen?17 17 Als ambivalente Reflexionsfigur dient der sauvage auch in einem weiteren faktual-fiktionalen Text nur in seiner kriegerischen und gefährlichen Ausprägung: In Diderots «Essais sur la peinture» von 1766 repetiert der Text (bzw. werkchronologisch nimmt er vorweg) die Attribute, die in der Encyclopédie ausformuliert werden: «Le sauvage a les traits fermes, vigoureux et prononcés , des cheveux hérissés , une barbe touffue, la proportion la plus rigoureuse dans

3.1 Zusammenfassung

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Eignen sich aus diesem Grund der sauvage und der barbare eher für eine kontrapunktische Lektüre der Ambivalenzen, weil sie ein ambivalentes Erzählen über den kolonialen Anderen entlang einer Matrix von Gewaltphantasien, Angst, Bedrohungsszenarien und animalischer Unberechenbarkeit entwickeln müssen? Mit Foucault könnte man in diese Richtung argumentieren, denn er problematisiert an der Kant’schen Aufklärungskonzeption ja genau diese ex negativo-Absetzung. Foucault zufolge beschreibe Kant mit der Aufklärung etwas, was sich nachgerade von einem überholten Zustand ablösen, eben einen «Ausgang» nehmen wolle.18 Auf den kolonialen Anderen bezogen ist die überhöhte Figur des Wilden, also der bon sauvage, aus dem Grunde als identifikatorische Figur nicht geeignet, als er der Aufklärung nicht als zu überwindendes Vorstadium dienen kann. Eine idealisierte Rückkehr ist mit dem Kant’schen Ausgang aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit nicht in Einklang zu bringen. Diese positiven affektiven Besetzungen schließen auch an jene moralischen Diskursfiguren an, die der enzyklopädische Erzähler in Bezug auf den kolonialen Anderen als (gast-)freundlich oder feindlich gestimmt beschreibt. Bei diesen Figuren geht es allerdings über die triebhaften, affektiven Zuschreibungen des kolonialen Anderen hinaus um die Einschätzung der Gefahr, die von ihnen (auch für den europäischen philosophe) ausgeht. Und diese moralische Taxierung auf dem Spektrum von Freund bis Feind ist für Baumans Untersuchung zum Verhältnis von Ambivalenz und Moderne die zentrale Opposition. Bauman stellt zunächst fest, dass der Andere als Subjekt überhaupt nur innerhalb dieser beiden Optionen als solches entstehen könne: «Ein Freund zu sein und ein Feind zu sein sind die beiden Modalitäten, in denen der Andere als ein anderes Subjekt anerkannt, als ein ‹Subjekt wie man selbst› konstruiert und in der Lebenswelt des Selbst zugelassen werden kann [...].»19 Daran anschließend setzt er sein Konzept des Fremden zur Dekonstruktion dieser Binarität ein: «Gegen diesen behaglichen Antagonismus [...] rebelliert der Fremde».20 Damit sei der

les membres: quel est la fonction qui auroit pu l’altérer ? Il a chassé, il a couru il s’est battu contre l’animal féroce, il s’est exercé, il s’est conservé, il a produit son semblable: les deux seules occupations naturelles. Il n’a rien qui sente l’effronterie ni la honte. Un air de fierté mêlé de férocité. Sa tête est droite et relevée; son regard fixe. Il est le maître dans sa forêt. Plus je le considère, plus il me rappelle la solitude et la franchise de son domicile. S’il parle, son geste est impérieux son propos énergique et court. Il est sans loi et sans préjugé. Son ame est prompte à s’irriter. Il est dans un état de guerre perpétuelle. Il est souple, il est agile; cependant il est fort» (Denis Diderot: Essais sur la peinture, Paris: Fr. Buisson 1795, S. 46). 18 Vgl. Michel Foucault: Was ist Aufklärung?, in: Eva Erdmann/Rainer Forst/Axel Honneth (Hg.): Ethos der Moderne. Foucaults Kritik an der Aufklärung, Frankfurt a. M./New York: Campus Verlag 1990, S. 35–54. 19 Zygmunt Bauman: Moderne und Ambivalenz, S. 94. 20 Ebd., S. 95.

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3 Enzyklopädische Ambivalenznarrationen kolonialer Alterität

Fremde imstande, sogar die gesamte menschliche Organisation in Gesellschaften zu sprengen: Da diese Opposition die Grundlage ist, auf der alles gesellschaftliche Leben und alle Unterschiede, die es zusammenflicken und zusammenhalten, beruhen, untergräbt der Fremde das gesellschaftliche Leben selbst. Und all dies, weil der Fremde weder Freund noch Feind ist; und weil er beides sein kann […].21

Jene ‹weder noch und beides›-Figur reformuliert, was in der vorliegenden Untersuchung als koloniales Ambivalenzmoment den Wissensdiskurs in der Encyclopédie tiefgehend prägt, zu einer Vereindeutigung und Positionierung herausfordert und in der Folge unterschiedliche Narrationsformen ausbildet.22

Narratologische und intertextuelle Akzentuierungen der kontrapunktischen Lektüre als Ambivalenzlektüren Die kontrapunktische Lektüre nach Said ist im Rahmen dieser Arbeit fortgeschrieben worden: durch die Einführung des Ambivalenzbegriffs und durch die wissenspoetologische, hier: narratologische und intertextuelle Akzentuierung ihrer diskursanalytischen Ausrichtung. Durch die Einführung des Begriffs der Ambivalenz konnte gleichzeitig die Said vorgeworfene Dichotomisierung in Macht und Widerstand (und folglich dann auch in aktives Subjekt und passives Objekt und in die gesamte Bandbreite der kolonialen Binaritäten von schwarz/ weiß, Zentrum/Peripherie, Okzident/Orient etc.) umgangen werden. Denn eine an Ambivalenznarrativen interessierte kontrapunktische Lektüre fokussiert die Gleichzeitigkeit und die Aushandlungsprozesse zwischen den Oppositionspaaren und Zwischenfiguren. Auf diese Weise vermag sie die (Op-)Positionen selbst nicht nur zu repetieren, sondern zu dekonstruieren, indem sie die inhärenten Ambivalenzen als Folgen der Alteritätserfahrungen aufzeigt – und zwar sowohl aufseiten der Macht wie der Ohnmacht. Damit eröffnen sich auf der Seite der

21 Ebd. 22 Bauman situiert den Fremden epistemisch-dezisionistisch in die «Familie der Unentscheidbaren» (ebd., Hervorhebung im Original), also jener, die nicht über eine klare Differenz zu definieren sind, und verweist zur Illustration auf das «pharmakon» von Derrida. Derrida nutzt diesen griechischen Gattungsbegriff, der sowohl Heilmittel als auch Gifte umfasst, um die Dekonstruktion der Opposition und der Differenz zwischen Heilmittel, Gift oder Droge zu illustrieren. Bezeichnenderweise findet sich diese Diskursfigur ja auch in der Encyclopédie und hier insbesondere bei einigen Kolonialwaren und Pflanzen, die sowohl Remedium als auch Gift sein können (vgl. Kapitel 2.2.1.1).

3.1 Zusammenfassung

431

Macht Räume der Ohnmacht und des Kontrollverlusts; auf der Seite der Ohnmacht Räume der agency und des Widerstands. Es hat sich außerdem gezeigt, dass sich die kontrapunktische Lektüre nach Said auch auf zwei von Said nicht beachtete, bzw. sogar ausgeschlossene, Gegenstandsbereiche anwenden lässt, die in der Encyclopédie zusammenfallen: auf einen Text aus dem 18. Jahrhundert, der noch (weit) von der Hochphase der europäischen Kolonialliteratur entfernt ist; und auf einen Wissenstext, der weder fiktive Welten inszenieren noch Phantasmen einen Ort und eine literarische Form geben will. Die kontrapunktische Lektüre und ihre Fortschreibung als eine, die die inhärenten Ambivalenzen im Diskurs fokussiert, hat sich für die Analyse der Encyclopédie als fruchtbar erwiesen: Sie kann mit dem und gegen das Wissensprojekt gelesen werden. Für die Encyclopédie als paradigmatisches europäisches Textkorpus, in dem Kolonialthematiken scheinbar nur eine marginale oder keine Rolle spielen, bietet sich die kontrapunktische Lektüre in besonderem Maße an, um die apodiktischen und exkludierenden kolonialen Diskursivierungen analysieren zu können. Ferner zielt die kontrapunktische Lektüre auf widerständige Verfahren, die als machtkritische Textdimension der Aufklärung immer schon eingeschrieben sind. Dem ‹Schlüsselwerk› der französischen Aufklärung sind per definitionem konträre und kontradiskursive Momente inhärent und ihr sind der (Foucault’sche) ‹Wille zum Wissen› und ein Wille zur Ambivalenz immanent, wenn auch Diskursmechanismen der definitorischen wie identifikatorischen Schließung immer wieder am Werke sind. Für die Analyse der inhaltlich-thematischen Alteritätskonstruktionen in der Encyclopédie ist die kontrapunktische Lektüre als diskursanalytischer bzw. archäologischer Zugang auf spezifische Diskurse hin konkretisiert und fokussiert worden: etwa thematisch im Sinne von Ökonomie- oder Kulturdiskursen, identitätsphilosophisch im Sinne der Verstrickung von Selbst- und Fremdkonstruktionen und alteritätstheoretisch und -historisch im Sinne der Typologisierung in unterschiedliche Projektionsfiguren vom Barbaren bis zum Kannibalen. Diese Ebenen wiederum sind nicht voneinander getrennt, sondern beziehen sich aufeinander oder durchdringen sich wechselseitig, ohne dass eine Hierarchisierung und/oder chronologische Reihung vorgenommen werden muss. Die archäologische Metaphorik der Schichtungen erlaubt es hier, mehrere Diskursebenen freizulegen, ohne diese insgesamt auf eine grundlegende Logik zurückzuführen (eine koloniale, eine eurozentrisch-kulturphilosophische, eine subjekt- und identitätslogische). Durch die Fokussierung der literarisch-narrativen Formen der Alteritätskonstruktionen in der Encyclopédie wird die diskursanalytische Ausrichtung um eine narrative und genuin literaturwissenschaftliche ergänzt. Auf diese Weise bekommt der postkoloniale Lektüreansatz eine literaturwissenschaftliche Aus-

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3 Enzyklopädische Ambivalenznarrationen kolonialer Alterität

richtung, die nicht beim ‹Inhaltismus› von Alteritätskonstruktionen stehen bleiben muss, sondern die narratologischen und intertextuellen Verfahren in den Blick nehmen kann. Die narratologische Akzentuierung der kontrapunktischen Ambivalenzlektüre ermöglicht Textanalysen, die die Inszenierungen des kolonialen Anderen als Figur, als Stimme und als Sprecher in den Blick nehmen. Damit wird auch deutlich, um auf Birk/Neumanns Anleihen bei Lanser zurückzukommen (vgl. die Anmerkungen dazu aus der Einleitung), inwiefern dem kolonialen Anderen eine public voice als Redeanteile und -autorisierungen zugeschrieben wird. Allerdings steht hier nicht kontrastiv eine private voice dagegen, die mit Rückzugs- oder Einschließungsräumen korreliert ist. Hier geht es vielmehr um das Ausloten des relationalen Gefüges zwischen enzyklopädischem Erzähler und inszenierten kolonialen Stimmen. Es geht um die Aushandlungsprozesse von Redeweisen und -anteilen im Sinne eines narratologischen othering bzw. einer kontrapunktischen Redeermächtigung in Sprechräumen. In den Analysen wurde dieses narratologische othering deutlich, indem eine dominant intern fokalisierte Erzählinstanz im narrativen Modus aus der Distanz heraus die Lebenswelt und -weise des kolonialen Anderen konturiert. Der enzyklopädische Erzähler maßt sich dabei keine Einblicke in die Gedankenwelt der kolonialen Anderen an, gleichzeitig spricht er aber unumwunden «über ihn», indem er ihm zwar hin und wieder mündliche Rede und damit eine eigene Stimme zugesteht, neue narrative Ebenen mit kolonialen Erzählwelten aber nicht eröffnet. So werden die alterisierenden Redeinszenierungsmodi analysierbar, die in den vorangegangenen Textanalysen als ‹Erzählen über›, ‹Sprechen mit› oder ‹Erzählen durch› beschrieben wurden. Die kontrapunktische Akzentuierung der narratologischen Analyeseebenen auf die Ambivalenzen hin ermöglicht gleichzeitig die Sicht auf die wechselseitige Bedingtheit der Rede, auf die monologische Einsamkeit des enzyklopädischen Erzählers, der vom kolonialen Anderen quasi nie adressiert wird, auf die inhärente Unsicherheit oder Ambivalenz der Sprechpositionen. Die narratologische Spezifizierung ermöglicht aber auch die heuristische Annahme eines enzyklopädischen Erzählers, der durch den personifizierten Begriff des Erzählers Akteurs- und Subjektstatus bekommt (etwa im Vergleich zum Terminus der Erzählinstanz) und damit adäquater für das anthropologisch-zentrierte Encyclopédie-Projekt ist. Mithilfe des Begriffs des enzyklopädischen Erzählers kommen gleichzeitig die dialogische Interdependenz im Kontakt mit dem kolonialen Anderen und die Notwendigkeit der Narrativierung des enzyklopädischen Wissens zum Ausdruck. Zudem wird die Disjunktion von Enzyklopädist und enzyklopädischem Erzähler beschreib- und akzentuierbar, die die diskursive Faktur der Artikel deutlicher werden lässt und die Autorschaft über

3.1 Zusammenfassung

433

das Wissen nicht auf individuelle savants, hommes de lettres oder philosophes überträgt und diesen überlasst. Überdies werden die didaktischen und wirkungsästhetischen Dimensionen der Encyclopédie alludiert,23 indem der enzyklopädische Erzähler implizit auch auf eine enzyklopädische Leserschaft hinweist. Und diese Leserschaft wird ja sogar, wie die Textanalysen gezeigt haben, nicht nur implizit in der enzyklopädischen Programmatik thematisiert, sondern auch explizit etwa in der sporadischen Einführung eines narrataire mitadressiert. Eine narratologische Analyse der narratologischen Leserschaftsadressierungen kann aufzeigen, inwiefern diese auf das Mitlesen, insbesondere aber auch das Mitdenken (und Mitfühlen) abzielen und damit im aufklärerischen Sinne nicht nur Informationen expliziert, sondern diese nachgerade nachvollziehbar gemacht werden. Und dies geschieht nicht nur in einem rationalen – durchaus auch quasi kontra-enzyklopädischen apodiktischen – Duktus, sondern auch in Form von szenischen Inszenierungen oder eingeschobenen Berichten und nicht zuletzt auch in Form von (aufklärungstypischen) Ironisierungen, die die gleichzeitige Nähe und Distanz zum evozierten Wissen ausweisen. Die intertextuelle Akzentuierung der kontrapunktischen Ambivalenzlektüre ermöglicht wiederum Hierarchiegefälle zwischen Hypo- und Hypertext zu dekonstruieren und auf der Ebene des Textes, so die Untersuchungsdimension in der vorliegenden Arbeit, eine Art Echokammer auszuloten, in der textuelle Stimmen in Dialog miteinander treten. Damit kann einerseits die diskursanalytische Grundierung der kontrapunktischen Lektüre gestärkt werden, weil nicht mehr evidenzbasierte, einflussforschungstheoretische Fragen nach der Präsenz von Prätexten von Belang sind, auch nicht Fragen nach dem ‹realen› Lektürehorizont der Enzyklopädisten. Andererseits spielt die Nach- oder Vorgängigkeit von Texten eine untergeordnete Rolle, so dass die diskursiven Verwebungen und die intertextuellen Verfahren zur Evozierung des Wissens über den kolonialen Anderen in den Vordergrund treten können.

23 Diese Dimension besteht in erster Linie aus einer veranschaulichten Anleitung zum vernünftigen Abwägen von Informationen, also aus einer Denkoperation. Die Überführung von Denkvermögen und Wissen in Handlungswissen und dann in Handlungsanweisungen, spielt in der Encyclopédie, soweit ich sehe, eher eine untergeordnete Rolle. Explizit wird sie selten gemacht, wenn, dann etwa im Zusammenhang mit philosophischen Traditionen wie dem Epikureismus (dessen Nähe zur Aufklärung etwa im atheistischen Grundzug besteht): «Quand vous écouterez, appliquez-vous à sentir toute la force des mots. C’est par un exercice habituel de ces principes que vous parviendrez à discerner sans effort le vrai, le faux, l’obscur et l’ambigu. Mais ce n’est pas assez que vous sachiez mettre de la vérité dans vos raisonnemens, il faut encore que vous sachiez mettre de la sagesse dans vos actions», Denis Diderot: Epicuréisme ou Epicurisme, in: Ders./Jean Le Rond d’Alembert (Hg.): Encyclopédie (ENCCRE). Bd. 5, S. 779– 785, hier S. 780.

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3 Enzyklopädische Ambivalenznarrationen kolonialer Alterität

Machtvolle Textinszenierungen und ambivalente intertextuelle Dynamiken wurden mithilfe des (programmatischen) Begriffs des enzyklopädischen bricoleurs bezeichnet, der als Teilaspekt des enzyklopädischen Erzählers weder mit dem Enzyklopädisten noch mit einem souveränen Textarrangeur identisch ist. Vielmehr findet sich in diesem Begriff ein Anklang an Lévi-Strauss’ Überlegungen zur bricolage der «pensée sauvage», in der auch vermeintlich unzusammenhängende Dinge zusammengetragen und in Beziehung gesetzt werden.24 Nun erscheint die Übertragung jener außereuropäischen Kulturtechnik auf ein europäisches, hochgradig systematisiertes Kompilieren, wie es in der Encyclopédie betrieben wird (hier kommen Begriffe wie «rassembler», «compilation», «collection» zum Einsatz25) zunächst gewagt oder gar abwegig. Mit diesem Terminus aber soll insbesondere der Konstruktcharakter, die durchaus aufklärerisch-kritische Kompilation unterschiedlichster Materialien zum vernunftgeleiteten Abwägen von Informationen über Wissensobjekte und die durchaus auch ludische Form der intertextuellen Erzählverfahren betont werden. Die Konnotation des bricoler akzentuiert aber auch, dass die intertextuelle Kompilation durchaus nicht nur ein textuelles Verfahren der Macht ist, sondern dass in ihr Zufall und Inkohärenzen aufgehoben sind. Um dieser bricolierten Textverfahren als simultane Textpräsenz habhaft zu werden, bietet die Kontrapunktik, insbesondere aber die Palimpsest-Metapher, ein Bild für das methodische Vorgehen an. Palimpseste entstammen zunächst einmal der Semantik von Schichtungen und Überschreibungen, um u. a. den Prozess von textuellen Vorgeschichten (hier dann durchaus auch in einer psychoanalytischen Anspielung eher im Sinne Lachmanns26), Exklusions- und Selektionsverfahren, von eindrücklicher Materialität (hier im Archivbegriff bei Derrida aufgehoben27) und von kolonialen wie kontradiskursiven Sub-Texten zu veranschaulichen. Genette konstatiert in seinen Palimpsest-Überlegungen, dass es sich weniger um ein Konzept einer Produktionsästhetik handelt als vielmehr um eines der Rezeption, und schlägt demgemäß eine «lecture relationnelle» des

24 Vgl. Claude Lévi-Strauss: La pensée sauvage. 25 Vgl. Denis Diderot: Encyclopédie, S. 635–648. 26 «>PalimpsestÜberdeterminierung< (in Freuds Theorie verweist der manifeste Trauminhalt zugleich auf die latenten Traumgedanken) interpretieren die Sinnkonstitution eines Textes, in dem Zeichen zweier Kontexte aufeinandertreffen, Zeichen eines älteren mit denen eines jüngeren Textes.» (Renate Lachmann: Gedächtnis und Literatur. Intertextualität in der russischen Moderne, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1990, S. 58). 27 Vgl. Jacques Derrida: Dem Archiv verschrieben, Berlin: Brinkmann + Bose [1995] 1997 sowie Jacques Derrida: Genèses, généalogies, genres et le génie. Les secrets de l’archive, Paris: Galilée 2003.

3.1 Zusammenfassung

435

Hypertextes vor. Er formuliert (durchaus mit einem clin d’œil und in Richtung von Lejeune) eine «lecture palimpsestueuse»,28 die er im Weiteren mit Begriffen wie «ouverte» oder «jeu» aus der Strenge der bis dahin entwickelten Taxonomie befreit. Kontrapunktik wie Palimpsest operieren also mit dem Bild der Kopräsenz unterschiedlicher Schichten und Stimmen im Text. Die Unterschiede zwischen den beiden Ansätzen scheinen mir im Untersuchungsfokus zu liegen. Gleichzeitigkeiten zu untersuchen erfordert eine analytische Heuristik, die durch die lineare Reihung der Untersuchungsschritte immer auch eine Priorisierung vornehmen muss. Einer palimpsestuösen Lektüre geht es m. E. primär um die Beschreibung der Textfläche, wenn man so will also eher um die Beschreibung der hypertextuellen Oberfläche, auf der hypotextuelle Eindrücke und Spuren zu finden sind. Die überschriebenen oder zu überschreibenden Prätexte sind mehr oder weniger bekannt, so dass die réécriture (oder das «writing back» bzw. «rewriting») den Ausgangspunkt der Analysen bilden kann. Einer kontrapunktischen Lektüre nach Said geht es eher um die Tiefenschichten, um ein emanzipatives Herausarbeiten und Hörbarmachen vernachlässigter, zum Schweigen gebrachter Stimmen. Damit hat sie ein dezidiert emanzipativ-politisches Interesse. Saids Analysen haben bekanntlich keine im strengen Sinne intertextuelle, sondern eine imperialismuskritische Zielrichtung. Sein Blick geht weg von der bekannten (offensichtlichen) westlich-kanonischen Romanoberfläche hin zu den verborgenen, widerständigen Textmomenten im Untergrund. Deutet man wiederum postkoloniale Palimpseste in dieser Richtung aus, sind die Differenzen zwischen Kontrapunktik und Palimpsest-Lektüren nahezu nivelliert (Osthues setzt sie in Anlehnung an Honold und Spivak demgemäß auch weitestgehend synonym29). Bleibt man aber bei der Differenzierung im Hinblick auf den Untersuchungsfokus, unterscheidet sich die kontrapunktische Lektüre nach Said von jener, die in der vorliegenden Arbeit als Ambivalenzlektüre kritisch fortgeschrieben wurde, genau an diesem Punkt. Im Gegensatz zur palimpsestuösoberflächlichen, aber auch im Gegensatz zur postkolonial-‹gründelnden› Lektüre soll die Ambivalenzlektüre auf der Simultanität von Kontrapunkten und Hauptstimmen beharren und zusätzlich, wie bereits erläutert, diese binären Denkfiguren überschreiten. Ambivalenzlektüren arbeiten das palimpsestuöse Verweisungsverfahren und das die hypertextuellen Transformationen akzentuierende Moment heraus und haben gleichzeitig die machtvoll unterdrückten, dissimulierten Narrationen im Blick. Dieses Schweigen oder die Leerstellen müssen dabei nicht als konterdiskursiver Widerstand fungieren, sondern sie entwi-

28 Genette 1982: 556 f. 29 Vgl. Julian Osthues: Literatur als Palimpsest, S. 92–93.

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3 Enzyklopädische Ambivalenznarrationen kolonialer Alterität

ckeln ihr störendes Potenzial in ihrer Ambivalenz, indem sie die Aspekte und Akteure des Machtprozesses insgesamt affizieren (in der Said’schen Terminologie also sowohl die Kolonisatoren/Imperialisten als auch die Kolonisierten). Gleichwohl musste auch in der vorliegenden Arbeit eine Heuristik entwickelt werden, die Untersuchungsabfolgen abbildet und damit in eine hierarchisch nicht unproblematische Reihung bringt. Diese Abfolge ist einerseits dem historischen Gegenstand der Encyclopédie und der Encyclopédie-Forschung geschuldet, da die postkolonialen Analysen der Encyclopédie noch marginal sind (vgl. Kapitel 1.1 und 1.3).30 Andererseits ist die Reihung aber mithilfe der Symmetrie der Kapitel auch durch eine Lesestrategie zu umgehen, die nach den Analysen der machtvollen Konstruktionen unmittelbar in das entsprechende Kapitel wechselt, in dem die nämlichen Ambivalenzlektüren vorgenommen werden. In Bezug auf die Neufokussierung einer ‹palimpsestuösen› im Sinne einer kontrapunktischen, intertextuell akzentuierten Ambivalenzlektüre hat die Analyse der Kopräsenz verschiedener Texte und Stimmen also nicht nur Auswirkungen auf das methodische Vorgehen, das zu heuristischen Zwecken eine Simultanität wieder in eine lineare Argumentationsreihenfolge und Untersuchungsabfolge bringen muss. Es hat auch Auswirkungen auf die normative Beschreibungssprache und Perspektive auf die Encyclopédie. Denn das Einbeziehen von Machtasymmetrien in die intertextuellen Transformationen macht die intertextuellen Verfahren von Zitat, Paraphrase, Parodie, womöglich gar Plagiat zu Verfahren der Unterdrückung, Exklusion, Übernahme oder Plünderung.31 Es geht mir nicht darum, den Enzyklopädisten oder dem enzyklopädischen Text ‹plündernde› Textstrategien nachzuweisen und damit allein das kolonialausbeuterische Moment als solches normativ zu beurteilen und in den intertextuellen Textverfahren herauszuarbeiten. In diese Richtung argumentieren etwa Allen/Coony u. a., die die Form des intertextuellen Bezugs in der Encyclopédie «Plünderung» nennen und sie vom Plagiat unterscheiden: Widespread copying or paraphrasing from one reference work into another, with limited if any acknowledgment, was not an uncommon practice at the time of the Encyclopédie’s publication. Indeed, it is perhaps a practice that cannot be avoided in the creation of encyclopedias. The "reuse" of knowledge is not simply a case of "plagiarism," if by that we mean unacknowledged direct copying of significant passages from other works, since

30 Die intensive Auseinandersetzung mit den Alteritätskonstruktionen vor dem Hintergrund des Kolonialdiskurses ist auch der zentrale Grund für die Asymmetrie in der Kapitellänge zwischen den Kapiteln 2.1. und 2.2. Die unterschiedlichen Kapitellängen bilden keine Priorisierung der Analysen des machtvollen Kolonialdiskurses ab und noch weniger gar seine Dominanz im enzyklopädischen Text. 31 Vgl. dazu auch Renate Lachmann/ Schamma Schahadat: Intertextualität, S. 677–685.

3.1 Zusammenfassung

437

the authors and editors would frequently rework language from previous works to suit their stylistic tastes or ideological orientations. Rather, this may be considered a process of intellectual "plundering," defined by the Oxford English Dictionary as "to take material from (literature, artistic or academic work, etc.) for one’s own purposes." The plundering, or reworking, of previous scholarship makes systematic identification of the sources used by the philosophes a rather more difficult problem than the simple detection of plagiarism, given then extensive variations made to the originating passages […].32

Interessanter als eine normative Entscheidung über Plünderung oder Plagiat scheint mir in der Nachfolge meiner Textanalysen zu sein, dass sich an der intertextuellen bricolage kein stabiler Überlegenheitsanspruch festmachen und verankern lässt. Die Überschreibungspraktiken, die Ignoranz, Unterdrückung oder respektvolle Zurückhaltung gegenüber kolonialen Stimmen zeugen davon, dass der koloniale Andere im intertextuellen Gewebe nicht so einfach im Zaum zu halten ist. Folglich dient die intertextuelle Konstruktion des kolonialen Anderen mehr seiner narrativen Einhegung denn seiner narrativen Beherrschung; das souveräne Kompilieren muss immer wieder der bricolage weichen, und die intratextuellen Verweise sind gleichzeitig jene Textfäden, die das Gewebe straff spannen, und ‹Textschlaufen›, durch die der koloniale Andere einfach entschlüpfen kann. Zuletzt sei auch auf die wirkungsästhetische Dimension dieser inter- und intratextuellen Verfahren hingewiesen, die aus den Nähe-Distanz-Relationen zwischen Texten und Diskursen oder aus den hypertextuellen Transformationen und Adaptionen resultieren. Dies setzt eine ebenfalls bricolierende Lektüre in Gang, die schon durch das alineare Konsultieren der Encyclopédie einen besonderen Rezeptionsmodus darstellt. Das système de renvoi sei Elm zufolge gelegentlich eine Art «Überwältigung des Lesers durch ein Überangebot an Verweisen».33 Albert weist in diesem Zusammenhang auf den Eintrag Homme hin, der mit 154 Verweisen vollkommen überfrachtet wirkt, während andere Artikel, dies ist etwa in Bezug auf die Einträge zu den Kontinenten oder gar der Monde in den vorangegangenen Textanalysen ja auch immer wieder betont worden, (zu Unrecht und unlogischerweise) eher isoliert scheinen. Die Encyclopédie bietet also weniger eine lineare Erzählung an, sondern entfaltet vielmehr durch die «sorties» und die «renvois» eine nahezu unüberschaubare Komplexität von ‹Narrationsanschlüssen›. Und diese schließen das Wissen nicht in die Encyclopédie-Artikel ein, sondern öffnen Text und Wissenshorizonte nachgerade in alle Himmelsrichtungen. Diese Narrationsanschlüsse aber sind kontrollierte Verweisverfahren und unkontrollierbare Alteritätsmarkierungen zugleich. Im Anspruchs-

32 Timothy Allen u. a.: Plundering Philosophers. 33 Veit Elm: Einleitung, S. 12.

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3 Enzyklopädische Ambivalenznarrationen kolonialer Alterität

denken der Encyclopédie ist dies ein recht ambivalenter Befund. Denn einerseits sieht insbesondere Diderot ein explizit subversives Potenzial in den Artikeln, insbesondere im Verweissystem. Die Verweise zielen ja nach Diderots enzyklopädischer Poetik auf nichts weniger, als das Denken selbst umzustürzen: «de changer la façon commune de penser».34 In den inter- wie intratextuellen Verweisstrukturen zeigen sich die intentionalen und kritischen Verfahren der aufklärerischen Wissensproduktion, die das Wissen der Zeit in seiner großen Vielfalt und Heterogenität auffalten. Andererseits aber zeigen die Überfrachtung und die Verweisungen auf, dass die Komplexität der Welt – und insbesondere die koloniale Alterität – gerade nicht in einem Artikel oder eine Enzyklopädie eingehegt werden kann. In diesem Spannungsfeld von Determinierung und Unüberschaubarkeit liegt das ambivalente Potenzial der Encyclopédie als Archiv für die Konstruktionen des kolonialen Anderen.

Kolonial-wissenspoetologische Akzentuierungen der Encyclopédie Die Encyclopédie gewinnt durch die Verbindung von wissenspoetologischen und postkolonialen Ansätzen neue Bedeutungsdimensionen, die Wissen, Macht und textuelle Konstruktion korrelieren. Die Encyclopédie als Textkonstrukt poetologischer Faktur zu bestimmen ist, wie die Erläuterungen aus der Einleitung deutlich gemacht haben, nicht ganz unproblematisch. Während der Konstruktcharakter der Artikel in summa aufgrund der äußerst heterogenen und von einer Vielzahl von Autoren verfassten Encyclopédie relativ evident ist, liegen ihre formalästhetische Gestaltung als poetische Inszenierung einerseits und die koloniale Perspektivierung andererseits nicht zwingend auf der Hand. Die vorangegangenen Analysen aber haben gezeigt, dass die Perspektive auf die inhärenten Ambivalenzen in der Encyclopédie nicht extern motiviert ist, sondern nachgerade aus der Encyclopédie als aufklärerischem Projekt selbst erwächst. Auf den Zusammenhang von Ambivalenz, Kolonialismus und europäischer Aufklärung am Beginn der westlichen Moderne werde ich im Ausblick für die Formulierung eines wissenspoetologischen Ambivalenzbegriffs in den Postcolonial Studies näher eingehen. In der wissenspoetologischen Perspektive funktioniert die Encyclopédie als Geschichtenarchiv und als autopoetische Reflexion der Inszenierung von Geschichten. In dieser Hinsicht ist sie Archiv und Foucault’sches Archiv in einem, da sie durchsichtig gemacht wird für das implizite Wissen, das hinter ihr steckt und das sie selbst artikuliert.

34 Denis Diderot: Encyclopédie, S. 642.

3.1 Zusammenfassung

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Nun mag das narrative Moment in der textuellen Konstruktion von Wissen noch relativ leicht nachvollziehbar zu sein. Überraschend und nicht unbedingt evident aber ist die Behauptung, ausgerechnet die Encyclopédie als das Schlüsselwerk der französischen Aufklärung operiere mit Fiktionen. Plausibel wird dies einerseits theoretisch, indem die Abkopplung des inszenierten enzyklopädischen Wissens von Wahrheit oder Wirklichkeit und in der enzyklopädischen Systematik selbst der Stellenwert der «imagination» und der «poésie» berücksichtigt werden. Andererseits erschließt sich die Rolle der Fiktionen auch über ihre Funktionen bei der enzyklopädischen Konstruktion des kolonialen Anderen. Im dritten großen Wissensbereich des «Système figuré des connaissances humaines», der «imagination», wird die Fiktion mit «Poésie» gleichgesetzt («Nous n’entendons ici par Poësie que ce qui est Fiction»35) und als Organisationsprinzip eingesetzt. Die grundlegende Operation der Fiktion ist die getreue Nachbildung der Natur oder deren unterhaltsame Imitation («Le Poëte, le Musicien, le Peintre, le Sculpteur, le Graveur, &c. imitent ou contre-font la Nature»36). In der mimetischen Bezugnahme auf die Realität gewinnt sie ihre ästhetische wie aufklärerisch-didaktische Qualität, gebiert aber auch ihre Monster («La Poësie a ses monstres comme la Nature»37) und Abweichungen («l’imagination déreglée»38; diese Denkfigur der Devianz wird in Diderots Artikel Encyclopédie als Grundprinzip der Distinktion für das kritische Denken eingeführt. So muss es Unterscheidungen von Wahrem und Falschem, Wahrscheinlichem und Wundersamem etc. geben, die dann kaskadenartig abfallen «à distinguer le vrai du faux, le vrai du vraisemblable, le vraisemblable du merveilleux & de l’incroyable»39) bis in die Niederungen des Horrors der Lüge.40 Hier lässt sich also ein

35 Denis Diderot/Jean le Rond d’Alembert (Hg.): Encyclopédie (ENCCRE). Bd. 1, S. l. 36 Ebd. 37 Ebd., S. lj. 38 Ebd. 39 Ebd. 40 Auch wenn all diese Phänomene unter die Fiktionen subsumiert werden, gibt es doch eine logische wie normative Reihenfolge und Distanz zwischen Wahrheit und Merveilleux. Diese Hierarchisierung scheint noch ganz in der Tradition der antiken Rhetorik von historia, argumentum und fabula zu stehen, die platonische Definition von Wissen in sich zu tragen und die aristotelische Unterscheidung zwischen Dichtung und Geschichtsschreibung zu repetieren. Im Eintrag Fiction heißt es: «c’est un monde nouveau qu’on demande aux Arts ; un monde tel qu’il devroit être, s’il n’étoit fait que pour nos plaisirs.» (Jean François Marmontel: Fiction, S. 680). Im Eintrag Merveilleux selbst wird deutlich, dass die moderne Poesie nicht mehr der Ort des Wunderbaren ist und an den Traditionalisten Boileau und die poetologischen Reflexionen von Voltaire angeknüpft: «Ce n’est donc plus dans la poésie moderne qu’il faut chercher le merveilleux, il y seroit déplacé, & celui seul qu’on y peut admettre réduit aux passions

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3 Enzyklopädische Ambivalenznarrationen kolonialer Alterität

Grund finden, warum das Märchenhafte und das Unglaubliche seinen Platz in der Encyclopédie haben muss: Es dient der Generierung von aufgeklärtem Wissen in Abgrenzung zum Wahren. Überdies aber bezeugt es auch die Vielfalt von Weltsichten. Und hierin liegt der zweite Grund für Alteritätsfiktionen in der Encyclopédie: Reisende bringen Fiktionen als Weltwissen mit. Dies ist ja schon bei Diderots Ausführungen zu Ansico angeklungen. Auch unter dem Lemma Fable (Belles-Lettres) selbst werden Reisende explizit als eine ihrer Quellen ausgewiesen, als unwissende Lügner bezeichnet, die täuschen und getäuscht werden. Als vierte Quelle der fables wird benannt: 4°. Les relations des voyageurs ont encore introduit un grand nombre de fables. Ces sortes de gens souvent ignorans & presque toûjours menteurs, ont pû aisément tromper les autres, après avoir été trompés eux-mêmes. C’est apparemment sur leur relation que les Poëtes établirent les Champs élysées dans le charmant pays de la Bétique ; c’est de-là que nous sont venues ces fables, qui placent des monstres dans certains pays, des harpies dans d’autres, ici des peuples qui n’ont qu’un oeil, là des hommes qui ont la taille des géans […].41

Basierend auf diesen Berichten haben dann, so der Eintrag, die Poètes die elysischen Felder in Andalusien mit zahlreichen phantastischen Geschöpfen erdacht (Harpien, Einäugigen, Riesen etc.42). Auf der inhaltlichen Ebene sind nach Zipfel 43 als Textsignale für die Fiktivität Abweichungen vom Realen in Bezug auf Ereignisträger, Ort oder Zeit zu suchen. Ob die Ereignisträger, hier die beschriebenen kolonialen Anderen, ins Reich des Fiktiven gehören oder nicht, ist weder für den enzyklopädischen Erzähler noch für die zeitgenössische Leserschaft auf der Basis der geschilderten Inhalte ohne Weiteres zu entscheiden. In den Artikeln über den kolonialen Anderen sind die Menschen der kolonialen Welt (vielleicht aus ebendiesem Grund) oftmals als stereotype Barbaren oder Wilde in Afrika, Asien oder den beiden Indien gezeichnet: Sie sind Anthropophagen und Nomaden, Götzendiener, haben unmenschliche Sitten und Riten, lassen sich von Despoten regieren, sind

humaines personnifiées, est plûtôt une allégorie qu’un merveilleux proprement dit. Princip. sur la lecture des Poëtes, tom. II. Voltaire, Essai sur la poésie épique, œuvres de M, Boileau Despréaux, nouvelle édit. par M. de Saint-Marc, tom. II» N. N.: Merveilleux, in: Diderot, Denis/ Jean Le Rond d’Alembert (Hg.): Encyclopédie (ENCCRE). Bd. 10, S. 393–395, hier S. 395. 41 Louis de Jaucourt: Fable (Myth.), in: Diderot, Denis/Jean Le Rond d’Alembert (Hg.): Encyclopédie (ENCCRE). Bd. 6, S. 342–344, hier S. 342. 42 Ebd. 43 Vgl. Frank Zipfel: Fiktion, Fiktivität, Fiktionalität. Analysen zur Fiktion in der Literatur und zum Fiktionsbegriff in der Literaturwissenschaft, Berlin: Erich Schmidt Verlag 2001.

3.1 Zusammenfassung

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animalisch und nahezu aphasisch, sie sind meist schwer geographisch zu lokalisieren oder gar gänzlich der Phantasie entsprungen; sie sind aber auch freundliche naturnahe Wilde, die ganz nach Rousseaus Geschmack keine Schlechtigkeiten kennen. Alterität wird hier nicht in der kulturellen Differenz, sondern in der zivilisatorischen oder anthropologischen Devianz vom europäischen Modell konstruiert: Es handelt sich stets um Kontrastfolien zum europäischen Menschen der Aufklärung, sei der koloniale Andere nun dämonisiert oder idealisiert. Das eigene Erfahrungswissen reicht hier nicht aus, um darüber zu urteilen, ob es etwa Menschenfresser, Menschen mit Schwänzen oder gastfreundliche Wilde geben kann. Daher wird der ontologische Status der Informationen über den kolonialen Anderen meist festgemacht an der Glaubwürdigkeit der Quellen und an der Abweichung von europäischen Erfahrungswerten. Ist die Distanz zum europäischen Erfahrungswissen zu groß – insbesondere zu den humanen, moralischen Standards – dann werden die Menschen nicht selten rigoros in das Reich der Phantasie verortet. Hier seien beispielhaft etwa die eindeutig als fiktiv benannten Völker genannt: Pygmäen, Astomen (die schon im Mittelalter bekannt waren als Apfelriecher, wie Simek ausführt 44) oder Hyperboräer.

Für die ambivalente Verstrickung von Aufklärung und Kolonialismus Die kolonialen Alteritätskonstruktionen in der Encyclopédie zeugen nicht (nur) von einer intentional-emanzipatorischen Wissensartikulation, sondern treten in der kontrapunktischen Lesart als relativierend, verstörend, unkontrollierbar und sich der Macht entziehend hervor. Die resultierende inhärente Ambivalenz weist folglich einen Weg, das Verhältnis von Aufklärung und Kolonialismus neu zu überdenken bzw. noch einmal zu prüfen. Als Bindeglied zwischen Aufklärung und Kolonialismus soll hier zunächst der Wissensbegriff gesetzt werden. In einer globalen Neuperspektivierung könnte man das Bacon’sche Diktum umwandeln von ‹Wissen ist Macht› in ‹Wissen über die Welt ist Weltmacht›. Die Aufklärungsforschung hat dieses Verhältnis von kolonialer Expansion und Wissen45 etwa in Kosmopolitismus- und

44 Vgl. Wibke Becker: Menschen brauchen Monster: Interview mit Rudolf Simek, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung (08. 08. 2015), in: https://www.faz.net/-gum-862ve (24. 09. 2019). 45 In dieser Perspektive hat Brendecke eine Arbeit vorgelegt, in der er die Beziehung zwischen «Empiriegebrauch und kolonialer Herrschaft» für die spanische Kolonialmacht auslotet. Brendecke untersucht das Verhältnis von Imperium und Empirie, indem er einerseits annimmt, dass die koloniale Expansion die empirische Wissenskultur Europas maßgeblich prägt, und indem er die frühen Schriften über die koloniale Welt, die gerade nicht in einem szientifischen Vokabular, sondern von Verwaltungskräften angefertigt wurden, in der Perspektive administ-

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3 Enzyklopädische Ambivalenznarrationen kolonialer Alterität

Menschenrechtsdiskursen bereits intensiv aufgearbeitet, in globalhistorische Zusammenhänge gerückt (hier insbes. die Forschungen von d’Aprile46) und durchaus kolonialistische Überzeugungen und aufklärerische Philosophien abgeglichen. An der Kolonialfrage kann sich durchaus auch die von Kant eröffnete Frage stellen, ob es sich im 18. Jahrhundert um ein Jahrhundert der Aufklärung oder schon um ein aufgeklärtes Jahrhundert handele,47 und vor ihr steht nicht zuletzt auch die Krise der Anthropologie des 18. Jahrhunderts. Nun ist aber zu fragen, inwiefern für die kulturhistorische Bewertung des Verhältnisses zwischen Kolonialismus und Aufklärung48 ein kontrapunktischer Ansatz fruchtbar ist. Dazu muss man zunächst festhalten, dass der Kolonialdiskurs in der Encyclopédie weniger marginal ist, als es die Encyclopédie-Forschung wahrnimmt. Es kommt zwar nicht immer der koloniale Andere als agierende Figur vor, und es handelt sich auch um kein Kolonialarchiv oder kolonial-geographisches Kompendium, aber die Encyclopédie und ihre globale Spannweite lassen doch eine gewisse Omnipräsenz der kolonialen Welt entstehen. Wo man die Encyclopédie auch aufschlägt: Es finden sich auf nahezu jeder Seite Hinweise auf Pflanzen, Waren, Menschen oder Geschichten aus der außereuropäischen Welt. Der koloniale Andere ist dabei in unterschiedliche Diskurszusammenhänge eingebettet: Er wird gerade nicht nur unter den Wissenskategorien von histoire naturelle oder histoire moderne abgehandelt, sondern ist, so haben die Textanalysen gezeigt, auch integraler Bestandteil der Überlegungen in der Encyclopédie zu Geographie, Wirtschaft oder Philosophie u. v. m. Metaphorisch gesprochen sitzt der koloniale Andere in nahezu allen Ästen des Wissensbaums der «connaissances humaines». Dies liegt einerseits daran, dass sich der philosophe in einer Welt befindet, die sich auf die gesamte Weltkugel ausgedehnt hat. Aufgrund der Entdeckungs-, Eroberungs- und Unterdrückungsgeschichte des europäischen Im-

rativer Diskurse untersucht (vgl. Arndt Brendecke: Imperium und Empirie. Funktionen des Wissens in der spanischen Kolonialherrschaft, Köln/Weimar/Wien: Böhlau 2009, S. 12. 46 Vgl. Iwan-Michelangelo D’Aprile: Aufklärung global – globale Aufklärungen. Zur Einführung, in: Das Achtzehnte Jahrhundert 40, 2 (2016), S. 159–164. Wichtig ist weiterhin festzuhalten, dass die koloniale Wissenswelt weder als ein prädiskursiver Gegenstand gedacht wird, noch die Encyclopédie die eurozentrische Vorstellung belegt, dass zunächst der Europäer da ist, der dann in die Welt hinausgeht, entdeckt und erobert, und dann mit dem Wissen zurück zur Encyclopédie kommt. Die historische Verstrickung, das entanglement, wie postkoloniale Historiker_innen und Kulturphilosoph_innen dies nennen, ist auch schon in einigen Encyclopédie-Artikeln präsent. Zum Phänomen des «Entangled knowledge», das Wissenschaft und Kulturkontakt in Relation setzt vgl. Klaus Hock/Gesa Mackenthun (Hg.): Entangled Knowledge. Scientific Discourses and Cultural Difference, Münster/New York: Waxmann 2012. 47 Vgl. Immanuel Kant: Werke XI, Frankfurt a. M.: Reclam 1964. 48 Vgl. dazu weiterhin die aktuellen Forschungsarbeiten etwa von Damien Tricoire (Hg.): Enlightened Colonialism.

3.1 Zusammenfassung

443

perialismus und Kolonialismus kann der enzyklopädische Erzähler in der Ferne, aber auch unmittelbar in seinem Alltag, die koloniale Welt vorfinden, deren Teil er ist. Sein Weltbild endet also nicht an den europäischen Grenzen, hinter denen sich nur noch Mythen, Märchen und Legenden befinden und die Anlass für alle möglichen Phantasmen geben (vgl. dazu etwa die Geschichte der Kartographie von Oswalt 49). Andererseits ist der koloniale Andere weder ein beherrschbares noch ein rational zu erfassendes Phänomen, da der europäische philosophe immer wieder sein Verhältnis zum kolonialen Anderen ausloten muss; nicht nur, um über ihn als Wissensobjekt sprechen zu können, sondern auch, um überhaupt eine Sprecherposition erlangen zu können. Psychoanalytisch gesprochen resultiert die Omnipräsenz des unheimlichen Anderen der kolonialen Welt daraus, dass das Unheimliche nicht externalisierbar ist, sondern sich schon inhärent im europäischen Selbstbild befindet.50 Dekonstruktivistisch gesprochen muss das rationale Sprechen über den kolonialen Anderen zwangsläufig scheitern, weil eine dichotome Trennung zwischen Selbst und Anderem, Eigenem und Fremdem eine (gewaltvolle) Operation ist, die immer wieder aufrechterhalten und immer wieder in Stand gesetzt werden muss. Deshalb ist der philosophe eben nicht ‹fertig›, wenn er den kolonialen Anderen innerhalb einer Wissenslogik als ökonomischen Handelspartner, als biologische Tierart, als historischen Urahn, als mythisches Phantasiewesen etc. definiert. Vielmehr müssen Erzählungen über den kolonialen Anderen konstruiert werden, in denen Distanzverhältnisse, Blickachsen, Aktionsräume und textuelle Interdependenzen das Verhältnis zwischen enzyklopädischer Instanz und sich immer wieder entziehender kolonialer Alterität ausgehandelt werden. Damit aber ist die Ambivalenz, die der koloniale Andere in die fortan gemeinsamen Wissens- und Erzählräume einbringt, keine Trennlinie oder zu fixierende Position, sondern eine Art Kontaktzone der Ambivalenz. Und diese Kontaktzone wiederum kennzeichnet sich insbesondere in der Beschreibungssprache durch ihre Indeterminiertheit. Bauman weist für die Benennung jener Ambivalenz auch auf die heterogenen Terminologien anderer Studien hin, wie etwa Douglas’ Terminus des «slimy».51 Die in der Einleitung der vorliegenden Arbeit erwähnte Elas-

49 Vadim Oswalt: Weltkarten – Weltbilder. Zehn Schlüsseldokumente der Globalgeschichte, Stuttgart: Reclam 2015. 50 Denn das Unmenschliche und Dämonische, das Barbarische, liegt nur einen Steinwurf entfernt – oder nur 50 Stunden. Dies ist laut der Figur Savigny in Franzobels Roman Das Floß der Medusa genau die Zeitspanne, die den zivilisierten Menschen vom kannibalischen Monster trennt: «Wer hätte gedacht, dass fünfzig Stunden reichen würden, um Menschen in Kannibalen zu verwandeln. Kolonisten, die den Wilden Menschenrechte vermitteln sollten, hatten sich in Kannibalen verwandelt» (Franzobel: Das Floß der Medusa, Wien: Paul Zsolnay Verlag 2017). 51 Zygmunt Bauman: Moderne und Ambivalenz, S. 104.

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3 Enzyklopädische Ambivalenznarrationen kolonialer Alterität

tizität und Pluralität des Menschheitsbegriffs, jene von Carey und Festa vorgeschlagenen «more elastic and plural ideas of humanity»52 der Aufklärung deuten ebenfalls darauf hin, inwiefern der koloniale Andere die eurozentrischen Vorstellungen von (universeller) Menschlichkeit einer Zerreiß- bzw. einer Dehnbarkeitsprobe unterzieht. Und in der Encyclopédie ist nun zu beobachten, welche Ausdehnungen die Fremd- und Selbstbilder erfahren. Statt des Bildes der Neuausrichtung des Humanitätsbegriffs könnte man mit Stuurman auch von einer veritablen Neukonstruktion sprechen und danach fragen, welche Rolle die narrativen enzyklopädischen Alteritätskonstruktionen bei der ‹Erfindung der Menschheit›, wie er seine große kulturhistorische Studie betitelt, spielen.53 Stuurman geht davon aus, dass das europäische Denken in Bezug auf den Fremden seit der Antike wie selbstverständlich von einem Differenz-Denken ausgeht. Die Kategorien der Egalität und Universalität, und damit eben ein Begriff einer gemeinsamen Menschheit, hätten allererst erfunden werden müssen. Und so müssten sich in der Encyclopédie als prärevolutionärem Archiv sozio-politischer, kulturphilosophischer und anthropologischer Konzepte, das vielleicht nicht entscheidend, aber sicherlich auch den Boden für die Durchsetzung und die Karriere der revolutionären Losung «liberté, égalité, fraternité» bereitet hat,54 Ansätze für diese These der Egalitätserfindung finden lassen. Aus meiner Perspektive wäre allerdings weniger die Durchsetzung eines Egalitätsbegriffs zulasten eines kulturellen Differenzbegriffs auszumachen, wie Stuurman annimmt, als vielmehr die Ambivalenz. In dieser Perspektive wäre das Differenz-Denken kein Gegenmodell zum Egalitätsdenken, sondern nachgerade dessen unabdingbare, kontrapunktische Dimension. Insofern würde – in einer ersten Annäherung – die Encyclopédie davon zeugen, dass die Ein- und Ausschlussmechanismen im Diskurs über den kolonialen Anderen gleichzeitig auftauchen (müssen) und weniger einer Erfindung von Menschheit Vorschub leisten. In einer dekolonialistischen Perspektive würde man die Machtasymmetrien sogar umdrehen und der Encyclopédie nicht Alterität einschreiben, sondern sie durch Alterität fundieren. Während die dekolonialen Theorien, exemplarisch

52 Daniel Carey/Lynn Festa: Introduction, S. 1–33, hier S. 21. 53 Vgl. Siep Stuurman: The Invention of Humanity. Equality and Cultural Difference in World History, Cambridge/London: Harvard University Press 2017. 54 Die berühmte Revolutionsparole geht explizit auf das gedankliche Erbe der Aufklärung, insbesondere auf die aufklärerischen Diskurse um Freiheit und Gleichheit, zurück, wird aber dem französischen Revolutionspolitiker Antoine-François Momoro zugeschrieben (vgl. Andreas Greive: Die Entstehung der Französischen Revolutionsparole Liberté, Egalité, Fraternité, in: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 43 (1969), S. 726– 751).

3.1 Zusammenfassung

445

sei hier Mignolo genannt,55 ja davon ausgehen, dass der Kolonialismus die Grundierung und damit die alles begründende Position für die Entwicklung der europäischen Moderne darstellt, wäre die ambivalenztheoretische Position eine, die Kausalität und Chronologie zunächst einmal aushebelt, um die Gleichzeitigkeit von kolonialem Anderen und europäischem Aufklärer zu betonen. Diese Simultanität ist wiederum keineswegs eine friedliche, unpolitische oder unproblematische, sondern trägt in sich eben jene Ambivalenz, die es zu vereindeutigen, zu systematisieren oder zu synthetisieren gilt. Deshalb entzünden sich insbesondere an der kolonialen Ambivalenz kulturphilosophische Prozesse der Moderne, aber sie stellen weder die Bedingung für die koloniale Existenz noch ihr Resultat dar. Gleichwohl ist die Stuurman’sche Zuspitzung der Erfindung insofern für die vorliegende Studie interessant, als sie nicht nur die theoretisch-konzeptuellen Dimensionen von Alterität, sondern das narrativ-konstruktive Moment in den Wissenskonstruktionen der Alterität nochmals stärken könnte. Begreift man die ambivalenten Alteritätseffekte nämlich in dem Sinne als Erfindungen, als sie allererst konstruiert werden müssen und keine Dokumentationen von Geschehnissen oder gar Fakten darstellen, so ließe sich andersherum auch das inventive Argument von Stuurman als ein wissenspoetologisches Konzept akzentuieren und an die oben diskutierten Funktionen von Fiktion in der Encyclopédie anschließen.56

55 Vgl. Walter Mignolo: The darker side of the Renaissance und Walter Mignolo: The Darker Side of Western Modernity. 56 Die programmatische Behauptung von ‹Erfindungen› scheint seit geraumer Zeit eine interessante Karriere in unterschiedlichen kulturwissenschaftlichen Zusammenhängen zu machen, um den Konstruktcharakter von vermeintlich universellen oder gar faktischen Phänomenen zu betonen. Von «invented religions» (Carole M. Cusack: Invented religions. Imagination, fiction and faith, Farnham u. a.: Ashgate 2010), der problematischen Übersetzung von Andersons «imagined communities» in «Erfindung der Nation» (Benedict Anderson: Die Erfindung der Nation. Zur Karriere eines folgenreichen Konzepts, Frankfurt a. M.: Campus Verlag 2005), von der «Erfindung des Raums» (Frank Lestringant: Die Erfindung des Raums. Kartographie, Fiktion und Alterität in der Literatur der Renaissance, Bielefeld: transcript Verlag 2012) bis hin zur «Erfindung des Menschen» und Stuurmans Studie zur «invented humanity» (Siep Stuurman: The Invention of Humanity. Equality and Cultural Difference in World History) oder Greenblatts «Erfindung des Fremden» (Stephen Greenblatt: Wunderbare Besitztümer. Die Erfindung des Fremden: Reisende und Entdecker, Berlin: Wagenbach 1994, S. 94) oder aber Schneiders Arbeit zur «Erfindung des allgemeinen Wissens», das Schneider aus den europäischen Enzyklopädien der Frühen Neuzeit generiert (Ulrich Johannes Schneider: Die Erfindung des allgemeinen Wissens). Und das Verbum des Erfindens (das in die Richtung von kreativem Schaffen konnotiert ist) kommt ja bereits im Discours Préliminaire von d’Alembert zum Tragen, wenn dieser die kreative Tätigkeit eines Geometers mit der eines Poeten/Schriftstellers vergleicht: «L’imagination dans un géomètre qui crée, n’agit pas moins que dans un poète qui invente

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3 Enzyklopädische Ambivalenznarrationen kolonialer Alterität

Zusammenfassend kann man festhalten, dass die Konzeption einer kolonialen Ambivalenz das Verhältnis von Kolonialismus und Aufklärung entscheidend dynamisieren und damit komplexer auffächern kann, als sie nur in Kausalzusammenhänge oder historische Entwicklungslinien zu stellen. In dieser Perspektive stehen dann gleichzeitig Annahmen von Kolonialismus trotz Aufklärung (aufklärungskritisch), von Kolonialismus durch Aufklärung (kolonial-apologetisch oder -legitimatorisch), von Kolonialismus und Aufklärung (als weitestgehende Unabhängigkeit voneinander und Kolonialismus als abgetrenntem Spezialdiskurs, Position der klassischen Aufklärungsforschung) oder aber von Aufklärung durch Kolonialismus (dekolonialistisch).

(Jean Le Rond d’Alembert: Discours Préliminaire de l’Encyclopédie, S. 92). Vor dem Hintergrund der narrativen Verfahren der Alteritätskonstruktionen in der vorliegenden Arbeit könnte diese kulturwissenschaftliche Erfindungskonjunktur auch Impulse für die literaturwissenschaftliche Beschäftigung mit Wissenskonstruktionen geben. Hier wäre sowohl die narrativ-literarische Faktur der soziokulturellen Phänomene zu fokussieren, wie auch das Wissen generierende Moment in literarischen Texten.

«A B R A C A D A B R A ABRACADABR ABRACADAB ABRACADA ABRACAD ABRACA ABRAC ABRA ABR AB A […] le siecle où nous vivons est trop éclairé pour qu’il soit nécessaire d’avertir que tout cela est une chimere.»1

1 Denis Diderot/Edmé-François Mallet: Abracadabra, in: Diderot, Denis/Jean Le Rond d’Alembert (Hg.): Encyclopédie, ou dictionnaire raisonné des sciences, des arts et des métier: Édition Numérique Collaborative et CRitique de l’Encyclopédie ou Dictionnaire raisonné des sciences, des arts et des métiers (ENCCRE) (1751–1772) (2017) 1751. Bd. 1, S. 33–34. http://enccre.academiesciences.fr/encyclopedie/ (27. 09. 2019), hier S. 34.

3.2 Ausblick: Postkoloniale Archiv- und Ambivalenzkonzepte, Wissensnarrative kolonialer Alterität bis ins 21. Jahrhundert Eine postkoloniale Archivologie: Narrative, Wissensformationen, Kolonialismen – Intertextuelle Ambivalenz: zentrifugal? – Ambivalenzerzählungen. Für einen wissenspoetologischen Ambivalenzbegriff in den Postcolonial Studies – Ambivalenz und Alterität – Ambivalenz und Wissen – Ambivalenz und Literatur/Narration – Dialogisierende Ambivalenz – Empirische Ausblicke: Kulturräumliche und historische Erweiterungen, enzyklopädische Literaturen – Kulturräumliche Ausblicke: Enzyklopädieprojekte – Generische Erweiterung: Literatur des 19. Jahrhunderts

Die Korrelation von Alterität und Wissen in den Narrationen der Encyclopédie hat im Rahmen der vorliegenden Arbeit zwei Scharnierkonzepte hervorgebracht: einerseits das Archiv, das als spezifischer Konstruktionsraum von Wissen fungiert, und andererseits die Ambivalenz, die gleichzeitig als Bedingung und Konstruktionsprinzip für die Alteritätsnarration des kolonialen Anderen wirkt. In den abschließenden Überlegungen sollen zwei theoretische Linien skizziert werden, die sowohl den Archiv- als auch den Ambivalenzbegriff für die postkoloniale Theoriebildung unter neuen Vorzeichen fruchtbar machen können: eine postkoloniale Archivologie, die die narrativen Konstruktionen des Kolonialdiskurses in Wissensarchiven fokussiert, und eine wissenspoetologische Ambivalenztheorie, die den Konnex von Moderne, Kolonialismus und Narration anders zu akzentuieren erlaubt.

Eine postkoloniale Archivologie: Narrative, Wissensformationen, Kolonialismen Um die Dimensionen von Wissen, Macht, Speicherung und Konstruktion, globale Positionierung und eurozentrische Konzentration von Wissen fokussieren zu können, sollen im Folgenden erste Überlegungen zu einem spezifischen postkolonialen Archivbegriff 2 entfaltet werden. Es geht dabei um die Revision des Archiv-Begriffs, der theoretisch angelegt ist und sich nicht auf klassische Kolonialarchive bezieht, der den aufklärerischen Anspruch, die Schreibverfahren und den kolonialen Gestus des Kartographierens einbezieht.

2 Vgl. dazu etwa Hubertus Büschel: Das Schweigen der Subalternen, S. 73–88 sowie Anja Horstmann/Vanina Kopp: Einleitung, S. 9–22 und Thomas Weitin/Burkhardt Wolf: Einleitung, in: Dies. (Hg.): Gewalt der Archive. Studien zur Kulturgeschichte der Wissensspeicherung, Konstanz: Konstanz University Press 2012, S. 9–19.

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3 Enzyklopädische Ambivalenznarrationen kolonialer Alterität

Die Encyclopédie ist eines der zentralen Archive der europäischen Aufklärung, wenn nicht gar der Moderne: Hier werden Wissensbestände gesammelt, gespeichert und für die kommenden Generationen (und mit Blick auf sie) systematisch und narrativ aufbereitet. Die kulturtheoretische Beschäftigung mit Archiven, dies ist in der Einleitung schon deutlich geworden, hat Konzepte hervorgebracht, die das Archiv als machtvolles Instrument und Konstrukt denken und auf ein historisches Epochenbewusstsein oder Diskursuniversum beziehen, das machtvoll Wissen ein- und ausschließt. Diese Ansätze gehen zentral auf Foucault zurück. Das Archiv nach Foucault ist als historisches Apriori und die Rede vorstrukturierendes Moment zu verstehen. Es ist bestimmt durch machtvolle Ein- und Ausschlussmechanismen– mit Weitin und Wolf könnte man hier von der «Gewalt der Archive» sprechen.3 Der Archivbegriff greift folglich neben der Bedeutung als Institution auch als Konzeption.4 Das Archiv wird demzufolge in der Forschung verstanden etwa als Unterdrückung oder Legitimierung von Aussagen (mit Foucault), als Aufzeichnung und prospektive Potenz (mit Derrida, vgl. Kapitel 3.1), als intertextuelle, auf der paradigmatischen Achse formulierte Textmöglichkeiten,5 als Form narrativer Konstruktion von Wissen. Die Archiv-Theorie wird stark von Fragen der Speicherung und Spuren der Geschichte, von der Geschichtsvergessenheit und den Problematiken der realen Archiv-Institutionen dominiert, z. B. in dem die «Archivologie» vielschichtig darstellenden Band von Ebeling und Günzel.6 Die wissenspoetologischen Überlegungen könnten diese ergänzen und betonen die textuellen Verfahren der Konstruktion (und weniger der Rekonstruktion oder der Konservierung) von Wissen. Als Archiv hat die Encyclopédie damit nicht nur die oben analysierten narrativen Verfahren ausgebildet, sondern auch über eine große Strahlkraft verfügt. Insbesondere vor dem Hintergrund der intertextuellen kontrapunktischen Analysen ist die gängige Metapher für diese Strahlkraft in Form des Epizentrums für die Encyclopédie noch einmal zu überdenken. In ihrer Adressierung der Leserschaft ist das epizentrische Bild insofern stimmig, als Diderot ja den Menschen als Ausgangs- und Zielpunkt des Denkens über die Welt setzt (vgl. die Ausführungen zum Wissensbegriff in der Einleitung) und als sich ausgehend von diesen Denkbewegungen in konzentrischen Kreisen das Subjekt die Welt erschließen kann. Diese Denkfigur des epizentrischen rationalen Subjekts

3 Ebd., S. 10. 4 Vgl. Knut Ebeling/Stephan Günzel (Hg.): Einleitung, in: Dies. (Hg.): Archivologie. Theorien des Archivs in Wissenschaft, Medien und Künsten, Berlin: Kadmos 2009, S. 7–26, hier S. 21. 5 Vgl. Moritz Baßler: Die kulturpoetische Funktion und das Archiv. 6 Vgl. Knut Ebeling/Stephan Günzel (Hg.): Einleitung, S. 7–26.

3.2 Postkoloniale Archiv- und Ambivalenzkonzepte

451

ist insbesondere mit Blick auf die entmündigenden Antagonisten von Kirche und Krone plausibel. Intertextuell aber ist die Encyclopédie nur bedingt epizentrisch wirksam; und auch die diegetischen Konstruktionen und Fokalisierungen sind nicht nur ich- oder erzählinstanzorientiert. Es erscheint auf der Ebene des Textes eine andere Metapher angebrachter, die die Bewegungen in die Encyclopédie hinein verbildlicht: die des ‹zentrifugalen Zentrums›. Hier wirkt die Scheinkraft der Zentrifugalität, denn die textuellen Verweisungen wirken nur scheinbar durch die Barthes’schen sorties ins kontextuelle, kotextuelle und damit kulturelle Feld außerhalb der Encyclopédie. Tatsächlich, so auch im physikalischen Modell, wirkt aber die Zentripetalkraft (oder die Zentrifugalkraft als Antizentripetalkraft) nach innen, um alles Wissen der Zeit immer wieder mit Bezug auf das sich im Zentrum befindliche Subjekt zu konstruieren. Um Objekte auf einer Kreisbahn zu bewegen, bedarf es einer unablässigen Krafteinwirkung in Richtung Kreiszentrum – ähnlich verhält es sich auch mit der Wissensintegration in die Encyclopédie. Alle Kontexte und Kotexte müssen unablässig in die Encyclopédie hineingezogen werden, damit sie nicht von sich aus wegtreiben. Mit dieser Umkehrung der Beschreibung aber wird auch die kontrapunktische Faktur der Wissenskonstruktionen und des modernen, europäischen Subjekts deutlich: Die Kräfte, die alles Wissen auf ihn zentrieren, wirken nicht von sich aus und mühelos, sondern der enzyklopädische Erzähler muss schon einigen Aufwand betreiben, um sich im Zentrum immer wieder zu behaupten und das Wissen relational zum eigenen Standpunkt zu formulieren. Auch Bachtin nutzt im Zusammenhang mit seinen Überlegungen zur dialogischen Anlage des Worts im Roman die physikalische Metapher der Zentrifugalkräfte. Die Literatur zerfällt Bachtin zufolge in zwei Kategorien, denen antagonistische Kräfte zugrunde liegen: die zentripetalen, «die Hauptvarianten der poetischen Gattungen in der Bahn der vereinheitlichenden und zentralisierenden Kräfte», und «der Roman und die ihm verwandten Gattungen der künstlerischen Prosa», in denen zentrifugale Kräfte zu Dezentralisierung und Differenz führen.7 Die intertextuelle Wirkungsrichtung ist demgemäß eine, die ins Zentrum des Encyclopédie-Artikels verweist und zentripetal (oder gar kopernikanisch) das Diskursfeld in sich hineinzieht bzw. um sich herum organisiert. Damit könnte die Encyclopédie als wissenspoetologisches Konvolut mit all jenen kulturtheoretischen Ansätzen konfrontiert werden, die den Konnex von Wissen, Moderne und Europa bzw. Okzident kritisch beleuchten. Hier würden sich etwa die Überlegungen von Latour anschließen lassen.8 Latour konstatiert

7 Vgl. Michail M. Bachtin: Die Ästhetik des Wortes. 8 Vgl. Bruno Latour: Nous n’avons jamais été modernes.

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3 Enzyklopädische Ambivalenznarrationen kolonialer Alterität

in seinem Moderne-kritischen Text, dass der Konnex von Moderne und Okzident explizit in den modernen Wissenschaften geschmiedet wurde. Seine These ist, dass der Okzident sich über die Erfindung von «science» definiert, in dem Sinne, dass hier «humain» von «non-humain», «nature» von «culture/société» getrennt wird und so der kategoriale Unterschied zwischen «nous» und «eux» entsteht. Dies lässt sich insofern gut an die in der vorliegenden Arbeit formulierten textanalytischen Ergebnisse anschließen, als Latour die Verbindung von Wissenschaftlichkeit und Kategorien des Menschlichen mit Selbst- und Fremdkonstruktionen verbindet, die an globale, hier: postkoloniale, Fragestellungen gebunden sind. Noch interessanter ist aber vielleicht, dass die kontrapunktische Lektüre einen Weg für die von Latour zentral geforderte Symmetrierung der Anthropologie anbieten könnte, die nicht emanzipativ, sondern über das Moment der Ambivalenz arbeitet.9

Ambivalenzerzählungen. Für einen wissenspoetologischen Ambivalenzbegriff in den Postcolonial Studies Ambivalenz als epistemischen Mechanismus zu begreifen, könnte ermöglichen, die Alteritätskonstruktionen in den westlichen Kulturen neu zu lesen und an9 Von zentraler Bedeutung scheint mir im Zusammenhang mit der anthropologischen Grundierung auch die heterogene, kollektive Anlage des enzyklopädischen Projektes zu sein, wenn man sie einmal auf das Subjektverständnis in der Aufklärung hin perspektiviert. Jene heterogene Autorschaft, die Vulgarisierung des Wissens mit den entsprechenden rezeptionsästhetischen Implikationen und die Verlagerung relevanten Wissens aus dem Bereich des philosophischen oder religiösen Wissens hin zum praktischen Wissen zeugen von einem Menschenverständnis, dass Wissen weniger mit einem Subjekt korreliert (vermutlich kann die Encyclopédie auch deshalb Ansprüchen von Bildung nicht genüge tun) als vielmehr mit einem Kollektiv. Kant ließe sich demgemäß plural(istisch) umformulieren, dass die Encyclopédie nach dem «Ausgang der Menschen aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit» strebt. Die Enzyklopädisten zielen auf die Gesellschaft, auf Kollektive und soziale Schichten, um autoritären, despotischen Diskursen den Nimbus des individuellen Schöpfers zu nehmen. Dieses Verschwinden attestiert Schneider den Enzyklopädisten, die hinter den Bergen von Wissensobjekten und Denkfiguren verschwinden. Schneider deklariert den Enzyklopädisten zur «Schattengestalt der Aufklärung» und zu ihrem «Phantom» (Ulrich Johannes Schneider: Die Erfindung des allgemeinen Wissens, S. 218). Der Enzyklopädist muss in die zweite Reihe treten, um seinen Bezugstexten den Vortritt zu lassen, um an dem immer schon veralteten status quo seiner enzyklopädischen Texte zu verzweifeln und um seine eigene realhistorische Wirkungslosigkeit zur Kenntnis zu nehmen (vgl. ebd., S. 219). Diese Wirkungslosigkeit der Enzyklopädisten gilt für einige Autoren der Encyclopédie sicherlich nicht unbedingt; für Schneiders Schlussfolgerungen über das Schattendasein der gegenwärtigen Enzyklopädisten scheint sie mir nicht unbedingt zu greifen. Ist Wissen tatsächlich wichtiger geworden als seine Autorschaft? Ist nicht gerade in Zeiten von «fake news» die Forderung nach einer Urheber-

3.2 Postkoloniale Archiv- und Ambivalenzkonzepte

453

ders zu verstehen. Diese Überlegung knüpft an all jene Ansätze an, die die kolonialistischen Dichotomien, also all jene, die auf einen strukturalistischen und kulturkonservativen kulturellen Differenzbegriff rekurrieren, zu überwinden suchen, indem man nicht konterdiskursiv nach Widerstand im gleichen Diskursmuster sucht, sondern indem man die Gleichzeitigkeiten, die Ambivalenzen, in der diskursiven Aushandlung von Deutungshoheiten und Identifikationen zum Vorschein bringt. Die begriffliche Verwendung der Kontrapunktik hätte zwar den Vorteil, dass die musikalische Semantik, aus der sich die Konzeptmetapher speist, die Gleichzeitigkeit der Diskursstränge betont (vgl. dazu meine Ausführungen in der Einleitung). Gleichwohl ist insbesondere das Präfix des «kontra» insofern für den in der vorliegenden Arbeit entwickelten Ansatz eher problematisch, weil es eine Dichotomie ankündigt, die es ja analytisch gerade zu unterlaufen gilt. Der Ambivalenzbegriff kann hingegen einerseits auf die postkolonial-psychoanalytische Begriffsgeschichte zurückgreifen, die die unvermeidliche und unentwirrbare Verquickung unterschiedlicher identifikatorischer und diskursiver Momente akzentuiert. Andererseits schwingt in der Etymologie des AmbivalenzBegriffs stärker die Gleichzeitigkeit (lat. ambo = beide) und die normative Validierung (lat. valere = gelten) an, die nicht automatisch zur egalitären Gleichwertigkeit führt, sondern sich in einem steten Aushandlungsprozess artikuliert. Der Ambivalenzbegriff, der demzufolge nicht mehr auf seine psychologische bzw. psychoanalytische Herkunft reduziert werden muss,10 kann so Prozesse der Alteritätskonstruktion dahingehend dynamisieren, dass die Konzepte von Alterität und Identität, von Selbst und Anderem, von Ich und Du etc. aus ihrer binären Relationalität herausgelöst werden. Damit allein führe der Ambivalenzbegriff aber zunächst nur im Fahrwasser all jener Hybriditätstheorien, die genau diese Dekonstruktionen schon seit den 1980er Jahren anstreben. Eine innovative Fortschreibung bietet sich in der wissenspoetologischen Akzentuierung des Ambivalenzbegriffs, die der narrativen Inszenierung eine zentrale Rolle zuweist, kulturelle Aushandlungsprozesse in den Wissenskontext der Moderne stellt und nicht zuletzt die Simultanität von Kontradiktionen oder Oppositionen weder aufzulösen noch in eine heterogene Pluralität aufzuheben versucht. In den Ambivalenzlektüren kann somit quasi postdialektisch eine Dynamisierung von Machtverhältnissen in den Texten analysiert werden, die weder auf eine Neukonstruktion im

schaft (in der Autorschaft nicht unbedingt an Wissenschaftlichkeit, sehr wohl aber an Nachprüfbarkeit und Expertise gekoppelt ist) wieder laut geworden? 10 Vgl. Frauke Berndt/Stephan Kammer: Amphibolie – Ambiguität – Ambivalenz: Die Struktur antagonistisch-gleichzeitiger Zweiwertigkeit, S. 18 ff.

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3 Enzyklopädische Ambivalenznarrationen kolonialer Alterität

Hybriden hinauslaufen, noch Dichotomien nur als solche (auch wenn diese kritisch reflektiert werden) repetieren müssen. Der wissenspoetologische Ambivalenzbegriff dynamisiert das Konzept kultureller und kolonialer Alterität; auch im Hinblick auf seine historische Verortung. Bedorf zeichnet in seiner umfänglichen Studie zum Anderen als sozialphilosophischem Konzept nämlich nach, dass der Andere in der Philosophie nicht immer schon ein eigenes Thema der Philosophie gewesen sei. Im Gegenteil: Ein alteritätsgerechtes Denken situiert er (in einer aufklärerischen Rhetorik) gar erst im 20. Jahrhundert: Diese Geschichte der Philosophien lässt sich als eine erzählen, in der der Andere nach und nach aus seinem Schattendasein, das er noch im antiken Denken geführt hatte, herausgehoben und zu einer eigenständigen Figur wird. Während [...] der Andere [...] in den neuzeitlichen Universalismen eine Vermittlungsposition zugewiesen bekommt, vermag es erst das Denken des 20. Jahrhunderts, der Andersheit des Anderen Rechnung zu tragen, ohne ihn auf andere Kategorien zu verrechnen. ’Die Frage nach dem Anderen ist unabtrennbar von den anfänglichsten Fragen des modernen Denkens‘, so heißt es bei Theunissens wegweisender Studie über den Anderen im phänomenologischen und dialogphilosophischen Denken des 20. Jahrhunderts.11

Für meine Argumentation sind nun zwei Aspekte an Bedorfs Ausführungen relevant: erstens der Hinweis, dass der Andere in den neuzeitlichen Universalismen als Vermittlungsinstanz funktioniere und subsumiert werde, und zweitens die Feststellung, dass erst im 20. Jahrhundert der und das Andere in der eigenständigen Alterität anerkannt werde. Zum ersten Aspekt werden diese stabilen Positionsbestimmungen in einer Ambivalenzperspektive problematisch. Die Textanalysen haben ja gezeigt, dass die Universalität in der Encyclopédie insbesondere in anthropologischen Fragen an ihre Grenzen stößt – der koloniale Andere ist eben doch kein Mensch wie der europäische philosophe, aber auch erschreckend ähnlich und damit wiederum kein eindeutig alteritäres Tier/Monster/ Frühstadium12 – und dass der koloniale Andere auch nicht der reinen Vermittlung oder als eine Art Prüfstein dient. Zur Frage des alteritätsadäquaten Denkens im 20. Jahrhundert, bei dem Bedorf primär auf Levinas und Sartre rekurriert, könnte man in der Perspektive

11 Thomas Bedorf: Andere, S. 9. 12 Und damit oszillieren die enzyklopädischen Texte in der kontrapunktischen Lektüre auch zwischen Nostrifizierung und Alienisierung und artikulieren gerade keinen rein eurozentrischen Diskurs, wie Bauman ihn für die Moderne annimmt: «Am Ende werden wir, statt diese «andere Welt» zu rekonstruieren, nicht mehr tun, als «das Andere» unserer eigenen Welt zu konstruieren.» (Zygmunt Bauman: Moderne und Ambivalenz, S. 18, Hervorhebungen im Original).

3.2 Postkoloniale Archiv- und Ambivalenzkonzepte

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der Ambivalenz zu anderen Einsichten kommen. In dieser Sichtweise sind alle Denkmodelle der Alterität räumlich und historisch kontextualisierte Versuche, das Störmoment der Ambivalenz auf den Begriff zu bringen, welches wiederum durch die radikale Reziprozität der Alterität und seine notwendige Narrativierung bedingt ist. Damit aber hat das Denken des 20. Jahrhundert zwar die Radikalität des Anderen ausformuliert, in der Perspektive der Ambivalenz aber ist es eher der Versuch, eine radikale Differenz zu denken. Dies kann entweder in der absoluten Setzung des Anderen resultieren, in der der Andere nicht einmal mehr durch Anschauung13 oder etwa durch Anrufung14 erreichbar ist. Oder aber – und hier würden die Theorien zur Hybridisierung einsetzen – die Perspektive liegt auf den Prozessen innerhalb der Differenz, welche dann alle beteiligten Subjektpositionen involvieren und insbesondere die Dynamiken der Aushandlung fokussieren. Der Ambivalenzbegriff scheint mir nun einerseits integrativ zu funktionieren, indem es für die kulturphilosophische Konzeption von kolonialer Alterität ein Spektrum eröffnet, das sich von einem Denken der Verschmelzung über eine inhärent-brüchige Hybridität bis zu einer radikal-differenten Andersheit erstreckt. Jede Position auf diesem Spektrum aber muss andererseits narrativ ausformuliert werden, d. h. für fiktionale Räume und Textverfahren konstruiert und der Unvorhersehbarkeit, der Bedrohlichkeit und Unentscheidbarkeit überantwortet werden. Demgemäß entsteht dann die Verunsicherung aller Positionen, eben auch jene der vermeintlich souveränen Kolonialmacht. Das bedeutet allerdings nicht, einer machtvollen Situation der Unterdrückung, Verschleppung, der Ermordung und Ausbeutung die politisch-historische Brisanz zu nehmen und eine romantisierende, quasi das Moderne-Projekt entschuldigende Diskursdimension zu geben. Ambivalenz bedeutet weder Befriedung noch Entschuldigung oder gar Willkürlichkeit. Es ist gerade kein weiteres Machtinstrument wort- und theoriegewandter westlicher Wissenschaft, das nur dazu dient, das eigene Projekt mit Hintertüren auszustatten, aus denen es vor Selbsterkenntnis oder Verantwortung fliehen kann.15 Diese Art der Ambiva13 Vgl. Emmanuel Lévinas: Die Spur des Anderen. Untersuchungen zur Phänomenologie und Sozialphilosophie, Freiburg/München: Verlag Karl Alber 1983. 14 Vgl. Louis Althusser: Ideologie und ideologische Staatsapparate, Hamburg: VSA-Verlag [1977] 2016 sowie Benjamin Scharmacher: Wie Menschen Subjekte werden. Einführung in Althussers Theorie der Anrufung, Marburg: Tectum Verlag 2004. 15 Die Macht wie Ohnmacht innerhalb des Kolonialdiskurses ist insbesondere in den diskriminierenden, dehumanisierenden und rassistischen Alteritätsfiguren ein Befund, der nicht unmittelbar auf der Hand liegt. In den Beschreibungen von Sklaven, Kannibalen oder Wilden zeigen sich doch scheinbar sehr deutlich das epistemologische Machtgefälle und der massive Ausschluss des kolonialen Anderen, etwa in der emblematischen Figur des Sklaven, aus dem Kolonialdiskus durch seinen Einschluss auf der untersten Stufe zuerkannter Menschlichkeit.

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lenz zielt gerade darauf, vereindeutigende Lektüren zu vermeiden, indem es die französische Aufklärung weder ausschließlich als fortschrittlich und human noch als ausschließlich reaktionär und menschenverachtend labellisiert. Mit dem Ambivalenzbegriff öffnet sich der Wissensbegriff für kategoriale Unsicherheiten, für Unwissen und affektive Dimensionen und der Alteritätsbegriff für Verunsicherung und stete identitäre Aushandlung, mit Bauman als «notorisch ambivalente […] Kategorie der Fremden».16 Wissen und Alterität bilden dann als Ambivalenzkonzepte ein spannungsvolles Verhältnis vor dem Hintergrund der europäischen Moderne, die nach Bauman wiederum in der Ambivalenz ihre größte Herausforderung findet:17 Wenn die Moderne es mit der Erzeugung von Ordnung zu tun hat, dann ist Ambivalenz der Abfall der Moderne. Ordnung wie Ambivalenz sind gleichermaßen Produkte der modernen Praxis [...] Ambivalenz stellt unstrittig die genuinste Beunruhigung und Sorge für die Moderne dar, da sie, anders als andere Feinde, geschlagen und versklavt, mit jedem Erfolg der modernen Mächte an Stärke zunimmt. Es ist ihr eigenes Versagen, das die Aufräumaktivität als Ambivalenz konstituiert.18

Die kontrapunktische Perspektive aber auf diese Sklavengeschichten hat gezeigt, dass der Kolonialdiskurs dieses Machtverhältnis gewaltvoll, aber auch notwendigerweise immer wieder herstellen muss, um die Position der Kolonialherren zu stabilisieren und zu legitimieren, um die enzyklopädische Erzählstimme in die Lage der Übersicht zu versetzen. Eine ganze Reihe von post- und dekolonialen Studien versucht seit einigen Jahren, genau dieses reziproke Verhältnis in der Aufklärung auszuleuchten (vgl. dazu den Forschungsstand zur postkolonialen Aufklärungsforschung in der Einleitung), auch wenn hier zumeist kein Diskursmoment der Ambivalenz anvisiert wird, sondern es primär um einen Gegendiskurs und ein inneres Aushöhlen des souveränen europäischen Selbstverständnisses geht. Exemplarisch für diese Arbeiten sei hier die Studie von Mbembe erwähnt, die die tiefgehende Verstrickung von westlichem Kapitalismus und Sklaverei mit dem Postulat einer ‹schwarzen Vernunft› aufdeckt. Er schreibt dem gegenwärtigen globalen Kapitalismus ein Moment schwarzer Vernunft ein, die als Legitimationsfigur den Sklaven als Menschen-Ware erfindet und einprägt (vgl. Achille Mbembe: Critique de la raison nègre, Paris: La Découverte 2013). 16 Zygmunt Bauman: Moderne und Ambivalenz, S. 35, Hervorhebung im Original. 17 Die Moderne ist insbesondere in den Postcolonial und Decolonial Studies ins Visier geraten, um Wissensregime und Diskursmacht, Alteritätskonstruktionen und Eurozentrismus in den Blick zu nehmen (vgl. bspw. Walter Mignolo: Epistemischer Ungehorsam und Walter Mignolo: The Darker Side of Western Modernity). An dieser Stelle sei insbesondere die Arbeit von Saal genannt, die die Moderne-Kritik auf eine globale Perspektive ausweitet und u. a. afrikanische und japanische Moderne-Konzepte und deren Kritik für eine interkulturelle Perspektive auf die Dekolonisierung der Moderne in Anschlag bringt (vgl. Britta Saal: Kultur, Tradition, Moderne im Spiegel postkolonialer Differenzbewegungen. Eine interkulturelle Kritik der Moderne, Aachen: Wissenschaftsverlag Mainz 2013). 18 Zygmunt Bauman: Moderne und Ambivalenz, S. 34, Hervorhebung im Original.

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Damit tritt der an den Alteritätserfahrungen und -konstruktionen orientierte Ambivalenzbegriff auch noch einmal anders in die in der Einleitung skizzierten kontroversen Debatten zum Stellenwert der Aufklärung im Moderne-Diskurs ein. Dieses Ambivalenzkonzept ist weder Apologie noch Anklage des Kolonialdiskurses in der Aufklärung. Es unterstreicht einerseits, dass der Kolonialdiskurs in sich wesentlich komplexer (und eben ambivalenter) ist, als oftmals angenommen wird und folglich eine normative Positionierung nicht evident ist. Die in der vorliegenden Arbeit entwickelte Ambivalenz zweifelt aber auch die ungebrochene (große) Erzählung der Entwicklungslinie von der Aufklärung zur Moderne hin an. Damit folgt sie in der Tendenz der produktiven Skepsis von Pečar und Damien, die der omnipräsenten gegenwartsbezogenen Rezeption der Aufklärung kritisch gegenüberstehen,19 allerdings in ihrem Essay die Modernetendenziöse Aufklärungsforschung mit ihrer oftmals unzulässigen Übertragung moderner Konzepte auf die Aufklärung (als «falsche Freunde») angreifen: «Unser Blick ist allein darauf gerichtet, wie die Legende von der Aufklärung als Ausgangspunkt der modernen, westlichen Welt unser Verständnis vom 18. Jahrhundert beeinflusst, um nicht zu sagen, verzerrt.»20 Mit dem Ambivalenzbegriff können auch die Wirkungsästhetik, die Rezeptionsweisen oder aber die Funktion von Literatur neu beleuchtet werden. Todorov stellt sich am Ende seiner Studie zum ‹Problem des Anderen› die berechtigte Frage nach dem geeigneten Diskurs für heterologisches Denken.21 Gerade die Literatur kann einen solchen Raum für heterologisches Denken darstellen und mehr noch – eben als Raum für Ambivalenz – verschiedene Logiken, die nicht nur in einem präpositionalen «hetero», «multi», oder «poly» kopräsent sind, sondern sich gegenseitig problematisieren, verunsichern, stören und kontrapunktisch gegeneinander- und zueinanderstellen.22

19 Vgl. Andreas Pečar/Damien Tricoire: Falsche Freunde, 2015. 20 Ebd., S. 14. 21 Vgl. Tzvetan Todorov: Die Eroberung Amerikas, S. 298 f. 22 Todorov formuliert im Schlussteil seiner Studie zur Eroberung Amerikas auch ein Kulturkoexistenzmodell der Ambivalenz: «[…] wir wollen Gleichheit, ohne daß sie zwangsläufig zur Identität führt; aber auch Verschiedenheit, ohne daß sie zur Opposition Superiorität/Inferiorität entartet; wir hoffen, die Vorteile des egalitaristischen und hierarchischen Modells gleichermaßen nutzen zu können; wir sind bestrebt, Sinn für das Soziale wiederzufinden, ohne die Qualität des Individuellen zu verlieren. […] Den Unterschied in der Gleichheit leben» (ebd., S. 293 f.). Die kontrapunktische Ambivalenz würde sich allerdings nicht darin erschöpfen, kontradiktorische Momente in konträre zu überführen, indem sie in Koexistenz aufgehen. Die Kontrapunktik schafft keinen integrativen Rahmen, sondern spaltet innerhalb vermeintlich homogen-eindeutiger Kultursituationen inhärente Differenzlinien, die gleichzeitig vielschichtigen Macht- und Ohnmachtsmomenten zur Artikulation verhelfen.

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Die Bindung der Ambivalenz an Narrative und Narrationen ist einerseits evident und andererseits kaum ausgearbeitet. Interessant ist hier die Vorstellung des Kulturkontakts als Aushandlung bzw. oftmals eben als Dialog. Auch hier schließen sich die Arbeiten Todorovs an, der insbesondere die «Eroberung Amerikas» als Dialog der Kulturen entwirft, der Kulturen ohne Hierarchie eines Dialogpartners denkt, «eine Bejahung der Exteriorität des anderen, die mit seiner Anerkennung als Subjekt einhergeht».23 Eine entschiedene Gegenposition zu diesem dialogischen Kulturkontaktmodell nimmt Koschorke ein, demzufolge Kulturen, die sich in einem konfliktären Verhältnis zueinander befinden,– und hier lehnt er sich u. a. an die Konzeption asymmetrischer Gegenbegriffe nach Koselleck an, der u. a. auch die Hellenen-Barbaren-Differenz der Antike beschreibt – gerade nicht in einem Dialog stehen: «Zwischen zwei Gruppen, die miteinander im Konflikt liegen, besteht deshalb kein Verhältnis des Dialogs, sondern das Nicht-Verhältnis eines doppelten Monologs über die Fremdwahrnehmung der jeweils anderen Gruppe».24 Dieses monologische Kommunikationsverhältnis scheint mir aus der Ambivalenzperspektive heraus nur auf einen ersten Blick auf die Encyclopédie und die dort dargestellten Fremdbilder zuzutreffen. Denn hier hat die kontrapunktische Perspektive auf die Ambivalenz25 der narratologischen und intertextuellen Inszenierungen ja nur den vermeintlichen Monolog des enzyklopädischen Erzählers gezeigt: Das Monologische des enzyklopädischen Erzählers ist in eine responsive Situation mit dem kolonialen Anderen eingebettet. Er kann gerade nicht souverän, hermetisch und allein selbstbezüglich die Rede nur an die eigene Person binden. Vielmehr ist er auf die Stimmen des kolonialen Anderen angewiesen, um das Selbstbild konstruieren zu können. Und so entsteht ein eher ambivalenter Monolog. Diese Ambivalenz handelt der enzyklopädische Erzähler narrativ aus, indem er die Narration perspektivierend und ‹brikolierend› in Gang halten muss. Koschorke konstatiert für diese Gestaltungsräume kultureller Differenz (die er

23 Ebd., S. 295. Dieses dialogische Konzept spiegelt sich auch in Todorovs Methodik und Methodologie wider (auch wenn sie weiterhin in einen machtvollen Diskursraum eingerahmt ist, was Todorov vernachlässigt): «Ich befrage, transponiere, ich interpretiere diese Texte; aber ich lasse sie auch sprechen (daher die zahlreichen Zitate) und sich verteidigen.» (ebd., S. 295). 24 Albrecht Koschorke: Wahrheit und Erfindung, S. 100. 25 Koschorke (wieder in Anlehnung an Koselleck) würde einen derart angelegten Ambivalenzbegriff vermutlich ablehnen, da dieser, trotz aller Kritik, Begriffsasymmetrien anerkennt, die einerseits die Reziprozität nachgerade blockieren (vgl. ebd., S. 97) und andererseits «eine groß angelegte Matrix für Erzählungen» darstellen (ebd. 99).

3.2 Postkoloniale Archiv- und Ambivalenzkonzepte

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zentral als kollektive Differenz zwischen Wir und Sie ansetzt) zwei Narrationsoptionen: In solchen Zusammenhängen fungiert der Erzähler als ein Choreograph der Differenz. Ihm bieten sich grundsätzlich zwei Optionen. Lässt er eine [...] Grenze als Kontaktzone erscheinen, [...] dann kann das Erzählen seine ganze Virtuosität ausspielen [...]. Das ist [...] die pluralistische Option. Nur allzu häufig aber stellen sich die Erzähler in den Dienst einer Polarisierung des Wir/Sie-Feldes. [...] Das ist die Option der Radikalisierung.26

In der Folge hebt Koschorke dann auf ein Problem ab, das auch Diskussionsgegenstand innerhalb der Postcolonial Studies und der Ethnologie ist und die Artikulationsmöglichkeiten in Kulturkontaktsituationen betrifft. Er benennt drei Modi der Alteritätsnarrationen als Wissenskonstruktionen: Sehen, Sagen, Wissen. Diese Modi klingen wie eine Art Echo der Kant’schen Aufklärung und sind auch in der vorliegenden Studie als zentrale Dimensionen der Alteritätskonstruktionen als Wissens- und Textfiguren in der Encyclopédie herausgearbeitet worden: Was den Erzähler als Choreographen der Grenzziehung betrifft, so vergrößert sich sein Gestaltungsspielraum dadurch, dass er nicht nur über ein, sondern über drei Register der Schließung und Öffnung der Wir-Grenze verfügt: Sehen, Sagen, Wissen. [...] Ein Erzähler kann Figuren aus der ‹anderen Welt› mit dem Vermögen des Blicks begaben, aber stumm bleiben lassen. Doch selbst wenn er ihnen eine eigene Sprache leiht, wie ist sie in den Sprachcode des Narrativs übersetzbar? Ist Sprechen-Lassen überhaupt ohne Vereinnahmung möglich? [...] Und wenn er spricht, verfügt er über ein Wissen, das nicht vom (besseren) Wissen des Erzählers umschlossen und entkräftet ist? Gibt es die Reziprozität zwischen unterschiedlichen Weisen des Wissens? Das ist ein virulentes Problem aller postkolonialen Ansätze, die ihre Robinson-Lektion gelernt zu haben glauben.27

Koschorkes Ausführungen sind für die Überlegungen zur narrativen Ausgestaltung der kolonialen Ambivalenzen in der Encyclopédie insofern interessant, als sie einerseits tatsächlich auf die Verfahren der Redeinszenierung und des Blicks/der Perspektive auf den kolonialen Anderen hinweisen und diese beschreiben. Andererseits aber scheint bei Koschorke ja das unlösbare Problem der hegemonialen Rede über den kolonialen Anderen auf, sobald er über die ‹Subalterne› (Spivak) spricht. Die kontrapunktische Lektüre aber und der kritisch weiterentwickelte Zugang der Ambivalenz ermöglichen es, jenen machtvollen Sprachcode der Narration in seiner vermeintlichen Hegemonialität zu dekonstruieren.

26 Ebd. 27 Ebd., S. 100.

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Und in der Perspektive von Koschorke auf den Zusammenhang von Erzählung und Wissen(schaft) wird auch nochmals plausibel, warum die intertextuellen Erzählverfahren an den Anschlüssen an das Diskursfeld so interessiert sind und diese in hypertextuell-normative Texteinschließungen und -transformationen münden lassen müssen. In Ermangelung eines direkten Kontakts mit dem kolonialen Anderen einerseits und in der Erschreibung wissenschaftlicher Standards andererseits sind die enzyklopädischen Erzähler auf die Hinweise, die kritischen Kommentierungen, aber auch die Ausschlüsse und ‹Verfälschungen› von Referenztexten angewiesen. Mit Koschorke: Insofern ist auch die Ordnung des wissenschaftlichen Wissens doppelt codiert: Die Wahrheit einer Aussage bemisst sich einesteils an ihrer inferentiellen Stimmigkeit, im Abgleich mit anderen als gültig anerkannten Aussagen, andernteils an ihrer referentiellen Richtigkeit, das heißt ihrer Überprüfbarkeit am Objekt.28

Resultat ist aber ein Wissensnarrativ über den kolonialen Anderen, das gegen die Ambivalenz arbeitet und gleichzeitig für eine Öffnung und Pluralisierung von Wissensformen ist. Es ist in diesem Sinne unsicher oder prekär, mit Mulsow gesprochen: «Prekäres Wissen ist unsicher; es ist noch nicht ausgemacht, ob es gültig ist oder ob sein Wahrheitsanspruch wieder zurückgenommen werden muß».29 Als erster methodischer Ausblick ergibt sich nun die Erweiterung bzw. Ergänzung der rezeptionsästhetischen Untersuchung der Ambivalenzkonstruktionen. Said selbst legt in seinen kontrapunktischen Lektüren ja nicht nur bzw. nicht einmal primär textimmanente Analysen vor, sondern entwickelt diese auch für Produktions- und Rezeptionskontexte.30 Welche Rolle spielt der Rezep-

28 Ebd., S. 336. 29 Martin Mulsow: Prekäres Wissen. Eine andere Ideengeschichte der Frühen Neuzeit, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2012, S. 17. An die Unbestimmtheitsstelle zwischen Wissen, Wahrheit und Erzählung setzt Müller-Funk in seinen Überlegungen zu den Theorien des Fremden ausgerechnet ein literarisches Genre bzw. ein insbesondere in der Literatur bearbeitetes Genre ein: das Phantastische. Nach Müller-Funk führt der Fremde nämlich die Unentschiedenheit über seinen Status mit sich, so dass aus dieser Unsicherheit, in meiner Terminologie: aus dieser Ambivalenz das Phantastische nachgerade folgt. In Anlehnung an die Arbeiten von Todorov resümiert Müller-Funk: «Allgemein gesprochen resultiert das Phantastische aus einer epistemologischen Unschlüssigkeit» (Wolfgang Müller-Funk: Theorien des Fremden, S. 297). 30 So wäre eine weitere Anschlussmöglichkeit, die Encyclopédie auf die kontrapunktische Anlage hinsichtlich der Produktionsbedingungen hin zu untersuchen. Welche kolonialen Mechanismen finden sich in der Zusammenschau der Enzyklopädisten? Welche kolonialistischen Beziehungen gibt es auf biographischer Ebene, welche Autoren und Graveure werden ein-, welche werden von der Erstellung der Encyclopédie ausgeschlossen? Welche Rolle spielen die Verlags- und Vertriebsbedingungen, die nicht nur finanziell/ökonomisch wirksam sind, son-

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tionskontext für die kontrapunktische Anlage der Encyclopédie? Wie konnte und durfte aufklärerisches, antikoloniales Gedankengut in die Artikel einfließen mit Blick auf ein französisches, finanzkräftiges Lesepublikum? In den vorangegangenen Textanalysen wurde der Fokus auf die Stimme des kolonialen Anderen im Echoraum des europäischen Wissenssystems gelegt. Dies lag aufgrund der Anlage der Encyclopédie, die den Menschen als Ausgangspunkt benennt, und der bekannten Krise der Anthropologie in der Aufklärung schlichtweg nahe. Ebenso evident erscheinen aber auch Untersuchungen der beschriebenen und evozierten Raumstrukturen in der Encyclopédie, die die kolonialen Aushandlungsprozesse rahmen und sogar mehr noch: stark prägen. Bereits in der Einleitung von d’Alembert findet sich spatiale Metaphorik zur Semantisierung von Wissensproduktion und philosophischer Position: das von oben betrachtete Labyrinth, die kartographischen Semantiken von Wegen und Umwegen, der Weltkarte des Wissens selbst etc. Dies ließe sich selbstredend nicht nur postkolonial ausdeuten, sondern in eine rhetorische und epistemologische Tradition verorten. Auch Gipper liest diese dezidiert nicht kolonial, sondern deutet sie im Sinne einer touristischen Neugier.31 Es wäre m. E. aber lohnenswert, die Raummetaphern wie auch die Raumbeschreibungen kontrapunktisch als Konstruktionen vor dem Hintergrund kolonialer Expansion von Macht- und Wissensbereichen in den Blick zu nehmen. Gleiches gälte für die Konstruktionen von chronologischen (oder chronotopischen) Dimensionen im Zusammenhang mit kolonialer Alterität, die etwa Geschichtsbewusstsein und Gedächtnis, Erinnerungsprozesse und die gemeinsame Geschichte in der Urzeit vor die problematische Aufgabe stellt, Eigenes von Fremdem, Legende und Mythos von Historiographie, Geschichten von Geschichte zu trennen. Und literaturwissenschaftlich-motivgeschichtlich ließen sich innerhalb der Encyclopédie und von ihr ausgehend auch koloniale Objekt-Geschichten rekonstruieren. Als erster Entwurf dafür könnten die in den vorangegangenen Textanalysen skizzierten Warengeschichten dienen. Welche Geschichten etwa des Kaffees, des Tees oder der Wolle werden in der Encyclopédie erzählt und welche kontrapunktischen Aushandlungsprozesse lassen sich an ihnen ablesen? Welche enzyklopädischen Textverfahren werden entwickelt, um Karten oder Sextanten, um das Buch oder bestimmte Kleidungsstücke zu beschreiben? In welcher Hinsicht stehen sie im Zusammenhang mit der kolonialen Welt?

dern (damit) auch Teil eines globalen Handelssystems, das ohne das französische Kolonialprojekt nicht mehr denkbar ist? Welche Rolle spielt es – auch auf textueller Ebene –, dass es sich bei der Encyclopédie ursprünglich um eine Übersetzung aus dem Empire handelt? 31 Vgl. Andreas Gipper: Wunderbare Wissenschaft, S. 323.

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Empirische Ausblicke: Kulturräumliche und historische Erweiterungen, enzyklopädische Literaturen Obwohl Europa das kleinste unter allen 4 Theilen der Welt ist, so ist es doch um verschiedener Ursachen willen allen übrigen vorzuziehen. […] Es hat an allen Lebensmitteln einen Ueberfluß. Die Einwohner sind von sehr guten Sitten, höflich und sinnreich in Wissenschafften und Handwercken.32

Diese gleichermaßen klugen wie fleißigen Handwerker, die man in dem obigen Zitat zu sehen bekommt, werden unter dem Lemma Europa in Johann Heinrich Zedlers Grosses vollständiges Universal-Lexicon (1731–1754) besungen. Der Zedler gilt gewissermaßen als deutschsprachiges Pendant der Encyclopédie und ist ihr Vorläufer, auch wenn in der Encyclopédie an keiner Stelle explizit Bezug auf das Universal-Lexicon genommen wird. Auch im Universal-Lexicon findet sich die enzyklopädische Verbindung eines weiten Wissensbegriffs, der Wissenschaften und praktisches Wissen aus dem Handwerk einschließt, mit einer Selbstüberhöhung der Europäer. Die Verbindung zur Encyclopédie besteht folglich nicht nur in der epistemischen und eurozentristischen Anlage, sondern findet sich überraschenderweise auch in der Fremdbeschreibung der kolonialen Anderen, hier: des wilden Menschen. Dieser wird mit der französischen (!) Bezeichnung als Homme sauvage in den fernen Osten verortet: Mensch (wilder) Unterschiedene die gereiset haben, berichten, wie daß es auf Borneo, einer Insul, auch sonst an vielen anderen Orten mehr in Indien in den Hölzern, eine Art wilder Thiere gäbe, Homme sauvage, der wilde Mann oder Mensch genannt, welches an allen seinen Gliedmassen einem Menschen dermassen ähnlich sehen soll, daß, wenn es reden könte, man es unmöglich würde von gewissen Barbarn unterschieden können, die ohnedem gar viel von eines unvernünfftigen Thieres Natur an sich haben.33

Bei der physiognomischen Beschreibung des wilden Menschen kommen dann auch einige Inkohärenzen zur Sprache: Ist er zunächst mit rauer Haut versehen und sieht «grimmig» aus, so sind dennoch die «Liniamenten des Gesichts noch ziemlich wohl gestellt».34 Im gesamten Artikel finden sich die typischen enzyklopädischen Suchbewegungen zur Vereindeutigung dieser problematischen Figur (nicht zuletzt, weil auch hier die Quellen der Reisenden problematisiert wer-

32 [Johann Heinrich Zedler]: Europa, in: Ders. (Hg.): Grosses vollständiges Universal-Lexicon aller Wissenschaften und Künste, Bd. 8 (E), 1734, Sp. 2192–2196, http://www.zedler-lexikon.de (24. 09. 2019), Sp. 2195. 33 [Johann Heinrich Zedler]: Mensch (wilder), in: Ders. (Hg.): Grosses vollständiges UniversalLexiconaller Wissenschaften und Künste, Bd. 20 (Mb–Mh), 1739, Sp. 743–744, http://www. zedler-lexikon.de (24. 09. 2019), Sp. 743). 34 Ebd.

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den; als verlässliche Quelle wird explizit ein Briefauszug aus den Mémoires de Trévoux von 1701 genannt) zwischen Mensch und Tier, zwischen Kultur und Natur, die auch schon in der Encyclopédie aufzufinden waren. «Er geht als wie ein Mensch» ist auch hier eine paradigmatische, approximative Bestimmungsfigur. Ethisch-moralisch aber tendiert der Zedler-Artikel zu xenophoben Vereindeutigungen, denn der wilde Mensch habe eine «abscheuliche Stärcke», erschlage willkürlich im Wald Passanten und trinke deren Blut, denn «das schmecket ihnen besser, als das delicateste Geträncke»35. Diese Diskursfiguren der klassischen kolonialen Alteritätskonstruktionen (Animalisierung «als Hirsch» und «von der Art der grossen Affen», Zuschreibung von Promiskuität, Kaltblütigkeit, Kannibalismus, Dämonisierung, Faszination und Abscheu, Problematisierung der Glaubhaftigkeit der Quellen etc.) sind ebenso deckungsgleich mit denen in der französischen Encyclopédie wie das narrative Verfahren, den kolonialen Anderen innerhalb des Zedler-Eintrags nachgerade szenisch und plastisch vor Augen zu führen. Hier bestätigt der namenlose Autor des in den Mémoires de Trévoux eingefassten Briefs die Wahrheit über die Beschaffenheit des wilden Menschen, indem er eine Begegnung mit einem Kind aus Borneo beschreibt. Dabei werden nicht nur anschaulich und lebendig die bekannten animalischen Attribute von Stärke und Menschengröße repetiert. Vielmehr wird auch narrativ einiges aufgeboten, um diesen wilden Menschen innerhalb des enzyklopädischen Artikels lebendig werden zu lassen: Ein Auszug aus einem Brief wird erwähnt, ein Erzähler berichtet von einem wilden Kind, das sich an Bord einer aus Borneo zurückgekehrten englischen Fregatte befinde, jener Erzähler gibt in der Ich-Perspektive seine Beobachtungen und die Beschreibungen jenes Kindes wieder, dem man so nah rückt und das doch als Mensch auf Distanz bleiben muss. Dieser erste stichprobenartige Einblick in die große deutschsprachige Enzyklopädie des 18. Jahrhunderts gibt schon erste Hinweise darauf, dass ein Blick in die Enzyklopädien im gesamten Raum Europas lohnenswert wäre, um hier den wissenspoetologischen Konstruktionen der kolonialen Welt auf die Spur zu kommen und um der Frage nach der Rolle der Narrativierung des kolonialen Anderen im Projekt der europäischen Moderne nachzugehen. In der Zusammenschau dieser Referenztexte könnte sich zeigen, dass die Alteritätsdiskurse innerhalb der Aufklärung zwar national konkretisiert, aber auf einer europäischen Ebene formuliert und virulent und nicht zuletzt auch durch Wissenstransfer global organisiert sind (vgl. bspw. die Studie von Kraume zum transkontinentalen Wissenstransfer des Fray Servando Teresa de Mier36). Zu heuristischen Zwecken 35 Ebd. 36 Vgl. Anne Kraume: Nosotros los otros. Fray Servando Teresa de Mier und die ‹identidad criolla›, in: Susanne Greilich/Karen Struve (Hg.): Das Andere Schreiben. Diskursivierungen

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könnten zunächst jene Texte konsultiert werden, die unmittelbar mit der Encyclopédie verflochten sind, hier zentral die Cyclopaedia von Chambers; im Weiteren die Texte aus dem hypotextuellen Diskursfeld, die die Encyclopédie arrondieren (vgl. die Übersicht im Kapitel 2.1.2.2). Darüber hinaus sind aber auch die Weiterentwicklungen der Enzyklopädik im 19. Jahrhundert 37 zu verfolgen, die dann in jener Hochphase von europäischer Kolonialisierung, Industrialisierung und nation building-Prozessen ihr eigenes Reservoir an Wissenskonstruktionen über den kolonialen Anderen bereithält und zur Legitimation und Apologetik, aber auch zur Kritik und Ausformulierung von Menschenrechtsfragen bereitstellt.38 Eingedenk des diskursanalytischen Zugangs wäre das 19. Jahrhundert weiterhin zu befragen nach den narrativen Konstruktionen des kolonialen Anderen in den literarischen Texten. Diese Studien würden auf der Basis der vorliegenden Arbeit dann die traditionellen postkolonialen Studien über die europäischen Kolonial- und Exotismusliteraturen des 19. Jahrhunderts (etwa in der Nachfolge Saids) ergänzen um eine Perspektive, die die kolonialen Gestaltungen insbesondere als Wissenskonstruktionen fokussiert. Damit geraten Wissensdimensionen von literarischen Texten in den Blick, die die literarische Modellierung der sich ausdifferenzierenden Wissenschaften favorisieren. Anknüpfend an Saids historische Untersuchungsgegenstände, aber unter Beibehaltung des Fokus auf Wissensartikulationen, wäre es lohnenswert, kontra-

von Alterität in Texten der Romania (16.–19. Jahrhundert), Würzburg: Königshausen & Neumann 2013, S. 197–209. 37 In der chronologischen Logik postkolonialer Forschung habe ich hier die kolonialistischen Jahrhunderte des 19. und 20./21. Jahrhunderts fokussiert. Gleichwohl könnte man ebenso historisch zurückgehen und nach den wissenspoetologischen Konstruktionen kolonialer Alterität in der französischen Renaissance oder der Klassik fragen. 38 So findet sich etwa in der Oekonomische[en] Encyklopädie von Johann Georg Krünitz aus dem 19. Jahrhundert zwar die Argumentation, dass Sklaverei aus Recht des Stärkeren und Krieg resultiert, dies wird aber verbunden mit deutlicher Kritik an Sklavenwirtschaft in den Kolonien: «Der Sklavenhandel und die Greul der Sklaverei in den Kolonien, können nicht genug mit schwarzen Farben geschildert werden, als es schon geschehen, und wäre des Las Casas Absicht bei dem Vorschlage die Neger zu Sklaven zu machen, nicht rein und lauter gewesen, indem er die eingetretenen Abscheulichkeiten nicht in der Größe vorher übersehen konnte, als sie ausgeübt worden, so müßte auf seinem Andenken noch jetzt der Fluch nicht nur aller der Unglücklichen, die seit der Zeit durch unmenschliche Behandlung theils auf dem Transport nach ihrer Bestimmung, theils in Sklavenketten gemordet worden sind, sondern auch der Rechtschaffenen, die den Sklavenhandel verabscheuen, ruhen» (Johann Georg Krünitz: Sklave, in: Ders. (Hg.): Oekonomische Encyklopädie oder allgemeines System der StaatsStadt- Haus- und Landwirthschaft 1773–1858, Band 154: Sieda–Sklave (565–845), 1831, S. 596– 750. http://www.kruenitz1.uni-trier.de (24. 09. 2019), hier S. 613.

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punktische Lektüren in den Wissen(schafts-)Texten des 19. Jahrhunderts vorzunehmen. Am Kreuzungspunkt von Wissenschaft, Technik und diegetischen Ausgreifungen in die ganze Welt befinden sich auf paradigmatische Weise die Romane von Jules Verne, deren wissenspoetologisch-postkoloniale Relektüren einen reichen Fundus an Alteritätsfiguren, Figurenkonstellationen und Wissenserzählungen in fremden Räumen ergeben würden: etwa die Ballonfahrt zu den unbekannten Quellen des Nils in Cinq semaines en ballon; die weltumfassende Reise mit allen Transportmitteln des 19. Jahrhunderts und durch die exotistische Stereotypik des 19. Jahrhunderts in Le tour du monde en quatre-vingt jours oder die Flucht und Landung auf der mysteriösen Insel einer vielkulturellen Gruppe von männlichen Figuren in der Île mystérieuse. Die historische Reichweite ist nun aber keineswegs auf das 19. Jahrhundert begrenzt: Die Konstruktionen des kolonialen Anderen finden auch und insbesondere im 20. Jahrhundert statt und bedienen sich spezifischer, durchaus bereits in den Aufklärungstexten angelegter Strategien. In der sog. Wissensgesellschaft des 21. Jahrhunderts sind nicht nur enzyklopädische, kollektive Wissensprojekte von großer Bedeutung, sondern auch die Verbindung von der Erzählbarkeit von Wissen bzw. die epistemische Fundierung (oder gerade Absenz) in Narrativen wird immer wieder diskutiert. Um in diesem Zusammenhang einen letzten Ausblick zu formulieren, möchte ich zurück auf die Encyclopédie blicken und voraus in die digitale Welt des 21. Jahrhunderts. Die Encyclopédie-Forschung hat schon lange eine Verbindungslinie hergestellt zwischen der Encyclopédie und den globalen, digitalen Wissensprojekten der Gegenwart. Die Encyclopédie als eine Art ‹Wikipedia avant la lettre› zu begreifen,39 scheint etwa in Bezug auf das Ansinnen der Vulgarisierung und Demokratisierung, auf die heterogene, aber kompetente Autorschaft und nicht zuletzt auf die Hypertext-ähnliche Anlage des enzyklopädischen système de renvoi durchaus nahe zu liegen. Mich hingegen hat unter den Vorzeichen der aktuellen digital humanities besonders ein Digitalisat der Encyclopédie interessiert,40 das seit 2017 auf einer eigenen Website konsultierbar ist, mit Verweisen auf die Encyclopédie-Forschung und weitere enzyklopädische Projekte. Aufschlussreich ist dabei weniger die Digitalisierung an sich, noch die Blog-artige Aufmachung, die die Encyclopédie-Artikel jeweils nur anreißt, die weitere Lektüre mit einem «Lire la suite»-Button ankündigt und damit die unmittelbare Perzeption der Artikel in

39 Vgl. bspw. Robert Charlier: Von der ‹Encyclopédie› zu ‹Wikipedia›: Zur epistemischen Erfolgsgeschichte der europäischen Aufklärung, S. 13–37. 40 Vgl. N. N.: Encyclopédie de Diderot, https://encyclopédie.eu/ (08. 10. 2019). Interessanterweise lassen sich die Autor_innen bzw. Urheber_innen dieser Website nicht ausmachen.

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3 Enzyklopädische Ambivalenznarrationen kolonialer Alterität

Bezug auf ihren Umfang unmöglich macht. Auf diese Weise nehmen die Website-Betreibenden selbstredend die Lese- und vor allem digitalen Rezeptionsgewohnheiten der Leserschaft des 21. Jahrhunderts auf und setzen diese analog zu etwa Bloggestaltungen um. Bemerkenswert scheint mir vielmehr zu sein, dass die Website eine Wissenssystematisierung wieder einführt, die dem Projekt der Encyclopédie in ihrem (poietischen) Selbstverständnis zuwiderläuft. Hier werden in einer Menüleiste Wissensgebiete wie Arts & métiers, Histoire, Histoire naturelle etc. selektiert, auseinanderdividiert, explizit ausgewiesen, in eine Reihung gebracht und folglich eine thematische Navigation ermöglicht. Die alphabetische Anordnung verliert dabei an Funktion und Relevanz für die Rezeption der Encyclopédie. Das Wissen über jene koloniale Welt, die den Aufklärern unverständlich ist und bleibt, in die Encyclopédie aufzunehmen, war ein großes und mutiges Wagnis. Durch den kolonialen Anderen tritt die Ambivalenz in ein Projekt ein, das gerade danach trachtet, einzuordnen, zu unterscheiden, zuzuordnen und des Chaos der Welt mithilfe von alphabetischer Ordnung und rationalem Denkvermögen Herr zu werden. Mit dem kolonialen Anderen lässt der Enzyklopädist zu, dass er nicht mehr die eigene Herkunft teleologisch, europäisch und fraglos historisieren kann; er lässt aber auch zu, dass ihm jegliche Antizipation zu einer Möglichkeit, vielleicht sogar zu einer Illusion gerinnt. Das ist m. E. das tatsächliche Verdienst der Aufklärung, nicht ein kulturrelativistischer oder schlussendlich doch -chauvinistischer Toleranzbegriff, nicht die selbstkritische und damit auch -verliebte Betrachtung des eigenen Denkens und seiner Grenzen. Das Einlassen auf die Kontingenz der Welt, die nur narrativ gefasst werden kann, macht die Encyclopédie auch heute noch als wahres Weltbuch lesbar. Und damit ist es die Ambivalenz, der sich die Aufklärung stellt und die sie gerade nicht beherrscht und die nicht überwunden wird, wie Wernsing noch von der Aufklärung fordert: Aber man muss eingestehen, dass Aufklärung nicht nur die Freiheit erfunden und das Glück versprochen hat, sondern, insgesamt betrachtet, zutiefst widersprüchlich ist. An ihrem Ende stehen Gestalten, die nicht die Freiheit des Denkens, sondern die der persönlichen Bereicherung zu ihrer Lebensmaxime gemacht haben, dieselben, die auch heute herrschen und ihre Ideologien durchsetzen. Deshalb brauchen wir heute nicht eine Wiederholung der Aufklärung, sondern einen Neuanfang in ihrem Geiste.41

Die Encyclopédie steht am Beginn der Moderne und damit u. a. am Beginn der rationalen Beherrschung der Welt und insbesondere der rationalen und huma41 Armin Volkmar Wernsing: Licht und Lüge. Aufklärung in Frankreich, Würzburg: Königshausen & Neumann 2014, S. 18).

3.2 Postkoloniale Archiv- und Ambivalenzkonzepte

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nen Repräsentation des kolonialen Anderen (eben nicht mehr ideologisches Phantasma oder abergläubische Illusion, aber auch nicht mehr – mit Foucault – unschuldige Annahme einer Transparenz der Begriffe, die sich die Sicht auf die Dinge selbst freihält). An diesem Projekt zeigen sich schon Diskursmechanismen im Umgang mit kolonialer Alterität, die bis heute in der Langlebigkeit und Reaktivierung von Stereotypen und xenophoben Diskriminierungen zu beobachten sind. So betont etwa jüngst Mabanckou in seiner Antrittsvorlesung am Collège de France, also im Herzen der französischen, akademisch-institutionalisierten Wissensproduktion, dass Afrika lange Zeit (und bis heute) «le territoire des légendes entretenant l’intérêt des investigateurs obnubilés par la quête de lieux mythiques, comme la ville de Tombouctou, les sources du Nil, l’empire du Monomotapa ou l’empire du Songhaï»42 darstellte. Ambivalenz und ein kontrapunktischer Blick, wenn man so will, sind insbesondere heute in der vermeintlich aufgeklärten und hyperinformierten und vernetzten globalen Welt geboten: In der Behauptung von Wissensmonopolen, von postfaktischen Informationen, von eindeutigen kulturalisierten Feindbildern können ein Quäntchen Ambivalenz und die Frage nach den Kontrapunkten und der reziproken Verstrickung mit den Anderen nur guttun.

42 Alain Mabanckou: Lettres noires: des ténèbres à la lumière: Leçon inaugurale prononcée le jeudi 17 mars 2016, http://books.openedition.org/cdf/4421 (24. 09. 2019), Absatz 24.

Literaturverzeichnis Die Autorenangaben in eckigen Klammern gelten in der ENCCRE-Ausgabe der Encyclopédie als noch nicht als gesichert.

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Primärliteratur

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Register Abéliens 151 Achanaca 225, 226, 471 Afrique 94–96, 99, 100, 104–106, 108, 111, 113, 119, 121, 122, 129, 131–134, 137, 146, 148–150, 153, 154, 158, 159, 162, 167, 169, 170, 172, 176, 178, 179, 182, 185, 188–190, 192, 194, 195, 198, 200, 202, 206–208, 218, 220, 225–227, 237, 240, 241, 258, 260, 287, 291, 294, 295, 299, 339, 343, 353–355, 357, 361, 362, 365, 369, 414, 471, 476 Aguaxima 225, 373, 471 Amazone 189 Amérique 92, 99–102, 105, 111, 114, 118, 124, 129, 131–133, 158, 167–170, 180, 181, 186, 188, 189, 192, 193, 200, 202, 205, 206, 208, 220, 225, 235, 236, 240, 254, 257, 293, 295, 320, 338, 351, 353, 356, 398, 471, 493, 494 Amoravis 227 Ananas 116, 470 Androgynes 353, 471 Animalisierung 126, 176, 196, 197, 214, 228, 341, 356, 357, 366, 376, 463 Ansico 240, 241, 298, 299, 440, 471, 500 anthropophage 85, 217, 239, 263, 267 Anthropophages 216, 239, 240, 368, 382, 383, 477 Arabes 106, 140, 162, 179, 183, 194, 195, 207, 210, 241, 415, 471 arc 190, 208, 242, 357 Arder 177, 339, 471 Artikel Encyclopédie 23, 76, 439 Asiatiques 211, 212, 218, 370, 472 Asie 94, 102, 104–107, 111, 146, 159, 160, 163, 170, 172, 174, 176, 179, 183, 186– 188, 190, 192, 194, 195, 200–202, 206– 208, 211, 220, 223, 227, 233, 292, 294, 318, 343, 354, 376, 415, 478 Astomes 362 Athées 163, 165, 167, 335, 482 Atheismus 91, 93, 145, 163, 166, 167, 172, 335, 336 Atlantique ou Isle atlantique 294, 477 Auses 176, 177, 288, 339, 471 https://doi.org/10.1515/9783110660425-005

Autonomie 8, 63, 187, 191, 478 Azuagues 179 Barbaren 4, 40, 110, 146, 168, 185, 214, 217, 228–231, 233, 234, 239, 243, 263 316 333, 334, 368, 374–376, 384, 385, 393, 431, 440, 458, 500 Barbares 40, 108, 110, 216, 227, 229, 230, 232, 259, 347, 368, 374, 375, 482, 487 Barbarie 109, 121, 134, 189, 232, 471 Bedouins 142, 194, 472 Beglerbeg 187, 478 Belli 156, 157 Benin 94, 132, 133, 147, 154, 155, 183, 472 Benjans 106, 472 Bibliothèque 211, 478 Bon sauvage 143, 203, 214, 215, 217, 235– 238, 263, 336, 368, 379, 381, 384, 398, 428, 429 Borno 177, 339, 478 Brebbes 180, 478 Bumicilis 152 Caffé 113, 297, 473 Calcul 206, 477 Calinda 181, 479 Calmouques 144 Canada 235 Canadiens 261, 377, 394, 482 Canot de Sauvages 208, 479 Capes 178, 339, 472 Captif 121, 479 Capucins 337, 338, 478 Caraibes ou Cannibales 140, 240 Caripous 140, 163, 479 Castration 163, 477 Chalcédoine 202, 293, 294, 479 Chaldéens 199, 231, 345, 375, 473 Chalybes 296, 472 Cham 120, 186, 477, 500 Charlatan 317, 350–352, 479 Chine 211 Chinois 211 Chiquitos 192, 193, 479 Christianisme 172, 219, 299, 479

504

Register

Cimmériens 296 Cochin 162, 176, 479 Colonie 96–98, 318, 473 Commandeur 134, 185, 480 Commerce 96, 106, 108, 110, 114, 116, 122, 132, 134, 146, 211, 286, 318, 322, 342, 473 Comparoir 469 Comptoir 217, 218, 369, 472 Constantinople 107, 109, 201, 255, 261, 342, 388, 389, 472 Consuls françois dans les pays etrangers 134, 135, 469 Continent 105, 416, 469 Contre-faire 249, 250, 262, 276, 386, 469 Corasmin 140, 180, 472 Coton 100, 101, 118, 119, 254, 324, 472 Créecks 139, 180, 330, 480 croisades 185, 415 Dabach 360, 480 Demoiselle de Numidie 360, 470 Despotismus 91, 103, 128, 146, 155, 181, 186, 187, 191, 213, 317, 333, 339, 340 Dieu 12, 146, 154, 157, 158, 161, 165, 166, 188, 323, 336, 380, 390, 480 Discours préliminaire 10, 12, 16, 18, 20, 79, 83, 84, 222, 265, 270, 425 Eintrag Encyclopédie 8, 9, 12, 79, 82, 247, 302, 348, 416 En & Dans 223, 371, 473 Esclavage 122, 125, 325–327, 473 Esclave 122, 123, 125, 127, 134, 326, 469 Eskimaux 236 Europe 41, 81, 98, 104–108, 110, 112–114, 116, 117, 129, 139, 141, 146, 159, 162, 169, 172–174, 187, 188, 192, 195, 198, 200–202, 205, 208, 210, 211, 217–219, 227, 233, 255, 260, 291, 293, 294, 297, 299, 320, 321, 329–331, 348, 351, 370, 379, 395, 415, 474, 494, 499 Fable 440, 474 Fanatisme 129, 167, 271, 301, 335, 390, 391, 400, 401, 470 Fanatismus 91, 93, 145, 146, 160, 163, 167– 172, 302, 334, 376, 386

Fe, Fo, Foé 160, 474 Fêtes des Hebreux 259 Fétiche 148, 478 Ficoïdes 225 Fiction 223, 224, 249, 371, 439, 478 Formose 366 Foules 317, 355, 474 foulis 184 Funerailles 147 Galles 138, 139, 329, 474 Génehoa 151, 474 Géorgie 135, 180, 305 Gingembre 116, 474 Gordien (NŒud) 291 Guebres 195, 342, 469 Gymnosophistes 206, 478 Héa 177, 277, 474 Hermaphrodite 353, 474 Horde 194, 478 Hospitalité 141, 239, 331, 370, 474 Hottentots 166, 173, 196, 335, 344, 474 Hottentotten 166, 196, 317, 335, 358 Humaine Espèce 126, 144, 158, 173, 355, 358, 366, 416, 472 Humanité 126, 127, 482 Huron 378 Hurons 196, 344, 475 Hyperboréens 362, 475 Idole 159–161, 482 Inde 92, 98, 102–105, 112, 133, 144–146, 168, 189, 196, 205, 209, 210, 218, 240, 292, 293, 321, 342, 362, 369, 475, 486, 500 Indes occidentales 92, 99, 100, 139, 140, 205, 293, 320, 471 Indes orientales 99, 102, 205, 292, 321, 356 Infidelité 234, 235 Innombrable 234, 472 Insensibilité 259, 260, 395 Iroquois 185, 186, 259, 340, 475 Jagas 137, 138, 193, 197, 242, 243, 263, 269, 307, 329, 470 Jagos 241, 242, 480

Register

505

Jalofes 120, 161, 162, 475 Jannanins 149, 470 Jésuite 152, 337, 413, 414, 473 Jongleur 317, 350–353, 480

Negrerie 132 Ngombos 151, 156, 470 Noirs 133, 478 Nomade 261, 342

Kannibalen 69, 137, 138, 141, 234, 239–241, 334, 368, 369, 374, 383–385, 426, 431, 443, 455, 483, 492 Kannibalismus 241, 334, 376, 384, 463, 489 Kanno 149, 470

Oacco 237, 481 Ophiomancie 153, 481 Orient 94, 107, 170, 174, 188, 199, 201, 210, 215, 342, 430, 475, 476 Oriental 110, 342, 469 Othering 46, 65, 66, 75, 195, 196, 213, 227, 230, 245, 274, 307, 308, 336, 341, 363, 368, 375 Ovissa 154, 470

Laine, Manufacture en laine ou Draperie 233, 237, 238, 257, 258, 274, 394, 480 Léleges 140, 475 Lestringons 366 L’Ethiopie 343 Loango 108, 150, 181, 182, 260, 356, 365, 475 Lotophages 365 Luxe 104, 112, 235, 319, 482 Machine 204, 346, 469 Macoco 241, 242, 299, 480 Madagaskar 175, 176, 293 Mahométisme 146, 152, 207, 233, 336, 475 Mandingos 150, 183 Manibelour 181, 480 Manitous 152, 470 Marabous 158, 159, 470 Maramba 150, 260, 470 MassÆsyliens 414 Maures 185, 199, 227, 355, 481 Métropole 97, 98, 202, 469 Mimos 365, 470 Mindoro 366 Missionaire 338 Mitote 181, 470 Monde 200 Monster 23, 29, 168, 216, 217, 239, 247, 250, 263, 361, 368, 382, 383, 390, 392, 400, 426, 439, 441, 443, 454, 484 Morabites 153, 199, 481 Mulatre 357, 475 Mumbo-Jumbo 150, 470 Naming 12, 111, 226, 368, 374, 414 Navigation 91, 109–111, 209, 316, 322, 323, 466, 470, 481

Palabre 108, 143, 478 Patagons 139, 140, 329, 330, 348, 476 Pesce-Donna 360, 361, 481 philosophe 3–5, 9, 11, 31, 39, 60, 62, 75, 90, 93, 143, 144, 152, 171, 205, 212– 218, 220–222, 228, 238, 239, 242–245, 251, 257, 262–264, 267, 271, 275, 278, 285, 289–291, 300, 303, 305, 307, 308, 313, 314, 316, 328, 331, 332, 344, 345, 350, 356, 359, 362, 368–371, 375, 376, 380, 392, 393, 397, 399–404, 409, 412, 424, 428, 429, 442, 454 Polygamie 162, 177, 348 Population 112, 127–130, 179, 191, 327, 470 Pygmées 364, 365, 476 Quinquegentiani 151, 152, 481 Religion 80, 125, 138, 144, 146, 153, 155, 166, 172, 177, 193, 213, 234, 334, 335, 337, 371, 375, 377, 383, 412, 492 Rime 224, 371, 372, 376, 481 Royaumes du Monde 188 Samba-Pongo 182, 470 Sandi-Simodisino 339 sauvage 85, 118, 139, 180, 204, 205, 217, 233–238, 257, 259, 267, 274, 317, 346, 347, 352, 357, 368, 376, 378–381, 398, 428, 429, 434, 462, 489, 492–494 Sauvages 117, 216, 233, 234, 259, 320, 368, 376, 379, 476

506

Register

Service militaire 242, 477 Sklaven 93, 115, 119–124, 126, 128, 131, 133, 135, 136, 142, 149, 170, 213, 220, 255, 261, 325, 326, 337, 341, 349, 389, 455, 464 Sova 184, 481 Sucre d’Erable 117 Suisse 220, 221, 476 Superstition 127, 138, 146, 150, 157, 159, 160, 167, 171, 183, 193, 210, 212, 260, 269

Tabac 114, 115, 476 Thé 117, 118, 324, 476 Tinagogo 301, 413, 476 Tomba ou Tombo 147, 471 Traite des negres 122, 476 Tunis 184, 185, 476 Turquie 94, 103, 105, 108, 141–143, 176, 187, 188, 200, 255, 474, 476 Tyr 111, 291, 298, 476

Utilité 10, 98, 117, 248, 267 Veteres 117, 174, 339, 477 Victime humaine 191, 261, 341, 394, 477 Vie 110, 469 Virginité 175, 176, 338, 477 voiture 207 Whidah 177, 339, 477 Wilde 3, 40, 70, 118, 180, 183, 204, 234, 238, 239, 257–259, 261, 263, 273, 290, 314, 357, 368, 376, 378, 380, 381, 384, 385, 428, 440, 491 Woolli 132, 477 Yamiamakunda 132, 477 Zama 227, 306, 477 Zedler 57, 304, 462, 463, 501 Zeng 226, 477 Zzuéné 419