Starke Reformer Oder Schwache Revolutionäre?: Ländliche Notabeln Und Das Ägyptische Parlament in Der 'Urabi-Bewegung, 1866-1882 [1., Aufl. ed.] 3879973873, 9783879973873

The series Studies on Modern Orient provides an overview of religious, political and social phenomena in modern and cont

167 31 1MB

German Pages 162 [164] Year 2011

Report DMCA / Copyright

DOWNLOAD FILE

Polecaj historie

Starke Reformer Oder Schwache Revolutionäre?: Ländliche Notabeln Und Das Ägyptische Parlament in Der 'Urabi-Bewegung, 1866-1882 [1., Aufl. ed.]
 3879973873, 9783879973873

Citation preview

Irene Weipert-Fenner Starke Reformer oder schwache Revolutionäre?

Studien zum Modernen Orient herausgegeben von Gerd Winkelhane

Studien zum Modernen Orient 15

Irene Weipert-Fenner

Starke Reformer oder schwache Revolutionäre? Ländliche Notabeln und das ägyptische Parlament in der þUrÁbÍ-Bewegung, 1866–1882

Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar. British Library Cataloguing in Publication data A catalogue record for this book is available from the British Library. http://www.bl.uk Library of Congress control number available http://www.loc.gov

www.klaus-schwarz-verlag.com All rights reserved. Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil dieses Buches darf in irgendeiner Form (Druck, Fotokopie oder in einem anderen Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet werden.

© 2011 by Klaus Schwarz Verlag GmbH Erstausgabe 1. Auflage Herstellung: J2P Berlin Gedruckt auf chlorfrei gebleichtem Papier Printed in Germany ISBN 978-3-87997-387-3

Für meine Eltern Antoinette und Reinhard Weipert

Inhaltsverzeichnis

Vorwort..........................................................................................................9 Einleitung....................................................................................................11 2 2.1 2.2 3 3.1 3.2 3.2.1 3.2.2 3.2.3 3.3 3.3.1 3.3.2 3.3.3 4

Theoretischer Hintergrund...............................................................21 Imperialismustheorien: Überblick und Einordnung des Kollaps-Arguments........................21 Parlamentarismustheorie: Ursachenkategorien parlamentarischer Macht................................37 Der Aufstieg ruraler Notabeln.........................................................42 Notabeln als Mittler zwischen Zentralstaat und lokaler Bevölkerung..................................................................42 Wachsender Einfluss in der Verwaltung..........................................45 Allgemeine Funktionen des Dorfscheichs.......................................45 Einstieg in die Zentralverwaltung unter MuÎammad ÝAlÐ...............48 Entwicklung bis IsmÁÝÐl: Festigung der Macht auf unteren Positionen und Aufbau von Netzwerken .....................52 Vom Dorfscheich zum Großgrundbesitzer .....................................56 Privates Grundeigentum – Neuentstehung oder Weiterentwicklung?........................................56 Privater Landbesitz: Ergebnis staatlicher Schwäche und wirtschaftlicher Transformation................................................60 Konzentration von Landbesitz.........................................................63

Die Entwicklung der Delegiertenkammer: Von der Beratung zur Legislative ...................................................67 4.1 Vorläufer der Delegiertenkammer ..................................................67 4.2 Phase 1: 1866–76: Beratung des Khediven, Vertretung partikularer Interessen....................................................73 4.2.1 Gründe für die Errichtung des maºlis šÙrÁ n-nuwwÁb ..................73 4.2.2 Grundlegende Statuten der Kammer ..............................................76 4.2.3 Interessenvertretung im Einklang mit dem Khediven.....................78

4.3 4.3.1 4.3.2

4.4 4.4.1 4.4.2 4.4.3 4.5 4.5.1 4.5.2 4.5.3 4.6

Phase 2: 1876–78: Integration der Kammer durch den Khediven.................................83 Zunehmender Einfluss der Europäer...............................................83 Neue Aktivität der Delegiertenkammer 1876–78: Aufkommen von Opposition oder Instrumentalisierung des maºlis durch den Khediven? ....................................................87 Phase 3: Januar bis Juli 1879: Einforderung neuer parlamentarischer Machtquellen.....................94 Entstehung eines Bündnisses: IsmÁÝÐl, ÆawÁt und Delegiertenkammer ..........................................94 Das Reformprogramm al-lÁÞiÎa al-waÔanÐya: Finanzplan und politische Forderungen ..........................................99 Analyse des Verfassungsentwurfs von 1879: Neue Machtquellen für den maºlis ...............................................107 Phase 4: 1881/82: Realisierung eingeforderter parlamentarischer Rechte .................112 Das neue Bündnis: Die ÝUrÁbÐ-Bewegung ....................................112 Die letzte Sitzung des maºlis: Gemäßigte Reformen in Kooperation mit dem neuen Ministerrat ...................................116 Die Verfassung von 1882...............................................................120 Der Parlamentarismus in Ägypten: Von der britischen Besatzung bis zur Gegenwart..........................129

5

Zusammenfassung.........................................................................133

6 6.1 6.2 6.3

Anhang...........................................................................................138 Verfassungsentwurf von 1879........................................................138 Verfassung von 1882 .....................................................................147 Literaturverzeichnis.......................................................................156

Vorwort

„Leisten Sie Pionierarbeit!“ – Mit diesen Worten wurde ich ermuntert, die bis dato nur auf dem Papier gegebene Möglichkeit zu nutzen, sowohl an der Universität Erlangen-Nürnberg als auch an der Universität Bamberg zu studieren und damit auf eine langjährige Kooperation zwischen den Fächern mit Nahostbezug beider Universitäten zurückzugreifen. Daraus ergab sich für mich die ideale Kombination aus Politikwissenschaft mit dem Schwerpunkt Nahost in Erlangen und Islamwissenschaft und Arabistik mit dem Fokus auf Moderne und Gegenwart in Bamberg. Dass die Jahre, in denen ich mein Hauptstudium absolvierte, meinen Abschluss machte und die ersten Erfahrungen in der Lehre sammelte, von unschätzbarem Wert für mich waren, lag zu einem großen Teil an Prof. Thomas Philipp, Ph.D., und Prof. Dr. Rotraud Wielandt. Ich wurde durch ihre jeweiligen Perspektiven auf die Region und Ägypten im Speziellen stark geprägt, wie man an dieser Arbeit unschwer erkennen kann. Aber auch das gesamte Umfeld in den jeweiligen Instituten war eine unglaubliche Bereicherung. In diesem Zusammenhang ist besonders Thomas Philipp zu danken, der viel Zeit und – noch wichtiger – Interesse und Neugier aufbrachte, und an der richtigen Stelle dem Impuls des „Alles-erklären-Wollens“ Einhalt gebot, um an anderer Stelle neuen Ideen ermunternd freien Lauf zu lassen. Prof. Marc Thompson, Ph.D., danke ich für die Möglichkeit, meine Arbeit auch außerhalb des Nahost-Rahmens zu diskutieren und für überregionale Debatten – wie die zu den failing states – offenzuhalten. Für langjährige Unterstützung, fachlich wie persönlich, danke ich weiterhin Dr. Thomas Demmelhuber, Dr. Thomas Hildebrandt, Prof. Dr. Christoph Schumann, Ulrike Graupe, Sabine Geiter, Johanna Kramer, Franziska Geyer, Franziska und Birgit Fenner, Peter Triefenbach, Jasmin Atwaa, Melanie und Jörg Brand, Isa und Werner Bosch, Heike und Matz Reichardt. 9

Ohne Benjamin hätte ich es wohl weder nach Erlangen und Bamberg noch zu starken Reformern geschafft. Tausend Dank für ein schönes Leben. Widmen möchte ich diese Arbeit meinen Eltern, die immer mit unerschütterlichem Vertrauen hinter mir standen und mich auf meinem Weg unterstützt haben. Frankfurt am Main, im Juni 2011 Irene Weipert-Fenner

10

Einleitung

Imperien hatten seit Mitte des 20. Jahrhunderts in Westeuropa und den USA eine negative Konnotation: Die Dekolonisation vollzog sich zunehmend in dem Bewusstsein, dass die Europäer weder Aufklärung noch Wohlstand in ihren ehemaligen Herrschaftsgebieten verbreitet, sondern diese vielmehr unterdrückt und ausgebeutet hatten. Die USA, die sich als ehemalige Kolonie selbst als antiimperialistisch verstanden, benutzten den Begriff Imperium diffamierend zur Bezeichnung der Sowjetunion, wie etwa Ronald Reagan in seiner Rede „Empire of Evil“ 1982. Die Kritiker der USA wiederum sahen im Vietnamkrieg und in der Förderung Amerikafreundlicher Militärdiktaturen in Lateinamerika Züge imperialen Verhaltens. Als imperialistisch wurde also entweder die Vergangenheit oder der jeweilige Gegenspieler bezeichnet. Mit dem Zerfall der UdSSR wurden die USA zur militärischen und wirtschaftlichen Supermacht, was sowohl unter George Bush senior als auch unter Bill Clinton in einem weltpolitischen Führungsanspruch seinen Ausdruck fand. Da jedoch zunächst nicht die Herrschaft über andere Länder angestrebt wurde, sondern „nur“ die internationale Führungsrolle, ver1 stand man die USA nicht als Imperium, sondern als Hegemon. Mit der Administration von George Bush junior und dem von ihr geführten Irak2 krieg ist jedoch der Begriff des American Empire aufgekommen. Hierbei fällt auf, dass sowohl Apologeten einer imperialen Rolle der USA wie Niall Ferguson als auch scharfe Kritiker der US-Politik wie Mi3 chael Mann Vergleiche mit alten Imperien heranziehen. Als historische 1 2 3

Link, Werner: Hegemonie und Gleichgewicht der Macht. In: Sicherheit und Frieden zu Beginn des 21. Jahrhunderts. Hrsg. Mir A. Ferdowsi, München, 2002, S. 39-56. Einen guten Überblick über die Diskussion bietet: Rudolf, Peter: Amerikapolitik. Konzeptionelle Überlegungen zum Umgang mit dem Hegemon. Berlin, 2006 (SWP-Studie, 2006/22), S. 10f. Ferguson, Niall: Empire. The Rise and Demise of the British World Order and the

11

4

Blaupause dienen dabei vorwiegend das römische Reich und, noch häufi5 ger, das britische Empire. Dabei wird zum Beispiel immer wieder eine Parallele zwischen der US-Besatzung im Irak unter Bush junior und der britischen Okkupation Ägyptens zur Regierungszeit des Premierministers 6 William Ewart Gladstone (1809–1898) hergestellt. Was die Bezeichnung der USA als Imperium genau aussagen möchte, ob sie überhaupt gerechtfertigt ist, und welche historischen Vergleiche pas7 send wären, sei an dieser Stelle offen gelassen. Vielmehr ist hier von Interesse, dass nicht nur alte Imperien als Vergleichsfolie dienen, sondern auch alte Erklärungsansätze, zum Beispiel aus Imperialismustheorien bezogen auf das 19. Jahrhundert, in die Debatte einfließen. Dazu zählt die Frage, warum ein mächtiges Land in einem anderen, deutlich schwächeren Land militärisch eingreift und in der Folge die direkte Herrschaft übernimmt, obwohl dies mit hohen Kosten verbunden ist. Dies wurde in den 1950er Jahren in dem bis heute als Klassiker der Imperialismustheorie geltenden Werk „Africa and the Victorians“ von Ronald Robinson und John Gallagher damit beantwortet, dass das schwächere Land durch die Ausbeutung der imperialen Macht an den Rand des Zusammenbruchs gebracht worden sei. Um die Stabilität der Peripherie und den eigenen Einfluss auf sie zu sichern, müsse das imperiale Zentrum intervenieren und den drohenden Kollaps verhindern.

4 5 6 7

12

Lessons for Global Power. New York, 2003; Mann, Michael: Die ohnmächtige Supermacht. Warum die USA die Welt nicht regieren können. Frankfurt a.M. 2003. Zum Beispiel: Bender, Peter: Weltmacht Amerika. Das neue Rom. 2. Aufl. Stuttgart, 2003; Bollmann, Ralph: Lob des Imperiums. Der Untergang Roms und die Zukunft des Westens. Berlin, 2006. Porter, Bernard: Empire and Superempire. Britain, America and the World. New Haven, 2006. Der Vergleich wurde zuletzt gezogen von dem britischen Historiker John Newsinger in seinem ansonsten wenig innovativen Aufsatz: Liberal Imperialism and the Occupation of Egypt. In: Race&Class, 2008, Vol. 49, Nr. 3, S. 54-75, hier S. 54. Wie umfangreich seriöse historische Vergleichsstudien sind, wird am Forschungsprojekt „Imperium oder Hegemonie - Historisch-komparative Untersuchungen zu einem aktuellen Problem“ von Ulrich Menzel an der TU Braunschweig deutlich. Bisher sind 14 Fallstudien angefertigt worden, darunter – allein mit über hundert Seiten – Menzel, Ulrich: Imperium oder Hegemonie? Folge 12: Großbritannien 1783-1919: Das Zweite Empire. Forschungsberichte aus dem Institut für Sozialwissenschaften Nr. 93, Braunschweig, 2009.

Diese Argumentation aus der Imperialismustheorie wird heute in allgemeinen Imperiumsstudien ganz oder teilweise aufgegriffen und für Reiche 8 als allgemeingültig dargestellt. Das zentrale Beispiel, auf das sich dieses Kollaps-Argument in seinem Ursprung stützt, wird hingegen nicht mehr kritisch hinterfragt. Die Rede ist von der britischen Okkupation Ägyptens 1882. In dieser Arbeit wird dieses Fallbeispiel aufgegriffen und gezeigt, dass das Kollaps-Argument darauf nicht zutrifft. Die Untersuchung der innenpolitischen Entwicklung Ägyptens wird zeigen, dass am Vorabend der Okkupation eine Bewegung nach politischen Reformen strebt, die das Parlament stärken sowie eine Gewaltenverschränkung zwischen Monarch, Regierung und Parlament herstellen sollen. Damit wird dem Kollaps-Argument eine doppelte Absage erteilt. Denn zum einen wird gezeigt, dass die Delegier9 ten, die fast ausschließlich ländliche ägyptische Notabeln sind, als treibende Kraft in der sogenannten ÝUrÁbÐ-Bewegung nicht Opfer des westlichen Einflusses darstellen, sondern von den Veränderungen im 19. Jahrhundert profitiert haben. Zum anderen werden durch die Untersuchung der über 15 Jahre dauernden Zunahme parlamentarischer Macht die konstruktiven und gemäßigten Forderungen der Delegierten verständlich, die eine Fortsetzung der politischen Reformen, aber keine Revolution zum Ziel hatten. Daraus wird schließlich ersichtlich, dass Ägypten 1882 keineswegs vor einem Zusammenbruch stand, sondern vielmehr auf dem Weg zu einem stabilen und souveränen Staat war. Die Widerlegung des Kollaps-Arguments anhand seines prominentesten historischen Beispiels soll dazu beitragen, in der neu entfachten Imperiumsdebatte alte Falschannahmen zu vermeiden. Auf die Frage, warum die imperiale Macht ein Land der Peripherie besetzt, wird diese Arbeit zwar keine abschließende Antwort liefern, da die Ägyptenpolitik Großbritanniens nur beobachtet, aber nicht weiter untersucht wird. Aber für diesen bestimmten Fall soll das Kollaps-Argument am Ende dieser Arbeit ausge-

8 9

Hierzu siehe S. 31 ff. Als Notabeln bezeichnet man Angehörige der sozialen Oberschicht, deren gehobene Stellung auf Rang, Vermögen oder Bildung beruht.

13

schlossen und damit zumindest als nicht allgemeingültig erklärt werden können. Weiterhin liefert diese Arbeit mit der dargestellten Entwicklung der Delegiertenkammer hin zu einem starken Parlament ein Beispiel für das indigene Entstehen politischer Strukturen, die in Europa gerne als westliche Errungenschaft gesehen werden. Für die Beziehungen mit der arabischen Welt ist dies besonders von Bedeutung, da das Verständnis vom Vorderen Orient als einer rückständigen oder gar zur „Moderne“ nicht fähigen Regi10 on heute wieder gehäuft zu finden ist. Schließlich wird hier der Fokus weg von den Debatten intellektueller Kreise gelenkt, die im 19. Jahrhundert in Ägypten über die Beziehungen mit „dem Westen“ geführt wurden, um stattdessen die Veränderungen des politischen Systems zu untersuchen. Auch wenn damit bekannte und einflussreiche Denker wie beispielsweise ÉamÁl ad-DÐn al-AfÈÁnÐ und sein Schüler MuÎammad ÝAbduh nicht behandelt werden können, erfolgt diese Schwerpunktsetzung doch bewusst gegen die heute vermehrt vorzufindende Vorstellung, ideologisches oder religiöses Denken bestimme allein die politische Entwicklung eines Landes. Für den Umgang mit Ländern im Vorderen Orient könnte diese Arbeit helfen, wieder stärker auch politische, wirtschaftliche und gesellschaftliche Entwicklungen in den Blick zu nehmen.

Was geschah 1882? Die Geschehnisse von 1882, auf die die britische Besetzung Ägyptens folgte, wurden und werden sehr unterschiedlich interpretiert. Um die verschiedenen Strömungen in der ägyptischen und westlichen Geschichtswissenschaft zu verstehen, erfolgt zunächst ein Abriss der Jahre 1881/82, der die wichtigen und dabei weitestgehend unumstrittenen Ereignisse aufführt: Eine Gruppe von ägyptischen Offizieren, darunter der charismatische AÎmad ÝUrÁbÐ, ist aus diversen Gründen mit ihrer Lage in der Armee unzufrieden, und es gelingt ihnen im Februar 1881, den Herrscher über Ägyp10 Zum Beispiel: Diner, Dan: Versiegelte Zeit. Über den Stillstand in der islamischen Welt. 2. Aufl. Berlin, 2005; Lewis, Bernard: Untergang des Morgenlandes. Warum die islamische Welt ihre Vormacht verlor. Bergisch Gladbach, 2002.

14

ten, den Khediven TaufÐq, dazu zu bringen, den alten Kriegsminister durch ihren Wunschkandidaten zu ersetzen. Ein halbes Jahr später wird nach einer Demonstration der Offiziere ein neues Kabinett eingesetzt, das deren Kernforderungen nach der Einberufung der Delegiertenkammer und der Erarbeitung einer neuen Verfassung umsetzt. Großbritannien und Frankreich reagieren auf diese Entwicklung mit einer diplomatischen Doppelnote, in der sie dem Khediven ihre Unterstützung garantieren. Besonders die Delegiertenkammer protestiert hiergegen. Ein neuer Ministerpräsident macht im Februar 1882 ÝUrÁbÐ zum Kriegsminister. Eine neue Verfassung tritt in Kraft, doch die Spannungen mit den Europäern und dem Khediven werden immer größer. Im Juni 1882 kommt es zu Unruhen in Alexandria, einen Monat später zum britischen Bombardement der Stadt. Die militärische Auseinandersetzung mit den Anhängern ÝUrÁbÐs endet mit deren Niederlage am 13. September in der Schlacht bei at-Tall al-KabÐr. Von da an befindet sich Ägypten unter britischer Besatzung. Nun gibt es, wie Thomas Mayer gezeigt hat, allein in der ägyptischen Historiographie eine Fülle von Interpretationen, je nach gerade vorherr11 schender politischer Richtung. So wird ÝUrÁbÐ während der britischen Besatzungszeit in der Presse und im Bildungswesen als ein Militärputschist dargestellt. Das negative Bild greifen auch die ägyptischen Nationalisten Anfang des 20. Jahrhunderts auf und stellen ÝUrÁbÐ als einen Militaristen dar, der die britische Okkupation durch sein provokatives Verhalten mit12 verschuldet habe. Mit der formalen Unabhängigkeit Ägyptens von Großbritannien 1922 und der Herrschaftsübernahme des Königs FuÞÁd verschiebt sich das Verständnis der ÝUrÁbÐ-Bewegung hin zu einer Volksrevolution, die die Errichtung einer liberal-konstitutionellen Monarchie zum Ziel gehabt habe. Das Scheitern wird wieder mit dem Armeehintergrund der Führung sowie dem Auflehnen gegen den rechtmäßigen Herrscher 13 Ägyptens, den Khediven, erklärt. Ein Autor aus dieser Zeit, ÝAbd arRaÎmÁn ar-RÁfiÝÐ, der für diese Arbeit von großer Bedeutung ist, setzt sich 11 Mayer, Thomas: The Changing Past. Egyptian Historiography of the Urabi Revolt, 1882-1983. Gainesville, 1988.

12 ebd., S. 6f. 13 ebd., S. 13f. 15

jedoch von dem erwähnten Verständnis ab. Er sieht eine nationale Bewegung, die ab 1863 entstanden sein soll, als Auslöser und erklärt ÝUrÁbÐ zum 14 Aktivisten und zur Führerfigur dieser Bewegung. In den ersten vier Jahren nach der Revolution der Freien Offiziere 1952 werden Parallelen zu den Geschehnissen von 1882 gezogen, vor allem be15 züglich der herausragenden Rolle der jeweiligen militärischen Führung. Mit der Konsolidierung der Regierungsmacht und dem Aufkommen des Panarabismus wird auch die ÝUrÁbÐ-Revolution zu einem arabo-ägyptischen Kampf gegen den Imperialismus stilisiert. Auch hier findet sich ar-RÁfiÝÐ als ein sehr verbreiteter Autor, wobei sich seine nationalistische Sichtweise seit 1937 kaum verändert hat. Mit dem Beginn der sozialistischen Periode Ägyptens in den 1960er Jahren erfährt die Bewegung eine neue, sozialgeschichtliche Interpretation. Die wichtigsten Autoren sind hier MuÎammad AnÐs und seine Schüler, dar16 unter Abd El-Azim Ramadan. Sie sehen die Bewegung von einer landwirtschaftlichen Bourgeoisie dominiert, die die Offiziere nur als Instrument zur Erreichung ihrer konstitutionalistischen Ziele benutzt. Eine ähnliche Sichtweise findet sich bei dem AnÐs-Schüler ÝAlÐ BarakÁt, dessen Werk vor allem für die landwirtschaftliche Entwicklung im 19. Jahrhundert von Be17 deutung ist. Auch hier sind die Forschungsergebnisse zum Teil von ihrem politischen Kontext, dem Sozialismus, geprägt und folgen zum Beispiel der typisch marxistischen linearen Geschichtsinterpretation, was sie für diese Arbeit nur eingeschränkt brauchbar macht. Denn gegen den Determinismus linearer Entwicklungen wird hier eine Veränderung des Systems beobachtet, die auf verschiedenen, nur begrenzt interdependenten Faktoren beruht, wie der wirtschaftlichen Transformation Ägyptens im 19. Jahrhundert, der zu14 Von den zahlreichen Werken ar-RÁfiÝÐs sind für diese Arbeit von Bedeutung: ÝAÒr IsmÁÝÐl. 3. Aufl. Kairo, 1982, 2 Bde. und: a×-Õaura al-ÝurÁbÐya wa-l-iÎtilÁl alinÊilÐzÐ. 4. Aufl. Kairo, 1983. 15 Mayer, a.a.O., S. 29. 16 Ramadan, Abd El-Azim: Social Significance of the ÝUrabi Revolution. In: L’Egypte au XIXè siècle. Aix-en-Provence, 4-7 juin 1979. Hrsg. Groupe de Recherches et d’Etudes sur le Proche-Orient. Paris, 1982, S. 187-194. 17 BarakÁt, ÝAlÐ: TaÔawwur al-milkÐya az-zirÁÝÐya fÐ MiÒr, 1813-1914, wa a×aruhÙ ÝalÁ l-Îaraka as-siyÁsÐya. Kairo, 1977.

16

nehmenden Einflussnahme der Europäer, der politischen Einbindung der Notabeln und damit der Weiterentwicklung der Delegiertenkammer. Dennoch gehen die erwähnten Arbeiten aus der sozialistischen Epoche wissenschaftlicher vor als die aus der Zeit der Monarchie. Zugleich bereichern sie die ägyptische Historiographie um die Analyse von Gesellschaftsgruppen, allen voran den hier wichtigen Notabeln. Während der Liberalisierungspolitik Anwar as-SÁdÁts in den 1970er Jahren kommt abermals die liberal-konstitutionelle Interpretation auf. Im Unterschied zur Sichtweise aus der Zeit der Monarchie jedoch wird ÝUrÁbÐ als Held der Bewegung dargestellt. Der Überblick über die ägyptische Historiographie macht deutlich, wie weit das Spektrum der Interpretationen reicht. Die enge Beziehung, in der die Geschichtsschreibung zum jeweils herrschenden politischen Regime steht, macht viele der Beiträge nur beschränkt nutzbar. Insbesondere auf diverse Studien zur Person ÝUrÁbÐs, die diesen entweder glorifizieren oder diffamieren, wird hier nicht eingegangen. Stattdessen werden zum einen die nationalistisch geprägten Arbeiten ar-RÁfiÝÐs Verwendung finden, die für die Analyse der Delegiertenkammer wertvoll ist sind, da hier viele Primärquellen erschlossen sowie Sekundärinformationen gesammelt sind. Dabei sind seine Bewertungen durchaus mit Vorsicht zu behandeln, da ar-RÁfiÝÐ als Anhänger der nationalistischen Partei al-Íizb al-waÔanÐ fast jede Entwicklung der Kammer als Manifestation eines sich entfaltenden nationalistischen Geistes versteht. Zum anderen werden die erwähnten Arbeiten aus der sozialistischen Zeit, vor allem die von BarakÁt, verwendet. Ramadan wäre zwar durch seine klare Herausstellung der Landnotabeln von Bedeutung, jedoch bleibt er bei der Erklärung der Entwicklung der Notabeln 18 bei den marxistischen „laws of historical movement“ stehen, ohne zum Beispiel zu begründen, warum die Großgrundbesitzer ausgerechnet Parlamentarismus und Konstitutionalismus einfordern. Hierzu wird die genaue Untersuchung der Entwicklung der Delegiertenkammer mehr aussagen können. Als Basiswerk aus der Fachliteratur aus Europa und den USA zum Thema der ÝUrÁbÐ-Bewegung gilt weiterhin Alexander Schölchs „Ägypten den 18 Ramadan, Social Significance of the ÝUrabi Revolution, 1982, S. 188. 17

Ägyptern. Die politische und gesellschaftliche Krise der Jahre 1878–1882 in Ägypten“ von 1972, da hier zum ersten Mal auf umfangreicher Quellengrundlage gearbeitet wird. Schölch vertritt zwei Hauptthesen, von denen die eine dieselbe Stoßrichtung wie diese Arbeit hat, nämlich die Widerlegung des Kollaps-Arguments. Weder Anarchie noch Xenophobie hätten die Okkupation ausgelöst, sondern die men on the spot, das heißt Briten vor Ort, die aufgrund verschiedener Eigeninteressen die wichtigen Stellen in London von der Notwendigkeit einer militärischen Intervention überzeugt 19 hätten. Statt Anarchie, so die zweite zentrale Aussage von Schölch, findet sich 1882 „eine neue politische Führungsschicht, die sich der materiellen und institutionellen Probleme Ägyptens bewußt war und der sein Wohler20 gehen am Herzen lag“. Zwar sieht Schölch in dieser neuen Führung auch eine starke Delegiertenkammer vertreten, jedoch kann er weder deren Macht noch deren Forderungen begründen und spricht der Kammer sogar explizit jeglichen Bedeutungszuwachs seit ihrer Gründung im Jahr 1866 ab. Dagegen steht die Grundannahme dieser Arbeit, dass es sich bei der Kammer um eine historisch gewachsene Institution handelt. Denn nur durch die Betrachtung des Prozesses der Institutionalisierung lassen sich einige Entwicklungen erklären, wie zum Beispiel die Kontinuität der politischen Forderungen, die sich besonders deutlich im Vergleich des Verfassungsentwurfs von 1879 mit der Verfassung von 1881/82 zeigen. Schölchs Position, vor 1881/82 keinerlei Form von parlamentarischer Entwicklung zu sehen, wurde häufig rezipiert, beispielsweise von Robert Hunter. Er leitet die Entwicklung des politischen Systems in Ägypten bis 1879 vorwiegend aus Veränderungen der absolutistischen Zentralmacht 21 des Khediven ab. Auch Juan Cole ignoriert das Parlament und fasst stattdessen die Ereignisse von 1881/82 allein als gesellschaftliche Revolution 22 auf. 19 Siehe auch Schölch, Alexander: The ‘Men on the Spot’ and the English Occupation of Egypt in 1882. In: The Historical Journal, 1976, Vol. 19, Nr. 3, S. 773-785.

20 Schölch, Alexander: Ägypten den Ägyptern! Die politische und gesellschaftliche Krise der Jahre 1878-1882 in Ägypten. Zürich, 1972, S. 195.

21 Hunter, Robert F.: Egypt under the Khedives, 1895-1879. From Household Government to Modern Bureaucracy. Pittsburgh, 1984.

22 Cole, Colonialism and Revolution, 1993. 18

Die hier vertretene Sichtweise auf das Parlament und dessen Delegierte basiert auf dem bekannten Aufsatz von Albert Hourani „Ottoman Reform 23 and the Politics of Notables“. Hier wird die These aufgestellt, dass Notabeln in Zeiten einer schwachen Zentralmacht Funktionen des Staates übernehmen und damit ihre bereits gehobene Stellung weiter verbessern können. Für den ägyptischen Fall werde ich zeigen, dass die dortigen Notabeln im 19. Jahrhundert durch strukturelle politische Reformen immer mehr Aufgaben in der Verwaltung und Landwirtschaft bekommen und ihren Einfluss weiter ausbauen, bis sie sogar in Form der Delegiertenkammer politisch integriert werden. Dem liegt die Verknüpfung zweier Ansätze zugrunde, erstens dem des Aufstiegs einer ökonomischen Bourgeoisie nach Ramadan und zweitens der der politisch-strukturellen Entwicklungen nach den politics of notables von Hourani. Beide verbindet bereits AbdelAziz EzzelArab, der den ökonomischen und administrativen Aufstieg der ländlichen Notabeln nachzeichnet und eine Rückwirkung der vertretenen Interessen auf die politischen Forderungen selbst beobachtet. Anhand der Vorschläge der Notabeln zur Lösung der finanziellen Krise Ägyptens stellt EzzelArab fest: Je mehr Mitspracherecht die Notabeln bekommen, desto mehr Verantwortungsbewusstsein und -übernahme zeigen sie. Da es EzzelArab jedoch hauptsächlich um ökonomische Elemente des Nationalismus geht, setzt er mit seiner Analyse 1879 aus und erst 1920 wieder ein, womit der hier wichtigste zeitliche Abschnitt nicht behandelt ist. Daher werden seine Ansätze für den Zeitraum 1881/82 an dieser Stelle selbstständig weiterge24 dacht. Die Literaturdiskussion hat gezeigt, dass die Grundthese dieser Arbeit keineswegs unumstritten ist. Dennoch hat die Bedeutung der Notabeln bereits Anerkennung gefunden, sie wurde jedoch für den Fall der ÝUrÁbÐ-Bewegung noch nicht erschöpfend behandelt. Diesem Manko soll diese Arbeit Abhilfe leisten.

23 Hourani, Albert: Ottoman Reform and the Politics of Notables. In: The Emergence of the Modern Middle East. Hrsg. ders., Princeton, 1962, S. 36-66.

24 EzzelArab, AbdelAziz: European Control and Egypt's Traditional Elites – a Case Study in Economic Nationalism. Lewiston, 2002.

19

Vorgehensweise Hauptziel dieser Arbeit ist die Widerlegung des sogenannten Kollaps-ander-Peripherie-Arguments. Hierfür wird in Kapitel 2 ein Überblick über die Imperialismustheorien gegeben und das Kollaps-Argument darin eingeordnet. Darauf folgt ein Exkurs in die Parlamentarismusforschung, um das Verständnis von Parlamenten, das dieser Arbeit zugrunde liegt, darzustellen und ein Instrumentarium für das Messen parlamentarischer Macht mit qualitativen Methoden an die Hand zu bekommen. Nach der Theorie geht es in Kapitel 3 um die hier behauptete Stärke der Landnotabeln in der ÝUrÁbÐ-Bewegung. Dafür wird der Aufstieg der ländlichen Notabeln in der Verwaltung und Landwirtschaft im 19. Jahrhundert nachgezeichnet, der eng verknüpft ist mit der Entwicklung zentralstaatlicher Strukturen und der ökonomischen Transformation Ägyptens hin zur Exportwirtschaft. Mit der Gründung der Delegiertenversammlung 1866, in der die ruralen Notabeln politisch integriert werden, wechselt die Untersuchung von der Akteurszur Institutionenebene. Kapitel 4 nimmt daher die parlamentarische Entwicklung in den Blick. Nach der Diskussion, welche Vertretungskörperschaften in Ägypten als Vorläufer der Delegiertenkammer angesehen werden können, wird die Entwicklung der Kammer von der Gründung bis zur britischen Okkupation in vier Phasen unterteilt. Diese zeichnen Stufen eines Prozesses von einer rein konsultativen Kammer (Phase 1), über eine Integration der Kammer in weitere Entscheidungen durch den Khediven (Phase 2), hin zur Einforderung neuer parlamentarischer Machtquellen in Kooperation mit dem Khediven (Phase 3), was schließlich zu einer Realisierung dieser Rechte (Phase 4) innerhalb der ÝUrÁbÐ-Bewegung führt. Hiermit wird deutlich, dass die Forderung der ÝUrÁbÐ-Bewegung nach der Wiedereinsetzung der Kammer und einer neuen Verfassung, die diese Rechte garantiert, ein Ergebnis der parlamentarischen Entwicklung ist. Schließlich ist damit gezeigt, dass diese politischen Ziele sich aus Reformen des bestehenden Systems entwickelt haben und sich weiterhin in dessen Rahmen befinden. Kapitel 5 fasst die wichtigsten Ergebnisse zusammen und zieht daraus Schlüsse für die weitere Forschung zu Imperien.

20

2

Theoretischer Hintergrund

2.1

Imperialismustheorien: Überblick und Einordnung des Kollaps-Arguments

Die britische Okkupation Ägyptens 1882 gilt als eines der klassischen Beispiele für die sogenannte expansive Phase des Imperialismus im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts. Eine dementsprechende Fülle an Erklärungsversuchen findet sich daher für dieses Ereignis, das in den meisten allgemeinen Imperialismustheorien behandelt wird. Im Folgenden wird ein Überblick über die verschiedenen Ansätze gegeben und das Argument der durch einen bevorstehenden Kollaps ausgelösten Besetzung Ägyptens darin eingeordnet. Verschiedene Kategorien können dabei zur Systematisierung der Erklärungen herangezogen werden. Hier soll zunächst unterteilt werden 25 in eine Verortung der Ursachen in der Metropole oder in der Peripherie. Innerhalb dieser beiden Blöcke wird dann zwischen ökonomischen, innenund außenpolitischen und ideologischen Gründen unterschieden und, sofern gegeben, die historische Entwicklung eines Arguments dargestellt.

Grundsätzliches Verständnis von Imperialismus Bis in die 1950er Jahre basiert das Verständnis des Imperialismus des 19. Jahrhunderts auf der legalistischen Annahme, nur formale Kolonien seien Teil des britischen Imperiums gewesen. Prägend für diese Vorstellung waren vor allem die Arbeiten von J.R. Seeley, J.A. Froude und H.E. Egerton. Demnach habe im frühen und mittleren viktorianischen Großbritannien eine dezidiert antiimperialistische Haltung bestanden, die sich auf Libera25 D.K. Fieldhouse gliedert ebenso, spricht jedoch von eurozentrischen Ansätzen. Dies ist für die Imperialismustheorien eine richtige Spezifizierung, dennoch soll hier Metropole als allgemeinere Kategorie beibehalten werden, um theoretische Ansätze eventuell auch auf nichteuropäische Imperien anzuwenden. D.K. Fieldhouse: Introduction. In: The Theory of Capitalist Imperialism. Hrsg. ders., Neuaufl. London, 1977, (1. Aufl. 1967), S. xiii-xix, hier S. xiv.

21

lismus und Freihandel gründete. Erst ab 1870 sei ein kriegerischer Imperialismus aus der zunehmenden Rivalität der europäischen Großmächte entstanden, die das Empire für die Sicherheit und den Wohlstand Großbritan26 niens unverzichtbar gemacht haben soll. Diese Auffassung ist damit verbunden, dass der Begriff des Empire im frühen 19. Jahrhundert als abwertende Bezeichnung für die französische Expansionspolitik Bonapartes und 27 Napoleons III. verwendet wurde. Die verschiedenen Formen des de facto bestehenden Empire wurden, wenn sie überhaupt diskutiert wurden, zumeist als Ausdruck von Freiheit gedeutet. Jene Freiheit sah man manifestiert in den Prinzipien des Freihandels, die man in den wirtschaftlichen Beziehungen zu Handels- und Seefahrtsposten weltweit meinte zu befolgen. 28 Als die imperiale Wirtschaftsform galt dagegen der Merkantilismus. Diese Sicht wurde von John Gallagher und Ronald Robinson radikal in 29 Frage gestellt. In ihrem Aufsatz „The Imperialism of Free Trade“ aus dem Jahr 1953 vertreten sie die These, man müsse „von einer grundsätzli30 chen Kontinuität der britischen Expansion im 19. Jahrhundert ausgehen“, wobei die Grundlage hierbei die Eingliederung neuer Gebiete in die expandierende britische Wirtschaft darstelle. Ob dies in Form von formalen Annexionen geschah, die zahlreich auch während der sogenannten anti-impe31 rialistischen Phase vollzogen wurden, oder auch als sogenannte informelle Expansion ohne offizielle Herrschaft, stelle die Dauerhaftigkeit des Empire nicht in Frage. Vielmehr sei die Form des Imperialismus in den jewei26 27 28 29

Eldridge, C.C.: Victorian Imperialism. London, 1978, S. 6. Porter, Empire and Superempire, 2006, S. 23. Porter, Empire and Superempire, 2006, S. 21. Gallagher, John; Robinson, Ronald: The Imperialism of Free Trade. In: The Economic History Review, 1953, Vol. 6, S. 1-15. Hier zitiert nach der deutschen Übersetzung von R. Stoephasius „Der Imperialismus des Freihandels“. In: Imperialismus. Hrsg. Hans-Ulrich Wehler, 3. überarb. Aufl. Königstein, 1979, S. 183-200. 30 ebd., S. 187. 31 Allein zwischen 1841 und 1851 nahm Großbritannien folgende Gebiete ein (heutige Zugehörigkeit in Klammern): Neuseeland, die Goldküste (Ghana), Labuan (Malaysia), Natal (Südafrika), den Pandschab (Indien), Sindh (Pakistans) und Hongkong. Bis 1870 kamen Berar (Indien), Oudh (Indien), Niederburma, Kowloon (Hongkong), Lagos (Nigeria), Sierra Leone, Basutoland (Lesotho), Griqualand (Südafrika), Transvaal (Südafrika), Queensland (Australien) und Britisch-Kolumbien (Kanada) hinzu.

22

ligen Gebieten aus den lokalen Gegebenheiten heraus zu verstehen, wobei von britischer Seite aus das Prinzip gegolten habe: „Auf informelle Weise 32 wenn möglich, durch formelle Annexion wenn nötig“.

Metropole – ökonomische Erklärungen Die Anfänge der ökonomischen Imperialismustheorie finden sich bereits zur Zeit der Okkupation Ägyptens bei der Anhängerschaft des Briten Wilfrid Scawen Blunt, der selbst zeitweise in Ägypten lebte und ÝUrÁbÐ aktiv unterstützte. Blunts Thesen, die in den 1880er Jahren weit verbreitet sind, erkennen in der Besatzung Ägyptens vor allem die Verfolgung britischer 33 Aktionärsinteressen. Diese sogenannte bondholder-These wird von J.A. Hobson vertieft, der den Kapitalexport meist in Form von Staatskrediten dadurch erklärt, dass zu geringe Löhne im Verhältnis zur ab 1870 gestiegenen industriellen Produktion in Großbritannien zu einem Minderverbrauch 34 (under-consumption) geführt hätten. Dieser hätte die Unternehmen dazu bewegt, neben neuen Rohstoffquellen für die Industrie auch neue Absatzmärkte und Investitionsmöglichkeiten für Kapitalüberschuss in Übersee zu suchen. Dabei wären Märkte zum Teil auch durch Gewalt geöffnet worden, 35 wobei jedoch auch nicht-ökonomische Gründe eine Rolle gespielt hätten. Die Idee des Kapitalexports, erklärt aus der wirtschaftlichen Entwicklung Großbritanniens, wird bei Lenin mit der Theorie Rudolf Hilferdings ergänzt. Diese postuliert die Tendenz des kapitalistischen Systems zur Konzentration bis hin zur Monopolbildung und sieht als letzte Stufe des Kapitalismus das Finanzkapital, bei dem Banken durch Kredite und direkte Inter36 vention den industriellen Sektor kontrollieren. Bei Lenin wird daraus ab 1900 ein Finanzimperialismus abgeleitet, in dem Kartelle und Treuhänder32 Gallagher, Robinson, a.a.O., S. 185. 33 Blunt, Wilfrid Scawen: A Secret History of the British Occupation of Egypt. Being a Personal Narrative of Events by Wilfrid Scawen Blunt. London, 1907. Siehe dazu: Hopkins, A.G.: The Victorians and Africa: A Reconsideration of the Occupation of Egypt, 1882. In: Journal of African History, 1986, Vol. 27, S. 363-391, hier S. 365. 34 Hobson, J.A.: Imperialism: A Study. London, 1902. 35 Das Hauptaugenmerk gilt bei Hobsons Analyse dem Zweiten Burenkrieg (18991902). 36 Hilferding, Rudolf: Das Finanzkapital. Wien, 1910.

23

schaften die Welt unter sich aufgeteilt hätten. Gemäß Lenin hätten im Anschluss daran Weltkriege zwischen den Großmächten stattfinden müssen, die die Massen zu Aufständen bewegt und den Sozialismus herbeigeführt hätten haben sollen. Zwar ist oft von der Hobson-Lenin-Theorie die Rede, doch betont Bob Sutcliffe, dass Hobson im Vergleich zu Lenin nicht monokausal argumentiert und das kapitalistische System als Ganzes in Frage stellt, sondern vielmehr Reformen innerhalb des Kapitalismus wie höhere Löhne zur Anregung des Binnenmarkts fordert. Weitere Kritik an Lenins Ansatz und zum Teil an dem Hobsons gründe, laut Sutcliffe, auf empirischen Gegenbeweisen, wonach auch Länder wie Deutschland und Japan, die keinen großen Kapitalüberschuss vorzuweisen gehabt hätten, und ebenso Staaten ohne starke Kartelle (Großbritannien und Frankreich) Expansion betrieben hätten. Weiterhin lautet ein Vorwurf, dass man keine zeitliche Korrelation zwischen Investitionen und Aneignungen von Kolonien feststellen könne und zudem genügend andere gut entwickelte Märkte zur Verfügung gestanden hätten, die Investitionen in Afrika als wirtschaftlich nicht sinnvoll hät37 ten erscheinen lassen müssen. Gerade das letzte Gegenargument, das darauf verweist, dass sich viele Kolonien aus der Sicht der imperialen Macht nie als lukrativ herausstellten, wird von einigen Autoren, wie C.C. Eldridge, in Frage gestellt. Denn die Tatsache, dass keine Gewinne erwirtschaftet wurden, müsse nicht bedeuten, dass nie Hoffnungen auf Gewinne und damit eine ökonomische Motivation für die imperiale Expansion be38 standen hätten. Zudem weist Sutcliffe darauf hin, dass die Kosten, die der imperiale Staat trug, die Gewinne, die die Unternehmen in den Kolonien erwirtschafteten, nicht berührten. Zudem könnten Kosten und Nutzen in der Peripherie nicht für sich allein betrachtet werden, führten doch gerade 39 Investitionen in der Kolonie zur Stärkung der Wirtschaft in der Metropole. Wie der Überblick über die Diskussion gezeigt hat, sind die Argumente, die gegen die ökonomische Imperialismustheorie grundsätzlich vorgebracht 37 Sutcliffe, Bob: Conclusions. In: Studies in the Theory of Imperialism. Hrsg. Roger Owen und Bob Sutcliffe, London, 1972, S.312-328, hier S. 316-319. siehe auch: Eldridge, Victorian Imperialism. 1978, S. 126-131. 38 Eldridge, a.a.O., S. 133. 39 Sutcliffe, Conclusions, 1972, S.318f.

24

werden, nicht durchgehend haltbar. Und so verwundert es nicht, dass die Suche nach wirtschaftlichen Motiven von späteren Autoren wieder aufgenommen wird. Der erste, der diesen Schritt unternimmt, ist D.C.M. Platt, der die Abhängigkeit Großbritanniens vom Außenhandel und den weltweiten Finanzgeschäften und damit die Notwendigkeit für die britische Politik, den Wirtschaftsinteressen Gehör zu schenken, hervorhebt. Davon könne jedoch, so Platt, keine generelle Ableitung der Vereinnahmung der Politik durch die Wirtschaft erfolgen, sondern dies müsse von Fall zu Fall neu un40 tersucht werden. Zwei weitere Autoren, die die ökonomische Seite des Imperialismus betrachten, sind P.J. Cain und A.G. Hopkins, deren Untersuchung den Finanz- und Dienstleistungssektor, das mit diesem verbundene Vermögen und dessen enge Verbindung zu traditionellen Machtstrukturen in Großbritannien umfasst. Das Konglomerat aus wirtschaftlichen, sozialen und politischen Kräften, das Cain und Hopkins als gentlemanly capitalism bezeichnen, wirkte auf die imperiale Expansion sowohl indirekt durch die Beeinflussung der Regierung speziell in Bereichen wie (Außen-)Wirtschaft und Kolonialpolitik als auch direkt als weltweit größter Anbieter von Dienst41 leistungen. Zusammenfassend lässt sich also erstens sagen, dass die ökonomische Erklärung des Imperialismus sich von ihren Anfängen dadurch fortentwickelt hat, dass die Kontinuitätsthese von Robinson und Gallagher übernommen und damit auch der informelle Imperialismus mit einbezogen wurde. Zweitens findet kein kruder Determinismus statt wie bei Lenin, der aus dem kapitalistischen System zwangsweise den Imperialismus ableitet. Der Einfluss der Wirtschaft auf die Politik wird drittens nicht mehr als Einbahnstraße verstanden, sondern es wird versucht, die komplexen Verbindungen und Abhängigkeiten zwischen verschiedenen Akteuren zu beleuchten. Bei aller hinzugewonnenen Vorsicht bezüglich verallgemeinernder Aussagen bleibt man dennoch bei der Annahme, den Imperialismus aus ökonomischen Dynamiken der Metropole heraus erklären zu können. 40 Platt, D.C.M.: Finance, Trade, and Politics in British Foreign Policy 1815-1914. Oxford, 1968, S. 76f.

41 P.J. Cain, A.G. Hopkins: British Imperialism. Innovation and Expansion 16881914. 3. Aufl. London, 1994, S. 116-131, 134-138.

25

In diesem Zusammenhang zu nennen, aber schwierig nach dem Peripherie-Metropole-Schema einzuordnen, ist die Weltsystemtheorie von Immanuel Wallerstein. Diese ist aus der Dependenztheorie der 1960er Jahre entstanden, die von hierarchischen Abhängigkeiten zwischen Metropole und Peripherie ausgeht, die durch ungleiche internationale Handelsbedingungen die Unterentwicklung bestimmter Länder verschulden und zementieren. Der Ansatz Wallersteins beruht unter anderem darauf, das dualistische Denken in Zentrum-Peripherie-Kategorien um die weitere Ebene der Semiperipherie zu erweitern, um der Komplexität der internationalen Beziehungen besser gerecht zu werden. Auch diese systemische Variante des ökonomischen Erklärungsansatzes des Imperialismus wurde stark kritisiert, in erster Linie dafür, sehr unterschiedliche Entwicklungen in der Peripherie nicht erklären zu können. Da zudem die Dependenztheorie zunächst für die Untersuchung Lateinamerikas konstruiert wurde, ist ihr Aussagegehalt über direkte imperiale Herrschaft und den hier im Fokus stehenden Übergang zur Besatzung sehr gering, weshalb sich eine genauere Behandlung dieses Theoriezweigs in die42 ser Arbeit erübrigt.

Metropole – politische Ursachen Bei den Theorien, die den Imperialismus des 19. Jahrhunderts aus politischer Perspektive betrachten, fällt auf, dass die meisten Ansätze bei der Analyse der Akteurskonstellationen und -interessen verbleiben und kaum versuchen, Geschehnisse auf Systemebene zu untersuchen. Hinzu kommt, dass auch die akteurszentrierten Theorien zumeist von der Notwendigkeit oder Unausweichlichkeit der Expansion ausgehen. Zur Annahme, die britische Regierung hätte keine andere Wahl gehabt, als Ägypten zu besetzen, trugen seit dem Ende des 19. Jahrhunderts in er43 heblicher Weise Biographien der politischen Protagonisten bei. Vor allem 42 Eine Zusammenfassung, Kritik und Einordnung der Dependenztheorie in die Imperialismusforschung findet sich bei Anthony Brewer: Theories of Imperialism in Perspective. In: Imperialism and After. Continuities and Discontinuities. Hrsg. Wolfgang J. Mommsen und Jürgen Osterhammel. London, 1986, S. 325-332, hier S. 328f. 43 Beispiele bei Harrison, Robert T.: Gladstone’s Imperialism in Egypt. Techniques of Domination. Westport, 1995, S. 161.

26

moralische Imperative hätten, so Harrison, in diesen Charakterstudien eine Rolle gespielt, wie sie auch in „Modern Egypt“ (London, 1908) von Lord 44 Cromer vertreten werden. Die imperiale Zivilisierungsmission der Briten, auch als white man’s burden bekannt, hätte das Verhalten der Politiker ge45 mäß dieser Ansätze, die Harrison als „‘feel-good’ school of imperialism“ bezeichnet, determiniert. Weitere politische Gründe, die aus der Zeit der Okkupation selbst stammen und die die Besetzung als Notwendigkeit erscheinen lassen, basieren auf der Konstruktion einer Bedrohung des Empire, die sich aus mehreren Faktoren zusammensetzt. Ein zentrales Argument, das Politiker verschiedener Parteien benutzen, ist die Gefährdung Großbritanniens durch die europäischen Konkurrenten. Insbesondere Deutschland hat in seiner wirtschaftlichen Entwicklung aufgeholt und greift Großbritanniens Monopolstellung auf dem Weltmarkt an. Zudem lässt die neue Allianz von Frankreich und Russland den vormals erheblichen Machtvorsprung der Briten schrump46 fen. Verstärkend auf die Bedrohungswahrnehmung wirken europäische Wirtschaftskrisen in den 1870er und 1880er Jahren und die protektionistische Reaktion auf die ökonomischen Probleme seitens der europäischen 47 Kontinentalmächte. Schließlich sei, so die britische offizielle Argumentation, die Erhaltung des Empire von den sogenannten life lines abhängig, das heißt strategischen Verkehrs- oder Telekommunikationswegen in der Peripherie, deren Verlust das gesamte Empire erschüttern oder gar zum Zusammenbruch bringen könnten. Angesichts dieser bedrohlichen innereuropäischen und internationalen Gefahren habe die britische Regierung in Ägypten intervenieren müssen, um die europäische, allen voran die französische Konkurrenz in ihre Grenzen zu weisen und den Suezkanal für den Seeweg nach Indien – eine wichtige life line – zu sichern. 44 Lord Cromer (eigentlich: 1st Earl of Cromer) ist der Ehrentitel, unter dem Evelyn Baring bekannt ist, der von 1883 bis 1906 erster britischer Generalkonsul in Ägypten war. 45 Harrison, a.a.O., S. 162. 46 Robinson, Ronald, Gallagher, John; Denny, Alice: Africa and the Victorians. The Official Mind of Imperialism. London, 1961, S. 466. 47 Fieldhouse, D.K.: ‘Imperialism’: A Historiographical Revision. In: Economic History Review, 1961, Second Series, Vol. 14, Nr. 2, S. 187-209, hier S. 187.

27

Diese Argumentation wird 1961 in „Africa and the Victorians. The Official Mind of Imperialism“ neu gestärkt, wo Robinson, Gallagher und Denny den scramble for Africa anhand damaliger öffentlicher Berichte und Statements von Politikern und Kolonialbeamten untersuchen und damit nicht nur zu den Motiven stoßen wollen, sondern auch zu den „objective 48 causes of the partition of Africa“. Zwar ist eine Methode durchaus problematisch, die voraussetzt, dass offizielle Äußerungen tatsächliche Motive wiedergeben und dass Motive und daraus folgende Handlungen fraglos als 49 Ursache anzusehen sind. Dennoch wurde „Africa and the Victorians“ zu einem Klassiker der Imperialismustheorie, auch aufgrund seines als neu wahrgenommenen Fokus auf die Peripherie, wie er im folgenden Kapitel ausführlich dargestellt und diskutiert wird. An dieser Stelle bleibt festzuhalten, dass auch Robinson, Gallagher und Denny die These vertreten, die britische Okkupation Ägyptens sei eine politische Notwendigkeit für die Metropole gewesen, der die Politiker aus rationaler Sicht nicht entgehen konnten. Eine Variante dazu bietet Harrison, der bezüglich der politischen Gründe für die Okkupation mit Robinson, Gallagher und Denny weitestgehend übereinstimmt, aber speziell eine Analyse der Führungspersonen, des damaligen Premierministers Gladstone und seines Außenministers Lord Granville, vornimmt und ihnen eine größere Freiheit bei der Entscheidung zur Okkupation zuspricht. Dabei wird vor allem aufgrund der einjährigen Vorbereitung der ägyptischen Okkupation durch die britische Regierung 50 die Verantwortung bei der politischen Leitung gesehen. Die britische Besatzung Ägyptens als bewusste Entscheidung eines starken Premierministers Gladstone zu sehen, wird jedoch von vielen Autoren in Frage gestellt. So vertritt zum Beispiel L.C.B. Seaman die Annahme, Gladstone sei mit den Problemen der nach Unabhängigkeit strebenden Iren derart beschäftigt 48 Robinson; Gallagher; Denny, a.a.O., S. 20. 49 Cain, P.J.; Hopkins, A.G.: The Political Economy of British Expansion Overseas, 1750-1914. In: Economic History Review, 1980, Second Series, Vol. 33, Nr. 4, S. 463-490, hier: S. 463f.; siehe auch Hopkins, The Victorians and Africa, 1986, S. 370, 373. Wehler, Hans-Ulrich: 1. Großbritannien. In: Imperialismus. Hrsg. ders., 3. überarb. Aufl. Königstein/Ts., 1979, S. 167-169, hier S. 167. 50 Harrison, Gladstone’s Imperialism in Egypt, 1995, S. 165.

28

gewesen, dass er sich mit ägyptischen Angelegenheiten kaum beschäftigt 51 habe. Zusätzlich dazu sieht Hopkins Gladstone als schwachen Premier, der einer gespaltenen Partei der Liberalen gegenübersteht und deren erstar52 kender radikaler Flügel ihn zur Okkupation bewegt. Jack Snyder verlässt in seinem Buch „Myths of Empire“ (Ithaca, 1991) die Akteursebene und versucht, die Expansion durch innenpolitische Strukturen zu erklären, indem er die britische Regierung aus dem Prozess von Koalitionsbildungen heraus analysiert. Hierbei sieht er gut organisierte und konzentrierte Gruppeninteressen wie die der militärischen und wirtschaftlichen Expansionslobbyisten gegenüber diffusen Interessen wie denen der Steuerzahler klar im Vorteil, da sie gezielt und mit großen Ressourcen ihre Ziele in politischen Institutionen und Entscheidungsprozessen besser artikulieren und vertreten lassen können. Hinzu kommen die heterogenen Regierungen, die der jeweilige Premierminister zusammenzuhalten hat, wofür sich nach Snyder die Politik der Expansion anbietet, da sich hierin viele Interessen (wirtschaftlich, militärisch, nationalistisch) vereinen lassen. Um die Ausweitung der Politik auch vor der Bevölkerung, die deren finanzielle Lasten schließlich durch Steuergelder tragen muss, zu rechtfertigen, wird die Expansion durch sogenannte Mythen des Empire legitimiert, die meist um den Komplex der Sicherheit angelegt sind. Hierzu zählt beispielsweise die Dominotheorie, nach der beim Verlust einer imperialen Einheit eine Kettenreaktion vorausgesagt wird, an deren Ende der Zusammenbruch des gesamten Empire steht. Im Gegensatz zu Verschwörungstheorien des 19. Jahrhunderts begreift Snyder diese Mythen als Produkte eines bestimmten Systems samt der Eigendynamiken, wie etwa, dass Politiker nach einer Zeit an einige Mythen zu glauben beginnen. Dies kann, so Snyder, die politische Abkehr von der Expansion erschweren und zur Überexpansion führen, die letztendlich aus Strukturzwängen und nicht mehr aus rationalen Ent53 scheidungen einzelner Akteure heraus zu verstehen ist. Zu einem ähnlichen Ergebnis kommt auch Bernard Porter, der die briti51 Seaman, L.C.B.: Victorian England: Aspects of English and Imperial History, 1837-1901. London, 1973, S. 224-227.

52 Hopkins, The Victorians and Africa, 1986, S. 387. 53 Snyder, Jack: Myths of Empire. Domestic Politics and International Ambition. Ithaca, 1991, S. 1-5, 17.

29

sche Gesellschaft entlang verschiedener Klassen und Gruppen auf ihre Verbindung zum Imperialismus hin analysiert. Auch hier finden sich kleine Kreise, die ökonomische und machtpolitische Interessen an imperialer Politik haben. Dem gegenüber steht der Großteil der Bevölkerung, dem das Empire nicht bewusst ist, oder dem es durch bestimmte Mythen wie die des 54 white man’s burden als mit Stolz zu erfüllende Pflicht angetragen wird. Wie der Einblick in die Metropolen-zentrierten Ansätze gezeigt hat, bietet sich ein großes Spektrum an Erklärungen, das bis heute noch nicht erschöpfend behandelt erscheint. Gerade das in der Einleitung erwähnte neue Interesse an Imperien hat hier weitere innovative Forschung angeregt, wie die zitierten Arbeiten von Porter und Snyder. Das Überprüfen ihrer Annahmen auf einer breiteren Basis historischer oder auch gegenwärtiger Beispiele expansiver Außenpolitik könnte durchaus sinnvoll sein. Grundlage dieser Arbeit jedoch sind die Peripherie-zentrierten Ansätze, die es nun darzustellen gilt.

Peripherie – in der Krise Der Grundgedanke bei der Betrachtung der Peripherie ist es, den Übergang von informaler zu formaler Herrschaft durch Bedingungen im imperial durchdrungenen Gebiet zu erklären, die die Metropole dazu bewegen zu intervenieren. Hierbei kann man zwei Theoriegruppen entlang simpler, unterschiedlicher Annahmen identifizieren, nämlich der einen, die besagt, dass die Peripherie vor der Besetzung schwach sei und kurz vor dem Zusammenbruch stehe, oder der anderen, dass die Peripherie stark sei und der imperialen Macht Widerstand leiste. Auch wenn Robinson und Gallagher als die Begründer der sogenannten ex-zentrischen Theorie, also der Erklärung der imperialen Expansion aus der Peripherie heraus, gelten, so muss man doch korrekterweise festhalten, dass man diese Argumentationsweise bereits Ende des 19. Jahrhunderts in der offiziellen Darstellung der Okkupation Ägyptens findet. Der Journalist Edward Dicey ist einer der Ersten, der die Lage in Ägypten als instabil bezeichnet und dafür den Khediven verantwortlich macht, den er als unge54 Porter, Bernard: The Absent-minded Imperialists. Empire, Society, and Culture in Britain. Oxford, 2004, S. 40, 112.

30

55

recht und unfähig beschreibt. Als sich abzeichnet, dass die britische Besatzung nicht, wie anfangs versichert, nach kurzer Zeit beendet sein würde, beginnt eine Propagandakampagne, in deren Zentrum Evelyn Baring, der spätere Lord Cromer, steht. Das bekannteste Buch, das das langfristige Engagement der Briten in Ägypten rechtfertigen soll, ist Alfred Milners „England in Egypt“ (London, 1892), in dem behauptet wird, die Besatzung sei nur zur Wiederherstellung der Ordnung erfolgt, denn: „the flame of anarchy spread too fast for the 56 slow movements of diplomacy“ . Schuld hieran sei der „semi-barbarism“ 57 des verschwenderischen Khediven IsmÁÝÐl gewesen. Und da die Franzosen die Briten in dieser Lage im Stich gelassen hätten, hätte Großbritannien 58 alleine einschreiten müssen. Noch weiter geht Sir Auckland Colvin, britischer Comptroller General (Finanzaufseher) in Ägypten zur Zeit der Besetzung, der die Ursprünge des Anarchieausbruchs in der „tyranny and op59 pression“ von MuÎammad ÝAlÐ sah, dem Herrscher über Ägypten von 1805 bis1848. Dies hätte unter dem Khediven IsmÁÝÐl zu „no justice; no or60 der“ und schließlich zur Meuterei der ägyptischen Armee geführt, die al61 lein die Verfolgung eigener Interessen als Ziel vor Augen gehabt hätte. Diese Ansichten finden weitere Verbreitung durch Sir Edward Malet, dem 62 britischen Konsul während der britischen Invasion, und durch „Modern Egypt“ von Lord Cromer. Doch trotz dieses Bildes, das Eingang in die britische Geschichtswissenschaft der Zwischenkriegszeit durch J.A. William63 son findet, weist Hopkins darauf hin, dass die Ausführungen vor allem von Lord Cromer viel weitsichtiger seien als zunächst angenommen. Denn dessen Peripherieansatz, wenn auch nicht als solcher bezeichnet, geht auf 55 Dicey, Edward: England and Egypt, London, 1986 Neuauflage; (1. Aufl. 1881), 56 57 58 59 60 61 62 63

S. 26-28, 55f. Milner, Alfred: England in Egypt. 5. Aufl. London, 1894, S. 16. ebd., S. 385. ebd., S. 416. Colvin, Auckland: The Making of Modern Egypt. 2. Aufl. London, 1906, S. 5. ebd., S. 9. ebd., S. 14. Malet, Edward: Egypt, 1879-1883. London, 1909 Williamson, J.A.: A Short History of British Expansion. 6. Aufl. London, 1967, 2 Bde. (1. Aufl. 1922).

31

weitere Faktoren ein, wie ehrgeizige britische Kolonialbeamten und -generäle, die Rolle von einheimischen Kollaborateuren oder das Streben der imperialen Macht nach sicheren Außengrenzen. Zudem setzt Cromer seinen Peripherieansatz in Verbindung zu finanziellen und kommerziellen Interessen Großbritanniens und hält fest: „[the] origin of the Egyptian questi64 on in its modern phase was financial“ – was jedoch, glaubt man Hopkins, als Zeichen von Stolz auf die britische Stärke und nicht als Selbstkritik zu 65 verstehen ist. Der britische Einfluss auf die Peripherie wird also um die Jahrhundertwende generell erkannt, aber nicht für die angeblich anarchische Situation in Ägypten als Erklärung herangezogen. Stattdessen werden dem rassistischen Grundverständnis der Zeit gemäß die „Ägypter an sich“ oder der „orientalische Herrscher“ verantwortlich gemacht. Dies macht wohl den großen Unterschied zu den Peripherieansätzen der 1960er Jahre aus, die zwar in der Zustandsbeschreibung übereinstimmen, die diagnostizierte Anarchie jedoch auf die negativen Auswirkungen des europäischen Einflusses zurückführen. Wie bereits angesprochen, gelten Robinson und Gallagher als Begründer des Perspektivenwechsels weg von der Metropole hin zu den penetrierten Gebieten selbst. Auf der Kontinuität des britischen Imperialismus basierend, erfolgte laut den Autoren die Ausweitung der Herrschaft auf die direkte Form nur dann, wenn informelle Herrschaft die Stabilität der Kolonie nicht mehr garantieren konnte. Die informelle, kostengünstige Variante sei, so Robinson und Gallagher, im tropischen Afrika generell gescheitert, zum einen aufgrund der Bedrohung der britischen Vorherrschaft durch andere europäische Großmächte und zum anderen wegen weitgehenden Fehlens einer starken politischen Organisation seitens der Einheimischen. Dieses Manko wird dadurch erklärt, dass in „Gebieten..., die von Europäern nie besiedelt worden waren, ...die Expansion auf die einheimischen Gesellschaftsstrukturen derart zerstörerisch [wirkte, I.W.], daß sie 66 sich in der Regel zersetzten und endlich sogar zusammenbrachen.“ Dieses Phänomen wird für das gesamte Osmanischen Reich als „growing chaos 64 Cromer, the Earl of: Modern Egypt. Neuaufl. London, 1911, S. 1. 65 Hopkins, The Victorians and Africa, 1986, S. 367f. 66 Gallagher; Robinson, Der Imperialismus des Freihandels, 1979, S.197. 32

in Muslim States“ festgestellt und damit erklärt, dass „European agencies 67 could destroy as well as re-create“. Im ägyptischen Fall seien es zunächst die britischen Finanziers gewesen, die in den 1870er Jahren durch Kredite die ägyptischen Finanzen ruiniert und damit die politischen Strukturen untergraben hätten. Weiterhin hätte die anglo-französische Finanzkontrolle antieuropäische Stimmung erzeugt, die die militaristische ÝUrÁbÐ-Revolte ausgelöst und damit die Sicherung des Suezkanals und ausländischer Investitionen durch den Khediven in akute Gefahr gebracht hätte. Fazit für Robinson und Gallagher ist also, dass Ägypten als Beispiel dafür zu gelten habe, dass „eine Strategie im Sinne des indirekten Empire mißlingt, weil dem betreffenden abhängigen Staat durch Investitionen und eine pseudo-nationalistische Reaktion gegenüber fremder Herrschaft die Grundlagen 68 entzogen worden waren.“ Die imperiale Penetration lässt die Peripherie zusammenbrechen, so dass die Kolonialmacht intervenieren muss – diese These von Robinson und Gallagher hat große Verbreitung erfahren. So findet man diese Sichtweise in den 1960er Jahren bei Robert L. Tignor, der folgendes zu erkennen meint: „the export of European ideas and European capital into Egypt 69 affected the foundations of traditional Egyptian society“, was darüber hinaus politisches Ungleichgewicht und letztlich eine Lähmung der ägyptischen Regierung und die Auslösung der ÝUrÁbÐ-Revolte bewirkt hätte. Doch neben dem Einfluss auf wissenschaftliche Arbeiten speziell zu Ägypten hat die Interpretation von Robinson und Gallagher besonders in allgemeinen Ansätzen zu Imperien und zum Imperialismus Niederschlag gefunden. Als Beispiel hierfür kann Tony Smith dienen, der auf der Suche nach wiederkehrenden Mustern im Imperialismus am Beispiel des Osmanischen Reichs und Ägyptens die These vertritt, dass schwache Staaten immer weitere Penetration erregen, die sie zunehmend schwächt, bis es schließlich

67 Robinson; Gallagher; Denny, Africa and the Victorians, 1961, S. 5. 68 Gallagher; Robinson, Imperialismus des Freihandels, 1979, S. 198. Diese Analyse findet sich auch bei D.C.M. Platt: Finance, Trade, and Politics in British Foreign Policy 1815-1914. Oxford, 1968, S. 154-180. 69 Tignor, Robert L.: Modernization and British Colonial Rule in Egypt, 1882-1914. Princeton, 1966, S. 10.

33

70

kurz vor dem Kollaps zur Okkupation kommt. Auch in neueren Arbeiten wie bei Herfried Münkler findet sich der Robinson-Gallagher-Ansatz in allgemeiner Form. So sieht es Münkler in „Imperien. Die Logik der Weltherrschaft“ als generelle Regel an, dass die Beziehung der Metropole zur Peripherie durch ein asymmetrisches Gewinnverhältnis zugunsten ersterer geprägt ist, was je nach Art des Imperiums in Form von Plünderungen (meist bei Steppen-Imperien), aber auch in Form von Tausch und Handel wie bei See-Imperien zustande kommt. „Auf Dauer“, so Münkler jedoch, „zersetzt der Handelskontakt mit den Fremden die soziopolitische Ordnung eines 71 Landes“. Nur durch den „Entschluss, infrastrukturell wie zivilisatorisch in 72 sie [die Peripherie; I.W.] zu investieren“ und damit „zu einer regulären 73 Verwaltung ihrer Provinzen“ überzugehen, könne die Stabilität eines Imperiums auf längere Zeit gesichert werden. Für das britische Empire bedeutet das: „...die Öffnung der Märkte für europäische Waren und europäisches Kapital hatte innerhalb weniger Jahrzehnte die politische Stabilität der kapitalistisch infiltrierten Räume unterhöhlt, und nun war es an den Europäern, sie durch die Entsendung von Truppen und den Aufbau eigener 74 administrativer Strukturen wiederherzustellen.“ Also findet sich auch hier die Annahme, die imperiale Penetration zerstöre lokale Strukturen und nur durch die Intervention externer Akteure sei die Errichtung einer stabilen Ordnung möglich. Die Arbeiten von Robinson und Gallagher haben aber auch eine große kritische Debatte hervorgerufen, die zum Beispiel in der Aufsatzsammlung „The Robinson and Gallagher Controversy“ (New York, 1976), herausgegeben von Roger Louis, komprimiert ist. Hierin findet sich ein Beitrag von Roger Owen, der präzise die größten Kritikpunkte am Kollaps-Argument für das Beispiel Ägypten aufführt. Das generelle methodische Manko, dass Robinson und Gallagher allein auf offizielle britische Quellen zurückgegriffen haben, erweist sich für Owen bei der Einschätzung der Lage in 70 Smith, Tony: The Pattern of Imperialism. The United States, Great Britain, and the 71 72 73 74 34

Late-industrializing World since 1815. Cambridge, 1981, S. 31, 47f., 57f. Münkler, Imperien, Bonn, 2005, S. 94. ebd., S. 95. ebd., S. 95 ebd., S. 231.

Ägypten als großes Problem. Denn damit ist auch die Frage verbunden, inwiefern die offiziellen Berichte über den drohenden Kollaps der tatsächlichen Wahrnehmung der Briten vor Ort und in London entsprochen haben. Denn die Situation vor der Okkupation sieht Owen keineswegs als anarchisch, und er spricht ÝUrÁbÐ durchaus die Fähigkeit zu, für Ruhe und Sicherheit zu sorgen. Damit verbunden widerspricht Owen der Annahme, der imperiale Einfluss habe den Zusammenbruch der traditionellen Autorität und damit verbunden das Entstehen eines Machtvakuums ausgelöst. Vielmehr erkennt er, dass zwar durchaus Transformationen stattgefunden hätten, aber als Ergebnis eben keine Anarchie, sondern neue, regierungsfähige Eliten entstanden seien. Die Okkupation sei daher nicht als Antwort auf die zunehmende Schwäche, sondern im Gegenteil als Reaktion auf die Heraus75 bildung starker politischer Strukturen in Ägypten zu verstehen.

Starke Reformer in der Peripherie Der allgemeine ex-zentrische Imperialismusansatz von Robinson und Gallagher basiert auf der Annahme, das Verhalten der Imperialisten durch die Formel erklären zu können: informelle Herrschaft wenn möglich, formelle 76 wenn nötig. Im letzten Abschnitt wurden die Ansätze dargelegt, die die Notwendigkeit des Übergangs zur formalen Herrschaft aus der Instabilität der Peripherie erklären, resultierend aus einer schon lange herrschenden Schwäche (gemäß der offiziellen britischen Seite des 19. Jahrhunderts) oder einer neu entstandenen (Robinson und Gallagher bezüglich Ägypten). Lehnt man diese Einschätzung der Lage vor Ort ab, so muss man im Gegenzug zeigen, welche Gruppen in der Peripherie starke politische Akteure sind, welche Ziele diese verfolgen und wie sie damit gerade nicht zu einer schwachen, sondern einer stabilen Ordnung beitragen. Damit wird sich der Hauptteil dieser Arbeit beschäftigen und sich vor allem mit den Beiträgen in der Debatte um die Okkupation Ägyptens auseinandersetzen, die ebenfalls eine Entwicklung hin zu neuer Stärke erkennen. 75 Owen, Roger: Robinson and Gallagher and Middle Eastern Nationalism: The Egyptian Argument. In: The Robinson and Gallagher Controversy. Hrsg. Roger Louis, New York, 1976, S. 212-216. 76 Robinson; Gallagher, Der Imperialismus des Freihandels, 1979, S.185.

35

Der Überblick, der hier präsentiert wurde, hat grundlegend zwischen Ansätzen, deren Erklärung auf Geschehnissen in der Metropole oder der Peripherie beruht, unterschieden. Diese Differenzierung hat im Gegensatz zur weit verbreiteten Vorgehensweise der chronologischen Anordnung der Imperialismustheorien nach deren Entstehungszeit bereits analytische Aussagekraft. Die andere gängige Aufteilung in Ursachenbereiche wie Wirtschaft oder Innen- und Außenpolitik hat zwar bereits inhaltlichen Wert, passt aber nur auf Theorien, die auf der künstlichen Trennung zwischen den Bereichen basieren, die der Realität wenig entsprechen. Neuere Ansätze, die die Verbindungen vor allem zwischen Politik und Wirtschaft sehen, lassen sich dann nur über einen eventuell gegebenen Schwerpunkt in der Theorie einem Raster zuordnen. Die hier gewählte grundlegende Trennung zwischen Metropole und Peripherie hat jedoch auch ihre Schwächen. Kann man ein Ereignis wie die britische Okkupation rein aus Bedingungen in der Metropole ableiten, ohne die Peripherie als rein passives Objekt zu sehen, dem keine eigenen Entwicklungen zugeschrieben werden? Und führt nicht eine bloße Konzentration auf die Umstände in der Peripherie dazu, der Metropole die Verantwortung für ihr Handeln abzusprechen? In der Tat kann eine klare Trennung entlang dieser Linie in den Theorien nicht zum Ziel führen, wenn es um die generelle Erklärung des Imperialismus geht. Wie vor allem bei Robinson und Gallagher, die ja auch in beiden großen Blöcken aufgeführt wurden, deutlich wurde, können (und müssen vielleicht) allgemeine Erklärungsansätze beide Faktoren enthalten. So plädieren auch neuere Ansätze zum Beispiel von Frederick Cooper und Ann Laura Stoler dafür, Kolonisatoren und Kolonialisierte in einem gemeinsamen analytischen Feld zu sehen, anstatt zwischen dem Einen und dem Anderen zu un77 terscheiden. Für diese Arbeit jedoch, und das ist auch der Grund, warum hier derart strukturiert wurde, ermöglicht die Peripherie-Metropole-Differenzierung die bessere Lokalisierung des Kollaps-an-der-Peripherie-Arguments, auch wenn sich Verbindungen mit den Metropolenansätzen finden. Denn nur wenn eine Krise in der Peripherie angenommen wird, kann die 77 Cooper, Frederick, Stoler, Ann Laura: Between Metropole and Colony: Rethinking a Research Agenda. In: Tensions of Empire. Colonial Cultures in a Bourgeois World. Hrsg. dies. Berkeley, 1997, S. 1- 56, hier S. 9, 15.

36

Argumentation der gefährdeten Lebensadern des Imperiums greifen. So hat die mögliche Dekonstruktion der Krise Auswirkungen auf andere Metropolen-basierte Erklärungen, muss aber zunächst Peripherie-zentriert erfolgen.

2.2

Parlamentarismustheorie: Ursachenkategorien parlamentarischer Macht

Für diese Arbeit ist es von Bedeutung, ein methodisches Instrumentarium an die Hand zu bekommen, mit dem die Entwicklung eines Parlaments hin zu einem mächtiger werdenden Staatsorgan untersucht werden kann. Drei Faktoren jedoch erschweren die Suche nach der sinnvollen Methode für den vorliegenden Fall. Zum einen ist die Parlamentarismusforschung generell durch die Konzentration auf Einzelfallstudien gekennzeichnet, bei denen man sich zumeist mit „sachverstandsvergewissernder Beschreibung 78 und institutionenerläuternder Belehrung“ begnügt. Dies gilt, so Patzelt, für die anglo-amerikanische Debatte in den legislative studies, aber auch und noch viel mehr für die deutsche Politikwissenschaft. Zweitens sind meist normative Fragestellungen forschungsleitend, d.h. wie ein Parlament 79 beschaffen und im politischen System situiert sein sollte. Wie Ernst Fraenkel gezeigt hat, finden hier die geschichtlichen Erblasten Deutschlands ihren Niederschlag, darunter die Diskontinuität des Parlamentarismus 80 in Deutschland. Damit verbunden ergibt sich eine Verengung der Forschungsagenda auf Parlamente in demokratischen Regimen. Erst jüngst hat die Politikwissenschaft Parlamente in autoritären Staaten in den Blick ge81 nommen. 78 Patzelt, Werner: Parlamentarismus. In: Politische Theorie und Regierungslehre. Eine Einführung in die politikwissenschaftliche Institutionenforschung. Hrsg. Ludger Helms und Uwe Jun. Frankfurt a.M., 2004, S. 97-129, hier S. 100. 79 Patzelt, Parlamentarismus, 2004, S. 99. Einen guten Überblick über die Klassiker der deutschen Parlamentarismustheorie bietet: Böhret, Carl; Jann, Werner; Kronenwett, Eva: Innenpolitik und politische Theorie. Ein Studienbuch. 3. erw. Aufl. Opladen, 1988, S. 204-221. 80 Fraenkel, Ernst: Deutschland und die westlichen Demokratien. Erw. Ausg., 2.Aufl. Frankfurt a.M., 1990, S. 23-47. 81 Gandhi, Jennifer: Political Institutions under Dictatorship. Cambridge, 2008; Magaloni, Beatriz: „Credible Power-Sharing and the Longevity of Authoritarian Rule.” In: Comparative Political Studies, 2008, Bd.41, Nr. 4/5, S.715-741.

37

Die Entwicklung der Parlamentarismusforschung in der Politikwissenschaft nachzuzeichnen und mit den Ergebnissen auch aus den Geschichtswissenschaften zu vereinen, kann hier nicht geleistet werden. Ebenso wenig können die hier aufgezeigten Ergebnisse zum Parlament in Ägypten in ihrer Tragweite für die Parlamentarismusforschung als Ganzes ausgeschöpft werden, da dies von der Neubewertung der ÝUrÁbÐ-Bewegung und deren Bedeutung für die Imperialismusforschung wegführen würde. Daher sei an dieser Stelle nur darauf hingewiesen, dass es sicher lohnenswert wäre, die Ergebnisse dieser Arbeit in die Richtung der Parlamentarismusforschung weiterzudenken. Auch ohne die Forschung zum Parlament komplett zu reflektieren, wird hier Werner Patzelts Ansatz der Quellen parlamentarischer Macht sehr bewusst gewählt, um die Entwicklung der Delegiertenkammer in Ägypten zu untersuchen, da Patzelt mit einem weiten Parlamentarismusbegriff arbeitet, der jegliche Vertretungskörperschaft in einem politischen System, der eine 82 politische Aufgabe zumindest zugeschrieben wird, als Parlament versteht. Dies hat erstens den Vorteil, dass Untersuchungen über die Entstehung und Entwicklung von Parlamenten auch aus korporativen oder föderativen Vertretungskörperschaften heraus bis hin zum heutigen Verständnisses des de83 mokratischen Parlamentarismus erfolgen können. Daraus entwickelt Patzelt verschiedene Untergebiete samt analytischen Kategorien, die z.B. die Institutionalisierung und die Funktionen oder Machtmodi von Parlamenten 84 feststellbar machen. Zweitens gelingt es Patzelt dadurch, den Parlamentarismusbegriff für vordemokratische Fälle zu öffnen und damit auch die normative Dimension, also die Frage, wie ein Parlament auszusehen habe, aus der Untersuchung herauszuhalten.

82 Patzelt, Werner: Parlamente und ihre Funktionen. In: Parlamente und ihre Funktionen. Institutionelle Mechanismen und institutionelles Lernen im Vergleich. Hrsg. ders., Wiesbaden, 2003, S. 14. 83 ebd., S. 15. 84 ebd., S. 16-48. Patzelt, Werner: Institutionalität und Geschichtlichkeit von Parlamenten. Kategorien institutioneller Analyse. In: Parlamente und ihre Funktionen. Hrsg. ders. Wiesbaden, 2003, S. 50-117.

38

Die vier Machtquellen von Parlamenten Als Grundlage für die Analyse der Quellen parlamentarischer Macht dient 85 Werner Patzelt die Ursachentypologie von Aristoteles. Diese unterscheidet generell zwischen vier Kategorien von Ursachen zur Erklärung biologischer, gesellschaftlicher und kultureller Phänomene und Entwicklungen. Dabei handelt es sich um die Materialursache (causa materialis), die Antriebsursache (causa efficiens), die Zweckursache (causa finalis) und die Formursache (causa formalis), die nun in der Anwendung bei Patzelt auf 86 die Ursachen parlamentarischer Macht dargestellt werden sollen. Materialursache meint das, woraus das zu erklärende Objekt besteht, und findet im Fall der Parlamentsmacht in mehreren Faktoren Niederschlag. An erster Stelle sind dies die finanziellen, administrativen und polizeilich-militärischen Ressourcen, die die Regierung zur Erfüllung ihrer Aufgaben benötigt und die vom Parlament aufgrund dessen Budgetrechts bewilligt werden müssen. Dabei entwickelte sich das Budgetrecht von Parlamenten, das bis heute als zentrale Machtquelle gilt, sich erst allmählich heran: Der Anfang war im Allgemeinen, dass ein Herrscher, der nicht allein über die materiellen Ressourcen für die Regierung verfügte, bei denjenigen im Land, die ihn damit versorgen konnten, um Unterstützung werben musste, was am besten über den Weg der Einbindung erfolgt. Demnach hat Parlamentsmacht also darin ihren Anfang, „daß Personen, die man aufgrund ihrer Durchsetzungs-, Verhinderungs- oder Deutungsmacht bzw. Handlungskompetenz sinnvollerweise in den politischen Willensbildungsund Entscheidungsprozeß einzubinden hat, in einem Beratungsgremium zu87 sammenwirken“ . Dabei geht es den Integrierten in erster Linie nicht um ihre Repräsentation oder gar die Vertretung eines Staatsvolkes, sondern meist um konkrete Gegenleistungen wie die Gewährung von Privilegien. Beobachten lässt sich nun, dass aus einem anfänglichen Steuerbewilli85 Aristoteles: Physik. Über die Seele. Übersetzt von Hans Günter Zekl. Hamburg, 1995 (Philosophische Schriften, Bd. 6), S. 31f.

86 Der folgende Abschnitt bezieht sich auf: Werner Patzelt: Phänomenologie, Konstruktion und Dekonstruktion von Parlamentsmacht. In: Parlamente und ihre Macht. Kategorien und Fallbeispiele institutioneller Analyse. Hrsg. Patzelt, Werner, Baden-Baden, 2005, S. 255-302; hier S. 272-293. 87 ebd., S. 276.

39

gungsrecht ein umfassendes Budgetrecht entsteht. Ohne weiter ins Detail gehen zu können, ist für die spätere Untersuchung der Delegiertenkammer zu beachten, dass die finanzielle Machtquelle als zentral für die Bewertung der Parlamentsmacht anzusehen ist. Eine weitere Materialursache liegt für Patzelt in der parlamentarischen Kommunikation. Im Zentrum steht hier die Redefreiheit der Abgeordneten, deren Absicherung sich im Lauf der Zeit zum Indemnitätsprinzip entwickelt. Weiterhin zählt die straffreie Berichterstattung über Plenardebatten sowie das öffentliche Abhalten von Parlamentssitzungen zur Kommunikation als Machtquelle. Als Materialursache gilt auch die Infrastruktur, die den Abgeordneten zur Verfügung steht, angefangen bei finanziellen Mitteln über fähige Mitarbeiter bis hin zu geeigneten Räumlichkeiten samt technischer Ausrüstung. Letzte, jedoch nicht zu unterschätzende materielle Machtquelle ist die der Zeit, wobei nicht nur die Dauer der parlamentarischen Versammlung eine Rolle spielt, sondern auch ob sie verlässlich und regelmäßig einberufen wird. Der höchste Grad der Ausstattung mit der Ressource Zeit findet sich bei einem ständig präsenten Parlament. Die zweite allgemeine Ursachenkategorie ist die des Antriebs, also im vorliegenden Fall der Grund, warum Parlamentsmacht überhaupt entsteht. Diesen verortet Patzelt bei den Parlamentariern, genauer in deren Suche nach Einfluss auf Verteilungskonflikte, Kontrollmöglichkeiten und andere politische Prozesse sowie dem Streben nach gesellschaftlichem Prestige und Aufstieg bis hin zum bloßen Willen zur Macht. Weniger handfest, aber mindestens genau so einflussreich ist die Zweckursache von Parlamentsmacht, einfacher ausgedrückt die Antwort auf die Frage, weshalb ein Parlament besteht. Dies ist aber nicht zu verwechseln mit der Frage, warum ein Parlament de facto eingerichtet wurde. Hierbei geht es um die Zielsetzung eines Parlaments gegenüber anderen Institutionen des politischen Systems, um deren Rechtfertigung sowie Einbettung in ein größeres System von Ordnungsvorstellungen. Diese Zweckursache verdichtet sich in einer oder mehrerer Leitideen, die, solange sie als vorteilhaft oder gar selbstverständlich angesehen werden, die Macht des Parlaments legitimieren. Die vierte und letzte Ursache für parlamentarische Macht findet sich in 40

der Form, das heißt in der genauen Struktur, Arbeitsweise und in den institutionellen Mechanismen, die das Parlament prägen. Hierbei stellt Patzelt die Hypothese auf, dass die Macht eines Parlaments am größten ist, wenn das Parlament nach innen stark ausdifferenziert ist in fachspezifische Ausschüsse und Unterausschüsse. Die inhaltliche Spezialisierung eines auf diese Weise geformten Parlaments erlaube eine systematische Beobachtung der Regierung und habe damit ein viel größeres Machtpotential als ein Parlament, dessen Beratung nur im Plenum und dann meist auf Einzelfälle begrenzt möglich ist. Neben der inneren Struktur einer Vertretungskörperschaft ist auch die Form der interinstitutionellen Mechanismen von großer Bedeutung. Hierbei ist nach dem parlamentarischen Einfluss auf die Regierungsbildung und -arbeit zu fragen, nach der Rolle des Parlaments bei Gesetzesinitiativen und deren Beratung, nach den Möglichkeiten des Einflusses auf die Öffentlichkeit sowie dem Anteil an der Mitwirkung an internationalen Abkommen. Die vier Ursachenkategorien parlamentarischer Macht werden in Kapitel 4 als Maßstab dienen, um den steigenden Einfluss der Delegiertenkammer systematisch zu untersuchen und die Forderungen nach weiterer Macht 1882 als parlamentarische Entwicklung darzustellen. Im nächsten Kapitel wird jedoch zunächst gezeigt, dass die ruralen Notabeln, die ab 1866 als Delegierte im maÊlis fungieren, ökonomisch und administrativ im 19. Jahrhundert einen Aufstieg erleben, den sie im Parlament auch politisch weiterverfolgen.

41

3

Der Aufstieg ruraler Notabeln

3.1

Notabeln als Mittler zwischen Zentralstaat und lokaler Bevölkerung

Die Grundlage des politischen Systems Ägyptens ist die Geographie des Landes, die in erster Linie durch den Nil bestimmt wird. Entlang des Flusses konzentriert sich die Landwirtschaft, Haupteinnahmequelle Ägyptens bis ins 20. Jahrhundert hinein. Jedoch kann nur eine effiziente Zentralverwaltung Kontrolle und Verteilung des Wassers im ganzen Land ermöglichen. Mit zunehmenden technischen Möglichkeiten werden Bewässerungskanäle und Dämme benötigt, wofür es jedoch großer finanzieller Investitionen bedarf. Diese wiederum kann nur ein Zentralstaat aufbringen, der durch effiziente Steuereintreibung über ausreichende Finanzmittel verfügt. So stellt bereits Crouchley für Ägypten die Grundregel auf: Je höher die 88 zentralstaatliche Kontrolle, umso größer der Wohlstand des Landes. Darauf basiert Hunters These, Ägyptens Geschichte als immer wiederkehren89 den Aufstieg und Niedergang einer starken Zentralmacht zu verstehen. Demnach versucht jeder neu an die Macht gekommene Herrscher, schnell die Kontrolle über das ganze Land auszubauen und die Steuereintreibung sicherzustellen. In erster Linie dienen hierfür seine eigene Familie und von ihm abhängige Eliten. Der Niedergang erfolgt meist durch die Schwächung der Zentralmacht entweder von innen durch Rivalitäten innerhalb der Eliten oder durch externe Einflüsse wie die Invasion einer fremden Macht oder Naturkatastrophen. Nach anschließenden Unruhen wird früher oder

88 Crouchley, A.E.: The Economic Development of Modern Egypt. London, 1938, S. 6f. Siehe auch Rivlin, Helen: Agricultural Policy of MuÎammad ÝAlÐ in Egypt. Cambridge, 1961, S. 1. 89 Hunter, Egypt under the Khedives, 1984, S. 9.

42

später ein neuer Herrscher an die Macht kommen und sich das eben Skiz90 zierte wiederholen. In Zeiten schwacher Zentralstaatlichkeit bilden sich Mittlerakteure zwischen geschwächter Zentralmacht und lokalen Einheiten heraus, was Albert 91 Hourani die „politics of notables“ genannt hat. Notabeln, allgemeine Bezeichnung für Angehörige der sozialen Oberschicht, deren gehobene Stellung auf Rang, Vermögen oder Bildung beruht, können aufgrund ihres sozialen Kapitals und der daraus resultierenden Macht staatliche Aufgaben übernehmen. Indem sie selbst oder ihre Gefolgsleute in Schlüsselpositionen der Verwaltung aufsteigen, erhöhen sie ihren Status noch weiter. Dies gilt nach Hourani jedoch nur für Gesellschaften, die entlang persönlicher Abhängigkeitsverhältnisse strukturiert sind. Thomas Philipp hat die These aufgestellt, dass die Loyalität der Mitglieder bestimmter Gruppen untereinan92 der eine stabilisierende Rolle für das politische System spielen kann. Bricht dieses Beziehungsgeflecht zusammen, so führt dies zu einer weiteren Destabilisierung des gesamten Systems. In dieser Arbeit wird gezeigt, dass sich der Aufstieg ländlicher ägyptischer Notabeln im 19. Jahrhundert sowohl ökonomisch als auch politisch gemäß diesen allgemeinen Thesen zum politischen System in Ägypten erklären lässt. In Phasen schwacher Zentralmacht erfolgt der Ausbau ihrer Macht.

Strukturelle Voraussetzungen: Die Entwicklung des Zentralstaats unter den Mamluken Von 1250 bis 1517 regieren in Ägypten die Mamluken, turko-tscherkessische Militärsklaven. Das Militärsklaventum, das generell in der islamischen Welt weit verbreitet gewesen ist, nimmt hier einzigartige Formen an. Denn hier übernehmen zum ersten Mal Mamluken sowohl de facto als auch öffentlich die Macht, was sie sonst aufgrund ihrer kulturellen und sprachlichen Fremdartigkeit von ihnen kontrollierten Einheimischen überlassen. 90 ebd., S. 9-11. 91 Hourani, Ottoman Reform and the Politics of Notables, 1962, S. 36-66. 92 Philipp, Thomas: Personal Loyalty and Political Power of the Mamluks in the eighteenth Century. In: The Mamluks in Egyptian Politics and Society. Hrsg. Thomas Philipp und Ulrich Haarmann, Cambridge, 1998, S. 118-127, hier S. 118.

43

Ihre Regentschaft nimmt 1517 zunächst ein Ende, als Ägypten dem Osmanischen Reich angegliedert wird. Sultan SüleimÁn (der Prächtige) versucht 1525 mit dem „Qanunname Misr“, die in Ägypten so wichtige Zentralverwaltung unter seine Kontrolle zu bringen beziehungsweise diese durch einen von ihm ernannten osmanischen Pascha auszuüben. Doch dieses System hält nicht lange stand, da die Position des Paschas ab dem 17. Jahrhundert einen finanziellen und wirtschaftlichen Machtverlust erleidet. Die Gründe hierfür liegen in der Misswirtschaft und Korruption seitens der osmanischen Repräsentanten und der zunehmenden Assimilation des osmanischen Militärs mit der ägyptischen Bevölkerung samt einhergehendem Kompetenz- und Disziplinverlust. Letzteres führt dazu, dass neu von den Osmanen importierte Militärsklaven die öffentliche Sicherheit und Verteidigung nach außen garantieren und Schritt für Schritt die Macht in ihrem 93 jeweiligen Militärkorps an sich ziehen. Spätestens als im Jahr 1710 zum ersten Mal der osmanische Gouverneur von Mamluken abgesetzt wird, ist die Schwäche des Osmanischen Reichs als Zentralmacht in Ägypten offensichtlich. Doch auch den Mamluken, die in rivalisierenden autonomen Haushalten organisiert sind, fehlt es, so Philipp, an militärischer und politischer Macht, um die Herrschaft dauerhaft zu übernehmen. So wird der Status der osmanischen Provinz für Ägypten zwar nicht in Frage gestellt, der jeweilige Gouverneur jedoch nur als ein Machtfaktor neben den mamluki94 schen Haushalten gesehen. Mit ÝAlÐ Bey al-KabÐr gelingt es zwar einem Mamluken, wieder eine von den Osmanen unabhängige Herrschaft zu errichten, jedoch ist auch diese nur für kurze Zeit von Bestand. Für diese Arbeit ist vor allem die Beobachtung wichtig, dass die abnehmende Zentralmacht der Osmanen zu einem Machtzuwachs verschiedener Mamlukenhaushalte als Glieder in der Verwaltung und Armee führt. Dieser Machtanstieg reicht jedoch nicht aus, um die Herrschaft vollständig zu 95 übernehmen, was an innermamlukischen Machtkämpfen sowie der gene93 Shaw, Stanford: The Financial and Administrative Organization and Development of Ottoman Egypt (1517-1798). Ann Arbor, 1958, S. 7. Rivlin, Agricultural Policy of MuÎammad ÝAlÐ, 1961, S. 2. 94 Philipp, Personal Loyalty and Political Power, 1998, S. 120. 95 Auch wenn Machtkämpfe unter rivalisierenden Haushalten das heutige Bild über die Mamlukenherrschaft prägen, vertritt Jane Hathaway die These, die Querelen

44

rellen Schwächung der Mamluken durch das Ausbleiben neuer Militärsklaven liegt. Deren Neurekrutierung ist seit Eroberung des Kaukasus durch Russland gestoppt, was zu einem zahlenmäßigen Rückgang von circa 10– 96 12.000 Anfang der 1770er Jahre auf etwa 2000 im Jahr 1805 führt. Weiterhin wirken Epidemien sowie die militärischen Interventionen der Franzosen (1798–1801) und der Briten (1801, 1807) der Stabilisierung der Ver97 hältnisse entgegen. In dieser Situation wird 1805 MuÎammad ÝAlÐ Gouverneur von Ägypten und beginnt mit albanischen Truppen, seine Herrschaft, zunächst noch im Namen des osmanischen Sultans, durchzusetzen. Dies erfolgt zunächst noch im Namen des osmanischen Sultans, jedoch emanzipiert sich MuÎammad ÝAlÐ immer mehr vom Osmanischen Reich und nur die Intervention europäischer Großmächte kann seinen Autonomieund Expansionsbestrebungen Einhalt gebieten. Das ambivalente Verhältnis zwischen formaler Unterordnung unter den Sultan, der wiederum von Großbritannien abhängig ist, und faktischer Autonomie Ägyptens, zeichnet den gesamten hier untersuchten Zeitraum aus. Vor diesem Hintergrund gilt es nun, den Aufstieg der ruralen Notabeln nachzuvollziehen.

3.2

Wachsender Einfluss in der Verwaltung

3.2.1 Allgemeine Funktionen des Dorfscheichs Als Notabeln spielen in Ägypten des 19. Jahrhunderts auch Religionsgelehrte (ÝulamÁÞ) und vermögende urbane Kaufmannsfamilien eine Rolle. Jezwischen den verschiedenen Haushalten seien nicht als mamlukisch, sondern vielmehr als Teil der politischen Kultur des Osmanischen Reichs zu verstehen. Hathaway, Jane: ‘Mamluk Households’ and ‘Mamluk Factions’ in Ottoman Egypt: a Reconsideration. In: The Mamluks in Egyptian Politics and Society. Hrsg. von Thomas Philipp und Ulrich Haarmann, Cambridge, 1998, S. 107-117, hier S. 116. 96 Crecelius, Daniel: The Mamluk Beylicate of Egypt in the last Decades before its Destruction by MuÎammad ÝAlÐ Pasha in 1811. In: The Mamluks in Egyptian Politics and Society. Hrsg. von Thomas Philipp und Ulrich Haarmann, Cambridge, 1998, S. 128-149, hier S. 130, 148f. 97 Als Sohn albanischer Eltern in der osmanischen Provinz Makedonien (im heutigen Griechenland) geboren, gilt MuÎammad ÝAlÐ bis heute als Modernisierer Ägyptens. Jegliche nationalistische Motivation für seine Reformpolitik kann man aber ausschließen – dem Arabischen verweigerte er sich beispielsweise bis zum Ende seiner Herrschaft.

45

doch schafft es keine dieser Gruppen im selben Maße wie die ruralen Notabeln, die aÝyÁn ar-rÐf, sowohl politisch als auch ökonomisch an Einfluss zu 98 gewinnen. Um diesen Aufstieg zu verstehen, muss man zunächst die Ausgangslage – ihre Position als Dorfscheich – betrachten. Wie Cuno zeigt, ist bereits vor den Reformen MuÎammad ÝAlÐs die ägyptische ländliche Gesellschaft stark stratifiziert, wobei große, mittlere und kleine Landbesitzer einer zahlenmäßig großen landlosen Schicht ge99 genüberstehen. An der Spitze der Besitzer größerer Ländereien stehen Familien oder Clans, die zusätzlich zu ihrem materiellen Vermögen die Posi100 tion des Scheichs innehaben, das heißt eines Vorstehers mehrerer Dörfer, eines Dorfes, eines Dorfviertels oder anderer dem Dorf zugehöriger Gebie101 te. Diese Position hat meist der Älteste eines Clans inne. In einer nicht formal geregelten Hierarchie gibt es einen Anführer der Clanvorsteher, der als šaiÌ al-balad oder ab Mitte des 19. Jahrhunderts auch als Ýumda bezeich102 net wird. Erst 1895 wird das Amt des Ýumda in einem Gesetz definiert. Trotz wechselnder Bezeichnungen stellt Baer eine Kontinuität bezüglich der Besetzung der Scheichposition zwischen der Herrschaft der Mamluken und der ersten Hälfte von MuÎammad ÝAlÐs Regentschaft fest. Diese ergibt sich trotz der offiziellen Ernennung des Dorfvorstehers durch den jeweiligen Herrscher oder einen seiner Mittelsmänner. Denn de facto muss der Scheich genug Einfluss und Ansehen im Dorf haben, um die vorgege98 Hunter, F. Robert: Egypt’s High Officials in Transition from a Turkish to a Modern 99 100

101 102

46

Administrative Elite, 1849-79. in: Middle Eastern Studies, 1983, Vol. 19, Nr.3, S. 277-300, hier S. 283. Cuno, The Pasha’s Peasants, 1992, S. 85 Der Begriff Scheich wird auch zur Bezeichnung anderer Führungspositionen, wie zum Beispiel in Gilden und Zünften oder für Religionsgelehrte der Azhar-Universität verwendet. In dieser Arbeit wird, wenn nicht explizit auf einen anderen Bereich verwiesen wird, mit Scheich der Vorstand einer Gebietseinheit auf dem Land benannt. Baer, Gabriel: The Village Shaykh, 1800-1950. In: Studies in the Social History of Modern Egypt. Hrsg. ders., Chicago, 1969, S. 30-61, hier S. 31. Baer, History of Landownership, 1962, S. 50; Baer, The Village Shaykh, 1969, S. 30f; al-Sayyid Marsot hingegen findet den Terminus Ýumda ab 1823 in Regierungsdokumenten belegt, s. al-Sayyid Marsot, Egypt in the Reign of Muhammad Ali, 1984, S. 115. Toledano zeigt, dass die Begriffe auch im urbanen Kontext zur Bezeichnung von Oberhäuptern von Vierteln, Nachbarkreisen oder Gilden und Zünften verwendet werden. Toledano, Ehud R.: State and Society in mid-nineteenth.Century Egypt. Cambridge, 1990, S. 222.

benen Aufgaben zu erfüllen. Dies führt in der Praxis dazu, dass meist die reichste Familie den Dorfvorsteher stellt und sich durch die mit der Position verbundene Macht ihren Reichtum sichern kann. Hieraus resultiert, dass 103 der Scheich oft über Generationen hinweg demselben Clan zugehörig ist. Eric Davis hat die Dauerhaftigkeit des Einflusses bestimmter Familien von der späten Mamlukenzeit über MuÎammad ÝAlÐ bis hin zur nationalistischen Bewegung um die Gründung der Bank MiÒr 1920 nachweisen können. So sind beispielsweise Mitglieder dieser Familien sowohl in MuÎammad ÝAlÐs Konsultativrat ab 1828 vertreten als auch in der maÊlis šÙrÁ 104 n-nuwwÁb ab 1866 unter dem Khediven IsmÁÝÐl. Aus dieser Kontinuität heraus erklärt Cuno die Entwicklung eines Gruppenbewusstseins der Notabeln, die ihre Sonderstellung aufgrund der Kombination von wirtschaftlicher und politischer Macht kennen, was sich beispielsweise in Eheschlie105 ßungen zwischen Scheichfamilien ausdrückt. Die grundlegende Aufgabe des Dorfvorstehers besteht nach Baer allein darin, den Staat gegenüber den Fellachen zu vertreten und nicht umgekehrt. Dies bedeutet konkret für die politischen Funktionen des Scheichs, bei Streitigkeiten für Ruhe und Ordnung zu sorgen, Steuern einzutreiben und die Landverteilung zu regeln. Phasenweise gehört auch die Rekrutierung von Fellachen für infrastrukturelle Arbeiten und die Armee hinzu. Im ökonomischen Bereich ist der Scheich für das Management der landwirtschaft106 lichen Produktion verantwortlich. Cuno hingegen meint, dass der führende Scheich auch die Gemeinde nach außen zu repräsentieren hat, je nach 107 Machtverhältnis zum Zentralstaat. Und auch Marsot erkennt eine gewisse Pufferfunktion des Scheichs, der harte steuerliche Forderungen an die 108 Fellachen abzuschwächen sucht. Die Scheichs stellen also die Vermittlung zwischen lokaler Einheit und Zentralverwaltung oder weiteren Vermittlungsebenen dar. Im Zuge des 103 Baer, The Village Shaykh, 1969, S 35-37. 104 Davis, Eric: Challenging Colonialism. Bank MiÒr and Egyptian Industrialization, 105 106 107 108

1920-1941. Princeton, 1983, S. 20. Cuno, a.a.O., S. 89. Baer, The Village Shaykh, 1969, S. 37-40. Cuno, The Pasha’s Peasants, 1992, S. 86. al-Sayyid Marsot, Egypt in the Reign of Muhammad Ali, 1984, S. 115.

47

Machtkampfs der Osmanen mit den Mamluken im 18. Jahrhundert und der einhergehenden Dezentralisierung der Administration fungieren zwar die 109 Mamluken als Mittelsmänner zwischen Osmanen und Fellachen. Doch bereits in diesem System hat der Dorfscheich eine wichtige Rolle, da auch die Mamluken, die sich gesellschaftlich nie vollständig integriert haben, auf lokale Vermittler zu den Bauern angewiesen sind. Damit bleiben die Durchsetzung der Anordnungen der Mamluken, der Großteil der landwirtschaftlichen Organisation und auch politische Aufgaben wie Streitschlich110 tung und Strafverfolgung meist in den Händen der Dorfvorsteher. Somit stellen also funktionale und personale Kontinuität die Ausgangsbasis der wirtschaftlichen und politischen Macht der Provinznotabeln dar. Eine Zunahme an Macht erfahren sie zum großen Teil durch ihre Karriere in der zentralstaatlichen Verwaltung.

3.2.2 Einstieg in die Zentralverwaltung unter Mu½ammad þAlÍ Als MuÎammad ÝAlÐ 1805 die Herrschaft als Vizekönig (wÁlÐ) übernimmt, ist sein wichtigstes Anliegen, die zentralstaatliche Macht über die Verwaltung und damit in erster Linie die direkte Kontrolle über die Steuereinnahmen zu erlangen. Hiervon hängen sämtliche Pläne zur Sicherung und zum Ausbau seiner Macht ab, allen voran die Modernisierung der Armee. Hierfür muss er die Mamluken, die die Provinzverwaltung seit dem Rückgang der osmanischen Zentralmacht dominiert haben, ausschalten. Die Mittel hierfür reichen von der Abschaffung von Steuerprivilegien über Enteignungen bis hin zu Massakern an den Mamluken. Auch bei religiösen Stiftungen (waqf, Pl. auqÁf), die von ÝulamÁÞ, Religionsgelehrten, verwaltet werden, kommt es zur Beschneidung von Steuervergünstigungen auf Landei111 gentum und zur Konfiszierung von Boden. Um die Steuereintreibung anzukurbeln, verfolgt MuÎammad ÝAlÐ in der 109 Hamed, Raouf Abbas: The Siyasatname and the Institutionalization of Central Administration under Muhammad ÝAli. In: The State and its Servants. Administration in Egypt from Ottoman Times to the Present. Hrsg. Nelly Hanna, Kairo, 1995, S. 75-86, hier S. 75f. 110 Baer, The Village Shaykh, 1969, S. 37f. 111 Cuno, The Pasha’s Peasants, 1992, S. 106f. Owen, Roger: The Middle East in the World Economy 1800-1914. 2. Aufl. London, 1983, S. 65.

48

ersten Hälfte seiner Regentschaft die bekannte Strategie, die Gelder von Getreuen, in diesem Fall der turko-tscherkessischen Elite, einsammeln zu lassen. Dies erfolgt zunächst innerhalb der Strukturen der alten osmanischen Provinzadministration, die laut Hunter jedoch nur noch rudimentär vorhan112 den ist. Erste Zentralisierungsbestrebungen erkennt Marsot bereits 1814, aber erst 1824 kommt es zu einer grundlegenden Reform, die das System klar hierarchisch umstrukturiert. Hierfür wird Ägypten in Provinzen (Sg.: mudÐrÐya), Departements (Sg.: maÞmÙrÐya), Bezirke (Sg.: qism) und Unterbezirke (Sg.: ÌuÔÔ) unterteilt. In dieser Struktur, die bis zur britischen Besatzung erhalten bleibt, wird jede territoriale Einheit von einer Person geleitet, 113 an oberster Spitze steht MuÎammad ÝAlÐ selbst. Während mit der direkten Administration die Abschaffung des Steuerpachtsystems und die Entmachtung der Mamluken verbunden ist, behält dagegen der Dorfscheich seine Funktionen und untersteht nun dem Leiter des jeweiligen Unterbe114 zirks. Damit wird er auch formal Teil des Verwaltungsapparates. Die Beibehaltung des Amts des Dorfscheichs lässt sich dadurch erklären, dass einheimische Führungspersonen eine bessere Kontrolle über die Fellachen haben und auf diese Weise leichter die kollektiv pro Dorf festgelegten Steuern eintreiben können als die als Fremdmacht empfundenen 115 Turko-Tscherkessen. Weiterhin ermöglicht gerade der kleine lokale Rahmen, in dem der Dorfscheich operiert, eine genauere Beaufsichtigung 116 durch persönliche Kontakte. „[The] long tradition of subservience to external authority made them [die Dorfscheichs; I.W.] ideal agents of the 117 central government“, so Owen. Ob es sich hier wirklich uneingeschränkt 112 al-Sayyid Marsot, Egypt in the Reign of Muhammad Ali, 1984, S. 101f. 113 Rivlin, Agricultural Policy of MuÎammad ÝAlÐ, 1961, S. 87f. Für die einzelnen Ämter S. 89-102. s. auch Hunter, Egypt under the Khedives, 1984, S. 19.

114 Baer, The Village Shaykh, 1969, S. 37f. 115 al-Sayyid Marsot, Egypt in the Reign of Muhammad Ali, 1984, S. 117. Abu-Lughod, Ibrahim: The Transformation of the Egyptian Elite. Prelude to the Urabi Revolt. In: The Middle East Journal, 1967, Vol. 21, Nr. 3, S. 325-344, hier S. 328. Genaueres zur kollektiven Steuererhebung s. Kapitel 3.3.1. 116 Ähnlich wie bei den Scheichs der Gilden und Zünfte, die im jeweiligen Stadtviertel und Beruf individuelle Beziehungen zu den Mitgliedern haben. Vgl. Baer, Gabriel: Egyptian Guilds in Modern Times. Jerusalem, 1964, S. 32. 117 Owen, The Middle East in the World Economy, 1983, S. 65.

49

um ideale Staatsdiener handelt, erscheint zweifelhaft, da die Dorfscheichs durchaus die ihnen von der Zentralmacht gegebenen Rechte zu missbrauchen suchen. So eignen sich beispielsweise einige Scheichs das Land verstorbener oder geflohener Fellachen selbst an, statt es innerhalb der Dorfgemeinschaft zu verteilen. Zudem bietet die Rekrutierung für infrastrukturelle Arbeiten, die von der Zentralmacht angeordnet wird, ein großes Machtpotential für den Scheich, der die Fellachen hierfür auswählt. Die vorgegebene Anzahl erfordertlicher Arbeiter pro Dorf erlaubt es dem Scheich, unliebsame Dorfbewohner für die Zeit der Zwangsarbeit aus dem Weg zu schaffen oder durch den informellen Freikauf von der Arbeit sein 118 Vermögen weiter zu vergrößern. Ob bis in die 1830er Jahre die politische Macht des Dorfscheichs nun zu- oder abnimmt, lässt sich nicht eindeutig klären. Denn einerseits schränkt die starke Zentralgewalt zwar den Spielraum der lokalen Größen ein, gleichzeitig öffnet die Eingliederung der Dorfvorsteher in das Verwaltungswesen ihnen aber die Möglichkeit, den eigenen Einfluss auszubauen. Sicher ist dagegen, dass die Funktionen der Dorfscheichs weitestgehend unverändert geblieben sind im Vergleich zu ihrer Rolle in der mamlukischen Zeit. 119 Ab den 1830er Jahren kommt es zum Aufstieg der Dorfscheichs in der Provinzverwaltung, zunächst bis zum Amt des Bezirksaufsehers (nÁÛir 120 al-qism) und nur gelegentlich bis zum Departementvorsteher (maÞmÙr). Dies lässt sich in erster Linie aus Bedingungen des Zentralstaates und nicht durch einen relevanten Machtzuwachs der Scheichs selbst erklären. Die Gründe, die MuÎammad ÝAlÐ dazu bewegt haben könnten, sind zum einen demographischer und zum anderen politischer Natur. Die bisherige Ver118 al-Sayyid Marsot, Egypt in the Reign of Muhammad Ali, 1984, S. 116. 119 Die meisten Autoren vertreten die Annahme, dass die Ägyptisierung der Verwaltung erst in den 1830er Jahren begonnen habe. Baer, The Village Shaykh, 1969, S. 53f.; Hunter, Egypt’s High Officials, 1983, S. 283; BarakÁt, TaÔawwur al-milkÐya az-zirÁÝÐya fÐ MiÒr, 1977, S.376. Nur bei al-Sayyid Marsot findet sich der Hinweis, dass der administrative Aufstieg bereits Ende der 1820er stattgefunden haben soll, wobei hier wohl die ersten Pläne MuÎammad ÝAlÐs mit der tatsächlichen Öffnung der Verwaltung für Ägypter verwechselt werden: Egypt in the Reign of Muhammad Ali, 1984, S. 117. 120 Baer, History of Landownership, 1962, S. 50.

50

waltungselite aus Turko-Tscherkessen nimmt, wie erwähnt, durch das Ausbleiben neuer Militärsklaven aus dem Kaukasus zahlenmäßig ab. Hinzu kommt, dass einige Türken aufgrund der Bestrebungen MuÎammad ÝAlÐs, die Unabhängigkeit vom Osmanischen Reich zu erlangen, Ägypten verlas121 sen. Hieraus resultiert ein quantitativer Rückgang der Turko-Tscherkessen, der aufgrund des Ausbaus der staatlichen Verwaltung sowohl funktional als auch geographisch einem hohen Bedarf an administrativem Personal gegenübersteht. Durch die Vergrößerung der Armee werden zudem turkotscherkessische Beamte abgezogen und auf militärische Positionen gesetzt, was den Mangel an Verwaltungskräften verschlimmert. Dieser kann somit nur durch die Integration von einheimischen Ägyptern in den Staatsapparat 122 behoben werden. Im Unterschied zum Ausbau des Militärapparats, der bei den unteren Rängen durch die Zwangsrekrutierung von Fellachen erfolgt, geht es bei der Verwaltung jedoch nicht nur um reine Personalaufstockung. Denn wie bereits angedeutet, erfolgt der Aufstieg ruraler Notabeln aufgrund zentralstaatlicher Erwägungen, genauer in Zeiten der erneuten Schwächung der Macht MuÎammad ÝAlÐs vor allem ab 1837. Hierfür ist zum einen der Syrienfeldzug verantwortlich, der aufgrund des Widerstands der Osmanen und der Briten immer teurer und aufwendiger wird und ständig Nachschub an Männern und Finanzmitteln erfordert. Hinzu kommt ein starker Preisverfall der Baumwolle, dem wichtigsten ägyptischen Exportgut für den Weltmarkt, sowie eine Rinderseuche, die die Einnahmen aus der Landwirtschaft 123 zunehmend schwinden lassen. Diese Faktoren führen dazu, dass der Druck, die Staatseinnahmen zu erhöhen, stärker wiegt als das Streben nach zentraler Kontrolle, die letztlich auch von den Staatsfinanzen abhängt. Hieraus erklärt Cuno die Eingliederung ägyptischer Dorfnotabeln in die Verwaltung, da diese aufgrund ihrer Erfahrungen in der Landwirtschaft die Aufgaben der unteren Ränge der Administration, die vor allem mit dem 124 Agrarbereich betraut sind, ausführen könnten. Rivlin sieht in diesem 121 122 123 124

BarakÁt, a.a. O., S. 187. Cuno, The Pasha’s Peasants, 1992, S. 170. Owen, Cotton and the Egyptian Economy, 1969, S. 58-61. Cuno, a.a.O., S. 170.

51

Vorgehen noch weitere Vorteile für MuÎammad ÝAlÐ. Denn die Dorfscheichs haben neben landwirtschaftlichem Know-how auch Einblicke in die Methoden der Fellachen, staatliche Forderungen zu umgehen oder zu lindern. Um sich als Nachfolger der Turko-Tscherkessen zu bewähren, gehen die Scheichs mit besonderer Härte und Konsequenz bei der Steuereintreibung vor. Zudem erweisen sich die Scheichs als kostengünstige Alternative, da MuÎammad ÝAlÐ ihnen weitaus weniger Gehalt zukommen lassen kann, als verwöhnten Turko-Tscherkessen. Zusätzliches Geld holen sich 125 die Scheichs direkt bei den Fellachen, legal und illegal. Noch einmal zusammengefasst: Ägyptische rurale Notabeln werden in der Regentschaft MuÎammad ÝAlÐs zum ersten Mal Teil der staatlichen Verwaltung und erhalten ab den 1830er Jahren Zugang zu höheren Ämtern in der staatlichen Provinzverwaltung. Dieser Aufstieg in der Administration erfolgt aus dem Versuch der Zentralgewalt heraus, die eigene Macht zu sichern und auszubauen, und aus der Einsicht, dass dies der Staat nicht allein, sondern nur durch Vermittlung einflussreicher lokaler Akteure zu erreichen vermag. Auch bei der Einrichtung eines Konsultativrates, den die Dorfscheichs dominieren, ist deren Expertise und in erster Linie deren Kooperationsbereitschaft von Interesse, um die Regierungsaufgaben in ihren 126 Dörfern auszuführen oder zu unterstützen. Die wichtigen Führungsposten jedoch bleiben in der Hand der turko-tscherkessischen Militärelite und vor allem in der der Familie MuÎammad ÝAlÐs. Für die ruralen Notabeln bedeutet die Aufwertung des Dorfscheichs weitere Möglichkeiten, Reichtum und Macht auf lokaler Ebene zu akkumulieren.

3.2.3 Entwicklung bis IsmÁþÍl: Festigung der Macht auf unteren Positionen und Aufbau von Netzwerken 127

Die Dorfscheichs erhalten unter Vizekönig ÝAbbÁs (1848–1854) offiziell weitere Kompetenzen wie die Einberufung von Fellachen zur Zwangsarbeit und zum Militärdienst, wodurch weitere Möglichkeiten für Bestechung und 125 Rivlin, Agricultural Policy of MuÎammad ÝAlÐ, 1961, S. 110. 126 Genaueres zum Konsultativrat s. Kap. 4.1. 127 MuÎammad ÝAlÐ gibt 1848 wegen Altersschwäche die Herrschaft an seinen Sohn IbrÁhÐm weiter. Dieser stirbt jedoch nach nur neun Monaten an der Regierung, worauf sein Neffe ÝAbbÁs auf den Thron folgt.

52

im weiteren Sinne für den Machtausbau der ruralen Familien, die den Dorf128 scheich stellen, gegeben werden. ÝAbbÁs will damit die Dorfvorsteher zu einer strengeren Kontrolle der Fellachen befähigen. Dabei ist er sich einer möglichen Allianz von Scheichs und Fellachen gegen die Zentralmacht bewusst und versucht gezielt, rurale Notabeln gegen andere Gruppen wie die 129 Beduinenstämme auszuspielen. Insgesamt verändert sich die Lage der ruralen Notabeln auf der politisch-administrativen Ebene nicht. Ihre Rolle als Vermittler bleibt erhalten und darauf beschränkt. Im Gegensatz dazu erkennt man in Regierungszeit SaÝÐds (1854–1863), des vierten Sohns MuÎammad ÝAlÐs, tatsächlich eine Reihe von Neuerungen. So bekommen ägyptische Notabeln zum ersten Mal Verwaltungspos130 ten bis hin zum Provinzvorsteher (mudÐr). Laut Baer betreibt SaÝÐd eine gezielte Ägyptisierung der Verwaltung, so dass am Ende seiner Regentschaft die Mehrheit der turko-tscherkessischen Beamten entlassen ist. Ähnliche Bestrebungen hinsichtlich der Armee scheitern schließlich, wohl auf131 grund mangelnder Kompetenz des ägyptischen Militärpersonals. Als auf den ersten Blick widersprüchlich erscheint hier SaÝÐds Vorgehen beim Beschneiden der Rechte des Dorfscheichs, indem er ihm die mächtigen Auf132 gabenfelder der Landverteilung und der Steueraufteilung wegnimmt. Baer betont, dass SaÝÐd wohl zum Ausbau der eigenen Macht den Einfluss der Dorfscheichs brechen wollte. So stellt er 1855 die Ausbeutung der Fellachen unter Strafe. Kurz: Die autonome Machtbasis der Dorfscheichs wird beschnitten, die Anbindung an den Zentralstaat über Verwaltungsposten hingegen wird enger. Inwiefern es tatsächlich zu einer kompletten Übernahme von administrativen Spitzenposten durch Ägypter kommt, ist umstritten. So gibt es die Auffassung, der Aufstieg der ägyptischen Landnotabeln in der Verwaltung erfahre weitere Dynamik unter IsmÁÝÐl (1863–1879), was zumeist auf den 128 129 130 131

Baer, The Village Shaykh, 1969, S. 49. ebd., S. 55. Baer, History of Landownership, 1962, S. 50. Baer, Gabriel: Social Change in Egypt. In: Political and Social Change in Modern Egypt. Historical Studies from the Ottoman Conquest to the United Arab Republic. Hrsg. P.M. Holt, London, 1968, S. 135-161; hier S. 149f. 132 Baer, The Village Shaykh, 1969, S. 40.

53

Berichten des britischen Zeitzeugen McCoan beruht. Dieser behauptet, am Ende der Regentschaft 1879 seien die meisten höheren Posten in der Pro133 vinzverwaltung von Ägyptern besetzt gewesen. Dies wird von Abu-Lug134 hod übernommen, von Schölch jedoch mit Verweisen auf Verzeichnisse der Herrschaftspositionen scharf angegriffen, die das Gegenteil beweisen sollen, nämlich, dass die Herrscherelite auch am Ende der Regierungszeit 135 IsmÁÝÐls von Turko-Tscherkessen dominiert wird. Gleichzeitig räumt Schölch ein, dass eine temporäre Übernahme der Provinzverwaltung durch ägyptische Notabeln zwischen 1869 und 1871 stattgefunden habe, was als Versuch der Emanzipation vom osmanischen Sultan zu verstehen sei. Als das Verhältnis zu diesem neu geregelt ist, sind auch die Ägypter auf den höheren Posten nicht mehr erwünscht, zumal sie laut Schölch die Verwal136 tung schlechter geführt hätten als ihre turko-tscherkessischen Vorgänger. Selbst wenn die Spitzenpositionen in der Provinzadministration ägyptischen Notabeln tatsächlich auf längere Zeit versperrt bleiben, bauen die Notabeln ihre Macht auf anderen Ebenen aus. Dies erfolgt mit der Übernahme zahlreicher anderer Ämter im weiteren administrativen Netzwerk der Provinzen wie Richterposten, Mitgliedschaften in ruralen Verwaltungsräten oder Managementarbeiten auf den landwirtschaftlichen Betrieben der 137 Herrscherfamilie. Die Debatte über die Ägyptisierung der Verwaltung geht einher mit der Frage nach der Assimilation der Turko-Tscherkessen im Lauf des 19. Jahrhunderts. So ist für MuÎammad ÝAlÐ trotz der Öffnung der Armee und Verwaltung für einheimische Ägypter die Ethnizität nach wie vor ausschlaggebend für die eigentliche Führung des Landes. Eine eigene Sprache und Kultur in Kombination mit der Monopolisierung der mächtigen Stellen im Land bilden den Kern der Identität der turko-tscherkessischen Elite. Diese wird von der ägyptischen Bevölkerung als ÆawÁt bezeichnet wird, was so 133 134 135 136 137

54

McCoan, J.C.: Egypt as it is. 2.Aufl. London, 1880, S. 115. Abu-Lughod, Transformation of the Egyptian Elite, 1967, S. 339. Schölch, Ägypten den Ägyptern, 1972, S. 277. ebd., S. 36f. EzzelArab, European Control, 2002, S. 36. Hunter, Robert F.: The Making of a Notable Politician: Muhammad Sultan Pasha (1825-1884). In: International Journal of Middle East Studies, 1983, Nr.15, S. 537-544, hier S. 539.

viel bedeutet wie „vornehme Herren“. Marsot zeigt jedoch detailliert, wie bereits MuÎammad ÝAlÐs Sohn IbrahÐm diese strikte Trennung überwinden will und versucht, seinen Vater vom Auswahlkriterium der ethnischen Ab138 stammung abzubringen. Letztlich sehen die meisten Autoren das Aufweichen der ethnischen Grenzen jedoch nicht als intendierten Prozess an. Vielmehr führt dies Abu-Lughod auf das Ausbleiben neuer tscherkessischer Militärsklaven einerseits und auf den größer werdenden direkten Kontakt der Turko-Tscherkessen mit Ägyptern in der Verwaltung andererseits zurück. Letzteres bedeutet vor allem, dass sich Arabisch als Amtssprache immer weiter ausbreitet, was MuÎammad ÝAlÐ selbst fördert. So werden zu seiner Zeit arabische Schulbücher geschrieben, der Unterricht in Grundschulen wird auf Arabisch gehalten. Dabei soll in erster Linie die bessere Ausbildung der Ägypter einer expandierenden Verwaltung das nötige effiziente Personal bereitstellen. Hierdurch wird Arabisch de facto graduell zur Verwaltungssprache. Die Festsetzung des Arabischen als offizielle Landessprache erfolgt jedoch erst unter IsmÁÝÐl 1869. Neben der sprachlichen Assimilation der Turko-Tscherkessen kommt es aber auch zu sozialen Annäherungen durch Mischehen und zu zunehmender Kongruenz ökonomischer Interessen der turko-tscherkessischen Elite mit ägyptischen Provinznotabeln, die beide bis in die 1870er Jahre zu 139 Großgrundbesitzern aufsteigen. Abu-Lughod diagnostiziert bei der Untersuchung der Assimilationsprozesse das Entstehen einer Mischgeneration von Turko-Ägyptern. Cole spricht wie einige andere Autoren von Ottoman-Egyptians, um auszudrücken, dass diese Gruppe eine starke Bindung an das Osmanische Reich hat und sich dennoch auch durch lokal-ägyptische Einflüsse eigenständig weiterentwickelt. Die Frage, welcher der Identitätsfaktoren der dominierende ist, wird kontrovers beantwortet. Während 140 Toledano die osmanischen Einflüsse für die relevanteren hält, sieht al-Sayyid Marsot die Eigenständigkeit der Osmano-Ägypter in Sprache, In141 teressen und Sitten als gegeben an. Interessant ist, dass sich die osma138 139 140 141

al-Sayyid Marsot, Egypt in the Reign of Muhammad Ali, 1984, S. 131. Abu-Lughod, Transformation of the Egyptian Elite, 1967, S. 328-330, 335, 338f. Toledano, State and Society, 1990, S.77-87. al-Sayyid Marsot, privat an Cole, vgl. Cole, Colonialism and Revolution, 1993, S. 31.

55

no-ägyptische Elite zur Zeit der ÝUrÁbÐ-Bewegung in eine pro-ägyptische Gruppe einerseits und eine pro-osmanisch und pro-europäische andererseits 142 gespalten hat. In Kapitel 4.5 wird diese Gruppenbildung entlang politischer Positionen und nicht mehr gemäß ethnischer Zugehörigkeit noch klarer werden. Wie deutlich wurde, nimmt sich der Assimilationsgrad der TurkoTscherkessen im Lauf des 19. Jahrhunderts zu, aber es ist bisher nicht möglich genau zu bestimmen, ab wann aus Turko-Tscherkessen Turko-Ägypter geworden sind. Dies wird zudem komplizierter, da in der Armee beispiels143 weise kein Assimilationsprozess stattfindet. Aus Gründen der Pragmatik werden daher in dieser Arbeit die Bezeichnungen Turko-Tscherkessen und ÆawÁt durchgehend verwendet und der Aspekt der Assimilation nur an den inhaltlich notwendigen Stellen wieder aufgegriffen, ohne dies in der Terminologie auszudrücken. Generell kann man also festhalten, dass die Machtposition der Provinznotabeln trotz der schwankenden Gunst der Herrscher im Lauf des Jahrhunderts zunimmt. Zudem gelingt es einigen Provinznotabeln, zu Großgrundbesitzern aufzusteigen. Dies hängt wiederum eng mit der Entstehung beziehungsweise Entwicklung privaten Landeigentums zusammen, was es im Folgenden zu erläutern gilt.

3.3

Vom Dorfscheich zum Großgrundbesitzer

3.3.1 Privates Grundeigentum – Neuentstehung oder Weiterentwicklung? Der Aufstieg ruraler Notabeln zu Großgrundbesitzern hängt eng mit der Entwicklung des privaten Landeigentums zusammen, allgemein definiert als das exklusive Besitz-, Verfügungs- und Nutzungsrecht über Grund und Boden. Hierbei hat sich eine Debatte darüber entwickelt, ob das private Landeigentum in Ägypten eine durch europäische Einflüsse entstandene 144 Neuerung des 19. Jahrhunderts darstellt oder ob bestimmte Entwicklungen 142 ebd., S. 31f. 143 Siehe Kapitel 4.5.1. 144 Zum Beispiel: Tignor, Robert L.: Modernization and British Colonial Rule in Egypt, 1882-1914. Princeton, 1966, S. 29.

56

bezüglich Landeigentum aus innerägyptischen Prozessen heraus zu verstehen 145 sind. Für die Annahme, privater Landbesitz sei etwas Ägypten Fremdes, könnten folgende Beobachtungen sprechen. Zum Ersten ist nach den vier sunnitischen Rechtsschulen der Sultan Eigentümer allen Landes, der nur Nutzungsrechte vergibt, womit die Vorschriften der šarÐÝa in Sachen Eigentum für die tatsächlichen Bewirtschafter des Landes keine Gültigkeit besit146 zen, es also kein Privateigentum gibt. Zweitens wurden die Landsteuern kollektiv pro Dorf festgesetzt und entweder direkt durch einen Beamten oder vom Dorfscheich eingesammelt und weiter an die Zentralregierung 147 gegeben. Drittens findet sich erst im 19. Jahrhundert eine starke Tendenz, Besitz zu reglementieren und zu formalisieren, so dass man dies aufgrund der zeitlichen Überschneidung mit europäischen Einflüssen erklären könnte. So lässt MuÎammad ÝAlÐ zum ersten Mal eine Katastererfassung anfertigen und damit Besitz registrieren. Unter SaÝÐd werden schließlich Gesetze erlassen, die die Veräußerung, Vererbung und Verpfändung von Land regeln, darunter auch das Landgesetz von 1858, das – unter anderem von Gabriel Baer – für die wichtigste Etappe zur Einführung von privatem 148 Landbesitz gehalten wird. Zum Abschluss der Entwicklung sei es schließlich unter IsmÁÝÐl gekommen, der 1871 mit dem Gesetz der muqÁbala (dt.: Austausch) gegen eine sechsjährige Vorauszahlung der entsprechenden 149 Steuer volle Eigentumsrechte für das jeweilige Stück Land vergibt. Die genauere Überprüfung der Argumente zeigt jedoch, dass erstens nicht alle sunnitischen Rechtsschulen dieselbe unveränderliche Position bezüglich privaten Landeigentums seit der präklassischen Phase im 10. Jahrhundert vertreten haben. Wie Baber Johansen betont, haben bereits frühe Studien im 19. Jahrhundert gezeigt, dass die klassische hanafitische Schule sehr wohl das private Landeigentum des Bauern anerkannte, das mit Zah-

145 146 147 148 149

Unter anderen: Gran, Islamic Roots of Capitalism, 1979. Cuno, The Pasha’s Peasants, 1992, S. 22f., S. 34. ebd., S. 19. Baer, History of Landownership, 1962, S. 8. ebd., S. 10.

57

150

151

lungen der ÌarÁÊ- oder Ýušr-Steuer verbunden war. Dies habe sich erst im Osmanischen Reich durch die Umdeutung der Doktrinen der klassischen Juristen geändert, die den Bauern nicht mehr als Eigentümer sehen, die Landsteuer zahlen, sondern vielmehr eine Miete an den eigentlichen Eigentümer, das heißt an den Staat, einen Steuerpächter oder religiöse Stif152 tungen. Diese Modifikationen sind, so Johansen, in ihrem politischen Kontext zu sehen, in dem der osmanische Sultan um die Mitte des 15. Jahrhunderts versucht, sich möglichst viel Land anzueignen und an die eigene Familie zu verteilen. Daraus entwickelt sich im 16. Jahrhundert im Osmanischen Reich die Annahme, das gesamte Land sei prinzipiell Eigentum 153 des Sultans. Es lässt sich also festhalten, dass die Regelungen bezüglich privaten Landeigentums nicht einem vermeintlich starrem, unveränderbaren islamischem Recht folgen, sondern dem jeweiligen soziopolitischen Kontext über die Jahrhunderte hinweg angepasst werden. Zweitens ist die Annahme der Modernisierungstheoretiker, die privates Landeigentum erst durch europäischen Einfluss eingeführt sehen, bei genauerem Hinsehen nicht von Bestand, da sie von kollektiver Steuereintreibung automatisch auf kollektiven Landbesitz schließen. Denn das kollektive Verwalten und Bestellen von Ländereien findet tatsächlich nur in Oberägypten Anwendung, da dort aufgrund sehr unterschiedlich ausfallender Nilfluten große Schwankungen der bestellbaren Fläche auftreten, weshalb die Ackerverteilung jedes Jahr neu gemeinschaftlich geregelt werden 154 muss. Die Tatsache, dass Steuern auch im Rest des Landes pro Dorf festgesetzt werden, sollte dabei nicht in die Irre führen. Denn der gemeinsam aufzubringende Steuerbetrag wird vom Dorfscheich, dem Steuerpächter

150 Mit den Bezeichnungen der Steuerarten ist mit Vorsicht umzugehen, da die Bedeu151 152 153 154 58

tung der klassischen Begriffe von ihrer späteren Verwendung in Ägypten im 19. Jahrhundert zum Teil stark abweicht. Vgl. auch Anm. 79. Johansen, Baber: The Islamic Law on Land Tax and Rent: The Peasants’ Loss of Property Rights as Interpreted in the Hanafite Legal Literature for the Mamluk and Ottoman Periods. London, 1988, S. 7-19. ebd., S. 69. ebd., S. 81. Owen, Cotton and the Egyptian Economy, 1969, S. 4.

oder einem staatlichen Beamten unter den einzelnen Fellachen gemäß der 155 Größe ihrer Felder aufgeteilt und einzeln eingetrieben. Drittens ist es höchst problematisch bei der Einschätzung des Privatbesitzes als Phänomen der Moderne, allein die Entwicklung de iure zu betrachten. Demnach stimmt es zwar, dass die osmanischen Juristen alles Land rechtmäßig dem Sultan zusprechen. Für die Praxis des Osmanischen Reichs jedoch skizziert Cuno das Bild einer geteilten Landkontrolle zwischen Sultan, verschiedenen Formen von Mittelsmännern und Bauern. Hierbei hat der Sultan das Recht, Steuern zu erheben und Zwangsarbeit zur Instandhaltung der Bewässerungsinfrastruktur anzuordnen. Die Institution der Vermittler entweder durch das Militär oder einen Steuerpächter (multazim, Pl.: multazimÙn; Steuerpacht: iltizÁm) hat die Aufgabe, die Steuern einzutreiben, für die Durchführung der Zwangsarbeit zu sorgen und gegebenenfalls die Bauern mit Produktionsmitteln wie Saatgut zu versorgen. Die Einnahmequelle des multazim besteht in erster Linie aus dem Überschuss (fÁÞiÃ) der eingetriebenen Steuern nach Abzug der abzuliefernden Grundsteuer (mÐrÐ). Zudem bekommt er ein Stück Land (arà al-Ùsya) zugeteilt, das er zu seinem eigenen Profit von Fellachen mit geringer bis gar 156 keiner Entlohnung bewirtschaften lassen darf. Der Bauer hat dafür das Recht, sein Land zu bestellen und nach Abgabe der Steuern den Rest seiner Erzeugnisse zu behalten. Solange der Fellache die geforderten Abgaben leistet, darf er weder von seinem Land vertrieben noch in seiner Freiheit 157 bezüglich der Fruchtwahl beschränkt werden. Damit diese Aufteilung in der Praxis funktioniert, bedarf es einer starken Zentralgewalt, die vor allem die Mittelsmänner unter Kontrolle hält. Ab dem Ende des 17. Jahrhunderts jedoch wird von einer in den Provinzen schwächer werdenden osmanischen Zentralgewalt der iltizÁm zu einem lebenslangen und sogar vererbbaren Besitz gemacht. Dies führt nach Cuno 155 Beinin, Joel: Workers and Peasants in the Modern Middle East. Cambridge, 2001, S. 13.

156 Richards, Alan: Egypt’s Agricultural Development, 1800-1980. Technical and Social Change. Boulder, 1982. S. 10.

157 Cuno, Kenneth M.: The Origins of Private Ownership of Land in Egypt: A Reappraisal. In: International Journal of Middle East Studies, 1980, Nr. 12, S. 245275, S. 246.

59

zur Entwicklung der iltizÁm-Besitzer zu einer „semi-hereditary rentier 158 class“ und zur „transformation of the iltizam from what was originially a 159 state office into a form of pseudo-property“. Auch Baer, der sich in A History of Landownership in Modern Egypt 1800–1950 bei der Entwicklung des privaten Landbesitzes an den formalen Reglementierungsetappen orientiert, stellt fest: „IltizÁm came more and more to resemble full private owner160 ship, though this was never officially recognized“. Doch diese Entwicklung des iltizÁm ist nicht beständig und vor allem als Privatbesitz in keiner Weise geschützt. Mit den Versuchen der Mamlukenherrscher von ÝAlÐ Bey al-KabÐr bis IbrahÐm Bey 1798, die zentralstaatliche Kontrolle über ganz Ägypten durch den Ausbau militärischer Macht zu erhalten, kommt es zur Enteignung der multazimÙn, die den Großteil der eingenommenen Steuern für sich behalten haben, und der Vergabe des Landes an Getreue, um aus den Mehreinnahmen Armeereformen zu finanzieren. Derselbe Ansatz zur Erhöhung der Staatseinnahmen wird von den Franzosen in ihrer dreijährigen Besatzung bis 1801 verfolgt sowie vom osmanischen Gouverneur nach dem Abzug der Franzosen. Doch erst MuÎammad ÝAlÐ (1805–1849) gelingt es, die Einnahmen aus der Landwirtschaft unter seine Kontrolle zu bekommen. Dies erreicht er durch Massaker an den Mamluken (das bekannteste 1811), die die mächtigsten Gegner der Abschaffung des iltizÁm bildeten. Weiterhin zahlt er Entschädigungen für Enteignete, die jedoch eher spärlich ausfallen. Darüber hinaus eignet er sich waqf-Land an, indem er den religiösen Stiftungen die Pflicht auferlegt, spezielle Beweise für das Eigentum des bestimmten Landes vorzulegen, die 161 jedoch derart mannigfaltig sind, dass sie kaum zu erbringen sind. Für die Entwicklung des Privateigentums bedeutet dieses Vorgehen, dass bei Erstarken des Zentralstaates das Steuerpachtland, das in der Praxis als Privateigentum anzusehen ist, wieder in die Hände der Zentralmacht fällt. Man kann also nicht von einem rechtlich gesicherten Eigentum sprechen, obwohl gerade die zuletzt genannten Methoden MuÎammad ÝAlÐs bei 158 159 160 161 60

Cuno, The Pasha’s Peasants, 1992, S. 33. ebd., S. 33. Baer, History of Landownership, 1962, S. 2. Owen, The Middle East in the World Economy, 1983, S. 64f.

der Enteignung gezeigt haben, dass auch der Staat seine Eingriffe zu kompensieren und zu rechtfertigen sucht und sich daher seiner Verstöße gegen de facto geltendes Recht durchaus bewusst ist.

3.3.2 Privater Landbesitz: Ergebnis staatlicher Schwäche und wirtschaftlicher Transformation Doch obgleich es Privatbesitz phasenweise, wenn auch ohne Rechtssicherheit gegeben hat, ist die Fragen immer noch offen, wie nun die zunehmende Tendenz zur schriftlichen Registrierung von Landbesitz, die Einführung von Gerichten zur Regelung von Landstreitigkeiten und die Gesetze zur Sicherung von privatem Landeigentum im Lauf des 19. Jahrhunderts zu erklären sind. Meines Erachtens muss die Antwort zwei sich gegenseitig beeinflussende Aspekte berücksichtigen. Der erste ist die Entwicklung des Zentralstaates, der zweite ist die Veränderung der Landwirtschaft hin zum Anbau von cash crops, also primär für den Markt produzierten Feldfrüchten. Um eine möglichst starke Zentralgewalt zu erhalten, ist der Herrscher auf ausreichende Einnahmen vor allem aus einem effektiven Steuersystem angewiesen. Im Fall Ägyptens sind es die Reformen zur Modernisierung der Armee, um sich vom Osmanischen Reich emanzipieren zu können, die hohe Summen verschlingen. Sich hierfür die Gelder aus der Landwirtschaft zu sichern, erklärt zunächst die Verrechtlichung im Bereich des Landbesitzes, die die Effizienz der Besteuerung erhöhen soll. Zu diesem Zweck wird beispielsweise die Steuereintreibung Staatsbeamten direkt übertragen und 162 das korruptionsanfällige System des iltizÁm abgeschafft. Gerade auf lokaler Ebene wird in hohem Maße mit den Dorfvorstehern kooperiert. Verbunden mit der Kontrolle über Produktion und Handel versucht sich MuÎammad ÝAlÐ somit den größten Anteil an den agrarwirtschaftlichen Gewinnen zu sichern. Diese Reformen werden jedoch durch die bahnbrechende Umstrukturierung der Landwirtschaft von Subsistenz hin zur Produktion für den Weltmarkt konterkariert. Die wichtigste von oben verordnete Innovation ist hierbei der Anbau langfaseriger Baumwolle, nach der in Europa große Nachfrage besteht und mit der sich mit einem Regierungsmonopol bei gu162 Baer, History of Landownership, 1962, S. 1-7. 61

ten Ernten hohe Einnahmen erzielen lassen, die zum Teil bis zu ein Viertel des gesamten Budgets betragen. Auf der anderen Seite bedeuten Preisschwankungen der Baumwolle auf dem Weltmarkt eine hohe Instabilität 163 für die ägyptischen Finanzen. Verluste auf der Exportseite versucht man durch höhere Steuern aufzufangen, was die Situation auf dem Land verschlimmert. Zudem reduzieren die Zwangsarbeit an den Kanälen und die Zwangsrekrutierung von Fellachen für die Armee die Arbeitskraft im Agrarsektor, was gerade beim arbeitsintensiven Baumwollanbau fatale Folgen hat. In die Zahlungsunfähigkeit geratene Bauern fliehen von ihren Ländereien, was die bestellte Landfläche und die sich daraus ergebenden Staatseinnahmen weiter verringert. In diesen Phasen belastet die Überzentralisierung der staatlichen Verwaltung, die weder Korruption noch Misswirtschaft beseitigen konnte, die öffentliche Kasse zusätzlich, so dass 1837 MuÎammad ÝAlÐ die rurale Verwaltung umzustrukturieren beginnt. Wie Owen feststellt, ist das neu eingerichtete System „in many ways a 164 return to that of the iltizams which had been finally abolished in 1814“ . Beamten, Offizieren und anderen Vermögenden wird hierbei Land übertragen, dessen ausstehende Steuerschuld von diesen zunächst beglichen werden muss und in der Zukunft garantiert werden soll. Auf diesen Ländereien, Ýuhda genannt, darf der mutaÝahhid (Pl.: mutaÝahhidÙn), der neue Eigentümer, Fellachen umsonst für sich arbeiten lassen, muss aber dafür selbst für Arbeitsmittel aufkommen sowie juristische und exekutive Funktionen ausüben. Die Agrarprodukte werden weiterhin zu staatlich fixierten Preisen abgenommen. Solange also die Monopole der Regierung aufrecht erhalten bleiben, gliedert der Staat mit dem Ýuhda-System nur die finanziellen Lasten der Agrarwirtschaft an private Akteure aus, die großen Gewinne blei165 ben zunächst auf seiner Seite. Dieser Logik folgt auch die Landvergabe als Kompensation für Pensionszahlungen in Form der Ùsya und bei ibÝÁdÐya-Land, mit dem Unterschied, dass es sich bei letzterem um bisher brachliegendes Land handelt, in das erst Investitionen fließen müssen, bevor der Anbau von Nutzpflanzen möglich ist. Zusammen mit den Êiflik163 Owen, Cotton and the Egyptian Economy, 1969, S. 41. 164 Owen, Cotton and the Egyptian Economy, 1969, S. 60. 165 ebd., S. 60; Davis, Challenging Colonialism, 1983, S. 20. 62

Ländereien, brachliegendem Land, das an Mitglieder der Familie des Vizekönigs verteilt und auf das keine Steuern erhoben wird, bilden diese neuen Arten von Landbesitz die Möglichkeit für einen schwachen Zentralstaat, private Investitionen in die Landwirtschaft anzukurbeln und damit die staatlichen Ausgaben zu senken, aber gleichzeitig die Einnahmequellen aus 166 dem Agrarsektor zu sichern. Als Gegenleistung und Anreiz zur Übernahme dieser Kosten bietet MuÎammad ÝAlÐ ab 1836 über Nutzungsrechte hinaus die Möglichkeit, das ibÝÁdÐya-Land dem ältesten Sohn zu vererben. Ab 1842 wird der Transfer und Verkauf sowie die Verpfändung des Landes erlaubt. Baer bewertet diesen Trend klar als Entwicklung hin zu vollem privatem Landbesitz „taken in response to the awakening of private initiative and the development of agriculture, and with the intention of encouraging these trends still 167 further“.

3.3.3 Konzentration von Landbesitz Ein weiteres Interesse an der Umstrukturierung der ruralen Verwaltung kommt auf mit der Anglo-Osmanischen Konvention von 1838, in der im gesamtem Osmanischen Reich ein Verbot von Handelsmonopolen erlassen wird. In Ägypten tritt es 1841 in Kraft. Durch die Schaffung großer Ländereien, die sich in erster Linie in den Händen von MuÎammad ÝAlÐ und seiner Familie konzentrieren, kann der Vizekönig für eine gewisse Zeit inoffiziell den Handel weiter kontrollieren. Doch lange kann sich dieses Konzept nicht halten, das die Kosten der Landwirtschaft privatisiert und sogar einen Großteil staatlicher Macht an rurale Akteure abgibt, die großen Gewinne aber in staatlicher Hand zu halten sucht. Gerade der Anreiz hoher Preise für Agrarprodukte auf dem freien Markt führt zur Umgehung und Aufwei168 chung der faktisch noch bis 1848 existierenden Regierungsmonopole. Mit dem Ende der Monopole wird Landbesitz noch attraktiver. Unter 166 SaÝÐd führt auf diese drei Besitztypen 1854 die Ýušr-Steuer (dt. Zehnt) ein, die auch als Privileg gesehen werden kann, da sie stets niedriger ausfällt als die ÌarÁÊÐyaSteuer, die auf alle anderen Arten von Ländereien erhoben wird. Baer, History of Landownership, 1962, S.18f. 167 ebd., S. 7. 168 Owen, Cotton and the Egyptian Economy, 1969, S. 65-67.

63

dem Pachtsystem Ýuhda kommt es zur Anhäufung beträchtlichen Besitzes, und auch nach der Abschaffung des Ýuhda-Systems unter ÝAbbÁs gelingt es vielen ehemaligen mutaÝahhidÙn, ihr Land zu behalten und zum Teil sogar in Privatbesitz oder eine Familienstiftung umzuwandeln und damit vor Eingriffen des Staates zu schützen. Leider fehlen für diese Entwicklungen offizielle Dokumente, die dies belegen könnten. Allein anhand von Beispielen, die die Kontinuität von Landbesitz in den Händen bestimmter Familien zei169 gen, kann dies bestätigt werden. Man erkennt also eine Entwicklung, die Landbesitz profitabel für diejenigen macht, die genügend Kapital für Investitionen haben, die der Staat nicht aufbringen kann. Diese sind umso rentabler, je größer die Anbauflächen sind. Hieraus lässt sich wiederum das Streben nach immer größerem Landbesitz erklären. Die größten Profiteure hierbei sind Angehörige der vizeköniglichen Familie. So kommt es unter jedem Herrscher zu einer stetig ansteigenden Landakkumulation, so dass bis zum Ende der jeweiligen Regierungszeit ÝAbbÁs 67.000, SaÝÐd 77.000 und IsmÁÝÐl schließlich eine Million Feddan Land besitzen, wobei letzterer damit über 22% der gesamten 170 landwirtschaftlich genutzten Fläche Ägyptens verfügt. An zweiter Stelle der Begünstigten stehen hohe turko-tscherkessische Beamte und Armeeoffiziere, die für ihre Loyalität immer wieder mit Ländereien belohnt werden. 171 Die nächste Gruppe, die Anteil an der Aneignung größerer Ländereien hat, sind Dorfscheichs und Ýumdas. Diese kommen zum einen auf offizielle Weise an Landbesitz, den MuÎammad ÝAlÐ ihnen aufgrund ihrer Stellung zuteilt und der von Steuern befreit ist. Unter SaÝÐd wird jedoch aufgrund der Ausbeutung der Fellachen durch die Dorfscheichs dieses Land verstaatlicht und die Nutzungsrechte werden den Bauern zurückgegeben. Damit gehen die Scheichs verstärkt auf informelle Methoden zur Landaneignung über, die sich aufgrund ihrer gewichtigen Stellung auch durch die politische Funktion als Repräsentanten der Regierung im lokalen Bereich in großem Umfang ergeben. Fast alle Aufgaben, wie sie in 3.2.1 dargelegt wurden, können für die Aneignung von Land missbraucht werden. Die Klassifizie169 Einige Beispiele gesammelt bei Baer, History of Landownership, 1962, S. 15. 170 Toledano, State and Society, 1990, S. 65. 171 Baer, a.a.O., S. 46-48. 64

rung von Land für die Besteuerung eröffnet die Möglichkeit, Land als brachliegend einzustufen und Steuerfreiheit darauf zu erhalten. Beim Tod eines Fellachen ohne direkten Erben kann der Scheich, statt den Fall der Verwaltung zu melden und damit das Land dem Staat zurückzugeben, sich die Anbaufläche selbst aneignen. Durch Kredite an bankrotte Bauern nehmen die Ýumdas sukzessiv die Kontrolle über die jeweiligen Felder ein. Durch die Rekrutierung von Zwangsarbeitern und Soldaten aus der Dorfbevölkerung heraus haben die Scheichs zusätzlich ein mächtiges Mittel, um Protest gegen ihren Missbrauch bei der Landübernahme im Keim zu ersti172 cken. Der parallel verlaufende Aufstieg in der Verwaltung (siehe Kapitel 3.2.2) begünstigt diese Entwicklung weiter. Während also der Besitz der ÆawÁt hauptsächlich auf Zuweisungen des Vizekönigs beruht, liegt die Ursache für Großgrundbesitz in den Händen der Scheichs in ihrer privilegierten Stellung im Dorf, die sie bereits im 18. Jahrhundert besitzen und die durch die Verwaltungsreformen MuÎammad ÝAlÐs weiteren Ausbau erfährt. In diesem Zusammenhang lassen sich nun die verschiedenen Etappen der Formalisierung der Eigentumsrechte einordnen. Nach den bereits dargestellten Landgesetzen unter MuÎammad ÝAlÐ bis 1847 gelten als der wichtigste Schritt die neuen Gesetze von SaÝÐd 1855 und 1858, durch die vor allem das Landnutzungsrecht der Fellachen um das der Veräußerung und Vererbung der Äcker erweitert wird. Beim muqÁbala-Gesetz von 1871 wird gegen eine Vorauszahlung der Landsteuern für sechs Jahre das volle 173 Eigentumsrecht für das betreffende Stück Land gewährt. Wie Cuno darlegt, haben diese Gesetze in erster Linie gemeinsam, dass sie Eigentumsrechte nicht als Wert an sich einführen beziehungsweise sichern sollen, sondern gewährleisten sollen, dass das zu bestellende Land möglichst in die Hände zahlungsfähiger Personen gelangt, um die Steuergelder am Flie174 ßen zu halten. Das bedeutet weiter, dass die Landgesetze im 19. Jahrhundert die Konzentration des Grundeigentums in den Händen wirtschaftlicher 172 Baer, History of Landownership, 1962, S. 51-53. Owen, Cotton and the Egyptian Economy, 1969, S. 63.

173 Ausführliche Behandlung findet das muqÁbala-Gesetz in Kap. 4.3., da es über Jahre hinweg ein zentrales Thema der Delegiertenkammer ist und viel über das Verhältnis von Regierung und maÊlis aussagt. 174 Cuno, The Pasha’s Peasants, 1992, S. 202.

65

Eliten fördern und dass andersherum die bereits Vermögenden in diesem System einen weiteren Aufstieg erfahren. Beschleunigt wird dieser Prozess durch den Baumwollboom 1861–66, ausgelöst durch den amerikanischen Bürgerkrieg, der die Baumwolllieferungen aus den Südstaaten zum Erliegen bringt und damit die Weltmarktpreise sprunghaft ansteigen lässt. Im letzten Jahr des Baumwollbooms lässt der Khedive IsmÁÝÐl den maÊlis šÙrÁ n-nuwwÁb einrichten, eine Versammlung, in der Vertreter ruraler Notabelnfamilien zusammenkommen, die sowohl in der Verwaltung als auch als Großgrundbesitzer eine herausragende sozioökonomische Stellung erreicht haben. Fünfzehn Jahre nach der Errichtung dieser Kammer werden sich die Delegierten, deren Zusammensetzung sich in dieser Zeit kaum verändert, einer Bewegung anschließen, die auf tiefgreifende Reformen des bestehenden politischen Systems drängen wird und die schließlich als Anlass für die Briten dient, die direkte Kontrolle über Ägypten zu übernehmen. Kapitel 3.2 und 3.3 haben gezeigt, dass die ruralen ägyptischen Notabeln, die die Delegierten der Kammer ab 1866 stellen, einer sozialen Gruppe entstammen, die das 19. Jahrhundert vor allem als sozioökonomischen Aufstieg erlebt hat. Für die Widerlegung des Arguments des Kollaps-an-derPeripherie bedeutet dies, dass die Abgeordneten in der ÝUrÁbÐ-Bewegung nicht durch ein Zusammenbrechen interner Strukturen aufgrund der europäischen Penetration geschwächt sind. Vielmehr handelt es sich um Akteure mit neu gewonnener Stärke. Dass sie diese für gemäßigte politische Reformen und nicht für revolutionäre Absichten einsetzen, wird im nächsten Kapitel gezeigt.

66

4

Die Entwicklung der Delegiertenkammer: Von der Beratung zur Legislative

Von ihrer Gründung bis zur ÝUrÁbÐ-Bewegung durchläuft die Delegiertenkammer verschiedene Phasen der Entwicklung, die in den Kapiteln 4.2 bis 4.5 analysiert werden. Hierbei wird für jede Phase zunächst ein kurzer Überblick über die wichtigsten politischen Geschehnisse gegeben. Anschließend wird das Verhalten der Provinznotabeln in der Kammer dargestellt und bewertet, um in einem dritten Schritt nach Anzeichen der Machtzunahme des Parlaments in Anwendung der Theorie Patzelts zu fragen. In Phase 3 und 4 dienen auch Verfassungstexte als Untersuchungsgegenstand. Vor der Analyse von Phase 1 werden zunächst die Vertretungskörperschaften in Ägypten, die als Vorläufer der Delegiertenkammer gelten, vorgestellt. Dabei lassen sich Muster bei Repräsentationsorganen erkennen, wie man sie auch beim maÊlis šÙrÁ n-nuwwÁb von 1866 findet. Zugleich werden anhand der Darstellung früherer Versammlungen die neuen Entwicklungen beim maÊlis klarer.

4.1

Vorläufer der Delegiertenkammer

Will man die Entwicklung der Delegiertenkammer verstehen, so gilt es zunächst, nach deren Ursprüngen zu suchen. Hierbei ergibt sich jedoch folgende Grundfrage. Versteht man die Delegiertenkammer in erster Linie als konsultatives Organ und sucht daher nach institutionalisierter Beratung als Vorgänger? Oder sieht man die Kammer eher als Vertretungskörperschaft ländlicher Notabeln und konzentriert sich bei der Untersuchung der Anfänge auf die ersten Formen von Repräsentation der aÝyÁn ar-rÐf im politischen System? Nach dem ersten Ansatz verfährt MuÎammad ËalÐl ÑubÎÐ, der dabei am weitesten historisch zurückgeht. Er macht anhand der Verwendung des Begriffs „Diwan“, was hier mit „beratende Versammlung“ zu überset67

zen ist, das erste Beratungsorgan in Ägypten bereits nach der osmanischen Eroberung aus. Die konsultative Kammer des osmanischen Repräsentanten sieht ÑubÎÐ in einer Linie mit den napoleonischen Diwanen und stuft diese allesamt als rein exekutive Institutionen ein, größtenteils mit Beamten be175 setzt. Letzteres ist jedoch für die Diwane zur Zeit der französischen Besatzung nicht richtig, da hierin auch Religionsgelehrte und Kaufleute vertreten sind. Auf die genauen Funktionen und Einflussmöglichkeiten der osmanischen Diwane geht ÑubÎÐ nicht weiter ein, worauf in dieser Arbeit ebenfalls verzichtet wird. Denn weder in der personellen Besetzung noch bezüglich des politischen Systems, in dem die Beratungsorgane angesiedelt sind, ist eine Kontinuität zur hier im Fokus stehenden Delegiertenkammer zu finden. Die Ursprünge von Beratung stehen auch bei Anouar Abdel Malek, Jacob Landau sowie in einem Artikel in der Zeitschrift al-HilÁl von 1913 im Fokus des Interesses, bei denen die unter Napoleon 1798 eingerichteten Diwane den ersten Schritt hin zu einem konsultativen Organ und damit zur 176 Entwicklung parlamentarischer Macht darstellen. In verschiedenen Anläufen versuchen die Franzosen, so Abdel-Malek, ägyptische Notabeln an die Idee der Versammlung und Repräsentation zu gewöhnen und gleichzeitig Reformen in der Gesetzgebung und im Zivil- und Strafrecht durchzu177 führen. Al-ÉarbartÐ führt als Delegierte für diese Diwane Kaufleute, Kopten, Syrer, türkische Militäroffiziere sowie Personen „from the ports, 178 from the shaykhs“ auf, wobei für die letzte Gruppe leider nicht weiter ausgeführt wird, ob es sich hierbei um Dorfscheichs handelt. Dies erscheint jedoch eher unwahrscheinlich, da an vorausgehender Stelle bezüglich des Gremiums, das die erwähnten Delegierten wählt, in der Aufzählung der 175 ÑubÎÐ, MuÎammad ËalÐl: TÁrÐÌ al-ÎayÁt an-niyÁbÐya fÐ MiÒr min Ýahd sÁkin al-ÊinÁn MuÎammad ÝAlÐ BÁšÁ. Bd. 4: al-ËÁÒÒ bi-maÊlis an-nuwwÁb al-miÒrÐ sanat 1881 wamaÊlis šÙrÁ l-qawÁnÐn wa-l-ÊamÝÐya al-ÝumÙmÐya sanat 1883. Kairo, 1947, S. 5. 176 Landau, Parliaments and Parties, 1953, S. 7. TÁrÐÌ as-sulÔa at-tašrÐÝÐya fÐ l-ÎukÙma al-miÒrÐya. In: al-HilÁl, 1913, Vol. 22, S. 83-91, hier S. 85f. 177 Abdel-Malek, Anouar: Idéologie et renaissance nationale. L’Egypte moderne. Paris, 1975, S. 262. 178 ÉabartÐ, ÝAbd ar-RaÎmÁn al-: ÝAÊÁÞib al-Á×Ár fÐ t-tarÁÊim wa-l-aÌbÁr. Übers. Thomas Philipp und Moshe Perlmann als: ÝAbd al-RaÎmÁn al-JabartÐ’s History of Egypt. Stuttgart, 1994, Bde. III und IV, S. 38.

68

vertretenen Personen von Scheichs an einer Stelle und von „those who had 179 come from the provinces“ an anderer Stelle gesprochen und somit zwischen beiden unterschieden wird. Das scheint eine Teilnahme ruraler Notabeln an den Diwanen und damit eine Kontinuität mit kommenden Vertretungskörperschaften der aÝyÁn ar-rÐf auszuschließen. Dies ist insofern von besonderer Bedeutung, als Abdel-Malek bezüglich der Relevanz dieser Diwane, die zum Teil nicht einmal zwei Monate Bestand hatten, behauptet, 180 sie seien „les germes de régime représentatif“ und ihre grundlegende 181 Statuten seien die „première constitution de l’Egypte moderne“. Diese Annahme ist meines Erachtens so nicht haltbar, da weder eine besondere Relevanz der Diwane zu ihrer Zeit noch eine direkte Auswirkung auf spätere Kammern nachgewiesen werden kann. Das Einzige, was die französischen Diwane mit den späteren Räten und Kammern gemeinsam haben, ist die Einbindung von Notabeln in das politische System. Jedoch sind dies bei den Franzosen vorwiegend urbane, danach ab MuÎammad ÝAlÐ hauptsächlich rurale Notabeln. Ob Abdel-Malek vielleicht dies als Keim des repräsentativen Systems verstanden hat, mag jedoch bezweifelt werden. Der andere Versuch, die Entwicklung der Delegiertenkammer aus der Repräsentation ruraler Notabeln heraus zu erklären, setzt bei MuÎammad ÝAlÐ ein, unter dem verschiedene Räte gegründet werden. Da bisher detaillierte Analysen dieser Organe fehlen, sollen hier zumindest die Ergebnisse und auch Widersprüchlichkeiten, die sich aus der Literatur ergeben, dargelegt werden. So ordnet ÑubÎÐ die Einrichtung dieser Räte zeitlich nach der Umstrukturierung der Verwaltung 1824 ein, was plausibel erscheint, da die Erhöhung der Zahl der am politischen Prozess beteiligten Akteure erst nach strukturellen Änderungen sinnvoll ist. In dem erwähnten Artikel in al182 HilÁl ist hingegen vom Jahr 1818 die Rede, bei Landau von 1829. Weitere Unstimmigkeiten treten bei der Betrachtung des Rates auf, in dem in erster Linie Dorfscheichs vertreten sind. Dieser wird 1829 geschaffen und laut 179 180 181 182

ebd., S. 36. Abdel-Malek, Idéologie et renaissance nationale, 1975, S. 263. ebd., S. 262. ÑubÎÐ, TÁrÐÌ al-ÎayÁt an-niyÁbÐya, 1947, S. 7. TÁrÐÌ as-sulÔa at-tašrÐÝÐya. In: al-HilÁl, 1913, S. 87. Landau belegt seine Jahreszahl mit dem erwähnten Artikel in al-HilÁl , in dem aber von 1818 die Rede ist. Landau, Parliaments and Parties, 1953, S. 7.

69

183

Landau als majlis al-mashwara, nach Abdel-Malek als maglis al-mas184 hoûrah, also maÊlis al-mašÙra, bezeichnet, während bei Marsot von dem 185 „maÊlis aš-šÙrÁ“ die Rede ist. Diese Bezeichnungen und sogar noch eine Reihe weiterer führt ÑubÎÐ auf und erklärt, dass all diese auf dasselbe Or186 gan rekurrieren, bei ihm als maÊlis al-ÝÁlÐ aufgeführt. Auch aufgrund der ähnlichen Ausführungen zu Zusammensetzung, Gründungsjahr und Aktivi187 täten lässt sich dies bestätigen. 99 Dorfscheichs , die von höheren Stellen der Provinzverwaltung ausgewählt werden, sowie 33 von MuÎammad ÝAlÐ ernannte Mitglieder und weitere 24 Departementvorsteher kommen unter dem Präsidenten der Kammer, IbrÁhÐm Pascha, Sohn MuÎammad ÝAlÐs, einmal im Jahr zusammen, wobei ÑubÎÐ von zwei Monaten, Landau von 188 nur einem oder mehreren Tagen Versammlungsdauer spricht. Unter den Delegierten, die von MuÎammad ÝAlÐ ernannt werden, sind auch vier Reli189 gionsgelehrte. Leider ungeklärt, aber von Bedeutung wäre die Frage, ob sich hier personell eine Kontinuität zu den Religionsgelehrten in den französischen Diwanen erkennen lässt. An diesem Punkt findet man also zum ersten Mal die Einbindung ruraler Notabeln durch eine Vertretungskörperschaft. Marsot erklärt die Repräsentation der Scheichs, genauer gesagt ihre Überrepräsentation in Relation zu ihrer tatsächlichen Macht im Verwaltungs- und Regierungsapparat, als einen Versuch MuÎammad ÝAlÐs, durch Kooperation lokaler Führer neue Steuer- und Zwangsarbeitslasten sowie weitere Rekrutierung von Fellachen 190 für die Armee möglichst problemlos durchzusetzen. Auch die Expertise der Dorfscheichs ist gefragt, wie Marsot am Beispiel der LÁÞiÎat zirÁÝat al-fallÁÎ wa-tadbÐr aÎkÁm as-siyÁsa bi-qaÒd an-naÊÁÎ belegt, einer Art Handbuch über landwirtschaftliche Anbaumethoden und straf- und zivil183 184 185 186 187

Landau, a.a.O., S. 7. Abdel-Malek, Idéologie et renaissance nationale, 1975, S. 263. al-Sayyid Marsot, Egypt in the Reign of Muhammad Ali, 1984, S. 108. ÑubÎÐ, a.a.O., S. 12. Bei al-Sayyid Marsot sind es 100 Dorfscheichs: Egypt in the Reign of Muhammad Ali, 1984, S. 108. 188 ÑubÎÐ, a.a.O., S. 12. Landau, a.a.O., S. 7. 189 ÑubÎÐ, a.a.O., S. 11. 190 al-Sayyid Marsot, Egypt in the Reign of Muhammad Ali, 1984, S. 108.

70

rechtliche Angelegenheiten. Diese Verordnung sei, so Marsot, inhaltlich weitestgehend auf Beratungen der Kammer zurückzuführen. Die Beschrän191 kung auf die konsultative Funktion wird jedoch betont. Dies steht im Gegensatz zu ÑubÎÐ, der, wie erwähnt, aus der nationalistischen Perspektive heraus diese Kammer bereits als Legislativmacht darstellen möchte, ohne 192 dies jedoch mit konkreten Belegen zu stützen. Eine ganz andere Bedeutung spricht Abu-Lughod dem Konsultativrat für die weitere Entwicklung in Ägypten zu. Zwar sind im politischen System die Turko-Tscherkessen immer noch Hauptentscheidungsträger nach dem Khediven, jedoch stellt allein die Zusammenführung der politischen Elite mit den Notabeln in einem Organ eine Neuorientierung der Politik dar, die in dem Kriterium der Ethnizität kein Ausschlussprinzip von politi193 schen Prozessen mehr erkennen lässt. Abu-Lughod geht generell davon aus, dass sich Dorfnotabeln und militär-administrative Elite der TurkoTscherkessen im Lauf des 19. Jahrhunderts immer weiter bis hin zur sozioökonomischen Interessengemeinschaft annähern. Damit sieht er in dem Konsultativrat den Beginn der Wahrnehmung gemeinsamer Ziele der verschiedenen Gruppen. Vor allem ist es aber die Selbstwahrnehmung als 194 Gruppe, die für die Dorfnotabeln eine Neuerung darstellt. Da in Kapitel 3 bereits deutlich geworden ist, dass Abu-Lughods Thesen mit Vorsicht zu behandeln sind, erscheint auch angesichts der Tatsache, dass unter IsmÁÝÐl die ethnische Zuordnung politischer Organe wieder eindeutig angewendet wird, die Beobachtung der Zusammenführung von Turko-Tscherkessen und ägyptischen Notabeln zwar als interessant, aber nicht als ausschlaggebend für spätere Entwicklungen. Im Gegensatz dazu ist die Selbstwahrnehmung der Dorfscheichs als Gruppe weniger umstritten und wird von Cuno 195 zumindest auf gesellschaftlicher Ebene auch angenommen. Belege für das politische Selbstbewusstsein liefert Abu-Lughod leider nicht. Dies ist in der Tat problematisch, da man beobachten kann, wie eben jenes Be191 ebd., S. 108. 192 ÑubÎÐ, TÁrÐÌ al-ÎayÁt an-niyÁbÐya, 1947, S. 13. 193 Die ethnische Teilung im politischen System wird unter IsmÁÝÐl aber wieder aufgenommen. Siehe Schölch, Ägypten den Ägyptern, 1972, S. 49.

194 Abu-Lughod, Transformation of the Egyptian Elite, 1967, S. 340f. 195 Siehe Kapitel 3.2.1. 71

wusstsein in der Kammer ab 1866 erst langsam entsteht. Ob das Gruppenbewusstsein tatsächlich seinen Ursprung in den 1830er Jahren hat, ist somit aufgrund der erstmaligen und zahlenmäßig starken Vertretung der Dorfscheichs in einem Beratungsorgan zwar durchaus möglich, wurde aber noch nicht wirklich bewiesen. 1837 wird die Kammer aufgelöst und stattdessen ein neues System von Diwanen eingeführt, das nach Politikbereichen der Regierung und nicht 196 nach dem Repräsentationsmodell strukturiert ist. Genaue Gründe lassen sich hierfür jedoch nicht benennen. Mangels genauerer Untersuchungen lassen sich keine Aussagen bezüglich des Verhaltens der Dorfscheichs in der Kammer und bezüglich der parlamentarischen Macht treffen. Wie der kurze Überblick jedoch gezeigt hat, findet sich unter MuÎammad ÝAlÐ die erste politische Repräsentation ruraler Notabeln in einer Kammer. Betrachtet man die Motive, so fällt auf, dass sehr konkrete Interessen gegenüber den Dorfscheichs hinter der Einrichtung der Kammer stehen. Dies ist im Rahmen der wirtschaftlichen Entwicklung speziell hinsichtlich der Einführung von cash crops zu sehen, die die ruralen Gebiete für den Herrscher enorm wichtig machen. Somit kann für die Zeit MuÎammad ÝAlÐs festgesellt werden, dass ein gesteigertes Interesse an der Landwirtschaft bei gleichzeitig zunehmender Abhängigkeit des Herrschers von den Einnahmen aus dem Agrarsektor und den dort wichtigen Akteuren, den ruralen Notabeln, zu einer Einbindung letzterer in den politischen Prozess geführt hat. Für die Regierungszeit von ÝAbbÁs (1848–1854) und SaÝÐd (1854–1863) lässt sich kurz zusammenfassen, dass allenfalls Expertenräte, aber keine 197 Parlamente die Beratung des Vizekönigs übernehmen. Von Vertretungskörperschaften ist in dieser Zeit nicht die Rede, auch nicht von der Forderung nach Wiedereinsetzung des Konsultativrates MuÎammad ÝAlÐs. Man kann also nicht einmal Erwartungen bezüglich bestimmter Verfahren feststellen, die bei Patzelt als Indiz für beginnende Institutionalisierung angese198 hen wird. Umso wichtiger ist die Frage, warum es schließlich unter Is196 ÑubÎÐ, TÁrÐÌ al-ÎayÁt an-niyÁbÐya, 1947, S. 14. 197 ar-RÁfiÝÐ, ÝAÒr IsmÁÝÐl, 1982, Bd. 2, S. 89. 198 Patzelt, Parlamente und ihre Funktionen, 2003, S. 51. 72

mÁÝÐl zur Einrichtung einer Vertretungskörperschaft der ruralen Notabeln kommt.

4.2

Phase 1: 1866–76: Beratung des Khediven, Vertretung partikularer Interessen

4.2.1 Gründe für die Errichtung des maºlis šÚrÁ n-nuwwÁb Unter IsmÁÝÐl wird der maÊlis šÙrÁ n-nuwwÁb, die Beratungskammer der 199 Delegierten, eingerichtet. Obwohl der Khedive zu diesem Zeitpunkt sämtliche Regierungsmacht auf sich konzentriert und auch sein Beratergremium, al-maÊlis al-ÌuÒÙÒÐ (Privatrat), in keiner Weise als eigenständige Regierung anzusehen ist, sieht ar-RÁfiÝÐ hinter der Einführung der Kammer den echten Willen des Khediven, Fortschritt und Partizipation des Volkes 200 zu erreichen. Auch ÑubÎÐ, ebenfalls Vertreter einer nationalistisch-apologetischen Sichtweise auf die ägyptische Geschichte, sieht IsmÁÝÐl als An201 hänger und Verbreiter von Zivilisation. Die meisten Autoren dagegen unterstellen dem Khediven wie bereits MuÎammad ÝAlÐ bestimmte Absichten, die nichts mit der Schaffung eines starken Parlaments zu tun haben, sondern gemäß absolutistischem Kalkül nur der eigenen Machtsicherung dienen. So hält Landau eine bessere Kon202 trolle der Dorfnotabeln für die eigentliche Intention. ÝAlÐ BarakÁt erkennt 203 hierin die Einhegung des Einflusses der turko-tscherkessischen Beamten. Schölch schreibt, dass die Wirkung nach außen, vor allem nach Europa, beabsichtigt war, um den Anschein eines konstitutionellen Absolutismus zu 204 erzeugen, was der Kreditwürdigkeit des Khediven zugute kommen sollte. 199 Den Titel des Khediven trägt IsmÁÝÐl offiziell erst ab 1867. Da die Umbenennung

200 201 202 203 204

keinen substanziellen Unterschied für das Herrschaftssystem macht, wird der Einheitlichkeit willen bereits für die Diskussion des Jahres 1866 IsmÁÝÐl als Khedive bezeichnet. ar-RÁfiÝÐ, ÝAÒr IsmÁÝÐl, 1982, Bd. 2, S. 89. ÑubÎÐ, TÁrÐÌ al-ÎayÁt an-niyÁbÐya, 1947, S. 15. Landau, Parliaments and Parties, 1953, S. 8. BarakÁt, TaÔawwur al-milkÐya az-zirÁÝÐya, 1977, S. 378. In der Tat berichtete die Presse in einigen europäischen Ländern nahezu euphorisch über die Versammlung. Siehe Landau, a.a.O., 1953, S. 8; Schölch, Ägypten den Ägyptern, 1972, S. 27; siehe auch Davis, Eric: Challenging Colonialism. Bank MiÒr

73

Cole hingegen hält die Einsetzung der Versammlung für einen Schachzug IsmÁÝÐls, die Dorfnotabeln durch eine pro-forma-Einbindung in den politischen Prozess von der Landnahme der Herrscherfamilie und immensen 205 Steuerlasten abzulenken. Hunter sieht demgegenüber nicht die Verschleierung neuer Lasten, sondern vielmehr deren Legitimierung für die Bevölkerung durch die Zustimmung der Delegiertenkammer als das eigent206 liche Motiv. Denn die Verwurzelung in der ruralen Gesellschaft, so auch Schölch, sei der Vorteil der Delegierten des maÊlis šÙrÁ n-nuwwÁb gegenüber dem anderen Beratungsorgan des Khediven, dem maÊlis el-ÌuÒÙÒÐ, dessen Mitglieder sich größtenteils aus persönlichen Vertrauten und hohen Beamten der Zentralverwaltung, allesamt ethnisch gesehen Turko-Tscherkessen, zusammensetzen. Gleichzeitig sei die Schaffung eines Beratungsorgans mit vorrangig ägyptischen Notabeln ebenso wie die Ägyptisierung der Verwaltung (in Kapitel 3.2.3 erläutert) als Versuch der Emanzipierung vom 207 Osmanischen Reich zu sehen. Als weiteren Pluspunkt gegenüber dem Privatrat mache, so Hunter, die Expertise in der landwirtschaftlichen Verwaltung die Provinznotabeln für den Khediven interessant, denn gerade mit dem einsetzenden Baumwollboom nach 1863 habe die Bedeutung der Provinzverwaltung und eines effizienten agrarwirtschaftlichen Managements 208 stark zugenommen. Letzterem widerspricht zwar Abu-Lughod, der die Position vertritt, die administrative Rationalisierung, die bis zur Herrschaft IsmÁÝÐls stattgefunden hätte, hätte eine Vermittlungsinstanz in der Verwal209 tung zwischen Regierung und Bevölkerung unnötig gemacht. Ob jedoch diese positive Bewertung der ägyptischen Zentralisierung der Verwaltung wirklich zutrifft, erscheint angesichts der stets prekären Finanzlage auch aufgrund ineffizienter Steuereintreibung fraglich und lässt auch den Schluss, die Provinznotabeln hätten für die Verwaltung keine wichtige Rol-

205 206 207 208 209 74

and Egyptian Industrialization, 1920-1941. Princeton, 1983, S. 25f. BarakÁt spricht allgemein vom politischen Druck Großbritanniens und Frankreichs: TaÔawwur almilkÐya az-zirÁÝÐya, 1977, S. 378. Cole, Colonialism and Revolution, 1993, S. 30. Hunter, Egypt under the Khedives, 1984, S. 53. Schölch, Ägypten den Ägyptern, 1972, S. 27. Hunter, Egypt under the Khedives, 1984, S. 53. Abu-Lughod, Transformation of the Egyptian Elite, 1967, S. 341.

le mehr gespielt, zweifelhaft erscheinen. Ähnlich wie Hunter argumentiert Cannon, der ebenfalls die landwirtschaftliche Bedeutung der Notabeln hervorhebt, die Institution des maÊlis jedoch dadurch erklärt, dass eine größere Einbindung – auch wenn nur pro forma – die Furcht vor neuen Steuern nehmen und damit die Investitionen der Notabeln in die Agrarproduktion 210 ankurbeln soll. Angesichts der Vielzahl von möglichen Motiven IsmÁÝÐls für die Einrichtung der Delegiertenkammer ist es schwer, sich auf eine Erklärung festzulegen. Doch gemeinsam ist den meisten Ansätzen – mit Ausnahme der ägyptischen Nationalisten –, dass IsmÁÝÐl mit der Vertretungskörperschaft der ruralen Notabeln den Ausbau der eigenen Macht direkt, also durch die Expertise und die Vermittlung der zentralstaatlichen Politik an die ländliche Bevölkerung, oder indirekt als Zurschaustellung von Konstitutionalismus für den Westen, als Lösung von der Pforte und zur Kontrolle der Turko-Tscherkessen im Land verfolgt. Das bedeutet weiterhin, dass die Schaffung der Kammer auf Wunsch des Herrschers und nicht auf Druck der Provinznotabeln erfolgt. Cole resümiert daher, dass Schaffung und Einberu211 fung der Kammer nur als „empty formalities“ zu verstehen sind. Auch Schölch sieht den maÊlis „in keiner Weise ... [als] Instrument der Machttei212 lung, Machtbeschränkung oder Machtkontrolle“, weder in seinen Anfängen noch im folgenden Jahrzehnt. Von den wenig machtvollen Anfängen des maÊlis auch auf eine schwache Kammer in späteren Jahren zu schließen, ist jedoch aus zwei Gründen zu kritisieren. Erstens sollte man die Bedeutung der ägyptischen Landnotablen nicht unterschätzen. Denn, wie in Kapitel 3 ausführlich erläutert, erleben sie bis zum letzten Viertel des 19. Jahrhunderts einen bis dahin ungekannten sowohl ökonomischen als auch administrativen Aufstieg. Erst durch den Bedeutungszuwachs der ruralen Notabeln wird deren institutionelle Einbindung für den Khediven als Instrument seines Machterhalts überhaupt interessant. Gleichzeitig ist die Einrichtung der Kammer als Fortsetzung ihres Aufstiegs auf politischer Ebene zu sehen, also als Fort210 Cannon, Byron David: Politics of Law and the Courts in Nineteenth-Century Egypt. Salt Lake City, 1988, S. 31f.

211 Cole, Colonialism and Revolution, 1993, S. 31. 212 Schölch, Ägypten den Ägyptern, 1972, S. 30. 75

schritt für die Macht der Notabeln, woraus neue Machtansprüche erwachsen können. Zweitens hat Patzelt darauf hingewiesen, dass die meisten Parlamente als Zwischeninstitution im Interaktionsfeld aus Regierenden und Regierten entstanden sind und zu Beginn der Herrschaftsintensivierung der Machthaber dienten. Patzelt spricht dabei von einer „umständehalber begonnen[en]“ 213 und nicht intendierten Parlamentsentstehung, wie sie auf den hier vorliegenden Fall zutreffen könnte, wenn auch die weitere Entwicklung sich in 214 dieser Richtung vollzieht, d.h. sich ein machtvolles Parlament herausbildet.

4.2.2 Grundlegende Statuten der Kammer

215

Die Kammer wird durch zwei vom Khediven IsmÁÝÐl erlassene Statuten gegründet. In der für diese Arbeit wichtigeren lÁÞiÎa el-asÁsÐya, die 18 Artikel umfasst, werden die grundlegenden Bestimmungen für die Kammer festgesetzt. Hierbei ist vor allem Artikel 1 von Bedeutung, in dem der Handlungsspielraum der Kammer auf innere Angelegenheiten und hierbei auf diejenigen beschränkt wird, die die Regierung für relevant hält. Sämtliche Erörterungen sind zudem dem Khediven vorzulegen. Die restlichen Artikel haben die Bestimmungen zum aktiven und passiven Wahlrecht (Art. 2–5) und zum genauen Wahlverfahren in den Distrikten durch Wahlmänner (Art. 6–9) zum Inhalt. Weiterhin werden Neuwahlen alle drei Jahre ( Art. 9) zur Wahl der maximal 75 Delegierten (Art. 10) sowie die Ungültigkeit einer Sitzung bei der Abwesenheit von mehr als einem Drittel der Delegierten (Art. 11) festgelegt. Delegierte dürfen sich in der Kammer nicht vertreten lassen (Art. 13). Über Einhaltung all dieser Regeln wacht eine Kommission (Art. 13 und 14). Die Sitzungsperiode wird auf jährlich zwei Monate vom 15. Kiahk bis 15. Amshir (vierter bis sechster Monat des koptischen Kalenders) angesetzt (Art. 16). Letzter wichtiger Punkt ist der Ausschluss von Petitionen an die Kammer (Art. 18). Auf genaue Untersuchungen der lÁÞiÎa an-niÛÁmÐya, die 61 Artikel umfasst, soll hier verzichtet werden, und nur die wichtigsten Bestimmungen 213 Patzelt, Parlamente und ihre Funktionen, 2003, S. 51. 214 ebd., S. 26. 215 Beide Statuten finden sich im arabischen Original bei ar-RÁfiÝÐ, ÝAÒr IsmÁÝÐl, 1982, Bd. 2, S. 314-324.

76

seien genannt. Unter anderem wird formalisiert, wie die Debatten zu verlaufen haben und auf welche Weise die Eröffnungsrede des Khediven beantwortet wird. Es werden Funktionen und Rechte des Präsidenten der Delegiertenkammer festgelegt, wobei dieser vom Khediven bestimmt wird, was seinen Spielraum stark einengt. Es werden ebenso Regeln für die Prü216 fung von Projekten und zur Bildung von Unterausschüssen festgelegt. Die Sitzungen der Versammlung erfolgen unter Ausschluss der Öffentlichkeit. Es wird also bereits beim inhaltlichen Überblick über die Statuten deutlich, dass die Macht der Kammer eng begrenzt ist. Legt man hier die Ursachentypologie parlamentarischer Macht von Patzelt an, so wird zunächst klar, dass eine der zentralen Machtquellen, die Kontrolle oder zumindest das Mitspracherecht im Bereich der Finanzen, hier in keiner Weise vorliegt. Auch bei der Kommunikation stellt man fest, dass der Einfluss der Kammer eng begrenzt ist. Die Initiative zur Diskussion bestimmter Angelegenheiten liegt allein bei der Regierung, was die Kontrolle des Khediven und seines Privatrates fast unmöglich macht. Die Sitzungen im Geheimen abzuhalten mindert zudem die Außenwirkung der Kammer bezüglich Repräsentation von Interessen und Kontrolle der Regierung. Die Ressource Zeit wird klar geregelt, aber mit zwei Monaten Sitzungsperiode knapp bemessen. Zudem ist die Verlässlichkeit der Einberufung und Einhaltung der Sitzungsdauer eher gering, da diese Entscheidungen allein beim Khediven liegt. Binnenstruktur sowie interinstitutionelle Mechanismen sind kaum ausgebildet, nur der Einfluss des Khediven auf die Kammer in Form des Initiativrechts und der Berufung des Kammerpräsidenten ist gesetzlich fest217 geschrieben. Bezüglich der Wahlen bemerkt Schölch, dass diese in keiner Weise als frei und unabhängig anzusehen sind. Vielmehr bestimmen die jeweiligen Provinzdirektoren die Delegierten durch die Ernennung der Wahlmänner, wobei sowohl Regierungsinteressen als auch die der lokalen Notabeln be218 rücksichtigt werden. Dies gilt im Übrigen für sämtliche Neuwahlen der 216 Landau, Parliaments and Parties, 1953, S. 10f. 217 Schölch, Ägypten den Ägyptern, 1972, S. 29f. 218 ebd., S. 29. 77

Kammer, die bis einschließlich 1882 erfolgen. Damit wird noch einmal klar, dass es sich bei der Errichtung der Kammer um ein Ergebnis der „politics of notables“ handelt, bei der es um die Einbindung einflussreicher Akteure geht und nicht um eine breite Repräsentation der Bevölkerung.

4.2.3 Interessenvertretung im Einklang mit dem Khediven Wie bei der Frage nach den Gründen für die Einrichtung der Kammer zeigt sich auch bei der Darstellung und Bewertung der Tätigkeit der ersten zehn Jahre ein relativ weites Spektrum an Positionen. Von starker Legislativgewalt bis hin zu absoluter Machtlosigkeit reichen hierbei die unterschiedlichen Einschätzungen. Im Folgenden sollen, statt jede Sitzungsperiode einzeln zu betrachten, gleich die diversen Bewertungen entsprechend den wichtigsten Entwicklungen der Kammer dargelegt und diskutiert werden. Im Zentrum dieser Debatte steht das bereits erwähnte muqÁbala-Gesetz, das die Möglichkeit für Landeigentümer bietet, durch die einmalige Zahlung des sechsfachen Jahressteueraufkommens von der Hälfte aller zukünftigen Steuern befreit und als rechtmäßiger Eigentümer offiziell bestätigt zu werden. So benutzt Abu-Lughod die Einführung des muqÁbala-Gesetzes als Beweis für seine überaus positive Bewertung der Parlamentsmacht, dergestalt, dass „they [die Notabeln] were highly conscious of their economic interests and that they saw in the assembly a mechanism by which they could 219 check the absolute power of the Khedive“ . Abu-Lughod geht von der Zustimmung der Kammer zum muqÁbala-Gesetz aus und wertet dies dahingehend, dass die Abgeordneten bereits ausreichend Vertrauen in ihre Macht haben, um sich auf das Tauschgeschäft einzulassen, in dem zunächst sie die Kosten tragen, der Nutzen sich jedoch erst langfristig einstellt. Hätten sie die Macht des Khediven immer noch als absolut gesehen, hätte für sie die Gefahr bestanden, bei verändertem Herrscherwillen nie in den versprochenen Genuss der Steuererleichterungen zu kommen. In der Tat soll, so AbuLughod, IsmÁÝÐl genau dies drei Jahre später versucht haben. Der Plan, das muqÁbala-Gesetz aufzuheben, soll die Delegierten 1874 sogar bewaffnet

219 Abu-Lughod, Transformation of the Egyptian Elite, 1967, S. 342f. 78

auf die Barrikaden gebracht haben, was schließlich zum gewünschten Er220 folg, der Beibehaltung des Gesetzes, geführt habe. Dieser Version der Geschehnisse wird von einigen Autoren widersprochen. So legt Baer dar, dass 1874 das muqÁbala-Gesetz nicht abgeschafft, sondern vielmehr erst in diesem Jahr verpflichtend und auch weitestgehend eingehalten wird. Das Vorhaben, das muqÁbala-Gesetz zurückzunehmen, wird schließlich im Mai 1876 durchgeführt, im November desselben Jahres aber bereits wieder rückgängig gemacht, so dass 1878 nur für einen kleinen Teil des Landeigentums in Ägypten die Gelder aus dem muqÁbala-Gesetz 221 nicht gezahlt sind. Erst 1880 wird das Gesetz endgültig abgeschafft. Diese Version der Dinge scheint insofern plausibler, als die Rücknahme des muqÁbala-Gesetzes für den Khediven ja erst sinnvoll ist, wenn die Steuervorauszahlungen eingegangen sind. Da dies erst 1878 weitestgehend erfolgt ist, wäre eine vorherige Rücknahme des Gesetzes für IsmÁÝÐl nicht 222 von Vorteil gewesen. Über die Rolle des maÊlis šÙrÁ n-nuwwÁb bei diesen Entwicklungen sagt Baer jedoch nichts . Die direkte Kritik von Schölch an Abu-Lughod zielt auf den Beweis, dass die Kammer in der Entscheidung über das muqÁbala-Gesetz nicht eingebunden gewesen und dies vom Khediven einfach erlassen worden sei, 223 was die Machtlosigkeit der Delegierten offenlege. Schölch bezieht sich zunächst auf historische Gegebenheiten. So habe die Kammer weder im Jahr 1871 noch 1874 getagt, für Abu-Lughod die Jahre der Annahme und Verteidigung des Gesetzes durch den maÊlis. Daraus leitet er ab, dass die 224 Kammer nichts mit dem muqÁbala-Gesetz hatte zu tun haben können. Dieser Punkt bedarf jedoch genauerer Betrachtung. Denn entgegen Schölchs Darstellung tagt die Kammer 1871, und zwar ausnahmsweise in den Sommermonaten, wofür keine genauen Gründe bekannt sind. Diese 220 ebd., S. 342. 221 Baer, History of Landownership, 1962, S. 10f. Zu den Entwicklungen um das muqÁbala-Gesetz in den Jahren 1876–78 siehe Kap. 4.3.2.

222 Dass der Khedive nie etwas anderes als das Austricksen der Landeigentümer im Sinn hat, vertritt Lord Cromer in Modern Egypt, S. 23f.

223 Schölch, Ägypten den Ägyptern, 1972, S. 29. 224 ebd., S. 276. Schölch bezieht sich hier auf ar-RÁfiÝÐ, ÝAÒr IsmÁÝÐl, 1982, Bd. 2, S. 117.

79

Sitzung ist jedoch die verspätete Sitzung der Periode 1870/71, und die von Schölch als entfallen angesehene Periode ist die des Winters 1871/72. Laut ar-RÁfiÝÐ ist die Regierung während der Versammlung im Sommer 1871 bereits mit der Vorbereitung des muqÁbala-Gesetzes beschäftigt, womit also theoretisch die Kammer mit dieser Angelegenheit hätte befasst werden 225 können. Tatsächlich wird sie aber auch nach ar-RÁfiÝÐ nicht konsultiert. Die nächste Sitzung, in der sich die Kammer mit dem Gesetz hätte auseinandersetzen können, findet 1873 statt. Doch weder spricht der Khedive in seiner Eröffnungsrede finanzielle Angelegenheiten im Allgemeinen oder die Verwendung der Einnahmen des Gesetzes im Speziellen an, noch fragen die Abgeordneten nach, was aus den sieben Millionen ägyptische Pfund geworden ist, die laut ar-RÁfiÝi durch das Gesetz zusätzlich in die Staatskasse geflossen sind. So finden sie wohl nicht einmal Eingang in das offizielle Budget, das in der Kammer diskutiert wird. Die fehlenden Einnahmen durch die im Gegenzug vergebenen Steuererleichterungen finden hingegen ihren Niederschlag in der sich rapide verschlechternden Haus226 haltslage. Sollte nun ar-RÁfiÝÐs Version der Geschehnisse richtig sein, so stellt man fest, dass bis zu diesem Zeitpunkt ein Machtmissbrauch des Khediven erfolgt, der die Einnahmen aus dem muqÁbala-Gesetz entweder veruntreut oder zumindest am offiziellen Haushalt vorbeifließen lässt. Dies scheint die aÝyÁn in ihren Interessen nicht zu berühren, da die versprochenen Steuererleichterungen gewährt werden. Nun könnte entweder gefolgert werden, dass die Provinznotabeln aufgrund der Wahrung ihrer Privilegien keine Notwendigkeit sehen, gegen die Politik des Khediven zu opponieren, oder dass sie zwar den Willen dazu haben, aber nicht die nötige Macht. An letzterer Alternative können jedoch Zweifel aufkommen, betrachtet man die umfangreichen Forderungen, die die Delegierten im Lauf der ersten Legislaturperiode (1866–69) stellen. Ihnen gemein ist, dass die erwünschten Reformen vor allem den Interessen der Provinznotabeln dienen. 227 So stellen sie die Forderung nach Abschaffung des Ýahd-Systems , um die 225 ar-RÁfiÝÐ, ÝAÒr IsmÁÝÐl, 1982, Bd. 2, S. 129f. 226 ebd., S. 135. 227 Steuerpachtsystem ähnlich dem des iltizÁm, siehe Kap. 3.3.1. 80

Fellachen zu einfachen Lohnarbeitern auf den Feldern der Großgrundbesitzer zu machen. Weiterhin findet sich der Antrag, brachliegendes Land an diejenigen zu vergeben, die im Stande sind, es zu kultivieren, was wohl vorwiegend reiche Provinznotabeln beträfe. Weitere Forderungen zielen auf die Harmonisierung der Termine der Steuereintreibung mit denen der Ernte, die Möglichkeit der Ratenzahlung von Steuern, der Einhegung der Macht der Steuereintreiber sowie die Gründung von Agrarräten, die die landwirtschaftliche Entwicklung vorantreiben sollen, die Verhinderung der Fragmentierung von Landbesitz durch Umgehung des Erbrechts und Wei228 tergabe des vollen Landbesitzes an den ältesten Sohn der Familie. Ständig wiederkehrend wird der Wunsch nach Modernisierung der Kanalsyste229 me und Brücken geäußert. Wie die Beispiele zeigen, zögern die Provinznotabeln nicht, ihren Interessen Ausdruck zu verleihen, nur stehen die erwähnten Forderungen auch nicht in Widerspruch zum Khediven. Betrachtet man noch einmal die Angelegenheit der im offiziellen Haushalt nicht auftauchenden muqÁbala-Einnahmen, so kann die Passivität der Abgeordneten in dieser Frage auch daher rühren, dass ihre durch die Zahlung gewonnenen Privilegien dadurch in keiner Weise eingeschränkt werden. Dies legt den Schluss nahe, dass es den Notabeln bis zu diesem Zeitpunkt allein um ihre Interessen geht und es ihnen an Motiven mangelt, nach größerer Regierungskontrolle zu streben. Die umfangreiche Kritik an Abu-Lughods These von einer starken Kammer bereits vor 1876 macht deutlich, dass diese wohl verworfen werden kann. Sogar der sonst eher positiv wertende ar-RÁfiÝÐ vertritt die Position, dass der maÊlis in dieser Zeit als schwach anzusehen ist. So sei in den Jahren 1874 und 1875 die Versammlung nicht einberufen, aber auch keine Forderung danach zum Beispiel seitens der ehemaligen Delegierten erhoben worden. Dies fällt insofern für ihn besonders ins Gewicht, als sich in dem erwähnten Zeitraum die finanzielle Lage Ägyptens dramatisch verschlechtert. Es kommt zur Aufnahme des letzten großen Auslandskredits, 228 Zu der Frage, wie reiche Großgrundbesitzer es schaffen, der Fragmentierung des Familienlandes trotz Privatisierung der Eigentumsrechte zu entgehen, siehe Cuno, Kenneth M.: Joint Family Households and Rural Notables in 19th-Century Egypt. In: International Journal of Middle East Studies, 1995, Vol. 27, S. 485-502. 229 BarakÁt, TaÔawwur al-milkÐya az-zirÁÝÐya, 1977, S. 380f.

81

dessen schlechte Konditionen beinahe unaufhaltsam zum Staatsbankrott führen. Der Verkauf der ägyptischen Aktienanteile am Suezkanal an Großbritannien (für die verhältnismäßig geringe Summe von vier Millionen 230 ägyptischer Pfund) sowie die verstärkte Präsenz der Europäer in Form von Untersuchungskommissionen lassen die prekäre Lage deutlich wer231 den. Angesichts der Passivität der Provinznotabeln diagnostiziert auch ar-RÁfiÝÐ nicht die Entstehung einer mächtigen Gruppe, die die Herrschaft des Khediven auf irgendeine Art und Weise beschränken könnte. Hunter sieht ebenfalls Abu-Luhgods These als falsch an, dass sich eine Entwicklung des maÊlis hin zu Entscheidungsgewalt und Wille zur Opposition bis 1876 tatsächlich vollzogen habe. Interessant sind seine Ausführungen aber durch eine neue Perspektive auf die Jahre 1866–76. Denn Hunter fragt nicht nur nach der bereits gewonnenen Macht, sondern nach der Entstehung von Voraussetzungen für späteres Einflusspotential. Hierbei ist für ihn von Bedeutung, dass die Kammer für die Provinznotabeln die Gelegenheit bietet, politische Arbeit zu erlernen. Dazu zählt das Erarbeiten und Diskutieren von Gesetzesentwürfen, die Fähigkeit, verschiedene Interessen zu harmonisieren und das Wissen über administrative Vorgänge, und zwar – für Ägypten von besonderer Bedeutung – einschließlich des finanziellen Bereichs. Auch die Bandbreite der in der Kammer behandelten Themen von Bildung über Landwirtschaft und öffentliche Arbeiten bis hin zum Justizwesen schafft Expertise auf Seiten der Abgeordneten. In der Tat sieht Hunter die Kammer als weitaus aktiver an als die meisten anderen Autoren, jedoch vor allem auf administrativer Ebene. Um tatsächlich Einfluss auf die Regierungsarbeit zu nehmen, habe die Kammer zu selten und nicht lan232 ge genug getagt. Dieser Punkt wirkt sich auch auf die Stellung des maÊlis im politischen System aus. In den Jahren 1874 und 1875 wird die Kammer nicht einberufen, wogegen sich kein Widerstand regt. Hieraus lässt sich ableiten, dass das Organ noch nicht als selbstverständlich oder gar ob230 Ausführlicher dargelegt zum Beispiel bei Mommsen, Wolfgang: Imperialismus in Ägypten. Der Aufstieg der ägyptischen nationalen Bewegung 1805-1956. München, 1961, S. 31-34. 231 ar-RÁfiÝÐ, ÝAÒr IsmÁÝÐl, 1982, Bd. 2, S. 137. Hunter, Egypt under the Khedives, 1984, S. 180f. 232 Hunter, a.a.O., S. 52-54.

82

ligatorisch angesehen wird, wie es jedoch für die Institutionalisierung eines Parlaments wichtig ist. Fasst man kurz zusammen, so stellt man fest, dass die meisten Autoren bis 1876 keinerlei ernstzunehmenden Einfluss der Kammer auf den Herrscher sehen, was die Analyse der parlamentarischen Machtursachen in den grundlegenden Statuten bestätigt. Es finden sich auch keine Handlungen oder Reden, die Widerstand gegen den Willen des Khediven ausdrücken. Allerdings finden sich auch keine Probleme, die die aÝyÁn selbst betreffen und die ausreichend Anlass für einen Widerstand gegen den Herrscher hätten sein können. Dies ändert sich ab 1876, als es zu immer größeren Veränderungen der Machtkonstellationen aufgrund zunehmender europäischer Intervention kommt. Um die Entwicklung der Delegiertenkammer bis 1879 bewerten zu können, wird zunächst eine Übersicht über die Veränderungen der politischen Rahmenbedingungen nötig sein.

4.3

Phase 2: 1876–78: Integration der Kammer durch den Khediven

4.3.1 Zunehmender Einfluss der Europäer Es wurde festgestellt, dass der Khedive im politisch sensiblen Bereich der Finanzen an Handlungsspielraum verliert. Dies ist im Zusammenhang mit der ab 1875 größer werdenden Einflussnahme der Europäer besonders auf die Finanzpolitik zu sehen. Diverse Versuche des Khediven, die finanzielle Situation des Landes zu verbessern, darunter auch das muqÁbala-Gesetz, sind gescheitert, was die europäischen Gläubiger nervös macht. Um diese zu beruhigen, versuchen die britische und die französische Regierung durch verschiedene Delegationen, Untersuchungskommissionen und Abkommen eine Lösung zu finden. Hierbei stehen sich die ohnehin international konkurrierenden Großmächte gegenseitig im Weg, da französische Kreditgeber meist in kurzfristigen Anleihen und britische vorwiegend in langfristigen Krediten engagiert sind. Der daraus resultierende Interessenkonflikt zeigt sich, als im Mai 1876 die „Caisse de la Dette Publique“ eingeführt wird, zeitgleich mit dem Dekret zur Aufhebung der muqÁbala. An diese Institution zur Organisation des Schuldendiensts Ägyptens, in der Großbritannien, 83

Frankreich, Österreich und Italien vertreten sind, sollen die für die Kredite verpfändeten Einkünfte des Staates direkt fließen. Veränderungen bei den Einkünften soll der Khedive nur in Absprache mit der Caisse vornehmen, kurz- und langfristige Kredite werden zusammengefasst auf 91 Millionen 233 Pfund. Diese Vereinbarung ist jedoch nicht lange von Bestand, was vor allem am Widerstand der britischen Seite liegt. Größter Angriffspunkt ist hierbei die fehlende unmittelbare Kontrolle über die ägyptische Regierung und damit über die gesamten Finanzen, wobei mit der Verfügung über die Einkünfte für den Schuldendienst bereits zwei Drittel des Staatshaushalts in der Hand der Europäer liegen. Zu einer neuen Regelung kommen die Vertreter der britischen und französischen Gläubiger mit der sogenannten Dual Control. Dies bedeutet, dass zwei europäische Kontrolleure eingesetzt werden – ein Brite zur Verwaltung der Finanzen und ein Franzose, um die öffentlichen Arbeiten zu kontrollieren. Die Regelung, die im November 1876 in Kraft tritt, besiegelt nach Mommsen die Übernahme der indirekten Herrschaft Ägyptens durch 234 die zwei europäischen Großmächte. Hunter formuliert noch genauer: Nach der stetigen Übernahme der Finanzkontrolle wird nun auch die politi235 sche Macht des Khediven beschnitten. Doch auch diese Regelung ermöglicht nicht die Stabilisierung der Finanzlage, vielmehr verschlimmert sie sich durch eine sehr niedrige Nilflut und die militärische Unterstützung der Osmanen in deren Krieg gegen Russland 1877. Da die Zinszahlungen kaum bedient werden können, wird auf Drängen der europäischen Großmächte 1878 eine Untersuchungskommission (Commission of Inquiry) eingesetzt, die einschneidende Maßnahmen in verschiedenen Bereichen vornimmt und dabei die Machtverhältnis236 se vor allem zuungunsten des Khediven verändert. Aber auch die turkotscherkessischen Eliten und die ägyptischen Notabeln sind hiervon betroffen. 233 234 235 236

84

Mommsen, Imperialismus in Ägypten, 1961, S. 36. Mommsen, Imperialismus in Ägypten, 1961, S. 37. Hunter, Egypt under the Khedives, 1984, S. 179. Hinsichtlich der Einstellung unverhältnismäßig vieler und weit überdurchschnittlich bezahlter europäischer Beamten hingegen zieht die Untersuchungskommission keine Konsequenzen. Mommsen, a.a.O., S. 48.

Konkret wird von der Commission of Inquiry gefordert, dass der Landbesitz des Khediven und seiner Familie zum Staatsbesitz gemacht wird, um 237 als Sicherheit für einen neuen Kredit zu dienen. Da die Einschnitte im ökonomischen Bereich nicht ohne Beschränkungen der Herrschaftsmacht erfolgen können, weil Verwaltung und Finanzen von IsmÁÝÐl direkt abhängen, kommt es auch zu erheblichen Einschränkungen im politischen Bereich. Die tiefstgreifende Maßnahme ist die Entmachtung von IsmÁÝÐls Privatrat (al-maÊlis al-ÌuÒÙÒÐ) durch die Einsetzung eines Ministerrats (maÊlis an-nuÛÛÁr). Dieses Organ, in dem erneut ein Brite als Minister der Finanzen und ein Franzose für den Bereich der öffentlichen Arbeiten vertreten sind, soll unabhängig vom Khediven die Regierungsgeschäfte führen und Gesetzesentwürfe erarbeiten. Diese bekommt der Khedive nur zur Bil238 ligung vorlegt. EzzelArab vergleicht die neue Vorgehensweise mit der alten, gemäß der der Khedive die Gesetze machte und diese dem Privatrat, in einigen Fällen auch der Delegiertenkammer zur Beratung vorlegte. Er beobachtet folgende neue Machtverhältnisse: Dominierend ist nun der Ministerrat, wobei die wichtigsten Ministerien von Europäern geführt werden. Vor allem für die Briten und Franzosen bedeutet dies einen erheblichen Machtausbau in die direkte Verwaltung Ägyptens hinein. Dies zieht einen großen Machtverlust der ÆawÁt nach sich, die stets den Privatrat bildeten und entsprechenden Einfluss genossen. Aber auch die Delegiertenkammer wird in ihrer Bedeu239 tung herabgestuft und aus dem legislativen Prozess ausgeschlossen. Zur Bewertung dieser Änderungen ist zunächst die formale Machtverschiebung zu hinterfragen. Hier sieht Hunter keine völlige Umkehrung der Machtverhältnisse, sondern vielmehr die Entstehung einer parallelen Macht in Form des Ministerrats. IsmÁÝÐl bleibe ein mächtiger Akteur allein dadurch, so Hunter, dass weiterhin Gesetze seiner Unterschrift bedürften und, er das Recht habe, die Delegiertenkammer einzuberufen und aufzulösen 240 und, wohl am wichtigsten, die Minister zu ernennen. Schölch hingegen 237 Baer, History of Landownership, 1962, S. 27f. 238 Hunter, a.a.O., S. 180-188. Mommsen, Imperialismus in Ägypten, 1961, S. 48f. EzzelArab, European Control, 2002, S. 45f.

239 EzzelArab, European Control, 2002, S.45f. 240 Hunter, Egypt under the Khedives, 1984, S. 201. 85

bewertet die Neuerungen nur als Gewährung eines Minimums an Macht für 241 den vormals absolutistisch regierenden Khediven. Diese Verschiebungen stünden jedoch, so Schölch weiter, nicht in Relation zu den de facto existierenden Machtverhältnissen. Unterstützung finden sie allein bei einheimischen Akteuren, die mit den europäischen Vertretern in Ägypten zusammenarbeiten, darunter die treuesten Helfer NÙbÁr Pascha und RiyÁÃ Pascha. Beide sind auch im ersten Ministerrat vertreten, ersterer sogar als Präsident des Rats, letzterer als Innenminister. Ihre Motive sind nicht eindeutig zu bestimmen, aber bewegen sich wohl zwischen Abneigung gegen den absolutistischen Herrschaftsstil IsmÁÝÐls, dem Wunsch nach besserer Finanz242 ordnung und persönlichem Streben nach Profilierung und Machtausbau. Gerade bei NÙbÁr scheint auch der Glaube an eine starke und zugleich von den Europäern unabhängige ägyptische Politik eine Rolle gespielt zu haben, der jedoch noch vor Aufnahme der Regierungsgeschäfte erschüttert 243 wird. Bemerkenswert ist, dass die Kollaborateure zwar zumeist aus der turko-tscherkessischen Elite kommen, aber keine eigene politische Gruppe bilden. Auch die wenigen einheimischen Ägypter, die sich auf Seiten der Europäer und in dem gemischten Ministerrat finden, wie z.B. ÝAlÐ MubÁrak, der Erziehungsminister, sind zumeist naturwissenschaftlich ausgebildete Technokraten und werden auch nicht von einer größeren Bewegung unterstützt. Damit verbleiben die Kollaborateure in der Abhängigkeit von den europäischen Mächten, auch wenn oft hinter der Kooperation der Versuch steht, die Europäer nur als Mittel zur Durchsetzung nationaler Ziele zu 244 benutzen. Die ersten Beschlüsse des sogenannten „europäischen“ Kabinetts zielen auf weitere Einschnitte für die ÆawÁt und aÝyÁn. Im wirtschaftlichen Bereich soll die relativ niedrige Landsteuer Ýušr angehoben werden, die vor-

241 Schölch, Ägypten den Ägyptern, 1972, S. 61-64. 242 Hunter, a.a.O., S. 190-200. 243 Schölch, Ägypten den Ägyptern, 1972, S. 65f. Bei der Zusammenstellung des Kabinetts wird die Vergabe der wichtigsten Posten von Paris und London geregelt, NÙbÁrs Wünsche finden keinerlei Beachtung. 244 Vgl. zum Beispiel die genauen Analysen der Personen NÙbÁr, RiyÁÃ und ÝAlÐ MubÁrak bei Hunter, Egypt under the Khedives, 1984, S. 123-138, S. 158-176.

86

245

nehmlich Privilegierte entrichten. Abgaben für Bauern, die von infrastrukturellen Zwangsarbeiten (corvée) befreit sind, sollen erhoben und das muqÁbala-Gesetz endgültig abgeschafft werden. Letzteres ist, wie erwähnt, für die aÝyÁn ein heikles Thema, nicht allein aufgrund der investierten Summen, sondern auch durch den mit dem muqÁbala-Gesetz verbundenen Ei246 gentumsanspruch auf die jeweiligen Ländereien. Daneben lässt sich aber auch eine Ausweitung des europäischen Einflusses in der Verwaltung top-down beobachten, das heißt, dass der französische und der britische Minister immer mehr Posten in der Administration mit Europäern besetzen. Entweder werden hier Stellen durch willkürliche Entlassungen frei, oder die Löhne der turko-tscherkessischen oder ägyptischen Beamten werden 247 gesenkt, um die Kosten der Neueinstellungen zu neutralisieren. Auch hier kann man also einen deutlichen, aber nicht vollständigen Einflussverlust der ägyptischen Notabeln verzeichnen.

4.3.2 Neue Aktivität der Delegiertenkammer 1876–78: Aufkommen von Opposition oder Instrumentalisierung des maºlis durch den Khediven? Wie im letzten Abschnitt gezeigt wurde, zeichnen sich die Jahre 1876 bis 1878 vor allem durch eine Ausweitung des europäischen Einflusses auf Kosten der politischen Macht des Khediven aus. Betrachten wir nun das Verhalten der Delegiertenkammer in den Zeiten des Umbruchs.

Außerordentliche Sitzung in ÓanÔÁ Im August 1876 wird die Angelegenheit des muqÁbala-Gesetzes zum zentralen Thema einer außerordentlichen Sitzung des maÊlis šÙrÁ n-nuwwÁb in ÓanÔÁ, einer großen Stadt im Nildelta. McCoan führt das Dilemma genau aus, in dem sich die Regierung hierbei befindet: Einerseits braucht der Staatshaushalt vor allem seit Zusammenlegung der Kredite schnell höhere Einnahmen für die Kreditzinsen, wofür das muqÁbala-Gesetz auch anfangs gedacht war. Andererseits kann sich die Regierung die Steuerausfälle, die 245 Zu Ýušr und anderen Steuerarten siehe Kap. 3.3.1. und 3.3.2. 246 EzzelArab, European Control, 2002, S. 46-48. 247 Hunter, a.a.O., S. 208f. 87

sich durch die Privilegien des Gesetzes ergeben, mittelfristig auf keinen Fall leisten. Dies wird dadurch noch verschlimmert, dass die Regierung zugestehen muss, die sehr großen Summen, die im Zuge des muqÁbala-Gesetzes von den Großgrundbesitzern auf einmal zu bezahlen sind, in Raten begleichen zu lassen, um den Kreis der potentiellen Zahler zu vergrößern. Von ursprünglich geplanten sechs Jahren zur Begleichung der Steuern bis zum Wirksamwerden der Privilegien rückt die Regierung bis 1876 ab und lässt zwölf Jahre zur Abzahlung zu bei einem jährlichen Rabatt von 8,5 %, was sich zusätzlich schlecht auf die gesamte Finanzlage auswirkt. Aufgrund des Rats französischer Finanziers, so McCoan, beschließt die Regierung im Mai 1876, das muqÁbala-Gesetz wieder abzuschaffen. In dieser Situation wird die Delegiertenkammer im August 1876 außerplanmäßig einberufen, um über das Gesetz und die damit verbundenen Finanzfragen zu 248 beraten. Betrachtet man den Verlauf der Sitzung, so fällt zunächst auf, dass der Khedive selbst nicht anwesend ist und somit auch keine Thronrede gehalten wird, in der die Regierung in dieser Angelegenheit direkt Stellung beziehen könnte. Die Beratung unter den Abgeordneten findet gemäß den Berichten ar-RÁfiÝÐs sehr rational statt. Über Beibehaltung oder Abschaffung des Gesetzes sollen Fakten entscheiden, das heißt, ob die Regierung die bereits bezahlten Summen aus dem muqÁbala-Gesetz zurückgeben kann oder nicht. Hierfür ist zum einen ein Einblick in die Haushaltslage im Allgemeinen und in die betreffenden Einnahmen im Einzelnen nötig. Um diese Zahlen zu erhalten, wird ein dreiköpfiger Ausschuss eingerichtet, der die erwünschten Informationen vom Finanzministerium einholt. Angesichts der hohen bereits entrichteten Summe von 13 Millionen Pfund stimmt die 249 Kammer der Beibehaltung des muqÁbala-Gesetzes zu. Um diese Sitzung zu bewerten, muss man sich zunächst fragen, was die Position des Khediven ist. Hierbei steht Landau mit der Position allein, dass die Regierung von den Großgrundbesitzern die Unterstützung bei der 250 Eintreibung der vorauszuzahlenden Steuern sucht. Er verweist dabei auf 248 McCoan, Egypt as it is, 1880, S. 125-127. Siehe auch Baer, History of Landownership, 1962, S. 10f.; ar-RÁfiÝÐ, ÝAÒr IsmÁÝÐl, 1982, Bd. 2, S. 165.

249 ar-RÁfiÝÐ, a.a.O., S. 168f. 250 Landau, Parliaments and Parties, 1953, S. 19. 88

McCoan, der jedoch, wie erwähnt, von einer zwischen den Forderungen der französischen Finanziers und den Interessen der Großgrundbesitzern la251 vierenden Regierung ausgeht. Ar-RÁfiÝÐ erkennt aus der Sitzung in ÓanÔÁ, dass die Delegierten des maÊlis šÙrÁ n-nuwwÁb über ein neues Selbstbewusstsein verfügen, das sie dazu bringt, Forderungen an die Regierung zu stellen und eigenständig Entscheidungen zu treffen. Er spricht sogar von einem neuen „Geist der Oppo252 sition“ (rÙÎ al-muÝÁraÃa), der in dieser Sitzung zum Vorschein gekommen sei. Gleichzeitig spricht ar-RÁfiÝÐ aber auch von einem „finanziellen Opfer“ (taÃÎiya mÁlÐya), das die Delegierten erbracht hätten, indem sie der Fortsetzung der Steuerzahlungen bei gleichzeitiger Aussetzung der Steuervergünstigungen zugestimmt hätten. Diese Bewertung stößt bei Schölch auf heftige Kritik. Denn die Abstimmung ist unter der Voraussetzung erfolgt, dass die Privilegien, die aus der Vorauszahlung der Steuern folgten, 253 weiterhin in Aussicht stehen. Des weiteren muss man sich in der Tat fragen, worin für ar-RÁfiÝÐ die Opposition gegenüber dem Khediven besteht. Denn erstens hat der Khedive die Kammer selbst zu diesem Thema einberufen und hat freiwillig, wenn auch auf Nachfrage, Informationen über den Haushalt herausgeben lassen. Zudem, so betonen Schölch und Hunter, sei die Bekräftigung des muqÁbala-Gesetzes im Interesse des Khediven gewe254 sen. Man kann zusammenfassen, dass die Delegiertenkammer im Sommer 1876 einberufen wird, um über die Beibehaltung oder Abschaffung des muqÁbala-Gesetzes zu entscheiden. Man muss hierbei erwarten, dass Provinznotabeln, die in der Kammer als Delegierte fungieren, ein großes Interesse haben, die von ihnen investierten Summen, die damit erkauften Steuerprivilegien und vor allem Landeigentumsrechte zu schützen. Hieraus kann man wohl ablesen, dass die Regierung prinzipiell eher auf Seiten der Großgrundbesitzer steht. Denn hätte die Regierung wirklich das Gesetz abschaffen wollen, hätte sie wohl kaum erst die Kammer einberufen, um sich 251 252 253 254

McCoan, a.a.O., S. 127. ar-RÁfiÝÐ, ÝAÒr IsmÁÝÐl, 1982, Bd. 2, S. 168. Schölch, Ägypten den Ägyptern, 1972, S. 79. ebd., S. 79. Hunter, Egypt under the Khedives, 1984, S. 211.

89

dann über deren explizit geäußerten Willen hinwegzusetzen. Vielmehr muss die Einberufung als Schachzug der Regierung anzusehen sein, den externen Druck auf Schuldenbegleichung durch Erhöhung der Legitimität im Inneren mittels größerer Partizipation der Notabeln abzuschwächen. Aufgrund der Kompatibilität der Interessen der Abgeordneten, die ihre Privilegien verteidigen wollen, mit denen des Khediven, dem es wohl darum geht, kurzfristige Einnahmen der langfristigen Stabilität überzuordnen, lassen sich also an dieser Stelle keine Aussagen bezüglich Gewaltenteilung und effektiver Regierungskontrolle durch die Kammer treffen. Dennoch werden in Forderungen und Handlungen der Kammer neue Machtquellen sichtbar. So stellen auf der finanziellen Ebene der geforderte und erhaltene Einblick in den Haushalt sowie die Entscheidung über die Beibehaltung oder Absetzung einer Steuer erste Schritte auf dem Weg zum parlamentarischen Budgetrecht dar. Ebenfalls bemerkenswert ist die freie Nutzung innerinstitutioneller Mechanismen zur Meinungsbildung und -artikulation, wobei hier vor allem die Plenardebatte und das Bilden von Ausschüssen zu erwähnen sind. Schließlich darf man nicht die von Patzelt als Antriebsursache bezeichnete Machtquelle vergessen, die gerade bei dieser Sondersitzung deutlich hervortritt. Denn die Motivation, die eigenen, in erster Linie ökonomischen Interessen zu sichern, trifft auf die parlamentarische Aktivität als einfaches und günstiges Mittel, dies zu erreichen. Man kann also nicht von einer am Allgemeinwohl orientierten Beschlussfassung sprechen, sondern vielmehr von der Vertretung von Partikularinteressen einer Minderheit, die einen Anteil am politischen Geschehen hat und diesen für sich nutzt.

Reguläre Sitzungen 1876–78 In erster Linie stehen ab November 1876 finanzielle Angelegenheiten im Mittelpunkt der Sitzungen. Der Khedive berichtet von seiner Übereinkunft mit den europäischen Finanzbeauftragten, die bezüglich des Vorgehens bei der Schuldenbegleichung auf dem Beschluss der Kammer von der außerordentlichen Sitzung in ÓanÔÁ beruht und demnach die Beibehaltung des muqÁbala-Gesetzes beinhaltet. Aufgrund der schlechten Haushaltslage müsse er jedoch die Gewährung der Konzessionen Jahre nach hinten verschieben. 255 ar-RÁfiÝÐ, ÝAÒr IsmÁÝÐl, 1982, Bd. 2, S. 170. 90

Die Antwort der Delegierten fällt dennoch durchweg positiv aus. Die Politik des Khediven wird als richtig und vernünftig und durch Vaterlandsliebe gekennzeichnet gesehen. Die erwähnten Maßnahmen zu Strukturierung und Abbau der Schulden seien die richtigen, um die Haushaltslage der Regierung in Ordnung zu bringen, was sich weiterhin positiv auf die Wirtschaft 256 und damit auf die Allgemeinheit auswirken werde. Bezüglich der Geschehnisse stimmen Schölch und ar-RÁfiÝÐ zwar überein, liegen jedoch in ihrer Bewertung wieder einmal weit auseinander. So erkennt ar-RÁfÐÝÐ in der Erklärung des Khediven den zunehmenden Einfluss der Delegierten, wenn IsmÁÝÐl explizit auf einen Beschluss der Kammer verweist, um seine eigene Politik zu begründen. Zudem habe der neue Geist der Kammer auch hier vorgeherrscht, was ar-RÁfiÝÐ abermals nicht konkret belegt. Er weist lediglich auf das Streben nach Meinungsfreiheit und Regierungskontrolle hin, das er in den Diskussionen der Abgeordneten 257 zu finden meint. Dies greift Schölch scharf an und spricht gar von einer 258 „Fata Morgana“, die ar-RÁfiÝÐ sehe, wenn er von aufkommender Opposition spräche. Die Kammer habe weder Macht noch Selbstbewusstsein gezeigt, obwohl ihre Privilegien aus dem muqÁbala-Gesetz gestrichen worden seien. Dies führt Schölch zurück auf die immer noch willkürlich ausgeübte Gewalt des Khediven, was zur Zeit dieser Sitzung besonders deutlich geworden sei durch den Mord an einem vormals engen Vertrauten des 259 Khediven. Aus Angst, demselben Schicksal anheimzufallen, hätten die 260 Delegierten sich durchweg kooperativ gezeigt. Schölchs Auffassung ist jedoch entgegenzuhalten, dass eben nicht alle Privilegien aus dem muqÁbala-Gesetz gestrichen worden sind, sondern „nur“ die Steuervergünstigungen. Die große Errungenschaft für die Elite der Provinznotabeln ist in erster Linie aber die Sicherung ihres Landes als Privatbesitz und damit der Schutz ihrer dort getätigten Investitionen. Das Eigentumsrecht bleibt auch 1876

256 257 258 259

ebd., S. 172. ebd., S. 172f. Schölch, Ägypten den Ägyptern, 1972, S. 79. Die Rede ist von IsmÁÝÐl ÑaddÐq. Mehr zu seiner Person siehe Hunter, Egypt under the Khedives, 1984, S.144-151. 260 Schölch, Ägypten den Ägyptern, 1972, S. 79.

91

unangetastet, so dass großer Widerstand sich für die Abgeordneten nicht lohnen oder sich sogar als kontraproduktiv erweisen könnte. In der nächsten Sitzung im Februar 1877, die aus Anlass des Kriegs des Osmanischen Reichs mit Russland außerplanmäßig einberufen wird, geht es um geplante Steuererhöhungen für die Finanzierung der Unterstützung des Sultans. Auch hier segnet die Kammer die Wünsche der Regierung ohne Widerspruch ab. Dies ist abermals für Schölch das Zeichen, dass der maÊlis allem zustimme, worum der Khedive bittet. Ar-RÁfiÝÐ hingegen wertet allein die Tatsache, dass die Kammer gefragt wird, wenn es um Steuern und Finanzen geht, als deutliches Zeichen für die Entwicklung hin zum 261 Konstitutionalismus. Zwar ist Schölchs Position schwer zu widerlegen, gleichzeitig ist die immer stetiger werdende Integration der Delegiertenkammer in politische Entscheidungsprozesse nicht zu übersehen. Dies, wie ar-RÁfiÝÐ, als Konstitutionalismus zu werten, erscheint jedoch übertrieben. Bis zu diesem Zeitpunkt kann man höchstens beobachten, dass die finanzielle Souveränität des Khediven und auch sein politischer Spielraum Stück für Stück durch die Europäer begrenzt wird. Um ein Gegengewicht zu den ausländischen Akteuren und ihren einheimischen Verbündeten zu schaffen, sucht IsmÁÝÐl immer mehr das Bündnis mit der Kammer. In der zweiten planmäßigen Sitzung von März bis Juni 1878 ist das dominante Thema die extrem niedrig ausgefallene Nilflut des vorangegangenen Jahres. Die Delegierten fordern finanzielle Hilfe von der Regierung für ihre Provinzen. Da immer mehr Ländereien von zahlungsunfähig gewordenen Fellachen verlassen werden und brach liegen, schlagen die Abgeordneten vor, die Landgüter provisorisch an liquide Personen zu vergeben. Weiterhin seien, so die Delegierten, weitere Infrastrukturmaßnahmen vor allem im Bereich des Kanalsystems von Nöten. Aufgrund der bereits laufenden Untersuchungskommission (Commission of Inquiry) der Europäer macht die Regierung hierzu keine Aussagen, da erst die Ergebnisse abgewartet 262 werden sollen. 261 ebd., S. 79f.; ar-RÁfiÝÐ, ÝAÒr IsmÁÝÐl, 1982, Bd. 2, S. 173. Die problematische Verwendung des Begriffs Konstitutionalismus, wenn von der Zunahme parlamentarischer Rechte die Rede ist, wird in 4.4.2 ausführlicher diskutiert, wenn der erste Verfassungstext analysiert wird. 262 ar-RÁfiÝÐ, ÝAÒr IsmÁÝÐl, 1982, Bd. 2, S. 173-176.

92

Schölch spricht dieser Sitzung keine große Bedeutung zu. In der Öffentlichkeit habe zu dieser Zeit die Arbeit der Untersuchungskommission eine viel wichtigere Rolle gespielt. Schölch hebt nur außerparlamentarische Aktionen mancher Delegierter hervor, die versuchen, private Kredite zu erhalten, um die Zahlungsfähigkeit ihrer Provinzen zu gewährleisten. Dies sei 263 jedoch nicht als Entwicklung des Organs selbst zu werten. Auch ar-RÁfiÝÐ sieht durch die laufende Untersuchungskommission das politische Leben zum Stillstand gebracht, so dass nicht einmal ein Haushalt beschlossen 264 wird. Fasst man noch einmal kurz die Einschätzung der Entwicklung der Delegiertenkammer von 1876–78 zusammen, so erkennt man bei ar-RÁfiÝÐ die Entstehung einer konstitutionellen Gegenmacht zum Khediven, für die er in seiner sonst so akribischen Arbeit aber keinerlei Beleg bringt. Für Schölch hingegen gibt es keinerlei Weiterentwicklung im Vergleich zu den Jahren seit der Einrichtung des maÊlis. Selbst wenn sich ein politisches Bewusstsein in dieser Zeit entwickelt habe, so habe es sich zumindest nicht mani265 festiert in irgendeiner Art von Machtressource. In einer mittleren Position findet sich Hunter, der in der Kooperation des maÊlis mit dem Khediven opportunistische Züge der Delegierten erkennt. Er meint, dass die Abgeordneten bewusst das Bündnis mit einem offensichtlich immer schwächer werdenden Khediven eingingen, um im Austausch gegen ihre Unter266 stützung die Interessen ihrer Provinzen gewahrt zu sehen. Das Spannende an Hunters These ist weniger die Beobachtung klientelistischer Strukturen, die er leider nicht belegt und die daher auch nicht weiter verfolgt werden können, sondern die Annahme, dass die Delegierten die Schwäche des Khediven erkennen und in der ständige Einberufung der Kammer und der Befragung zu aktuellen und wichtigen Angelegenheiten eine Chance für die Durchsetzung ihrer Interessen erkennen. Ich sehe daher in dieser Phase die Kammer zwar noch als Instrument des Khediven, aber verzeichne sowohl einen Anstieg der Machtquelle Zeit bezüglich der Re263 264 265 266

Schölch, Ägypten den Ägyptern, 1972, S. 80. ar-RÁfiÝÐ, a.a.O., S. 173-77. Schölch, a.a.O., S. 81. Hunter, Egypt under the Khedives, 1984, S. 211.

93

gelmäßigkeit der Sitzungen als auch der finanziellen Machtquelle durch die Mitsprache bei Steuerentscheidungen und die Einsicht in den Haushalt. Diese Faktoren können dazu beitragen, die Erwartung entstehen zu lassen, nicht mehr nur über Finanzen und Steuern des Landes zu reden, sondern auch zu entscheiden.

4.4

Phase 3: Januar bis Juli 1879: Einforderung neuer parlamentarischer Machtquellen

4.4.1 Entstehung eines Bündnisses: IsmÁþÍl, ©awÁt und Delegiertenkammer Die in Phase 2 erlittenen Machteinbußen des Khediven, der ÆawÁt und der aÝyÁn nützen der Macht des europäischen Ministerrats kaum. Vielmehr wird der Ministerpräsident NÙbÁr Opfer verschiedener Konkurrenzkämpfe, allen voran zwischen Großbritannien und Frankreich, die seine Regierung derart schwächen, dass nach außen hin nie der Eindruck eines geeinten und starken Organs entsteht. Oft muss NÙbÁr annehmen, was die Europäer ihm an Personal oder Postenverteilung anbieten, was in der ägyptischen Presse entsprechende Kritik an seiner Politik auslöst. Auch die harte Steuereintreibungspraxis sowie die dramatischen Kürzungen bei der Armee wirken sich negativ auf die Popularität der Regierung aus. NÙbÁr erlässt zudem auf Drängen der europäischen Kabinettsmitglieder ein Dekret, dass die Untersuchungskommission beauftragt, den Finanzbereich durch Gesetze und Verordnungen neu zu regeln. Dadurch wird die Legislative an ein von Ausländern dominiertes Organ gegeben und die Kammer hiervon völlig ausgeschlossen. Die Antwort des maÊlis fällt dementsprechend harsch aus, wobei die Kritik sich auf NÙbÁr selbst konzentriert. Dieser verweigert weiterhin jede Kooperation mit der Kammer. Am 18. Februar kommt es zu einer Offiziersdemonstration, an der sich auch einige Abgeordnete des maÊlis beteiligen. Hauptgrund sind die von der Regierung NÙbÁrs beschlossenen Besoldungskürzungen, die zum Teil seit Monaten ausstehenden Gehälter sowie die Pläne, die Armee deutlich zu verkleinern. Nach tätlichen Übergriffen auf NÙbÁr und den Finanzminister, den Briten Charles Rivers Wilson, sowie der Geiselnahme des Innen94

ministers RiyÁÃ und des Erziehungsministers ÝAlÐ MubÁrak greift der Khedive mit eigenen Truppen ein und löst die Demonstration auf. Am nächsten 267 Tag tritt NÙbÁr als Ministerpräsident zurück. Die Demonstration im Februar bringt den Khediven wieder als Garanten der Ordnung ins Spiel. Er strebt nach dem Rücktritt NÙbÁrs zurück an die Macht. Großbritannien und Frankreich versuchen dies zu verhindern, was zu monatelangen Streitigkeiten führt, während sich die finanzielle Krise des Landes immer weiter verschärft. Ein inhaltlicher Konfliktpunkt zwischen dem Khediven und den Europäern ist der Finanzplan, den Wilson angefertigt hat und der die Bankrotterklärung des Landes beinhaltet, was IsmÁÝÐl wiederum strikt ablehnt. Die Einigung, die getroffen wird und die den Posten des Ministerpräsidenten dem Sohn IsmÁÝÐls, TaufÐq, zuspricht, hält jedoch nur zwei Wochen.

Sitzungsperiode Januar bis April 1879 Parallel zu diesen Geschehnissen tagt die Kammer, einberufen am 2. Januar 1879 auf Wunsch des Ministerrats, der die Zustimmung der Delegierten zur Erhöhung der Steuern auf ÝušÙrÐ-Land einholen möchte. Bemerkenswert ist eine besonders kurze Eröffnungsrede, in der der Khedive die Agenda der Sitzungsperiode nur mit Themen der Finanzen und öffentlichen Arbeiten 268 umreißt. Ebenfalls auffallend ist, dass die zweite Sitzung der neuen Periode, in der der Ausschuss zur Beantwortung der Rede des Khediven ge269 wählt wird, bereits am selben Tag abgehalten wird. Die Antwort, die der auch später noch sehr aktive Abgeordnete ÝAbd as-SalÁm al-MuwailiÎÐ am 6. Januar vorträgt, schlägt ganz neue Töne an. Ar-RÁfiÝÐ spricht sogar von einer historischen Rede. Zunächst werden die Delegierten als die Repräsentanten des ägyptischen Volks bezeichnet und ihre Rolle als Verteidiger der Rechte und Interessen der Ägypter betont. Die Wünsche des Volkes werden mit denen der Regierung gleichgesetzt und man dankt dem Khediven dafür, dass er den maÊlis einberufen hat, „der die Grundlage der Zivilisation und Ordnung ist..., der das notwendige 267 Hunter, Egypt under the Khedives, 1984, S. 203-205, 213-216. 268 Schölch, Ägypten den Ägyptern, 1972, S. 82. 269 ar-RÁfiÝÐ, ÝAÒr IsmÁÝÐl, 1982, Bd. 2, S. 177. 95

Mittel zur Erlangung der Freiheit ist, welche die Quelle von Fortschritt und Aufstieg und die wahre antreibende Kraft bei der Verbreitung rechtlicher Gleichheit ist, die wiederum das Wesen der Gerechtigkeit und der Geist der 270 Billigkeit ist.“ Hieraus wird gut ersichtlich, welche Rolle sich die Kammer – zumindest deklaratorisch – zuschreibt. Als Fundament der Ordnung soll sie der Durchsetzung von Freiheit, Gleichheit und Gerechtigkeit dienen und den Fortschritt vorantreiben. Dabei wird betont, dass dies alles in Einklang mit dem Khediven stünde. Diese Front aus maÊlis und Khediven bleibt auch im Lauf der Sitzungsperiode bestehen, in der vor allem die europäische Regierung angegriffen wird. In der Tat kommt allein der französische Minister aus NÙbÁrs Kabinett auf die Delegiertenkammer zu, indem er an einigen Sitzungen teilnimmt und sich der Diskussion stellt. Dennoch versucht auch er nur, den Delegierten weitere Zugeständnisse abzuringen. NÙbÁr und Finanzminister Wilson verweigern jegliche Kooperation, was schließlich dazu führt, dass als Diskussionsgrundlage für die finanziellen Probleme nicht auf die angeforderten, aber von Wilson verweigerten Informationen gebaut wird, sondern auf eine von der Kammer selbst erstellten Übersicht über die Steuergelder. Dies wird verbunden mit gezielten Forderungen nach Steuer271 entlastungen. Die Kammer, die während der Offiziersdemonstrationen, des Rücktritts NÙbÁrs und der langen Verhandlungen über dessen Nachfolge weiterhin tagt, versucht sich in Steuerangelegenheiten bei Wilson Gehör zu verschaffen. Da der eigentliche Zweck der Einberufung der Kammer, die Zustimmung zu Steuererhöhungen, angesichts des zunehmend fordernden Auftretens der Kammer nicht mehr erreichbar erscheint, soll die Sitzungsperiode als beendet erklärt werden. Die Delegierten jedoch verlangen eine zweimonatige Verlängerung, um bezüglich der akuten Finanzfragen mitzureden und gehört zu werden. In ihrem anhaltenden Protest verweisen die Abgeordneten auf Rechte, die angeblich seit 1866 gegolten hätten, allen voran das Recht, über den Haushalt zu diskutieren und zu entscheiden. Größte

270 Übersetzt nach dem Originaltext bei ar-RÁfiÝÐ, a.a.O., S. 178. 271 Zahlreiche Beispiele bei Schölch, a.a.O., S. 84f., 88. 96

Kritikpunkte an der Regierung sind die Abschaffung des muqÁbala-Gesetzes und die Erklärung des Staatsbankrotts. 1879 beobachtet man also einen Schulterschluss zwischen Khediven und Delegiertenkammer. Um die eigenen sowohl ökonomischen als auch politischen Interessen zu wahren, bildet sich die Allianz gegen den gemeinsamen Gegner, die europäischen Akteure und die Regierung der Kollaborateure unter NÙbÁr. Als treibende Kraft sieht hier Hunter den Khediven, der die Provinznotabeln nur instrumentalisiere, um an die Macht zurückzukehren. Zudem sei die oppositionelle Haltung der Kammer verstärkt worden 272 durch die in der Presse vorherrschende antieuropäische Stimmung. Cannon spricht davon, dass sich die Kammer mit der Khedivenherrschaft identifiziere, was an den jeweiligen politischen und sozioökonomischen Inter273 essen liege, die den Khediven und die Kammer aneinander binde. Schölch hingegen gibt zu bedenken, dass von einer autonomen Rolle der Parlamentarier nicht die Rede sein könne, da die Rechte, die die Abgeordneten in der Kammer fordern, selbst bei einer Rückkehr des Khediven an 274 die Macht erst einmal erkämpft werden müssten. Was allen Autoren gemeinsam ist, ist die Überzeugung, dass die Kammer keine eigenständige Macht darstellt, sondern vom Khediven abhängt, je nach Autor in unterschiedlichem Grad. Zudem setzen sie voraus, dass Rechte, die einmal, wenn auch zum Teil nur deklaratorisch, gewährt worden sind, problemlos wieder aufgehoben werden können. Die Eigendynamik, die institutionelle Veränderungen wie die Stärkung eines Parlaments in einem politischen System entwickeln können, wird hier völlig unterschätzt. Gleichzeitig wird die Macht eines ehemaligen Alleinherrschers, dessen Position von mehreren Seiten angegriffen wird, überschätzt. Ar-RÁfiÝÐ und EzzelArab betonen demgegenüber die die eigenständige Rolle der Kammer im Machtkampf. Der Widerstand, der sich im maÊlis formiert, sei, so ar-RÁfiÝÐ, durch das Dekret zur Neuregelung der Finanzge275 setze ausgelöst worden. Dies erscheint völlig plausibel, wenn man be272 273 274 275

Hunter, Egypt under the Khedives, 1984, S. 220. Cannon, Politics of Law and the Courts in Nineteenth- Century Egypt, 1988, S. 90. Schölch, Ägypten den Ägyptern, 1972, S. 83. ar-RÁfiÝÐ, ÝAÒr IsmÁÝÐl, 1982, Bd. 2, S. 185.

97

denkt, dass eben jenes Dekret die Funktionen der Kammer wie Beratung und Mitsprache beim Haushalt umfassend beschneidet, indem es der Untersuchungskommission weite legislative Rechte zuspricht. Dies ist in der Tat ein Rückschritt selbst hinter die Anfangsphase des maÊlis von 1866. Angesichts des festgestellten zunehmenden Bewusstseins der eigenen politischen Rolle und des Erlernens inner- und interinstitutioneller Prozeduren 276 kann hieraus eine starke Motivation zum Widerstand abgeleitet werden. In der Tat beobachtet auch EzzelArab, dass die Delegierten eine Beteiligung an der Legislative fordern, die eindeutig über die Beratung, den ur277 sprünglichen Zweck der Kammer, hinausgeht. Vor allem die inhaltlich fundierte und konkrete Steuerdiskussion lässt sogar Schölch die Kammer „als würdige Vertreter der unmittelbaren Interessen der von ihnen repräsen278 tierten Bevölkerung“ bezeichnen. Noch genauer wird die Analyse, wenn man die Errungenschaften der Delegiertenkammer in dieser Phase den Ursachenkategorien parlamentarischer Macht nach Patzelt zuordnet. Hierdurch erkennt man, dass es im Bereich der finanziellen Materialursache zwar noch nicht zu einem Steuerbewilligungsrecht kommt, aber das Recht, zumindest in den Haushalt Einsicht zu erhalten und über ihn zu beraten, vehement eingefordert wird. Die Machtquelle der Kommunikation wird eindeutiger denn je erschlossen in der Antwortrede auf die Eröffnung des Khediven, in der ganz offensiv die Möglichkeit genutzt wird, die eigene Stellung neu zu definieren. Die Ressource Zeit wird sogar gegen den Willen der Regierung erzwungen, als, statt der Auflösung der Kammer Folge zu leisten, die Beratungen einfach fortgesetzt werden. Dieses Verhalten wird legitimiert durch neue Leitideen, die sich die Parlamentarier gesetzt haben: die Repräsentation des ägyptischen Volks und die Sicherung von Freiheit und Gerechtigkeit. Der interinstitutionelle Mechanismus der parlamentarischen Anfrage an einen Minister (Interpellation) wird im Lauf der Sitzungsperiode genutzt, um Kritik am Ministerrat zu äußern und, wenn auch ohne Sanktionspotential, Regierungskontrolle zu betreiben. 276 ar-RÁfiÝÐ, a.a.O., S. 182. EzzelArab, a.a.O., S. 55. 277 EzzelArab, European Control, 2002, S. 54f. 278 Schölch, Ägypten den Ägyptern, 1972, S. 84. 98

Die Auswertung der parlamentarischen Entwicklung zeigt einen deutlichen Machtzuwachs im Vergleich zu vergangenen Sitzungen. Zwar ist es zweifellos richtig – worauf Schölch und Hunter hinweisen –, dass die Erschließung neuer parlamentarischer Machtquellen im Bündnis mit dem Khediven und der turko-tscherkessischen Elite geschieht und in dieser Allianz die Delegierten nicht die mächtigste Partei stellen. So gehen erwähnte Autoren davon aus, dass diese Zugeständnisse an die Delegiertenkammer nur gewährt werden, um die Unterstützung der Delegierten für den Khediven und dessen Anhänger zu sichern. Meines Erachtens müsste aber auch bedacht werden, dass die Stärkung des Parlaments mit dem Ziel verfolgt wird, den Ministerrat mit europäischen Ministern und ägyptischen Kollaborateuren innerhalb des politischen Systems zu schwächen. Dies bedeutet, dass die Gewährung der neuen Rechte des Parlaments für dessen Koalitionspartner zwar möglicherweise nur als temporäre Konzession angesichts des gemeinsamen Gegners gedacht ist. Dass sich das Parlament jedoch bei veränderter Bündniskonstellation eher von seinen momentanen Partnern emanzipieren könnte als gewonnene Rechte abzutreten, haben dagegen wohl weder Schölch noch Hunter bedacht.

4.4.2

Das Reformprogramm al-lÁÿi½a al-waÔanÍya: Finanzplan und politische Forderungen

Auf Betreiben IsmÁÝÐls wird ein eigenständiger Entwurf für die Regelung der Finanzen, der den des Briten Wilson unnötig machen soll, unter Mithilfe einiger Provinznotabeln erstellt. Weitere Unterstützung erfährt diese Initiative sowohl von ägyptischen und turko-tscherkessischen Beamten, die sich von den Europäern zunehmend verdrängt und marginalisiert sehen, von den ÝulamÁÞ, die gegen den Einfluss „Ungläubiger“ im Land vorgehen, von den Armeeoffizieren, deren Gründe bereits in der Demonstration im Februar klar geworden sind, als auch von reichen Großgrundbesitzern, die ihre Steuerprivilegien sichern möchten. Letztere finden sich unter den Ab279 geordneten der Kammer, die ihre Rechte als Institution ausbauen wollen. 280 („das nationale ProDie Bewegung um die lÁÞiÎa al-waÔanÐya 279 Schölch, Ägypten den Ägyptern, 1972, S. 90. 280 Da das Originaldokument nicht zugänglich war, wird es hier nur indirekt zitiert. 99

gramm“) ist also äußerst heterogen hinsichtlich des sozialen Status, ethnischen Hintergrunds und der Stellung der Teilnehmer im Staatsapparat. Dies wertet EzzelArab als Vorteil, da „strong ability for mobilization and broad 281 representation“ gewährleistet seien. Zudem sei dadurch die Nation als gemeinsamer Nenner der verschiedenen Gruppen bereits vorbestimmt. Dennoch sei die Bezeichnung „nationale Partei“, wie sie gelegentlich ver282 wendet wird, eine Übertreibung, da keine feste Institution sich aus dieser Bewegung gebildet habe. Schölch sieht ebenfalls keine Partei gegeben, erkennt aber als einendes Band nicht ein nationales Bewusstsein, sondern nur 283 die Auflehnung gegen europäische Einmischung. Die nationale Basis völlig auszuschließen erscheint jedoch schwer möglich, gerade da die selbstgewählte Bezeichnung für das Reformprogramm der Begriff waÔanÐ ist, also „national“. Dennoch soll an dieser Stelle nicht über mögliche frühe Formen des ägyptischen Nationalismus diskutiert, sondern die lÁÞiÎa mit ihrem reichen Forderungskatalog in ihrer Bedeutung für die Entwicklung der Landnotabeln und der Delegiertenkammer genauer untersucht werden. Wohl um dem Abschlussbericht der Untersuchungskommission und der darin enthaltenen Neuordnung der Finanzen und Verwaltung zuvorzukom284 men, werden am 7. April 1879 unter dem Namen al-lÁÞiÎa al-waÔanÐya in insgesamt vier Dokumenten den europäischen Generalkonsuln Forderun285 gen und Reformvorhaben vorgelegt. Wie erwähnt geht es hierbei um die Ablehnung des Finanzplans von Wilson und das Aufzeigen eines Gegen-

281 282

283 284 285

Dieses Manko ist jedoch verkraftbar, zumal die politischen Forderungen der lÁÞiÎa im Verfassungsentwurf vom Mai 1879 entfaltet werden, der wiederum bei ar-RÁfiÝÐ vollständig abgedruckt ist und der genauen Analyse dienen wird. Ezzel Arab, European Control, 2002, S. 60. Beispielsweise Goldschmidt, Arthur: National Party (Egypt). In: The Encyclopedia of the Modern Middle East and North Africa. Hrsg. Philip Mattar, 2. Aufl. Detroit, 2004, Bd. 3, S. 1663-1664. Eine genauere Quellendiskussion zur Frage der Existenz einer „Nationalpartei“ siehe Schölch, a.a.O., S. 296, Anm. 189. Schölch, a.a.O., S. 296, Anm. 189. EzzelArab, European Control, 2002, S. 58. Zu den vier Dokumenten zählen einige Autoren, darunter Schölch, eine Erklärung des Khediven, in der dieselben Positionen wie in den restlichen Teilen der lÁÞiÎa vertreten werden. EzzelArab dagegen weist darauf hin, dass in offiziellen Berichten diese Deklaration des Khediven nicht Bestandteil gewesen und daher vielmehr als eine Antwort auf die lÁÞiÎa zu sehen sei, was den Khediven zum Empfänger und nicht zur Treibkraft der lÁÞiÎa mache. Ezzel Arab, a.a.O., S. 77.

100

plans, der zwar die Verpflichtungen Ägyptens erfüllt, aber auf die Bankrotterklärung, die Anhebung der Ýušr-Steuer und die Abschaffung des mu286 qÁbala-Gesetzes verzichtet. Diese Maßnahmen sind mit Reformen des politischen Rahmens verbunden, und zwar einer Stärkung der Delegiertenkammer durch die Verleihung weitreichender Kompetenzen in der Innenund Finanzpolitik. Mit explizitem Verweis auf europäische Parlamente wird gefordert, ein neues Wahlgesetz sowie im erwähnten Politikbereich 287 die Verantwortlichkeit der Regierung gegenüber der Kammer einzuführen. Bezüglich der Finanzvorschläge bemerkt Schölch, dass keinerlei Maßnahmen beschlossen sind, die für die Privilegierten des Landes Einschnitte bedeuten würden. Auch die in der Kammer diskutierte Frage einer großen Steuerreform habe keinen Eingang in die lÁÞiÎa gefunden. Wie mit dem vorgelegten Gegenplan eine finanzielle Konsolidierung hätte stattfinden 288 können, bleibe demnach offen. Auch EzzelArab kann nicht erklären, warum die Delegierten nicht auf ihre bereits ausgearbeitete Steuerreform drängen. Trotzdem besteht er darauf, die lÁÞiÎa als einen konstruktiven 289 Haushaltsvorschlag zu sehen. Statt der vorgesehenen Maßnahmen im Wilson-Plan zielt die Konsolidierung des Haushalts hier auf die Erhöhung kurzfristiger Einnahmen, allen voran der Einnahmen durch das muqÁbalaGesetz. Diese Gelder werden dafür eingerechnet, die Schulden sogar schneller zurückzuzahlen, als dies nach dem Wilson-Plan der Fall gewesen 290 wäre. Auch ar-RÁfiÝÐ ist es wichtig zu betonen, dass sich die lÁÞiÎa nicht gegen die ausländischen Einflüsse generell richtet, sondern stets die Interessen der Gläubiger im Blick hat und die finanziellen Verpflichtungen 291 Ägyptens erfüllen kann. Zur Bewertung dieser Entwicklung merkt EzzelArab an, dass das Besondere am Finanzplan der lÁÞiÎa nicht die Maßnahmen selbst sind, die in der Tat vorwiegend dem Interesse der privilegierten Schichten dienen, son286 Die einzige Gemeinsamkeit mit Wilsons Plan ist die Senkung des Zinsfußes des 287 288 289 290 291

unifizierten Kredits auf 5%. Schölch, Ägypten den Ägyptern, 1972, S. 91. Schölch, a.a.O., S. 91f. EzzelArab, a.a.O., S. 56. ebd., S. 69-71. ar-RÁfiÝÐ, ÝAÒr IsmÁÝÐl, 1982, Bd. 2, S. 203.

101

dern dass ein gemeinsamer Wille verschiedener Eliten zur Übernahme der kollektiven Verantwortung für die Finanzen bestünde und sich in der Ausführung des Plans ausdrücken würde. „The willingness of the elites to assume such responsibility practically elevated them to a position of direct re292 sponsibility for the country’s government“, woraus EzzelArab weiter folgert, dass hierdurch der Machtanspruch der Eliten deutlich zugenommen habe, was sich in den politischen Reformen der lÁÞiÎa widerspiegele.

Reform des politischen Systems In der lÁÞiÎa wird explizit gefordert, im Gegenzug zu den notwendigen Maßnahmen im fiskalen Bereich die Delegiertenkammer mit vollständigen Rechten und Freiheiten über finanzielle und innere Angelegenheiten zu 293 versehen, wie dies in Europa der Fall sei. Um dieser Entwicklung auch begrifflich Rechnung zu tragen, wird von der Delegiertenkammer nicht mehr als „maÊlis šÙrÁ n-nuwwÁb“, sondern von nun an als „maÊlis annuwwÁb“ gesprochen. Die Beifügung „šÙrÁ“ (Beratung), die die Rolle der Kammer auf die Konsultation beschränkt hat, wird also gestrichen. Konkret bedeuten die Forderungen, dass eine Änderung der im Jahr 1866 festgelegten Statuten notwendig ist. Der Ministerrat erhält die Aufgabe, das Wahlrecht gemäß europäischem Vorbild zu modifizieren, eine neue Verfassung zu entwerfen, diese der Kammer zur Beratung und Abstim294 mung vorzulegen und schließlich vom Khediven ratifizieren zu lassen. Bevor die neue Verfassung, die in der lÁÞiÎa gefordert wird, genauer betrachtet wird, soll zum einen auf eine rhetorische Auffälligkeit und zum anderen auf die Machtverschiebungen im politischen System aufmerksam gemacht werden. Interessanterweise wird beim Verweis auf „die Länder in Europa“ als Vorbild für Reformen nie weiter spezifiziert, welches Land denn im Konkreten als Modell dienen soll. Dass bezüglich des politischen Systems unter den wohl gemeinten europäischen Ländern Großbritannien und Frankreich große Unterschiede bestehen, bedarf wohl keiner weiteren Erläuterung. Meines Erachtens ist mit dem Verweis auf europäische Vor292 EzzelArab, European Control, 2002, S. 72. 293 ebd., S. 73. 294 ebd., S. 73f. 102

bilder eher eine Legitimationsstrategie verbunden: Einerseits nach außen gegenüber den als Modell dienenden Staaten selbst, die durch die Übernahme ihrer Strukturen von Stabilität und Effizienz des reformierten Systems überzeugt werden sollen; andererseits als Legitimation nach innen, indem der Verweis auf Europa als Beispiel für das Existieren der gewünschten Strukturen und als eventueller Leitfaden und Maßstab dient, gemäß dem Reformen im eigenen Land unternommen und bewertet werden können. Betrachtet man nun die Verschiebungen im Machtgefüge, so fällt auf, dass die Position der Europäer im System, das in der lÁÞiÎa entworfen wird, eine deutliche Machtminderung erfährt. Statt der zwei europäischen Vertreter im Ministerrat – was direkten Einfluss auf die Exekutive bedeutet – sollen, in Anlehnung an die Vereinbarungen von 1876 (siehe Kapitel 4.3.1) 295 zwei europäische Kontrolleure die ägyptischen Finanzen überwachen. Dennoch findet sich eine Stelle in der lÁÞiÎa, in der der Wunsch nach „le 296 contrôle le plus étendu sur l’administration financière“ geäußert wird. Zudem wird ein weiteres Organ vorgeschlagen, eine Art Staatsrat, der mit einigen Europäern besetzt in erster Linie zur Ausarbeitung von Gesetzes297 vorlagen hätte eingerichtet werden sollen, jedoch nie eingerichtet wird. Es lässt sich eine Machtbeschneidung bei gleichzeitiger Einbindung erkennen und, wie ar-RÁfiÝÐ festhält, keine Verletzung von Abkommen mit ausländischen Mächten durch die politischen Reformen und sogar die Beibe298 haltung der Dual Control im reformierten politischen System. „[The elites] virtually recognized Europe as a permanent party to the power struc299 ture“, so EzzelArab, der damit die Rolle der Europäer auf die Beratung zurückgedrängt sieht. Dies scheint hingegen zu weit gegriffen. Zwar wird die politische Macht der Europäer in der lÁÞiÎa von direkter auf indirekte Einflussnahme auf die Regierung reduziert. Die Rolle der Finanzkontrol295 Offiziell war die Einsetzung des britischen und französischen Ministers in NÙbÁrs

296 297 298 299

Kabinett nur eine temporäre Ausweitung der 1876 geregelten Finanzaufsicht der Europäer , die sowieso mit dem Rücktritt eines europäischen Ministers wieder hätte eingeführt werden sollen. Vgl. EzzelArab, European Control, 2002, S. 75. Schölch, Ägypten den Ägyptern, 1972, S. 94. ebd., S. 94. ar-RÁfiÝÐ, ÝAÒr IsmÁÝÐl, 1982, Bd. 2, S. 203. EzzelArab, a.a.O., S. 75.

103

leure jedoch allein als konsultativ zu sehen, vernachlässigt die Macht, die der Finanzkontrolle, gerade in der prekären Schuldensituation Ägyptens, innewohnt. Dieser Einwand soll jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Macht der Europäer empfindlich beschnitten werden soll. Während die Europäer also durch die lÁÞiÎa an Macht verlieren, sind die größten Gewinner, wie EzzelArab analysiert, die Provinznotabeln und deren Vertretungskörperschaft, der maÊlis an-nuwwÁb. EzzelArab erklärt dies dadurch, dass die ÆawÁt, deren Macht durch die europäische Präsenz in der Regierung stark beschnitten ist, zu einigen Zugeständnissen bereit 300 seien, solange ihre Vormacht im Kabinett wieder hergestellt werde. Zudem steht die öffentliche Meinung, wie in verschiedenen Zeitungen dargelegt, einem konstitutionellen System mit einer Gewaltenteilung zwischen Ministerrat und Kammer, beide gebunden an die Gesetze, aufgeschlossen 301 gegenüber.

Umsetzung der lÁÞiÎa al-waÔanÐya Mit der Erklärung der lÁÞiÎa al-waÔanÐya tritt TaufÐq als Ministerpräsident zurück. IsmÁÝÐl beauftragt ŠarÐf Pascha, einen hohen turko-tscherkessischen Beamten und alten Vertrauten des Khediven, mit der Regierungsbildung. Die zwei wichtigsten Aufgaben, die IsmÁÝÐl an ŠarÐf stellt, sind die Umsetzung des Finanzplans und die Ausarbeitung der neuen Verfassungsordnung für die Delegiertenkammer. In der Rechtfertigung für die politische Rahmenveränderung bezieht sich der Khedive auf die Regelungen vom August 1878, in der die Europäer die Unabhängigkeit des Ministerrats und die Ab302 schaffung absolutistischer Herrschaft gefordert haben. Das neue Kabinett wird abermals allein aus Mitgliedern der turkotscherkessischen Elite gebildet. Die anderen Gruppen des Bündnisses zeigen sich dennoch mit dem Machtwechsel zufrieden, zumal IsmÁÝÐl seine Partner versöhnlich zu stimmen sucht. Die Armee wird deutlich ausgebaut, einige Offiziere der Februardemonstration werden befördert. Die Delegiertenkammer darf weiter tagen und bekommt von ŠarÐf Pascha einen Verfas300 EzzelArab, European Control, 2002, S. 75. 301 ebd., S. 74, Zitat aus al-AhrÁm, 13.3.1879, ar-RÁfiÝÐ, ÝAÒr IsmÁÝÐl, Bd.2, S. 176, Zitat aus at-TiÊÁra, 23.12. 1878.

302 EzzelArab, a.a.O., S. 79. 104

303

sungsentwurf vorgelegt, den ein Ausschuss der Kammer unter ÝAbd 304 as-SalÁm al-MuwailiÎÐ berät. Die Tatsache, dass keine Abgeordneten oder ägyptischen Provinznotabeln den Weg ins Kabinett finden, wird unterschiedlich bewertet. Für Schölch zeigt dies, dass die Delegiertenkammer keinen Einfluss gewinnen 305 kann. Dem ist jedoch entgegenzusetzen, dass Zugehörigkeit zu den staatlichen Organen bis zu diesem Zeitpunkt immer ethnisch bestimmt gewesen sei, das heißt ägyptische Notabeln (aÝyÁn) in der Delegiertenkammer, turko-tscherkessische Eliten (ÆawÁt) im Privatrat und ab 1878 im Ministerrat. 306 So spricht auch EzzelArab von einem „power-sharing deal“, der durchaus konsistent ist mit den Vereinbarungen in der lÁÞiÎa. Recht hat Schölch nur insofern, als er die Rede des Khediven von einer „wahrhaft ägyptischen Regierung“ als bloße Rhetorik entlarvt. Auf wen die Bewegung um die lÁÞiÎa zurückgeht, ist ebenfalls umstritten. Schölch sieht die Initiative der Bewegung bei IsmÁÝÐl, der den Gegenfinanzplan von eigenen Mitarbeitern hat entwerfen lassen und die turkotscherkessischen Beamten und die Provinznotabeln der Delegiertenkammer nur nutzt, um öffentlich Stimmung für sich und gegen die Europäer zu machen. Dennoch hätten die Abgeordneten nicht aufgrund von Zwang, sondern von großen Anreizen kooperiert, da der Khedive ihre wichtigsten Forderungen sowohl aus privater (das heißt der der Großgrundbesitzer) als 307 auch aus institutioneller Perspektive (der des Parlaments) vertreten habe. Dies widerspricht der Position, wie sie Hunter Schölch zuschreibt, nach der 308 die lÁÞiÎa schlicht die Restauration der alten Ordnung bedeutet hätte. Zwar wird dies auf der ökonomischen Seite versucht, in dem die Privilegien der Eliten bestätigt werden, auf politischer Ebene kann von einer Restauration – auch bei Schölch – nicht die Rede sein. Weiterhin hebt Hunter 303 304 305 306

S. Kapitel 4.4.3. Schölch, Ägypten den Ägyptern, 1972, S. 92-94. ebd., S. 92. EzzelArab, a.a.O., S. 82. Die ethnische Machtverteilung in der Armee hingegen erfolgt vertikal, mit den Turko-Tscherkessen stets an der Spitze. Details und Auswirkungen siehe Kap. 4.5.1. 307 Schölch, Ägypten den Ägyptern, 1972, S. 89f. 308 Hunter, Egypt under the Khedives, 1984, S. 219f.

105

die Rolle des Khediven hervor, der die Delegiertenkammer durch Übermittlung geheimgehaltener Finanzpläne der Europäer bewusst angestachelt 309 haben soll. Dies verleiht dem Verhalten der Kammer das Stigma, instrumentalisiert worden zu sein. Dieser Auffassung widerspricht EzzelArab, der den Ursprung der lÁÞiÎa bei ÆawÁt und aÝyÁn mit Unterstützung einiger ÝulamÁÞ und Offiziere sieht, deren Bewegung der Khedive sich anschließt, 310 um seine Interessen zu verfolgen. Als Folge dessen wird der Khedive, der das Bündnis mit den erwähnten Kräften eingeht, als ein Teil, nicht jedoch als Führung der Bewegung verstanden. Diese Sichtweise findet man auch bei ar-RÁfiÝÐ, der den Widerstand der Kammer als direkte Reaktion auf die Finanzgesetze der Regierung NÙbÁrs vom 6. Januar versteht und die lÁÞiÎa inklusive des Gegenfinanzplans von Abgeordneten, ÝulamÁÞ und 311 Händlern entworfen sieht. Da die ursprüngliche Triebkraft der lÁÞiÎa nicht eindeutig zu klären ist, kann zur Bewertung der Entwicklungen und zur Beantwotung der für diese Arbeit wichtigen Frage nach dem Machtzuwachs der Delegiertenkammer eher die Analyse des Verfassungsentwurfs dienen, der im Zuge der Umsetzung der lÁÞiÎa von ŠarÐf Pascha dem maÊlis vorgelegt wird. Eine Bemerkung noch zu dem folgenden Entwurf: Zwar ist von einer Verfassung (dustÙr) die Rede, jedoch handelt es sich genau genommen um die Organisation der Kompetenzen der Kammer und ihrer Beziehungen zu anderen Staatsorganen. Damit fehlen die heute elementaren Bestandteile einer Verfassung, nämlich Menschen- und Bürgerrechte, mit Ausnahme des 312 Petitionsrechts völlig. Dennoch wird hier der offizielle Sprachgebrauch beibehalten und der folgende Text als Verfassungsentwurf bezeichnet.

309 310 311 312

ebd., S. 220. EzzelArab, European Control, 2002, S. 66f. ar-RÁfiÝÐ, ÝAÒr IsmÁÝÐl, 1982, Bd. 2, S. 185, 200. Oberreuter, Hans: Verfassung. In: Politische Theorie und Regierungslehre. Eine Einführung in die Politikwissenschaftliche Institutionenforschung. Hrsg. Ludger Helms und Uwe Jun, Frankfurt a.M., 2004, S. 45-73, hier S. 45f.

106

4.4.3 Analyse des Verfassungsentwurfs von 1879: Neue Machtquellen für den maºlis 313

Der 49 Artikel umfassende Entwurf weist keine durchgehende Strukturierung auf, weshalb die Untersuchung nach den Ursachenkategorien parlamentarischer Macht gegliedert ist. Die Machtquelle, finanzpolitische Entscheidungen zu treffen, wird zum ersten Mal der Delegiertenkammer zugebilligt. Sowohl das Steuerbewilligungsrecht als auch die Genehmigung der Staatsausgaben, die jährlich zu erfolgen hat, werden nach Art. 45 und 46 in die Hände des Parlaments gelegt. Die Bedingungen für Kommunikation als parlamentarische Machtursache erfahren ebenfalls eine Verbesserung. In Art. 9 wird dem Delegierten völlige Meinungs- und Entscheidungsfreiheit zugesprochen. Art. 15 bis 17 regeln die Immunität, die ein Delegierter genießt und die nur in Fällen schwerer Verbrechen aufgehoben werden kann. Sollte gegen das Immunitätsprinzip verstoßen werden, kann die Kammer die Freilassung des Abgeordneten einfordern. Im Rahmen infrastruktureller Konditionen kann allein die Jahrespauschale für Logis in Kairo und Reisekosten, die 10.000 Qirš beträgt, als positiv für den Machtausbau angerechnet werden (Art. 19). Die Ressource Zeit wird hingegen weiter ausgebaut, in erster Linie bezüglich der Regelmäßigkeit der Einberufung. In Art. 3 bis 5 wird die Dauer der Legislaturperiode auf drei Jahre, die jährliche Sitzungsperiode auf drei Monate ab dem koptischen Kalendermonat Kiahk festgesetzt. Negativ für den Faktor der Verlässlichkeit der Einberufung ist zu bewerten, dass gemäß Art. 6 der Khedive mit dem Verweis auf besondere Umstände die Dauer der Versammlung kürzen kann oder die Kammer gar nicht erst einberufen muss. Die Frage nach der großen Leitidee, die ein Parlament legitimiert, findet sich im Verfassungsentwurf an wenigen Stellen beantwortet, davon einmal in Art. 8, der besagt, dass sich die Delegierten als Repräsentanten der ägyptischen Bevölkerung als Ganzes und nicht allein ihren jeweiligen Wahlkreisen verpflichtet fühlen sollen. An anderer Stelle (Art. 18) wird der 313 Der folgenden Analyse liegt der Verfassungsentwurf zugrunde, wie er bei ar-RÁfiÝÐ, ÝAÒr IsmÁÝÐl, 1982, Bd. 2, S. 214-220, zu finden ist. Ar-RÁfiÝÐs Quelle ist al-AhrÁm, 1879, Nr. 12. Übersetzung siehe Anhang 6.1.

107

Eid der Delegierten bei Amtsübernahme zu Loyalität dem Khediven gegenüber, zur Einhaltung der Gesetze und zur Ausübung des Amtes zum Wohl der Heimat gefordert. Die Formursachen parlamentarischer Macht, die sich neben den Materialursachen wohl am besten aus positivem Recht herauslesen lassen, finden sich in unterschiedlichem Maße. Die Binnenstruktur der Delegiertenkammer weist nach wie vor keine merkliche Ausdifferenzierung auf, im ganzen Verfassungsentwurf findet sich kein einziger Hinweis auf parlamentarische Ausschüsse, was größere fachliche Spezialisierung und damit möglichst breite Regierungskontrolle nicht fördert. Intra-institutionelle Mechanismen dagegen, die dazu beitragen, dass wichtige Positionen mit den fähigsten und einflussreichsten Parlamentariern besetzt werden, finden Eingang in den Verfassungsentwurf. So wählt die Delegiertenkammer gemäß Art. 13 ihren Präsidenten, dessen Stellvertreter und Sekretäre. Besonders im Fall des Kammerpräsidenten stellt die Selbstständigkeit des Organs eine Neuerung dar, da zuvor dieser wichtige Posten stets mit einem Mitglied der turko-tscherkessischen Elite besetzt war, das der Khedive ernannt hatte. Generell wird der Kammer größere Autonomie zugesprochen, da sie sich nach Art. 33 selbst eine Geschäftsordnung geben kann. Hinsichtlich der interinstitutionellen Mechanismen, die parlamentarische Macht begründen können, wird klar, dass sie im Ausbau begriffen sind. Am deutlichsten wird dies im Verhältnis der Delegiertenkammer zum Ministerrat. Zunächst ist in Art. 38 die Inkompatibilität von Delegiertenamt 314 und Ministerposten festgeschrieben. In Art. 25, 39 und 40 wird der Regierung jedoch ein Rederecht in der Kammer garantiert. Über Vorlagen der Regierung berät die Kammer und übermittelt ihre Ergebnisse wieder an den Ministerrat (Art. 10). Kommt es zu Meinungsverschiedenheiten, die trotz wiederholtem Procedere nach Art. 10 nicht gelöst werden können, kann der Khedive die Kammer auflösen und neu wählen lassen. Sollte die neue Kammer die Meinung der alten bestätigen, so gilt diese Position als ange314 Dies steht allerdings im Widerspruch zu Art. 20 des Verfassungsentwurfs, in dem die Minister, die Finanzinspektoren der Distrikte und ihre Stellvertreter sowie die Provinzdirektoren und ihre Stellvertreter in die Delegiertenkammer aufgenommen werden dürfen, solange ihre Anzahl nicht ein Fünftel der gesamten Delegierten überschreitet.

108

nommen (Art. 11). Der Gesetzgebungsprozess wird explizit in Art. 26–28 und 47 erklärt, aber analog zu Art. 10 durchgeführt. Dies bedeutet, dass die Gesetzesinitiative beim Ministerrat liegt, die Delegiertenkammer über die Entwürfe berät, diese gegebenenfalls modifiziert und beschließt, und der Khedive Beschlossenes ratifiziert. Lehnt die Kammer einen Entwurf ab, kann er ihr kein zweites Mal vorgelegt werden, sondern nur der neu gewählten Kammer. Dieses Verfahren kann außer Kraft gesetzt werden, wenn ein „äußerst wichtiges Ereignis“ eintritt, das schneller Reaktion bedarf, und die Delegiertenkammer gerade nicht einberufen ist. In diesen Fällen darf der Ministerrat alleine Maßnahmen ergreifen, die der Khedive unter dem Vorbehalt ratifiziert, dass die beschlossenen Dekrete nicht bestehendem Recht widersprechen (Art. 41). Gegenüber der Regierung hat die Delegiertenkammer das Interpellationsrecht, das heißt das Recht, die Minister zur Befragung vorzuladen (Art. 43), sowie das Recht, Verstöße gegen Gesetze und Verwaltungsmängel dem jeweils zuständigen Minister zu melden (Art. 49). Schließlich ist in Art. 36 das Prinzip der Ministerverantwortlichkeit niedergelegt. Als einziges konkretes Instrument der Kammer zur Sanktionierung von Fehlverhalten kann ein Minister verhört werden, jedoch nur, wenn der Ministerrat selbst ein Gesetz dazu erlässt und der Kammer vorlegt. Schölch bewertet den Verfassungsentwurf als „zahnlosen Tiger“, da sämtliche Gesetze und Haushaltsbeschlüsse der Kammer stets der Zustimmung des Khediven bedürfen. Zudem habe der maÊlis an-nuwwÁb keinerlei Kontrollmöglichkeiten dem Khediven gegenüber. Sämtliche Regelungen zwischen dem Parlament und dem Ministerrat schließlich seien absolut machtlos, da dieser in noch größerer Abhängigkeit vom Khediven stünde, was sowohl die Einsetzung von Personen als auch des ganzen Organs be315 träfe. Das Problem an Schölchs Analyse ist jedoch, dass er zur Bewertung der Verfassung die absolutistische Machtkonzentration voraussetzt, die keinen Raum für starke Institutionen lässt. Diese Machtfülle hat der Khedive IsmÁÝÐl hingegen seit einigen Jahren nicht mehr, offensichtlich seit 1876 und der Einrichtung der Dual Control, und noch viel weniger, seitdem 1878 der Privatrat des Khediven von den Europäern durch den Minis315 Schölch, Ägypten den Ägyptern, 1972, S. 179. 109

terrat ersetzt wurde. Das bedeutet, dass die Verfassung im Licht der neuen Machtverhältnisse betrachtet werden muss, die eine neue Konfliktlinie geschaffen haben, und zwar zwischen dem Khedive und der Delegiertenkammer auf der einen und den Europäern in und mit dem Ministerrat auf der anderen Seite. Erst die Bewegung um die lÁÞiÎa al-waÔanÐya bringt die Regierung samt der zwei europäischen Minister zu Fall und damit den Ministerrat als Organ wieder auf die Seite des Khediven. Dies bedeutet jedoch nicht, dass damit die alte Macht des Khediven wiederhergestellt ist. Wie EzzelArab argumentiert, nutzen sowohl die turko-tscherkessische Elite als auch die ägyptischen Delegierten die Chance, ihre eigene Position zu verbessern. Dies geschieht in einem Machtvakuum, das durch das Zurückdrängen der Europäer aus dem politischen System durch eine heterogene Bewe316 gung einheimischer Eliten entstanden ist. Somit kann man diesen Verfassungsentwurf als einen Versuch werten, der neuen, wenn auch kurzzeitigen Machtverschiebung Rechnung zu tragen und in einem System der Gewaltenteilung und -verschränkung festzuschreiben.

Reaktion der Europäer In der Tat schützt weder die Einbindung der Europäer und die Befolgung allgemeiner politischer Prinzipien, die von den Europäern selbst eingeführt worden sind, noch die Selbstverpflichtung zum Schuldenabbau vor einer heftigen Antwort der Europäer. Am meisten scheint dabei das unilaterale Vorgehen geschadet zu haben, das in der lÁÞiÎa al-waÔanÐya vorgesehen 317 ist. Denn zumindest offiziell wird dies als Beweggrund angeführt, als die sonst nicht direkt involvierten Mächte Deutschland und Österreich als erste 318 formal gegen die Pläne des Khediven protestieren. Bald schließen sich dem auch Großbritannien, Frankreich, Russland und Italien an, die als neues Druckmittel den osmanischen Sultan nutzen wollen, um den Khediven 316 EzzelArab, AbdelAziz: The Experiment of Sharif Pasha’s Cabinet (1879): An Inquiry into the Historiography of Egypt’s Elite Movement. In: International Journal of Middle East Studies, 2004, Vol. 36, Nr. 4, S. 561-589, hier S. 562-567. 317 EzzelArab, European Control, 2002, S. 81. 318 Hierbei war wohl das Ziel zentral, Franzosen und Briten durch ein noch größeres Engagement in Ägypten im europäischen Mächtespiel zu schwächen. Siehe Schölch, Ägypten den Ägyptern, 1972, S. 95.

110

abzusetzen und gegebenenfalls einen von der Pforte ausgesuchten Nachfolger für Ägypten auf den Thron zu holen. Dieses worst-case-Szenario lässt viele Anhänger IsmÁÝÐls das Lager wechseln, und schließlich ist die Aussicht, die Herrschaft zumindest an seinen Sohn TaufÐq weiterzugeben, An319 reiz für IsmÁÝÐl, am 24. Juni 1879 den Thron freizumachen. Diese Lösung ist auch den Europäern am liebsten, da sie TaufÐq für leicht manipulierbar halten und gleichzeitig eine bessere Öffentlichkeitswirkung erhoffen als bei einem osmanischen Kandidaten. Dass der Thronwechsel relativ einfach durchgesetzt wird, liegt daran, dass die Allianz um den Khediven zerfällt. Der Ministerpräsident ŠarÐf Pascha distanziert sich schnell von IsmÁÝÐl, wohl aus der Befürchtung heraus, bei Verweigerung der Kooperation mit den Europäern im schlimmsten Fall einen osmanischen Verwalter über Ägypten aufoktroyiert zu bekommen. Doch auch die Armee, deren Unterstützung sich IsmÁÝÐl zu sichern sucht, lässt den Europäern mitteilen, dass bei der Entmachtung des Khediven mit 320 keiner Opposition ihrerseits zu rechnen sei. Mit der Amtsübernahme von TaufÐq wird auch ein neuer Ministerrat, abermals mit ŠarÐf Pascha als Ministerpräsident, gebildet. Der Khedive versucht, weitere Reibung mit den europäischen Mächten zu vermeiden, ŠarÐf dagegen strebt verstärkt nach der Führung der nationalen Bewegung. Diese beiden Strategien sind jedoch nicht ohne Gesichtsverlust einer der beiden Seiten beizubehalten. Als Folge dessen lässt TaufÐq im Juli die Kammer, die noch über den Grundgesetzentwurf inklusive neuem Wahlrecht debattiert, auflösen, jedoch ohne auf Widerstand zu stoßen. Einen Monat später 321 tritt ŠarÐf samt Kabinett zurück. Bis zum Dezember 1881 während der ÝUrÁbÐ-Bewegung wird der maÊlis an-nuwwÁb nicht mehr einberufen.

319 Hunter, Egypt under the Khedives, 1984, S. 224-226. 320 Schölch, a.a.O., S. 95-97. 321 Schölch, Ägypten den Ägyptern, 1972, S. 99f. 111

4.5

Phase 4: 1881/82: Realisierung eingeforderter parlamentarischer Rechte

4.5.1 Das neue Bündnis: Die þUrÁbÍ-Bewegung RiyÁÃ Pascha übernimmt im September 1879 die Regierung. Im Zentrum seiner Aufmerksamkeit steht die Umsetzung der Ergebnisse der Untersuchungskommission und in erster Linie die darin vorgesehene grundlegende Steuerreform. Diese basiert auf der genaueren Regellegung für die Steuereintreibung zur Verminderung der Betrugsmöglichkeiten und der Umverteilung der Lasten auf die bisher Privilegierten. Dabei fällt die Aufhebung des muqÁbala-Gesetzes besonders ins Gewicht, die die Steuervergünstigungen annulliert, die erworbenen Eigentumstitel jedoch anerkennt, was in erster Linie die Großgrundbesitzer trifft. Doch RiyÁÃ gelingt es, jede sich regende Opposition im Land durch Exilierung, Zensur und andere repressi322 ve Mittel zum Schweigen zu bringen. Die umfassende Regelung des Haushalts wird im Liquidationsgesetz im Juli 1880 vom Khediven angenommen. Darin wird unter anderem festgelegt, für die Verwaltung Ägyptens genau die Hälfte des Budgets zu verwenden und die andere Hälfte sowie mögliche Überschüsse in den Schul323 dendienst fließen zu lassen. Damit wird der finanzielle Entscheidungsspielraum des Staates und damit potentiell auch der der Delegiertenkammer, auch wenn sie zu dieser Zeit nicht einberufen wird, erheblich eingeschränkt. Obwohl also die ägyptischen Großgrundbesitzer eine Beschneidung ihrer Privilegien und ihrer politischen Macht erfahren, kann RiyÁÃ aufkommenden Protest aus ihren Reihen unterdrücken.

Anfang der ÝUrÁbÐ-Bewegung: Reformen in der Armee In der Tat haben die Entwicklungen der Jahre 1881 und 1882 ihren Anfang in der Armee, genauer gesagt bei ägyptischen Offizieren. Deren Unmut richtet sich in erster Linie gegen die ethnische Diskriminierung, die seit der Rekrutierung von Fellachen unter MuÎammad ÝAlÐ im Militär vorherrscht. Durch die Öffnung der Armee für Ägypter in der ersten Hälfte des 19. 322 ebd., S. 112-122. 323 ebd., S. 123-125. 112

Jahrhunderts verschieben sich nur die quantitativen Verhältnisse, an der alleinigen Entscheidungsgewalt der Turko-Tscherkessen ändert sich nichts. Dies wird von den Fellachensoldaten aber auch gar nicht gewünscht, da sie ihre Rekrutierung als reinen Zwang sehen, der sie von der Feldarbeit und damit von der Versorgung ihrer Familien abhält. Bei der erzwungenen Demilitarisierung Ägyptens, die die Briten durch eine militärische Intervention erreichen, um MuÎammad ÝAlÐs Expansion nach Syrien und die damit verbundene Schwächung des Osmanischen Reichs zu stoppen, kommt es im Jahr 1840 zur Reduzierung der Armee von mehr als 100.000 auf 18.000 Mann. Damit kehren die Fellachen in ihre Dörfer zurück und das Militär ist wieder allein den Turko-Tscherkessen überlassen. Unter SaÝÐd werden zum ersten Mal höhere Positionen bis zum Offizier für Ägypter zugänglich, allerdings nicht für einfache Bauern, sondern für die Söhne von Dorfscheichs. Toledano erklärt dies wie die Ägyptisierung der Verwaltung mit 324 den Vorteilen der Einbindung von Notabeln im Allgemeinen. So ist auch AÎmad ÝUrÁbÐ (1841–1911) der Sohn eines Dorfscheichs und wird 1854 re325 krutiert und 1858 bereits zum Offizier ernannt. IsmÁÝÐl hingegen setzt in der Armee wieder allein auf die Führung der Turko-Tscherkessen, was nach der Phase des Aufstiegs unter SaÝÐd für die Ägypter auf höheren Positionen große Frustration erzeugt. Interessant ist die Frage, warum es in der Armee nicht zu Assimilationsprozessen zwischen Turko-Tscherkessen und Ägyptern kommt, wie sie in 3.2.3 in der Verwaltung und der Landwirtschaft festgestellt wurden. Leider gibt es hierzu noch keine Arbeiten, die die unterschiedlichen Entwicklungen – im einen Bereich hin zu Annäherung und Aufweichen der ethnischen Trennung und im anderen hin zu einem starken Antagonismus – vergleichend erklären. Auffällig ist jedoch, dass das Wachstum im Agrarsektor keine Rivalitäten zwischen den Ethnien erzeugt, sondern vielmehr jeder Gruppe Aufstiegschancen bietet und damit eine Interessengemeinschaft als Großgrundbesitzer fördert. Die hohen Posten in der Armee hingegen sind limitiert, so dass der Machtgewinn einer Gruppe gleichzeitig den Macht324 Toledano, State and Society, 1990, S. 18. Zur Einbindung der Notabeln im Allgemeinen und der Dorfscheichs im Speziellen siehe Kapitel 3.1 und 3.2.

325 Genaueres zum Leben ÝUrÁbÐs siehe Harrison, Gladstone’s Imperialism, S. 83-85; Schölch, Ägypten den Ägyptern, 1972, S. 316f.

113

verlust einer anderen bedeutet. Dieses Nullsummenspiel wirkt sich zudem jedes Mal verschärfend aus, wenn die Armee und damit die zu verteilende Macht verkleinert werden. Das eben beschriebene Szenario ist auch die Ausgangslage der ÝUrÁbÐBewegung. In der angespannten Haushaltslage reduziert im Januar 1881 der Khedive TaufÐq die Armee von 22.000 auf 12.000 Mann. Hinzu kommt die erneute Berufung eines tscherkessischen Generals zum Kriegsminister, der die wenigen Stellen im Militär auf Personen des eigenen ethnischen Hintergrunds verteilt. In dieser Situation entsteht ein Bündnis von ägyptischen Offizieren mit AÎmad ÝUrÁbÐ als ihrem Vertreter, das in einer Petition an den Präsidenten des Ministerrats RiyÁÃ Pascha die Missachtung des Leistungs- und Qualifikationsprinzips zuungunsten ägyptischer Soldaten anklagt und den Rücktritt des tscherkessischen Kriegsministers fordert. Der Khedive jedoch hält seine militärische Übermacht für gesichert und weist die Forderungen zurück. Stattdessen lässt er ÝUrÁbÐ und zwei seiner Verbündeten inhaftieren und ihre Posten mit Turko-Tscherkessen besetzen. Dies löst den Aufstand von zwei Regimenten aus, die das Kriegsministerium stürmen und die drei Offiziere befreien. Angesichts seiner Machtlosigkeit gibt der Khedive – auch auf Rat der europäischen Generalkonsuln – den Forderungen nach Entlassung des Kriegsministers und der Wiederein326 setzung der drei ägyptischen Offiziere nach. Um die Stimmung in der Armee zu beruhigen, werden weitere Forderungen der Offiziere umgesetzt, darunter die nach besserer Verpflegung und Ausstattung, höheren Löhnen bis hin zur Reglementierung von Urlaub, 327 Wartestand, Ruhestand und Beförderung. Dennoch ist die Situation angespannt, da zwischen Khedive und den ägyptischen Offizieren ein tiefes Misstrauen besteht. Es wird dabei deutlich, dass aus Sicht der Offiziere der Khedive trotz seiner offensichtlichen Schwäche eine Bedrohung darstellt, da er, sobald er Macht mit Hilfe der Europäer zurückgewinnt, diese willkürlich ausüben kann. Dass hieraus das Interesse der Offiziere erwachsen kann, Veränderungen am politischen System vorzunehmen, um der Macht 326 Schölch, Ägypten den Ägyptern, 1972, S. 127-133. 327 Mit Wartestand ist die Versetzung in den einstweiligen Ruhestand gemeint, in dem nur ein geringer Teil des Lohns gezahlt wird. Von dieser Maßnahme waren vor allem ägyptische Offiziere betroffen. Schölch, a.a.O., S. 128f.

114

des Khediven Grenzen zu setzen, erscheint plausibel, lässt sich aber bei der ersten Militärdemonstration und -revolte als Forderung noch nicht finden.

Die Allianz von Armee und Provinznotabeln Durch ihre Machtdemonstration machen sich die Offiziere zu einem potentiellen Bündnispartner der ägyptischen Provinznotabeln, deren Vorrechte beschnitten worden sind. Im Lauf des Sommers 1881 überzeugen sie die Offiziere von dem gemeinsamen Interesse, die Willkürherrschaft des Khediven zu begrenzen, was nach Ansicht der Provinznotabeln nur durch eine starke Delegiertenkammer und eine Verfassung möglich sein soll. Da RiyÁÃ bekanntlich gegen die Wiedereinberufung der Kammer ist, wird als erste Forderung formuliert, ihn zu stürzen und das Amt des Präsidenten des Ministerrats neu zu besetzen. Als rein auf das Militär bezogene Forderung bleibt in der eingegangenen Allianz nur mehr, die Armee auf 18.000 Mann aufzustocken. Auf die Forderungen nach der Einberufung des Parlaments, einer neuen Verfassung und der Vergrößerung des Militärapparats verständigt man sich, konkrete Schritte werden jedoch der Armee allein überlassen. Diese erfolgen aufgrund eines erneuten Verdachts der Offiziere auf eine Intrige des Khediven, die das ägyptischen Militär zu der berühmt gewordenen Militärdemonstration am 9. September 1881 auf dem ÝÀbdÐn Platz in Kairo veranlasst. Hier stellt ÝUrÁbÐ die erwähnten drei Forderungen an den Khediven, woraufhin man sich auf den Kompromiss einigt, zuerst dem Wunsch 328 nach einer neuen Regierung Folge zu leisten. Bei der Suche nach einem für alle beteiligten Parteien akzeptablen Kandidaten für das Amt des Präsidenten des Ministerrats fällt die Wahl auf ŠarÐf Pascha, der sich bereits 1879 als Befürworter der Delegiertenkammer und einer neuen Gewaltenteilung gezeigt hat. Mit dieser Personalentscheidung sind also auch TurkoTscherkessen in das Bündnis eingebunden. Wie Ramadan darlegt, habe auch TaufÐq Interesse an einer Allianz mit den Offizieren, die er gegen den von ihn ungeliebten RiyÁÃ aufgewiegelt haben soll. Da die Militärs um ÝUrÁbÐ keinerlei Ansprüche auf die Macht im Staat erheben, seien sie auch für den Khediven ideale Bündnispartner. 328 Schölch, Ägypten den Ägyptern, 1972, 140-147. 115

Auch als sich die Offiziere gegen das Bündnis mit dem Khediven und für die Kooperation mit den Landnotabeln entscheiden, beweise der Rückzug der Regimenter aus Kairo im Oktober 1881, dass die Armee keinerlei poli329 tische Ambitionen habe. An dieser Einschätzung der Intention der Offiziere mag zwar kein großer Zweifel bestehen, jedoch ist die Wirkung der ÝÀbdÐn-Demonstration mit ÝUrÁbÐ als Volksheld und Symbolfigur derart groß, dass sich die Armee später von ihrer instrumentellen Rolle emanzipieren kann. Zunächst jedoch kommt es zum Wiederaufleben des parlamentarischen Lebens.

4.5.2 Die letzte Sitzung des maºlis: Gemäßigte Reformen in Kooperation mit dem neuen Ministerrat Am 10. November finden Neuwahlen zum maÊlis an-nuwwÁb statt, bei denen erneut rurale Notabeln die überwiegende Mehrheit der Mandate erhalten. Ar-RÁfiÝÐ sieht diese als die ersten freien und fairen Wahlen Ägyptens 330 an. Schölch hingegen kritisiert die Auswahl der Kandidaten und Wähler durch den jeweiligen Provinzgouverneur, da hier eine Selektion zugunsten der einflussreichen und vermögenden Familien stattfindet, deren Unterstüt331 zung ŠarÐf für seine Regierungsarbeit braucht. In der Tat hat Schölch Recht, wenn er die Wahlfreiheit immer noch durch die politics of notables eingeschränkt sieht, die in dem Ergebnis sichtbar wird, dass die neuen Delegierten entweder selbst oder ein Mitglied ihrer Familien in früheren Kammern vertreten gewesen sind. Bemerkenswert ist hingegen, dass die Wahlen friedlich und geordnet durchgeführt werden, obwohl sie durch eine militärische Machtdemonstration quasi erzwungen worden sind. Die konstituierende Sitzung am 26.12.1881 verläuft ebenfalls äußerst ruhig. Das übliche Zeremoniell aus Thronrede des Khediven und Antwort der Delegierten ist geprägt von einer gemäßigten Stimmung. TaufÐq ruft zur Anerkennung der internationalen Verpflichtungen Ägyptens auf, heißt aber die Wiedereinberufung der Kammer gut. Auch der Präsident der Delegiertenkammer MuÎammad SulÔÁn, mit dem zum ersten Mal ein gewählter 329 Ramadan, Social Significance of the ÝUrabi Revolution, 1982, S. 192f. 330 ar-RÁfiÝÐ, ÝAbd ar-RaÎmÁn: a×-Õaura al-ÝurÁbÐya wa-l-iÎtilÁl al-inÊilÐzÐ. 4. Aufl. Kairo, 1983, S. 165.

331 Schölch, Ägypten den Ägyptern, 1972, S. 173. 116

Delegierter dieses Amt übernimmt, fordert die Abgeordneten auf, die Bindung an die Pforte und die Ansprüche der Europäer nicht in Frage zu stellen. Gleichzeitig drängt er auf Reformen Ägyptens aus eigener Kraft heraus. In der offiziellen Antwort auf die Thronrede wird die Repräsentation als Leitidee der Kammer betont, ohne jedoch größere Mitspracherechte im 332 politischen Entscheidungsprozess zu fordern. Diese Zurückhaltung setzt sich in den Beratungen der Kammer über den neuen Verfassungsentwurf von ŠarÐf Pascha Anfang Januar 1882 fort. Es zeichnet sich sogar die Zustimmung zur Beschränkung auf eine rein konsultative Rolle der Kammer in Haushaltsangelegenheiten ab. Der Wendepunkt hin zur Verschlechterung der Beziehungen Ägyptens zu Großbritannien und Frankreich ist die diplomatische Note der beiden Länder, die am 8.1.1882 an den Khediven geht. Hierin sichern die Großmächte TaufÐq uneingeschränkte Unterstützung zu, damit jener die Geschicke Ägyptens lenken könne. Ungeachtet der Frage, was mit der Doppelnote 333 von europäischer Seite tatsächlich gemeint war, ist hier in erster Linie von Interesse, wie sie in der Delegiertenkammer aufgenommen und beantwortet wird. Die Delegierten verstehen die Note in erster Linie als Interventionsdrohung der Briten und Franzosen, sollte noch weiter an der Herrschaft des Khediven gerüttelt werden. Dieser Eindruck wird verstärkt durch die französische Annektion Tunesiens im Jahr 1881, die in frischer Erinnerung ist. Diese Wahrnehmung der Abgeordneten ruft Unnachgiebigkeit in den eigenen Positionen hervor und lässt die Kammer noch weiter greifende Forderungen stellen, jedoch bemerkenswerterweise nur Forderungen, die auf eine Stärkung der Parlamentsmacht zielen. Allen voran wird in Sachen Budget kein Beratungsrecht mehr akzeptiert, sondern ein echtes Mitbestimmungsrecht verlangt, allerdings nur für die Hälfte des Haushalts, die nicht für den Schuldendienst reserviert ist. An dieser Stelle kommt es zum ersten Bruch im Bündnis. Der Präsident des Ministerrats ŠarÐf Pascha weist die Forderung nach dem Budgetrecht zurück, was Schölch damit erklärt, dass dieser eine heftige Reaktion der 332 ebd., S. 176f. 333 Von der britischen Seite wird die Doppelnote unter anderem als Unterstützung Ägyptens gegen den Sultan dargestellt. Siehe Schölch, Ägypten den Ägyptern, 1972, S. 181f.

117

Europäer befürchte, aber auch damit, dass die Ägypter aus Sicht des TurkoTscherkessen noch nicht reif für ein echtes parlamentarisches Budgetrecht 334 seien. Das negative Bild der Persönlichkeit ŠarÐf Paschas findet sich auch bei Hunter: Faulheit, rassistische Einstellungen und blinde Loyalität werden ihm in erster Linie in Berufung auf britische Zeitzeugen zugeschrie335 ben. Der Wert dieser Quellen als auch die Frage nach der Kompatibilität der erwähnten Charakterzüge mit ŠarÐfs jahrzehntelangem politischen Engagement lassen diese Erklärung zweifelhaft erscheinen. Ar-RÁfiÝÐ betont hingegen die Angst vor einer militärischen Intervention und erklärt diese aus der expliziten Aufforderung des britischen und französischen Konsuln an ŠarÐf, das Parlament von der direkten Kontrolle des Haushalts abzubringen. Ungeachtet der tieferen Gründe erkennt man, dass sich ŠarÐf für einen Kompromiss stark macht, der die Frage des Budgetrechts erst einmal ausklammert und auf spätere Verhandlungen unter Einbindung der Europäer verschiebt. Die übrigen Teile des Verfassungsentwurfs, die auch von den Europäern akzeptiert werden, sollen hingegen sofort angenommen wer336 den. Dieses Vorgehen wird laut Schölch vom Verfassungsausschuss mit der Begründung abgelehnt, dass Haushaltsfragen eine innere Angelegenheit Ägyptens darstellten und jegliche Einmischung ausländischer Mächte hier 337 nicht erwünscht sei. An dieser Stelle wird besonders deutlich, wie weit sich die Delegiertenkammer entwickelt hat. Bereits unabhängig vom Khediven, der mit den Europäern kooperiert, emanzipiert sie sich nun von ihrem anderen bisherigen Verbündeten, der hohen turko-tscherkessischen Elite um ŠarÐf Pascha. Dies erfolgt allein mit parlamentarischen Mitteln, das heißt mit dem weiteren Ausbau der Macht der Kammer. Hierin steckt eine Dynamik der parlamentarischen Entwicklung, die selbst für verbündete Akteure nicht mehr kontrollierbar ist. Sogar die drohende Gefahr einer militärischen Intervention kann die Forderung zentraler parlamentarischer Rechte nicht mehr stoppen. 334 335 336 337

ebd., S. 182f. Hunter, Egypt under the Khedives, 1984, S. 151-158. ar-RÁfiÝÐ, a×-Õaura al-ÝurÁbÐya, 1983, S. 179-184. Schölch, a.a.O., S. 184.

118

Dieser Konflikt führt zum Rücktritt des Kabinetts um ŠarÐf Pascha und zur Einsetzung einer neuen Regierung unter dem ehemaligen Kriegsminister und Verbündeten der Offiziere MaÎmÙd SÁmÐ al-BÁrÙdÐ. Mit ihm kommt zwar wieder ein Turko-Tscherkesse an die Spitzenposition des Ministerrats, jedoch machen Cole und Schölch eine Spaltung in dieser Gruppe aus. ŠarÐf Pascha, so Cole, stehe als Vertreter der oberen Schicht turkotscherkessischer Notabeln, die pro-osmanisch eingestellt, aber gleichzeitig auch auf die Seite der Europäer gewechselt seien. Auf der anderen Seite fänden sich weniger vermögende, dafür aber stärker assimilierte Turko-Tscherkessen, wie MaÎmÙd SÁmÐ, die der ÝUrÁbÐ-Bewegung zugehörig blei338 339 ben. Schölch spricht allgemeiner von Vertretern des „ancien régime“, die sich mit ŠarÐf aus der Bewegung gelöst hätten. Wichtig ist in jedem Fall, dass hier, wie in Kapitel 3.2.3. erwähnt, die Ethnie als politische Kategorie zurücktritt und andere Faktoren für die Gruppenbildung ausschlaggebend werden, was als ein Teil des Assimilationsprozesses der TurkoTscherkessen anzusehen ist. Bis zum Ende der regulären Sitzungsperiode am 26. März 1882 kooperieren Delegiertenkammer und Ministerrat, dem unter MaÎmÙd SÁmÐ ÝUrÁbÐ als Kriegsminister und weiteren Verbündeten angehören, und bringen sowohl die neue Verfassung samt dem umstrittenem Budgetrecht als auch ein neues Wahlgesetz und weitere Verwaltungsreformen auf den Weg. Schölch gibt einen detaillierten Überblick über sämtliche Bereiche, in denen Parlament und Regierung moderat, aber dennoch für das Wohl des Landes Missstände offen anklagen und beseitigen wollen. Hierbei betont er, dass das Reformprogramm des Kabinetts MaÎmÙd SÁmÐs fast identisch ist mit dem des späteren Generalkonsuls in Ägypten, Lord Cromer. Auch der Abbau überflüssiger, zumeist von Europäern besetzter Stellen im Verwaltungsapparat sei zur Zeit der Besatzung von den Briten selbst angegan340 gen worden. Schölchs Intention bei dieser Darstellung ist klar. Er will zeigen, dass sich in Ägypten zum ersten Mal eine einheimische Führungsschicht zeigt, die konstruktiv und moderat in der Politik vorgeht und die in 338 Cole, Colonialism and Revolution, 1993, S. 236f. 339 Schölch, Ägypten den Ägyptern, 1972, S. 186. 340 ebd., S. 191-196. 119

keiner Weise den Zustand der Anarchie herbeiführt noch herbeiführen möchte. Um den Vergleich zu früheren Entwicklungsstufen der Kammer zu ziehen, soll zunächst die neue Verfassung von 1882 samt dem umstrittenen Budgetrecht analog zu den vorangegangenen Kapiteln analysiert werden.

4.5.3 Die Verfassung von 1882 341

Untersucht man die Verfassung von 1882 gemäß den Ursachenkategorien für parlamentarische Macht, so fällt zunächst auf, dass im Gegensatz zum Verfassungsentwurf von 1879 eine systematische Gliederung des Verfassungstextes zu finden ist. Dabei bilden vor allem die Haushaltskontrolle und die interinstitutionellen Mechanismen inhaltliche Blöcke. Von insgesamt 53 Artikeln widmen sich bereits acht (Art. 30–38) allein der Regelung des Haushalts. Hierbei wird das Steuerbewilligungsrecht (Art. 30) eindeutig der Kammer zugesprochen. Die Vorlage des jährlichen Budgets vor das Parlament wird terminlich genau festgelegt (Art. 31) und hat detailliert einschließlich der Zuordnung bestimmter Ausgaben zu dem jeweiligen Ministerium und Verwaltungsdistrikt zu erfolgen (Art. 32 und 33). Zur Verabschiedung des Haushalts wird ein Delegiertenausschuss gebildet mit derselben Anzahl an Köpfen wie der Ministerrat. Beide Gremien stimmen dann über das Budget nach dem Mehrheitsprinzip ab (Art. 35). Bei Stimmengleichheit zwischen Ausschuss und Ministerrat wird der Haushalt an die Kammer zurück überwiesen, wo er erneut beraten wird. Bei Bestätigung der Position des Ministerrats durch den maÊlis gilt diese als beschlossen. Im anderen Fall wird nach Art. 23 und 24 verfahren, wonach die Kammer vom Khediven aufgelöst wird und Neuwahlen ausgeschrieben werden. Sollte die neu zusammengesetzte Kammer die Position der alten bestätigen, so wird diese umgesetzt. Bis dahin gilt das Budget des Vorjahres, solange keine großen neuen Projekte vorgenommen werden (Art 36 und 37). Ausgenommen aus dem Budgetrecht sind die Ausgaben für die Tributzahlungen für den osmanischen Sultan, den allgemeinen Kredit oder 341 Grundlage der Analyse ist der arabische Originaltext aus al-WaqÁÞiÝ al-miÒrÐya, Nr. 9, Februar 1882, abgedruckt bei ar-RÁfiÝÐ, ÝAÒr IsmÁÝÐl, 1982, Bd. 2, S. 220-225. Der Text liegt in weitestgehend korrekter englischer Übersetzung von Wilfrid Scawen Blunt vor. Blunt, Secret History, 1907, S.561-569.

120

weitere finanzielle Verpflichtungen, die die Regierung durch das Liquidierungsgesetz oder Abkommen mit ausländischen Regierungen eingegangen ist (Art. 34). Bezüglich der Machtquelle Kommunikation finden sich in Art. 3 die freie Ausübung des Mandats und die uneingeschränkte Meinungsfreiheit des Abgeordneten sowie in Art. 4 und 5 die Immunität des Delegierten, die allein die Kammer aufheben kann. Eine weitere materielle Machtursache, die infrastrukturelle Ausstattung, bleibt auf eine Aufwandsentschädigung über 100 Pfund jährlich beschränkt (Art. 2). Die Ressource Zeit erfährt in Art. 2 und 7–9 Konkretisierung. Die Legislaturperiode wird auf fünf Jahre festgesetzt, mit einer jährlichen Sitzungszeit von drei Monaten vom 1. No342 vember bis Ende Januar. Die Einberufung erfolgt durch den Khediven bei Zustimmung des Ministerrats. Sollte die Kammer mehr als die normale Sitzungszeit für notwendig erachten, kann sie eine Verlängerung um maximal 30 Tage beim Khediven beantragen. Ebenfalls vom Willen des Khediven abhängig ist die Einberufung einer außerordentlichen Sitzung. Hinsichtlich großer Leitideen, die dem Parlament seinen Zweck geben, fällt die Verfassung von 1882 recht dürftig aus. Allein der Verweis in Art. 6, die Delegierten als Vertreter der ganzen ägyptischen Bevölkerung zu sehen, lässt sich dahingehend auslegen, dass der maÊlis nicht bei einer föderalen Repräsentation stehen bleibt, sondern das Parlament samt den Abgeordneten als nationaler Akteur zu sehen ist. Die Formursachen hinsichtlich der Binnenstruktur der Kammer sind immer noch relativ schwach ausgeprägt. Ausschüsse werden nur von Fall zu Fall, z.B. bei der Festsetzung bestimmter Verfahren wie der Beantwortung der Thronrede (Art. 12), bei der Bearbeitung von Gesetzesentwürfen (Art. 27) und von Petitionen (Art. 39) oder beim Beschluss des Haushalts mit dem Ministerrat (Art. 35) einberufen. Da der einzige fachlich spezialisierte Ausschuss der für Budgetfragen ist, kann hieraus kaum ein tiefes und gleichzeitig breites Expertenwissen bei den Abgeordneten entstehen. Bezüglich intra-institutioneller Mechanismen findet sich in Art. 14 die Aus342 Warum im Verfassungsentwurf von 1879 die Monatsnamen des koptischen Kalenders, in der hier vorliegenden Verfassung von 1882 jedoch die des gregorianischen verwendet werden, bleibt unklar.

121

wahl dreier Abgeordneter als Kandidaten für den Posten des Kammerpräsidenten, von denen einem das Amt vom Khediven zugesprochen wird. Dieses Amt hat eine vermittelnde Funktion zwischen Kammer und Ministerrat und dem Khediven bei der Gesetzgebung (Art. 25, 26, 29) und der Aufsicht über die ministeriale Verwaltung (Art. 20). Die Stellvertreter des Kammerpräsidenten sowie die Sekretäre wählt die Kammer völlig autonom (Art. 15). Die Geschäftsordnung hingegen gibt sich die Kammer zwar selbst, jedoch bedarf es abermals des Khediven, um sie in Kraft zu setzen (Art. 49). Interinstitutionell bestehen die parlamentarischen Rechte gegenüber dem Ministerrat in erster Linie im Interpellationsrecht (Art. 19) und der Verantwortlichkeit der Minister sowohl einzeln (Art. 22) als auch kollektiv (Art. 21) bei jedem einzelnen Beschluss (Art. 47) vor der Delegiertenkammer. Missstände in der Regierungsverwaltung kann die Kammer dem zuständigen Minister melden (Art. 20). Weiterhin kann der Ministerrat keinen Beschluss ohne Zustimmung der Kammer fällen (Art. 38) und auch Verfassungsänderungen sind nur durch Kammer und Ministerrat gemeinsam vorzunehmen (Art. 50), wobei Art. 53 die Minister zunächst dazu verpflichtet, die vorliegende Verfassung zu implementieren. Der Gesetzgebungsprozess ist derart gestaltet, dass die Initiative beim Ministerrat liegt und dieser einen Gesetzesentwurf an die Kammer übermittelt. Dort befasst sich zunächst ein ad hoc gebildeter Ausschuss mit der Beratung, der seine Ergebnisse samt Änderungswünschen über den Kammerpräsidenten an den Ministerrat übermittelt. Bei Ablehnung der Ausschussergebnisse wird die Originalversion dem maÊlis vorgelegt (Art. 26 und 27). Stimmt das Kabinett den Modifikationen zu, erhält die Kammer die Version des Ausschusses zur Beratung und Abstimmung und kann diese bei Bedarf zurück an den Ausschuss zur abermaligen Bearbeitung verweisen (Art. 28). Insgesamt wird jeder Gesetzentwurf drei Mal mit einem Abstand von jeweils 15 Tagen vor der Kammer verlesen, in dringenden Fällen kann die Kammer das Procedere auf ein einmaliges Verlesen beschränken (Art. 25). Bei Differenzen zwischen Ministerrat und Kammer, die auch nach wiederholtem Meinungsaustausch nicht behoben werden können, kann der Khedive das Parlament neu wählen lassen, wobei dann der Be122

schluss des neu zusammengesetzten maÊlis bindend ist (Art. 23 und 24). Während der legislative Prozess dem Parlament eine starke Rolle zukommen lässt, fallen die Bestimmungen zu Ausnahmesituationen, die schnelle Reaktion benötigen, eher zuungunsten des Parlaments aus, wenn der Ministerrat allein mit der Zustimmung des Khediven Entscheidungen treffen kann und die Kammer erst im Nachhinein darüber beraten darf (Art. 41). Wie deutlich wurde, ist der Khedive stets als erstes oder letztes Glied der Entscheidungskette mit durchaus hohem Machtpotential eingebunden, sei es bei der Einberufung oder Auflösung der Kammer oder der Ratifizierung von Gesetzen. Dennoch findet sich nur ein Mechanismus in der Verfassung, der eine direkte Interaktion vom Khediven und dem Parlament darstellt und der in der Praxis seit Einrichtung der Kammer besteht. Hierbei handelt es sich um die Eröffnungszeremonie einer Sitzungsperiode, bei der der Khedive eine Rede mit den wichtigsten zu behandelnden Themen der Sitzungsperiode hält (Art. 10 und 11). Ein eigens gebildeter Ausschuss verfasst eine Antwort, die nach Prüfung durch die Kammer dem Khediven vorgelegt wird, jedoch keine endgültigen Aussagen enthält (Art. 12 und 13).

Vergleich mit dem Verfassungsentwurf von 1879 Wie in den vorigen Kapiteln deutlich wurde, haben die verschiedenen Etappen, die die Delegiertenkammer in ihrer Entwicklung seit 1866 zurückgelegt hat, stets relativ klar einen Machtausbau des Parlaments aufgewiesen. Doch so einfach lässt sich Phase 4 hierin nicht einordnen. Zwar soll der Entwurf von 1879 der Verfassung von 1882 als Vorbild gedient haben, dennoch finden sich einige Unterschiede, die nicht ohne weiteres in das Schema eines Machtanstiegs passen, wie der Vergleich gemäß der Machtursachen zeigt. Im Bereich der Finanzen fällt zunächst auf, dass die Verfassung von 1882 um einiges ausführlicher ist und genau das Vorgehen beim Beschließen des jährlichen Budgets beschreibt, was auch die Konkretisierung der Rechte des maÊlis bedeutet. Andererseits liegt das Beschlussrecht nicht bei der Kammer allein, sondern bei einem Gremium, das zur Hälfte aus Vertretern des Ministerrats besteht, was eine Gewaltenverschränkung darstellt. 123

Dies begrenzt zwar die Autonomie des Parlaments, wirkt dafür aber integrativ und mäßigend auf das politische System. Eine weitere Einschränkung des Budgetrechts findet sich in der Ausgliederung der internationalen finanziellen Verpflichtungen in Form von Tribut und Kreditabzahlung aus dem Zuständigkeitsbereich der Kammer. Diese Begrenzung ist insofern von größerer Bedeutung, als etwa die Hälfte des Budgets für eben jene Zahlungen reserviert ist. Jedoch darf das Fehlen dieses Artikels im Verfassungsentwurf von 1879 nicht darüber hinwegtäuschen, dass es diese Beschränkung zu dieser Zeit ebenso gab, und zwar als Teil des Finanzplans der lÁÞiÎa al-waÔanÐya. Andererseits ist das Verankern der Ausgliederung der externen finanziellen Verpflichtungen aus dem Zuständigkeitsbereich der Delegiertenkammer auf Verfassungsrang ein doch tief gehender Einschnitt in die parlamentarische Macht. Beim Faktor Zeit finden sich unterschiedlich lange Legislaturperioden, drei Jahre im Entwurf von 1879 und fünf Jahre in der Verfassung von 1882, was theoretisch dem Parlament nach der Version von 1882 mehr Macht bringen könnte, da dieselben Abgeordneten länger Zeit hätten, Erfahrung und Fachwissen zu erlangen und Netzwerke zu knüpfen. Dem entgegengesetzt entwickelt sich die Verlässlichkeit der Einberufung. Während 1879 allein der Khedive die Versammlung der Kammer anordnet, hat dies 1882 durch den Khediven mit der Zustimmung des Ministerrats zu geschehen, was die Möglichkeit ders Nichteinberufung erweitert und somit die Macht der Delegiertenkammer schmälert. Im Bereich der Zweckursachen und Leitideen ist generell in den Verfassungen kaum etwas zu finden. 1879 wird noch der Eid der Abgeordneten bei Amtsantritt aufgeführt, der die Delegierten auf das Wohl des Landes verpflichtet, der in der Verfassung von 1882 nicht mehr zu finden ist. Ansonsten fußt die Delegiertenkammer in beiden Statuten auf dem Gedanken der Repräsentation des ganzen Volkes. Auch bei den Formursachen parlamentarischer Macht kommt es zu Verschiebungen, die nicht eindeutig zu bewerten sind. Die Binnenstruktur ist 1882 weiter ausdifferenziert, was man daran erkennt, dass verschiedene Ausschüsse erwähnt werden, wohingegen 1879 der Begriff kein einziges Mal Verwendung findet. Dies ist als positive Entwicklung zu bewerten, da 124

funktionale Ausdifferenzierung generell die Macht eines Parlaments erhöht. Ebenfalls positiv ist die Veränderung 1882 bezüglich des Kammerpräsidenten zu sehen. Wird 1879 bereits dieses Amt von der Kammer gewählt, so verbessert sich die Lage drei Jahre später dahingehend, dass der Posten explizit durch ein Mitglied der Kammer besetzt werden muss. Dies ist insofern als Machtzuwachs zu werten, als gerade in der Praxis ab 1866 diese Position stets mit einem Getreuen des Khediven aus der turko-tscherkessischen Elite besetzt war. Andererseits hat 1882 der Khedive wieder die letzte Entscheidung und kann einen aus drei Kandidaten, die die Kammer vorschlägt, auswählen. Dies schränkt die Wahl der Kammer auf vermittelbare Personen ein, was zwar die Autonomie des Organs senkt, aber dafür durch Kompromisskandidaten die Stabilität und Integrationsleistung des Systems als Ganzes erhöht. Diese Faktoren sind gerade beim Kammerpräsidenten, der 1882 zur Schaltstelle des maÊlis sowohl mit dem Khediven als auch mit dem Ministerrat bei der Gesetzgebung und der Kontrolle der Ministerialverwaltung ausgebaut wird, von Bedeutung. Diese Art von Mittlerposition wirkt sich positiv auf die Effektivität des Parlaments gerade im interinstitutionellen Bereich aus. Anderes gilt für die Geschäftsordnung, die sich die Kammer nach dem Entwurf von 1879 selbst gibt, gemäß der 1882er Verfassung jedoch zusätzlich der Zustimmung des Khediven bedarf. Dies muss eindeutig als machtmindernd für den maÊlis angesehen werden. Interinstitutionell finden sich bei beiden Statuten das Prinzip der Ministerverantwortlichkeit, 1879 für jeden Minister einzeln, 1882 zusätzlich als kollektive Verantwortlichkeit des Ministerrats, was als Machtzuwachs des Parlaments gewertet werden kann, da sich die Abhängigkeit des gesamten Organs von der Kammer erhöht. Bezüglich der Gesetzgebung finden sich keine großen Unterschiede, die Aufgabenverteilung – Gesetzesinitiative beim Ministerrat und Gesetzesberatung und -beschluss bei der Kammer – findet sich in beiden Statuten. Die einzige Ausnahme ist, dass Änderungen oder Neuauslegungen der Verfassung 1879 allein durch die Kammer, 1882 durch die Kammer und den Ministerrat erfolgen. Im Verhältnis mit dem Khediven wird das Zeremoniell der Eröffnungsrede der ersten Sitzung von 1879, praktiziert seit 1866, in dem die wichtigsten anstehenden Probleme 125

dargestellt werden, zu einem Austauschmechanismus mit der Kammer, wenn 1882 hinzugefügt wird, was ebenfalls seit Jahren betrieben wird, nämlich dass die Kammer einen eigenen Ausschuss zur Beantwortung der Rede bildet, die dem Khediven unterbreitet wird. Wie bereits angedeutet, ist die Frage, ob die Kammer gemäß der verabschiedeten Verfassung einen Machtzuwachs oder -verlust erfährt, nicht eindeutig zu beantworten. Interessanterweise deutet der direkte Vergleich des Verfassungsentwurfs von 1879 mit der Verfassung von 1882 eher auf die Herausbildung einer Gewaltenverschränkung zwischen Parlament, Ministerrat und Khediven hin. Dies ist bei den interinstitutionellen Mechanismen sichtbar geworden, die das Zusammenwirken der Organe ausgebaut haben. Als wichtigster Beleg für diese These ist wohl der Ausbau der Ministerverantwortlichkeit zu sehen. Aber auch bei der inneren Struktur des maÊlis ist durch die Zunahme der Funktionen des Kammerpräsidenten die höhere Bedeutung der interinstitutionellen Koordination hervorgetreten. Dies zeigt sich auch bei der Einberufung der Kammer, der Geschäftsordnung und der Ernennung des Kammerpräsidenten, die im Vergleich zu 1879 im Jahre 1882 eine höhere Zahl beteiligter Organe bei der Entscheidungsfindung aufweisen. Der Vergleich der Verfassungstexte von 1879 und 1882 hat also gezeigt, dass die spätere Version keinesfalls radikaler ist, sondern zwar bewusst weiteres Mitspracherecht der Kammer vor allem in Haushaltsfragen einfordert, gleichzeitig aber die parlamentarische Macht durch viele gewaltenverschränkende Elemente einzuhegen sucht. Auch die internationalen Verpflichtungen im finanziellen Bereich werden in die Machtverteilung miteinbezogen. Die Verfassung von 1882 stellt den Höhepunkt der parlamentarischen Entwicklung der Delegiertenkammer dar. Zum einen werden weitere Machtquellen erschlossen und zum anderen wird ein politisches System konstruiert, das sowohl die Teilung als auch die Verschränkung der Gewalten im Staat vorsieht. Diese neue Ordnung erhält jedoch keine Chance, sich zu stabilisieren. Bevor nun das Ende des Prozesses der Parlamentarisierung geschildert wird, fasst folgende Tabelle noch einmal die wichtigsten Untersu126

chungsergebnisse aus den Entwicklungsphasen des maÊlis an-nuwwÁb zusammen. Tabelle: Überblick über die Entwicklungsphasen der Delegiertenkammer Funktion der Kammer im politischen System

Neue Machtquellen der Delegiertenkammer

Konfliktlinien nach Akteuren

Konfliktlinien nach Staatsorganen

Phase 1 1866–76 Interessenartikulation der aʿyān

Konsultation Materialursache: (bzgl. ruraler Kommunikation: Verwaltung, Plenardebatten Landwirtschaft, Infrastruktur)

Khedive, dawāt vs. Europäer

Monarch und Regierung – ohne institutionalisierte Opposition

Phase 2 1876–78 Integration in politische Entscheidungsprozesse

Konsultation (neue Bereiche: Steuern, Haushaltsfragen)

Materialursache:

aʿyān, Khedive, dawāt vs.

Parlament und Monarch vs. Regierung

Phase 3 1879 Einforderung neuer parlamentarischer Machtquellen

Gefordert: Legislative, Regierungskontrolle

Materialursache:

aʿyān, Khedive, Zeit: Dauer von Kammer dawāt vs. erzwungen Europäer, Finanzen: gefordert: Kollaborateure Steuerbewilligungsrecht

Parlament und Monarch vs. Regierung

Phase 4 1881/82 Realisierung parlamentarischer Rechte

Legislative, Regierungskontrolle

Zeit: regelmäßige Einberufung Budget: Mitsprache bei Steuern; Einblick in Budget

Europäer, Kollaborateure

Form:

Interinstitutionell: Interpellation; gefordert: Ministerverantwortlichkeit, entscheidende Rolle bei Gesetzgebung Zweck: Leitidee: Repräsentation des ägyptischen Volks

Materialursache:

Budgetrecht Form: Regierungsverantwortlichkeit Gewaltenverschränkende Elemente

aʿyān

Parlament und Regierung vs. ägyptische Monarch Offiziere, pro-ägyptische dawāt vs. pro-osmanisch/ europäische dawāt, Khedive, Europäer

Das Ende der ÝUrÁbÐ-Bewegung Ende März 1882 ist die Sitzungsperiode der Delegiertenkammer beendet, doch die Abgeordneten, die von Kairo in ihre Heimatprovinzen zurückkehren, ahnen nicht, dass der maÊlis nie wieder einberufen wird. Der Versuch, 127

eine neue Ordnung zu etablieren, scheitert an der Intervention externer Akteure, die eine Stabilisierung der neuen Machtverteilung verhindern. Die wenigen Monate bis zur militärischen Auseinandersetzung zwischen Briten und ÝUrÁbÐ-Anhängern sind geprägt von einer stetig wachsenden Spannung zwischen den Lagern. Ausgangspunkt ist das geplante Attentat einiger turko-tscherkessischer Offiziere der alten entmachteten Elite auf ÝUrÁbÐ. Die Aufdeckung des Komplotts führt zur Verurteilung der für schuldig Befundenen, die ins Exil in den Sudan geschickt werden. Der Khedive stellt das Urteil als Ausdruck der Verschwörung der ÝUrÁbÐ-Anhänger gegen das Osmanische Reich dar, womit er wohl eine Intervention des Sultans zur Wiederherstellung seiner Herrschaft provozieren will. In der Tat arbeiten ÝUrÁbÐ und Verbündete zeitgleich daran, den Sultan davon zu überzeugen, TaufÐq abzusetzen. Während dieser inneren Querelen bauen einige britische Vertreter das Schreckgespenst einer xenophoben, islamistisch motivierten und militaristisch agierenden Bewegung um ÝUrÁbÐ auf, 343 die das ägyptische Parlament zu eigenen Zwecken manipuliert habe. Diese Darstellung der Lage zur Befürwortung einer europäischen Intervention in Ägypten ist TaufÐq für seinen Machterhalt ebenso recht. Verschiedene Vermittlungsversuche durch einen Gesandten des Sultans und auch inoffiziell durch Delegierte des maÊlis können nur zeitweise Entspannung zwischen den Fronten herstellen, das heißt zwischen den britischen und französischen Vertretern und dem von ihnen abhängigen TaufÐq einerseits und dem Ministerrat in Unterstützung der Delegierten und der Armee andererseits. Ab Mitte Mai, als sich britische und französische Flotten nach Alexandria aufmachen, mag das Schicksal Ägyptens als besiegelt angesehen werden. Spätestens jedoch scheint dies der Fall nach den Ausschreitungen und dem Tod einiger Europäer und Ägypter in Alexandria Mitte Juni, über die 344 nur Gerüchte, aber keine gesicherten Erkenntnisse vorliegen. Dennoch 343 Galbraith, John S.; Sayyid-Marsot, Afaf Lutfi al-: The British Occupation of Egypt: Another View. In: International Journal of Middle East Studies, 1978, Nr. 9, S. 471-488, hier S. 475-478. 344 Genaue Untersuchung dazu: Chamberlain, M.E.: The Alexandria Massacre of 11 June 1882 and the British Occupation of Egypt. In: Middle Eastern Studies, 1977, Vol. 13, Nr. 1, S. 14-39.

128

gehen die Versuche der Reformbewegung über den Ministerrat aktiv weiter, mit einer neuen Regierungsspitze eine Erweiterung der Verfassung zu erreichen, um das Verhältnis von Ministerrat und Khedive gerade bei Meinungsverschiedenheiten zu regeln und die Kontrollfunktionen der Kammer genau festzulegen. Also selbst in dieser höchst angespannten Lage setzen die Reformakteure auf den eingeschlagenen Weg der Gewaltenteilung und 345 des Parlamentarismus. Doch all dies findet sein Ende, als am 11. und 12. Juli Alexandria von der britischen Flotte bombardiert wird. In den folgenden zwei Monaten des offenen Widerstands spielt die Delegiertenkammer 346 als Institution keine Rolle mehr. Die militärische Auseinandersetzung mit der ägyptischen Armee unter ÝUrÁbÐ endet mit deren vernichtender Niederlage in at-Tall al-KabÐr am 13. September.

4.6

Der Parlamentarismus in Ägypten: Von der britischen Besatzung bis zur Gegenwart

Als die Briten in Ägypten die Kontrolle übernehmen, lautet die Devise des britischen Generalkonsuls Evelyn Baring: „We do not govern Egypt, we 347 only govern the governors of Egypt“. Damit meint Baring jedoch nur den Khediven und die alte turko-tscherkessische Beamtenschicht. Es werden zwar zwei Kammern eingerichtet, der Legislativrat und die Generalversammlung, jedoch bleiben diese weitestgehend einflusslos. Mit dem Khediven ÝAbbÁs II (1892–1914), der den neu aufkommenden Nationalismus in Ägypten unterstützt, kommt es auch in den Kammern zu Opposition gegen die Briten, aufgrund der faktischen Machtlosigkeit aber nur symbolisch in 348 der Ablehnung von Regierungsvorlagen. 1913 wird eine neue Legislativversammlung (ÊamÝÐya tašrÐÝÐya) geschaffen, die während ihres einjährigen Bestehens prominente nationalistische Mitglieder wie SaÝd ZaÈlÙl enthält. Der Erste Weltkrieg, die offizielle Erklärung Ägyptens zum britischen Protektorat und die Ausrufung des Kriegsrechts lassen keinen Platz für parla345 Schölch, Ägypten den Ägyptern, 1972, S. 221-224. 346 Über den militärischen und politischen Widerstand der Armee und im Ministerrat in aller Ausführlichkeit bei Schölch, a.a.O., S. 224-260.

347 Lord Cromer, zitiert nach al-Sayyid, Egypt and Cromer, 1968, S. 68. 348 Landau, Parliaments and Parties, 1953, S. 41-54. 129

mentarische Institutionen. Erst nach der offiziellen Unabhängigkeit Ägyptens 1922 wird 1924 wieder eine Delegiertenkammer eingerichtet, in der zum ersten Mal Parteien nach heutigem Verständnis zu finden sind. Dennoch kann sich dieses Parlament nicht als von der Monarchie unabhängige 349 Macht durchsetzen. Denn trotz der regelmäßigen Wahlsiege der nationalistischen Partei al-Wafd kommt es durch die beständige Einmischung der Briten und aufgrund innerägyptischer Konflikte zu einer politischen Blo350 ckade, die das gesamte Parteiwesen in Verruf bringt. Dies erleichtert ÉamÁl ÝAbd an-NÁÒir nach der Revolution der Freien Offiziere und der endgültigen Machtübernahme 1954 die Abschaffung des Mehrparteiensystems. Innerhalb eines geringen Spielraums entwickelt sich das Parlament zum Organ des rechten Flügels der Einheitspartei und kann sogar Teilerfolge gegen die Regierung, z.B. beim Thema Bildung, erzielen. Von 1961 bis 1969 hat der spätere Präsident Anwar as-SÁdÁt das bis heute 351 einflussreiche Amt des Parlamentssprechers inne. Das Parlament als Machtbasis as-SÁdÁts ist auch im Zuge der Machtkonsolidierung zu Beginn seiner Präsidentschaft sehr aktiv. Umbenannt in maÊlis aš-šaÝb (Volkskammer) wird das Parlament 1976 im Zuge der politischen Liberalisierung unabhängiger. 1977 wird das Mehrparteiensystem wieder eingeführt. Zeitgleich mit den Friedensverhandlungen mit Israel sinkt as-SÁdÁts Rückhalt in der Bevölkerung, was ihn dazu bringt, einige gewährte Freiräume wieder zu schließen, worunter auch das Parlament zu 352 leiden hat. Auch unter ÍusnÐ MubÁrak hängt der Spielraum des Parlaments von der Machtkonsolidierung der Herrschaftselite ab. Hierbei kann man die 1980er Jahre als eine Zeit relativ großer politischer Freiheiten und Partizipationsmöglichkeiten zusammenfassen, wohingegen die 1990er Jahre von politischer Deliberalisierung geprägt sind. Es kommt zu einem fast völligen Ausschluss der Opposition aus dem Parlament durch gezielte Manipulation 349 ebd., S. 68f. 350 Deeb, Marius: Party Politics in Egypt. The Wafd and its Rivals, 1919-39. London, 1979, S. 129-139. 351 Baaklini, Abdo; Denoeux, Guilain; Springborg, Robert: Legislative Politics in the Arab World. The Resurgence of Democratic Institutions. Boulder, 1999, S. 225.

352 Baaklini, Legislative Politics in the Arab World, 1999, S. 226-228. 130

der Wahlgesetze und einen Wahlboykott der oppositionellen Kräfte. Ab 2000 ist das Parlament wieder heterogener zusammengesetzt, ab 2005 sogar mit einem Oppositionsanteil von 25%. Das aktive Parlamentsengagement gerade der 88 Abgeordneten der Muslimbruderschaft wird mit den eklatantesten Wahlmanipulationen der NDP seit Bestehen der Republik im Jahr 2010 beendet. Dieser Betrug treibt auch die revolutionären Entwicklungen des Jahres 2011 mit an, die den Sturz des Regimes Mubarak zur Folge haben. In den Aushandlungsprozessen über das neue politische System Ägyptens wird über die Einführung eines parlamentarischen Regierungssystems diskutiert. Dass Ägypten dabei auf eine 150-jährige Parlamentsgeschichte zurückblicken kann, könnte den Demokratisierungsbestrebungen von Hilfe sein. Natürlich haben sich die Bedingungen für das Parlament in Ägypten geändert, was vor allem nach der formalen Unabhängigkeit 1922 mit der Entwicklung weg von der Vertretung einer Gruppe hin zu höherer Heterogenität in Form des Mehrparteiensystems zusammenhängt. Ebenso hat es zahlreiche einschneidende Veränderungen beispielsweise in der Staatsform, der Verfassung und den Elitengruppen gegeben. Die Frage bleibt jedoch, ob sich nicht trotzdem Kontinuitäten wiederfinden lassen. Denn verfolgt man zum Beispiel die Weiterentwicklung der reichen ägyptischen Provinznotabeln, so erkennt man, dass sie ihre Vermittlerrolle, die sie zwischen Zentralstaat und Landbevölkerung haben, auch in der britischen Besatzungszeit und in der Republik behalten und zum Teil sogar ausbauen. Besonders in der nationalistischen Partei Íizb al-umma von AÎmad LuÔfÐ as-Sayyid, der selbst einer Großgrundbesitzerfamilie entstammt, engagieren sich die Notabeln politisch. Nach der Revolution der Freien Offiziere 1952 wird durch an-NÁÒirs Landreform und die Enteignung den Großgrundbesitzern ihre Machtgrundlage entzogen. Mit der wirtschaftlichen Öffnungspolitik Anwar as-SÁdÁts jedoch wird der private Sektor wieder gestärkt und neben neuen Unternehmern steigen auch 353 einige alte Notabelnfamilien wieder auf. Ab den 1990er Jahren hat die Privatisierung von Staatsunternehmen eine neue Wirtschaftselite entstehen 353 Eine interessante Fallstudie dazu: Springborg, Robert: Family, Power, and Politics in Egypt: Sayed Bey Marei - his Clan, Clients, and Cohorts. Philadelphia, 1982.

131

lassen, die natürlich nicht mehr allein auf Großgrundbesitz beruht. Vielmehr erreichen Angehörige dieser Elite eine dominante und zum Teil monopolartige Stellung unter anderem im Stahlsektor, der Telekommunikations-, Bau- und Immobilienbranche und dem Tourismus. Weiterhin besetzen Teile dieser Elite in der Regierungspartei um den Präsidentensohn ÉamÁl MubÁrak wichtige Positionen, sie sind mit etwa 70 Abgeordneten ab 2000 direkt im Parlament vertreten und haben wichtige Ministerposten inne (z.B. Handel- und Industrie, Tourismus, Transport). Zudem sind sie in Verbänden (wie Außenhandelskammern) und Medien (z.B. den von einzelnen Unternehmerfamilien gegründeten Tageszeitungen al-MaÒrÐ al-Youm und RÙz al-YÙsuf sowie eigenen Satellitenkanälen und Internetprovidern) sehr 354 aktiv. Mit der Machtübernahme der Armee nach dem Sturz MubÁraks werden Teile dieser Wirtschaftselite zwar aus dem politischen System entfernt, dennoch zeichnet sich jetzt schon ab, dass andere Großunternehmer im neuen System Ägyptens politisch eingebunden sein werden. Mit ihrem Einfluss auch in einem demokratischen Parlament sollten die Ägypter rechnen.

354 Demmelhuber, Thomas; Roll, Stephan: Herrschaftssicherung in Ägypten. Zur Rolle von Reformen und Wirtschaftsoligarchen. Berlin, 2007 (SWP-Studie 2007, 20).

132

5

Zusammenfassung

Diese Arbeit hat gezeigt, dass die Briten Ägypten 1882 nicht wegen eines drohenden Zusammenbruchs der dortigen politischen Ordnung besetzen. Weder kann die ÝUrÁbÐ-Bewegung als Auslöser von Anarchie gesehen werden noch ist sie Ergebnis von durch imperiale Penetration ausgehöhlten Strukturen. Die Widerlegung dieser beiden Elemente des sogenannten Kollaps-an-der-Peripherie-Arguments erfolgte durch die Untersuchung eines Hauptakteurs in der ÝUrÁbÐ-Bewegung, der reichen Provinznotabeln im ägyptischen Parlament. Dabei hat Kapitel 3 gezeigt, wie die Notabeln im 19. Jahrhundert administrativ und ökonomisch aufsteigen. Grundlage dieser Entwicklung ist der Einfluss, den Dorfscheichs aufgrund von Vermögen und Ansehen ihrer Familien in ihrer lokalen Einheit haben. Gemäß den politics of notables bekommen sie staatliche Aufgaben übertragen, wenn die Zentralmacht zu deren Erfüllung nicht in der Lage ist, was den Einfluss der Notabeln weiter wachsen lässt. Eine neue Dynamik entwickelt sich jedoch aus der altbekannten Strategie staatlicher Akteure, Verwaltungskosten zu privatisieren, durch die wirtschaftliche Transformation hin zum cash crop-Anbau. Mit der ägyptischen Baumwolle kann man immense Gewinne erzielen, jedoch erst nach hohen Investitionen. Kann der Staat diese nicht selbst aufbringen, dann verteilt er Bewirtschaftungsrechte an Privatleute, die über die nötigen Investitionsmittel verfügen, um die Steuern aus der Landwirtschaft als wichtigste staatliche Einnahmequelle zu sichern. Als weiterer Investitionsanreiz wird schrittweise das private Landeigentum eingeführt, was schließlich zur Entstehung einer Schicht von reichen Großgrundbesitzern führt, in der auch ägyptische Dorfnotabeln zu finden sind. Der Aufstieg der Dorfscheichs setzt sich ab 1866 auf der politischen Ebene in der Einrichtung der Delegiertenkammer fort. Als Erklärung für die formale Integration der Notabeln finden sich verschiedene Vorteile für 133

die Herrschaftssicherung des Khediven, die sich aus der Einbindung einer besonders zahlungsfähigen Gruppe mit Einfluss auf die landwirtschaftliche Administration ergeben. Auch hierin findet sich die Grundidee der politics of notables wieder, Notabeln zur Stütze der Zentralmacht in neue Aufgabenfelder einzubinden. Anhand der politischen Integration ländlicher Notabeln, zusammengenommen mit deren ökonomischen und administrativen Aufstieg, lässt sich also die erste dem Kollaps-Argument inhärente These widerlegen, dass in Ägypten der europäische Einfluss auf allen Ebenen zersetzend wirke. Die Annahme, dass Revolution oder gar Anarchie von der ÝUrÁbÐ-Bewegung angestrebt und/oder ausgelöst wird, wurde durch die Untersuchung der zentralen Forderungen der Bewegung, nämlich nach einer neuen Verfassung und der Wiedereinsetzung des Parlaments, entkräftet. Hierfür habe ich diese Ziele in die institutionelle Entwicklung der Delegiertenkammer eingebettet und sie als Fortsetzung eines Machtanstiegs der Kammer seit ihrer Gründung 1866 interpretiert. Schrittweise, aber nicht immer linear, bildet sich ab Mitte der 1870er Jahre ein System der Gewaltenteilung und -verschränkung heraus. Warum das Parlament, das ursprünglich nur der Herrschaft des Khediven nutzen sollte, am Ende des hier betrachteten Prozesses eine mächtige Position im politischen System samt Legislativfunktionen und Budgetrecht innehat, lässt sich auf zwei Ebenen erklären. Erstens hat dies mit den Veränderungen der Machtverhältnisse im politischen System durch den zunehmenden Einfluss der europäischen Vertreter zu tun. Hierdurch werden in erster Linie der Khedive und die turko-tscherkessische Elite geschwächt. Diese versuchen darauf, die Delegierten als Verbündete zu gewinnen und ihren Machtverlust durch eine größere Integration der Kammer in das politische System auszugleichen. Dies erkennt man in Phase 2, in der die Europäer die finanzielle Kontrolle übernehmen, was den Khediven zur Einbindung der Kammer in Steuerfragen bewegt. Als das bisherige Regierungsorgan, der von den ÆawÁt dominierte Privatrat, durch den Ministerrat ersetzt wird, in dem zwei Europäer die wichtigsten Ministerposten innehaben, folgt Phase 3 mit der Forderung des Bündnisses aus dem Khediven, den ÆawÁt und den Delegierten, die Kammer zum Legislativorgan aufzuwerten. Dies wird jedoch auf europäischen Druck hin nicht 134

realisiert. In Phase 4 steht ein neuer Khedive auf der Seite der Europäer, was seine Macht zunehmend schwinden lässt. Dadurch gelingt es den Delegierten im Laufe der ÝUrÁbÐ-Bewegung, das Machtverhältnis erneut zu ihren Gunsten zu verschieben und den Ministerrat mit Getreuen zu besetzen, was zu einer weiteren Stärkung des Parlaments und der Realisierung der Forderungen aus Phase 3 führt. Im Hinblick auf das Kollaps-Argument ist hier als Ergebnis des zunehmenden Einflusses der Europäer nicht die Zersetzung der Ordnung zu erkennen, sondern vielmehr ein Aufweichen der alten Machtverhältnisse, das neuen Akteuren die Aussicht auf Aufstieg bietet. Der Unterschied zwischen diesen zwei Zustandsbeschreibungen besteht darin, dass beim Kollaps-Argument sich das Alte auflöst, ohne dass sich etwas Neues entwickelt. Im Gegensatz dazu ist hier deutlich geworden, dass einheimische Akteure den neu gewonnen politischen Spielraum konstruktiv nutzen und in einem jahrelangen Prozess die alte Ordnung weiterentwickeln. Des Weiteren ist die Frage, wie es zu einem Machtausbau der Kammer kommt, durch die innerparlamentarische Entwicklung zu begreifen. Hierbei ist die zunehmende Nutzung des Parlaments als Mittel zur Durchsetzung der eigenen Interessen von besonderer Bedeutung. Denn während in der Armee die Spitzenpositionen fest in den Händen der Turko-Tscherkessen bleiben, wird im politischen Bereich der maÊlis zu einer Möglichkeit für einheimische Notabeln, sich zu artikulieren und später auch Einfluss zu nehmen. Bedenkt man, dass die Kammer nicht eingerichtet wurde, um politischen Forderungen ägyptischer Großgrundbesitzer ein Ventil zu schaffen, dann erkennt man einen Lernprozess, in dem sich den Notabeln der Wert einer institutionalisierten Interessenvertretung erst erschließt. Daraus entwickelt sich das Streben nach mehr Mitspracherechten und einer effektiven Gewaltenteilung, die die neuen Rechte, darunter auch die neue Form von Landeigentum, sichern soll. Das bedeutet einfach gesagt, dass der Nutzen eines Parlaments erkannt wird und damit die dazugehörenden Spielregeln in Form von Statuten oder Verfassungen akzeptiert werden. Schließlich heißt dies, dass die Delegierten vom bestehenden System profitieren und nur schrittweise Änderungen innerhalb dieses Rahmens anstreben, um die ökonomischen und politischen Gewinne aus dem Aufstieg der vorangegan135

gen Jahrzehnte zu sichern. Kurz gesagt, es handelt sich um starke Reformer – und nicht um schwache Revolutionäre. Artikulation und Durchsetzung von Interessen haben sich also als eine wichtige Antriebskraft bei der Entwicklung der Delegiertenkammer herausgestellt. Dies steht im Gegensatz zu der Annahme, der Parlamentarismus im Ägypten des 19. Jahrhunderts sei ein Ergebnis der Übernahme des europäischen Vorbilds. Dagegen wurde hier gezeigt, dass das europäische Modell nur sehr selten zum Einsatz kommt und in den wenigen Fällen allein der Legitimation akteursspezifischer Interessen dient: einmal bei der Einrichtung der Kammer im Zuge der Profilierung des Khediven als pro-westlicher Modernisierer, um die Kreditfähigkeit nach außen zu unterstreichen, zum anderen bei der Einforderung parlamentarischer Rechte seitens der 355 Delegierten. Der Konflikt, der im Kreis der Intellektuellen und Religionsgelehrten um die Frage aufkommt, ob überhaupt und wenn ja, wann etwas vom Westen übernommen werden soll, scheint bei den Delegierten nicht zu bestehen. In der Tat erscheint es plausibel, dass sich reiche Großgrundbesitzer, wie es die meisten Mitglieder der Kammer sind, mehr um konkrete Interessen und Wege zu deren Durchsetzung kümmern als um interreligiöse und interkulturelle Konflikte. Die zweite Einsicht, dass die imperiale Durchdringung zwar zu Machtverschiebungen, aber nicht zum Zusammenbruch führt, hat Konsequenzen für die Imperialismustheorien im Allgemeinen. Zunächst hat die hier erbrachte Widerlegung des Kollaps-Arguments Rückwirkungen auf die metropolenzentrierten Erklärungen, die auf den Zusammenbruch der Peripherie aufbauen. Vor allem die Gefährdung des Suezkanals als Lebensader des Empire und damit die Bedrohung für die Sicherheit Großbritanniens sind nun als Gründe für die Besetzung nicht mehr haltbar. Gerade die langjährigen Entwicklungen, die zu den Geschehnissen 1882 führen und bei denen Briten und Franzosen selbst beteiligt waren, machen eine derart grobe Fehleinschätzung der Situation unwahrscheinlich. Stattdessen führt dies weg von der Interpretation von Robinson und Gallagher, die öffentlich geäußerten Gründe als tatsächliche Motive zu sehen, und man kommt zu dem zurück, was das Kollaps-Argument ursprünglich war, nämlich ein Teil der 355 S. Kap. 4.4.2. 136

offiziellen Legitimierung der Okkupation durch die damaligen Diplomaten und Politiker in Großbritannien. In der Tat ist die Peripherie im Zustand der Anarchie ein wiederkehrendes Muster der Legitimation von Besatzung, dessen Konstruktion in den politischen Prozessen der Metropole man analysieren kann, wie es z.B. Jack Snyder tut. Für die vielen neuen Arbeiten, die verschiedene Imperien miteinander vergleichen, hat die Widerlegung des Kollaps-Arguments zudem verdeutlicht, dass ohne genauere Recherche selbst altbekannte Theorien nicht einfach übernommen und in allgemeine Imperiumstheorien integriert werden sollten. Gerade die zentrale Frage, warum es zu einer formalen Besatzung kommt, ist noch nicht zufriedenstellend beantwortet. Hier könnte es hilfreich sein, nicht nur den Übergang von informeller zu formaler imperialer Herrschaft zu untersuchen, sondern auch in den Blick zu nehmen, dass ein und dieselbe Großmacht gleichzeitig beide imperialen Herrschaftsformen sowie hegemoniale Politik betreiben kann. Dies zeigt sich an Großbritanniens Empire im 19. Jahrhundert sowie bis heute auch an den USA. Daraus wird ersichtlich, dass sich die Kategorien von Imperium und Hegemon zum einen nicht gegenseitig ausschließen. Zum anderen lässt sich die Frage „Imperium oder Hegemon?“ offensichtlich nicht durch die einseitige Untersuchung der Großmacht beantworten, sondern nur durch die jeweilige Analyse der Beziehung der Großmacht zu einem bestimmten Land in einer bestimmten Region. Da sowohl Hegemonial- als auch Imperialtheorien von einer hierarchischen Struktur des internationalen Systems ausgehen, könnte der Grad der Asymmetrie einer bestimmten Beziehung mit dafür ausschlaggebend sein, ob sich die Großmacht imperial oder hegemonial verhält. Darauf aufbauend könnte man untersuchen, wann und warum sich das Verhalten einer Großmacht ändert, also nicht mehr hegemonial ist, sondern informell und schließlich formal imperial wird. Wie im Fall dieser Arbeit, könnte die gewonnene Autonomie der Peripherie von der Großmacht den Wandel hin zu formaler Okkupation ausgelöst haben. Diese Beziehung zu verstehen erfordert in jedem Fall ein genaues Verständnis nicht nur der Großmacht, sondern auch des schwächeren Landes. Hier müsste man in Zukunft noch genauer hinsehen, um zu vermeiden, noch einmal Stärke mit Schwäche und Reformer mit Revolutionären zu verwechseln. 137

6

6.1

Anhang

Verfassungsentwurf von 1879

Aus: ar-RÁfiÝÐ, ÝAÒr IsmÁÝÐl, 1982, Bd. 2, S. 214–220, Originalquelle: al-AhrÁm, 1879, Nr. 12 Art. 1 Die Delegiertenkammer wird von den Delegierten gebildet, deren Wahl gemäß der in einer speziellen Verordnung geklärten Modalitäten erfolgt. Art. 2 Nicht zugelassen als Delegierter ist, wer nicht Untertan der ägyptischen Regierung ist, wer das 30. Lebensjahr noch nicht vollendet hat, wer nicht in vollem Besitz der bürgerlichen und politischen Rechte ist und somit nicht die in der Wahlordnung festgelegten Eigenschaften erfüllt. Art. 3 Die Dauer der Amtsperiode eines Delegierten beträgt drei Jahre. Bei einer erneuten Wahl können die Delegierten wiedergewählt werden. Art. 4 Die Wahl der Delegierten erfolgt einmal alle drei Jahre und beginnt mindestens vier Monate vor dem Ersten des Monats Kiahk [vierter Monat des koptischen Kalenders] (Dezember), in dem der festgesetzte Zeitpunkt für die Versammlung der Delegierten liegt. Art. 5 Das Ende der Sitzungsperiode der Delegiertenkammer ist jährlich am ersten Paremhat [siebter Monat des koptischen Kalenders] (März). Ihre Beendigung erfolgt durch höchstes Dekret. Art. 6 Der Khedive darf, wie es die Umstände erfordern, anordnen, die Kammer vorzeitig zu eröffnen und die Versammlungsdauer zu verkürzen oder zu verlängern. 138

Art. 7 Die Eröffnungszeremonie der Kammer erfolgt durch den Khediven oder in Stellvertretung durch den Präsidenten des Ministerrats und durch alle Minister und Delegierte. Dabei wird der Schriftsatz des Khediven verlesen, worin die innerstaatliche Lage Ägyptens im vergangenen Jahr vor der Eröffnung [der Sitzung] und die Maßnahmen, deren Ergreifung im aktuellen Jahr erforderlich erscheint, dargelegt werden. Art. 8 Jeder Delegierte gilt als Vertreter der Öffentlichkeit der ägyptischen Umma und nicht nur seines Wahlkreises. Art. 9 Die Delegierten besitzen völlige Freiheit bezüglich der Äußerung ihrer Meinungen und Beschlüsse. Kein Delegierter ist bei seiner Meinung(sfindung und -vertretung) an Anweisungen gebunden, die ihm erteilt werden, oder an ein Versprechen oder Drohungen, die gegen ihn gerichtet werden. Art. 10 Über die Angelegenheiten, die die Minister den Delegierten vorlegen, berät die Delegiertenkammer. Wenn sich dabei Anmerkungen ergeben, dann werden sie dem Ministerrat übermittelt. Dies ist verbunden mit der Darlegung der Sichtweisen und Gründe. Art. 11 Wenn eine Meinungsverschiedenheit zwischen Delegiertenkammer und Ministerrat auftritt und beide auf ihrer jeweiligen Meinung (auch) nach der Wiederholung der Mitteilung und der Erläuterung der Gründe beharren und das Ministerium nicht zurücktritt, dann kann der Khedive die Schließung der Delegiertenkammer und die Wiederholung der Wahl der Mitglieder anordnen unter der Bedingung, dass der Zeitraum, in dem die Wahl zu erfolgen hat, nicht vier Monate vom Tag der Auflösung bis zum Tag der Versammlung überschreitet. Wenn der Beschluss der Delegiertenkammer nach deren erneuter Wahl die Meinung der vorherigen Kammer unterstützt, dann muss sie durchgeführt werden. Die Umma kann die ehemaligen Delegierten oder einige von ihnen wieder wählen (s. Art. 3).

139

Art. 12 Ist der Sitz eines Delegierten vakant, wird möglichst bald der Ersatz für ihn gewählt, wobei seine Wahl nur bis zur Abhaltung der allgemeinen Wahl andauert, d.h. die Amtsperiode des Ersatz(delegierten) übersteigt nicht den Zeitraum, der dem vorangegangenen Delegierten verblieben wäre. Art. 13 Der Präsident der Kammer, seine Stellvertreter und die Schriftführer werden von der Delegiertenkammer von Beginn des Zusammentritts an bestimmt und verbleiben bis zum ersten Tag der nächsten Versammlung(speriode). Art. 14 Die Verhandlungen und Beratungen der Delegierten in den allgemeinen Sitzungen erfolgen öffentlich. Dennoch können sie im Geheimen erfolgen, wenn dies ein Minister oder zehn Abgeordnete fordern. Die Kammer fasst den Beschluss darüber. Art. 15 Es ist nicht erlaubt, einen Delegierten während der Sitzungsperiode der Kammer in Haft zu nehmen und einen Prozess gegen ihn zu führen, solange kein Beschluss von der erwähnten Kammer ergangen ist. Ausgenommen sind die Fälle, in denen ein Delegierter, verwickelt in ein schweres Verbrechen wie Mord, festgenommen wird. Art. 16 Wenn die Festnahme eines in ein Verbrechen verwickelten Delegierten erfolgt und er inhaftiert wird, wird der Präsident der Delegierten über dessen Gefangennahme benachrichtigt. Die Freilassung dieses Delegierten oder die Aussetzung des Prozesses gegen ihn während des Zeitraums der Sitzung der Kammer erfolgt, wenn dies die erwähnte Kammer fordert. Art. 17 Die Kammer hat auch das Recht, die Freilassung oder die Aussetzung des Prozesses zu fordern, wenn ein Delegierter außerhalb der Sitzungsperiode der Kammer festgenommen oder inhaftiert wird.

140

Art. 18 Jeder Delegierte leistet vor Übernahme seines Delegiertenamts öffentlich unmittelbar nach ihrer Eröffnung einen Eid in der Kammer, dass er loyal gegenüber dem Khediven ist, dass er das Vaterland nicht verrät, dass er die Gesetze der Regierung befolgt und dass er das Amt, das ihm übertragen wurde, für das Wohl des Vaterlands ausüben wird. Art. 19 Für jeden Delegierten ist ein Betrag von zehntausend Qirš jährlich festgesetzt für seine Reise- und Wohnungskosten. Man zahlt ihm aus, was ihm dafür in jedem der drei bestimmten Monate der Kammerversammlung ab dem Datum der Einberufung zusteht. Wenn die Dauer der Kammer(versammlung) drei Monate unter- oder überschreitet, werden ihm die zehntausend Qirš vollständig ausgezahlt. Wenn im Lauf des Jahres eine außerordentliche Delegiertenversammlung stattfindet, dann bekommen sie nichts, außer wenn manche einen Ersatz(mann) bestimmen und dieser Ersatzmann an jenen Versammlungen teilnimmt, dann wird ihm ein Betrag für die Dauer seines Aufhalts nach Tagessätzen gezahlt, solange er nicht die zehntausend Qirš überschreitet. Was die Delegierten aus den Wahlkreisen des Sudans angeht, so werden ihnen darüber hinaus die Reisekosten bis an die Grenze Ägyptens für die Hin- und Rückfahrt bezahlt. Art. 20 Die Aufnahme Regierungsbeamter, seien es königliche oder militärische, als Mitglieder in die Delegiertenkammer ist nicht erlaubt, mit Ausnahme der Minister der Regierung, der Inspektoren der Distrikte und ihrer Stellvertreter und der Direktoren und ihrer Stellvertreter unter der Bedingung, dass sie nicht mehr als ein Fünftel der Delegierten stellen. Art. 21 Die Beratung über irgendeine Angelegenheit ist erst dann ordnungsgemäß und gültig, wenn zwei Drittel der Mitglieder in der Kammer anwesend sind; nicht mitgezählt werden die Abwesenden, die offiziell beurlaubt sind. Vielmehr besteht die Bedingung, dass die zwei Drittel zu den Anwesenden in der Kammer gehören und dass kein Beschluss gefasst werde, außer die Mehrheit der Anwesenden beschließt ihn. Bei Stimmengleichheit gibt die Stimme des Präsidenten den Ausschlag für die Meinung der Gruppe, der er sich anschließt.

141

Art. 22 Kein Delegierter kann einen anderen beauftragen, seine Meinung zu äußern. Vielmehr muss er dies selbst tun. Art. 23 Jeder Ägypter, der das Wahlrecht besitzt, kann bei der Kammer über einen der Delegierten eine Petition einreichen. Nach deren Prüfung durch eine Kommission beschließt die Kammer, gestützt auf den Bericht der Kommission, die Annahme oder Ablehnung dieser Petition und ihre Relevanz. Art. 24 Jeder Antrag bezüglich Individualrechten, der der Kammer unterbreitet wird, wird abgelehnt, wenn die damit befassten Nachprüfungen erwiesen haben, dass sich der Antragssteller mit seinem Antrag vorher nicht an den zuständigen maÞmÙr oder an die dem erwähnten maÞmÙr unterstehende Verwaltungsstelle gewendet hat. Art. 25 Die Kammer darf nicht akzeptieren, dass jemand aus persönlichen Gründen oder in Vertretung einer Gruppe zu ihr kommt, um irgendeine Angelegenheit vorzutragen. Sie darf niemanden außer die Mitglieder [der Kammer], die Minister der Regierung und ihre Vertreter anhören. Art. 26 Bei der ersten Versammlung der Delegiertenkammer muss der Ministerrat ihr alle Verordnungen, Gesetze und Dekrete, die in der Regierung bearbeitet werden, vorlegen, damit sie sie begutachtet, überprüft, ihre Beschlüsse über sie trifft und sie durch den Khediven ratifizieren lässt, damit sie verfassungsgemäß in Kraft sind. Art. 27 Das Erlassen der Gesetze und Verordnungen beginnt mit dem Ministerrat. Dann werden sie der Delegiertenkammer zur Begutachtung und Überprüfung vorgelegt, so dass das Gesetz nicht gültig oder verfassungsgemäß ist, solange es nicht Artikel für Artikel in der Delegiertenkammer vorgelesen wurde, solange kein Beschluss darüber ergangen ist und der Khedive es nicht ratifiziert hat. Die Dele-

142

gierten können in Rücksicht auf das öffentliche Wohl und gemäß den Erfordernissen der Lage, Umstände und Zeiten jedes Gesetz, jeden Artikel und jeden Satz darin verändern, überprüfen oder modifizieren. Dies ist die Grundordnung. Art. 28 Wenn die Delegiertenkammer eines der Gesetze oder einen der Artikel ablehnt, die ihr der Ministerrat vorgelegt hat, dann ist deren Vorlage vor die Delegiertenkammer ein zweites Mal während der Sitzungsperiode jenes Jahres nicht erlaubt. Art. 29 Die Beurteilung, ob die Wahl der Delegierten gültig ist, steht allein der Kammer zu. Art. 30 Die offizielle Sprache, deren Gebrauch in der Kammer obligatorisch ist, ist arabisch. Art. 31 Die Abstimmung erfolgt auf die folgende Weise, sei es durch Aufrufen des Namens, durch sichtbare Zeichen oder durch die geheime Abstimmung per Urnenwahl. Art. 32 Die Stimmabgabe per Aufrufen des Namens kann nur durch den Beschluss der Kammer erfolgen, gestützt auf den Antrag eines Delegierten, dem sich zehn weitere anschließen. Die geheime Stimmabgabe per Urnenwahl kann nur bei der Bestimmung von Personen wie der Bestimmung des Präsidenten, der Stellvertreter, Schriftführer, Mitglieder der Kommission und dergleichen erfolgen. Art. 33 Die Delegiertenkammer erstellt ihre Geschäftsordnung. Art. 34 Die Mitglieder[zahl] der Delegiertenkammer übersteigt nicht 120 Delegierte, worunter Delegierte des Sudans sind gemäß den Erläuterungen, die in der Wahlordnung angegeben werden.

143

Art. 35 Der Sitz der Delegiertenkammer ist in Kairo, der Hauptstadt des Landes. Art. 36 Die Minister sind vor der Delegiertenkammer für sämtliche Umstände und Tätigkeiten ihrer Verwaltung verantwortlich. Demzufolge muss der Ministerrat die Initiative ergreifen und ein Gesetz erlassen, damit die Minister gegebenenfalls gerichtlich verfolgt werden können, und dieses der Delegiertenkammer vorlegen. Art. 37 Ein von der Regierung erlassenes Dekret ist nicht in Kraft, solange es nicht vom dafür zuständigen Minister unterzeichnet ist und mit einem gültigen Gesetz nicht übereinstimmt (s. Art. 26, 27). Art. 38 Das Ministerial- und das Parlamentsamt dürfen nicht in einer Person vereint sein (s. Art. 20). Art. 39 Jeder Minister kann an den Sitzungen der Delegiertenkammer teilnehmen oder einen hohen Beamten seiner Behörde als seinen Vertreter dorthin schicken unter der Bedingung, dass dieser Beamte nicht unter den Delegierten ist. Art. 40 Den Ministern und ihren Stellvertretern ist es erlaubt, in der Kammer alle Dinge vorzutragen, über die sie zu sprechen beantragen. Art. 41 Wenn ein Notfall von besonderer Bedeutung eintritt, der das schnelle Ergreifen der erforderlichen Präventivmaßnahmen zum Schutz der Regierung vor einer Gefahr, die vielleicht sie selbst oder die Aufrechterhaltung der öffentlichen Sicherheit betrifft, nötig macht, und die Delegiertenkammer nicht einberufen ist, dann ist es dem Ministerrat erlaubt, die erforderliche Maßnahme selbstverantwortlich und mit der Billigung des Beschlusses durch den Khediven zu beschließen. Dieser wird demgemäß rechtskräftig unter der Bedingung, dass er

144

nicht den gültigen Gesetzen zuwiderläuft und der Delegiertenkammer bei der Versammlung vorgelegt wird. Art. 42 Wenn sich bei den Delegierten eine Meinungsverschiedenheit in der Diskussion einiger Themen gegenüber dem zeigt, was ihnen von den Ministern vorgelegt wurde, dann wird darüber beraten und eine Benachrichtigung diesbezüglich an den Ministerrat geschickt. Wenn acht Tage nach der Absendung dieser Benachrichtigung vom Ministerrat keine Gesichtspunkte vorgetragen wurden, die die Beratung darüber verhindern, und die Delegierten die Zustimmung zu jenen Gesichtspunkten beschließen, dann haben sie das Recht, ihre Beratung zu vollenden und ihren Beschluss dazu zu erlassen. Art. 43 Die Minister sind dazu verpflichtet, alle Fragen der Delegiertenkammer zu beantworten, sei es, dass sie sich selbst zur Kammer begeben oder dass sie sich durch einen hohen Beamten aus ihrer Behörde für die Beantwortung vertreten lassen unter der Bedingung, dass dieser Beamte nicht unter den Delegierten ist. Art. 44 Es ist den Ministern erlaubt, falls wichtige Umstände es erforderlich machen, die Beantwortung der Fragen der Delegiertenkammer aufzuschieben, zusammen mit der Mitteilung der Gründe für die Verzögerung, die bis spätestens zehn Tage vor dem Ende der Sitzungsperiode der Kammer zu erfolgen hat. Die Minister müssen die Antwort am ersten Tag der zweiten Sitzungssperiode den Delegierten vorlegen. Dennoch tragen sie die Verantwortung für die Verzögerung. Art. 45 Zu den Rechten der Delegierten gehört, die öffentlichen Ausgaben genau und vollständig zu überwachen und ihren Umfang zu beschließen. Sie müssen die Menge der Einkünfte (Einnahmen), ihre Art, die Erhebung der Steuern und Abgaben und die Art und Weise ihrer Verteilung und die Zeiten ihrer Eintreibung festsetzen. Eine Steuer irgendeiner Art zu erheben, sie zu verteilen, einzutreiben oder die Bevölkerung teilweise damit zu belasten, ist erst nach dem Beschluss der Delegierten darüber erlaubt. Ebenso ist es nicht erlaubt, etwas von

145

den Steuereinnahmen auszugeben, was über das, was die Delegierten dazu beschlossen haben, hinausgeht. Art. 46 Die Delegierten können unmittelbar nach der Eröffnung der Kammer den öffentlichen Gesamtetat, der die Einkünfte (Einnahmen) und Ausgaben umfasst, anfordern, um ihn zu prüfen. Wenn sie darüber nach vollendeter Untersuchung einen Beschluss gefasst haben, ist er nur für jenes Jahr gültig. Im zweiten Jahr ist die Anfertigung eines zweiten Haushalts und dessen Vorlegung vor die Delegierten, wie dargelegt, erforderlich, und so erfolgt dies jährlich. Art. 47 Jeder Beschluss, der von der Delegiertenkammer ergeht, wird dem Ministerrat geschickt, um dessen Ratifizierung durch den Khediven durchzuführen. Art. 48 Wenn die Bedeutung eines Artikels dieser Verordnung unklar ist und die Umstände es erforderlich machen, seinen genauen Sinn zu erfassen, dann wird von der Delegiertenkammer dessen Erläuterung verlangt. Art. 49 Jeder Delegierte hat das Recht, wenn er Unfähigkeit bei irgendeinem maÞmÙr oder irgendeiner Verwaltungsstelle der Regierung sieht, dieses dem für die Verwaltung zuständigem Minister schriftlich mitzuteilen. Dies gilt nur für öffentliche Angelegenheiten.

146

6.2

Verfassung von 1882

Aus: ar-RÁfiÝÐ, ÝAÒr IsmÁÝÐl, 1982, Bd. 2, S. 220–225, Originalquelle: al-WaqÁÞiÝ al-miÒrÐya, 9. Februar 1882 Art. 1 Die Bestimmung der Mitglieder der Delegiertenkammer erfolgt durch Wahlen. Die nötigen Voraussetzungen für diejenigen, die das aktive und passive Wahlrecht besitzen, werden später in einer speziellen Verordnung bekannt gegeben, die auch die Modalitäten der Wahl umfasst. Art.2 Die Wahl der Mitglieder der Kammer findet alle fünf Jahre statt. Jedem von ihnen werden 100 ägyptische Pfund pro Jahr als Aufwandsentschädigung gezahlt. Art. 3 Die Delegierten sind absolut frei in der Ausführung ihrer Aufgaben und sind nicht gebunden an Befehle oder Instruktionen, die ihnen erteilt werden und die ihre Meinungsfreiheit verletzen, oder an Versprechen oder Drohungen, die an sie ergehen. Art. 4 Es ist nicht erlaubt, gegen die Delegierten auf irgendeine Art vorzugehen. Wenn ein Delegierter ein Verbrechen oder ein Vergehen während der Sitzungsperiode der Kammer begeht, so ist dessen Festnahme nur mit Zustimmung der Kammer erlaubt. Art. 5 Die Kammer kann während ihrer Sitzungsperiode die Freilassung oder das Aussetzen des Prozesses temporär bis zum Ende der Sitzungsperiode der Kammer für einen Delegierten beantragen, der eines Verbrechen beschuldigt wird oder der außerhalb der Sitzungsperiode in einem Verfahren, in dem noch kein Urteil ergangen ist, inhaftiert worden ist. Art. 6 Jeder Delegierte gilt als Vertreter aller Einwohner Ägyptens und nicht nur seines Wahlkreises.

147

Art. 7 Der Sitz der Delegiertenkammer ist in Kairo. Die Kammer wird auf Anordnung des Khediven mit Zustimmung des Ministerrats einberufen. Ihre Versammlung findet einmal im Jahr statt. Art. 8 Die regulären jährlichen Sitzungen der Delegiertenkammer finden drei Monate lang vom 1. November bis Ende Januar statt. Falls diese Zeit nicht ausreicht, um die gegebenen Aufgaben zu vollenden, und die Kammer eine Verlängerung der Periode um 15 bis 30 Tage beantragt, so wird dem in einer Anordnung des Khediven entsprochen. Art. 9 Wenn die Umstände eine weitere Kammersitzung außerhalb der regulären Sitzungsperiode erfordern, dann geschieht dies auf Anordnung des Khediven, in der die Dauer dieser Sitzung festgelegt wird. Art. 10 Der Khedive oder der Präsident des Ministerrats als sein Stellvertreter eröffnet die Delegiertenkammer in Anwesenheit der übrigen Minister. Art 11 Die erste Sitzung in jedem Jahr wird eröffnet mit dem Verlesen eines Schriftstücks, das der Khedive oder der Präsident des Ministerrates in Vertretung verliest und das die Darlegung der wichtigen Fragen umfasst, die der Kammer während ihrer Sitzungsperiode vorgelegt werden. Mit der Verlesung des erwähnten Schriftstücks ist die Sitzung beendet. Art.12 Die Kammer wählt binnen drei Tagen, die auf die Verlesung des Schriftstücks folgen, einen Ausschuss für die Beantwortung der Fragen. Nach der Zustimmung der Kammer wird sie dem Khediven von den für diesen Zweck bestimmten Delegierten vorgelegt. Art. 13 Die erwähnte Antwort umfasst nicht die definitive Besprechung jeder Frage und nicht jegliche Meinung, die diskutiert wurde. 148

Art 14 Die Kammer wählt drei ihrer Mitglieder, deren Namen dem Khediven vorgelegt werden. Dieser bestimmt einen von ihnen zur Übernahme der Präsidentschaft der Kammer für die fünfjährige Sitzungsperiode, die der Khedive anordnet. Art. 15 Die Kammer wählt zwei Stellvertreter für ihren Präsidenten und bestimmt zwei Schriftführer unter der Bedingung, dass die zwei Vertreter Mitglieder der Kammer sind. Art. 16 Die Sitzungsprotokolle werden abgefasst unter Aufsicht des Sekretariats der Kammer, das sich zusammensetzt aus dem Präsidenten, seinen zwei Stellvertretern und den Schriftführern. Art. 17 Die Amtssprache der Kammer ist arabisch. Das Abfassen der Verlaufs- und Ergebnisprotokolle erfolgt in dieser Sprache. Art. 18 Die Minister haben das Recht, den Kammersitzungen beizuwohnen und alles, was sie möchten, einzubringen und hohe Beamte als ihre Vertreter zu schicken. Art. 19 Wenn die Delegierten beschließen, einen der Minister zu ihrer Sitzung kommen zu lassen, um von ihm Klärung in einer bestimmten Sachfrage zu erhalten, muss der Minister selbst zur Kammer gehen oder einen der hohen Beamten als Vertreter schicken, der die ihm gestellten Fragen beantwortet. Art 20 Die Delegierten haben das Recht der Aufsicht über die Regierungsbeamten insgesamt und während der Sitzungsperiode das Recht, über ihren Präsidenten jeden Minister darüber zu informieren, was sie für berichtenswert erachten an Fehlern oder Unvermögen, die sich bei der Durchführung der Amtsaufgabe einer der Regierungsbeamten, der dessen Ministerium untersteht, ereignet haben.

149

Art 21 Die Minister tragen gemeinsam die Verantwortung vor der Delegiertenkammer bezüglich jeder Verordnung, die vom Ministerrat beschlossen wird und aus der Verstöße gegen die Gesetze und Durchführungsvorschriften resultieren. Art. 22 Jeder Minister ist verantwortlich auf die im vorigen Artikel erwähnte Weise für seine mit seinen Amtsgeschäften verbundenen Maßnahmen. Art 23 Wenn es zu einer Meinungsverschiedenheit zwischen Delegiertenkammer und Ministerrat kommt und jeder nach der Wiederholung der Verhandlung und der Erläuterung der Gründe auf seiner Meinung besteht und das Ministerium nicht aufgibt, dann kann der Khedive die Auflösung der Delegiertenkammer und Neuwahlen anordnen unter der Bedingung, dass der Zeitraum von der Auflösung bis zum Tag der Versammlung nicht drei Monate überschreitet und dass es den Wahlberechtigten erlaubt ist, dieselben ehemaligen Delegierten oder einige von ihnen zu wählen. Art. 24 Wenn die zweite Kammer die Meinung der ersten Kammer, aus der die Meinungsverschiedenheit resultierte, bestätigt, so führt sie die oben erwähnte Meinung uneingeschränkt aus. Art. 25 Die Verordnungs- und Gesetzesentwürfe werden von der Regierung ausgearbeitet und die Minister legen sie der Delegiertenkammer zur Ansicht, Prüfung und zur Fassung des erforderlichen Beschlusses vor. Der Entwurf ist nicht als verfassungsgemäßes Gesetz gültig, solange er nicht in der Delegiertenkammer Artikel für Artikel verlesen und einzeln beschlossen wurde. Dann erfolgt die Ratifizierung durch den Khediven. Jedes Gesetz wird drei Mal verlesen, wobei jeweils dazwischen 15 Tage liegen.Wenn das Gesetz besonders dringlich ist, dann reicht es, wenn es ein einziges Mal verlesen wird und man auf die anderen zwei Male verzichtet kraft eines speziellen Beschlusses der Kammer. Wenn der Delegiertenkammer der Erlass eines Gesetzes richtig erscheint, dann beantragt sie dieses über ihren Präsidenten beim Ministerrat. Wenn die Regierung

150

dem zustimmt, fertigt sie dessen Entwurf an und legt ihn der Delegiertenkammer auf dargelegte Weise vor. Art. 26 Der Entwurf jeder Verordnung oder jedes Gesetzes wird der Kammer zur Prüfung durch einen Ausschuss ihrer Mitglieder, der dafür gewählt ist, vorgelegt. Der erwähnte Ausschuss kann von der Regierung die Vornahme einiger Änderungen im Entwurf, mit dessen Prüfung sie betraut war, fordern. In diesem Fall schickt der Präsident der Delegiertenkammer dem Ministerpräsidenten den Entwurf und die Änderungen, deren Vornahme gefordert wurde, vor der öffentlichen Beratung in der Delegiertenkammer. Art. 27 Wenn der Ausschuss keine Änderungen am zugewiesenen Gesetzentwurf beantragt oder sie beantragt und die Regierung dem nicht zustimmt, dann wird der ursprüngliche Text des Gesetzentwurfs der Delegiertenkammer zur Beratung vorgelegt. Wenn die Regierung jedoch jene Änderungen billigt, dann wird der Kammer der ursprüngliche Text zusammen mit den Änderungen vorgelegt, die diskutiert worden sind. Gesetzt den Fall, dass die Änderungen nicht von der Regierung befürwortet werden, kann der Ausschuss seine Meinung vor der Kammer erläutern und seine Anmerkungen unterbreiten. Art. 28 Bei der Vorlage des Entwurfs vor die Kammer durch den Ausschuss kann die Kammer diesen annehmen, ablehnen oder ein zweites Mal zur Ansicht an den Ausschuss überweisen. Art. 29 Der Präsident der Delegiertenkammer muss die Verordnungen und Gesetze, die die Kammer ratifiziert hat, an den Ministerpräsidenten schicken. Art. 30 Nicht erlaubt ist die Festlegung neuer Steuern, Abgaben oder Gebühren auf beweglichen oder unbeweglichen Besitz oder auf den Tribut (vergi) in der ägyptischen Regierung außer durch ein Gesetz, das die Delegiertenkammer gebilligt hat. Trotzdem ist es in keiner Weise erlaubt, dass neue Abgaben erhoben werden und dass jede mögliche Seite der Regierung die Erhebung dergleichen be151

fiehlt, dass jeder Angestellte Listen und Tarife festlegt und dass jede Person die Erhebung jener ohne ein von der Delegiertenkammer beschlossenes Gesetz durchführt. Er wird der Veruntreuung verurteilt und die Besitzer erhalten ihre Rechte wieder. Art. 31 Die Regierung legt der Delegiertenkammer das jährliche Budget der Ausgaben und Einnahmen jedes Jahr bis spätestens 5. November vor. Art. 32 Der Haushalt aller Einnahmen wird der Kammer mit detaillierter Auflistung ihrer Arten vorgelegt. Art. 33 Der Haushalt der Ausgaben ist aufgeteilt in zahlreiche Teile, die jeweils einem Ministerium zugeordnet sind. Des Weiteren umfasst jeder Teil Kapitel und Abschnitte gemäß der Anzahl der Distrikte der allgemeinen Verwaltung in diesem Ministerium. Art. 34 Der Kammer ist es nicht erlaubt, die Zahlungen des festgesetzten Tributs (vergi) an Konstantinopel zur Einsicht zu nehmen oder den allgemeinen Kredit oder das, wozu sich die Regierung in Sachen Kredit basierend auf die Liquidationsverordnung oder den Abkommen, die zwischen ihr und den ausländischen Regierungen geschlossen wurden, verpflichtet hat. Art. 35 Der Haushalt wird der Delegiertenkammer geschickt. Sie nimmt darin Einsicht und prüft ihn (unter Befolgung des vorangegangenen Artikels) und bestimmt für ihn einen Delegiertenausschuss, der dem Ministerrat und dem Ministerpräsidenten bezüglich Mitgliederanzahl und Stimmrecht gleichwertig ist, damit sie gemeinsam Einsicht in den Haushalt nehmen und diesen einstimmig oder mit Mehrheit beschließen. Art. 36 Wenn eine Meinungsverschiedenheit zwischen Delegiertenausschuss und Ministerrat auftritt und es zum Stimmenpatt kommt, dann geht der Haushalt an die 152

Delegiertenkammer zurück. Wenn sie die Meinung des Ministerrats bestätigt, muss diese ausgeführt werden. Wenn sie die Meinung ihres Ausschusses bestätigt, dann wird verfahren gemäß Artikel 23 und 24 dieser Verordnung. Tritt eine Meinungsverschiedenheit bezüglich des Haushalts auf, so ist der im vorangegangenen Jahr beschlossene Haushalt befristet durchzuführen, soweit er nicht neue Aufgaben wie öffentliche Arbeiten u.a. betrifft, und zwar bis zum Zusammentreten der zweiten Kammer nach Artikel 23. Art 37 Wenn die zweite Kammer die Meinung der ersten Kammer bezüglich des Haushalts bestätigt, muss die erwähnte Meinung uneingeschränkt gemäß Artikel 23 durchgeführt werden. Art 38 Jeder Vertrag, jede Bedingung oder Verpflichtung, die einzugehen von der Regierung und anderen beabsichtigt ist, ist erst nach Beschluss der Delegiertenkammer definitiv, solange sein Kostenpunkt nicht in einem allgemeinen Haushalt, der von dieser Kammer beschlossen wurde, seinen Niederschlag gefunden hat. Jede Vereinbarung bezüglich öffentlicher Arbeiten außerhalb des Haushalts oder der Verkauf von Regierungsbesitz oder Landvergabe ohne Gegenwert oder Konzession für eine Person ist erst durch den Beschluss der Delegiertenkammer endgültig. Art. 39 Jeder Ägypter kann der Kammer eine Petition vorlegen. Die Prüfung dieser Petition wird weitergeleitet an einen von der Kammer gewählten Ausschuss und auf dessen Antwort hin beschließt die Kammer die Annahme oder Ablehnung der Petition und das, was sie angenommen hat, wird an den zuständigen Minister überwiesen. Art. 40 Jede Vorlage, die Rechte oder Interessen einer Person betrifft, wird abgelehnt, sobald sie im Zuständigkeitsbereich der Zivil- oder Verwaltungsgerichte liegt oder wenn sie zuvor nicht der zuständigen Verwaltungsstelle vorgelegt wurde. Art. 41 Wenn ein Notfall von besonderer Bedeutung eintritt, der das schnelle Ergreifen 153

der erforderlichen Präventivmaßnahmen zum Schutz der Regierung vor einer Gefahr oder zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Sicherheit betrifft, nötig macht, und die Delegiertenkammer nicht einberufen ist und die Präventivmaßnahmen, die zu ergreifen erwünscht sind, in ihre Zuständigkeit fallen und die Zeit nicht reicht, sie einzuberufen, dann kann der Ministerrat die erforderliche Maßnahme selbstverantwortlich durchführen und mit der Billigung des Beschlusses durch den Khediven beschließen. Bei Versammlung der Delegiertenkammer wird ihr die Angelegenheit vorgelegt, um ihre Meinung darüber einzuholen. Art. 42 Es ist nicht jeder Person erlaubt, der Delegiertenkammer eine Angelegenheit vorzulegen, darüber miteinander zu diskutieren oder bei der Verhandlung teilzunehmen, außer wenn man zu den Delegierten oder Ministern zählt, mit ihnen anwesend ist oder sie vertritt. Art. 43 Die Abstimmung in der Kammer erfolgt durch Heben der Hand, Aufruf des Namens oder Stimmabgabe per Urnenwahl. Art. 44 Die Abstimmung per Aufruf des Namens ist nur erlaubt, wenn dies mindestens zehn Delegierte der Kammer beantragen. In jedem Fall erfolgt die Stimmabgabe zu dem, was Artikel 47 festschreibt, immer durch Aufruf des Namens. Art. 45 Die Wahl der drei Abgeordneten, aus denen der Präsident der Kammer bestimmt wird, und ebenso die Wahl seiner zwei Stellvertreter und des ersten und zweiten Schriftführers erfolgt immer durch Urnenwahl. Art. 46 Die Verhandlung in der Kammer ist erst gültig, wenn mindestens zwei Drittel der Mitglieder anwesend sind. Ist die Verhandlung gültig, erfolgt der Erlass der Beschlüsse mit absoluter Mehrheit. Art. 47 Jeder Beschluss, für den die Minister verantwortlich sind, kann nur durch aus154

reichende Mehrheit, nämlich drei Viertel der bei der Sitzung anwesenden Delegierten, beschlossen werden. Art 48 Es ist keinem Delegierten erlaubt, sich für die Äußerung seiner Meinung vertreten zu lassen. Art 49 Die Delegiertenkammer muss ihre Geschäftsordnung genau festlegen und jene Verordnung tritt durch Anordnung des Khediven in Kraft. Art 50 Die Delegiertenkammer hat das Recht, diese Grundordnung [Geschäftsordnung] mit Zustimmung des Ministerrats zu ändern. Art. 51 Wenn der Sinn eines Artikels oder eines Ausdrucks dieser Verordnung unklar ist, wird er durch Übereinkunft der Delegiertenkammer mit dem Ministerrat erläutert. Art. 52 Alle Bestimmungen über Gesetze, Anordnungen, Verordnungen und Gewohnheitsrecht, die im Widerspruch zu dieser Verordnung stehen, haben keine Geltung und sind somit nichtig. Art. 53 Unseren Ministern obliegt die Durchführung dieser Verordnung in all dem, was sie betrifft.

155

6.3

Literaturverzeichnis

Abdel-Malek, Anouar: Idéologie et renaissance nationale. L’Egypte moderne. Paris, 1975. Abu-Lughod, Ibrahim: „The Transformation of the Egyptian Elite. Prelude to the Urabi Revolt“. In: The Middle East Journal, 1967, Vol. 21, Nr. 3, S. 325-344. Aristoteles: Physik. Über die Seele. Übersetzt von Hans Günter Zekl. Hamburg, 1995 (Philosophische Schriften, Bd. 6). Baer, Gabriel: Egyptian Guilds in Modern Times. Jerusalem, 1964. Baer, Gabriel: „Social Change in Egypt.“ In: Political and Social Change in Modern Egypt. Historical Studies from the Ottoman Conquest to the United Arab Republic. Hrsg. P.M. Holt, London, 1968, S. 135-161. Baer, Gabriel: „The Village Shaykh, 1800–1950“. In: Studies in the Social History of Modern Egypt. Hrsg. ders., Chicago, 1969, S. 30-61. Baer, Gabriel: A History of Landownership in Modern Egypt. 1800–1950. London, 1962. Baaklini, Abdo; Denoeux, Duilain; Sprinborg, Robert: Legislative Politics in the Arab World. The Resurgence of Democratic Institutions. Boulder, 1999. BarakÁt, ÝAlÐ: TaÔawwur al-milkÐya az-zirÁÝÐya fÐ MiÒr, 1813-1914, wa-a×aruhÙ ÝalÁ l-Îaraka as-siyÁsÐya. Kairo, 1977. Beinin, Joel: Workers and Peasants in the Modern Middle East. Cambridge, 2001. Bender, Peter: Weltmacht Amerika. Das neue Rom. 2. Aufl. Stuttgart, 2003. Blunt, Wilfrid Scawen: A Secret History of the British Occupation of Egypt. Being a Personal Narrative of Events by Wilfrid Scawen Blunt. London, 1907. Böhret, Carl; Jann, Werner; Kronenwett, Eva: Innenpolitik und politische Theorie. Ein Studienbuch. 3. erw. Aufl. Opladen, 1988. Bollmann, Ralph: Lob des Imperiums. Der Untergang Roms und die Zukunft des Westens. Berlin, 2006. Brewer, Anthony: „Theories of Imperialism in Perspective“. In: Imperialism and After. Continuities and Discontinuities. Hrsg. Wolfgang J. Mommsen und Jürgen Osterhammel, London, 1986, S. 325-332. Cain, P.J.; Hopkins, A.G.: „The Political Economy of British Expansion 156

Overseas, 1750–1914“. In: Economic History Review, 1980, Second Series, Vol. 33, Nr. 4, S. 463-490. Cain, P.J.; Hopkins, A.G.: British Imperialism. Innovation and Expansion 1688–1914. 3. Aufl. London, 1994. Cannon, Byron David: Politics of Law and the Courts in Nineteenth- Century Egypt. Salt Lake City, 1988. Chamberlain, M.E.: „The Alexandria Massacre of 11 June 1882 and the British Occupation of Egypt“. In: Middle Eastern Studies, 1977, Vol. 13, Nr. 1, S. 14-39. Chalcraft, John T.: The Striking Cabbies of Cairo and other Stories. Crafts and Guilds in Egypt, 1863–1914. Albany, 2004. Cole, Juan Ricardo: Colonialism and Revolution in the Middle East. Social and Cultural Origins of Egypt's 'Urabi Movement. Princeton, 1993. Colvin, Auckland: The Making of Modern Egypt. 2. Aufl. London, 1906. Cooper, Frederick; Stoler, Ann Laura: „Between Metropole and Colony: Rethinking a Research Agenda“. In: Tensions of Empire. Colonial Cultures in a Bourgeois World. Hrsg. ders., Berkeley, 1997, S. 1-56. Crecelius, Daniel: „The Mamluk Beylicate of Egypt in the last Decades before its Destruction by MuÎammad ÝAlÐ Pasha in 1811“. In: The Mamluks in Egyptian Politics and Society. Hrsg. Thomas Philipp und Ulrich Haarmann, Cambridge, 1998, S. 128-149. Cromer, the Earl of: Modern Egypt. Neuaufl. London, 1911. Crouchley, A.E.: The Economic Development of Modern Egypt. London, 1938. Cuno, Kenneth M.: „The Origins of Private Ownership of Land in Egypt: A Reappraisal.“ In: International Journal of Middle East Studies, 1980, Nr. 12, S. 245-275. Cuno, Kenneth M.: The Pasha’s Peasants. Land, Society, and Economy in Lower Egypt, 1740–1858. Cambridge, 1992. Cuno, Kenneth M.: „Joint Family Households and Rural Notables in 19thCentury Egypt“. In: International Journal of Middle East Studies, 1995, Nr. 27, S. 485-502. Davis, Eric: Challenging Colonialism. Bank MiÒr and Egyptian Industrialization, 1920–1941. Princeton, 1983. Deeb, Marius: Party Politics in Egypt. The Wafd and its Rivals, 1919–39. London, 1979. 157

Demmelhuber, Thomas; Roll, Stephan: Herrschaftssicherung in Ägypten. Zur Rolle von Reformen und Wirtschaftsoligarchen. Berlin, 2007 (SWP-Studie 2007, 20). Dicey, Edward: England and Egypt. Neuaufl. London, 1986 (1. Aufl. 1881). Diner, Dan: Versiegelte Zeit. Über den Stillstand in der islamischen Welt. 2. Aufl. Berlin, 2005. Eldridge, C.C.: Victorian Imperialism. London, 1978. EzzelArab, AbdelAziz: European Control and Egypt's Traditional Elites – a Case Study in Economic Nationalism. Lewiston, 2002. EzzelArab, AbdelAziz: „The Experiment of Sharif Pasha’s Cabinet (1879): An Inquiry into the Historiography of Egypt’s Elite Movement“. In: International Journal of Middle East Studies, 2004, Vol. 36, Nr. 4, S. 561-589. Ferguson, Niall: Empire. The Rise and Demise of the British World Order and the Lessons for Global Power. New York, 2003. Fieldhouse, D.K.: „,Imperialism‘: A Historiographical Revision“. in: Economic History Review, 1961, Vol. 14, Nr. 2, S. 187-209. Fieldhouse, D.K.: „Introduction“. In: The Theory of Capitalist Imperialism. Hrsg. von ders., Neuaufl. London, 1977, (1. Aufl. 1967), S. xiii-xix. Fraenkel, Ernst: Deutschland und die westlichen Demokratien. Erw. Ausg., 2. Aufl. Frankfurt a.M., 1990. ÉabartÐ, ÝAbd ar-RaÎmÁn al-: ÝAÊÁÞib al-Á×Ár fÐ t-tarÁÊim wa-l-aÌbÁr. Übers. von Thomas Philipp und Moshe Perlmann als: ÝAbd al-RaÎmÁn al-JabartÐ’s History of Egypt. Stuttgart, 1994, Bde. III und IV. Galbraith, John S.; Sayyid-Marsot, Afaf Lutfi al-: „The British Occupation of Egypt: Another View“. In: International Journal of Middle East Studies, 1978, Nr. 9, S. 471-488. Gallagher, John; Robinson, Ronald: „Der Imperialismus des Freihandels“. In: Imperialismus. Hrsg. Hans-Ulrich Wehler, 3. überarb. Aufl. Königstein/Ts., 1979, S. 183-200 Gandhi, Jennifer: Political Institutions under Dictatorship. Cambridge, 2008. Goldschmidt, Arthur: National Party (Egypt). In: The Encyclopedia of the Modern Middle East and North Africa. Hrsg. Philip Mattar, 2. Aufl. Detroit, 2004, Bd. 3, S. 1663-1664 Gran, Peter: Islamic Roots of Capitalism. Egypt 1760-1840. Austin, 1979. Johansen, Baber: The Islamic Law on Land Tax and Rent: The Peasants’ Loss 158

of Property Rights as Interpreted in the Hanafite Legal Literature for the Mamluk and Ottoman Periods. London, 1988. Hamed, Raouf Abbas: „The Siyasatname and the Institutionalization of Central Administration under Muhammad ÝAli“. In: The State and its Servants. Administration in Egypt from Ottoman Times to the Present. Hrsg. Nelly Hanna, Kairo, 1995, S.75-86. Harrison, Robert T.: Gladstone’s Imperialism in Egypt. Techniques of Domination. Westport, 1995. Hathaway, Jane: „,Mamluk households‘ and ,Mamluk factions‘ in Ottoman Egypt: a Reconsideration“. In: The Mamluks in Egyptian Politics and Society. Hrsg. Thomas Philipp und Ulrich Haarmann, Cambridge, 1998, S. 107-117. Hilferding, Rudolf: Das Finanzkapital. Wien, 1910. Hobson, J.A.: Imperialism: A Study. London, 1902. Hopkins, A.G.: „The Victorians and Africa: A Reconsideration of the Occupation of Egypt, 1882“. In: Journal of African History, 1986, Vol. 27, S. 363-391. Hourani, Albert: „Ottoman Reform and the Politics of Notables.“ In: The Emergence of the Modern Middle East. Hrsg. ders., Princeton, 1962, S. 36-66. Hunter, Robert F.: „The Making of a Notable Politician: Muhammad Sultan Pasha (1825–1884)“. In: International Journal of Middle East Studies, 1983, Nr.15, S. 537-544. Hunter, Robert F.: Egypt under the Khedives, 1895–1879. From Household Government to Modern Bureaucracy. Pittsburgh, 1984. Hunter, F. Robert: „Egypt’s High Officials in Transition from a Turkish to a Modern Administrative Elite, 1849–79.“ Middle Eastern Studies, 1983, Vol. 19, Nr.3, S. 277-300. Landau, Jacob: Parliaments and Parties in Egypt. Tel Aviv, 1953. Lewis, Bernard: Untergang des Morgenlandes. Warum die islamische Welt ihre Vormacht verlor. Bergisch Gladbach, 2002. Link, Werner: „Hegemonie und Gleichgewicht der Macht“. In: Sicherheit und Frieden zu Beginn des 21. Jahrhunderts. Hrsg. Mir A. Ferdowsi, München, 2002, S. 39-56. Magaloni, Beatriz: „Credible Power-Sharing and the Longevity of

159

Authoritarian Rule.“ In: Comparative Political Studies, 2008, Bd. 41, Nr. 4/5, S.715-741. Mann, Michael: Die ohnmächtige Supermacht. Warum die USA die Welt nicht regieren können. Frankfurt a.M., 2003. Malet, Edward: Egypt, 1879–1883. London, 1909. Mayer, Thomas: The Changing Past. Egyptian Historiography of the Urabi Revolt, 1882–1983. Gainesville, 1988. McCoan, J.C.: Egypt as it is. 2. Aufl. London, 1880. Menzel, Ulrich: Imperium oder Hegemonie? Folge 12: Großbritannien 1783– 1919: Das Zweite Empire. Forschungsberichte aus dem Institut für Sozialwissenschaften Nr. 93, Braunschweig, 2009. Milner, Alfred: England in Egypt. 5. Aufl. London, 1894. Mommsen, Wolfgang: Imperialismus in Ägypten. Der Aufstieg der ägyptischen nationalen Bewegung 1805–1956. München, 1961. Münkler, Herfried: Imperien. Die Logik der Weltherrschaft. Bonn, 2005. Newsinger, John: „Liberal Imperialism and the Occupation of Egypt in 1882“. In: Race&Class, 2008, Vol. 49, Nr. 3, S. 54-75. Oberreuter, Hans: „Verfassung“. In: Politische Theorie und Regierungslehre. Eine Einführung in die politikwissenschaftliche Institutionenforschung. Hrsg. Ludger Helms und Uwe Jun, Frankfurt a.M., 2004, S. 45-73. Owen, Roger: Cotton and the Egyptian Economy 1820–1914. A Study in Trade and Development. Oxford, 1969. Owen, Roger: „Robinson and Gallagher and Middle Eastern Nationalism: The Egyptian Argument“. In: The Robinson and Gallagher Controversy. Hrsg. Roger Louis, New York, 1976, S. 212-216. Owen, Roger: The Middle East in the World Economy 1800–1914. 2. Aufl. London, 1983 Patzelt, Werner: „Parlamente und ihre Funktionen“. In: Parlamente und ihre Funktionen. Institutionelle Mechanismen und institutionelles Lernen im Vergleich. Hrsg. ders., Wiesbaden, 2003, S. 16-48. Patzelt, Werner: „Institutionalität und Geschichtlichkeit von Parlamenten. Kategorien institutioneller Analyse“. In: Parlamente und ihre Funktionen. Institutionelle Mechanismen und institutionelles Lernen im Vergleich. Hrsg. ders., Wiesbaden, 2003, S. 50-117. Patzelt, Werner: „Parlamentarismus“. In: Politische Theorie und Regierungslehre. Eine Einführung in die politikwissenschaftliche 160

Institutionenforschung. Hrsg. Ludger Helms und Uwe Jun, Frankfurt a.M., 2004, S. 97-129. Patzelt, Werner: „Phänomenologie, Konstruktion und Dekonstruktion von Parlamentsmacht“. in: Parlamente und ihre Macht. Kategorien und Fallbeispiele institutioneller Analyse. Hrsg. ders., Baden-Baden, 2005, S. 255-302. Philipp, Thomas: „Personal Loyalty and Political Power of the Mamluks in the eighteenth Century“. In: The Mamluks in Egyptian Politics and Society. Hrsg. von Thomas Philipp und Ulrich Haarmann, Cambridge, 1998, S. 118-127. Platt, D.C.M.: Finance, Trade, and Politics in British Foreign Policy 1815–1914. Oxford, 1968. Porter, Bernard: Empire and Superempire. Britain, America and the World. New Haven, 2006. Porter, Bernard: The Absent-minded Imperialists. Empire, Society, and Culture in Britain. Oxford, 2004. RÁfiÝÐ, ÝAbd ar-RaÎmÁn ar-: a×-Õaura al-ÝurÁbÐya wa-l-iÎtilÁl al-inÊilÐzÐ. 4. Aufl. Kairo, 1983. RÁfiÝÐ, ÝAbd ar-RaÎmÁn ar-: ÝAÒr IsmÁÝÐl. 3. Aufl. Kairo, 1982, 2 Bde. Ramadan, Abd El-Azim: „Social Significance of the ÝUrabi Revolution“. In: L’Egypte au XIXè siècle. Aix-en-Provence, 4–7 juin 1979. Hrsg. Groupe de Recherches et d’Etudes sur le Proche-Orient. Paris, 1982, S. 187-194. Richards, Alan: Egypt’s Agricultural Development, 1800–1980. Technical and Social Change. Boulder, 1982. Rivlin, Helen: Agricultural Policy of MuÎammad ÝAlÐ in Egypt. Cambridge, 1961. Robinson, Ronald, Gallagher, John; Denny, Alice: Africa and the Victorians. The Official Mind of Imperialism. London, 1961. Rudolf, Peter: Amerikapolitik. Konzeptionelle Überlegungen zum Umgang mit dem Hegemon. Berlin, 2006 (SWP-Studie, 2006/22). Sayyid, Afaf Lutfi al-: Egypt and Cromer. A Study in Anglo-Egyptian Relations. London, 1968. Sayyid Marsot, Afaf Lutfi al-: Egypt in the Reign of Muhammad Ali. Cambridge, 1984. Schölch, Alexander: Ägypten den Ägyptern! Die politische und gesellschaftliche Krise der Jahre 1878–1882 in Ägypten. Zürich, 1972. 161

Schölch, Alexander: „The ,Men on the Spot‘ and the English Occupation of Egypt in 1882“. In: The Historical Journal, 1976, Vol. 19, Nr. 3, S. 773785. Seaman, L.C.B.: Victorian England: Aspects of English and Imperial History, 1837–1901. London, 1973. Shaw, Stanford: The Financial and Administrative Organization and Development of Ottoman Egypt (1517–1798). Ann Arbor, 1958. Smith, Tony: The Pattern of Imperialism. The United States, Great Britain, and the Late-Industrializing World since 1815. Cambridge, 1981. Snyder, Jack: Myths of Empire. Domestic Politics and International Ambition. Ithaca, 1991. Springborg, Robert: Family, Power, and Politics in Egypt: Sayed Bey Marei – his Clan, Clients, and Cohorts. Philadelphia, 1982. ÑubÎÐ, MuÎammad ËalÐl: TÁrÐÌ al-ÎayÁt an-niyÁbÐya fÐ MiÒr min Ýahd sÁkin al-ÊinÁn MuÎammad ÝAlÐ BÁšÁ. Bd. 4: al-ËÁÒÒ bi-maÊlis an-nuwwÁb al-miÒrÐ sanat 1881 wa-maÊlis šÙrÁ l-qawÁnÐn wa-l-ÊamÝÐya al-ÝumÙmÐya sanat 1883. Kairo, 1947. Sutcliffe, Bob: „Conclusions“. In: Studies in the Theory of Imperialism. Hrsg. Roger Owen und Bob Sutcliffe, London, 1972, S. 312-328. „TÁrÐÌ as-sulÔa at-tašrÐÝÐya fÐ l-ÎukÙma al-miÒrÐya“. In: al-HilÁl, 1913, Vol. 22, Nr. 2, S. 83-91 Tignor, Robert L.: Modernization and British Colonial Rule in Egypt, 1882– 1914. Princeton, 1966. Toledano, Ehud R.: State and Society in mid-nineteenth-Century Egypt. Cambridge, 1990. Tucker, Judith: Women in nineteenth-Century Egypt. Cambridge, 1985. Wehler, Hans-Ulrich: „1. Großbritannien“. In: Imperialismus. Hrsg. ders., 3. überarb. Aufl. Königstein/Ts., 1979, S. 167-169. Williamson, J.A.: A Short History of British Expansion. 6. Aufl. London, 1967, 2. Bde. (1. Aufl. 1922).

162

Studien zum Modernen Orient SMO 11 Charlotte Joppien Die türkische Adalet ve Kalkinma Partisi (AKP) Eine Untersuchung des Programms »Muhafazakar Demokrasi« (Konservative Demokratie) Berlin 2011. Br. 211 S., 978-3-87997-389-7 SMO 12 Sara Winter »Ein alter Feind wird nicht zum Freund« Fremd- und Selbstbild in der aserbaidschanischen Geschichtsschreibung Berlin 2011. Br. 131 S., 978-3-87997-385-9 SMO 13 Fawzi Habashi

Prisoner of All Generations My Life in the Homeland Egypt Berlin 2011. Pb. 292 pp., 978-3-87997-350-7 SMO 14 Melanie Krebs Zwischen Handwerkstradition und globalem Markt Kunsthandwerker in Usbekistan und Kirgistan Berlin 2011. Br. 160 S., 978-3-87997-379-8

*** In Vorbereitung: Islamkundliche Untersuchungen Bd. 306 Christina Weber

Die jüdische Gemeinde im Damaskus des 19. Jahrhunderts Städtische Sozialgeschichte und osmanische Gerichtsbarkeit im Spiegel islamischer und jüdischer Quellen Berlin 2011. Br. ca. 270 S., 978-3-87997-403-0

SMO 16 Salam Said

Globalisierung und Regionalisierung im Arabischen Raum Zur Auswirkung der „Großen Arabischen Freihandelszone“ (GAFTA) auf die Textil-, Bekleidungs- und Olivenölindustrie in Syrien Berlin 2011. Br. ca. 360 S., 978-3-87997-388-0 SMO 17 Nadine Kreitmeyr

Der Nahostkonflikt durch die Augen ¼anãalas Stereotypische Vorstellungen im Schaffen des Karikaturisten Naği al-ʿAli Berlin 2011. Br. ca 150 S., 978-3-87997-402-3 SMO 18 Yuriy Malikov Tsars, Cossacks, and Nomads The Formation of a Borderland Culture in Northern Kazakhstan in the 18th and 19th Centuries Berlin 2011. Pb. 321 pp., 978-3-87997-359-8 SMO 19 Claus Schönig/Ramazan Çalık/Hatice Bayraktar (Hg.) Türkisch-deutsche Beziehungen Perspektiven aus Vergangenheit und Gegenwart Berlin 2011. Br. ca 280 S., 978-3-87997-386-6 SMO 20 Ariela Gross

Reaching „Waʿy“ Mobilization and Recruitment in Hizb al-Tahrir al-Islami. A Case Study Berlin 2011. Pb. 320 pp., 978-3-87997-405-4 Klaus Schwarz Verlag GmbH • Fidicinstr. 29 • D-10965 Berlin Tel. +30-916 82 749 • +30-916 82 751 • Fax +30-322 51 83

www.klaus-schwarz-verlag.com [email protected]