Das Parlament der (qualifizierten) Großen Koalition: Minderheitenrechte – Redezeiten – Oppositionszuschlag – Hauptausschuss [1 ed.] 9783428556298, 9783428156290

Die Arbeit untersucht Große Koalitionen, insbesondere das Phänomen der qualifizierten Großen Koalition und damit zusamme

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Das Parlament der (qualifizierten) Großen Koalition: Minderheitenrechte – Redezeiten – Oppositionszuschlag – Hauptausschuss [1 ed.]
 9783428556298, 9783428156290

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Beiträge zum Parlamentsrecht Band 77

Das Parlament der (qualifizierten) Großen Koalition Minderheitenrechte – Redezeiten – Oppositionszuschlag – Hauptausschuss

Von

Simon Gelze

Duncker & Humblot · Berlin

SIMON GELZE

Das Parlament der (qualifizierten) Großen Koalition

Beiträge zum Parlamentsrecht Herausgegeben von Professor Dr. Horst Risse, Berlin Professor Dr. Utz Schliesky, Kiel Professor Dr. Christian Waldhoff, Berlin

Band 77

Das Parlament der (qualifizierten) Großen Koalition Minderheitenrechte – Redezeiten – Oppositionszuschlag – Hauptausschuss

Von

Simon Gelze

Duncker & Humblot · Berlin

Gedruckt mit finanzieller Unterstützung der Hans-Böckler-Stiftung

Die Juristische Fakultät der Humboldt-Universität zu Berlin hat diese Arbeit im Jahre 2018 als Dissertation angenommen.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte vorbehalten

© 2019 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Satz: 3w+p GmbH, Ochsenfurt-Hohestadt Druck: buchbücher.de gmbh, Birkach Printed in Germany ISSN 0720-6674 ISBN 978-3-428-15629-0 (Print) ISBN 978-3-428-55629-8 (E-Book) ISBN 978-3-428-85629-9 (Print & E-Book)

Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706

Internet: http://www.duncker-humblot.de

Meinen Eltern

Vorwort Die Arbeit untersucht Große Koalitionen, insbesondere das Phänomen der qualifizierten Großen Koalition. Angesichts einer außergewöhnlich mandatsstarken Großen Koalition und einer entsprechend mandatsschwachen Opposition steht das Parlament vor besonderen Herausforderungen. Es muss gerade im Spannungsfeld zwischen Mandatsgleichheit und Oppositionsgrundsatz „richtige“ Entscheidungen in eigener Sache treffen. Vorliegend werden Entscheidungen des Deutschen Bundestages in der 18. Wahlperiode unter die verfassungsrechtliche Lupe genommen. Die Arbeit bezieht Rechtsprechung und Literatur bis Sommer 2018 ein; die Landtagswahlen in Bayern und Hessen im Herbst 2018 wurden berücksichtigt – die dortigen Koalitionsbildungen schafften es nicht mehr in die Arbeit. Die Juristische Fakultät der Humboldt-Universität zu Berlin nahm die vorliegende Arbeit im Sommersemester 2018 als Dissertation an. Mein erster Dank gilt meinem Doktorvater Prof. Christian Waldhoff, dessen Ratschläge und Anregungen zu jeder Zeit eine große Hilfe waren. Für die zügige Erstellung des Zweitgutachtens bedanke ich mich bei Prof. Horst Risse. Ich bedanke mich bei der Hans-Böckler-Stiftung, mit deren finanzieller Hilfe ich Studium und Promotion sorglos meistern konnte. Ferner bin ich ihr, der KonradRedeker-Stiftung und der Fazit-Stiftung für einen großzügigen Druckkostenzuschuss dankbar. Bei Prof. Hans Hofmann und Dr. Philipp Austermann möchte ich mich für die wertvollen Hintergrundgespräche, bei Dr. Jan Drossel für die ausgiebige Korrekturarbeit bedanken. Im Übrigen bin ich meinen lieben Freunden Elena Kullak, Laura Wolfstädter und Julius Rudolph für ihre Unterstützung dankbar. Mein ganz besonderer Dank gilt meinem langjährigen Freund und Weggefährten Felix Rhein, auf dessen Interesse und Scharfsinn jederzeit Verlass war. Ebenso dankbar bin ich meinem Bruder Christian Gelze, dessen Interesse weit weniger groß war – umso mehr verdient seine stetige Hilfestellung in den vergangenen zwei Jahren meine ehrliche Bewunderung. Für die einzigartige Unterstützung möchte ich mich ferner bei meiner Verlobten bedanken, meinem Lieblingsmenschen und der Mutter meiner in diesem Sommer geborenen – wunderbaren – Tochter. Schließlich möchte ich mich bei meinen Eltern bedanken: für den bedingungslosen Rückhalt in jeder Lebenslage. Ihnen ist diese Arbeit gewidmet. Berlin, im Sommer 2018

Simon Gelze

Inhaltsübersicht 1. Kapitel Einleitung

23

A. Parlamentarische Streitkultur im Spiegel der Zeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23 B. Fragestellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29 I. Begriffsbestimmungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 30 II. Große Koalitionen als politische Sonderkonstellation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 43 III. Herausforderungen im Parlament der qualifizierten Großen Koalition . . . . . . . . 68 C. Forschungsstand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 70 D. Gang der Untersuchung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 76

2. Kapitel Die Minderheitenrechte im Deutschen Bundestag

78

A. Oppositions- und Minderheitenrechte in Diskussion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 79 I. Parlamentarische Debatte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 79 II. Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 81 B. Minderheitenrechte in Zeiten qualifizierter Großer Koalitionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 82 I. Mehrheitsprinzip . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 82 II. Parlamentarischer Minderheitenschutz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 91 III. Verfassungsrechtliches Abhängigkeitsverhältnis von Mehrheitsprinzip und Minderheitenschutz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 135 IV. Verschiebung der verfassungspolitischen Ordnung durch qualifizierte Große Koalitionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 136

10

Inhaltsübersicht

C. Herleitung spezifischer Oppositionsrechte aus dem Grundgesetz . . . . . . . . . . . . . . . . . 137 I. Herleitung eines verfassungsrechtlichen Grundsatzes effektiver Opposition durch das Bundesverfassungsgericht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 138 II. Grundgesetzliche Quorenrechte als klassische Oppositionsrechte . . . . . . . . . . . . 141 III. Oppositionsrechte als Resultat teleologischer Auslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . 163 D. Verfassungsänderungspflicht angesichts qualifizierter Großer Koalitionen . . . . . . . . . 171 I. Prüfungsmaßstab verfassungswidriges Verfassungsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 171 II. Keine Grundgesetzänderungspflicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 173 E. Abstimmungspflichten zugunsten der parlamentarischen Opposition in Zeiten qualifizierter Großer Koalitionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 175 F. Verfassungsmäßigkeit von § 126a GO-BT a.F. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 176 I. Geschäftsordnungsautonomie als Rechtsgrundlage für die Regelung von § 126a GO-BT a.F. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 177 II. Prüfungsmaßstab . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 201 III. Verfassungsrechtliche Diskussion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 202 IV. § 126a Abs. 2 GO-BT a.F. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 212 V. Zulässige Selbstbindung statt verfassungswidriges Geschäftsordnungsrecht? . . 213 G. Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 215 3. Kapitel Die Redezeiten im Deutschen Bundestag

216

A. Parlamentarische Debatte: Rederecht – Redeordnung – Redezeit . . . . . . . . . . . . . . . . 218 I. Rederecht und seine Verankerung in Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG . . . . . . . . . . . . . 218 II. Geschäftsordnungsrechtliche Redeordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 218 III. Parlamentarischer Verteilungskampf um Redezeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 220 B. Verfassungsrechtliche Einordnung von Rederecht und Redezeit . . . . . . . . . . . . . . . . . 236 I. Rederecht im verfassungsrechtlichen Spannungsfeld . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 236

Inhaltsübersicht

11

II. Interfraktionelle Vereinbarungen als Auflösung des verfassungsrechtlichen Spannungsfeldes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 247 III. Anforderungen an die Redeordnung im Parlament der qualifizierten Großen Koalition . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 255 C. Verfassungsrechtliche Pflicht zur Verlängerung der Redezeit für die Opposition angesichts qualifizierter Großer Koalitionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 255 I. Anforderungen des parlamentarischen Minderheitenschutzes an die Redezeitaufteilung in Zeiten qualifizierter Großer Koalitionen . . . . . . . . . . . . . . 256 II. Rede und Gegenrede in Zeiten qualifizierter Großer Koalitionen . . . . . . . . . . . . 257 D. Verfassungsmäßigkeit einer Verlängerung der Redezeit für die Oppositionsfraktionen in der 18. Wahlperiode . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 262 I. Parlamentarisches Selbstorganisationsrecht als Rechtsgrundlage für die Verlängerung der Redezeit der Oppositionsfraktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 263 II. Redezeitmodell in der 18. Wahlperiode . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 264 III. Verfassungsrechtliche Diskussion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 266 E. Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 269

4. Kapitel Der Oppositionszuschlag im Deutschen Bundestag

270

A. Eingliederung des Oppositionszuschlages in die Fraktionsfinanzierung . . . . . . . . . . . 270 I. Fraktionsfinanzierung als verfassungsrechtliche Notwendigkeit . . . . . . . . . . . . . 271 II. Grundbetrag, Steigerungsbetrag und Oppositionszuschlag . . . . . . . . . . . . . . . . . 271 III. Oppositionszuschlag als parlamentarische Institution . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 275 B. Verfassungsmäßigkeit des Oppositionszuschlages . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 277 I. Besserstellung der Oppositionsfraktionen gegenüber den Regierungsfraktionen. 278 II. Besserstellung der Oppositionsfraktionen gegenüber oppositionellen Abgeordneten und Gruppen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 285 III. Keine verfassungsrechtliche Gebotenheit des Oppositionszuschlages . . . . . . . . . 287

12

Inhaltsübersicht

C. Verfassungsmäßigkeit der Anhebung des Oppositionszuschlages in der 18. Wahlperiode . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 291 I. Parlamentarisches Selbstorganisationsrecht als Rechtsgrundlage für die Anhebung des Oppositionszuschlages nach § 50 Abs. 2 Satz 1 AbgG . . . . . . . . 291 II. Verfassungsrechtliche Diskussion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 292 D. Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 294

5. Kapitel Der Hauptausschuss des Deutschen Bundestages

295

A. Charakteristika des Hauptausschusses der 18. Wahlperiode . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 296 I. Funktion und Kompetenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 296 II. Begriffsverwendung und Rechtsnatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 297 III. Vorgänger und Landesmodelle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 299 IV. Einsetzung und Sitzungszeitraum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 301 V. Zusammensetzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 302 VI. Konkrete Tätigkeiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 303 B. Einsetzung des Hauptausschusses der 18. Wahlperiode als Folge einer großkoalitionären Regierungsfindung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 306 C. Verfassungsmäßigkeit des Hauptausschusses der 18. Wahlperiode . . . . . . . . . . . . . . . . 309 I. Parlamentarisches Selbstorganisationsrecht als Rechtsgrundlage für die Einsetzung eines Hauptausschusses . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 310 II. Prüfungsmaßstab . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 310 III. Verfassungsrechtliche Diskussion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 311 D. Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 346

6. Kapitel Fazit

348

A. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 348

Inhaltsübersicht

13

B. Politische Handlungsalternativen im Parlament der qualifizierten Großen Koalition . 356 I. Minderheitenrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 357 II. Redezeiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 360 III. Oppositionszuschlag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 362 IV. Hauptausschuss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 366 C. Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 369 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 374 Personenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 403 Stichwortverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 406

Inhaltsverzeichnis 1. Kapitel Einleitung

23

A. Parlamentarische Streitkultur im Spiegel der Zeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23 B. Fragestellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29 I. Begriffsbestimmungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 30 1. Mehrheit und Minderheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 30 2. Koalition und Opposition . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 32 3. Koalitionstypen im bipolaren Mehrparteiensystem der Bundesrepublik Deutschland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35 a) Kleine Koalition . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 37 b) Große Koalition . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 38 c) Qualifizierte Große Koalition . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 40 II. Große Koalitionen als politische Sonderkonstellation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 43 1. „Große Koalitionen“ vor 1945 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 43 2. Große Koalitionen in Bund und Ländern seit 1945 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 44 3. Überlegungen im Parlamentarischen Rat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 51 4. Ursachen für die Bildung Großer Koalitionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 52 5. Politische Nebeneffekte Großer Koalitionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 56 a) Wählerschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 56 b) Regierungsstabilität und politisches Steuerungspotential . . . . . . . . . . . . . . 59 c) Chance zum Machtwechsel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 63 d) Rolle des einzelnen Abgeordneten in der Koalition . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 64 e) Rolle des Bundeskanzlers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 65 f) Informalisierung von Entscheidungsprozessen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 66 III. Herausforderungen im Parlament der qualifizierten Großen Koalition . . . . . . . . . 68 C. Forschungsstand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 70 D. Gang der Untersuchung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 76

16

Inhaltsverzeichnis 2. Kapitel Die Minderheitenrechte im Deutschen Bundestag

78

A. Oppositions- und Minderheitenrechte in Diskussion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 79 I. Parlamentarische Debatte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 79 II. Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 81 B. Minderheitenrechte in Zeiten qualifizierter Großer Koalitionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 82 I. Mehrheitsprinzip . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 82 1. Verortung in Art. 42 Abs. 2 Satz 1 GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 82 2. Vom Konsens zur Mehrheitsentscheidung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 83 3. Funktionen und Inhalt des Mehrheitsprinzips . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 87 4. Mehrheitsanforderungen für Abstimmungen im Deutschen Bundestag . . . . . . 88 5. Grenzen der Mehrheitsentscheidung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 90 II. Parlamentarischer Minderheitenschutz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 91 1. Minderheitenschutz und Minderheitenrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 91 2. Minderheitenschutz als Ausprägung des Demokratieprinzips . . . . . . . . . . . . . 92 3. England als Ideenmotor parlamentarischen Verfahrens . . . . . . . . . . . . . . . . . . 93 4. Funktionen des Minderheitenschutzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 97 5. Träger von Minderheitenrechten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 100 a) Statusgebundene Minderheitenrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 100 b) Nicht-statusgebundene Minderheitenrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103 6. Inhalt des Minderheitenschutzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103 a) Ausdrücklich geregelte Minderheitenrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103 aa) Normierung von Minderheitenrechten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 104 (1) Minderheitenrechte im Grundgesetz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 104 (2) Minderheitenrechte in einfachen Gesetzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 106 (3) Minderheitenrechte in der Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 108 (4) Exkurs: Ungeschriebene Minderheiten- und Oppositionsrechte . . . 111 bb) Änderung und Abweichung von Minderheitenrechten . . . . . . . . . . . . . 112 b) Mandatsgleichheit als Teil des Minderheitenschutzes . . . . . . . . . . . . . . . . . 114 aa) Herleitung des formalen Gleichbehandlungsgrundsatzes . . . . . . . . . . . 115 bb) Funktionen der Mandatsgleichheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 120 cc) Inhalt der Mandatsgleichheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 121 dd) Ausnahmen von der Mandatsgleichheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 122 c) Verfassungsrechtlicher Kernbestand parlamentarischen Minderheitenschutzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 125 7. Einklagbarkeit von Minderheitenschutz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 131 8. Grenzen parlamentarischen Minderheitenschutzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 135

Inhaltsverzeichnis

17

III. Verfassungsrechtliches Abhängigkeitsverhältnis von Mehrheitsprinzip und Minderheitenschutz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 135 IV. Verschiebung der verfassungspolitischen Ordnung durch qualifizierte Große Koalitionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 136 C. Herleitung spezifischer Oppositionsrechte aus dem Grundgesetz . . . . . . . . . . . . . . . . . 137 I. Herleitung eines verfassungsrechtlichen Grundsatzes effektiver Opposition durch das Bundesverfassungsgericht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 138 II. Grundgesetzliche Quorenrechte als klassische Oppositionsrechte . . . . . . . . . . . . . 141 1. Subsidiaritätsklage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 142 2. Sitzungseinberufung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 145 3. Untersuchungsausschuss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 148 4. Verteidigungsausschuss als Untersuchungsausschuss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 151 5. Abstrakte Normenkontrolle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 152 III. Oppositionsrechte als Resultat teleologischer Auslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 163 1. Verfassungswortlaut als Grenze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 164 2. Ungleichbehandlung von Abgeordneten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 166 3. Rechtsbetroffenheit Dritter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 170 D. Verfassungsänderungspflicht angesichts qualifizierter Großer Koalitionen . . . . . . . . . 171 I. Prüfungsmaßstab verfassungswidriges Verfassungsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 171 II. Keine Grundgesetzänderungspflicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 173 E. Abstimmungspflichten zugunsten der parlamentarischen Opposition in Zeiten qualifizierter Großer Koalitionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 175 F. Verfassungsmäßigkeit von § 126a GO-BT a.F. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 176 I. Geschäftsordnungsautonomie als Rechtsgrundlage für die Regelung von § 126a GO-BT a.F. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 177 1. Geschäftsordnungsautonomie – Selbstorganisationsrecht – Parlamentsautonomie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 177 2. Selbstorganisationsrecht als parlamentarische Errungenschaft . . . . . . . . . . . . 180 3. Funktionen des Selbstorganisationsrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 186 4. Inhalt des Selbstorganisationsrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 190 5. Regelungsformen im Rahmen der Selbstorganisation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 191 6. Grenzen der Selbstorganisation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 194 a) Ausdrückliche Vorgaben im Grundgesetz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 195 b) Allgemeine Verfassungsprinzipien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 196 c) Keine einfachen Gesetze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 196 II. Prüfungsmaßstab . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 201 III. Verfassungsrechtliche Diskussion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 202 1. Enqueterecht und Sitzverteilung im Untersuchungsausschuss . . . . . . . . . . . . . 202 2. Untersuchungsrecht im Verteidigungsausschuss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 208

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Inhaltsverzeichnis 3. Sitzungseinberufung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 208 4. Subsidiaritätsklage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 209 5. Aufnahme abweichender Auffassungen zur Subsidiaritätsklage in Klageschrift . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 209 6. Stellungnahme des Bundestages zu Vorhaben der Europäischen Union . . . . . 210 7. Informations- und Auskunftsverlangen des Haushaltsausschusses im Rahmen des ESM-Finanzierungsgesetzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 210 8. Anhörungsrecht im Haushaltsausschuss im Rahmen des ESM-Finanzierungsund des Stabilisierungsmechanismusgesetzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 211 9. Anhörungsrecht im federführenden Ausschuss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 211 10. Plenarberatung statt erweiterter öffentlicher Ausschussberatung im federführenden Ausschuss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 211 11. Einsetzung von Enquete-Kommissionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 212 IV. § 126a Abs. 2 GO-BT a.F. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 212 V. Zulässige Selbstbindung statt verfassungswidriges Geschäftsordnungsrecht? . . . . 213

G. Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 215

3. Kapitel Die Redezeiten im Deutschen Bundestag

216

A. Parlamentarische Debatte: Rederecht – Redeordnung – Redezeit . . . . . . . . . . . . . . . . 218 I. Rederecht und seine Verankerung in Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG . . . . . . . . . . . . . . . 218 II. Geschäftsordnungsrechtliche Redeordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 218 III. Parlamentarischer Verteilungskampf um Redezeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 220 1. Parlamentarische Tradition vor Gründung der Bundesrepublik . . . . . . . . . . . . 220 2. Parlamentarische Redezeitenverteilung seit 1949 im Deutschen Bundestag 229 3. Proporz und Parität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 235 B. Verfassungsrechtliche Einordnung von Rederecht und Redezeit . . . . . . . . . . . . . . . . . 236 I. Rederecht im verfassungsrechtlichen Spannungsfeld . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 236 1. Funktionsfähigkeit des parlamentarischen Ablaufs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 236 2. Privilegierte Redner des Art. 43 Abs. 2 Satz 2 GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 238 3. Gleiches Rederecht für alle Abgeordneten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 240 4. Minderheitenschutz in der Debatte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 244 5. Rede und Gegenrede . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 245 II. Interfraktionelle Vereinbarungen als Auflösung des verfassungsrechtlichen Spannungsfeldes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 247 1. Plenardebatte: „Berliner Stunde“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 247 2. Aktuelle Stunde: Fünf-Minuten-Beiträge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 252 3. Ausschusssitzung: open end-Verfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 254

Inhaltsverzeichnis

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III. Anforderungen an die Redeordnung im Parlament der qualifizierten Großen Koalition . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 255 C. Verfassungsrechtliche Pflicht zur Verlängerung der Redezeit für die Opposition angesichts qualifizierter Großer Koalitionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 255 I. Anforderungen des parlamentarischen Minderheitenschutzes an die Redezeitaufteilung in Zeiten qualifizierter Großer Koalitionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 256 II. Rede und Gegenrede in Zeiten qualifizierter Großer Koalitionen . . . . . . . . . . . . . 257 1. Parlamentarische Öffentlichkeitsverpflichtung und Kontrollauftrag . . . . . . . . 258 2. Parität als parlamentarisches Pflichtprogramm? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 260 D. Verfassungsmäßigkeit einer Verlängerung der Redezeit für die Oppositionsfraktionen in der 18. Wahlperiode . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 262 I. Parlamentarisches Selbstorganisationsrecht als Rechtsgrundlage für die Verlängerung der Redezeit der Oppositionsfraktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 263 II. Redezeitmodell in der 18. Wahlperiode . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 264 III. Verfassungsrechtliche Diskussion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 266 E. Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 269

4. Kapitel Der Oppositionszuschlag im Deutschen Bundestag

270

A. Eingliederung des Oppositionszuschlages in die Fraktionsfinanzierung . . . . . . . . . . . 270 I. Fraktionsfinanzierung als verfassungsrechtliche Notwendigkeit . . . . . . . . . . . . . . 271 II. Grundbetrag, Steigerungsbetrag und Oppositionszuschlag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 271 III. Oppositionszuschlag als parlamentarische Institution . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 275 B. Verfassungsmäßigkeit des Oppositionszuschlages . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 277 I. Besserstellung der Oppositionsfraktionen gegenüber den Regierungsfraktionen 278 1. Strukturelle Nachteile der Oppositionsfraktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 279 2. Besondere Anforderungen an die parlamentarische Aufgabenbewältigung durch die Opposition . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 282 II. Besserstellung der Oppositionsfraktionen gegenüber oppositionellen Abgeordneten und Gruppen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 285 III. Keine verfassungsrechtliche Gebotenheit des Oppositionszuschlages . . . . . . . . . . 287 C. Verfassungsmäßigkeit der Anhebung des Oppositionszuschlages in der 18. Wahlperiode . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 291 I. Parlamentarisches Selbstorganisationsrecht als Rechtsgrundlage für die Anhebung des Oppositionszuschlages nach § 50 Abs. 2 Satz 1 AbgG . . . . . . . . . . . . . . . . . . 291 II. Verfassungsrechtliche Diskussion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 292

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Inhaltsverzeichnis

D. Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 294

5. Kapitel Der Hauptausschuss des Deutschen Bundestages

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A. Charakteristika des Hauptausschusses der 18. Wahlperiode . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 296 I. Funktion und Kompetenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 296 II. Begriffsverwendung und Rechtsnatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 297 III. Vorgänger und Landesmodelle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 299 IV. Einsetzung und Sitzungszeitraum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 301 V. Zusammensetzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 302 VI. Konkrete Tätigkeiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 303 B. Einsetzung des Hauptausschusses der 18. Wahlperiode als Folge einer großkoalitionären Regierungsfindung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 306 C. Verfassungsmäßigkeit des Hauptausschusses der 18. Wahlperiode . . . . . . . . . . . . . . . . 309 I. Parlamentarisches Selbstorganisationsrecht als Rechtsgrundlage für die Einsetzung eines Hauptausschusses . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 310 II. Prüfungsmaßstab . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 310 III. Verfassungsrechtliche Diskussion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 311 1. Verzögerte Einsetzung von Fachausschüssen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 311 2. Hauptausschuss als Ausschuss i.S.d. Art. 45, 45a und 45c GG . . . . . . . . . . . . 315 a) Institutionelle Bestandsgarantie der Pflichtausschüsse . . . . . . . . . . . . . . . . 316 b) Kompetenzielle Bestandsgarantie der Pflichtausschüsse . . . . . . . . . . . . . . . 319 c) Sonderbefugnisse der Pflichtausschüsse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 322 aa) Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union . . . . . . . . 322 bb) Ausschuss für auswärtige Angelegenheiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 325 cc) Ausschuss für Verteidigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 325 dd) Petitionsausschuss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 328 3. Marginalisierung der parlamentarischen Opposition im Hauptausschuss der qualifizierten Großen Koalition . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 330 a) Grundsatz der Spiegelbildlichkeit von Plenum und Ausschüssen als Ausdruck parlamentarischen Minderheitenschutzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 331 b) Anforderungen des Grundsatzes effektiver Opposition an einen Hauptausschuss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 333 4. Mitglieder eines Hauptausschusses „gleicher unter Gleichen“? . . . . . . . . . . . . 335 a) Ungleichbehandlung von Abgeordneten durch die Einsetzung eines Hauptausschusses . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 335

Inhaltsverzeichnis

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b) Rechtfertigung der Ungleichbehandlung: Handlungsfähigkeit des „Arbeitsparlaments Bundestag“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 336 aa) Übergangslösung Hauptausschuss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 341 bb) Bedeutung von Ressortzuschnitt und Personalfragen bei der Ausschusseinsetzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 342 cc) Kein entgegenstehender Wille des Verfassungsgebers . . . . . . . . . . . . . 344 D. Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 346

6. Kapitel Fazit

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A. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 348 B. Politische Handlungsalternativen im Parlament der qualifizierten Großen Koalition

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I. Minderheitenrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 357 II. Redezeiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 360 III. Oppositionszuschlag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 362 IV. Hauptausschuss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 366 C. Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 369 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 374 Personenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 403 Stichwortverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 406

Tabellenverzeichnis Tabelle 1: Große Koalitionen und ihre parteipolitische Zusammensetzung in Bund und Ländern .............................................................................................................. 40 Tabelle 2: Von der Alleinregierung bis zum Allparteienbündnis in Bund und Ländern .. 50 Tabelle 3: Untersuchungsausschüsse .................................................................................. 151 Tabelle 4: Abstrakte Normenkontrollen und ihre Antragsteller......................................... 158 Tabelle 5: „Sanfte“ Kontrollmöglichkeiten der Oppositionsfraktionen............................. 169 Tabelle 6: „Bonner-“ bzw. „Berliner Stunde“ von der 10. bis zur 17. Wahlperiode ......... 250 Tabelle 7: Redezeitenverteilung in den Aktuellen Stunden von der 12. bis zur 17. Wahlperiode................................................................................................................ 253 Tabelle 8: Redezeitenverteilung in den Plenardebatten der 18. Wahlperiode ................... 264 Tabelle 9: Redezeitenverteilung in den Aktuellen Stunden der 18. Wahlperiode ............. 265 Tabelle 10: Entwicklung des jährlichen Oppositionszuschlages im Bundestag seit seiner Einführung 1977 ................................................................................................ 276 Tabelle 11: Große Koalitionen – lange Wartezeiten? .......................................................... 307

1. Kapitel

Einleitung A. Parlamentarische Streitkultur im Spiegel der Zeit Fortschritt braucht Widerspruch. Die parlamentarische Demokratie zeichnet sich nicht nur durch eine Mehrheitsentscheidung aus, die am Ende von Gesetzgebungsverfahren steht. Auf dem Weg dorthin müssen andere Meinungen gehört werden. Es geht um einen offen pluralistischen Diskurs, um einen Willensbildungsprozess und das gemeinsame Ringen um die besten Lösungen für gesellschaftliche Probleme. Gerade im politischen Streit liegt eine Antriebsfeder für die jeweils notwendigen Veränderungen. Erst dadurch wird demokratische Legitimation erzeugt.1 Im parlamentarischen Regierungssystem befinden sich die Regierung und ihre Regierungsmehrheit mit der Opposition im Konflikt. Regelmäßig verlaufen die Streitlinien also „quer durch das Parlament“2. Im Mutterland des Parlamentarismus, im britischen House of Commons, demonstriert auch die Sitzordnung diese Frontstellung. Regierungsmitglieder und Abgeordnete der Regierungsmehrheit sitzen den Abgeordneten der parlamentarischen Opposition im Westminister Palace tribünenartig gegenüber.3 Vor den grünen Bänken der Widersacher befinden sich rote Linien – die sogenannten sword lines –,4 deren Übertritt vom Speaker geahndet werden kann.5 1

Krings, in: Kluth/Krings, Gesetzgebung, § 2 Rn. 83. BVerfGE 102, 224 (236). 3 Vgl. hierzu insgesamt Sydow/Jooß, ZParl. 48 (2017), 535 (537); zur Sitzordnung Blackburn/Kennon/Wheeler-Booth, Griffith & Ryle on Parliament: Functions, Practise and Procedures, Rn. 5-003. 4 Rote Linien gibt es im Bundestag nicht. Es gehört aber zur parlamentarischen Gepflogenheit, dass sich Regierungsvertreter ohne Bundestagsmandat trotz ihres grundgesetzlichen Zutrittsrechts in Zurückhaltung üben. Sie sind entsprechend selten außerhalb der Regierungsbank im Inneren des Parlamentsplenums zu sehen. Zwischenrufe von der Regierungsbank sind insgesamt verpönt, allgemein Schürmann, in: Morlok/Schliesky/Wiefelspütz, Parlamentsrecht, § 20 Rn. 25 m.w.N.; aus germanistischer Sicht anschaulich Burkhardt, Zwischen Monolog und Dialog, S. 29 ff. 5 Glaubt man der Darstellung von Christopher Jones, geht der Name der sword lines auf eine Zeit zurück, in der die Abgeordneten Schwerter mit in das House of Commons brachten; zwischen die roten Linien fänden zum Schutz des Parlamentsfriedens zwei Schwertlängen Platz, Jones, The Great Palace, S. 172 ff. Das britische Unterhaus selbst bezweifelt diese Erzählung auf Anfrage. Es gebe keine Belege für eine Zeit, in der die Parlamentarier Schwerter mit in die Versammlungen des Unterhauses im Westminister Palace brachten. Schon die Existenz der roten Linien vor dem Brand von 1834 sei fraglich. Vielmehr habe es damals schon prak2

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1. Kap.: Einleitung

Das Mehrheitswahlrecht in Großbritannien fördert ein funktionales Zweiparteiensystem6. Es hat in der Regel eine absolute Mehrheit im Unterhaus für eine der beiden großen Parteien im Land zur Folge, Tories oder Labour. Für die andere Partei7 geht es auf die Oppositionsbank. Ein Hung Parliament ohne absolute Mehrheit für eine Fraktion, wie es seit der Unterhauswahl 2017 besteht, ist eine Ausnahmeescheinung.8 Große Koalitionen zwischen den beiden mandatsstärksten Fraktionen sind in Friedenszeiten9 undenkbar. Selbst Minderheitsregierungen werden solchen Bündnissen vorgezogen.10 Dies ist anders in der Bundesrepublik. Das deutsche Verhältniswahlrecht, mag es auch eine personalisierte Verhältniswahl sein, fördert ein Mehrparteiensystem in Bund und Ländern. Ausnahmen gibt es auch hierzulande, z.B. die vom 7. Dezember 1958: An diesem Tag fand die Wahl zum dritten Abgeordnetenhaus von (West-)Berlin statt. Dabei wurde nicht nur die höchste Wahlbeteiligung in der Geschichte der Bundesrepublik registriert, auch das Ergebnis der Wahl war bemerkenswert: 92,9 % der Wahlberechtigten wählten nur zwei Parteien in das Berliner Abgeordnetenhaus; die SPD errang 52,6 % der Stimmen, die CDU 37,7 %. Die FDP, vorher noch im Parlament vertreten, scheiterte ebenso an der Fünf-Prozent-Hürde wie alle anderen Parteien. 78 Abgeordnete der SPD und 55 Abgeordnete der CDU zogen daraufhin in den provisorischen Sitz des Berliner Abgeordnetenhauses im Rathaus Schöneberg ein. In der Bundesrepublik sind Zweiparteienparlamente insgesamt eine Rarität, die es lediglich öfter in den 1970er und 1980er Jahren gab.11 Die zusätzliche Besonderheit der Berliner Legislaturperiode von 1958 bis 1962 liegt aber darin, dass Willy Brandt (SPD), der damalige Regierende Bürgermeister von Berlin, der CDU eine Koalition anbot, obwohl seine tische Gründe für Markierungen gegeben, z.B. die freie Sicht des Speakers oder die disziplinierende Wirkung auf die Platzordnung. 6 Vgl. zum Begriff Helms, Politische Opposition, S. 81 f. 7 Die sogenannte Her Majesty’s Opposition hat anders als in der Bundesrepublik eine institutionalisierte Stellung. Vgl. dazu anschaulich Sydow/Jooß, ZParl. 48 (2017), 535 (535, 543 f.), die das britische „antagonistische“ Oppositionsmodell und das „konsensualere“ Modell der Bundesrepublik miteinander vergleichen. 8 Die Wahlen zum britischen Unterhaus von 1974 und 2010 führten ebenfalls zu einem Hung Parliament. 1974 gab es Neuwahlen, 2010 eine Koalitionsregierung zwischen Conservatives und Liberal; zu neueren Entwicklungen Ingold, Das Recht der Oppositionen, S. 32 ff.; politikwissenschaftlich Saalfeld, ZfP 59 (2012), 197 – 216. 9 Nationale Einheitsregierungen zwischen Conservatives und Labour gab es unter den Premierministern Neville Chemberlain und Winston Churchill während des Zweiten Weltkrieges von 1939 bis 1945. 10 Nach der Wahl zum britischen Unterhaus von 2017 einigten sich die Conservatives und ihre derzeitige Premierministerin Theresa May am 26. Juni 2017 mit der Democratic Unionist Party über eine Minderheitsregierung. 11 Vgl. die Wahlen in Bayern 1982, Hamburg 1953 (mit der Besonderheit des „Hamburger Blocks“) und 1978, Niedersachsen 1970 und 1978, Nordrhein-Westfalen 1980, Rheinland-Pfalz 1983, im Saarland 1970 und 1999 sowie in Schleswig-Holstein 1971, 1983 und 1988 (mit der Besonderheit eines SSW-Abgeordneten im Landtag).

A. Parlamentarische Streitkultur im Spiegel der Zeit

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Fraktion eine absolute Mehrheit besaß. Schon vier Jahre zuvor entschieden sich SPD und CDU zur Zusammenarbeit in der krisengebeutelten Stadt. Auch damals gewann die SPD die absolute Mehrheit, mit der FDP gab es bis dahin aber zumindest noch eine Oppositionsfraktion im Berliner Abgeordnetenhaus. Nun wurde aus der Großen Koalition ein Allparteienbündnis. Zurück zum Regelfall: Heute sind in allen 17 deutschen Parlamenten mindestens vier Fraktionen12 vertreten, in den allermeisten fünf13, teilweise gar sechs14 – allen voran im Deutschen Bundestag. Je mehr Fraktionen im Parlament vertreten sind, desto wahrscheinlicher ist die Notwendigkeit einer Koalition.15 Sie sind ein Charakteristikum deutscher Politik, insbesondere auf Bundesebene.16 Nach Bundestagswahlen bildeten sich bisher immer Koalitionsregierungen, sogar nach der Bundestagswahl 1957, als die Unionsparteien die absolute Mehrheit im Parlament errangen und dennoch mit der nationalkonservativen DP-Fraktion koalierten. 60 Jahre später, nach der jüngsten Bundestagswahl am 24. September 2017, bildete sich eine Große Koalition zwischen CDU/CSU und SPD. Sie wählte Angela Merkel (CDU) in dieser Konstellation bereits zum dritten Mal zur Bundeskanzlerin. Die „Große“ Koalition der aktuellen 19. Wahlperiode muss sich mit 56,3 % der Parlamentsmandate begnügen.17 Es ist das insgesamt vierte Bündnis zwischen den beiden mandatsstärksten Fraktionen auf Bundesebene:18 Zur ersten Großen Koalition kam es 1966. Nach dem Scheitern der konservativ-liberalen Koalition sowie dem Rücktritt von Bundeskanzler Ludwig Erhard (CDU, formell parteilos), führte Bundeskanzler Kurt Georg Kiesinger (CDU) bis 1969 ein großkoalitionäres Bündnis zwischen CDU/CSU und nunmehr SPD an, das 90,3 % der Parlamentssitze auf sich vereinte. Fast 40 Jahre vergingen, bis der ersten Großen Koalition im Bund eine 12 Vier Fraktionen zählt seit der bayerischen Landtagswahl 2018 noch der saarländische Landtag. 13 Baden-Württemberg, Brandenburg, Bremen, Mecklenburg-Vorpommern (aufgrund der Besonderheit der BMV-Fraktion), Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen, Rheinland-Pfalz, Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen. 14 Bayern (aufgrund der Besonderheit der Fraktion der Freien Wähler), Berlin, Hamburg, Hessen und Schleswig-Holstein (aufgrund der Besonderheit der SSW-Fraktion). 15 Ob mit der Anzahl der Fraktionen im Parlament die Wahrscheinlichkeit für großkoalitionäre Regierungsbildungen steigt, hängt auch davon ab, welche der politischen Kräfte am stärksten aus einer Wahl hervorgehen. Eine zunehmende Fragmentierung der Parlamente führt aber zu einer erhöhten „Wahrscheinlichkeit, dass unabhängig von der Größe der Regierungskoalition qualifizierte Minderheitsquoren zur Ausübung oppositionsrelevanter Rechte nicht mehr ohne Weiteres erreicht werden und zwar von keiner (oppositionellen) Fraktion.“, Cancik, ZParl. 48 (2017), 516 (520 f.); siehe dazu 6. Kapitel C. 16 Nur in Bayern sind Alleinregierungen häufiger als Koalitionen. Siehe dazu Tabelle 2 in 1. Kapitel B. II. 2. 17 Sowohl die Kleinen Koalitionen der ersten Wahlperioden als auch die Kleine Koalition der 12. Wahlperiode vereinten mehr Parlamentssitze auf sich. 18 In Österreich sind Große Koalitionen häufiger, dazu aus der Politikwissenschaft Strohmeier, ZPol. 19 (2009), 5 (12 ff.); zur parlamentarischen Opposition in Österreich insgesamt Konrath, ZParl. 48 (2017), 557 – 574.

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1. Kap.: Einleitung

Neuauflage folgte: Unionsfraktion und SPD wählten Merkel das erste Mal 2005 zur Bundeskanzlerin. Damals kam die Große Koalition auf 73,0 % der Mandate. Zwischen dem Ende der zweiten und dem Beginn der dritten Großen Koalition vergingen nur vier Jahre. Auch von 2013 bis 2017 trug ein schwarz-rotes Bündnis eine von Merkel angeführte Bundesregierung. Diese Große Koalition vereinte 79,9 % der Parlamentsmandate auf sich. Wie schon zur Zeit der ersten Großen Koalition erreichte die Opposition in der zurückliegenden 18. Wahlperiode folglich nicht einmal ein Viertel der Parlamentssitze, somit konnte sie keines der ausdrücklich in der Verfassung geregelten Quorenrechte aus eigener Kraft wahrnehmen. Während eine starke Opposition im britischen Unterhaus durch das Mehrheitswahlrecht garantiert zu sein scheint, reduzierten insbesondere die „qualifizierten Großen Koalitionen“19 im Deutschen Bundestag die parlamentarische Opposition auf einen Bruchteil der Parlamentsmandate. Die Streitkultur in einem solchen Parlament der qualifizierten Großen Koalition bleibt davon nicht unbeeinflusst. Am 22. Oktober 2013 – zu Beginn der zurückliegenden 18. Wahlperiode – betonte der ehemalige Bundestagspräsident Norbert Lammert20 die herausragende Bedeutung eines fairen Umgangs mit parlamentarischen Minderheiten: „Die Kultur einer parlamentarischen Demokratie kommt weniger darin zum Ausdruck, dass am Ende Mehrheiten entscheiden, sondern darin, dass Minderheiten eigene Rechtsansprüche haben, die weder der Billigung noch der Genehmigung durch die jeweilige Mehrheit unterliegen. Die Minderheit muss wissen, dass am Ende die Mehrheit entscheidet, was gilt, und die Mehrheit muss akzeptieren, dass bis dahin – und darüber hinaus – die Minderheit jede Möglichkeit haben muss, ihre Einwände, ihre Vorschläge, wenn eben möglich auch ihre Alternativen zur Geltung zu bringen.“21

Darüber herrscht im Großen und Ganzen Einigkeit, auch nach der Bundestagswahl vom 24. September 2017.22 Erstmals seit den 1950er Jahren zog mit der AfD eine Partei in den Bundestag ein, die sich zumindest in Teilen nationalistisch, eu19 Der Begriff geht zurück auf Cancik, NVwZ 2014, 18 – 24. Siehe dazu ausführlich 1. Kapitel B. I. 3. c). 20 Lammert war Mitglied der CDU-Fraktion. Im Folgenden werden die vollständigen Namen und Parteizugehörigkeiten erstmalig genannt, bei den Parlamentspräsidenten wird jedoch wegen ihrer parteipolitischen Neutralitätspflicht (siehe für den Bundestag § 7 Abs. 1 Satz 2 GO-BT) insgesamt auf die Nennung ihrer Partei verzichtet. 21 Lammert, in: BT-Plenarprotokoll 18/1 vom 22. Oktober 2013, S. 7 (C). 22 Daran lässt auch Wolfgang Schäuble, in: BT-Plenarprotokoll 19/1 vom 24. Oktober 2017, S. 14 (D), keinen Zweifel, der in seiner ersten Rede als Bundestagspräsident insbesondere über demokratischen Streit sprach: „Was aber sehr wohl sein darf und sein muss, ist, dass der parlamentarische Prozess hier im Hause sichtbar macht, wie schwierig sowohl die Durchsetzung als auch der Ausgleich von Interessen in einer liberalen Demokratie sind. Da darf Streit nicht nur sein; das geht nur über Streit. Den müssen wir führen, und den müssen wir aushalten, ertragen. Demokratischer Streit ist notwendig, aber es ist ein Streit nach Regeln, und es ist mit der Bereitschaft verbunden, die demokratischen Verfahren zu achten und die dann und so zustande gekommenen Mehrheitsentscheidungen nicht als illegitim oder verräterisch oder sonst wie zu denunzieren.“

A. Parlamentarische Streitkultur im Spiegel der Zeit

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ropafeindlich und rechtsextrem positioniert.23 Nicht jeder Widerspruch bringt Fortschritt, mag der eine oder andere in diesem Zusammenhang denken. Die Einbeziehung parlamentarischer Minderheiten in den Geschäftsgang des Bundestages darf jedoch nicht von politischer Couleur abhängen,24 sofern sie sich auf dem Boden der Verfassung bewegen. Indem das Wahlvolk die Zusammensetzung des Parlaments bestimmt, wird auch die Streitkultur der nachfolgenden Legislaturperiode vorgezeichnet. Möglicherweise muss sich der 19. Deutsche Bundestag auch mit Blick auf das Auftreten der AfD in den Landesparlamenten25 auf eine längst in Vergessenheit geratene Streitkultur einstellen.26 Prügeln sollten sich Parlamentarier nicht, darauf wies der neugewählte Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble bereits in der konstituierenden Sitzung des 19. Deutschen Bundestages hin.27 Sicher aber ist eine 23 Vgl. nur eine Liste von Zitaten Björn Höckes (AfD) bei Zeit Online, Björn Höcke in Zitaten, 13. 2. 2017, http://www.zeit.de/news/2017-02/13/parteien-bjoern-hoecke-in-zitaten13144808, zuletzt geprüft am 26. 4. 2018; zu den Aussagen des ehemaligen AfD-Landtagsabgeordneten aus Baden-Württemberg Wolfgang Gedeon Bensmann, Was Gedeon über Amerika, Nazis und Juden schreibt, 6. 7. 2016, http://www.tagesspiegel.de/politik/streit-in-derafd-was-gedeon-ueber-amerika-nazis-und-juden-schreibt/13836796.html, zuletzt geprüft am 26. 4. 2018; zum Thema Homosexualität aus dem Landtag in Sachsen-Anhalt Andreas Gehlmann (AfD), in LT-Plenarprotokoll 7/5 vom 2. Juni 2016, S. 64; anschaulich zur AfD im Bundestag Schönberger/Schönberger, JZ 2018, 105 (106 f.). 24 Vgl. Rossi, JZ 2016, 1169, der in Bezug auf die Diskussion um parlamentarische Minderheitenrechte festhält, dass das Bundesverfassungsgericht seine Entscheidung vom 3. Mai 2016 auch mit Blick auf zukünftige politische Konstellationen treffen musste. 25 Vgl. dazu die Berichte zu einer (dementierten) Handgreiflichkeit im Stuttgarter Landtag zwischen zwei AfD-Mitgliedern; Stuttgarter Zeitung, Fraktion beschäftigt sich erneut mit internen Konflikten, 14. 11. 2016, http://www.stuttgarter-zeitung.de/inhalt.afd-in-baden-wuert temberg-fraktion-beschaeftigt-sich-erneut-mit-internen-konflikten.23b44a58-326f-4c56-b06b8eda9d24b6cd.html, zuletzt geprüft am 26. 4. 2018. Im Bundestag kam es bisher nur am 10. März 1950 zu einer (bekannten) Handgreiflichkeit: Der Bundestagsabgeordnete Wolfgang Hedler (DP) kam in die Plenarsitzung im Bonner Bundeshaus, obwohl gegen das ehemalige NSDAP-Mitglied ein gerichtliches Verfahren wegen einer antisemitischen und rechtsextremen Rede andauerte. Dies genügte dem ersten Bundestagspräsidenten Erich Köhler für einen Appell an Hedler, er möge den Sitzungssaal verlassen. Hedler ging erst, als er des Sitzungssaals verwiesen wurde. Dieser Umstand verhinderte jedoch nicht die anschließenden Prügel, die er außerhalb des Plenarsaals von einigen Sozialdemokraten – darunter wohl auch Herbert Wehner (SPD) – bezog; siehe dazu das BT-Plenarprotokoll 1/46 vom 10. März 1950, S. 1560 (D) f.; darauf Bezug nehmend auch Helene Wessel (Zentrum), in: BT-Plenarprotokoll 1/47 vom 16. März 1950, S. 1601 (C); Spiegel Online, Prügelei im Bundestag, 10. 3. 2009, http://www. spiegel.de/einestages/kalenderblatt-10-3-1950-a-948190.html, zuletzt geprüft am 26. 4. 2018. 26 Siehe im Hinblick auf die Anwesenheit der Abgeordneten Thomas Oppermann (SPD), zitiert in SZ, Oppermann: Parteien im Bundestag nach Einzug der AfD präsenter, 20. 12. 2017, http://www.sueddeutsche.de/news/politik/parteien-oppermann-parteien-im-bundestag-nach-ein zug-der-afd-praesenter-dpa.urn-newsml-dpa-com-20090101-171220-99-349342, zuletzt geprüft am 26. 4. 2018. 27 Schäuble, in: BT-Plenarprotokoll 19/1 vom 24. Oktober 2017, S. 15 (A). Er ergänzte, dies sei in anderen Parlamenten – auch in Europa – durchaus der Fall. Ein Beispiel ist das türkische Parlament während der Debatte um die Verfassungsreform für ein Präsidialsystem, das dabei zum Schauplatz von Rangeleien wurde. Eine unabhängige Abgeordnete kettete sich mit Handschellen ans Rednerpult und wollte dies als Symbol für die eigene Parlamentsent-

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1. Kap.: Einleitung

Zuspitzung parlamentarischer Verteilungsfragen. Dies wurde bereits am 1. Juni 2017 sichtbar, als der 18. Deutsche Bundestag eine Änderung der Geschäftsordnung im Hinblick auf die Person des Alterspräsidenten verabschiedete.28 In Anbetracht eines möglichen Alterspräsidenten der AfD entschied der Bundestag, das Amt an das Dienstalter und nicht mehr an das Lebensalter zu knüpfen (§ 1 Abs. 2 GO-BT). Die Geschäftsordnungsänderung war richtig, nicht weil die parlamentarische Demokratie eine Rede von Wilhelm v. Gottberg (AfD) nicht aushält, sondern weil sie in der Sache begründet ist. Dem Alterspräsidenten kommen organisatorische und vor allem repräsentative Aufgaben zu, er leitet die konstituierende Sitzung bis zur Wahl des Bundestagspräsidenten und hält in diesem Zusammenhang gewöhnlich die Eröffnungsrede im Plenum. Parlamentserfahrung und ein Mindestmaß an parlamentarischer Rückendeckung erweisen sich hier als richtige Gradmesser für die Befähigung zum Amt.29 Ungeachtet dessen müssen Lammerts Worte im 19. Deutschen Bundestag ebenso gelten wie im Vorgängerparlament.30 An den Grundfesten der parlamentarischen Demokratie sollte nicht gerüttelt werden, auch wenn die Auswahl seiner Protagonisten durch das Wahlvolk nicht allerorts Gefallen findet.

machtung verstanden wissen, das Parlament lege sich selbst Fesseln an. Daraufhin kam es zu einer Schlägerei, nach der zwei Politikerinnen in ein Krankenhaus gebracht wurden, FAZ, Gerangel im türkischen Parlament, 12. 1. 2017, http://www.faz.net/aktuell/tuerkei-verfassungsre form-loest-gerangel-in-parlament-aus-14628245.html, zuletzt geprüft am 26. 4. 2018. Auch die italienische Abgeordnetenkammer wurde Schauplatz von Handgreiflichkeiten, als Silvio Berlusconis Justizreform diskutiert wurde. Jemand schleuderte dem Parlamentspräsidenten eine Zeitung an den Kopf, Meiritz, Berlusconi-Sitzung löst Krawall im Parlament aus, 31. 3. 2011, http://www.spiegel.de/politik/ausland/italien-berlusconi-sitzung-loest-krawall-im-parla ment-aus-a-754293.html, zuletzt geprüft am 26. 4. 2018. In der französischen Assemblée nationale wurde eine Debatte um die „Homo-Ehe“ von Tumulten begleitet, Der Westen, Debatte um Homo-Ehe endet fast mit Schlägerei im Parlament, 19. 4. 2013, http://www.derwesten.de/po litik/debatte-um-homo-ehe-endet-fast-mit-schlaegerei-im-parlament-id7856996.html, zuletzt geprüft am 26. 4. 2018. Auch im ukrainischen Parlament wären rote Linien ein erster, wohl nur gutgemeinter Versuch, den regelmäßig wiederkehrenden Prügeleien Einhalt zu gebieten. Zuletzt sorgte ein ukrainischer Parlamentarier für Schlagzeilen, der sich bemühte, den Ministerpräsidenten vom Rednerpult wegzutragen. Siehe zwei Beispiele der jüngeren Eskalationen in der Werchowna Rada bei Nagel, Blutige Schlägerei im ukrainischen Parlament, 17. 12. 2010, http://www.tagesschau.de/multimedia/audio/audio62180.html, zuletzt geprüft am 26. 4. 2018, und Spiegel Online, Rechte prügeln sich mit Kommunistenchef, 8. 4. 2014, http://www.spiegel. de/politik/ausland/ukraine-krise-schlaegerei-im-parlament-in-kiew-a-963256.html, zuletzt geprüft am 26. 4. 2018. 28 Siehe BT-Drs. 18/12376. 29 Eine a.A. liegt dem Antrag der AfD-Fraktion zur konstituierenden Sitzung der 19. Wahlperiode zugrunde, BT-Drs. 19/4; siehe ebenfalls Bernd Baumann (AfD), in: BT-Plenarprotokoll 19/1 vom 24. Oktober 2017, S. 6 (A). 30 Die parlamentarische Praxis wird auch die AfD beeinflussen, möglicherweise mehr als andersherum; vgl. in Bezug auf die Grünenpartei Lammert im Interview bei Geis/Hildebrandt, Warum sprechen Sie so kompliziert?, 22. 6. 2017, http://www.zeit.de/2017/23/norbert-lammertbundestagspraesident-interview/seite-2, zuletzt geprüft am 26. 4. 2018.

B. Fragestellung

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Das Parlamentsrecht betrifft Machtfragen von zentraler Bedeutung, insbesondere den Umgang mit parlamentarischen Minderheiten. Dies veranschaulicht der Einzug der AfD in den 19. Deutschen Bundestag eindrucksvoll. Der Appell Lammerts zur demokratischen Kultur und zum Verständnis von Mehrheit und Minderheit aus der konstituierenden Sitzung des 18. Deutschen Bundestages zielte aber weniger auf dessen personelle Zusammensetzung ab als vielmehr auf das Phänomen der qualifizierten Großen Koalition, deren Mandatszahl die der parlamentarischen Opposition bei weitem übersteigt. Der Bundestag ist in Fragen der eigenen Arbeitsweise mehr als sonst versucht, Konsensentscheidungen herzustellen.31 Oftmals gelingt es, fraktionsübergreifende Vereinbarungen in Geschäftsordnungsfragen zu treffen. In jüngster Vergangenheit sahen sich einige Handlungsweisen des Bundestages jedoch innerparlamentarischer wie öffentlicher Kritik ausgesetzt: Sie widmete sich nicht nur dem Phänomen einer qualifizierten Koalition als solchem, sondern auch den parlamentarischen Reaktionen auf die großkoalitionäre Regierungsbildung nach der Bundestagswahl 2013. Der Bundestag verabschiedete zu Beginn der 18. Wahlperiode die Vorschrift des § 126a GO-BT a.F. zum Schutz parlamentarischer Minderheiten, verlängerte die Redezeit für die Opposition, hob die finanzielle Ausstattung der Oppositionsfraktionen nach § 50 Abs. 2 Satz 1 AbgG an und beschloss bereits vor Regierungsbildung die Einsetzung eines vorübergehend tagenden Hauptausschusses. Feststeht, es braucht politischen Wettstreit im Parlament. Feststeht aber auch, Politik erfährt ihren Rahmen durch das Recht. Die Verfassung kennt Direktiven für die parlamentarische Auseinandersetzung, an denen veränderte parlamentarische Spielregeln in Zeiten qualifizierter Großer Koalitionen zu messen sind.

B. Fragestellung Die Verfassung verbietet Große Koalitionen nicht.32 Sie sind legitime Formen politscher Machtausübung. Es handelt sich aber um Sonderkonstellationen, die zu Verschiebungen im Koordinatensystem des parlamentarischen Regierungssystems führen und das Parlament als solches vor besondere Herausforderungen stellen, auch weil das Verfassungsrecht dazu schweigt.33 Großkoalitionäre Regierungsbildungen 31

Zur „Konsenskultur“ im Bundestag Schönberger/Schönberger, JZ 2018, 105 (107). Vgl. aber zum verfassungsrechtlich normierten Hamburger Oppositionsprinzip Schachtschneider, Der Staat 28 (1989), 173 (174 ff.), der ein Verbot von Allparteienregierungen und Großen Koalitionen annimmt; mit den besseren Argumenten sind a.A. unter anderem Poscher, AöR 122 (1997), 444 (457); Cancik, Parlamentarische Opposition in den Landesverfassungen, S. 136 ff. Einstimmigkeit sei möglich und erlaubt. Dauerhafter Disput im Parlament sei noch kein „Gütesiegel funktionierender Demokratie“ konstatiert Leisner, DÖV 2014, 880 (884). 33 Rossi, JZ 2016, 1169 (1170): „Das Verfassungsrecht selbst ist indes blind für die Besonderheiten einer großen Koalition.“ 32

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1. Kap.: Einleitung

werfen rechtliche Fragen auf. Die vorliegende Arbeit untersucht grundsätzliche Verfassungsfragen, die sich in einem Parlament der qualifizierten Großen Koalition ergeben, d.h. während der Koalitionsbildung und darüber hinaus.34 Zentrales Ziel der Arbeit ist eine dogmatische Klärung parlamentarischer Handlungsentscheidungen im Bundestag der qualifizierten Großen Koalition am Beispiel der zurückliegenden 18. Wahlperiode. Darin liegt das Erkenntnisinteresse. Die Arbeit geht der Forschungsfrage nach, wie die Verabschiedung der Geschäftsordnungsvorschrift des § 126a GO-BT a.F. zum Schutz parlamentarischer Minderheiten, die Verlängerung der Redezeit für die Opposition, die Anhebung des Oppositionszuschlages und die Einsetzung eines Hauptausschusses verfassungsrechtlich zu bewerten sind. Obwohl die Arbeit spezifische Probleme einer qualifizierten Großen Koalition ins Visier nimmt, können einige der vorliegenden Verfassungsfragen zumindest in Teilen auch während nicht-qualifizierter Großer Koalitionen auftreten.35 Dies soll der Klammerzusatz im Titel der Arbeit verdeutlichen. Bevor die konkreten Verfassungsfragen im Parlament einer qualifizierten Großen Koalition in den Fokus der Untersuchung treten, muss die Ausgangslage geklärt werden. Die Fragestellung der Arbeit erfordert eine vorangestellte Auseinandersetzung36 mit dem Begriff der Großen Koalition, den Besonderheiten und den resultierenden Herausforderungen im Parlament einer qualifizierten Großen Koalition. Im Fokus der Arbeit steht die Bundesebene, dennoch wird zur Generierung von repräsentativen Daten und zur Vergleichung punktuell auch die Landesebene in den Blick genommen.

I. Begriffsbestimmungen 1. Mehrheit und Minderheit Mehrheit und Minderheit37 sind politische Begriffe. Sie werden jeweils in zweifacher Hinsicht verwendet. Das Begriffsverständnis der Rechtsordnung unterscheidet sich von dem Begriffsverständnis der parlamentarischen Praxis. 34 Pascale Cancik spricht im Zusammenhang der qualifizierten Großen Koalition von einem „Demokratie-Problem“, Cancik, ZParl. 48 (2017), 516. 35 Untrennbar verbunden mit der qualifizierten Großen Koalition (die Möglichkeit qualifizierter Kleiner Koalitionen ist bisher rein theoretischer Natur) ist lediglich das Verfassungsproblem der parlamentarischen Minderheitenrechte in Form der Quorenrechte, siehe insgesamt 2. Kapitel. 36 Hierzu wird auf rechts- und politikwissenschaftliche Erkenntnisse rekurriert, zum Forschungsstand 1. Kapitel C. 37 Die Minderheit im Parlament darf nicht mit Minderheiten ethnischer, kultureller oder nationaler Art verwechselt werden; dazu Dreier, in: ders., GG, Bd. 2, Art. 20 (D) Rn. 74. Gleichgültig, ob vorliegend von Minderheitenschutz oder Minderheitenrechten die Rede ist, gemeint sind stets parlamentarischer Minderheitenschutz und parlamentarische Minderheitenrechte.

B. Fragestellung

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Zunächst geben die Begriffe Mehrheit und Minderheit die Verfügbarkeit von Parlamentsentscheidungen in der Rechtsordnung von Verfassung, Gesetz und Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages an. Es handelt sich um Quantifizierungen im Rahmen von Parlamentsabstimmungen. Die Begriffe beziehen sich dabei auf eine konkrete Abstimmung. Je nach Debatte können Mehrheit und Minderheit wechseln. So beschreibt das Bundesverfassungsgericht die Mehrheit als eine von Fall zu Fall konstituierende politische und nicht rechtliche Kategorie, die aber verfassungsrechtlich relevant sei.38 Hinter dem korrelierenden Begriffspaar stehen Zahlen, deren Summe die Gesamtanzahl der abgegebenen Stimmen im Parlament darstellt, sofern weder Enthaltungen noch ungültige Stimmen abgegeben werden. Für eine Parlamentsentscheidung im Sinne eines Antrages braucht es grundsätzlich eine Mehrheit der Stimmen (z.B. einfache Mehrheit, Art. 42 Abs. 2 Satz 1 GG). Ausnahmsweise kann auch eine Parlamentsminderheit Rechte gegen den Willen der Mehrheit durchsetzen (z.B. ein Viertel der Stimmen, Art. 44 Abs. 1 Satz 1 GG). Die Parlamentsmehrheit oder die Parlamentsminderheit als solche sind in der Verfassung nicht mit eigenen Rechten ausgestattet. Es handelt sich nicht um institutionalisierte Gliederungseinheiten. Daher haben weder Abstimmungsmehrheiten noch -minderheiten die Möglichkeit, vor dem Bundesverfassungsgericht im Organstreitverfahren aufzutreten. Anders ist dies ausnahmsweise bei den ausdrücklich in der Verfassung normierten Minderheitenrechten in Form von Quorenrechten. Hier ist die Parteifähigkeit der Minderheit als Organteil des Bundestages zu bejahen. Sie kann die Rechte im Rahmen von Art. 93 Abs. 1 Nr. 1 GG geltend machen.39 Dies wird dem minderheitenschützenden Organstreitverfahren gerecht und ist vor dem Hintergrund zu sehen, dass sich im Rahmen des jeweiligen Beschlusses eine feste parlamentarische Größe konstituiert, der im Grundgesetz spezifisch eigene Rechte zugewiesen werden.40 Es bleibt aber bei der Grundannahme, wonach es die Parlamentsmehrheit oder die Parlamentsminderheit nicht gibt. Nach dem Begriffsverständnis der formalen Rechtsordnung existieren sie schlicht nicht. In der parlamentarischen Praxis werden die Begriffe dennoch für die allgemeine Beschreibung der politischen Zusammensetzung im Parlament verwendet. Insoweit werden die regierungstragenden Abgeordneten und ihre Fraktion(en) als Parla38

BVerfGE 106, 253 (273); 112, 118 (140 f.). Zur Minderheitenenquete BVerfGE 2, 143 (160 ff.); 67, 100 (124); 105, 197 (220); 113, 113 (120); 124, 78 (106 f.); ebenso die Parteifähigkeit bejahend Benda/Klein/Klein, Verfassungsprozessrecht, Rn. 1011; Bethge, in: Maunz/Schmidt-Bleibtreu/Klein/Bethge, BVerfGG, 49. EL Juli 2016, § 63 Rn. 48; auch Grote, Der Verfassungsorganstreit, S. 218 f.; in der Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages genannte Minderheiten insgesamt einbeziehend Schlaich/Korioth, Das Bundesverfassungsgericht, Rn. 88; a.A.: Achterberg, Die parlamentarische Verhandlung, S. 55; noch enger Lechner/Zuck, BVerfGG, § 63 Rn. 14. Der Sperrminorität nach Art. 79 Abs. 2 GG wird zumindest gegenüber der Bundesregierung die Parteifähigkeit versagt, BVerfGE 90, 286 (341 f.); Lenz/Hansel, BVerfGG, § 63 Rn. 27; Schlaich/ Korioth, Das Bundesverfassungsgericht, Rn. 89. 40 Pietzcker, FS 50 Jahre BVerfG, Bd. 1, S. 588; Lechner/Zuck, BVerfGG, Vor. §§ 63 ff. Rn. 7; vgl. auch die Ausführungen bei Drossel/Herbolsheimer, ZJS 2016, 741 (742 f.). 39

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1. Kap.: Einleitung

mentsmehrheit und die opponierenden Abgeordneten und ihre Fraktion(en) als Parlamentsminderheit bezeichnet. Solch eine Identifizierung ist zulässig, obwohl sie nicht in der Rechtsordnung angelegt und letztlich pauschalisierend ist.41 Zum einen kann sich die Abgeordnetenzusammensetzung einer Abstimmungsmehrheit von der Regierungsmehrheit unterscheiden. In der politischen Praxis gibt es durchaus Beispiele für Bündnisse zwischen Abgeordneten der Regierungs- und Oppositionsfraktionen.42 Auch eine Minderheitsregierung ist möglich, bei der die regierungstragenden Fraktionen gerade nicht die Parlamentsmehrheit verkörpern. Die politischen Begriffe Mehrheit und Minderheit sind demzufolge nicht notwendig regierungs- oder oppositions- bzw. fraktionsgebunden. Die bloße Anerkennung von Zufallsmehrheiten und -minderheiten aber geht an der Parlamentspraxis vorbei.43 Das parlamentarische Regierungssystem ist angelegt auf einen regelmäßigen Dualismus zwischen Parlamentsmehrheit und -minderheit, zwischen Regierungsmehrheit auf der einen Seite und oppositioneller Minderheit auf der anderen Seite (Art. 63, 67, 68 GG).44 Die Rechtsordnung bestimmt Mehrheit und Minderheit als konkret-korrelierende Begriffe. In der parlamentarischen Praxis werden die Begriffe stattdessen abstraktgegensätzlich verwendet.45 Eine solche vereinfachte Nutzung der Begriffe i.S.d. parlamentarischen Praxis setzt diese Differenzierung voraus. 2. Koalition und Opposition Die Begriffe Koalition und Opposition46 sind ebenfalls politische Begriffe, auch wenn dies für den Oppositionsbegriff eingeschränkt werden muss.47 Der Begriff der Koalition beschreibt den temporären Zusammenschluss von mindestens zwei politischen Gruppierungen, in der Regel Fraktionen, mit dem Ziel 41 Vgl. zu den Begriffen aus der Politikwissenschaft Steffani, in: Schneider/Zeh, Parlamentsrecht und Parlamentspraxis, § 49 Rn. 99. 42 Siehe dazu z.B. Abstimmungen in Gewissensfragen wie zur „Ehe für alle“, der Präimplantationsdiagnostik oder zur Arzneimittelforschung in den BT-Plenarprotokollen 18/244 vom 30. Juni 2017, S. 25105 (D) ff., 17/120 vom 7. Juli 2011, S. 13911 (A) ff. und 18/18200, S. 20006 (C) ff.; zu Geschäftsordnungsfragen, z.B. zum Stimmzettelverfahren BT-Plenarprotokoll 18/134 vom 6. November 2015, S. 13067 (A) ff.; auch zur Außenpolitik, z.B. zur „Armenienresolution“ BT-Plenarprotokoll 18/173 vom 2. Juni 2016, S. 17039 (A); vgl. dazu auch Schäfer, Der Bundestag, S. 71. 43 Vgl. aber Huber, in: Isensee/Kirchhof, HStR, Bd. 3, § 47 Rn. 47. 44 Statt Vieler Schmidt-Jortzig, FS Schnapp, S. 276; „Die Opposition ist die parlamentarische Minderheit“ findet sich bei Kloepfer, Verfassungsrecht I, § 15 Rn. 213. 45 Vgl. bezogen auf Opposition und Minderheitenschutz auch Leisner, DÖV 2014, 880 (882). 46 Zum Grundsatz effektiver Opposition ausführlicher 2. Kapitel C. I. 47 Zum Oppositionsbegriff Ingold, Das Recht der Oppositionen, S. 153 ff.; Mundil, Die Opposition, S. 49 ff.; Cancik, Parlamentarische Opposition in den Landesverfassungen, S. 104 ff.

B. Fragestellung

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einer gemeinsamen Regierungsbildung und -arbeit. Eine Koalitionsbildung ist notwendig, wenn eine Partei allein die absolute Mehrheit der Stimmen bzw. eine Fraktion die absolute Mehrheit der Parlamentsmandate verfehlt. Die (Regierungs-) Fraktionen wählen „ihren“ Regierungschef. Sie „tragen“ grundsätzlich die Politik der Regierung, vor allem durch ihr Abstimmungsverhalten bei Gesetzesprojekten. Die gemeinsamen politischen Ziele werden von den politischen Parteien,48 die hinter den Fraktionen stehen, zumeist49 in einem Koalitionsvertrag vereinbart.50 Parlamentarische Koalitionspartner während der Legislaturperiode aber sind letztlich die Fraktionen, die die Koalitionsvereinbarungen der Parteien umsetzen. Die Mutterparteien der Koalitionsfraktionen sind im Gegensatz zu den Oppositionsfraktionen „vertraglich“ miteinander verbunden. Die Koalitionsfraktionen tragen gemeinsam die Regierungsverantwortung. Die Regierungskoalition erreicht die Mandatsmehrheit im Parlament (auch Mehrheitsfraktionen), mit Ausnahme einer Minderheitsregierung, bei welcher sie auf zusätzliche Stimmen angewiesen ist. Weder das Grundgesetz noch die Landesverfassungen kennen den Koalitionsbegriff oder unterscheiden gar zwischen Koalitionsformen. Im Grundgesetz ist lediglich die Bundesregierung geregelt; nicht aber der die Regierung bildende und tragende Verbund von Abgeordneten. Der Koalitionsbegriff liegt einem pluralistischen Demokratiekonzept zugrunde, das sich durch den politischen Wettbewerb bei gleichzeitiger Akzeptanz des Mehrheitsprinzips auszeichnet.51 Auch der Oppositionsbegriff ist politischer Natur,52 wenngleich er sich zunehmend auch als Rechtsbegriff durchsetzt.53 Es sind zwei innerparlamentarische Oppositionsbegriffe zu unterscheiden. Zunächst kann Opposition im funktionalen Sinne 48 Zur umstrittenen Frage, wer Partner des Koalitionsvertrages ist, überblicksartig Schenke, in: BK, GG, 166. EL März 2014, Art. 63 Rn. 84 f. Vor allem auf die Parteien stellt z.B. ab Schröder, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, Bd. 2, Art. 63 Rn. 15; die Fraktionen bezieht unter anderem mit ein Hermes, in: Dreier, GG, Bd. 2, Art. 63 Rn. 14. 49 Ausgerechnet die Große Koalition von 1966 bis 1969 besaß keinen Koalitionsvertrag, es wurde lediglich ein Koalitionsausschuss eingerichtet, Schneider/Zeh, in: dies., Parlamentsrecht und Parlamentspraxis, § 48 Rn. 71. 50 Darin kommt die Ächtung von „wechselnden Mehrheiten“ hinlänglich zum Ausdruck, Schulze-Fielitz, Der informale Verfassungsstaat, S. 48. Zur rechtlichen Einordnung eines Koalitionsvertrages nur beispielhaft Leisner, NJW 2010, 823 (824); Schröder, in: v. Mangoldt/ Klein/Starck, GG, Bd. 2, Art. 63 Rn. 15 ff. Vgl. in diesem Zusammenhang auch BVerfG, VR 2014, 71. 51 Beispielhaft aus der Politikwissenschaft Jun, Koalitionsbildung in den deutschen Bundesländern, S. 21 ff.; ferner Rossi, JZ 2016, 1169 (1170). 52 Zur politikwissenschaftlichen Begriffsunterscheidung von ad hoc-, kooperativer und kompetitiver Opposition v. Beyme, Das politische System der Bundesrepublik Deutschland nach der Vereinigung, S. 314 ff.; auch schon Oberreuter, in: ders., Parlamentarische Opposition, S. 20. Diese Dreiteilung stammt von Robert Alan Dahl, vgl. insgesamt Dahl, Political Oppositions in Western Democracies. 53 Ausführlich und anschaulich Poscher, AöR 122 (1997), 444 (468), der beschreibt, dass Opposition als Rechtsbegriff möglich sei; früh schon Arndt, Neue Sammlung 8 (1968), 1 (2); vgl. auch Ingold, Das Recht der Oppositionen, 155 ff. m.w.N.

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1. Kap.: Einleitung

punktuelle politisch-gegensätzliche Reaktionen auf die Regierungspolitik meinen. Dann ist Opposition ad hoc, sachorientiert und nicht fraktionsgebunden. Auch Abgeordnete der Koalition können gegen Vorhaben der Regierung stimmen. Andersherum können Abgeordnete der Opposition gegen „eigene“ Vorhaben stimmen und Regierungsvorhaben befürworten. Alle Abgeordneten können Vorhaben der Regierung unterstützen, nicht aber „Koalition“ sein – dazu bedarf es der vereinbarten Zugehörigkeit durch die Mutterparteien. Von dem funktionalen Oppositionsbegriff ist der Oppositionsbegriff im organisatorischen Sinne zu unterscheiden. Die organisierte Opposition ist permanente Gegenspielerin der Regierung und der sie tragenden Regierungskoalition.54 Für die Opposition im organisatorischen Sinne55 ist charakteristisch, dass sie aufgrund fehlender Vertreter in der Regierung nicht an der Regierungsarbeit beteiligt ist.56 Die Opposition bildet sich also aus den nicht an der Regierung beteiligten Abgeordneten, Gruppen und Fraktionen, welche nicht nur im Einzelfall, sondern dauerhaft als politischer Gegner der Bundesregierung agieren.57 Die Verwendung eines solchen Oppositionsbegriffs darf jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass es große politische Differenzen innerhalb der Opposition geben kann. Nicht selten weist eine Oppositionsfraktion gegenüber einer anderen Oppositionsfraktion größere politische Unterschiede auf als zu einer Regierungsfraktion. Die Opposition gibt es in aller Regel nicht.58 Sowohl in den Landesverfassungen59 und Bundesgesetzen als auch hier wird der Oppositionsbegriff im organisatorischen Sinne verwendet.60 Erstmals nahm das ehemalige Bundesland Baden diese Form des Oppositionsbegriffs in Art. 120 seiner Verfassung aus dem Jahr 1947 auf:

54 Vgl. ausführlich zum Oppositionsbegriff, auch zur Unterscheidung zwischen funktionaler und organisatorischer Opposition Cancik, Parlamentarische Opposition in den Landesverfassungen, S. 104 ff. 55 BVerfGE 5, 85 (199); 123, 267 (367, 431). 56 Ähnlich Schuster, DÖV 2014, 516 (523). 57 Insgesamt hierzu VerfGH Sachsen-Anhalt, LKV 1998, 101; zudem Huber, in: Isensee/ Kirchhof, HStR, Bd. 3, § 47 Rn. 4; Schneider, Die parlamentarische Opposition im Verfassungsrecht der Bundesrepublik Deutschland, S. 121. 58 Dies ist wohl unstrittig, auch für Zweiparteiensysteme. Ausführlich zur Mehrzahl von Oppositionsfunktionen, ihrer Ausübung und ihrer Akteure Ingold, Das Recht der Oppositionen, S. 359 ff. 59 Siehe Art. 16a Abs. 1 Verf. Bayern, Art. 38 Abs. 3 Verf. Berlin, Art. 55 Abs. 2 Verf. Brandenburg, Art. 78 Verf. Bremen, Art. 24 Verf. Hamburg, Art. 26 Verf. MecklenburgVorpommern, Art. 19 Abs. 2 Verf. Niedersachsen, Art. 40 Verf. Sachsen, Art. 48 Verf. Sachsen-Anhalt, Art. 18 Verf. Schleswig-Holstein, Art. 59 Verf. Thüringen. 60 Vgl. auch die Rechtsprechung mancher Landesverfassungsgerichte, z.B. VerfG SachsenAnhalt, LKV 1998, 101; dazu Kluth, in: Schöneburg, Verfassungsfragen in Berlin, Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen, S. 55 ff.; VerfGH Rheinland-Pfalz, NVwZ 2003, 75; VerfGH Bayern, BayVBl. 77, 59.

B. Fragestellung

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„[Abs. 1] Parteien müssen sich als mitverantwortlich für die Gestaltung des politischen Lebens und für die Lenkung des Staates fühlen, gleichgültig, ob sie an der Bildung der Landesregierung mitbeteiligt sind oder zu ihr in Opposition stehen. [Abs. 2] Haben sie sich an der Bildung der Regierung beteiligt, so ist es ihre Pflicht, das Interesse des Landes über das Interesse der Partei zu stellen. Sie müssen bereit sein, die Verantwortung abzugeben, sobald sich eine neue Mehrheit bildet. [Abs. 3] Stehen sie in Opposition zur Regierung, so obliegt es ihnen, die Tätigkeit der Regierung und der an der Regierung beteiligten Parteien, zu verfolgen und nötigenfalls Kritik zu üben. Ihre Kritik muß sachlich, fördernd und aufbauend sein. Sie müssen bereit sein, gegebenenfalls die Mitverantwortung in der Regierung zu übernehmen.“

Der Oppositionsbegriff fand weder Eingang in die Verfassungen der benachbarten Bundesländer Württemberg-Baden und Württemberg-Hohenzollern noch in die spätere baden-württembergische Landesverfassung von 1953. Erst die Hamburgische Landesverfassung normierte den Oppositionsbegriff 1971 wieder ausdrücklich. Sie nennt sie in Art. 24 Abs. 2 Satz 2 Verf. Hamburg „politische Alternative zur Regierungsmehrheit“. Heute findet der Begriff der Opposition in den meisten Landesverfassungen Erwähnung. Auf Bundesebene bleibt es bei einzelnen Nennungen in Bundesgesetzen. Im Strafgesetzbuch findet sich im Abschnitt über Friedensverrat, Hochverrat und Gefährdung des demokratischen Rechtsstaates in § 92 Abs. 2 Nr. 3 StGB bei der Auflistung von Verfassungsgrundsätzen das Recht auf Bildung und Ausübung parlamentarischer Opposition. § 4 Abs. 2 lit. c BVerfSchG verwendet den Begriff ähnlich. Schließlich ist der Oppositionsbegriff in § 50 Abs. 2 Satz 1 AbgG normiert.61 Weder Koalition noch Opposition sind als politische oder gar institutionalisierte Einheiten zu begreifen, dennoch gibt es innerhalb ihrer jeweiligen Struktur gemeinsame Interessen, zuvörderst die Unterstützung bzw. Ablösung der Regierung – Machterhalt bzw. Machtgewinn.62 3. Koalitionstypen im bipolaren Mehrparteiensystem der Bundesrepublik Deutschland Es existieren verschiedene Möglichkeiten der Mehrheitsfindung. Sobald sich Fraktionen zur Regierungsbildung zusammentun, handelt es sich nicht mehr um eine Alleinregierung (auch Einparteienregierung), sondern um eine Koalition. Sie sind nicht nur der Normalfall in der Bundesrepublik, sondern ein „Generalmerkmal“ deutscher Politik.63 Während mehr als zwei Drittel der Landesregierungen von Koalitionen getragen wurden, formierten sich nach Bundestagswahlen stets Koali-

61

Zum Oppositionsbegriff ausführlich Ingold, Das Recht der Oppositionen, S. 153 ff. Meyer, in: Schneider/Zeh, Parlamentsrecht und Parlamentspraxis, § 4 Rn. 117; Wolters, Der Fraktions-Status, S. 65 f. 63 Hartmann, Das politische System der BRD im Kontext, S. 188. 62

36

1. Kap.: Einleitung

tionen zur Regierungsbildung.64 Ein Allparteienbündnis ist eine Koalition zwischen allen Fraktionen, die tendenziell häufiger in Konkordanzdemokratien, allen voran in der Schweiz, anzutreffen sind. Viel häufiger als Allparteienbündnisse sind andere Koalitionsmöglichkeiten – die Kleine und Große Koalition. Die Zuweisung von Begriffen für bestimmte Koalitionstypen ist in der Bundesrepublik geprägt von einem bipolaren Mehrparteiensystem65, das im Wesentlichen seit 1945 Bestand hat.66 Nachdem in der 1. Wahlperiode der Bundesrepublik acht, in der zweiten noch fünf Fraktionen im Parlament vertreten waren, bildeten sich von 1961 bis 1983 nur noch drei Fraktionen im Deutschen Bundestag. Auf Bundesebene erfuhr das sogenannte Zweieinhalbparteiensystem von Unionsparteien und SPD sowie der FDP als „Königsmacherin“ mit dem Einzug der Grünenpartei,67 spätestens seit der ersten Regierungsbeteiligung von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 1998, eine wesentliche Veränderung. Darüber hinaus zogen seit der Wiedervereinigung stets auch Abgeordnete der PDS bzw. DIE LINKE in den Bundestag ein. Bis zur Bundestagswahl 2017 wurde ein Bündnis mit der Linksfraktion auf Bundesebene von den anderen politischen Kräften ausdrücklich ausgeschlossen.68 Seit der Bundestagswahl 2017 sind wieder sechs Fraktionen (sieben Parteien69) im Bundestag vertreten, trotz Fünf-Prozent-Hürde.70 Die AfD bringt bisher alle anderen Parteien gegen sich als Block71 auf. Ein ähnliches Bild ergibt sich auf Landesebene: Die Landesparlamente zählten fast immer mehr als zwei politische Widersacher. Heute sind in allen Landesparlamenten mindestens vier Fraktionen vertreten. Mit CDU (bzw. in Bayern CSU) und der SPD gibt es zumindest zwei größere „Volksparteien“72, die seit Beginn der Bundesrepublik in einem dauerhaften Wett64 Bei der Bundestagswahl 1957 erhielten die Unionsparteien zwar eine absolute Mehrheit, sie bildeten dennoch eine Koalition mit der DP-Fraktion. Allerdings traten beide Minister der DP am 1. Juli 1960 der CDU bei. 65 Schneider, in: ders./Zeh, Parlamentsrecht und Parlamentspraxis, § 38 Rn. 14. 66 Aus diesem Grund gelten die angestellten Überlegungen auch nur für die Bundesrepublik. 67 Vgl. hierzu Kropp, Regieren in Koalitionen, S. 56. 68 Das „fluide Fünfparteiensystem“ erklärt Niedermayer, in: Oberreuter, Unentschieden, S. 287 ff. 69 CDU, SPD, AfD, FDP, DIE LINKE, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, CSU. 70 Wider Erwarten Vieler, vgl. wiederum Niedermayer, in: Bukow/Seemann, Die Große Koalition, S. 247. 71 Zu Einflüssen der Parlamentsfragmentierung, aber auch des rechten Populismus auf das Oppositionsverständnis im „Konsensmodell“ der Bundesrepublik treffend Volkmann, ZParl. 48 (2017), 473 (490). 72 Zum Begriff Thurich, pocket politik, S. 52: „Typ einer politischen Partei, die mit ihrem Programm nicht nur begrenzte Interessengruppen anspricht und deshalb Anhänger und Wähler in allen Bevölkerungsschichten hat. Gegensatz: Interessenpartei, z.B. Arbeiterpartei.“; ähnlich neutral Brinkmann, in: Holtmann, Politiklexikon, S. 747; anders Wiesendahl, in: Nohlen/ Schultze, Lexikon der Politikwissenschaft, S. 1189, der den Begriff primär als Selbstbezeichnung von Großparteien wie SPD, CDU und CSU versteht. Zum Begriff, der insbesondere

B. Fragestellung

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streit miteinander stehen und in allen Bundes- wie Landesparlamenten vertreten waren. CDU bzw. CSU und SPD haben eine vergleichsweise hohe Mitgliederzahl, gehen regelmäßig73 als stärkste und zweitstärkste politische Kraft aus Wahlen hervor und brachten alle Bundeskanzler sowie nahezu alle Regierungschefs der Bundesländer hervor. Die Unionsparteien und die SPD gelten als die Parteien der Mitte, die gemäßigt rechte bzw. linke politische Strömungen auffangen und den Anspruch haben, die Bundes- wie Landesregierungen zu führen. Auch nach der Bundestagswahl 2017 bleibt es bei dieser Grundfeste des Parteiensystems der Bundesrepublik.74 Dennoch zeigen die teilweise hohen Stimmenverluste für die Volksparteien bei Bundes- und Landtagswahlen in der jüngsten Vergangenheit, dass die(se) Bipolarität des Mehrparteiensystems nicht in Stein gemeißelt ist. Die Verwendung der Begriffe Kleine und Große Koalition ist in der Bundesrepublik stark vom bipolaren Mehrparteiensystem beeinflusst. Es wäre wenig sinnvoll, dies vollständig auszublenden. Ungeachtet dessen werden die unterschiedlichen Koalitionstypen in der vorliegenden Untersuchung „politisch neutral“ und nicht parteiengebunden verwendet. a) Kleine Koalition Der Begriff „Kleine Koalition“ ist nicht allgemein gebräuchlich. Er dient hauptsächlich als Gegenbegriff zur weiter verbreiteten Bezeichnung der Großen Koalition. Kleine Koalitionen sind Koalitionen zwischen der mandatsstärksten oder zweitstärksten Fraktion und mindestens einer mandatsschwächeren Fraktion im Parlament.75

auf Otto Kirchheimer und Dolf Sternberger zurückgeht, ausführlicher Mintzel, Die Volkspartei, S. 67 ff. 73 Besonders in den neuen Bundesländern sind CDU und SPD aber keineswegs immer die stärksten politischen Kräfte, dies hat hier insbesondere mit dem regelmäßig starken Abschneiden der Partei DIE LINKE zu tun, neuerdings auch mit der AfD. Momentan sind CDU und SPD nicht stärkste und zweitstärkste Kraft in: Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen, Sachsen-Anhalt, Thüringen; außerdem in: Bayern, Baden-Württemberg und Hessen. 74 Vgl. nach und zu der Wahl zum Landtag in Niedersachsen, nur drei Wochen nach der Bundestagswahl 2017, Karl-Rudolf Korte im ZDF-Wahlkampfstudio, der die Wahl eine „Renaissance der Volksparteien“ nannte, Korte, Korte analysiert Landtagswahl in Niedersachsen am Wahlabend im ZDF, 18. 10. 2017, http://karl-rudolf-korte.de/korte-analysiert-landtagswahlin-niedersachsen-am-wahlabend-im-zdf/, zuletzt geprüft am 26. 4. 2018. 75 Anders sind die politikwissenschaftlichen Definitionen bei Seemann/Bukow, in: dies., Die Große Koalition, S. 11, mit Verweis auf Thurich, pocket politik, S. 30, die die Kleine Koalition als Bündnis zwischen einer der beiden Fraktionen der großen Volksparteien mit einer oder mehreren kleinen Fraktionen im Parlament bezeichnen. Sie nutzen den Begriff „Volksparteien“ und meinen CDU bzw. CSU und SPD. Allgemein die Große Koalition als Bündnis überdimensionaler Größe bezeichnend Schmidt, Wörterbuch zur Politik, S. 322, der in einer zweiten Definition aber ebenfalls auf die traditionellen großkoalitionären Bündnispartner in der Bundesrepublik abstellt.

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1. Kap.: Einleitung

Verbunden mit dem Bündnis zwischen „Seniorpartner“ und „Juniorpartner“ ist im für die Bundesrepublik typischen bipolaren Mehrparteiensystem eine zahlenmäßig starke Parlamentsopposition, in der sich dann die andere mandatsstärkere Fraktion wiederfindet. Auf Bundes- wie auf Landesebene dominiert die Kleine Koalition als häufigste Erscheinungsform, sie ist der politische Regelfall. Die meisten kleinkoalitionären Bündnisse verabredeten die Volksparteien CDU und bzw. oder CSU oder SPD und eine mandatsschwächere Partei miteinander. Diese Rollenverteilung ist aber nicht zwingend.76 In Baden-Württemberg bildeten 2011 z.B. die zweitstärkste Fraktion von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und die drittstärkste Fraktion von der SPD eine Regierung. Obwohl die SPD-Fraktion nur ein Parlamentsmandat weniger als die Grünenfraktion errang, war sie in diesem Fall „Mehrheitsbeschafferin“ für den Bündnispartner. Eine weitere Unterscheidung zwischen Kleinen Koalitionen als Zwei-, Drei- bzw. Mehrparteienbündnisse ist hier nicht erforderlich. Ein DreiFraktionen-Bündnis bildete sich z.B. zwischen DIE LINKE, SPD und BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN („rot-rot-grün“) nach der Landtagswahl 2014 in Thüringen oder zwischen CDU, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und FDP („Jamaika-Koalition“) nach der Landtagswahl 2017 in Schleswig-Holstein. Sofern eine der beiden mandatsstärksten Fraktionen in der Opposition ist, handelt es sich um Kleine Koalitionen. b) Große Koalition Die Große Koalition bezeichnet in dieser Arbeit ein Regierungsbündnis zumindest der beiden mandatsstärksten Fraktionen im Parlament.77

76 Weitere Beispiele für „ungewöhnliche“ Kleine Koalitionen sind die vielen Koalitionen in den neuen Bundesländern, bei denen CDU bzw. SPD dritt- oder viertstärkste Kraft im Parlament war oder ist: - Brandenburg: 2004 – 2009 Matthias Platzeck II (SPD), SPD+CDU als drittstärkste Fraktion. - Mecklenburg-Vorpommern: seit 2016 Erwin Sellering III/Manuela Schwesig (beide SPD), SPD+CDU als drittstärkste Fraktion. - Sachsen-Anhalt: 2006 – 2011 Wolfgang Böhmer II (CDU), CDU+SPD als drittstärkste Fraktion; 2011 – 2016 Reiner Haseloff I (CDU), CDU+SPD als drittstärkste Fraktion; seit 2016 Haseloff II, CDU+SPD als viertstärkste Fraktion+BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN. - Sachsen: 2004 – 2009 Georg Milbradt II/Stanislav Tillich I (beide CDU), CDU+SPD als drittstärkste Fraktion; seit 2014 Tillich III/Michael Kretschmer, CDU+SPD als drittstärkste Fraktion. - Thüringen: 2009 – 2014 Christine Lieberknecht (CDU), CDU+SPD als drittstärkste Fraktion. 77 Strohmeier, ZPol. 19 (2009), 5 (8). In politikwissenschaftlichen Arbeiten wird die Große Koalition üblicherweise als Koalition zwischen den Unionsparteien und der SPD behandelt, vgl. z.B. Spier, ZPol. 23 (2013), 489 (491); Haas, APuZ 2007, Heft 35/36, 18 (19); Gross, Große Koalitionen, große Folgen?, S. 25. Zu verschiedenen Definitionen auch Egle/Zohlnhöfer, in: dies., Die zweite Große Koalition, S. 14.

B. Fragestellung

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In der Bundesrepublik gingen die Unionsparteien und die SPD aus allen Bundestagswahlen als stärkste78 und zweitstärkste politische Kraft hervor. Dementsprechend ist das Bild einer Großen Koalition traditionell von diesen drei Parteien bzw. zwei Fraktionen geprägt (Tabelle 1). So wird die seit 2016 bestehende Koalition von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und CDU in Baden-Württemberg trotz eines Regierungsbündnisses zwischen der stärksten und zweitstärksten Fraktion in der Praxis kaum Große Koalition genannt (stattdessen: „Kiwi-Koalition“79), in dieser Arbeit aber dazu gezählt. In Mecklenburg-Vorpommern bildete sich dagegen nach der Landtagswahl 2016 ein rot-schwarzes Bündnis, das Große Koalition genannt wird, obwohl die CDU nur drittstärkste Kraft wurde.80 In der Bundesrepublik bilden üblicherweise die Fraktionen von CDU und bzw. oder CSU sowie SPD Große Koalitionen. Im Folgenden meint der Begriff Große Koalition aber den Zusammenschluss mindestens der beiden mandatsstärksten Fraktionen – die zahlenmäßig Große Koalition – wie sie auch zwischen anderen Fraktionen bestehen kann. Ferner werden auch solche Koalitionen darunter gefasst, die sich aus den beiden stärksten Fraktionen und weiteren mandatsschwächeren Fraktionen zusammensetzen. In solchen Bündnissen mit drei oder mehr Fraktionen koalieren weiterhin die beiden stärksten Fraktionen miteinander, sie tragen die Regierung aber nicht allein. Ein Allparteienbündnis kann hier jedoch nicht mehr als Große Koalition begriffen werden. Es stellt einen Sonderfall dar, mit dem eine parlamentarische Opposition gänzlich ausgeschlossen ist.81 Allparteienbündnisse werden in dieser Arbeit nicht näher thematisiert.

78 Nur dreimal erreichte die SPD ein besseres Wahlergebnis als die Union auf Bundesebene: 1972, 1998 und 2002. 79 Friedmann, „Wir haben uns nicht gesucht, aber wir haben uns gefunden“, 2. 5. 2016, http://www.spiegel.de/politik/deutschland/gruen-schwarz-in-baden-wuerttemberg-gruene-undcdu-besiegeln-koalition-a-1090459.html, zuletzt geprüft am 26. 4. 2018. 80 Vgl. nur hinsichtlich der Landtagswahl in Mecklenburg-Vorpommern Steffen, SPD beschließt Koalitionsverhandlungen mit CDU, 16. 9. 2016, http://www.zeit.de/politik/deutsch land/2016-09/mecklenburg-vorpommern-spd-cdu-landtag-koalition-erwin-sellering, zuletzt geprüft am 26. 4. 2018. 81 Ein anderes Begriffsverständnis findet sich bei Cancik, NVwZ 2014, 18 (19), die ein Allparteienbündnis ebenfalls nachvollziehbar als die größte Große Koalition einstuft. Allparteienregierungen gab es bisher nur auf Landesebene: - Baden-Württemberg: 1956 – 1960 Gebhard Müller II (CDU)/Kiesinger I. - Berlin: 1946 – 1949 Magistrat (Groß-Berlin) Otto Ostrowski/Ernst Reuter/Louise Schroeder (alle SPD); 1948 – 1951 Magistrat (West-Berlin) Reuter; 1951 – 1953 Senat Reuter; 1959 – 1963 Brandt II. - Niedersachsen: 1947 – 1948 Hinrich Wilhelm Kopf II (SPD). - Rheinland-Pfalz: 1947 – 1948 Peter Altmeier I (CDU).

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1. Kap.: Einleitung Tabelle 1 Große Koalitionen und ihre parteipolitische Zusammensetzung in Bund und Ländern82

Koalitionspartner

Anzahl der Großen Koalitionen insgesamt

Darunter Große Koalitionen mit weiteren Fraktionen

CDU und/oder CSU und SPD

20

3

SPD und CDU

15

3

CDU und DPS/FDP

1

1

SPD und DIE LINKE

1



SPD und BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN

1



BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und CDU

1



c) Qualifizierte Große Koalition Große Koalitionen lassen sich in verschiedene Erscheinungsformen differenzieren:83 Neben der Möglichkeit, Große Koalitionen anhand ihrer parteipolitischen Zusammensetzung oder der Anzahl zugehöriger Fraktionen zu unterscheiden, liegt es im Rahmen dieser Arbeit nahe, Große Koalitionen im Hinblick auf ihre parlamentarischen Mehrheitsverhältnisse zu differenzieren.84 Im Mittelpunkt der vor82 Generell zur Zählweise: Große Koalitionen sind Regierungsbündnisse zwischen den beiden stärksten Fraktionen (und gegebenenfalls weiteren Fraktionen), keine Allparteienbündnisse. Kurzfristige Übergangsphasen werden ebenso wenig wie Koalitionsweiterführungen unter einem neuen Regierungschef als neue Koalition gewertet, wohingegen eine Weiterführung der Koalition nach der Wahl immer eine neue Koalition darstellt. Es wird bezüglich der Sitzverteilung stets auf den Beginn der Legislaturperiode abgestellt, spätere Änderungen nach vorliegender Zählweise also nicht mit einbezogen. Die Daten beziehen nur Koalitionsbildungen nach den ersten Wahlen ein, d.h. keine nach dem Zweiten Weltkrieg ernannten Regierungen. Zu beachten ist, dass die Zahlen nicht offenlegen, wie lange eine Regierung im Amt ist. Die Reihenfolge der angegebenen Bündnispartner verdeutlicht, welcher Koalitionspartner mandatsstärker ist und damit in aller Regel den Posten des Regierungschefs besetzt. Die Statistik basiert auf Datenmaterial aus Schindler, Datenhandbuch zur Geschichte des Deutschen Bundestages 1949 bis 1999, S. 1439 ff. Aktuellere Zahlen sind stets der Internetseite des Deutschen Bundestages oder des jeweiligen Landesparlaments entnommen. 83 Zu den verschiedenen Formen Strohmeier, ZPol. 19 (2009), 5 (8 f.). 84 Theoretisch ist ein Regierungsbündnis möglich, an dem zwar beide mandatsstärksten Fraktionen beteiligt sind, aber eine absolute Mehrheit verfehlt wird. Eine solche Große Koalition müsste dann entweder mit Unterstützung eines dritten Koalitionspartners regieren oder eine geduldete Minderheitsregierung stellen. Ein Bündnis der beiden stärksten Fraktionen ohne Parlamentsmehrheit gab es bisher jedoch noch nicht in der Bundesrepublik. Große Koalitionen können wie in der Einleitung beschrieben aus Fraktionen bestehen, von denen schon eine Fraktion allein die absolute Mehrheit besitzt und ein Austritt des Koalitionspartners nicht zwingend zum Verlust der absoluten Mehrheit führt (auch „unechte Koalition“, Jun, Koaliti-

B. Fragestellung

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liegenden Arbeit steht das Parlament in Zeiten einer qualifizierten Großen Koalition85 (auch „qualifiziert“86 Große Koalition). So nennt Pascale Cancik das Phänomen einer Großen Koalition, die so mandatsstark ist, dass die Wahrnehmung der ausdrücklich im Grundgesetz geregelten Quorenrechte87 für die Opposition aus eigener Kraft unmöglich wird. Eine qualifizierte Große Koalition ist bei derzeitiger Verfassungslage also eine Große Koalition, die gemeinsam mehr als drei Viertel der Parlamentsmandate auf sich vereint.88 Aus dieser parlamentarischen Mehrheitskonstellation resultieren im Wesentlichen die verfassungsrechtlichen Fragen der vorliegenden Arbeit.89 Die Begriffsverwendung „qualifizierte Großen Koalition“ ist jedoch nur mit einer zusätzlichen Erläuterung nachvollziehbar. Denn unter dem Begriff kann z.B. auch eine Große Koalition mit Zweidrittelmehrheit verstanden werden. Eine solche führt aber nicht einmal zwingend dazu, dass die Opposition die Minderheitenrechte mit einem Drittelquorum verfehlt.90 Neben dem Begriff der qualifizierten Großen Koalition wurden andere rechtliche Begrifflichkeiten in die Debatte eingebracht, die jedoch ebenfalls Schwächen aufzeigen: Für Lars Brocker steht die „nicht qualifizierte parlamentarische Opposition“91 im Fokus. Er nutzt die umgekehrte Perspektive. Auch hier bedarf es einer ergänzenden Erklärung, um klarzustellen, dass die Opposition sich weder für das Drittelquorum noch für das Viertelquorum „qualifizierte“. Dennoch zielt der Begriff treffender auf das dahinterstehende verfassungsrechtliche Problem ab, nämlich auf die in ihrer Wirkungsweise eingeschränkte parlamentarische Opposition. Unbestritten gängiger allerdings als die Beschreibung der Opposition ist die Betitelung der politisch-faktisch gestaltungsfähigen Regierungsmehrheit (Große Koalition, rot-grüne Koalition, „Jamaika-Koalition“ etc.). Insofern fügt sich Canciks qualifizierte Große Koalition besser ein. Der Begriff onsbildung in den deutschen Bundesländern, S. 32). Auf Bundesebene gab es diesen Fall bisher nicht: Die DP war von 1957 bis 1960 lediglich „Juniorpartner“ der CDU/CSU-Fraktion, die eine absolute Mehrheit im Parlament erreichte. Auf Landesebene gab es eine solche Koalition mehrmals, vor allem in Berlin: - Bayern: 1946 – 1947 Hans Ehard I (CSU). - Berlin: 1948 – 1951 Magistrat (West-Berlin) Reuter II als Allparteienregierung; 1955 – 1957 Otto Suhr (SPD) und 1957 – 1959 Brandt I; 1959 – 1963 Brandt II als Allparteienregierung. - Bremen: 1955 – 1959 Wilhelm Kaisen V (SPD). 85 Cancik, NVwZ 2014, 18. 86 Dies., ZParl. 48 (2017), 516 (516 Fn. 2). 87 Sofern das Fünf-Prozent-Quorum des § 76 Abs. 1 GO-BT als Verfassungskonkretisierung des Initiativrechts nach Art. 76 Abs. 1 GG verstanden wird, ist es jedenfalls kein ausdrücklich bestimmtes Grundgesetzquorum. Auch das Antragsrecht einer Fraktion im Organstreitverfahren stellt kein Quorenrecht dar, es handelt sich um ein Fraktionsrecht. 88 Cancik, ZParl. 48 (2017), 516 (516 Fn. 2). 89 Theoretisch sind auch „qualifizierte Kleine Koalitionen“ möglich. Praxisnah sind solche Konstellationen in der Bundesrepublik nicht, daher soll dieser Hinweis genügen. 90 Verfügt eine Koalition über exakt zwei Drittel der Mandate, erreicht die Opposition noch das Drittelquorum. 91 Brocker, DÖV 2014, 475 (475); er spricht dort auch von einer „,ganz großen‘ Koalition“.

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1. Kap.: Einleitung

„verfassungsändernde Koalition“92 lässt offen, ob auch die Dreiviertelmehrheit erreicht wird; zudem ignoriert er die notwendige Bundesratsmehrheit für Verfassungsänderungen. Die Begriffe „oppositionsentrechtende“93, „minderheitsentrechtende“94 oder schlicht „entrechtende Koalition“95 sind nicht tauglich, das oben erwähnte Phänomen zu beschreiben. Sie blenden vor allem die Existenz von nichtquorumabhängigen Minderheitenrechten aus. Letztlich ist also keiner der aufgeführten Begriffe uneingeschränkt passend. Obwohl Bezeichnungen wie „Große Koalition mit mehr als drei Viertel der Stimmen“ oder „Opposition ohne 25 % der Mandate“ in der Sache treffender sind, gelingt es Cancik eine sprachlich angemessene Lösung zu finden, der sich im Folgenden angeschlossen wird. Denknotwendig gibt es auch eine nicht-qualifizierte Große Koalition, bei der mindestens die beiden mandatsstärksten Fraktionen über eine Regierungsmehrheit, aber nicht über eine Dreiviertelmehrheit verfügen. Im Rahmen einer nicht-qualifizierten Großen Koalition erreichen die Oppositionsfraktionen in ihrer Gesamtheit mindestens einen Teil der verfassungsrechtlichen Minderheitenquoren. Hinter dem Begriff der qualifizierten Großen Koalition steht das Phänomen einer außergewöhnlich mandatsstarken Koalition und mandatsschwachen Opposition. Der Begriff ist grundsätzlich auch geeignet, das Phänomen auf Landesebene zu beschreiben. In manchen Landesverfassungen existieren jedoch auch Quoren, die ein Fünftel der Stimmen aller Abgeordneten des jeweiligen Landesparlaments für die Ausübung eines Minderheitenrechts verlangen, insbesondere für das Enqueterecht.96 In diesen Fällen ist eine Große Koalition auf Landesebene erst dann qualifiziert, wenn die Opposition auch das Fünftelquorum verfehlt. Ausgeblendet werden dagegen die spezifischen landesverfassungsrechtlichen Quorenrechte,97 die nur einen Bruchteil der Parlamentsstimmen für ihre Geltendmachung verlangen, z.B. vier Abgeordnete (Art. 25 Abs. 1 Satz 1 Verf. Mecklenburg-Vorpommern) oder fünf Prozent der Abgeordneten (Art. 40 Abs. 1 Satz 1 Verf. Berlin). Hiermit sind insbesondere die landesverfassungsrechtlichen Quoren gemeint, die die Mindestanzahl an Mitgliedern einer Fraktion ausdrücklich auf fünf Prozent aller Abgeordneten im

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Leisner, DÖV 2014, 880 (881). Zu finden im Antrag vom Prozessbevollmächtigten Hans-Peter Schneider zur Einleitung des Organstreitverfahrens, abgedruckt in ders./Schwarz, Parlamentarische Opposition zwischen Effektivität und Egalität, S. 68. 94 Ders. im Antrag zur Einleitung des Organstreitverfahrens, abgedruckt in ders./Schwarz, Parlamentarische Opposition zwischen Effektivität und Egalität, S. 43. 95 Ders. im Antrag zur Einleitung des Organstreitverfahrens, abgedruckt in ders./Schwarz, Parlamentarische Opposition zwischen Effektivität und Egalität, S. 66; vom Bundesverfassungsgericht zitiert in BVerfGE 142, 25 (62). 96 Siehe z.B. Art. 64 Abs. 1 Satz 1 Verf. Thüringen. Vgl. auch Morlok, in: Dreier, GG, Bd. 2, Art. 44 Rn. 7 Fn. 32. 97 Auch die landesverfassungsrechtlichen Fraktionsrechte werden ausgeblendet, Fraktionsrechte sind keine Quorenrechte. Art. 57 Abs. 2 Satz 2 Verf. Thüringen regelt z.B. für das Einberufungsrecht ausnahmsweise ein Fraktionsrecht. 93

B. Fragestellung

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Parlament beziffern.98 Das Recht, sich zu einer Fraktion zusammenzuschließen, ist (auch) ein Minderheitenrecht. Der Begriff der qualifizierten Großen Koalition soll jedoch insbesondere die verminderten Wirkungsmöglichkeiten der Opposition aufzeigen, wenn sie das Einberufungs- und Enqueterecht sowie die Möglichkeit eines Normenkontrollantrages aus eigener Kraft nicht wahrnehmen kann. Existieren also auf Landesebene verfassungsrechtliche Quorenrechte, die z.B. fünf Prozent der Stimmen in Bezug auf andere Minderheitenrechte für ihre Geltendmachung verlangen, hat dies keinen Einfluss auf die Zuordnung qualifizierte/nicht qualifizierte Große Koalition. Nur eine solche Differenzierung und Zählweise ist problemorientiert. Qualifizierte Große Koalitionen sind also auch auf Landesebene je nach Verfassungslage und (Nicht-)Vorhandensein von Fünftelquoren Bündnisse, die mehr als 75 % bzw. 80 % der Abgeordneten erfassen.

II. Große Koalitionen als politische Sonderkonstellation 1. „Große Koalitionen“ vor 1945 Koalitionen sind so alt wie Parlamente. Es handelt sich um Allianzen zum Zwecke der Mehrheitsfindung. In Zeiten der Frankfurter Nationalversammlung gründeten sich nicht nur die Vorgänger der heutigen Fraktionen, die sogenannten Abgeordnetenklubs, benannt nach ihren Vereinslokalen. Es bildeten sich auch schon Koalitionen zwischen ihnen.99 Im Februar 1849 bildete sich sogar ein aus rechteren Klubs und der Vereinigten Linken bestehendes „großdeutsches Bündnis“.100 Im Kaiserreich gab es keine festen Koalitionen. Der Kaiser ernannte den Reichskanzler, der in der Regel auf wechselnde politische Mehrheiten setzte. Nach dem Übergang zum parlamentarischen Regierungssystem der Weimarer Republik kam es während der Reichskanzlerschaft Gustav Stresemanns (DVP) von August bis November 1923 sowie Hermann Müllers (SPD) von 1928 bis 1930 zu Koalitionen zwischen SPD, DDP, Zentrum und DVP,101 die angesichts der Vielzahl von Bündnispartnern auch Große Koalitionen genannt wurden.102 Die rechtskonservative und systemoppositionelle DNVP war während dieser Regierungszeiten zweitstärkste Fraktion im Weimarer Reichstag (die linkssozialistische USPD war zwar nach der Reichstags98

Siehe z.B. Art. 47 Abs. 1 Satz 1 Verf. Sachsen-Anhalt. Zur Entstehung von Fraktionen Hauenschild, Wesen und Rechtsnatur der parlamentarischen Fraktionen, S. 23 ff.; Mardini, Die Finanzierung der Parlamentsfraktionen durch staatliche Mittel und Beiträge der Abgeordneten, S. 32 ff.; vgl. auch anschaulich Metz, Die Entscheider, Das Parlament vom 2. 10. 2017, S. 7. 100 Zuvor gab es bereits Bündnisse zwischen „Casino“, „Landsberg“ und „Augsburger Hof“ sowie den „Erbkaiserlichen“. 101 Die Koalition von 1928 bis 1930 bestand sogar aus fünf Parteien, ihr gehörte auch die BVP an. 102 Vgl. nur den Buchtitel bei Schmid, Die Große Koalition unter Hermann Müller (1928 – 1930). 99

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1. Kap.: Einleitung

wahl 1920 zweitstärkste Fraktion, verlor aber bis 1922 einen Großteil ihrer Mitglieder). Die „Großen Koalitionen“ der Weimarer Republik waren Zweckbündnisse im fragmentierten Parteiensystem, die die Republik nicht generell ablehnten. Diese Mehrparteienbündnisse waren aber wie die anderen Koalitionen der „Republik ohne Republikaner“ ebenfalls nur von kurzer Dauer.103

2. Große Koalitionen in Bund und Ländern seit 1945 Die Bundesrepublik erlebte ihre erste (qualifizierte) Große Koalition auf Bundesebene wie eingangs erwähnt von 1966 bis 1969 unter Bundeskanzler Kiesinger. Während CDU/CSU und SPD zusammen auf 468 Parlamentssitze kamen, erhielt die FDP als einzige Oppositionsfraktion lediglich 50 der 518 Parlamentsmandate (9,7 %).104 Nach der programmatischen Wende der SPD, eingeleitet durch das Godesberger Programm von 1959,105 Koalitionsverhandlungen nach der Bundestagswahl 1961 und Spekulationen um ein Bündnis zwischen CDU, CSU und SPD während der Spiegelaffäre 1962,106 kam es nach dem Wahlerfolg Erhards 1965 zunächst zur „üblichen“ Kleinen Koalition mit der FDP. Erst als es nach der verlorenen Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen im Sommer 1966 zu einem Zerwürfnis zwischen CDU/CSU und FDP über den Bundeshaushalt kam und die SPD darüber hinaus die Chance eines sozialliberalen Bündnisses (noch) verstreichen ließ, war der Weg frei für ein schwarzrotes Bündnis im Bund.107 Kiesinger folgte Erhard in das Bonner Palais Schaumburg und wurde erster Bundeskanzler einer Großen Koalition. Während der ersten Kanzlerschaft Merkels und der (nicht-qualifizierten) Großen Koalition von 2005 bis 2009108 erreichten die Oppositionsfraktionen in ihrer Gesamtheit zumindest das Viertelquorum und somit die Minderheitenenquete i.S.v. Art. 44 Abs. 1 Satz 1 GG.109 Die Fraktionen von FDP, PDS bzw. ab 2007 103 Vgl. Probst, ZParl. 37 (2006), 626 (627). Zu den Großen Koalitionen in der Weimarer Republik ausführlicher März, in: Jesse/Klein, Das Parteienspektrum im wiedervereinigten Deutschland, S. 122 ff. 104 Bis 1990 sind auch die weitestgehend nicht-stimmberechtigten Berliner Abgeordneten einbezogen. 105 Schneider, Große Koalition, S. 18 ff. 106 Ders., Große Koalition, S. 22 ff. 107 Eine Chronik der Bemühungen um eine Große Koalition ist zu finden bei Schindler, Datenhandbuch zur Geschichte des Deutschen Bundestages 1949 bis 1999, S. 1135 ff.; zum langen Weg der Großen Koalition von 1966 bis 1969 Haselwanter-Schneider, Die Kunst des Kompromisses: Helmut Schmidt und die Große Koalition, S. 19 ff. 108 Vgl. hierzu Seemann/Bukow, in: dies., Die Große Koalition, S. 22 ff.; insgesamt bilanzierend z.B. Schabedoth, Angela Merkel – Regieren mit SPD und Union und Dittberner, Große Koalition – kleine Schritte. 109 Die Opposition verfehlte das Drittelquorum des Art. 39 Abs. 3 Satz 3 GG. Das Quorum der abstrakten Normenkontrolle wurde erst am 1. Dezember 2009 von einem Drittel auf ein Viertel der Bundestagsabgeordneten heruntergesetzt und daher ebenfalls verfehlt; siehe BGBl. 2008 I S. 1926.

B. Fragestellung

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DIE LINKE und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN erhielten 166 der 614 Parlamentssitze (27,0 %). Die Anzahl der Fraktionen im Parlament wuchs also seit der ersten Großen Koalition von drei auf fünf an. Die Bundespolitik der rot-grünen Regierung wurde nach der umstrittenen Agenda 2010 bei vielen Landtagswahlen zum entscheidenden Wahlkampfthema. Die Koalitionsparteien im Bund büßten an Zustimmung ein. Nach der verlorenen Landtagswahl von Nordrhein-Westfalen 2005 stellte Bundeskanzler Gerhard Schröder (SPD) eine auflösungsgerichtete Vertrauensfrage im Parlament, es kam zu Neuwahlen: CDU/CSU und FDP verfehlten eine Mehrheit, ein Dreierbündnis links von der Mitte zwischen SPD, PDS und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN wurde ausgeschlossen. Die elektorale Pattsituation führte zur zweiten Großen Koalition. Auch die dritte (qualifizierte) Große Koalition zwischen CDU/CSU und SPD von 2013 bis 2017 war das Ergebnis einer parlamentarischen Pattsituation. Der Wahlabend am 22. September 2013 brachte einen klaren Ausgang: Die Schwesterparteien CDU und CSU erzielten das beste Resultat seit 1990, die SPD ihr bis dahin zweitschwächstes Ergebnis in der bundesdeutschen Nachkriegsgeschichte. Zur Fortsetzung einer Kleinen Koalition zwischen den Unionsparteien und den Liberalen kam es dennoch nicht, da die FDP erstmals seit Gründung der Bundesrepublik den Einzug in den Bundestag verpasste. SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN erhielten keine Mehrheit, DIE LINKE wurde ein weiteres Mal als koalitionsunfähig angesehen. Es kam schließlich zu Koalitionsverhandlungen zwischen CDU, CSU und SPD. Doch erst am 16. Dezember 2013 unterzeichneten die drei Parteien den Koalitionsvertrag „Deutschlands Zukunft gestalten“. Damit besiegelten sie das dritte großkoalitionäre Bündnis im Bundestag. Die zurückliegende Große Koalition der 18. Wahlperiode unter Bundeskanzlerin Merkel von 2013 bis 2017 stellte wiederum eine qualifizierte Große Koalition dar, bei der die Regierungsmehrheit die Opposition auf 127 der 631 Parlamentssitze (20,1 %) reduzierte. Zur vierten (nicht-qualifizierten) Großen Koalition, wiederum einem Bündnis zwischen CDU/CSU und SPD, kam es nach der vergangenen Bundestagswahl 2017. Der Einzug von sieben Parteien in den Deutschen Bundestag erschwerte die Koalitionsfindung ebenso wie die hohen Stimmverluste der Koalitionsfraktionen der zurückliegenden 18. Wahlperiode. Infolgedessen dauerte sie länger als jemals zuvor in der Geschichte der Bundesrepublik. Nach der Absage der SPD an eine Koalition mit CDU und CSU noch am Wahlabend, begannen Gespräche zwischen CDU, CSU, FDP und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN. Zur ersten „Jamaika“-Koalition auf Bundesebene kam es jedoch nicht. Nach Vermittlungsgesprächen mit Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier einigten sich CDU, CSU und SPD entgegen ursprünglicher und anhaltender Bedenken vor allem auf Seiten der Sozialdemokraten auf Sondierungs- und Koalitionsgespräche, die dann auch in einem Koalitionsvertrag mündeten. Nachdem die Mitglieder der SPD wie schon 2013 über den Koalitionsvertrag abstimmten, wählten die beiden Koalitionsfraktionen Merkel erneut zur Bundeskanzlerin. Erstmals in der Geschichte der Bundesrepublik folgen damit zwei Große Koalitionen aufeinander. Die aus vier Fraktionen (und Fraktionslosen) bestehende

46

1. Kap.: Einleitung

Opposition vereint in der aktuellen Wahlperiode 43,7 % auf sich, 310 von 709 Bundestagsmandaten. Vor 1966 hatten bereits einige Bundesländer das Modell eines großkoalitionären Bündnisses getestet. Bis zum Regierungsantritt Kiesingers am 1. Dezember 1966 bildeten sich in der Koalitionslandschaft der alten Bundesländer immerhin schon zwölf Landeskabinette, die von einem parlamentarischen Bündnis mit Beteiligung der beiden mandatsstärksten Fraktionen getragen wurden. Darüber hinaus brachten gerade die Nachkriegsjahre einige Allparteienregierungen hervor, insgesamt sieben. Seit 1963 sind sie aus der Koalitionslandschaft der Bundesrepublik verschwunden.110 Die allermeisten Großen Koalitionen waren Bündnisse mit Beteiligung von CDU bzw. CSU und SPD. Es kam bisher zu vier Großen Koalitionen auf Landesebene, die nicht der traditionellen Zusammensetzung mit CDU bzw. CSU und SPD als mandatsstärkste Fraktionen entsprachen: Eine erste zahlenmäßig Große Koalition mit Beteiligung einer anderen Fraktion gab es mit dem Beitritt des Saarlands 1957. Nach dem Rücktritt Hubert Neys (CDU) als Ministerpräsident und der Rückkehr zweier DPS-Minister in das Kabinett, führte Egon Reinert (CDU) ab dem 4. Juni 1957 bis zu seinem Tod 1959 ein Dreierbündnis zwischen CDU, DPS (später FDP) und SPD an. Bei der Landtagswahl 1955111 erhielt die DPS nach der CDU die zweitmeisten Stimmen. Zunächst wurde zwar der CVP ein Sitz mehr zuerkannt als der DPS. Doch die saarländische Verfassungskommission erkannte diesen CVP-Sitz aufgrund einer verfassungswidrigen Vorschrift im Landeswahlgesetz des Saarlandes am 19. April 1956 der DPS zu, sodass es sich auch formal um eine Große Koalition handelte.112 Weitere „untypische“ Große Koalitionen gab es von 2009 bis 2014 in Brandenburg mit einem Bündnis zwischen SPD und DIE LINKE und von 2011 bis 2015 in Bremen mit einem Bündnis zwischen SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN. Seit 2016 existiert in Baden-Württemberg ein großkoalitionäres Bündnis zwischen BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und CDU. Derzeit gibt es drei Große Koalitionen auf Landesebene, das grün-schwarzes Bündnis in Baden-Württemberg, ein rot-schwarzes Bündnis in Niedersachsen und ein schwarz-rotes Bündnis im Saarland. In Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen und Sachsen-Anhalt koalieren zwar CDU und SPD, doch ist in MecklenburgVorpommern und Sachsen-Anhalt die AfD und in Sachsen DIE LINKE zweitstärkste Fraktion im Landesparlament. Landesweit sind erhebliche Unterschiede hinsichtlich der Häufigkeit von Großen Koalitionen festzustellen: In den alten 110

Siehe die Auflistung in 1. Kapitel Fn. 81. Die Wahl von 1955 war die letzte im Protektorat Frankreichs, bevor das Saarland am 1. Januar 1957 der Bundesrepublik beitrat. 112 Entscheidung der Verfassungskommission des Saarlandes zu dem Antrag verschiedener Abgeordneter vom 13. Januar 1956 betreffend die Prüfung der Verfassungsmäßigkeit von § 2 Abs. 2 LWahlG Saarland 1955 vom 19. April 1956; siehe die Vorschrift im Amtsblatt des Saarlandes 1955 Nr. 139 S. 1613; siehe vertiefend einen Antrag auf Bestätigung des Mandats, Bes-Akt./3. Wahlperiode, Nr. 52; ferner eine Anfechtung der Abgeordneten Maria Schweitzer (CVP), Bes-Akt./3. Wahlperiode, Nr. 64. Alle Dokumente sind zu finden im Archiv des saarländischen Landtages. 111

B. Fragestellung

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Bundesländern Baden-Württemberg, Berlin, Bremen und Niedersachsen kam es zu jeweils fünf Großen Koalitionen; in Hamburg und den neuen Bundesländern Sachsen-Anhalt und Sachsen gab es bisher hingegen keine Große Koalition. Aufzählung: Von Großen Koalitionen getragene Landesregierungen113 Baden-Württemberg: Landesregierung • 1953 – 1956 Gebhard Müller I (CDU), CDU+SPD+FDP/DVP+GB/BHE • 1966 – 1968 Hans Filbinger I (CDU), CDU+SPD • 1968 – 1972 Filbinger II, CDU+SPD • 1992 – 1996 Erwin Teufel II (CDU), CDU+SPD • seit 2016 Winfried Kretschmann II (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN), BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN+CDU Bayern: Staatsregierung • 1946 – 1947 Hans Ehard I (CSU), CSU+SPD, erst auch WAV • 1950 – 1954 Ehard III, CSU+SPD Berlin: Magistrat (Groß- und West-Berlin), seit 1951 Senat • 1955 – 1957 Otto Suhr (SPD) und 1957 – 1959 Brandt I, SPD+CDU • 1991 – 1996 Eberhard Diepgen III (CDU), CDU+SPD • 1996 – 1999 Diepgen IV, CDU+SPD • 1999 – 2001 Diepgen V, CDU+SPD • 2011 – 2014 Klaus Wowereit IV (SPD) und 2014 – 2016 Michael Müller I (SPD), SPD+CDU Brandenburg: Landesregierung • 1999 – 2002 Manfred Stolpe III (SPD) und 2002 – 2004 Matthias Platzeck I (SPD), SPD+CDU • 2009 – 2013 Platzeck III und 2013 – 2014 Dietmar Woidke I (SPD), SPD+DIE LINKE Bremen: Senat • 1955 – 1959 Wilhelm Kaisen V (SPD), SPD+CDU+FDP • 1995 – 1999 Henning Scherf I (SPD), SPD+CDU • 1999 – 2003 Scherf II, SPD+CDU 113 Die Aufzählung basiert auf Datenmaterial aus Schindler, Datenhandbuch zur Geschichte des Deutschen Bundestages 1949 bis 1999, S. 1439 ff. Die Koalitionsbildungen in Bayern und Hessen nach den Landtagswahlen 2018 konnten nicht mehr berücksichtigt werden.

48

1. Kap.: Einleitung

• 2003 – 2005 Scherf III und 2005 – 2007 Jens Böhrnsen I (SPD), SPD+CDU • 2011 – 2015 Böhrnsen III, SPD+BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Hessen: Landesregierung • 1947 – 1951 Christian Stock (SPD), SPD+CDU Mecklenburg-Vorpommern: Landesregierung • 1994 – 1998 Berndt Seite II (CDU), CDU+SPD • 2006 – 2008 Harald Ringstorff III (SPD) und 2008 – 2011 Erwin Sellering I (SPD), SPD+CDU • 2011 – 2016 Sellering II, SPD+CDU Niedersachsen: Landesregierung • 1948 – 1950 Hinrich Wilhelm Kopf III (SPD), SPD+CDU, zunächst auch DP+FDP+Zentrum • 1957 – 1959 Heinrich Hellwege II (DP), SPD+CDU+DP • 1965 – 1967 Georg Diederichs III (SPD), SPD+CDU • 1967 – 1970 Diederichs IV, SPD+CDU • seit 2017 Stephan Weil II (SPD), SPD+CDU Nordrhein-Westfalen: Landesregierung • 1947 – 1950 Karl Arnold I (CDU), CDU+SPD+Zentrum+KPD Rheinland-Pfalz: Landesregierung • 1948 – 1951 Peter Altmeier I (CDU), CDU+SPD Schleswig-Holstein: Landesregierung • 2005 – 2009 Peter Harry Carstensen I (CDU), CDU+SPD Saarland: Landesregierung • 1957 – 1959 Reinert I (CDU), CDU+DPS/FDP+SPD • 2012 – 2017 Annegret Kramp-Karrenbauer II (CDU), CDU+SPD • seit 2017 Kramp-Karrenbauer III, CDU+SPD Thüringen: Landesregierung • 1994 – 1999 Bernhard Vogel II (CDU), CDU+SPD Zusammenfassend ergibt sich folgendes Bild der Großen Koalition in Bund und Ländern seit 1945: Im Bund waren vier der insgesamt 21 Regierungsbündnisse

B. Fragestellung

49

Große Koalitionen, darunter waren zwei qualifizierte Große Koalitionen.114 Alle vier großkoalitionären Bündnisse bestanden aus zwei Fraktionen. Auf Landesebene gab es anders als im Bund auch Alleinregierungen, insgesamt 76. Fast jede dritte Landesregierung wurde folglich von einer einzigen Fraktion im Parlament getragen (30,3 %). Hinzukommen 175 Koalitionen, die sieben Allparteienbündnisse mit inbegriffen. 133 dieser bisherigen Regierungsbündnisse waren Kleine Koalitionen. Es gab 35 Große Koalitionen (Tabelle 2), davon waren 19 qualifiziert. Sieben der großkoalitionären Bündnisse setzten noch auf mindestens einen dritten Koalitionspartner, waren aber keine Allparteienbündnisse. Bemerkenswert ist auch die zeitliche Verteilung der 39 Großen Koalitionen auf Bundes- und Landesebene. Die erste Große Koalition in der Bundesrepublik bildete sich 1946 in Bayern (sic!) unter Ministerpräsident Hans Ehard. Obwohl die CSU die absolute Mehrheit der Landtagsmandate errang, kam es zu einem kurzzeitigen Bündnis zwischen CSU, SPD und zunächst auch WAV. In den Nachkriegsjahren bis einschließlich 1949 bildeten sich insgesamt bereits fünf Große Koalitionen. Diese Zahl wurde in den 1950er Jahren nur knapp übertroffen (sechs). In den 1960er Jahren kam es ebenfalls zu fünf Großen Koalitionen. Alle sieben Großen Koalitionen, die von den beiden mandatsstärksten Fraktionen und mindestens einer zusätzlichen Fraktion getragen wurden, aber keine Allparteienbündnisse waren, fallen in diesen Zeitraum. Auffällig ist außerdem, dass die frühen Großen Koalitionen der Bundesrepublik verhältnismäßig kürzer Bestand hatten, etwa weil sie zerfielen oder weil sie erst im Laufe der Wahlperiode zusammenkamen. In den 1970er und 1980er Jahren bildete sich keine einzige neue Große Koalition. Dieser abrupte Rückgang großkoalitionärer Bündnisse wurde erst 1991 durch die Bildung einer Großen Koalition in Berlin unter dem Regierenden Bürgermeister Eberhard Diepgen gestoppt. Es handelte sich um das erste großkoalitionäre Bündnis seit der Großen Koalition zwischen CDU und SPD unter Hans Filbinger in Baden-Württemberg Ende der 1960er Jahre. Darüber hinaus brachten die 1990er Jahre weitere Große Koalitionen in den Bundesländern hervor, insgesamt neun und damit – auch aufgrund der höheren Anzahl von Bundesländern seit der Wiedervereinigung – so viele wie nie zuvor innerhalb einer Dekade. Von 2000 bis einschließlich 2009 bildeten sich fünf Große Koalitionen, darunter auch die zweite Große Koalition auf Bundesebene. In jüngster Vergangenheit stieg die Zahl Großer Koalitionen wieder deutlich an, seit 2010 kam es bereits zu neun großkoalitionären Regierungsbildungen, inklusive der dritten und vierten Großen Koalition auf Bundesebene. Die zeitliche Verteilung der Großen Koalitionen auf Landes- und Bundesebene ist ungleichmäßig. Aussagekräftige 114

Neben den 19 Koalitionsbildungen nach einer Bundestagswahl gab es sowohl 1966 als auch 1982 einen Koalitionswechsel, sodass es bis zur 19. Wahlperiode insgesamt 21 Koalitionen gab. Die veränderten Koalitionsverhältnisse in der 2. Wahlperiode durch das Ausscheiden von GB/BHE und FDP aus der Regierungskoalition wurden nicht jeweils als neue Koalitionsbildung gewertet. 17 der insgesamt 21 Bundesregierungen wurden von einer Kleinen Koalition getragen, wobei entweder die CDU/CSU- oder die SPD-Fraktion mit mindestens einer weiteren Fraktion koalierte. Koalitionspartner waren bisher DP, FDP, FVP, GB/BHE, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN.

50

1. Kap.: Einleitung

langfristige Tendenzen lassen sich aus den Zahlen nicht ablesen. Es gab in der Vergangenheit Phasen mit vielen Großen Koalitionen, wenigen und keinen. Die Zahlen bestätigen aber, dass Große Koalitionen sowohl in Parlamenten mit wenigen Fraktionen (vier oder weniger) als auch in solchen mit mehr Fraktionen (mehr als vier) vorkommen. Am häufigsten sind Große Koalitionen in der Bundesrepublik in Fünf-Fraktionen-Parlamenten, doch knapp die Hälfte der Großen Koalitionen bildete sich auch in Parlamenten mit vier oder weniger Fraktionen. Das vermehrte Aufkommen und die zeitlich reduzierten Intervalle zwischen den Großen Koalitionen in jüngster Vergangenheit verdeutlichen jedenfalls die Aktualität der mit Großen Koalitionen verbundenen Verfassungsfragen. Große Koalitionen sind verhältnismäßig häufiger auf Bundesebene anzutreffen als auf Landesebene (dies galt auch schon vor der 19. Wahlperiode): Die Häufigkeit einer Großen Koalition auf Bundesebene liegt derzeit bei 19,0 %, auf Landesebene bei 13,9 %. Sie hat folglich auf beiden föderalen Ebenen Ausnahmecharakter: Nur etwa jede fünfte Bundesregierung und jede siebte Landesregierung in Deutschland werden von einer Großen Koalition im Parlament getragen. 21 der insgesamt 39 Großen Koalitionen waren qualifiziert. Tabelle 2 Von der Alleinregierung bis zum Allparteienbündnis in Bund und Ländern115 Bund und AlleinreKoalitionen Länder gierungen Insgesamt Kleine AllGroße Koalitionen Koalitionen NichtQualifiqualifiziert ziert

Bund



21

17

2

parteienbündnisse

2



19

7

4

1

4 Länder

76

175

133

16

BadenWürttemberg

5

13

7

1

Bayern

13

6

4

1

1



Berlin

2

21

12

4

1

4

Brandenburg

1

5

3

2





Bremen

5

14

9

2

3



Hamburg

9

13

13







Hessen

5

14

13



1



MecklenburgVorpommern



7

4

3





35

115 Das Datenmaterial stammt im Wesentlichen aus Schindler, Datenhandbuch zur Geschichte des Deutschen Bundestages 1949 bis 1999, S. 1439 ff.

B. Fragestellung Bund und Länder

51

AlleinreKoalitionen gierungen Insgesamt Kleine Große Koalitionen Koalitionen Nichtqualifiziert

Qualifiziert

Allparteienbündnisse

Niedersachsen

6

19

13

1

4

1

NordrheinWestfalen

4

15

14



1



Rheinland-Pfalz

5

13

11



1

1

Sachsen-Anhalt

1

6

6







SchleswigHolstein

9

11

10



1



Saarland

7

10

7

2

1



Sachsen

2

4

4







Thüringen

2

4

3



1



3. Überlegungen im Parlamentarischen Rat Die Kreationsfunktion des Bundestages stand in den Verhandlungen des Parlamentarischen Rates nach den Weimarer Erfahrungen vieler instabiler und kurzzeitiger Regierungen in einem besonderen Licht. Im Streit um das zukünftige Wahlrechtssystem – Verhältnis- oder Mehrheitswahlrecht – kam die mögliche Bildung von Regierungskoalitionen zur Aussprache: Die CDU trat aufgrund der „Koalitionsmisere“116 der Weimarer Republik als Fürsprecherin eines Mehrheitswahlrechts auf, das ein Zweiparteiensystem begünstigt. So hielt Carl Schröter (CDU) fest, dass es nicht bloß die Parteien seien, die sich in der Koalition verbrauchten, sondern die Demokratie als solche.117 Die Einführung eines Mehrheitswahlrechts scheiterte letztlich am Widerstand der SPD. Eine Einschränkung der Koalitionsmöglichkeiten im Rahmen eines politischen Systems mit Verhältniswahlrecht,118 z.B. durch ein Verbot Großer Koalitionen oder Allparteienbündnissen, hätte Mehrheitsfindungen nach einer Wahl zusätzlich erschwert. Der Wunsch nach stabilen Regierungen war im

116 Ottmar Bühler, Sachverständiger, in der neunten Sitzung des Ausschusses für Wahlrechtsfragen am 14. Oktober 1948, in: Wernicke/Booms (Hrsg.), Der Parlamentarische Rat 1948 – 1949, Bd. 6, S. 253. 117 Mit Blick auf „Weimar“ Schröter in der dritten Sitzung des Ausschusses für Wahlrechtsfragen am 23. September 1948, in: Wernicke/Booms (Hrsg.), Der Parlamentarische Rat 1948 – 1949, Bd. 6, S. 55. 118 Ausführlicher zum Verhältniswahlrecht und dessen Auswirkungen für die Regierungsbildung 1. Kapitel B. II. 4.

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1. Kap.: Einleitung

Zuge der historischen Erfahrungen groß, auch deshalb nimmt das Grundgesetz Große Koalitionen in Kauf. Für die Mitglieder des Parlamentarischen Rates war die Möglichkeit von Koalitionen zur Regierungsbildung von Anfang an präsent,119 ihnen war auch die Möglichkeit großkoalitionärer Regierungsbildungen bewusst. Sie musste sich den Anwesenden vor dem damaligen Erfahrungs- und Erwartungshorizont nach den ersten Großen Koalitionen und Allparteienbündnissen in den Ländern quasi aufdrängen. Bis 1949 gab es bereits in fünf Bundesländern aus demokratischen Wahlen hervorgegangene großkoalitionäre Regierungsbündnisse; in Berlin, Niedersachsen und Rheinland-Pfalz kam es ferner zu Allparteienbündnissen. Große Koalitionen waren wie Koalitionen insgesamt zwar nicht erwünscht,120 ihre Möglichkeit bei der Verfassungsgebung aber keinesfalls ungesehen. 4. Ursachen für die Bildung Großer Koalitionen Bei der Erforschung von Ursachen für politische Koalitionen handelt es sich um eine Suche nach plausiblen Begründungen für Koalitionsbildungen. Eine Gesamtschau bisheriger Großer Koalitionen und ihrer Umstände kann keine allgemeingültigen Gründe für großkoalitionäre Bündnisse hervorbringen, aber Muster skizzieren. In einem ersten Schritt gilt es, zwei systematische Ursachen für die regelmäßige Bildung von Koalitionen als solche zu dokumentieren: das Verhältniswahlrecht und die in der Bundesrepublik vorherrschende Abneigung gegen Minderheitsregierungen.121 Erstens fördert das personalisierte Verhältniswahlrecht der Bundesrepublik die Notwendigkeit der Koalitionsbildung.122 Das deutsche Verhältniswahlrecht als Grundlage für die Parlamentszusammensetzung führt zu einer starken Repräsentation gesellschaftlich-politischer Gruppen im Parlament. Die Chancen für mittlere und kleinere Parteien, Parlamentsmandate zu erlangen, sind im Rahmen des Verhältniswahlrechts größer als bei einem Mehrheitswahlrecht. Das Mehrheitswahl-

119 Siehe z.B. den Vortrag vom Sachverständigen Richard Thoma in der zweiten Sitzung des Ausschusses für Wahlrechtsfragen am 22. September 1948, in: Wernicke/Booms (Hrsg.), Der Parlamentarische Rat 1948 – 1949, Bd. 6, S. 23; auch Max Becker (FDP) in der achten Sitzung des Plenums am 24. Februar 1949, in: Wernicke/Booms (Hrsg.), Der Parlamentarische Rat 1948 – 1949, Bd. 9, S. 326. 120 Siehe nur die kritischen Aussagen zum Zwang zur Koalitionsbildung vom Vorsitzenden Becker in der dritten Sitzung des Ausschusses für Wahlrechtsfragen am 23 September 1948, in: Wernicke/Booms (Hrsg.), Der Parlamentarische Rat 1948 – 1949, Bd. 6, S. 63, oder vom Sachverständigen Hans Luther in der siebten Sitzung des Ausschusses für Wahlrechtsfragen am 5. Oktober 1948, in: Wernicke/Booms (Hrsg.), Der Parlamentarische Rat 1948 – 1949, Bd. 6, S. 173 ff. 121 Seemann/Bukow, in: dies., Die Große Koalition, S. 10. 122 Schüttemeyer, in: Nohlen, Lexikon der Politik, Bd. 7, S. 305.

B. Fragestellung

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recht fördert dagegen ein Zweiparteiensystem,123 in dem vor allem Große Koalitionen selten sind. Bei der Verhältniswahl ist der Erfolgswert124 der Stimmen im Gegensatz zur Mehrheitswahl gleich; dies gilt in der Bundesrepublik jedoch nur mit Einschränkung der Fünf-Prozent-Hürde. Auch die Fünf-Prozent-Hürde, die sich seit 1953 auf die bundesweit abgegebenen Stimmen bezieht, kann Einfluss auf die Koalitionsbildung haben.125 Sie kann Koalitionsbildungen einerseits erschweren und andererseits erst ermöglichen. Es bleibt jedoch spekulativ, ob Parteien, die die FünfProzent-Hürde verfehlt haben, an einer Regierungskoalition beteiligt würden oder nicht – zumindest sofern vorher keine glaubhaften Koalitionsaussagen getroffen wurden. Andersherum kann sich auch der überraschende Sprung einer Partei über die Sperrklausel auf die Koalitionsbildung auswirken.126 Zweitens ist eine politische Abneigung gegen Minderheitsregierungen in Deutschland zu konstatieren.127 Kurzzeitige Alleinregierungen ohne Mehrheit gab es auf Bundesebene nur in den Übergangsphasen 1966 und 1982, außerdem verlor die erste sozialliberale Koalition unter Brandt aufgrund von Fraktionswechseln hin zur Union bis 1972 ihre Mehrheit im Bundestag.128 Auch auf Landesebene gab es bisher nur wenige Minderheitsregierungen.129 Sie sind nicht nur unüblich, sondern politisch verpönt130 – Koalitionen sind der (gewünschte) Regelfall. Große Koalitionen sind aus politischer Sicht zumeist Notfallkoalitionen, selten Wunschkoalitionen. Auf die Gründe dafür ist in einem zweiten Schritt einzugehen: 123 Dies bedeutet nicht, dass ein Mehrheitswahrecht automatisch zu einem Zweiparteiensystem in der Bundesrepublik geführt hätte, dazu Thoma in der zweiten Sitzung des Ausschusses für Wahlrechtsfragen am 22. September 1948, in: Wernicke/Booms (Hrsg.), Der Parlamentarische Rat 1948 – 1949, Bd. 6, S. 23. 124 BVerfGE 95, 408 (417): „Bei der Verhältniswahl hat jeder Wähler die gleiche rechtliche Möglichkeit der Einflussnahme auf die Zuteilung der Parlamentssitze nur dann, wenn jeder Stimme grundsätzlich der gleiche Erfolgswert zukommt.“, vgl. die ständige Rechtsprechung seit BVerfGE 1, 208 (246). 125 Siehe vorher § 10 Abs. 4 BWahlG 1949, BGBl. I 1949 S. 21. 126 BVerfGE 142, 25 (59); hierzu insgesamt Beckermann/Weidemann, Der Staat 53 (2014), 313 – 329. 127 Klecha, in: Decker/Jesse, Die deutsche Koalitionsdemokratie vor der Bundestagswahl 2013, S. 279 f. 128 Nach der Bundestagswahl 2017 entstand aufgrund des Wahlergebnisses – intensiv wie selten in der Geschichte der Bundesrepublik – eine öffentliche Diskussion über eine Minderheitsregierung, vgl. nur Stützle, Es gibt Vorbilder, Das Parlament vom 27. 11. 2017, S. 4; ferner Diepgen bei Focus Online, Weder GroKo noch Jamaika: Berlins Ex-Bürgermeister rät seiner CDU zu Tabubruch, 27. 9. 2017, http://www.focus.de/politik/videos/minderheitsregierung-we der-groko-noch-jamaika-berlins-ex-buergermeister-raet-seiner-cdu-zu-tabubruch_id_7632786. html, zuletzt geprüft am 26. 4. 2018. 129 Siehe dazu beispielhaft das „Magdeburger Modell“ unter dem Ministerpräsidenten Reinhard Höppner (SPD) von 1994 bis 2002 und die Landesregierung von Nordrhein-Westfalen unter Hannelore Kraft (SPD) von 2010 bis 2012; hierzu auch Waack, in: Morlok/Schliesky/ Wiefelspütz, Parlamentsrecht, § 22 Rn. 28. 130 Schmidt, Das politische System Deutschlands, S. 108.

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1. Kap.: Einleitung

Dabei kann zunächst auf die klassischen Koalitionstheorien aus der Politikwissenschaft Bezug genommen werden, mögen sie auch nur begrenzt Erklärungen liefern.131 Nach dem office-seeking-Ansatz132 suchen Parteien sich als rationale Akteure die Koalition aus, die für sie eine maximale Anzahl an Regierungsämtern ermöglicht. Die Zahl der Minister- und Regierungsämter nimmt für die beteiligten Fraktionen in Zeiten Großer Koalitionen regelmäßig ab, sofern jedenfalls Zwei-FraktionenBündnisse miteinander verglichen werden. Einem starken Koalitionspartner mit vielen Mandaten sind mehr Zugeständnisse zu machen als einem schwächeren Koalitionspartner mit wenigen Mandaten. Eine große Regierungsmehrheit hat einen höheren politischen Preis.133 Insofern ist grundsätzlich eine minimal winnig coalition für die Parteien erstrebenswert.134 Hinzu kommt ein policy-seeking-Ansatz135. Parteien geht es um die bestmögliche Umsetzungsmöglichkeit ihrer politischen Inhalte. Das Ziel der Parteien ist daher eine minimal connected winning coalition136 oder minimal range coalition137. Regierungsbündnisse zwischen den beiden größten Fraktionen minimieren die Chance, eigene politische Akzente zu setzen. In einer Kleinen Koalition mit zwei Bündnispartnern lassen sich in aller Regel mehr politische Inhalte gegenüber dem „Juniorpartner“ durchsetzen. Den beiden mandatsstärksten Fraktionen fällt es hingegen schwerer, sich auf einheitliche Positionen zu einigen. Im Wahlkampf wetteifern gerade die regelmäßig an Großen Koalitionen beteiligten Volksparteien gegeneinander. Ein dritter Erklärungsversuch für Koalitionsfindungen ist der vote-seeking-Ansatz. Danach wird das Werben für eine maximale Anzahl von Wählerstimmen bei zukünftigen Wahlen als eine Ursache für bestimmte Koalitionsbildungen betrachtet.138 Das in der Bundesrepublik historisch gewachsene bipolare Mehrparteiensystem führt zu einem Zweikampf – traditionell zwischen den Unionsparteien und der SPD – um den Führungsanspruch. Das bedeutet, beide Parteien profilieren sich auch durch die Artikulation eines Spitzenkandidaten um das Kanzleramt. Dem eigenen Selbstverständnis der Parteien läuft 131

Kritisch schon Nolte, PVS 29 (1988), 230 (231). Grundlegend ist die Arbeit zur ökonomischen Spieltheorie von v. Neumann/Morgenstern, Theory of Games and Economic Behavior, an die Riker, The Theory of Political Coalitions, und Gamson, Sociological Review 26 (1961), 373 – 382, anschließen. 133 Ähnlich Strohmeier, ZPol. 19 (2009), 5 (10); auch Seemann/Bukow, in: dies., Die Große Koalition, S. 13 f.; Miller/Müller, in: Egle/Zohlnhöfer, Die zweite Große Koalition, S. 157 f.; vgl. dazu auch Kropp, in: Derlien/Murswieck, Regieren nach Wahlen, S. 70 ff. 134 Gamson, Sociological Review 26 (1961), 373 (376); Riker, The Theory of Political Coalitions, S. 124 ff. 135 Hier sind die Arbeiten von Axelrod, Conflict of Interest: A Theory of Divergent Goals with Application to Politics, und de Swaan, Coalition Theories and Coalition Formations, von grundlegender Bedeutung. 136 Axelrod, Conflict of Interest: A Theory of Divergent Goals with Application to Politics, S. 170 f. 137 Grundlegend Leiserson, Coalitions in Politics; ferner de Swaan, Coalition Theories and Coalition Formations, S. 71 ff. 138 Strøm, Minority Government and Majority Rule, S. 45. 132

B. Fragestellung

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eine Große Koalition also zuwider, sie kann zu Identitätsverlusten führen.139 Auch die landesweite Wettbewerbssituation konfligiert mit der Großen Koalition.140 Schließlich kann es in Großen Koalitionen schwerer sein, eigene Erfolge herauszustellen. Politische Errungenschaften werden in großkoalitionären Bündnissen teilweise sogar dem politischen Gegner zugeschrieben, weil dieser z.B. die Kanzlerschaft innehat.141 Noch gab keine der Volksparteien im bipolaren Mehrparteiensystem der Bundesrepublik im Wahlkampf das Wahlziel einer Großen Koalition aus; ausgenommen seien hier die Sonderfälle auf Landesebene, in denen nicht CDU und SPD das großkoalitionäre Bündnis bildeten (vor allem die Große Koalition in Bremen von 2011 zwischen SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, wobei zweitgenannte auch keine Volkspartei ist). Diese Voraussetzungen führen dazu, dass die Parteien der Bundesrepublik Große Koalitionen – wenn möglich – vermeiden.142 Großkoalitionäre Bündnisse sind also regelmäßig bedingt durch Zwänge143, die es in einem dritten Schritt zu erläutern gilt: Es gibt parlamentsinterne wie -externe Ursachen für Große Koalitionen.144 Parlamentsinterne Begründungen für Große Koalitionen beruhen auf der fehlenden Koalitionsalternative; d.h. nur eine Große Koalition ist rechnerisch überhaupt zur Regierungsbildung fähig, potentielle Koalitionspartner werden als koalitionsunfähig (z.B. weil extrem) eingestuft bzw. ihre politische Programmatik wird nicht geteilt (koalitionsunwillig) oder eine Große Koalition garantiert als einzige Koalition eine stabile Mehrheit.145 Solche parlamentsinternen Gründe führten 2005, 2013 und 2017 zu Großen Koalitionen im Bund. Bisher wurden Große Koalitionen möglichen Dreierbündnissen vorgezogen. So kam es weder 2005 oder 2013 noch 2017 zu einem möglichen Bündnis zwischen drei Bundestagsfraktionen, obwohl die Mehrheitsverhältnisse dies durchaus zuließen. Zum einen gibt es einen Kontrahenten mehr im Ringen um politische Lösungen und Ämter. Zum anderen sind mit einem solchen Dreierbündnis in der Bundesrepublik regelmäßig besondere Rivalitäten zwischen kleineren Parteien verbunden, die bei einer Koalition zu einem Identitätsverlust führen können.146 In den „Jamaika“-Sondierungen von 2017 waren diese Grundrivalitäten besonders zwischen CSU sowie FDP einerseits und BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN andererseits erkennbar. 1966 führten vor allem parlamentsexterne 139

Seemann/Bukow, in: dies., Die Große Koalition, S. 13. Dies., in: dies., Die Große Koalition, S. 14. 141 Das aber ist längst kein Automatismus: Nach der ersten Großen Koalition unter Kiesinger erreichte die SPD bei der Bundestagswahl 1969 im Vergleich zur Wahl davor ein Plus von 3,4 % der Stimmenanteile, die Union verlor 1,5 %. 142 Egle/Zohlnhöfer, in: dies., Die zweite Große Koalition, S. 11. 143 Vgl. den Untertitel bei Oberreuter (Hrsg.), Unentschieden: „Die erzwungene Koalition“. 144 Strohmeier, ZPol. 19 (2009), 5 (9 ff.); vgl. auch März, in: Jesse/Klein, Das Parteienspektrum im wiedervereinigten Deutschland, S. 120. 145 Müller, ZSE 6 (2008), 499 (513 ff.); Strohmeier, ZPol. 19 (2009), 5 (11); März, in: Jesse/ Sturm, Bilanz der Bundestagswahl 2009, S. 75; Klecha, ZParl. 42 (2011), 334 (336). 146 Seemann/Bukow, in: dies., Die Große Koalition, S. 12. 140

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1. Kap.: Einleitung

Gründe zu einer Großen Koalition: Solche äußeren Umstände können Ausnahmesituationen oder drängende gesamtgesellschaftliche Herausforderungen sein, die gerade eine Regierung mit großem parlamentarischen Rückhalt erfordern.147 Auf Landesebene gab es in der Nachkriegszeit und im Westberlin der 1950er und 1960er Jahre häufig Große Koalitionen, sogar Allparteienbündnisse, um in Krisenzeiten gemeinsame Entscheidungen zu treffen („Einheitsregierung“). 5. Politische Nebeneffekte Großer Koalitionen Großen Koalitionen werden besondere politische Begleiterscheinungen zugeschrieben, die hier nicht unerwähnt bleiben sollen. Manche dieser Überlegungen können schlüssig erklärt werden, andere entbehren einer empirischen Grundlage. Mehr noch als bei einer Untersuchung der Ursachen für Koalitionsbildungen, ist es im Rahmen einer Beschreibung der politischen Folgen von Große Koalitionen wichtig, auf die schwache Datenlage und ihre geringe Signifikanz hinzuweisen. a) Wählerschaft Auf den ersten Blick führen Große Koalitionen zu einer erhöhten Repräsentation des Wählerwillens. Dies ist dahingehend richtig, dass Koalitionen zwischen der mandatsstärksten und -zweitstärksten Fraktion denknotwendig auch die meisten Wählerstimmen auf sich vereinen, sofern es sich um ein Bündnis zwischen zwei Fraktionen handelt. Je mandatsstärker die Koalition, desto höher ist auch die in Prozent gemessene Repräsentation des Wählerwillens in der Regierungsarbeit, die maßgeblich von der Koalition abhängt. Dies entspricht grundsätzlich dem Idealbild der Demokratie, gilt aber nicht uneingeschränkt:148 Das Wahlvolk hat bei der Bundestagswahl die Möglichkeit, im Rahmen des personalisierten Verhältniswahlrechts die Zusammensetzung des Parlaments zu bestimmen. Mit der Erststimme wählen die Stimmberechtigten die Direktkandidaten ihres Wahlkreises und mit der Zweitstimme die Landesliste einer Partei. Die Stimmberechtigten wählen aber keine Koalitionen149 oder gar Regierungen. Von einer erhöhten Repräsentation in der Koalition kann nicht automatisch auf die Identifikation der Bürger mit einer bestimmten Koalition geschlossen werden. Koalitionsaussagen vor der Wahl sind nicht bindend. Die zukünftigen Mehrheitsverhältnisse und ihre Koalitionsmöglichkeiten

147 Woyke, in: Andersen/Woyke, Handwörterbuch des politischen Systems der Bundesrepublik Deutschland, S. 333; Müller, ZSE 6 (2008), 499 (509); März, in: Jesse/Sturm, Bilanz der Bundestagswahl 2009, S. 75. 148 Cancik, ZParl. 48 (2017), 516 (527 f.). 149 Vgl. insgesamt zum Einfluss der Wähler auf die Koalitionsbildung aus politikwissenschaftlicher Sicht Korte, in: Decker/Jesse, Die deutsche Koalitionsdemokratie vor der Bundestagswahl 2013, S. 40 ff.; kritisch gegenüber dem Verhältniswahlrecht Geismann, APuZ 2014, Heft 38/39, 25 – 29.

B. Fragestellung

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sind vor der Wahl unbekannt.150 Die Meinung der Wähler über Koalitionsbildungen ist zudem von den tatsächlich realistischen Koalitionsoptionen abhängig und dementsprechend wechselhaft.151 Insgesamt gilt: Die zahlenmäßige Repräsentation des aktiven Wahlvolks in der Regierungsarbeit ist im Rahmen von Großen Koalitionen groß, das Gefühl der Bürger, repräsentiert zu werden, muss dem aber nicht entsprechen. Ungeachtet dessen sind die Abgeordneten nicht nur Vertreter ihrer Wählerschaft, sondern des ganzen Volkes, Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG. Ähnlich schwierig gestaltet sich ein Rückschluss der Koalitionsform auf Wählerströme von den Bündnispartnern weg oder zu ihnen hin. Dennoch lassen die Wahlergebnisse auf Bundesebene folgende Aussagen zu: Die notwendige Kompromissfindung innerhalb einer Großen Koalition kann zur Verwässerung politischer Konturen, einer bündnisinternen Oppositionsbildung sowie zu einer Verschlechterung des internen Fraktionsklimas aufgrund von Abspaltungen und Identitätsverlust führen und so für die Abwanderung von Wählerschaft aus der politischen Mitte sorgen.152 Das teilweise Außerkraftsetzen des parteipolitischen Wettbewerbs153 zwischen den beiden größten Fraktionen kann sowohl zur Stärkung des linken und rechten Randes154 im politischen Spektrum führen155 als auch außerparlamentarische 150

(528).

Als „relativen Schleier des Nichtwissens“ bezeichnet dies Cancik, ZParl. 48 (2017), 516

151 Vor der Bundestagswahl 2017 war z.B. ein großkoalitionäres Bündnis beliebter als jede andere Koalition. Die schnelle Absage der SPD an eine Große Koalition noch am Wahlabend empfanden nach der Wahl dennoch 59 % der Befragten als richtig. Eine „Jamaika-Koalition“ war schon am Tag nach der Wahl um 26 Prozentpunkte beliebter als eine Große Koalition, bevor eine solche Koalition im Laufe der Sondierungen von CDU, CSU, FDP und BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN wiederum an Zustimmung verlor; zunächst Infratest dimap, ARD Deutschlandtrend, 30. 8. 2017, https://www.tagesschau.de/inland/deutschlandtrend-899.pdf, S. 6, zuletzt geprüft am 26. 4. 2018, später dass., ARD Deutschlandtrend extra, 25. 9. 2017, https://www.inf ratest-dimap.de/umfragen-analysen/bundesweit/ard-deutschlandtrend/2017/blitz-bundestags wahl/, zuletzt geprüft am 26. 4. 2018, dann dass., ARD Deutschlandtrend, 8. 11. 2017, https:// www.infratest-dimap.de/fileadmin/user_upload/dt1711_bericht.pdf, S. 3, zuletzt geprüft am 26. 4. 2018. Nur 26 % der Bundesbürger präferierten vor der Bundestagswahl im September 2013 eine Koalition zwischen CDU, CSU und SPD, dennoch war diese Koalitionsmöglichkeit auch damals beliebter als alle anderen Bündnisse. Im November 2013 erhielt ein schwarz-rotes Bündnis bei Umfragen einen Zuspruch von 55 % in der Bevölkerung; erst dass., ARD Deutschlandtrend, 4. 9. 2017, https://www.infratest-dimap.de/fileadmin/_migrated/content_uplo ads/dt1309_bericht.pdf, S. 16, zuletzt geprüft am 26. 4. 2018, dann dass., ARD Deutschlandtrend, 6. 11. 2017, https://www.infratest-dimap.de/fileadmin/_migrated/content_uploads/dt1311 _bericht.pdf, S. 14, zuletzt geprüft am 26. 4. 2018; zur durchaus vorhandenen Beliebtheit der Großen Koalition von 2005 bis 2009 Hunsicker/Schroth, in: Bukow/Seemann, Die Große Koalition, S. 337 ff. 152 Vgl. Probst, ZParl. 37 (2006), 626 (629 f.); im Hinblick auf die unterschiedlichen Folgen nach den ersten beiden Großen Koalitionen Schoen, in: Egle/Zohlnhöfer, Die zweite Große Koalition, S. 29. 153 Seemann/Bukow, in: dies., Die Große Koalition, S. 20. 154 Bytzek, in: Decker/Jesse, Die deutsche Koalitionsdemokratie vor der Bundestagswahl 2013, S. 441; lediglich begünstigend wirke eine Große Koalition auf linke und rechte Extreme, so Hildebrand, ZParl. 37 (2006), 611 (620).

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1. Kap.: Einleitung

Kräfte fördern.156 Auf Bundesebene ist kein genereller Anstieg der Zersplitterung des Parteiensystems nach großkoalitionären Regierungsphasen festzustellen.157 Die Anzahl der Fraktionen im Parlament blieb nach den großkoalitionären Regierungsbildungen 1969 und 2009 unverändert; nur 2017 stieg die Fraktionsanzahl um zwei Fraktionen, AfD und FDP verpassten den Einzug in das Parlament jedoch schon 2013 nur knapp (4,7 % und 4,8 %). Dennoch verloren die beiden Fraktionen von CDU/CSU und SPD nach den gemeinsamen Regierungsbündnissen regelmäßig an Zuspruch. Nur nach der ersten Großen Koalition konnte die SPD bei der Bundestagswahl 1969 Wählerstimmen und -anteile hinzugewinnen, wohl auch weil sie ihre Regierungsfähigkeit erstmals auf Bundesebene unter Beweis stellte. Doch auch die NPD verpasste damals nur knapp den Einzug in das Parlament (4,3 %). Ein genereller Rückgang oder Anstieg der Wahlbeteiligung bei Bundestagswahlen ist nach Phasen Großer Koalitionen nicht auszumachen.158 Nach der Großen Koalition von 1966 bis 1969 blieb die Wahlbeteiligung annähernd gleich (–0,1 %), nach der zweiten Großen Koalition fiel der Rückgang der Wahlbeteiligung sehr stark aus (–6,9 %), nach der dritten Großen Koalition erhöhte sich die Wahlbeteiligung deutlich (+4,7 %).159

155 Zum Aufkommen und zur Stärkung der außerparlamentarischen Opposition und den Wahlerfolgen der NPD 1966 und 1968 vgl. Seemann/Bukow, in: dies., Die Große Koalition, S. 20; auch hinsichtlich der Stärkung der drei Oppositionsfraktionen während der Großen Koalition von 2005 bis 2009 bei Landtagswahlen und Umfragen Walther, in: Bukow/Seemann, Die Große Koalition, S. 333. 156 Öfter war die Möglichkeit der Oppositionsbildung von links und rechts bei einer Regierung der Mitte Thema im Parlamentarischen Rat, so auch bei Luther in der siebten Sitzung des Ausschusses für Wahlrechtsfragen am 5. Oktober 1948, in: Wernicke/Booms (Hrsg.), Der Parlamentarische Rat 1948 – 1949, Bd. 6, S. 173 f. 157 Siehe dazu die veränderte Anzahl der Fraktionen und Gruppen im Deutschen Bundestag. 1949 – 1953: acht Fraktionen, eine Gruppe; 1953 – 1957: fünf Fraktionen; 1957 – 1961: vier Fraktionen; 1961 – 1983: drei Fraktionen; 1983 – 1990: vier Fraktionen; 1990 – 1994: drei Fraktionen, zwei Gruppen; 1994 – 1998: vier Fraktionen, eine Gruppe; 1998 – 2002: fünf Fraktionen; 2002 – 2005: vier Fraktionen; 2005 – 2013: fünf Fraktionen; 2013 – 2017: vier Fraktionen; seit 2017: sechs Fraktionen. Das Datenmaterial stammt im Wesentlichen aus Schindler, Datenhandbuch zur Geschichte des Deutschen Bundestages 1949 bis 1999, S. 900 f.; Feldkamp, Datenhandbuch zur Geschichte des Deutschen Bundestages 1990 bis 2010, S. 436. 158 Siehe die Wahlbeteiligung in Relation zur vorherigen Wahl seit 1949. 1953: +7,5 %; 1957: +1,8 %; 1961: -0,1 %; 1965: -0,9 %; 1969: -0,1 %; 1972: +4,4 %; 1976: -0,4 %; 1980: -2,1 %; 1983: +0,5 %; 1987: -4,8 %; 1991: -6,5 %; 1994: +1,2 %; 1998: +3,2 %; 2002: -3,1 %; 2005: -1,4 %; 2009: -6,9 %; 2013: +0,7 %; 2017: +4,7 %; Schindler, Datenhandbuch zur Geschichte des Deutschen Bundestages 1949 bis 1999, S. 151; Feldkamp, Datenhandbuch zur Geschichte des Deutschen Bundestages 1990 bis 2010, S. 21. 159 Vgl. Bytzek, in: Decker/Jesse, Die deutsche Koalitionsdemokratie vor der Bundestagswahl 2013, S. 443. Zur sinkenden Wahlbeteiligung bei Landtagswahlen nach der Bundestagswahl 2005 Hunsicker/Schroth, in: Bukow/Seemann, Die Große Koalition, S. 343 ff.

B. Fragestellung

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b) Regierungsstabilität und politisches Steuerungspotential Große Koalitionen stehen zunächst für politische Stabilität. In knapp 70 Jahren Bundesrepublik gab es nur acht verschiedene Bundeskanzler. Im Übrigen gab es lediglich drei vorgezogene Neuwahlen – stabile Regierungen sind beinahe Teil einer politischen Kultur des Landes. Große Koalitionen aber zeichnen sich im bipolaren Mehrparteiensystem der Bundesrepublik darüber hinaus dadurch aus, dass sich Bundesregierungen auf besonders große Regierungsmehrheiten stützen können.160 Eine große Regierungsmehrheit – Koalitionstreue vorausgesetzt – bedeutet auch eine Stärkung der Regierung. Konstruktives Misstrauensvotum und Vertrauensfrage spielten in Zeiten Großer Koalitionen keine Rolle. Die nicht-auflösungsgerichtete Vertrauensfrage dient vor allem angesichts knapper Mehrheiten zur politischen Disziplinierung der eigenen Gefolgschaft.161 Ferner genießen die größeren Parteien in der Wahlbevölkerung hinsichtlich ihrer Regierungsverantwortung ein größeres Vertrauen als die kleineren Parteien.162 Eine auflösungsgerichtete Vertrauensfrage oder ein konstruktives Misstrauensvotum und der damit in der Regel einhergehende Bruch eines Bündnisses zwischen den beiden größten Fraktionen im Parlament, würden dieses Bild einer garantierten Stabilität gefährden. Im Übrigen stehen im bipolaren Parteiensystem der Bundesrepublik gerade die beiden mandatsstärksten Parteien in einem Wettbewerbsverhältnis. Eine einseitige Beendigung der Regierungsarbeit kann einen besonderen Vertrauensverlust zur Folge haben, von dem vor allem die andere Partei profitiert. Die erste Große Koalition auf Bundesebene wird oftmals mit den großen Reformprojekten der damaligen Legislaturperiode in Verbindung gebracht: Erneuerung der Finanzverfassung, große Strafrechtsreform, Notstandsgesetzgebung und Wahlrechtsreform. Große Koalitionen müssen nicht die Befreiung von Reformstau bedeuten. Sie haben aber mit den in der Regel stabilen Mehrheiten im Parlament ein erhöhtes politisches Steuerungspotential, d.h. bessere rechnerische Voraussetzungen für Mehrheitsfindungen und die Umsetzung politischer Vorhaben.163 Im Bundestag wäre einer Großen Koalition bis zur Bundestagswahl 2017 stets eine Zweidrittelmehrheit sicher gewesen.164 Obwohl die Bundestagswahl 2017 an dieser Stelle eine Zäsur darstellt – Union und SPD vereinen im 19. Deutschen Bundestag nur noch 399 der 709 Mandate (56,3 %) auf sich –, ist darauf hinzuweisen, dass die beiden 160

Dazu Thaysen, ZParl. 37 (2006), 582 (585 f.). Pieper, in: Epping/Hillgruber, GG, 37. Edition Mai 2018, Art. 68 Rn. 3 f. Dies zeigen insbesondere die Vertrauensfragen von Helmut Schmidt (SPD) und Schröder aus den Jahren 1982 und 2001. Zur veränderten Rolle von „Abweichlern“ und „Überläufern“ in Zeiten Großer Koalitionen 1. Kapitel B. II. 5. d). 162 Vgl. allgemein zum Fraktionsverhalten der Großkoalitionäre CDU/CSU und SPD Seemann/Bukow, in: dies., Die Große Koalition, S. 20. 163 Seemann, in: Bukow/Seemann, Die Große Koalition, S. 46; Egle/Zohlnhöfer, in: dies., Die zweite Große Koalition, S. 18. 164 Selbst 1949 errangen CDU, CSU und SPD denkbar knapp zwei Drittel der Bundestagsmandate. Vgl. in diesem Zusammenhang Schneider, Große Koalition, S. 53. 161

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1. Kap.: Einleitung

mandatsstärksten Fraktionen für sich genommen in allen bisherigen 39 Großen Koalitionen, auf Bundes- wie auf Landesebene, zumindest eine parlamentarische Mehrheit besaßen. Dies gilt im Übrigen auch für die sieben Großen Koalitionen mit Beteiligung weiterer Fraktionen. Indikatorische Aussagekraft über das Steuerungspotential Großer Koalitionen fällt der verhältnismäßig hohen Zahl der verabschiedeten Gesetzentwürfe in Zeiten Großer Koalitionen zu. Der Durchschnitt der verabschiedeten Gesetzentwürfe pro Wahlperiode betrug nach Abschluss der 18. Wahlperiode 453, Tendenz steigend. In der 5. Wahlperiode gab es 453 Gesetzesverabschiedungen, in der 16. Wahlperiode 616 und in der 18. Wahlperiode 555. Auch die Anzahl der Verfassungsänderungen ist in Phasen Großer Koalitionen überdurchschnittlich hoch.165 Der Durchschnitt beträgt dreieinhalb Verfassungsänderungen pro Legislaturperiode. In der 5. Wahlperiode gab es die meisten verabschiedeten Verfassungsänderungen seit 1949 (zwölf), in der 16. Wahlperiode die zweitmeisten (sechs), in der 18. Wahlperiode immerhin drei. Große Koalitionen bieten aufgrund ihrer erfahrungsgemäß komfortablen Mehrheiten im Bundestag gute institutionelle Voraussetzungen für die Regierungsarbeit. Die Verfassungsväter und -mütter entschieden sich jedoch dazu, dem Bundestag ein Mitwirkungsorgan bei der Gesetzgebung an die Seite zu stellen: Der Bundesrat hat grundsätzlich ein Einspruchsrecht, in manchen vom Grundgesetz geregelten Fällen ist gar seine Zustimmung zur Gesetzgebung notwendig. Er ist die Vertretung der Länder und ihrer Interessen auf Bundesebene. Der Parlamentarische Rat gab einem Bundesratssystem den Vorzug vor einem Senatssystem. Nicht die Landesparlamente, sondern die Landesregierungen bestellen die stimmberechtigten Mitglieder des Bundesrates und berufen sie auch wieder ab, Art. 51 Abs. 1 Satz 1 GG (Exekutivföderalismus).166 Die Länder haben unterschiedliche, der Bevölkerungszahl entsprechende, Stimmanzahlen im Bundesrat, die nur einheitlich abgegeben werden können, Art. 51 Abs. 2, Abs. 3 Satz 2 GG. Eine Bundesratsmehrheit liegt aufgrund des besonderen Abstimmungsmodus nur vor, wenn die Ja-Stimmen sowohl die NeinStimmen als auch die Stimmenthaltungen übersteigen. Enthaltungen wirken im Bundesrat wie Nein-Stimmen (vgl. Art. 52 Abs. 3 Satz 1 GG). Es braucht 35 der momentan 69 Stimmen für eine absolute Mehrheit im Bundesrat. Nur selten vereinten die Mutterparteien der koalierenden Fraktionen im Bundestag auch im 165 Siehe dazu die Zahl der eingebrachten und verabschiedeten Verfassungsänderungen. 1949 – 1953: 21/3; 1953 – 1957: 24/6; 1957 – 1961: 12/3; 1961 – 1965: 12/2; 1965 – 1969: 22/ 12; 1969 – 1972: 10/5; 1972 – 1976: 7/3; 1976 – 1980: 2/-; 1980 – 1983: -/-; 1983 – 1987: 5/1; 1987 – 1990: 15/1; 1990 – 1994: 27/6; 1994 – 1998: 25/4; 1998 – 2002: 19/5; 2002 – 2005: 15/-; 2005 – 2009: 28/6; 2009 – 2013: 27/2; 2013 – 2017: 13/3. Die Daten stammen größtenteils aus Schindler, Datenhandbuch zur Geschichte des Deutschen Bundestages 1949 bis 1999, S. 2962 f.; Feldkamp, Datenhandbuch zur Geschichte des Deutschen Bundestages 1990 bis 2010, S. 1380 f.; vgl. auch Lorenz, in: Hönnige/Kneip/Lorenz, Verfassungswandel im Mehrebenensystem, S. 99. 166 Die Bedeutung der Länderebene für die Gesetzgebung zeigt nicht zuletzt auch die inhaltliche Abstimmung der Länder auf den regelmäßig stattfindenden Ministerpräsidentenkonferenzen.

B. Fragestellung

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Bundesrat mittelbar durch die Landesvertretungen eine Stimmenmehrheit auf sich.167 Die machtpolitische Bedeutung des Bundesrates als Blockadeinstrument der Opposition liegt auf der Hand.168 Die Parteien der Kleinen Koalitionen im Bundestag (seit der Bundestagswahl 1961 zwischen Unionsparteien und FDP bzw. SPD und FDP oder BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) vereinten nur während etwa eines Viertels ihrer Regierungszeit ebenfalls im Bundesrat eine parteipolitische Mehrheit auf sich. Eine für Verfassungsänderungen notwendige Zweidrittelmehrheit vereinten die Parteien der Kleinen Koalitionen nie im Bundesrat auf sich. In Phasen Großer Koalitionen verliert der Bundesrat als parteipolitisches Machtinstrument jedoch nicht automatisch an Relevanz. Auch den Parteien der Großen Koalitionen im Bundestag war eine Bundesratsmehrheit in der Vergangenheit keineswegs sicher.169 Nur etwa während der Hälfte ihrer Regierungszeit erreichten sie eine absolute Mehrheit im Bundesrat. Die einzige – nur 234 Tage andauernde – Zweidrittelmehrheit für eine Koalition im Bundesrat gab es zeitweise für die zweite Große Koalition im Bund.170 Dennoch ist eine parteipolitische Bundesratsmehrheit nicht prinzipiell wahrscheinlicher, wenn es im Bund zu einer Großen Koalition kommt: Koalitionsregierungen mit einem oppositionellen Bündnispartner im Bund enthalten sich in der Regel bei Streitfragen innerhalb der Landesregierung, eine solche Verhaltenspflicht wird regelmäßig in den „Bundesratsklauseln“ der Koalitionsverträge auf Landesebene festgehalten. Selbst bei der Prämisse, dass die Regierungsparteien im Bundestag auch im Bundesrat „koalitionstreu“ abstimmen, ist also jede Bundesratsmehrheit auf Alleinregierungen einer der Koalitionspartner und politisch „gleichfarbige“ Koalitionen ohne Beteiligung anderer Bündnispartner in den Bundesländern angewiesen. Alleinregierungen und Koalitionen zwischen den beiden Hauptwidersachern im bipolaren Mehrparteiensystem der Bundesrepublik sind aber nicht die Regel, sondern die Ausnahme. Nur eine Häufung von Ausnahmen führt also zu einer absoluten oder gar verfassungsändernden Bundesratsmehrheit für die Parteien der Großen Koalition im Bund. Große Koalitionen im Bundestag garantieren folglich keine komfortablen Bundesratsmehrheiten. Dies verdeutlichen nicht zuletzt die derzeitigen Mehrheitsverhältnisse im Bundesrat. Es gibt aktuell 13 verschiedene Regierungskonstellationen in 16 Bundesländern. CDU bzw. CSU respektive SPD sind zwar an allen Landesregie167 Siehe die Bundesratsmehrheiten der Regierungskoalition seit 1949. Absolute Mehrheiten für die Koalition im Bundestag gab es im Bundesrat (teilweise mit Unterbrechungen) in den Jahren: 1955, 1961 – 1969, 1982 – 1991, 1998 – 1999, 2005 – 2009. Verfassungsändernde Mehrheiten gab es nur in den Jahren 2006 – 2007; Schindler, Datenhandbuch zur Geschichte des Deutschen Bundestages 1949 bis 1999, S. 2440 ff.; Feldkamp, Datenhandbuch zur Geschichte des Deutschen Bundestages 1990 bis 2010, S. 1168 ff. 168 Zur Rolle des Bundesrates im „Parteienbundesstaat“ vgl. nur Voßkuhle, Der Staat 43 (2004), 450 (452 f.); aus politikwissenschaftlicher Sicht Abromeit, ZParl. 13 (1982), 462 – 472. 169 Vgl. dazu Kropp/Ruschke, in: Abels, Deutschland im Jubiläumsjahr 2009, S. 132 ff. 170 Von Beginn der Regierung zwischen SPD und CDU in Mecklenburg-Vorpommern am 7. November 2006 bis zum Wechsel von einer rot-schwarzen Landesregierung in Bremen zu einer rot-grünen Landesregierung am 29. Juni 2007.

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rungen beteiligt, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN kommt jedoch auf ähnlich viele Koalitionsbeteiligungen (nach der niedersächsischen Landtagswahl noch neun) wie CDU (neun) und SPD (elf).171 Die dennoch auffallend langen Phasen von Bundesratsmehrheiten in Zeiten Großer Koalitionen im Bund sind damit zu begründen, dass Große Koalitionen auf Bundes- wie auf Landesebene in den allermeisten Fällen eine Koalition zwischen CDU und/oder CSU und SPD meint. Kleine Koalitionen sind zwar häufiger, entsprechen aber weniger oft der gleichen politischen Zusammensetzung. Der Bundesrat entwickelte sich auch aufgrund einer Vielzahl von Zustimmungsgesetzen schnell zu einem Blockadeinstrument der nicht an der Bundesregierung beteiligten politischen Kräfte gegen die Regierungspolitik. Nach den Föderalismusreformen ist die Anzahl der Zustimmungsgesetze wie beabsichtigt gesunken.172 In vielen bedeutenden Politikbereichen, nicht zuletzt in finanzpolitischen Fragen, ist die Zustimmung des Bundesrates aber weiterhin notwendig. „Durchregieren“ kann eine Große Koalition in der Regel nicht. Die Verabschiedung von Zustimmungsgesetzen bedarf auch in Zeiten Großer Koalitionen oftmals parteiübergreifender Kompromisslösungen. Dies führte regelmäßig, auch in Zeiten Kleiner Koalitionen im Bundestag, zur Notwendigkeit einer informellen Großen Koalition zur Durchsetzung von zustimmungsbedürftigen Gesetzesprojekten. Obwohl in Zeiten Kleiner Koalitionen kein formales großkoalitionäres Regierungsbündnis besteht, wird die Bundesrepublik daher in der Politikwissenschaft oft als grand coalition state173 betitelt. Eine Große Koalition kann zu einer Befreiung von politischem Reformstau führen, aber auch eine politische Erstarrung bedeuten, da Kompromisse abseits des Koalitionsvertrages besonders schwer zu erreichen sind. Kompromissfindungen, die zuvor aus strategisch-politischen Gründen scheiterten, haben zwar Chancen auf Erfolg. Konflikte aufgrund starker inhaltlicher Differenzen dagegen werden in Großen Koalitionen eher vertagt, als dass sie im Koalitionsvertrag gelöst werden.174 171

Bannas, Je bunter, desto schwieriger, FAZ vom 10. 6. 2017, S. 10. Siehe den Anteil von Zustimmungs- und Einspruchsgesetzen seit 1949. 1949 – 1953. 41,8 %/58,2 %; 1953 – 1957: 49,8 %/50,2 %; 1957 – 1961: 55,7 %/44,3 %; 1961 – 1965: 53,4 %/46,6 %; 1965 – 1969: 49,4 %/50,6 %; 1969 – 1972: 51,7 %/48,3 %; 1972 – 1976: 53,2 %/46,8 %; 1976 – 1980: 53,7 %/46,3 %; 1980 – 1983: 52,2 %/47,8 %; 1983 – 1987: 60,6 %/39,4 %; 1987 – 1990: 55,2 %/44,8 %; 1990 – 1994: 56,6 %/43,4 %; 1994 – 1998: 59,2 %/40,8 %; 1998 – 2002: 54,8 %/45,2 %; 2002 – 2005: 50,6 %/49,4 %; 2005 – 2009: 41,8 %/58,2 %; 2009 – 2013: 38,3 %/61,7 %; 2013 – 2017: 35,8 %/64,2 %; Schindler, Datenhandbuch zur Geschichte des Deutschen Bundestages 1949 bis 1999, S. 2430 f.; Feldkamp, Datenhandbuch zur Geschichte des Deutschen Bundestages 1990 bis 2010, S. 1163. 173 Vgl. nur Schmidt, in: Colomer, Political Institutions in Europe, S. 55 ff. Wichtig ist, dass die Verwendung des Begriffs „grand coalition state“ vom politikwissenschaftlichen Begriffsverständnis der traditionellen Großen Koalition zwischen CDU und/oder CSU und SPD ausgeht. 174 Seemann/Bukow, in: dies., Die Große Koalition, S. 28; Seemann, in: Bukow/Seemann, Die Große Koalition, S. 55 f.; Egle/Zohlnhöfer, in: dies., Die zweite Große Koalition, S. 20. 172

B. Fragestellung

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Überdies kann es nach dem „Abarbeiten des Koalitionsvertrages“ zu politischem Leerlauf kommen, sofern die Großkoalitionäre sich fortan nur noch auf den kleinsten gemeinsamen Nenner einigen.175 Erhöhtes Steuerungspotential und die Gefahr einer Stagnation in der Sache befinden sich also in einem Spannungsfeld. Reformen wie Reformstau sind möglich.176 c) Chance zum Machtwechsel Schon im Parlamentarischen Rat gab es eine grundsätzliche Anerkennung für ein Verfassungsgefüge zweier starker machtpolitischer Gegenpole, Regierungsmehrheit und Opposition. Dabei sollte die parlamentarische Opposition immer auch in der Lage sein, die Regierungsgeschäfte zu übernehmen (siehe an dieser Stelle nochmals den eingangs zitierten Art. 120 Abs. 3 Satz 3 Verf. Baden 1947). Emil Peter Walk, Sachverständiger der Deutschen Wählergesellschaft, hielt in einer Sitzung des Ausschusses für Wahlrechtsfragen am 14. Oktober 1948 fest: „Es sollte aber doch so sein, daß eine große Partei auf Unterstützung einer etwa vorhandenen dritten oder vierten, die ihr aber irgendwie verwandt ist, sich beim Regieren schwächt – denn ein Prestigeverlust, ein Stimmenverlust, ist ja mit dem Regieren notwendiger Weise verbunden –, und daß während dieser Zeit die zweitstärkste Partei sich in einer verantwortungsbewußten Opposition hält und darauf vorbereitet, bei der nächsten Wendung die Verantwortung zu übernehmen.“177

Nach Großen Koalitionen gibt es jedoch fast keine Chance auf einen völligen Machtwechsel. Ein solcher ist in der Geschichte der Bundesrepublik ohnehin äußerst selten. Nur nach der Bundestagswahl 1998 gab es einen Regierungswechsel, bei dem alle bis dahin regierenden politischen Kräfte abgelöst wurden. Nach Großen Koalitionen aber ist ein Machtwechsel kaum vorstellbar, da dies die „Abwahl“ beider Volksparteien (CDU bzw. CSU und SPD) voraussetzt. Die parlamentarische Opposition ist jedoch auch als Machtalternative von Bedeutung. In der pluralistischen Demokratie ist eine Rotations- und Machtwechselchance angelegt.178 Große Koalitionen verhindern dagegen einen völligen Machtwechsel und lassen regelmäßig nur „Bereichsoppositionen“179 zu.180 Eine „Reserve-Regierung“181 gibt es quasi 175

Probst, ZParl. 37 (2006), 626 (629 f.). Dementsprechend fällt auch die Bilanzierung der zweiten Großen Koalition aus, vgl. Zohlnhöfer/Egle, in: dies., Die zweite Große Koalition, S. 579 ff. 177 Walk in der neunten Sitzung des Ausschusses für Wahlrechtsfragen am 14. Oktober 1948, in: Wernicke/Booms (Hrsg.), Der Parlamentarische Rat 1948 – 1949, Bd. 6, S. 247. 178 Schneider/Zeh, in: dies., Parlamentsrecht und Parlamentspraxis, § 48 Rn. 22; aus der Politikwissenschaft Probst, ZParl. 37 (2006), 626 (629). 179 Kirchheimer, Politik und Verfassung, S. 135. 180 Schneider/Zeh, in: dies., Parlamentsrecht und Parlamentspraxis, § 48 Rn. 22. 181 Zur Situation von 2005 bis 2009 Walther, in: Bukow/Seemann, Die Große Koalition, S. 319. Die drei Oppositionsfraktionen einigten sich auf ein Mindestmaß an Zusammenarbeit, 176

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nicht, insbesondere bei mehreren Oppositionsfraktionen verschiedener politischer Richtungen. Dies kann zu einer unveränderlichen Machtkonzentration führen, die für den demokratischen Wettbewerb nicht förderlich ist. Franz Schneider betont in diesem Zusammenhang für die erste Große Koalition im Bund, Opposition sei nicht nur sachliche, sondern auch personelle Alternative. Sie sei das ernsthafte Streben, die Regierung aus dem Sattel zu heben.182 Ungeachtet dessen verhindern Große Koalitionen schnelle politische Revisionen und sorgen somit für eine gewisse politische Stabilität.183 Auch hier können sich also wechselseitige Effekte bemerkbar machen. d) Rolle des einzelnen Abgeordneten in der Koalition Die Parlamentsmehrheit einer Großen Koalition ist anders als bei knappen Mehrheitsverhältnissen in der Regel nicht mehr auf jede einzelne Stimme angewiesen. Diese Supermajorität verändert die Rolle des einzelnen Abgeordneten der Koalition im Parlament. Wenn „Abweichler“ in einzelnen Abstimmungen oder gar „Überläufer“ zu anderen Fraktionen die Regierungsmehrheit nicht mehr gefährden können, bedeutet dies eine zusätzliche Überlagerung des Abgeordnetenmandats durch die Fraktion und Koalition: Die Stimme des Einzelnen in der Großen Koalition verliert an Gewicht. Das verdeutlichen schon die jeweiligen Wahlen der Bundeskanzler. So erhielten die Bundeskanzler der Großen Koalitionen zwar erwartungsgemäß die meisten Stimmen bei ihr Wahl,184 doch auch die fehlenden Stimmen von Abgeordneten der die Regierung tragenden Fraktionen war bei ihnen am höchsten. Kiesinger fehlten 1966 mindestens 104 Stimmen der eigenen Regierungsmehrheit, Merkel 2005 mindestens 49, 2013 mindestens 39 und 2017 mindestens 32 Stimmen. Eine ähnlich hohe Anzahl von „Abweichlern“ in den eigenen Reihen gab es nur bei Konrad Adenauers (CDU) vierter Kanzlerwahl 1961, damals verwehrten ihm mindestens 46 Abgeordnete aus der Regierungskoalition die Stimme.185 Der einzelne Abgeordnete verliert in der Großen Koalition regelmäßig an Bedeutung. Ein Aufmerksamkeitsverlust des einzelnen Abgeordneten in Zeiten qualifizierter Großer Koalitionen bedeutet aber nicht notwendig die Schwächung des Parlaments als solchem. Die Möglichkeit der einzelnen Abgeordneten, einen Standpunkt indieinen modus vivendi des kleinsten gemeinsamen Nenners; auch dazu Seemann, in: Bukow/ Seemann, Die Große Koalition, S. 43. 182 Schneider, Große Koalition, S. 53. 183 Probst, ZParl. 37 (2006), 626 (629 f.). 184 Einige der Kleinen Koalitionen vereinten mehr Mandate auf sich als die aktuelle Große Koalition. Insofern bezieht sich die Aussage auf die absolute Zahl der Stimmen. Ferner existiert eine Ausnahme: Merkel erhielt bei ihrer vierten Kanzlerwahl weniger Stimmen als Helmut Kohl (CDU) 1991 bei seiner dritten Kanzlerwahl. 185 Schindler, Datenhandbuch zur Geschichte des Deutschen Bundestages 1949 bis 1999, S. 1026; Feldkamp, Datenhandbuch zur Geschichte des Deutschen Bundestages 1990 bis 2010, S. 504. Voraussetzung für die Richtigkeit der Zahlen ist, dass die Kanzler keine Stimme der Opposition erhielten. Die Angaben ergeben sich aus der Summe der Ja-Stimmen abzüglich der Stimmenanzahl der Koalition (exklusive entschuldigter Abgeordneter der Koalition).

B. Fragestellung

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viduell vertreten zu können – das freie Mandat aus Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG – bleibt unangetastet. Eine große Regierungsmehrheit verringert zudem das „Erpressungspotential“ einzelner Abgeordneter gegenüber der Fraktions- und Koalitionsmehrheit. „Königsmacher“ werden seltener. Gleichzeitig kann ein stärkeres Spannungsfeld zwischen Regierung und Parlament entstehen.186 Dies liegt in der gesteigerten Unabhängigkeit der Abgeordneten von Regierung und Fraktion begründet. Abgeordnete haben mehr Freiheiten als in Zeiten knapper Mehrheiten, die Notwendigkeit von Fraktionsdisziplin sinkt.187 Der spätere Bundeskanzler Helmut Schmidt (SPD) sprach zwei Tage nach der Regierungserklärung Kiesingers am 15. Dezember 1966 von wachsendem Selbstbewusstsein der Parlamentarier, die in Zeiten großkoalitionärer Bündnisse aufgrund der Mehrheitsverhältnisse mehr Raum für eigene Initiativen haben. In diesem Kontext konstatierte er, es handele sich gewissermaßen um eine „Rückkehr zu Montesquieu“188. e) Rolle des Bundeskanzlers Während der 14-jährigen Amtszeit Adenauers wurde der Begriff der „Kanzlerdemokratie“189 in die Politikwissenschaft eingeführt. Obwohl das Amt des Bundeskanzlers nie wieder eine solche Machtfülle wie in der Ära Adenauer erlangte, hebt der Begriff allgemein die Stellung des Bundeskanzlers hervor. Gründe dafür sind nach Karlheinz Niclauß vor allem die Richtlinienkompetenz des Art. 65 Satz 1 GG, die mit der Kanzlerschaft traditionell und regelmäßig einhergehende Parteiführung, die Rolle des Bundeskanzlers als außenpolitischer Akteur, die mediale Personalisierung und die Polarisierung zwischen Regierung und Opposition.190 Weiteres Strukturmerkmal deutscher Regierungen ist die „Koalitionsdemokratie“, die nicht als Gegenpol zur Kanzlerdemokratie, sondern als komplementärer Begriff auf einen weiteren systemprägenden Teil des deutschen Regierungssystems hinweist.191 Auch in Zeiten Großer Koalitionen entfaltet die Kanzlerschaft zentrale Wirkung. Dies wird nicht zuletzt durch § 24 Abs. 2 Satz 2 GO-BReg unterstrichen, die Stimme des Bundeskanzlers entscheidet bei Stimmengleichheit in der Kabinettssitzung.192 Un186

Ähnlich Leisner, DÖV 2014, 880 (883 f.); kritisch Cancik, ZParl. 48 (2017), 516 (530). Aus politikwissenschaftlicher Sicht Korte, APuZ 2014, Heft 38/39, 9 (13). Fraktionsdisziplin und -geschäftsordnungen tragen dazu bei, dass sich die Bedeutung des einzelnen Parlamentariers im Parlament der Fraktionen (vgl. Demmler, Der Abgeordnete im Parlament der Fraktionen) in Grenzen hält, Ismayr/Fleck, Der Deutsche Bundestag, S. 441. 188 Schmidt, in: BT-Plenarprotokoll 5/82 vom 15. Dezember 1966, S. 3719 (D). 189 Zur Begriffsherkunft anschaulich Horst, in: Decker/Jesse, Die deutsche Koalitionsdemokratie vor der Bundestagswahl 2013, S. 162 f. 190 Niclauß, Kanzlerdemokratie, S. 64 f. 191 Horst, in: Decker/Jesse, Die deutsche Koalitionsdemokratie vor der Bundestagswahl 2013, S. 164. 192 Zur entscheidenden Stimme Merkels im Fall von Jan Böhmermann Fried, Ärger von allen Seiten, 27. 11. 2017, http://www.sueddeutsche.de/politik/boehmermann-aerger-von-allenseiten-1.2951590, zuletzt geprüft am 26. 4. 2018. 187

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geachtet der Stellung des Bundeskanzlers in den „eigenen Reihen“ ist seine Machtfülle mit einem mandatsstärkeren Koalitionspartner an der Seite tendenziell eingeschränkter. Das hat vor allem eine dezentralere Entscheidungsstruktur innerhalb der Bundesregierung und Koalition zur Folge.193 f) Informalisierung von Entscheidungsprozessen Große Koalitionen genießen in der Bundesrepublik keinen unproblematischen Ruf:194 „Das Besondere an solchen Koalitionen ist, dass die Regierungseinbindung der beiden stärksten Parteien institutionelle Barrieren außer Kraft setzt, die sich die Verfassungsgeber ausgedacht haben, um die Machtinhaber zu zügeln: Eine Große Koalition dominiert die parlamentarischen Abläufe, kann mit eigener Mehrheit die Verfassung ändern und die politischen Aushandlungen durch die Verlagerung in informelle Runden der Öffentlichkeit entziehen.“195

Ob gewisse Mehrheitskonstellationen die Informalisierung von Entscheidungsprozessen tatsächlich fördern, kann nur schwerlich festgestellt werden. Es liegt zumindest nahe, dass Koalitionen an sich – Kleine wie Große – Intransparenz bei der Entscheidungsfindung fördern,196 gleichwohl Intransparenz auch in Alleinregierungen möglich ist. Neben den formalen Institutionen des politischen Systems der Bundesrepublik ergeben sich informelle Handlungskorridore, darunter fällt insbesondere die Zusammenarbeit zwischen Fraktionen innerhalb einer Koalition. Hier gibt es die Notwendigkeit von Koalitionskompromissen, also Tauschgeschäften.197 Diese finden zu einem beachtlichen Teil im Koalitionsausschuss statt, der zusehends

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Hildebrand, ZParl. 37 (2006), 611 (620 f.); Horst, in: Decker/Jesse, Die deutsche Koalitionsdemokratie vor der Bundestagswahl 2013, S. 164. 194 Vgl. auch Reimut Zohlnhöfer im Interview bei der Bundeszentrale für Politische Bildung, „Große Koalitionen sind besser als ihr Ruf“, https://www.bpb.de/dialog/wahlblog/173896/gros se-koalitionen-sind-besser-als-ihr-ruf?type=galerie&show=image&i=173902, zuletzt geprüft am 26. 4. 2018. 195 Lorenz, in: Bukow/Seemann, Die Große Koalition, S. 59. 196 Cancik, NVwZ 2014, 18 (20); Leisner, DÖV 2014, 880 (883). Der Vermittlungsausschuss nach Art. 77 Abs. 2 GG wird in Zeiten Großer Koalitionen tendenziell weniger angerufen. Obwohl es nur während der Hälfte der Zeit Großer Koalitionen zu einer Bundesratsmehrheit für die Regierungskoalition kam, gab es während dieser Phasen so wenig Vermittlungsverfahren wie nie. In der 5. Wahlperiode wurde der Vermittlungsausschuss insgesamt (inklusive 1965 bis 1966) 15-mal, in der 16. Wahlperiode 14-mal und in der 18. Wahlperiode nur dreimal zur Sitzung einberufen. Obwohl die Zahl der Zustimmungsgesetze seit den Föderalismusreformen insgesamt sank, überrascht gerade die Sitzungszahl aus der 18. Wahlperiode, da es während dieser Legislaturperiode zu keinem Zeitpunkt eine Bundesratsmehrheit für die Regierungskoalition gab. Der Vermittlungsausschuss tagt jedoch auch nicht öffentlich. Zum Vermittlungsverfahren allgemein Schindler, Datenhandbuch zur Geschichte des Deutschen Bundestages 1949 bis 1999, S. 2449 ff. 197 Kropp, APuZ 2003, Heft 43, 23 (24).

B. Fragestellung

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institutionalisiert wird198 und in dem sich die Koalitionsspitzen zu richtungsweisenden Koordinationsgesprächen treffen und Konflikte zu lösen versuchen. Sachdiskussionen innerhalb Kleiner wie Großer Koalitionen werden teilweise statt im Parlament und seinen Ausschüssen, in den Koalitionsausschuss und in Koalitionsgespräche verlegt.199 Erst die Koalitionsvereinbarung der Kleinen Koalition zwischen SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN von 1998 schuf eine ausdrückliche Vereinbarung über die Zusammenarbeit der Koalition auf Spitzenebene, auch wenn solche schon vorher stattfanden.200 Die enge Abstimmung im Koalitionsausschuss führt einerseits zwar zur Mehrheitsfindung innerhalb der Koalition, andererseits aber auch zu einer Informalisierung von Willensbildung – schließlich sind die Gespräche trotz intensiver medialer Begleitung vertraulich.201 Dies ist mehr und mehr der Ort für Konfliktbewältigung.202 Es entstehen unzweifelhaft Problemlagen durch Entparlamentarisierung und -formalisierung.203 Eine zusätzliche Informationsasymmetrie aufgrund fehlender Öffentlichkeit in Zeiten Großer Koalitionen ist dagegen nicht erkennbar.204 Es sind gerade die Koalitionsausschüsse und -runden, die Kompromisse schließen und letztlich die politischen Entscheidungen forcieren.205 Dieses Legitimationsdefizit aber stellt keinen Verstoß gegen das Demokratieprinzip dar. Das Verhältniswahlrecht dient einer konsequenten Umsetzung der Wahlgleichheit, Koalitionsregierungen sind die logische Folge. Innerparteilich wie -koalitionär verhelfen Willensbil-

198 Man mag meinen, der Koalitionsausschuss wird formalisiert, so widmet sich z.B. auch der Koalitionsvertrag von 2013 dem Koalitionsausschuss, siehe CDU, CSU und SPD, Deutschlands Zukunft gestalten, 14. 12. 2017, https://www.cdu.de/sites/default/files/media/do kumente/koalitionsvertrag.pdf, S. 128, zuletzt geprüft am 26. 4. 2018. Auch im Koalitionsvertrag von CDU, CSU und SPD von 2018 befindet sich ein solcher Passus. 199 Stüwe, ZParl. 37 (2006), 544 (549 ff.); auch Hildebrand, ZParl. 37 (2006), 611 (622). 200 Politikwissenschaftlich Kropp/Sturm, Koalitionen und Koalitionsvereinbarungen, S. 112 ff.; ferner Busse/Hofmann, Bundeskanzleramt und Bundesregierung, 3. Kapitel Rn. 200. 201 Vgl. Lorz/Richterich, in: Morlok/Schliesky/Wiefelspütz, Parlamentsrecht, § 35 Rn. 123; Busse/Hofmann, Bundeskanzleramt und Bundesregierung, 3. Kapitel Rn. 200. 202 Hartmann, Das politische System der BRD im Kontext, S. 204 f. 203 Grundlegend Schulze-Fielitz, Der informale Verfassungsstaat, S. 134 ff.; ders., in: Görlitz/Burth, Informale Verfassung, S. 34 ff.; zu Informalisierungsprozessen durch Koalitionsbildung auch Schmidt-Preuß, FS Leisner, S. 476 ff.; Scholz, FS 50 Jahre BVerfG, Bd. 2, S. 681 ff.; Morlok, VVDStRL 62 (2003), 37 – 116; kritisch Schreckenberger, FS Morsey, S. 153 ff. Vgl. insgesamt v. Münch, Rechtliche und politische Probleme von Koalitionsregierungen; aus der Politikwissenschaft Manow, ZParl. 27 (1996), 96 – 107; Schütt-Wetschky, ZPol. 11 (2001), 3 – 29. 204 Zum sich während der ersten Großen Koalition bildenden Kressbronner Kreis März, in: Jesse/Klein, Das Parteienspektrum im wiedervereinigten Deutschland, S. 141 f. 205 Miller/Müller, in: Egle/Zohlnhöfer, Die zweite Große Koalition, S. 172; ebenfalls politikwissenschaftlich Rudzio, Informelles Regieren, S. 20 ff.; außerdem hierzu Huster/Rux, in: Epping/Hillgruber, GG, 37. Edition Mai 2018, Art. 20 Rn. 122 ff.

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1. Kap.: Einleitung

dungsprozesse und Wahlen zu einer demokratischen Rückkoppelung.206 Bindend sind nicht die Entscheidungen des Koalitionsausschusses, sondern des Parlamentsplenums.

III. Herausforderungen im Parlament der qualifizierten Großen Koalition Brocker nennt das Auftreten besonderer und unvorhergesehener Mehrheitsverhältnisse im Parlament treffend eine der „größten Herausforderungen des Parlamentsrechts“207 – das mache aber auch ihren Reiz aus. Der wesentlichste Unterschied zwischen Kleinen und Großen Koalitionen liegt ungeachtet möglicher politischer Nebeneffekte in den veränderten Mehrheitsverhältnissen im Parlament. Die Mandatszahl der Regierungsfraktionen übersteigt die der parlamentarischen Opposition gerade in Phasen qualifizierter Großer Koalitionen um ein Vielfaches. Aus der politischen Sonderkonstellation einer großkoalitionären Regierungsbildung erwachsen verfassungsrechtliche wie -politische Fragestellungen,208 die in der zurückliegenden 18. Wahlperiode des Deutschen Bundestages in Gestalt der Verabschiedung des § 126a GO-BT a.F., der veränderten Redezeitenverteilung, der Anhebung des Oppositionszuschlages sowie des Hauptausschusses offen zutage traten: Die aktuelle parlamentarische Opposition der 19. Wahlperiode erreicht in ihrer Gesamtheit alle Verfassungsquoren. Dies war während der vorherigen Großen Koalitionen anders: Lediglich das Drittelquorum verfehlte die Opposition in der Phase der zweiten Großen Koalition von 2005 bis 2009. Sowohl bei der ersten Großen Koalition von 1966 bis 1969 als auch dem dritten großkoalitionären Bündnis von 2013 bis 2017 handelte es sich um qualifizierte Große Koalitionen. Während der 5. und 18. Wahlperiode verfehlte die Opposition alle Quoren, die zu diesem Zeitpunkt ausdrücklich im Grundgesetz verankert waren, sowohl ein Viertel als auch ein Drittel der Mitglieder des Bundestages. An diese Minderheitenquoren sind jedoch Rechte geknüpft, die es Abgeordneten trotz ihrer Unterzahl ermöglichen, besonderen Einfluss auf das parlamentarische Geschehen zu nehmen. Die Redezeit wird im Rahmen der Plenarsitzungen des Bundestages auf die Fraktionen aufgeteilt. Dabei orientiert sich die Redezeitenverteilung maßgeblich an der Fraktionsstärke, um alle Abgeordneten gleich zu behandeln. Rede und Gegen206 Huster/Rux, in: Epping/Hillgruber, GG, 37. Edition Mai 2018, Art. 20 Rn. 122. Für die grundsätzliche Verfassungsmäßigkeit von Koalitionsgesprächen und -runden spricht sich auch aus Schmidt-Preuß, FS Leisner, S. 478 f. 207 Brocker, DÖV 2014, 475. 208 Sowohl die Nicht-Beteiligung von Fraktionen an Arbeitsgruppen des Vermittlungsausschusses (BVerfGE 140, 115; dazu Putzer, DÖV 2016, 168 – 171) als auch an der von der Bundesregierung 2015 eingesetzten Expertenkommission zur Überprüfung der Finanzierung des Kernenergieausstiegs sind diskussionswürdig, finden aber keinen Bezug zur besonderen Mehrheitskonstellation im Parlament der qualifizierten Großen Koalition.

B. Fragestellung

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rede zwischen Mehrheits- sowie Oppositionsfraktionen können in einem Parlament der qualifizierten Großen Koalition jedoch kaum noch stattfinden. Ferner haben die Mehrheitsfraktionen im Gegensatz zu den Oppositionsfraktionen einen gesonderten informatorischen Zugang zur Ministerialbürokratie. Die Erarbeitung von eigenen Alternativvorschlägen zur Regierungsarbeit verlangt oftmals Sachkenntnis von außen. Darüber hinaus ist die Oppositionsarbeit in besonderem Maße auf die Einbindung der Öffentlichkeit angewiesen. Deshalb wird ein finanzieller Ausgleich an die Fraktionen, die nicht die Bundesregierung tragen, gezahlt – der Oppositionszuschlag. In Zeiten qualifizierter Großer Koalitionen erweitert sich das Informationsgefälle zwischen Regierungs-und Oppositionsfraktionen, da noch mehr Abgeordnete Zugang zum Beamtenapparat der Bundesministerien haben und noch weniger Abgeordnete diesen Zugang nicht haben. Gleichzeitig sinkt aber der Oppositionszuschlag, der sich unter anderem an der Mitgliederzahl der Oppositionsfraktionen orientiert. Den drei Großen Koalitionen unter Bundeskanzlerin Merkel gingen besonders lange Koalitionsverhandlungen zwischen den Unionsparteien und der SPD voraus. Dadurch verging nicht nur bis zur Regierungsbildung, sondern auch bis zur parlamentarischen Ausschusseinsetzung verhältnismäßig viel Zeit. Die Regierungsbildung von 1966 war ein Sonderfall, weil sie inmitten der Wahlperiode stattfand. Sie führte nicht zu einer längeren „Parlamentspause“, die zu Beginn der Wahlperiode eingesetzten Fachausschüsse blieben bestehen. In der 18. Wahlperiode setzte der Bundestag nach langwierigen Koalitionsverhandlungen zwischen CDU, CSU und SPD und vor der endgültigen Regierungsbildung mittels Plenarbeschluss erstmals einen sogenannten Hauptausschuss ein, der übergangsweise die Aufgaben der Fachausschüsse übernehmen sollte. Der Hauptausschuss findet seinen Platz nicht etwa in der Arbeit, weil er eine unmittelbare Folge der qualifizierten Großen Koalition ist. Dies unterscheidet ihn von den anderen Verfassungsfragen; die Stoßrichtung der Problematik ist eine andere: Die zukünftige Rollenverteilung im Parlament stand bei Einsetzung des Hauptausschusses unter Vorbehalt des SPD-Mitgliedervotums fest.209 Die Mehrheitsverhältnisse im Parlament der qualifizierten Großen Koalition wurden in den 47-köpfigen Hauptausschuss projiziert, sodass im einzig tagenden Ausschuss lediglich zehn Abgeordnete Platz fanden, die der späteren Opposition angehörten. Der Hauptausschuss ist in einem Parlament der qualifizierten Großen Koalition mit Blick auf den parlamentarischen Minderheitenschutz und die Gleichheit der Abgeordneten zu diskutieren. Ferner wirft der 47-köpfige „SuperAusschuss“210 Fragen in Bezug auf die ausdrücklich in der Verfassung normierten Pflichtausschüsse und ihre Sonderbefugnisse auf. 209

In diesem Zusammenhang BVerfG, VR 2014, 71. Vgl. insgesamt und kritisch zum Mitgliederentscheid in der 19. Wahlperiode Starck, JZ 2018, 240 – 241. 210 Roßmann, Der Trick mit dem Super-Ausschuss, 20. 11. 2013, http://www.sueddeutsche. de/politik/stillstand-im-bundestag-der-trick-mit-dem-super-ausschuss-1.1823771, zuletzt geprüft am 26. 4. 2018; Heppner/Wierny, Der „Super-Ausschuss“ – Einer für (fast) alle(s)?, 22. 11. 2013, https://www.juwiss.de/116-2013/, zuletzt geprüft am 26. 4. 2018.

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1. Kap.: Einleitung

Allen vier skizzierten und in dieser Arbeit untersuchten verfassungsrechtlichen Problemkomplexen ist die Kollision grundgesetzlicher Determinanten gemeinsam. Zentral für die Auflösung solcher Spannungsverhältnisse ist die Deutung der Verfassung anhand der verschiedenen Auslegungsmethoden. An dieser Stelle der Arbeit soll einmal auf die besondere Bedeutung der historischen – subjektiven – Auslegung sowie einer teleologischen und an der Parlamentspraxis orientierten Auslegung hingewiesen werden. Dies liegt maßgeblich in der „Traditionsgebundenheit“211 des Parlamentsrechts bzw. in der weiten parlamentarischen Selbstorganisationsbefugnis begründet.212 Die „Grobmaschigkeit“213 des Grundgesetzes hat einen weiten Deutungsspielraum zur Folge. Helmuth Schulze-Fielitz konstatiert im Sinne dieses Befunds anschaulich, wie sehr sich über die Scheidelinie zwischen zulässiger Verfassungskonkretisierung und verfassungswidriger Praxis streiten lasse.214 In diesem Sinne möchte die Arbeit ihren wissenschaftlichen Beitrag hinsichtlich der wesentlichen Verfassungsfragen in einem Parlament der qualifizierten Großen Koalition leisten.

C. Forschungsstand Zunächst muss zwischen dem Forschungsstand der Rechtswissenschaft und dem der Politikwissenschaft als Teil der Sozialwissenschaften unterschieden werden. Obwohl Große Koalitionen Randerscheinungen der Koalitionsforschung215 bleiben, widmet das politikwissenschaftliche Schrifttum dem Thema der Großen Koalition seit den jüngeren großkoalitionären Regierungsbildungen auf Bundesebene vermehrt Aufmerksamkeit. Die vorliegende Arbeit greift politikwissenschaftliche Forschungsergebnisse im Wesentlichen auf, um das Zustandekommen von Großen Koalitionen und ihre politischen Einflüsse auf den Verfassungsstaat zu erklären. Erscheinungsformen Großer Koalitionen, Ursachen für die Bildung von Großen

211

Klein, in: Maunz/Dürig, GG, 50. EL Juni 2007, Art. 40 Rn. 6. Zum besonderen Stellenwert der historischen Auslegung im Parlamentsrecht auch Roll, Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages, Einführung Rn. 7; Brocker, in: BK, GG, 150. EL Februar 2011, Art. 40 Rn. 46; Arndt, Parlamentarische Geschäftsordnungsautonomie und autonomes Parlamentsrecht, S. 48. Vgl. anschaulich zur Rolle der Staatspraxis für die Verfassungsinterpretation Schulze-Fielitz, in: Görlitz/Burth, Informale Verfassung, S. 30 ff. 213 Ders., in: Görlitz/Burth, Informale Verfassung, S. 35. 214 Ders., in: Görlitz/Burth, Informale Verfassung, S. 35. 215 Zum Begriff Nolte, PVS 29 (1988), 230 – 251. Internationale Arbeiten wie die von William Harrison Riker, William Anthony Gamson, Michael Leiserson oder Abram de Swaan gaben Anstöße. Mittlerweile gibt es eine Reihe von deutschsprachigen Arbeiten innerhalb der Koalitionsforschung, vgl. nur Jun, Koalitionsbildung in den deutschen Bundesländern; Kropp/ Sturm, Koalitionen und Koalitionsvereinbarungen. Überblicksartig zur politikwissenschaftlichen Koalitionsforschung Best, Koalitionssignale bei Landtagswahlen, S. 35 ff.; Weckenbrock, Schwarz-grüne Koalitionen in Deutschland, S. 71 ff. 212

C. Forschungsstand

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Koalitionen und politische Wirkungen sind bereits skizziert worden.216 Ferner wird im Zusammenhang mit grundlegenden Fragen zum politischen System der Bundesrepublik auf das politikwissenschaftliche Schrifttum Bezug genommen. Dabei werden die im weiteren Verlauf der Arbeit nur noch vereinzelt genutzten Quellen aus der Politikwissenschaft auch als solche gekennzeichnet. Forschungsergebnisse aus der Parlamentspraxis217 werden dagegen vielfach genutzt, um Thesen mit Datenmaterial zu unterlegen. Das rechtswissenschaftliche Schrifttum behandelt getrennt voneinander Teilaspekte der Arbeit: Grundlegende Überlegungen, insbesondere zum Spannungsfeld zwischen Mehrheitsprinzip und Minderheitenschutz218, zur Abgeordnetengleichheit, zur parlamentarischen Opposition219 und zum Selbstorganisa216

Vgl. insbesondere die Beiträge in Bukow/Seemann (Hrsg.), Die Große Koalition, und Egle/Zohlnhöfer (Hrsg.), Die zweite Große Koalition. Ferner exemplarisch Bräuninger/Debus, ZPB 2 (2009), 563 – 567; Bytzek, in: Decker/Jesse, Die deutsche Koalitionsdemokratie vor der Bundestagswahl 2013, S. 437 – 455; Dittberner, Große Koalition – kleine Schritte; Gast/Kranenpohl, APuZ 2008, Heft 16, 18 – 23; Gross, Große Koalitionen, große Folgen?; Haas, APuZ 2007, Heft 35/36, 18 – 26; Hildebrand, ZParl. 37 (2006), 611 – 625; Hunsicker/Schroth, in: Bukow/Seemann, Die Große Koalition, S. 336 – 356; Ismayr, GWP 2016, 53 – 62; Jung/ Wolf, APuZ 2005, Heft 51, 3 – 11; Knorr, Der parlamentarische Entscheidungsprozess während der Großen Koalition 1966 bis 1969; Kropp/Ruschke, in: Abels, Deutschland im Jubiläumsjahr 2009, S. 119 – 139; März, in: Jesse/Klein, Das Parteienspektrum im wiedervereinigten Deutschland, S. 119 – 177; dens., in: Jesse/Sturm, Bilanz der Bundestagswahl 2009, S. 71 – 96; Müller, ZSE 6 (2008), 499 – 523; Niclauß, APuZ 2008, Heft 16, 3 – 10; Probst, ZParl. 37 (2006), 626 – 640; Rühmann, Das Bundesverfassungsgericht in Zeiten Großer Koalitionen; Schabedoth, Angela Merkel – Regieren mit SPD und Union; dens., SPD und Merkel; Schmoeckel/Kaiser, Die vergessene Regierung; Haselwanter-Schneider, Die Kunst des Kompromisses: Helmut Schmidt und die Große Koalition; Schneider, Große Koalition; Schönhoven, Wendejahre – Die Sozialdemokratie in der Zeit der Großen Koalition 1966 – 1969; Spier, ZPol. 23 (2013), 489 – 516; Strohmeier, ZPol. 19 (2009), 5 – 37; Stüwe, APuZ 2008, Heft 16, 24 – 31; Taschler, Vor neuen Herausforderungen. 217 Tatsachenbelege und Parlamentspraxis sind unverzichtbar; vgl. in diesem Zusammenhang vor allem Schindler, Datenhandbuch zur Geschichte des Deutschen Bundestages 1949 bis 1999; Feldkamp, Datenhandbuch zur Geschichte des Deutschen Bundestages 1990 bis 2010, und die aktualisierten Daten auf der Internetseite des Deutschen Bundestages. 218 Vgl. auch hier allgemein und auszugsweise; insbesondere historisch Elsener, ZRG Kan. Abt. 73 (1956), 73 – 116; Flaig, Die Mehrheitsentscheidung; v. Gierke, Schmollers Jahrbuch für Gesetzgebung, Verwaltung und Volkswirtschaft 39 (1915), 565 – 587; Heun, Das Mehrheitsprinzip in der Demokratie; Kelsen, Vom Wesen und Wert der Demokratie, S. 53 ff.; Starosolskyj, Das Majoritätsprinzip; Thier, Hierarchie und Autonomie; ferner Scheuner, FS Kägi, S. 301 – 325; Hillgruber, AöR 127 (2002), 460 – 473; Höfling/Burkiczak, Jura 2007, 561 – 567; Dreier, ZParl. 17 (1986), 94 – 118; Achterberg, Die parlamentarische Verhandlung; Mußgnug, FS Klein, S. 249 – 258; Sackers, Das parlamentarische Minderheitenrecht in Deutschland; Jellinek, Das Recht der Minoritäten; Morstein Marx, Beiträge zum Problem des parlamentarischen Minderheitsschutzes; Lennartz/Kiefer, DÖV 2006, 185 – 194; Peters, ZParl. 43 (2012), 831 – 853; Caspar, DVBl. 2004, 845 – 853; Diehl, in: Scheffczyk/Wolter, Linien der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, Bd. 4, S. 491 – 517; Vonderbeck, ZParl. 6 (1975), 150 – 153; aus politikwissenschaftlicher Perspektive noch Guggenberger/Offe, APuZ 1983, Heft 47, 3 – 10; Sebaldt, APuZ 2014, Heft 38/39, 17 – 24. 219 Vgl. zur Opposition in jüngerer Zeit Cancik, Parlamentarische Opposition in den Landesverfassungen; Mundil, Die Opposition; Ingold, Das Recht der Oppositionen. Vgl. schon

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1. Kap.: Einleitung

tionsrecht des Parlaments220 geraten punktuell in das Blickfeld der Untersuchung. Dazu existiert eine ausgiebige Literaturauswahl, auf die im Folgenden rekurriert wird. Im Rahmen historischer Ausführungen wird ergänzend geschichtswissenschaftliche Literatur herangezogen. Nur hinsichtlich der Reichweite parlamentarischen Minderheitenschutzes und des Verhältnisses zwischen Gesetz und Geschäftsordnung des Bundestages bedarf es vorliegend einer umfangreicheren Aufarbeitung. Das Forschungsdesiderat besteht vielmehr im Zusammenhang mit den konkreten Verfassungsfragen, die sich in einem Parlament der qualifizierten Großen Koalition auftun. Zeitnah nach der Bundestagswahl 2013 und der sich andeutenden großkoalitionären Regierungsbildung rückten die Minderheiten- und Oppositionsrechte in den Blickpunkt der Wissenschaft. Dabei fokussieren sich die meisten der rechtswissenschaftlichen Beiträge auf ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts von 2016221 und die darin enthaltene Fortsetzung einer jahrzehntelangen Oppositionsjudikatur.222 Sie befürworten fast in Gänze223 sowohl die gerichtliche Absage an eine Herleitung von Oppositionsfraktionsrechten aus dem Grundgesetz als auch an eine Gebotenheit von Verfassungsänderungen in großkoalitionären Regierungsphasen.224 Sofern im Schrifttum auf die Verfassungsmäßigkeit des § 126a GO-BT a.F. eingegangen wird, früher, grundlegend aus historischer Perspektive Kluxen, Das Problem der politischen Opposition; ferner Schumann, Der Staat 5 (1966), 81 – 95 m.w.N., und der vielzitierten Frage „Die Opposition – Stiefkind der deutschen Forschung?“; aus politikwissenschaftlicher Sicht Hereth, Die parlamentarische Opposition in der Bundesrepublik Deutschland; Veen, Opposition im Bundestag; auch noch Sebaldt, ZParl. 23 (1992), 238 – 265; dens., Die Thematisierungsfunktion der Opposition. 220 Vgl. aus dem Schrifttum nur Arndt, Parlamentarische Geschäftsordnungsautonomie und autonomes Parlamentsrecht; Bollmann, Verfassungsrechtliche Grundlagen und allgemeine verfassungsrechtliche Grenzen des Selbstorganisationsrechts des Bundestages; Kühnreich, Das Selbstorganisationsrecht des Deutschen Bundestages unter besonderer Berücksichtigung des Hauptstadtbeschlusses; Schwerin, Der Deutsche Bundestag als Geschäftsordnungsgeber; Steiger, Organisatorische Grundlagen des parlamentarischen Regierungssystems; auch Bücker, ZParl. 17 (1986), 324 – 333; Di Fabio, Der Staat 29 (1990), 599 – 618; Dreier, JZ 1990, 310 – 321; Kretschmer, ZParl. 17 (1986), 334 – 346; Morlok, JZ 1989, 1035 – 1047; dens./Hientzsch, JuS 2011, 1 – 9; Schmidt, AöR 128 (2003), 608 – 648. Demnächst – 2019 – erscheint eine grundlegende Arbeit zu dem Thema von Florian Meinel mit dem Titel „Selbstorganisation des parlamentarischen Regierungssystems“. 221 BVerfGE 142, 25. 222 Vgl. die Urteilsanmerkungen bei Hain, JZ 2016, 1172 – 1173; Hillgruber, JA 2016, 638 – 640; Lassahn, NVwZ 2016, 922 – 930; Rossi, JZ 2016, 1169 – 1172; Sachs, JuS 2016, 764 – 766; ausführlicher Starski, DÖV 2016, 750 – 761; Uhle, ZG 33 (2018), 1 – 15; Cancik, Der Grundsatz (in)effektiver Opposition: zum Urteil des Bundesverfassungsgerichts in Sachen Oppositionsfraktionsrechte, 9. 5. 2016, http://verfassungsblog.de/der-grundsatz-ineffektiver-op position-zum-urteil-des-bundesverfassungsgerichts-in-sachen-oppositionsfraktionsrechte/, zuletzt geprüft am 26. 4. 2018. 223 Insgesamt kritischer Volkmann, ZParl. 48 (2017), 473 – 490; Cancik, ZParl. 48 (2017), 516 – 534. 224 Anders dagegen Cancik, NVwZ 2014, 18 – 24; relativierend dies., ZParl. 48 (2017), 516 (518 ff.).

C. Forschungsstand

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ist dies nur fragmentarisch und oberflächlich der Fall.225 Die Stimmen in der Literatur, die sich zur Vorschrift des § 126a GO-BT a.F. äußern, weisen regelmäßig darauf hin, dass eine solche Vorschrift zulässig sei, wenn sie auch keine rechtliche Bindungswirkung entfalte.226 An keiner Stelle wird die Geschäftsordnungsvorschrift eingehender unter die Lupe genommen.227 Zur Redezeitenverteilung im Bundestag gibt es abseits der Standardwerke zum Parlamentsrecht bemerkenswert wenig zeitgenössische Auseinandersetzung. Dies ist auch darin begründet, dass die Redeordnung des Bundestages weniger auf ausdrücklichen Vorschriften als im Wesentlichen auf parlamentarisches Gewohnheitsrecht beruht. Historische Erfahrungsberichte dienen dazu, den Gang der parlamentarischen Redezeitenverteilung nachzuvollziehen.228 Hans-Rudolf Lipphardts 1976 erschienene Dissertation229 umfasst ebenfalls tiefgehende historische Beobachtungen zur Redeordnung. Über eine Verfassungspflicht zur Verlängerung der Redezeit für die Opposition in Zeiten einer qualifizierten Großen Koalition macht sich anlässlich der Mehrheitsverhältnisse in der 18. Wahlperiode Simon Schuster Gedanken. Er postuliert im Ergebnis eine Verfassungspflicht zur Ver-

225 Vgl. ein wenig ausführlicher Cancik, NVwZ 2014, 18 – 24; dies., ZParl. 48 (2017), 516 – 534; Starski, DÖV 2016, 750 – 761; auch Brocker, DÖV 2014, 475 – 479; zusätzlich Beckermann/Weidemann, Der Staat 53 (2014), 313 – 329; Ennuschat, VR 2015, 1 – 5; Hölscheidt, ZG 30 (2015), 246 – 259; Ingold, Das Recht der Oppositionen, S. 621 ff.; Leisner, DÖV 2014, 880 – 884; Rixecker, FS Wendt, S. 1271 – 1281; Schwarz, ZRP 2013, 226 – 228; Volkmann, ZParl. 48 (2017), 473 – 490; Waack, in: Morlok/Schliesky/Wiefelspütz, Parlamentsrecht, § 22 Rn. 74 ff. 226 In diesem Sinne Gärditz, in: Waldhoff/Gärditz, PUAG, § 2 Rn. 32; Glauben, in: ders./ Brocker, HdB-PUAG, 2. Teil 4. Kapitel Rn. 3b; Klein, in: Maunz/Dürig, GG, 76. EL Dezember 2015, Art. 44 Rn. 75; Morlok, in: Dreier, GG, Bd. 2, Art. 44 Rn. 36; in der elften Auflage Risse/ Witt, in: Hömig/Wolff, GG, vor Art. 38 Rn. 5 (siehe aber den treffenden Hinweis an gleicher Stelle in der Neuauflage); Ritzel/Bücker/Schreiner/Winkelmann, HdbPP, 30. EL Dezember 2014, Erl. 1. zu § 126a, S. 3; ähnlich Brocker, DÖV 2014, 475 (478); weiter Schliesky, in: Morlok/Schliesky/Wiefelspütz, Parlamentsrecht, § 5 Rn. 84; kritischer Waldhoff, in: ders./ Gärditz, PUAG, § 1 Rn. 48; Ingold, Das Recht der Oppositionen, S. 624 ff.; neuerdings Cancik, ZParl. 48 (2017), 516 (525 Fn. 38). 227 Cancik, die sich anschaulich und in bemerkenswerter Weise mit dem Thema auseinandersetzt, versucht richtigerweise eine größere verfassungspolitische Debatte in Gang zu setzen. Zu § 126a GO-BT a.F. findet sie wohl auch deshalb in ihrem neuesten Aufsatz nur wenige Worte in einer Fußnote, dies., ZParl. 48 (2017), 516 (525 Fn. 38). 228 Vgl. insbesondere Plate, Die Geschäftsordnung des Preußischen Abgeordnetenhauses; auch v. Mohl, ZgS 31 (1875), 39 – 113; v. Thudichum, Verfassungsrecht des norddeutschen Bundes und des Deutschen Zollvereins; Bamberger, Jahrbuch für Gesetzgebung, Verwaltung und Rechtspflege des Deutschen Reiches 1 (1871), 159 – 199; zudem Hatschek, Das Parlamentsrecht des Deutschen Reiches. 229 Lipphardt, Die kontingentierte Debatte. Vgl. auch noch Besch, in: Schneider/Zeh, Parlamentsrecht und Parlamentspraxis, § 33 Rn. 33 ff.; Scholz, ZParl. 13 (1982), 24 – 32; Schreiner, ZParl. 36 (2005), 573 – 588; Schürmann, in: Morlok/Schliesky/Wiefelspütz, Parlamentsrecht, § 20 Rn. 32 ff.; Vonderbeck, ZParl. 8 (1977), 404 – 412.

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1. Kap.: Einleitung

längerung230 der oppositionellen Fraktionsredezeit in Zeiten qualifizierter Großer Koalitionen.231 Auch anderen Autoren sind Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit der Redezeitenverteilung in der 18. Wahlperiode zu entnehmen.232 Die Verlängerung der Redezeit der Oppositionsfraktionen in Zeiten qualifizierter Großer Koalitionen wird jedoch überwiegend als verfassungsrechtlich zulässig sowie verfassungspolitisch angemessen angesehen.233 Im Gegensatz zu den Themenfeldern Minderheitenrechte und Redezeiten spielte der Oppositionszuschlag nach der Bundestagswahl 2013 weder in der Bundestagsdebatte234 oder Öffentlichkeit noch in der Wissenschaft235 eine Rolle. Während die Fraktionsfinanzierung in jüngerer Vergangenheit zu einer durchaus beachteten Thematik avancierte,236 findet der Oppositionszuschlag in der Wissenschaftlich eher randläufig Beachtung.237 Ausführlichere Besprechungen lassen sich auch nicht in der Kommentarliteratur zu den Landesverfassungen finden, die den Oppositionszuschlag ausdrücklich regeln. Stattdessen sind es vermehrt die Werke zur parlamentarischen Opposition, die sich mit dem Oppositionszuschlag beschäftigen; schließlich handelt es sich bei § 50 Abs. 2 Satz 1 AbgG nach wie vor um eine der

230 Schuster, DÖV 2014, 516 (525), sieht die verfassungsrechtlichen Vorgaben in der 18. Wahlperiode durch die vorgenommenen Anpassungen bei der Redezeitbemessung nicht ausreichend beachtet, ihnen sei damit nicht genüge getan. 231 Ders., DÖV 2014, 516 (519). Ähnlich Cancik, NVwZ 2014, 18 (23); Mahrenholz, FS Hufen, S. 206; auch Schürmann, in: Morlok/Schliesky/Wiefelspütz, Parlamentsrecht, § 20 Rn. 43. Zweifel an einer verfassungsrechtlichen Pflicht hat Hölscheidt, ZG 30 (2015), 246 (257); ablehnend schon Demmler, Der Abgeordnete im Parlament der Fraktionen, S. 471 ff.; ausdrücklich Brocker, in: Epping/Hillgruber, GG, 37. Edition Mai 2018, Art. 42 Rn. 5.2. 232 Ingold, Das Recht der Oppositionen, S. 626 f. Zum einen sei eine rein fraktionsproporzorientierte Regelung unzulässig, da nicht die Fraktion, sondern der einzelne Abgeordnete Anknüpfungspunkt des Rederechts sei. Zum anderen verbiete die Mandatsgleichheit gerade eine zusätzliche Redezeit für die Oppositionsfraktionen. Nur die im Einzelfall zu beurteilenden Interessen der Abgeordneten seien bei der Redezeitbemessung entscheidend. 233 Eher randläufig Cancik, NVwZ 2014, 18 (23); Ennuschat, VR 2015, 1 (4); auch Starski, DÖV 2016, 750 (751); Waack, in: Morlok/Schliesky/Wiefelspütz, Parlamentsrecht, § 22 Rn. 83. So sind wohl auch die Aussagen des Bundesverfassungsgerichts zu interpretieren, BVerfGE 142, 25 (63). 234 Siehe BT-Plenarprotokolle 18/14 vom 13. Februar 2014, S. 1017 (C) ff., und 18/26 vom 3. April 2014, S. 2065 (B) ff. 235 Lediglich kurz Hölscheidt, ZG 30 (2015), 246 (254 f.). 236 Vgl. hierzu die einschlägigen Nachweise bei Waldhoff, in: Austermann/Schmahl, AbgG, § 50. 237 Vgl. Linde, Fraktionsfinanzierung in der parlamentarischen Demokratie, S. 53 ff.; Martin, Staatliche Fraktionsfinanzierung in Rheinland-Pfalz, S. 95 ff.; Brocker/Messer, NVwZ 2005, 895 (897 f.); Schneider, Die Finanzierung der Parlamentsfraktionen als staatliche Aufgabe, S. 124 ff.; Waldhoff, in: Austermann/Schmahl, AbgG, § 50 Rn. 15 f.; Becker, ZParl. 27 (1996), 189 (197 ff.). Nur randläufig Starski, DÖV 2016, 750 (751); Waack, in: Morlok/Schliesky/Wiefelspütz, Parlamentsrecht, § 22 Rn. 82; jedoch aktuell Klenner, DÖV 2018, 563 – 570.

C. Forschungsstand

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wenigen bundesrechtlichen Normierungen des Oppositionsbegriffs.238 Auf die Gebotenheit des Oppositionszuschlages wird selten näher eingegangen.239 Auch die Erhöhung des Oppositionszuschlages in der 18. Wahlperiode blieb – trotz der Tendenz in Rechtsprechung und Literatur, die Stellung des einzelnen Parlamentariers und seine Gleichheit zu betonen – ohne nennenswerte Kommentierung.240 Der Hauptausschuss des Bundestages ist ein Novum in der Bundesrepublik und nahezu unkommentiert.241 Die vereinzelten Zeitschriftenaufsätze und Randbemerkungen in der Kommentarliteratur zur Verfassungsmäßigkeit des Hauptausschusses behandeln nur Teilelemente der Problematik. Die Autoren, die dem Hauptausschuss attestieren, er sei verfassungswidrig, nehmen vor allem die grundgesetzlichen Vorgaben in Bezug auf die Pflichtausschüsse sowie das Gebot der Gleichbehandlung von Abgeordneten zum Anlass für ihre Kritik.242 Keine hinreichende Aufarbeitung erfahren insbesondere die Sonderbefugnisse der Pflichtausschüsse und die damit zu238 Zum Oppositionsbegriff in § 50 Abs. 2 Satz 1 AbgG Cancik, Parlamentarische Opposition in den Landesverfassungen, S. 194 ff.; Mundil, Die Opposition, S. 163 f.; Ingold, Das Recht der Oppositionen, S. 157 ff. 239 Gegen eine verfassungsrechtliche Gebotenheit Brocker/Messer, NVwZ 2005, 895 (898); ebenfalls Poscher, AöR 122 (1997), 444 (453); letztlich auch Becker, ZParl. 27 (1996), 189 (199); Ingold, Das Recht der Oppositionen, S. 213; Cancik, Parlamentarische Opposition in den Landesverfassungen, S. 207 ff.; Klenner, DÖV 2018, 563 (565 ff.); für Rheinland-Pfalz Edinger, in: Grimm/Caesar, Verf. Rheinland-Pfalz, Art. 85b Rn. 15; für Bayern Möstl, in: Lindner/Möstl/Heinrich, Verf. Bayern, Art. 16a Rn. 8; für Nordrhein-Westfalen Thesling, in: Heusch/Schönenbroicher, Verf. Nordrhein-Westfalen, Art. 30 Rn. 9; a.A., also eine verfassungsrechtliche Gebotenheit annehmend Jekewitz, ZParl. 13 (1982), 314 (322 ff.); Waack, in: Morlok/Schliesky/Wiefelspütz, Parlamentsrecht, § 22 Rn. 72; Hölscheidt, ZG 30 (2015), 246 (254 f.); auch Blasius, NWVBl. 1993, 1 (5); Schneider, Die Finanzierung der Parlamentsfraktionen als staatliche Aufgabe; Waldhoff, in: Austermann/Schmahl, AbgG, § 50 Rn. 16. „Herstellung von Chancengleichheit“ heißt es bei Schulte/Kloos, in: Baumann-Hasske/ Kunzmann, Verf. Sachsen, Art. 40 Rn. 12. Ähnlich für Niedersachsen Neumann, Verf. Niedersachsen, Art. 19 Rn. 21. 240 Vgl. nur ein wenig ausführlicher Hölscheidt, ZG 30 (2015), 246 (254 f.). 241 Ausführlicher Fuchs, DVBl. 2014, 886 – 894; Hadamek, ZG 29 (2014), 353 – 366; Koschmieder, NVwZ 2014, 852 – 856; Thielbörger/Ackermann, ZJS 2014, 497 – 504; Straßburger, JuS 2015, 714 – 719; Moench, Verfassungsmäßigkeit der Bundestagsausschüsse, S. 257 ff. Vgl. zur Einsetzung eines möglichen Hauptausschusses im 19. Deutschen Bundestag schon Gelze, Das Arbeitsparlament im Wartemodus – ein Hauptausschuss für den 19. Deutschen Bundestag?, 23. 10. 2017, http://verfassungsblog.de/das-arbeitsparlament-im-wartemo dus-ein-hauptausschuss-fuer-den-19-deutschen-bundestag/, zuletzt geprüft am 26. 4. 2018. 242 Im Ergebnis die Verfassungswidrigkeit bejahend z.B. Kämmerer, NVwZ 2014, 29 (31); Koschmieder, NVwZ 2014, 852 (855); Thielbörger/Ackermann, ZJS 2014, 497 (503); wenn auch differenzierend Ingold, Das Recht der Oppositionen, S. 623; Fuchs, DVBl. 2014, 886 (893); Moench, Verfassungsmäßigkeit der Bundestagsausschüsse, S. 257 ff.; allgemein als Fallbeispiel bei Straßburger, JuS 2015, 714 – 719. Die Verfassungsmäßigkeit feststellend Hadamek, ZG 29 (2014), 353 (866); wohl auch Klein, Fangt endlich an zu arbeiten! Der Bundestag setzt einen Hauptausschuss ein – muss aber bald seiner eigentlichen Aufgabe nachkommen, FAZ vom 13. 12. 2013, S. 7; Winkelmann, in: Morlok/Schliesky/Wiefelspütz, Parlamentsrecht, § 23 Rn. 6.

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1. Kap.: Einleitung

sammenhängenden Probleme bei der Einsetzung eines Hauptausschusses.243 Die spezifischen Probleme eines Hauptausschusses im Parlament der qualifizierten Großen Koalition sind bisher nur angedeutet worden.244 Ungeachtet der unterschiedlichen Charakteristik und Begleitumstände des Hauptausschusses der 19. Wahlperiode rief auch seine Einsetzung keine weitere wissenschaftliche Auseinandersetzung hervor.

D. Gang der Untersuchung Die Arbeit ist in sechs Kapitel gegliedert. Eingangs stehen die parlamentarischen Minderheitenrechte und die Besprechung des § 126a GO-BT a.F. im Fokus der Untersuchung (2. Kapitel). Zunächst wird das verfassungsrechtliche Abhängigkeitsverhältnis von Mehrheitsprinzip und Minderheitenschutz abgesteckt. Daraufhin wird der Frage nachgegangen, welche Auswirkungen eine qualifizierte Große Koalition auf die Wirkungsmöglichkeiten der parlamentarischen Minderheit und Opposition hat und ob der Grundsatz effektiver Opposition für eine Herleitung oder Gestaltungspflicht von Oppositionsfraktionsrechten fruchtbar gemacht werden kann. In diesem Zusammenhang erlangt insbesondere die Gleichheit der Abgeordneten nach Art. 38 Abs. 1 GG besondere Bedeutung. Das Bundesverfassungsgericht warf in seiner Entscheidung von 2016 unter anderem die Frage auf, welche grundgesetzlichen Minderheitenrechte überhaupt als „essentielle Oppositionsrechte“ anzusehen seien. Auch dies soll inzident geklärt werden. Schließlich wird auf die Regelung des § 126a GO-BT a.F. – in diesem Kontext auch ausführlicher auf das Selbstorganisationsrecht des Bundestages – und ihre vielseitigen Verfassungsprobleme eingegangen. Trotz ihres Geltungsverlusts mit Ablauf der 18. Wahlperiode bleibt die Vorschrift aufgrund ihrer Vorbildfunktion und der dahinterstehenden verfassungsrechtlichen wie -politischen Fragen aktuell.245 Anschließend stehen die Redezeiten im Parlament der qualifizierten Großen Koalition im Mittelpunkt der Untersuchung (3. Kapitel). Zu Beginn soll eine ausführliche historische Betrachtung der parlamentarischen Redeordnung die Redezeitenverteilung im Gefüge verschiedener parlamentarischer Grundprinzipien ver243 Fuchs, DVBl. 2014, 886 (892 f.); vgl. auch noch Moench, Verfassungsmäßigkeit der Bundestagsausschüsse, S. 259. 244 Thielbörger/Ackermann, ZJS 2014, 497 (503); Schönberger, L’isola che non c’è – ein Vorgeschmack auf Opposition in Zeiten der Großen Koalition, 19. 11. 2013, http://verfassungsb log.de/lisola-che-non-ce-vorgeschmack-auf-opposition-in-zeiten-grossen-koalition/, zuletzt geprüft am 26. 4. 2018. 245 Auch in Zukunft sei die Relevanz der Fragen sicher, so resümierend nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts von 2016 Cancik, Der Grundsatz (in)effektiver Opposition: zum Urteil des Bundesverfassungsgerichts in Sachen Oppositionsfraktionsrechte, 9. 5. 2016, http:// verfassungsblog.de/der-grundsatz-ineffektiver-opposition-zum-urteil-des-bundesverfassungsge richts-in-sachen-oppositionsfraktionsrechte/, zuletzt geprüft am 26. 4. 2018.

D. Gang der Untersuchung

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ständlich machen. Der Gang der Redezeitenverteilung wird dabei von der Frankfurter Nationalversammlung bis heute nachgezeichnet. Nur mit Blick auf die historische Entwicklung ist eine verfassungsrechtliche Diskussion über die Redezeitenmodifizierung in der 18. Wahlperiode zielführend. Dann wird insbesondere das speziell für die Plenardebatten der 18. Wahlperiode veränderte Format der „Berliner Stunde“ analysiert, das sich an die besonderen Mehrheitsverhältnisse im Parlament der qualifizierten Großen Koalition anpasste. Es schließt sich die Besprechung des Oppositionszuschlages in Zeiten qualifizierter Großer Koalitionen an (4. Kapitel). Nachdem zuerst die Eingliederung des Oppositionszuschlages in die Fraktionsfinanzierung erläutert wird, gerät die Diskussion um die Verfassungsmäßigkeit auf der einen Seite sowie die verfassungsrechtliche Gebotenheit des Oppositionszuschlages auf der anderen Seite in den Fokus der Untersuchung. Anschließend wird die Anhebung des Oppositionszuschlages in Zeiten der qualifizierten Großen Koalition der 18. Wahlperiode diskutiert. Schließlich steht die Phase der Koalitionsverhandlungen aus Sicht des Parlaments im Fokus der Untersuchung. In diese Zeit fällt die Einsetzung eines Hauptausschusses des Deutschen Bundestages (5. Kapitel). Zuerst wird auf die Charakteristika des Hauptausschusses eingegangen, dann stehen die mit dem Hauptausschuss im Zusammenhang stehenden Probleme im Fokus: Zunächst spricht das Grundgesetz von Ausschüssen statt von einem einzigen Ausschuss. Manche Ausschüsse sind zudem ausdrücklich in der Verfassung normiert, die meisten dieser Pflichtausschüsse haben gar Sonderbefugnisse. Drittens steht der parlamentarische Minderheiten- und Oppositionsschutz in Frage, wenn bei abgeschlossenen Koalitionsverhandlungen und vorprogrammierter parlamentarischer Rollenverteilung die ohnehin mandatsschwache Opposition in einem einzelnen Ausschuss weiter minimiert wird. Schließlich wird die Mandatsgleichheit der Abgeordneten genauer ins Visier genommen, da die Einsetzung eines einzigen Hauptausschusses bedeutet, dass alle nicht-beteiligten Parlamentarier in dieser Zeit keinem Ausschuss zugewiesen sind. Der Schlussteil der Arbeit (6. Kapitel) trägt die Ergebnisse zusammen. Eine rein rechtsdogmatische Betrachtung der qualifizierten Großen Koalition wird dem politischen Themenkontext der Arbeit jedoch kaum gerecht. Daher werden parlamentarische Handlungsalternativen in Bezug auf die gefundenen Lösungswege des Bundestages in der 18. Wahlperiode erörtert und empfohlen. Die Arbeit schließt mit einem Ausblick.

2. Kapitel

Die Minderheitenrechte im Deutschen Bundestag Schon kurz nach der Bundestagswahl 2013 verdichteten sich die politischen Vorzeichen für die Bildung einer Großen Koalition zwischen CDU, CSU und SPD. Nicht viel länger dauerte es, bis eine öffentliche Debatte über die Oppositions- und Minderheitenrechte im Parlament einer solchen qualifizierten Großen Koalition entbrannte.1 Mit der großkoalitionären Regierungsbildung wurde auch die befürchtete „Mini-Opposition“2 politische Gewissheit. Die zwei Oppositionsfraktionen von DIE LINKE und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN vereinten nur 20,1 % aller Mandate auf sich. Eine mandatsschwächere Opposition gab es lediglich in der 5. Wahlperiode, als die FDP-Opposition nur auf 9,7 % der Parlamentssitze kam. Sowohl zur Zeit der ersten als auch der dritten Großen Koalition wurde die Bedeutung der Opposition für die parlamentarische Demokratie im Plenum des Deutschen Bundestages hervorgehoben.3 Im Gegensatz zu 1966 änderte der Bundestag aber nach der großkoalitionären Regierungsbildung 2013 seine Geschäftsordnung, um damit den besonderen Mehrheitsverhältnissen im Parlament Rechnung zu tragen. Mehr als ein halbes Jahr nach der Bundestagswahl beschloss der Deutsche Bundestag am 3. April 2014 die Vorschrift des § 126a GO-BT a.F.4 zur besonderen Anwendung von Rechten parlamentarischer Minderheiten in der 18. Wahlperiode.

1 Vgl. früh Fromm, Große Koalition, machtlose Opposition, 25. 9. 2013, http://www.zeit.de/ politik/deutschland/2013-09/opposition-minderheitenrechte-koalition, zuletzt geprüft am 26. 4. 2018; später Greven, Große Koalition: Schwarz-Rot bedroht die Demokratie, 2. 12. 2013, http:// www.zeit.de/politik/deutschland/2013-12/schwarz-rot-bedroht-die-demokratie, zuletzt geprüft am 26. 4. 2018. 2 Bubrowski, Mini-Opposition im Bundestag: Im Angesicht der Übermacht, 25. 10. 2013, http://www.faz.net/aktuell/politik/bundestagswahl/mini-opposition-im-bundestag-im-angesichtder-uebermacht-12631166.html, zuletzt geprüft am 26. 4. 2018. 3 Siehe nur die Parlamentsdebatten, in: BT-Plenarprotokoll 5/82 vom 15. Dezember 1966, S. 3718 (A) f., und BT-Plenarprotokoll 26/18 vom 3. April 2014, S. 2065 (D) ff. 4 Siehe dazu die Verabschiedung einer neuen Geschäftsordnung in der 19. Wahlperiode ohne die Regelung des § 126a GO-BT a.F.: BT-Plenarprotokoll 19/1 vom 24. Oktober 2017, S. 4 (D) ff., und BT-Drs. 19/1.

A. Oppositions- und Minderheitenrechte in Diskussion

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A. Oppositions- und Minderheitenrechte in Diskussion I. Parlamentarische Debatte Bereits in der konstituierenden Sitzung des 18. Deutschen Bundestages am 22. Oktober 2013 hob der damalige Bundestagspräsident Lammert mit Blick auf die sich andeutende Große Koalition die herausragende Bedeutung der parlamentarischen Minderheitenrechte hervor. Minderheiten müssten die Möglichkeit haben, ihre Einwände, ihre Vorschläge, wenn eben möglich auch ihre Alternativen im Parlament zur Geltung zu bringen.5 Am 16. Dezember 2013 unterzeichneten die großkoalitionären Bündnispartner einen Koalitionsvertrag, der dem Thema „Rechte der Opposition“ ein eigenes Unterkapitel mit folgender Selbstverpflichtung widmete: „Eine starke Demokratie braucht die Opposition im Parlament. CDU, CSU und SPD werden die Minderheitenrechte im Bundestag schützen. Auf Initiative der Koalitionspartner wird der Bundestag einen Beschluss fassen, der den Oppositionsfraktionen die Wahrnehmung von Minderheitenrechten ermöglicht sowie die Abgeordneten der Opposition bei der Redezeitverteilung angemessen berücksichtigt.“6

Am gleichen Tag formulierte die Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN einen Antrag auf Änderung der Geschäftsordnung7 und einen Gesetzentwurf8 zur Sicherung parlamentarischer Minderheitenrechte. Danach sollte in die Geschäftsordnung eine Regelung eingefügt werden, die es zwei Fraktionen erlaubt, gemeinsam einer Geschäftsordnungsänderung zu widersprechen und die geschäftsordnungsrechtlichen Quorenrechte wahrzunehmen. Der Gesetzentwurf sah zudem die Änderung verschiedener Gesetze vor, um eine Wahrnehmung der dort festgeschriebenen Quorenrechte durch das gemeinsame Stimmverhalten zweier Fraktionen zu ermöglichen. Im Januar 2014 erneuerte Lammert seine Forderung nach der Sicherung parlamentarischer Mitwirkungs- und Kontrollrechte. Er schlug eine Regelung durch Parlamentsbeschluss9 vor. Am 29. Januar 2014 beantragten wiederum die Oppositionsfraktionen von DIE LINKE und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN gemeinsam die 5 Lammert, in: BT-Plenarprotokoll 18/1 vom 22. Oktober 2013, S. 7 (C). Siehe das wörtliche Zitat bereits in der Einleitung: 1. Kapitel A. 6 CDU, CSU und SPD, Deutschlands Zukunft gestalten, 14. 12. 2017, https://www.cdu.de/ sites/default/files/media/dokumente/koalitionsvertrag.pdf, S. 128, zuletzt geprüft am 26. 4. 2018; vgl. auch Ennuschat, VR 2015, 1 (2), der in diesem Zusammenhang von einem „Zeugnis für Kraft und Reife unserer Demokratie“ spricht. 7 BT-Drs. 18/183. 8 BT-Drs. 18/184. 9 Meiritz, Lammert-Papier räumt Opposition mehr Rechte ein, 16. 1. 2014, http://www.spie gel.de/politik/deutschland/bundestagspraesident-norbert-lammert-und-oppositionsrechte-a-943 893.html, zuletzt geprüft am 26. 4. 2018; siehe allgemein dazu Sonja Steffen (SPD), in: BT-Plenarprotokoll 18/14 vom 13. Februar 2014, S. 1027 (A) f.; Christine Lambrecht (SPD), in: BT-Plenarprotokoll 18/26 vom 3. April 2014, S. 2072 (B).

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2. Kap.: Die Minderheitenrechte im Deutschen Bundestag

Änderung der Geschäftsordnung10 und reichten zusammen einen Gesetzentwurf zur Sicherung der Oppositionsrechte11 ein. Darin erneuerten sie den von der Grünenfraktion eingereichten Antrag und Gesetzentwurf vom 16. Dezember 2013.12 Allerdings sollten die geschäftsordnungsrechtlichen sowie gesetzlichen Minderheitenrechte nicht von beliebigen zwei Fraktionen ausgeübt werden können, sondern lediglich von zwei Fraktionen, die nicht die Bundesregierung tragen. Beide Vorlagen standen zusammen mit dem Antrag der Regierungsfraktionen vom 11. Februar 2014 zur Änderung der Geschäftsordnung13 auf der Tagesordnung der Parlamentsdebatte am 13. Februar 2014. Nach der 60-minütigen Aussprache wurden die Vorlagen an den Geschäftsordnungsausschuss überwiesen.14 Darüber hinaus brachte die Fraktion DIE LINKE am 18. März 2014 einen zusätzlichen Gesetzentwurf zur Änderung der grundgesetzlichen Art. 23 Abs. 1a Satz 2, 39 Abs. 3 Satz 3, 44 Abs. 1 Satz 1, 45a Abs. 2 Satz 2 und 93 Abs. 1 Nr. 2 GG ein. Die fünf beabsichtigten Grundgesetzänderungen zielten darauf ab, die Verfassungsquoren um ein Antragsrecht für die Gesamtheit der Fraktionen, die nicht die Bundesregierung tragen, zu ergänzen. Auch dieser Vorschlag wurde an den Geschäftsordnungsausschuss überwiesen.15 Die betreffenden Sitzungen im Geschäftsordnungsausschuss fanden am 13. und 19. Februar und 13. und 19. März sowie am 1. April 2014 statt. Am 12. März 2014 kam es außerdem zu einem erweiterten Berichterstattergespräch mit den Sachverständigen Cancik (Universität Osnabrück), Franz Christian Mayer (Universität Bielefeld) und Kyrill-Alexander Schwarz (Universität Würzburg) sowie Ernst Gottfried Mahrenholz (Vizepräsident des Bundesverfassungsgerichts a.D.). Am 2. April 2014 empfahl der Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung dem Plenum die Annahme des Antrages der Regierungsfraktionen in abgeänderter Form.16 Inzwischen hatten sich die beiden Regierungsfraktionen mit der Fraktion von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN geeinigt. Dennoch kam es aufgrund der weiter ablehnenden Haltung der Linksfraktion nicht zu einer Erledigung der Alternativvorschläge.17 Die Vorlagen der Oppositionsfraktionen wurden daher in der abschließenden 60-minütigen Aussprache am 3. April 2014 abgelehnt,18 der Antrag der Koalitionsfraktionen wurde dagegen in Form der Beschlussempfehlung mit Stimmen 10

BT-Drs. 18/379. BT-Drs. 18/380. 12 In der Sitzung vom 14. Februar 2014 wurde amtlich mitgeteilt, dass die Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN ihren Antrag auf Änderung der Geschäftsordnung (BT-Drs. 18/ 183) und ihren Gesetzentwurf (BT-Drs. 18/184) vom 16. Dezember 2013 zurückzieht, BT-Plenarprotokoll 18/15 vom 14. Februar 2014, S. 1160 (A). 13 BT-Drs. 18/481. 14 BT-Plenarprotokoll 18/14 vom 13. Februar 2014, S. 1030 (A). 15 BT-Drs. 18/838; zur Überweisung an den Geschäftsordnungsausschuss BT-Plenarprotokoll 18/23, S. 1811 (B). 16 BT-Drs. 18/997. 17 BT-Plenarprotokoll 18/15 vom 14. Februar 2014, S. 1160 (A). 18 BT-Plenarprotokoll 18/26 vom 3. April 2014, S. 2082 (D), 2083 (A), 2087 (D) ff., zu den BT-Drs. 18/380, 18/379 und 18/838. 11

A. Oppositions- und Minderheitenrechte in Diskussion

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der Regierungsfraktionen von Union und SPD sowie BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN bei Enthaltung der Fraktion DIE LINKE angenommen.19

II. Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht Die Bundestagsfraktion DIE LINKE klagte daraufhin beim Bundesverfassungsgericht gegen den Deutschen Bundestag.20 Gegenstand des Organstreitverfahrens war die Einforderung von Oppositions- und Minderheitenrechten auf grundgesetzlicher, gesetzlicher und geschäftsordnungsrechtlicher Normebene für die 18. Wahlperiode.21 Zunächst beantragte die Linksfraktion in Prozessstandschaft die Feststellung, dass die Ablehnung des Gesetzentwurfes vom 18. März 201422 durch den Bundestag verfassungswidrig war. Das Parlament sei dazu verpflichtet gewesen, die Art. 23 Abs. 1a Satz 2, 39 Abs. 3 Satz 3, 44 Abs. 1 Satz 1, 45a Abs. 2 Satz 2 und 93 Abs. 1 Nr. 2 GG insoweit zu ändern, dass auch die Gesamtheit der Fraktionen, die nicht die Bundesregierung tragen, die genannten Rechte wahrnehmen könnten. Zweitens beantragte die Fraktion DIE LINKE die Feststellung der Verfassungswidrigkeit auch hinsichtlich der Ablehnung des Gesetzentwurfes vom 29. Januar 201423, in dem die Änderung von sechs Vorschriften aus Bundesgesetzen vorgeschlagen wurde. Auch hier hätten nach Rechtsauffassung der Fraktion DIE LINKE Oppositionsfraktionsrechte eingeführt werden müssen. In einem dritten Antrag forderte die Fraktion die Feststellung der Verfassungswidrigkeit der Geschäftsordnungsänderung vom 3. April 201424. Die Rechte in § 126a GO-BT a.F. hätten danach als Fraktionsrechte ausgestaltet werden müssen.25 Die überwiegend zulässigen Anträge wurden nach einer mündlichen Verhandlung am 13. Januar 2016 durch ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts am 3. Mai 2016 als unbegründet zurückgewiesen.

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BT-Plenarprotokoll 18/26 vom 3. April 2014, S. 2085 (B) ff., zu BT-Drs. 18/481. Prozessbevollmächtigte waren für die Linksfraktion Schneider, für den Deutschen Bundestag Schwarz. 21 BVerfGE 142, 25. 22 BT-Drs. 18/838. 23 BT-Drs. 18/380. 24 BT-Drs. 18/481. 25 Siehe BT-Drs. 18/379. Das Bundesverfassungsgericht hält im Zusammenhang mit dem dritten Antrag jedoch fest: „Wie aus der Antragsbegründung und der mündlichen Verhandlung deutlich wird, rückt die Antragstellerin auch im Rahmen des Antrags zu 3 nicht davon ab, spezifische Oppositionsrechte einzufordern.“, BVerfGE 142, 25 (73). 20

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2. Kap.: Die Minderheitenrechte im Deutschen Bundestag

B. Minderheitenrechte in Zeiten qualifizierter Großer Koalitionen Das Bundesverfassungsgericht bekräftigte 1977 im Urteil zur Beschlussfähigkeit des Bundestages: „Aber auch dort, wo das Grundgesetz in staatlichen Organen der Mehrheitsherrschaft Raum gibt, entläßt es sie nicht aus der verfassungsrechtlichen Grundverpflichtung, daß alle Staatsgewalt um des Schutzes der Würde und Freiheit aller und der sozialen Gerechtigkeit gegenüber allen anvertraut ist, mithin stets am Wohl aller Bürger ausgerichtet zu sein hat. Und nur wenn die Mehrheit aus einem freien, offenen, regelmäßig zu erneuernden Meinungsbildungsprozeß und Willensbildungsprozeß, an dem grundsätzlich alle wahlmündigen Bürger zu gleichen Rechten teilhaben können, hervorgegangen ist, wenn sie bei ihren Entscheidungen das – je und je zu bestimmende – Gemeinwohl im Auge hat, insbesondere auch die Rechte der Minderheit beachtet und ihre Interessen mitberücksichtigt, ihr zumal nicht die rechtliche Chance nimmt oder verkürzt, zur Mehrheit von morgen zu werden, kann die Entscheidung der Mehrheit bei Ausübung von Staatsgewalt als Wille der Gesamtheit gelten und nach der Idee der freien Selbstbestimmung aller Bürger Verpflichtungskraft für alle entfalten.“26

In der Demokratie entscheidet die Mehrheit. Rechte, die von parlamentarischen Minderheiten geltend gemacht werden können, sind die Ausnahme. Dennoch befinden sich Mehrheitsprinzip und Minderheitenschutz in einem verfassungsrechtlichen Abhängigkeitsverhältnis. In Zeiten qualifizierter Großer Koalitionen fehlt der Parlamentsopposition die Mandatsstärke für das Erreichen einiger Minderheitenrechte. Das Phänomen einer qualifizierten Großen Koalition ist, wie dargestellt, weder auf Bundes- noch auf Landesebene unbekannt.27 Die besonderen Mehrheitsverhältnisse einer qualifizierten Großen Koalition bleiben aber die Ausnahme und stellen gerade den im parlamentarischen Regierungssystem angelegten Dualismus von Regierungsmehrheit und oppositioneller Minderheit vor besondere Herausforderungen.

I. Mehrheitsprinzip 1. Verortung in Art. 42 Abs. 2 Satz 1 GG Das Mehrheitsprinzip gehört zu den „tragenden Grundsätzen der freiheitlichen Demokratie“28. Es ist „ewiger“ Bestandteil der Verfassungsordnung i.S.d. Art. 79 Abs. 3 GG i.V.m. Art. 20 Abs. 1 und 2 GG.29 Auch ohne eine ausdrückliche Ver26

BVerfGE 44, 125 (142). Cancik, NVwZ 2014, 18. Ausführlich schon 1. Kapitel B. II. 2. 28 BVerfGE 1, 299 (315); 5, 85 (231 f.); 29, 154 (165); 112, 118 (140). 29 Vgl. die Kommentarliteratur bei Bryde, in: v. Münch/Kunig, GG, Bd. 2, Art. 79 Rn. 41, 43; Dreier, in: ders., GG, Bd. 2, Art. 79 Rn. 37; Evers, in: BK, GG, 45. EL Oktober 1982, 27

B. Minderheitenrechte in Zeiten qualifizierter Großer Koalitionen

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fassungsnorm müssten Wahlen und Abstimmungen mehrheitlich getroffen werden, um dem Demokratieprinzip gerecht zu werden.30 Nicht die Demokratie gehört zum Majoritätsprinzip, wohl aber das Majoritätsprinzip untrennbar zur Demokratie.31 Obwohl an mehreren Stellen im Grundgesetz Mehrheitserfordernisse zu finden sind, lässt sich das Mehrheitsprinzip an Art. 42 Abs. 2 Satz 1 GG festmachen: Hier ist das Erfordernis der Mehrheit für einen Beschluss des Bundestages im Grundsatz geregelt. Die Abstimmungsmehrheit des Art. 42 Abs. 2 Satz 1 GG ist „Regelmehrheit“32, sie gilt insbesondere für den Gesetzesbeschluss nach Art. 78 Abs. 1 Satz 1 GG. 2. Vom Konsens zur Mehrheitsentscheidung Das Prinzip der Majorität gab es bereits in der Antike.33 Sowohl Griechen als auch Römer34 nutzten das Mehrheitsprinzip im Rahmen ihrer Versammlungen.35 Schon Aristoteles erkannte die Vorteile einer Herrschaft der Majorität. Die Entscheidung einer Gesamtheit der Vielen sei besser als die der Einzelnen.36 Dagegen stellte der athenische Staatsmann Alkibiades im Gespräch mit Perikles fest, dass auch ein mit Mehrheit beschlossenes Gesetz willkürlich sei: Die Mehrheit zwinge die Minderheit, ohne dass die Minderheit ihrerseits überzeugt sei.37 Auch die Germanen bevorzugten38 statt des Prinzips der Mehrheitsentscheidung das Streben nach Konsens. Denjenigen wurde recht gegeben, die das lauteste Getöse Art. 79 Rn. 181; Hain, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, Bd. 2, Art. 79 Rn. 86; Pieroth, in: Jarass/Pieroth, GG, Art. 79 Rn. 16, mit Verweis auf Art. 20 Rn. 22; Schöbener, in: BerlK, GG, 45. EL Mai 2015, Art. 79 Rn. 121. 30 Vgl. Müller-Terpitz, in: BK, GG, 164. EL Dezember 2013, Art. 42 Rn. 71. 31 Hofmann/Dreier, in: Schneider/Zeh, Parlamentsrecht und Parlamentspraxis, § 5 Rn. 48. 32 Morlok, in: Dreier, GG, Bd. 2, Art. 42 Rn. 34. 33 Zur historischen Entwicklung Heun, Das Mehrheitsprinzip in der Demokratie, S. 41 ff.; Flaig, Die Mehrheitsentscheidung, S. 123 ff., und durchaus anschaulich im Kontext des „Brexit“-Votums Rath, Das Mehrheitsprinzip: Zankapfel seit eh und je: Gemurrt haben schon die alten Germanen, 3. 7. 2016, http://www.lto.de/recht/feuilleton/f/majoritaet-mehrheitsprinzipstreit-zank-direkte-demokratie-nachteile-brexit-schweiz/, zuletzt geprüft am 26. 4. 2018. 34 Vgl. dazu Thier, Hierarchie und Autonomie, S. 171 f.; Scheuner, Das Mehrheitsprinzip in der Demokratie, S. 21; Poier, Minderheitenfreundliches Mehrheitswahlrecht, S. 82. 35 Hierzu Elsener, ZRG Kan. Abt. 73 (1956), 73 (76 f.); v. Gierke, Schmollers Jahrbuch für Gesetzgebung, Verwaltung und Volkswirtschaft 39 (1915), 565 (566 f.); Starosolskyj, Das Majoritätsprinzip, S. 1 f.; Zeh, Parlamentarismus, S. 23. Vgl. auch Baltzer, Der Beschluss als rechtstechnisches Mittel organschaftlicher Funktion im Privatrecht, S. 187 f. 36 Aristoteles, in: Philosophische Schriften, S. 1280b f., 1286a, 1290a ff.; vgl. auch Thiele, Regeln und Verfahren der Entscheidungsfindung innerhalb von Staaten und Staatenverbindungen, S. 23. 37 Elsener, ZRG Kan. Abt. 73 (1956), 73 (78) m.w.N. 38 Ders., ZRG Kan. Abt. 73 (1956), 73 (81): „Das Übertönen durch Waffenlärm und Stimmenruf bei den Germanen hat seinen besonderen Grund: Den germanischen Völkerschaften fehlte noch der Sinn für die rein zahlenmäßige Mehrheit“.

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2. Kap.: Die Minderheitenrechte im Deutschen Bundestag

veranstalteten. Diejenigen, die ihre Ablehnung kundtaten, wurden lautstark „umgestimmt“.39 Die Germanen kannten die sogenannte Folgepflicht, d.h. die Überstimmten hatten sich dem Gesamtwillen treu zu fügen. Konsens wurde letztlich zur Fiktion.40 Auch die deutsche Königswahl erforderte ursprünglich Einstimmigkeit.41 Unter dem Einfluss kirchlicher Abstimmungen42 setzte sich aber allmählich das Mehrheitswahlrecht durch. Das Kirchenrecht war vielfach Ideenmotor für Rechtsentwicklungen, so auch für das Recht vorparlamentarischer Versammlungen. Von allen Wahlen, die noch heute existieren, ist die Papstwahl die älteste.43 Es galt jedoch nicht nur das Prinzip der Mehrheit, sondern auch der unterschiedlichen Stimmgewichtung (maior et sanior pars). Zunächst war noch die Zustimmung des römischdeutschen Kaisers zur Wahl des Kirchenoberhauptes notwendig. Dann setzte sich Papst Alexander III. in einem Machtkampf gegen Friedrich Barbarossa durch. Der Kaiser brauchte der Wahl des Papstes nicht mehr zuzustimmen, stattdessen war seit dem Wahldekret des dritten Laterankonzils von 1179 eine Zweidrittelmehrheit für die Papstwahl erforderlich. In dieser qualifizierten Mehrheit sollte die sanior pars enthalten sein.44 So verdankt das Mehrheitswahlrecht seinen Siegeszug auch dem Kirchenrecht. Die Beratungen und Wahlen der Ständeversammlungen des Mittelalters finden ihre Vorbilder in christlichen Orden, Synoden und Konzilien.45 Die erste Königswahl unter Berücksichtigung der Mehrheitsregel fand mit der Wahl von Rudolf v. Habsburg 1273 statt. Die Goldene Bulle verlangte ab 1356 für die Königswahl dann endgültig eine Majorität in den deutschen Ländern. Vier der sieben Kurfürstenstimmen brauchte es für die Wahl des Königs.46 Vorläufer waren der Schwabenspiegel von 1275 und das Weistum über die Königswahl des Kurvereins von Rhense aus dem Jahr 1338.47 Die germanische Folgepflicht entwickelte sich zur

39 Vgl. Elsener, ZRG Kan. Abt. 73 (1956), 73 (80 ff.); ferner Achterberg, Parlamentsrecht, S. 585; Dreier, Idee und Gestalt des freiheitlichen Verfassungsstaates, S. 126. 40 Thiele, Regeln und Verfahren der Entscheidungsfindung innerhalb von Staaten und Staatenverbindungen, S. 54. 41 Elsener, ZRG Kan. Abt. 73 (1956), 73 (84) m.w.N. 42 Thier, Hierarchie und Autonomie, S. 168 ff.; Jellinek, Das Recht der Minoritäten, S. 3 f.; Hofmann, Der Staat 27 (1988), 523 (530); Scheuner, FS Kägi, S. 302; Dreier, JZ 2002, 1 (4); vgl. insgesamt Schmid, Der Begriff der kanonischen Wahl in den Anfängen des Investiturstreits. 43 Anschaulich Eschenburg, Wie wird der Papst gewählt?, 21. 11. 2012, http://www.zeit.de/1 963/25/wie-wird-der-papst-gewaehlt, zuletzt geprüft am 26. 4. 2018; vgl. insgesamt auch Dreier, JZ 2002, 1 – 13. 44 Elsener, ZRG Kan. Abt. 73 (1956), 73 (87). 45 Schönberger, in: Morlok/Schliesky/Wiefelspütz, Parlamentsrecht, § 1 Rn. 12. 46 Nohlen, Wahlsysteme der Welt, S. 51, aus politikwissenschaftlicher Perspektive; ferner Poier, Minderheitenfreundliches Mehrheitswahlrecht, S. 83; Achterberg, Die parlamentarische Verhandlung, S. 42 ff.; zum Mehrheitsprinzip und zum Minderheitenschutz auch ders., DVBl. 1980, 512 (517 ff. und 520 ff.). 47 Elsener, ZRG Kan. Abt. 73 (1956), 73 (88 ff.).

B. Minderheitenrechte in Zeiten qualifizierter Großer Koalitionen

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Unterwerfungspflicht der Minderheit,48 das Prinzip der Einstimmigkeit verlor an Bedeutung. Der Mehrheitsbeschluss etablierte sich als gängige Entscheidungsform. Einstimmigkeitserfordernisse blieben jedoch vereinzelt sowohl im Reichstag des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation als auch im deutschen Frühkonstitutionalismus erhalten.49 In der landständischen Verfassung von Sachsen Weimar von 1816 wurde z.B. eine Kuriatstimme verlangt, also eine einheitlich von Abgeordneten „aus dem Stande oder dem Kreise“ abgegebene Stimme.50 Die Bayerische Verfassung von 1818 verlangte für die Übergabe einer bürgerlichen Beschwerde an den König die Einigkeit zwischen den beiden Kammern über den Gegenstand.51 Noch heute bedarf es für Zustimmungsgesetze Einstimmigkeit zwischen Bundestag und Bundesrat, um deren Erreichen gar ein eigener Vermittlungsausschuss bemüht wird. Auch im Ältestenrat werden die Entscheidungen in der Regel im Konsens getroffen (im Konfliktfall gilt das Mehrheitsprinzip). Ungeachtet dessen regelte schon die erste moderne landständische Verfassung von Nassau aus dem Jahr 1814 das Mehrheitsprinzip in den Landständen.52 Qualifizierte Mehrheitserfordernisse dienten dabei früh als Kompromiss zwischen beiden Entscheidungsformen. Daher kannten manche frühkonstitutionelle Verfassungen bereits das Erfordernis einer Zweidrittelmehrheit für Verfassungsänderungen.53 Seit dem 19. Jahrhundert kann das Mehrheitsprinzip zum Europäischen Gemeingut gezählt werden.54 Sein Bedeutungszuwachs ging mit dem Aufstieg des Repräsentationsgedankens seit der Französischen Revolution einher.55 Mit Jean-Jaques Rousseau setzte sich die Vorstellung durch, dass ein Gesamtwille nicht lediglich eine Summe von Einzelwillen sei.56 Ein 48

v. Gierke, Schmollers Jahrbuch für Gesetzgebung, Verwaltung und Volkswirtschaft 39 (1915), 565 (567 ff.); Hofmann/Dreier, in: Schneider/Zeh, Parlamentsrecht und Parlamentspraxis, § 5 Rn. 48 m.w.N. 49 Vgl. v. Gierke, Schmollers Jahrbuch für Gesetzgebung, Verwaltung und Volkswirtschaft 39 (1915), 565 (569). 50 § 85 Satz 1 Verf. Sachsen Weimar 1816, abgedruckt in Kotulla, Thüringische Verfassungsurkunden, S. 824. 51 Titel VII. § 21 Abs. 2 Verf. Bayern 1818, abgedruckt in Huber, Dokumente zur Deutschen Verfassungsgeschichte, Bd. 1, S. 168. 52 Siehe § 2 Nr. 2 und 3 Verf. Nassau 1814, abgedruckt in Schüler, Das Herzogtum Nassau 1806 – 1866, S. 316 f.; vgl. auch Schönberger, in: Morlok/Schliesky/Wiefelspütz, Parlamentsrecht, § 1 Rn. 26. 53 Siehe Titel X § 7 Abs. 3 Verf. Bayern 1818 und § 64 Verf. Baden 1818, abgedruckt in Huber, Dokumente zur Deutschen Verfassungsgeschichte, Bd. 1, S. 171 und 181. 54 Scheuner, Das Mehrheitsprinzip in der Demokratie, S. 12; auch Morlok, in: Dreier, GG, Bd. 2, Art. 42 Rn. 10; vgl. zudem Achterberg, DVBl. 1980, 512 (513) m.w.N. 55 Vgl. Scheuner, Das Mehrheitsprinzip in der Demokratie, S. 10; zur Abgrenzung zwischen repräsentativer und plebiszitärer Herrschaft Achterberg, Parlamentsrecht, S. 78. 56 Vgl. zum volunté générale und der Abgrenzung zum volonté de tous Rousseau, Der Gesellschaftsvertrag, 2. Buch 3. Kapitel; Rousseau attestierte der unterlegenden Minderheit außerdem einen Irrtum in der Sache, verlangte daher, dass die Minderheit der Mehrheit auch in der Sache folgen müsse, vgl. Rousseau, Der Gesellschaftsvertrag, 1. Buch 7. Kapitel; heute

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2. Kap.: Die Minderheitenrechte im Deutschen Bundestag

Fundament theoretischer Erklärungsansätze kam im Laufe der Zeit hinzu: 1916 befand Volodymir Starosolskyj, dass die Möglichkeit verschiedener persönlicher Zusammensetzung der Mehrheit wesentlich für das Majoritätsprinzip sei.57 1929 stellte Hans Kelsen ferner fest, dass der Gemeinschaftswille gerade nicht aus einer Herrschaft der Mehrheit über die Minderheit resultiere. Vielmehr stehe der Kompromiss im Vordergrund des Majoritätsprinzips.58 Majoritätsprinzip und Einstimmigkeit schließen sich nicht generell aus, in der politischen Realität ist Einstimmigkeit bloß selten erreichbar. Trotz eines vielschichtig theoretischen Unterbaus geht das Majoritätsprinzip nicht zuletzt mit der einfachen Suche nach einer praktikablen Entscheidungsfindung einher. Während die Preußischen Verfassungen von 1848 und 1850 wie auch die Reichsverfassung von 1871 in Tradition der frühkonstitutionellen Verfassungen noch die absolute Mehrheit für den Parlamentsbeschluss forderten,59 geht Art. 32 Abs. 1 Satz 1 WRV in seiner Tradition auf die Paulskirchenverfassung von 1849 zurück60 und regelte die einfache Mehrheit als Regelmehrheit. Art. 42 Abs. 2 Satz 1 GG ist die Nachfolgernorm und entspricht im Wesentlichen Art. 54 Abs. 1 des Herrenchiemsee-Entwurfs.61 Die Regelung des Art. 32 Abs. 2 WRV, nach der die Beschlussfähigkeit durch die Geschäftsordnung geregelt wird, übernahm der Parlamentarische Rat nicht in das Grundgesetz.62 Insgesamt fußt das Mehrheitsprinzip auf den Boden einer langen Tradition: Eine Entscheidungsfindung, die nicht von der Mehrheit getragen wird, ist in einer Demokratie nicht vorstellbar. wird vielmehr davon ausgegangen, dass die Minderheit sich lediglich der Mehrheitsentscheidung zu fügen habe, BVerfGE 2, 143 (172); ausdrücklich Mahrenholz in einem Sondervotum, BVerfGE 70, 324 (369): „Die Abstimmung nach dem Mehrheitsprinzip ist keine Feststellung der Wahrheit.“; vgl. auch Schliesky, Souveränität und Legitimität von Herrschaftsgewalt, S. 211 ff., 652. 57 Starosolskyj, Das Majoritätsprinzip, S. 63 f. 58 Kelsen, Vom Wesen und Wert der Demokratie, S. 55. 59 Siehe Art. 79 Abs. 2 Verf. Preußen 1848 sowie Art. 80 Satz 2 Verf. Preußen 1850, abgedruckt in Huber, Dokumente zur Deutschen Verfassungsgeschichte, Bd. 1, S. 490, 510; außerdem Art. 28 Satz 1 RV, abgedruckt in ders., Dokumente zur Deutschen Verfassungsgeschichte, Bd. 2, S. 391. 60 Siehe § 98 Abs. 1 FNV, abgedruckt in ders., Dokumente zur Deutschen Verfassungsgeschichte, Bd. 1, S. 385; Art. 32 S. 1 WRV, abgedruckt in ders., Dokumente zur Deutschen Verfassungsgeschichte, Bd. 4, S. 156. 61 Art. 32 WRV: „Zu einem Beschlusse des Reichstages ist einfache Stimmenmehrheit erforderlich, sofern die Verfassung kein anderes Stimmenverhältnis vorschreibt. Für die vom Reichstag vorzunehmenden Wahlen kann die Geschäftsordnung Ausnahmen zulassen. Die Beschlussfähigkeit wird durch die Geschäftsordnung geregelt.“ 62 Siehe dazu Elisabeth Selbert (SPD) und Thomas Dehler (FDP) mit ihren gescheiterten Vorstößen, die Regelung der Beschlussfähigkeit in die Vorschrift einzufügen. Robert Lehr (CDU) verwies darauf, die Verfassung nicht zu sehr mit geschäftsordnungsrechtlichen Bestimmungen zu überfrachten. Siehe die Äußerungen in der sechsten Sitzung des Kombinierten Ausschusses am 24. September 1946, in: Stelzl/Weber (Hrsg.), Der Parlamentarische Rat 1948 – 1949, Bd. 13/1, S. 182 ff., 431 f.; auch zusammenfassend v. Doemming/Füsslein/Matz, JöR 1 (1951), 1 (363 f.); ferner Morlok, in: Dreier, GG, Bd. 2, Art. 42 Rn. 13.

B. Minderheitenrechte in Zeiten qualifizierter Großer Koalitionen

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3. Funktionen und Inhalt des Mehrheitsprinzips Das Mehrheitsprinzip hat unterschiedliche Zwecke. Es dient zuallererst einfachen Praktikabilitätserwägungen. Es bedarf einer entscheidungsfähigen Vollversammlung. Insofern bietet sich das Majoritätsprinzip als mögliche Form der Entscheidungsfindung an. Man meint, es entspringe dem gesunden Menschenverstand,63 auch weil keine ernstzunehmende Alternative in Sicht ist.64 Mehrheitsprinzip bedeutet zunächst Schnelligkeit, Einfachheit, Durchsetzbarkeit – Praktikabilität.65 Das Mehrheitsprinzip ist zweitens Ausdruck eines Gemeinwillens.66 Das Grundgesetz setzt in Art. 20 Abs. 2 Satz 1 GG die Verschiedenheit von Regierenden und Regierten voraus.67 Eine Identität von Volks- und Abgeordnetenwille ist auch bei Einstimmigkeit im Parlament nicht gewährleistet.68 Die Mehrheitsentscheidung ist das Ergebnis der Mehrheit der Repräsentanten des Volkes. Obwohl sie keineswegs eine Feststellung der Wahrheit ist69 und sich die Minderheit daher auch nicht mit ihr identifizieren muss,70 wird sie der Minderheit zugerechnet. Folglich hat das Mehrheitsprinzip auch eine soziale Integrationsaufgabe. Denn im Rahmen des Diskurses hin zum Gemeinwillen und bestenfalls zum Gemeinwohl ist die Suche nach einem Kompromiss in einer parlamentarischen Demokratie nicht selten Mehrheitserfordernis.71 Wechselartige Beeinflussungen der politischen Konzepte bewirken eine Gemeinschaftswillensbildung.72 Obwohl sich im Regelfall nicht alle Bürger mit der Mehrheitsentscheidung identifizieren, lässt das Mehrheitsprinzip allen Bürgern die gleiche Freiheit.73 Dabei meint Freiheit nicht jeden individuellen Freiheitsanspruch. Ein solcher kann statt in einer Mehrheitsentscheidung nur in der Auflösung eines Herrschaftsverbandes

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Dreier, Idee und Gestalt des freiheitlichen Verfassungsstaates, S. 132. Dazu Varain, ZfP 11 (1964), 239 (239 f.): „Die Frage nach dem Grund des Mehrheitsprinzips scheint abgeschnitten durch die Gegenfrage: Was sonst?“ 65 Dreier, Idee und Gestalt des freiheitlichen Verfassungsstaates, S. 132 f.; vgl. zusätzlich Brocker, in: Epping/Hillgruber, GG, 37. Edition Mai 2018, Art. 42 Rn. 15. 66 BVerfGE 44, 125 (141); Böckenförde, in: Isensee/Kirchhof, HStR, Bd. 2, § 24 Rn. 52; Kloepfer, Verfassungsrecht I, § 7 Rn. 27; Sachs, in: ders., GG, Art. 20 Rn. 24; anders Schliesky, in: Morlok/Schliesky/Wiefelspütz, Parlamentsrecht, § 5 Rn. 11. 67 Gusy, AöR 106 (1981), 329 (329 f.). 68 Vgl. dazu Klein, in: Maunz/Dürig, GG, 69. EL Mai 2013, Art. 42 Rn. 73. 69 Mahrenholz in einem Sondervotum, BVerfGE 70, 324 (369). 70 BVerfGE 43, 142 (172); vgl. auch Klein, in: Maunz/Dürig, GG, 69. EL Mai 2013, Art. 42 Rn. 73. 71 Vgl. Leibholz, Strukturprobleme der modernen Demokratie, S. 150 f.; Morlok/Hientzsch, JuS 2011, 1 (3); schon Kelsen, Vom Wesen und Wert der Demokratie, S. 56 ff.; auch SchulzeFielitz, Theorie und Praxis parlamentarischer Gesetzgebung, S. 404 ff. 72 Vgl. ähnlich Kelsen, Vom Wesen und Wert der Demokratie, S. 56 ff. 73 Vgl. dazu auch nochmal BVerfGE 44, 125 (142). 64

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2. Kap.: Die Minderheitenrechte im Deutschen Bundestag

gipfeln. Freiheit meint hier politische Freiheit im Staat.74 Das Mehrheitsprinzip erzielt größtmögliche Freiheit, weil die Mehrheitsentscheidung dem Willen der meisten Beteiligten entspricht, insoweit ist sie in der Summe freiheitsfördernd,75 vor allem im Vergleich zur Minderheitsentscheidung: Die Mehrheit ist zumindest näher am Freiheitsideal der Einstimmigkeit.76 Das Mehrheitsprinzip ist drittens Ausdruck der demokratischen Freiheitsidee.77 Viertens sind mit dem Majoritätsprinzip in der parlamentarischen Demokratie untrennbar Verfahrenssicherheiten verknüpft. Ihr Bestand ist Voraussetzung für die genannten drei anderen Funktionen. Die Mehrheitsentscheidung ist in einer demokratischen Gesellschaft Folge eines Willensbildungsprozesses, der sich in offenpolitischer Auseinandersetzung unter Einhaltung insbesondere der Kommunikationsgrundrechte und des Minderheitenschutzes vollzieht. Ergebnis ist eine Entscheidung, die weder Richtigkeit noch Endgültigkeit für sich beansprucht. Sie ist nicht „in Stein gemeißelt“, sondern reversibel.78 Das Majoritätsprinzip bietet unter diesen Voraussetzungen das bestmögliche Verfahren der Entscheidungsfindung.79 Das Mehrheitsprinzip ermöglicht der Mehrheit, Sachfragen nach ihrem Willen zu entscheiden. Die Minderheit muss sich der Mehrheit fügen, wenngleich die Minderheit die Auffassung der Mehrheit nicht annehmen muss.80 Darin kommt der Inhalt des Mehrheitsprinzips erschöpfend zum Ausdruck. 4. Mehrheitsanforderungen für Abstimmungen im Deutschen Bundestag Das Demokratieprinzip verlangt grundsätzlich Mehrheitsentscheidungen, doch können die Anforderungen an eine solche Mehrheit unterschiedlich sein.81 Generell 74 Grundlegend zur Freiheit Locke, Über den menschlichen Verstand, 2. Buch 21. Kapitel Abs. 8; anschaulich dargestellt bei Hillgruber, AöR 127 (2002), 460 (461 f.); zurecht kritisch hinsichtlich der individuellen Freiheit Hofmann/Dreier, in: Schneider/Zeh, Parlamentsrecht und Parlamentspraxis, § 5 Rn. 51. 75 Vgl. insbesondere schon Kelsen, Vom Wesen und Wert der Demokratie, S. 9, 53 ff.; auch Dreier, in: ders., GG, Bd. 2, Art. 20 (D) Rn. 69; dens., ZParl. 17 (1986), 94; Heun, Das Mehrheitsprinzip in der Demokratie, S. 79 ff., 206. Vgl. aus politikwissenschaftlicher Sicht Guggenberger/Offe, APuZ 1983, Heft 47, 3 (3, 5). 76 Volkmann, in: BerlK, GG, 1. EL Februar 2001, Art. 20 Rn. 25. 77 Auch BVerfGE 29, 154 (165); 112, 118 (140); vgl. beispielhaft Dreier, ZParl. 17 (1986), 94 (105); Heun, Das Mehrheitsprinzip in der Demokratie, S. 41 ff.; Starck, in: Isensee/ Kirchhof, HStR, Bd. 3, § 33 Rn. 34. 78 Hofmann/Dreier, in: Schneider/Zeh, Parlamentsrecht und Parlamentspraxis, § 5 Rn. 53. 79 Dreier, in: ders., GG, Bd. 2, Art. 20 (D) Rn. 70; dahingehend auch Höfling/Burkiczak, Jura 2007, 561 (562); Hofmann/Dreier, in: Schneider/Zeh, Parlamentsrecht und Parlamentspraxis, § 5 Rn. 13. 80 BVerfGE 2, 143 (172); 70, 324 (368). 81 Vgl. eine ausführliche Aufführung bei Versteyl, in: v. Münch/Kunig, GG, Bd. 1, Art. 42 Rn. 27 ff.

B. Minderheitenrechte in Zeiten qualifizierter Großer Koalitionen

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gibt es einfache und relative (identisch bei zwei Abstimmungsalternativen) sowie absolute und qualifizierte Mehrheiten. Im Übrigen variieren die Bezugsgrößen zwischen der Mehrheit der abgegebenen Stimmen (Abstimmungsmehrheit), der anwesenden Stimmberechtigten (Anwesenheitsmehrheit) oder der grundsätzlich Stimmberechtigten (Mitgliedermehrheit). Davon hängt ab, ob sich Enthaltungen, nicht abgegebene oder ungültige Stimmen wie Nein-Stimmen verhalten.82 Für den Deutschen Bundestag gilt konkret, dass die einfache Abstimmungsmehrheit die Regelmehrheit ist. Zwar wird der Begriff der Mehrheit der Mitglieder des Bundestages und der Bundesversammlung von Art. 121 GG definiert. Danach erweist sich diese Mehrheit als Mehrheit der gesetzlichen Mitgliederzahl des Bundestages. Das Grundgesetz konkretisiert jedoch mit Art. 121 GG nur solche Vorschriften, die lediglich von „Mehrheit“ sprechen. Art. 42 Abs. 2 Satz 1 GG verlangt „die Mehrheit der abgegebenen Stimmen“. Die Vorschrift lässt aber sowohl grundgesetzliche Ausnahmen (Art. 42 Abs. 2 Satz 1 Halbs. 2 GG) als auch in der Geschäftsordnung geregelte Ausnahmen hinsichtlich der vom Bundestag vorzunehmenden Wahlen (Art. 42 Abs. 2 Satz 2 GG) zu. Für ein Beispiel gemäß Art. 42 Abs. 2 Satz 1 Halbs. 2 GG kann das Verlangen nach einer Mitgliedermehrheit für die Kanzlerwahl dienen, Art. 63 Abs. 2 Satz 1, Abs. 3 GG. Die Wahl des Bundestagspräsidenten und seiner Stellvertreter mittels Mitgliedermehrheit gemäß § 2 Abs. 2 Satz 1 GO-BT ist für Art. 42 Abs. 2 Satz 2 GG ein Beispiel. Die Regelung des Art. 23 Abs. 1a Satz 3 GG stellt eine Besonderheit dar. Danach können Abweichungen von der Regelmehrheit des Bundestages (Art. 42 Abs. 2 Satz 1 GG) und des Bundesrates (Art. 52 Abs. 3 Satz 1 GG) mittels Zustimmungsgesetz zugelassen werden. Hierbei handelt es sich um eine Sonderregelung, die dem Unionsrecht geschuldet im Rahmen des Subsidiaritätsklageverfahrens die Rechte parlamentarischer Minderheiten und der einzelnen Bundesländer stärkt. Ferner kommt ein Bundestagsbeschluss auch dann zustande, wenn die NeinStimmen überwiegen; dann handelt es sich um einen Beschluss, der den Beschlussantrag ablehnt.83 Bevor das Mehrheitsprinzip jedoch zur Geltung kommt, muss die Beschlussfähigkeit des Bundestages sichergestellt sein. Nach § 45 Abs. 1 GO-BT genügt die Anwesenheit der Hälfte der Mitglieder des Bundestages für die Beschlussfähigkeit, wobei die Beschlussunfähigkeit gemäß § 45 Abs. 2 Satz 1 GO-BT von ihrer Rüge abhängt. Demokratieprinzip und Öffentlichkeitsgebot regen die Anwesenheit aller Parlamentarier im Plenum an, gleichwohl ist die Abwesenheit der Hälfte der Mandatsträger in einem Arbeits- und Arbeitsteilungsparlament kein Verstoß gegen das demokratische Repräsentationsprinzip.84

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Hierzu Höfling/Burkiczak, Jura 2007, 561 (563 ff.); Müller-Terpitz, in: BK, GG, 164. EL Dezember 2013, Art. 42 Rn. 72 f. 83 Ders, in: BK, GG, 164. EL Dezember 2013, Art. 42 Rn. 81. 84 Ders., in: BK, GG, 164. EL Dezember 2013, Art. 42 Rn. 83; Klein, in: Maunz/Dürig, GG, 69. EL Mai 2013, Art. 42 Rn. 88.

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2. Kap.: Die Minderheitenrechte im Deutschen Bundestag

5. Grenzen der Mehrheitsentscheidung Das Mehrheitsprinzip gilt nicht absolut. Die unterschiedlichen Mehrheitsanforderungen stellen jedoch keine Durchbrechungen des Mehrheitsprinzips dar, denn es muss weiterhin eine Mehrheit vorliegen. Im Gegenteil – verschiedene Mehrheitserfordernisse können durchaus als Ausdruck des Majoritätsprinzips verstanden werden.85 Es handelt sich lediglich um Abweichungen von der Regelmehrheit, die so auch vom Grundgesetz ausdrücklich vorgesehen sind (Art. 42 Abs. 2 GG). Das Mehrheitsprinzip kennt neben speziell normierten Verfassungspflichten andere Verfassungsinhalte, die das Recht der Mehrheit einschränken:86 z.B. grundlegend Art. 1 Abs. 3, 20 Abs. 3 GG. Der Gesetzgeber ist an die verfassungsmäßige Ordnung und insbesondere an die Grundrechte gebunden. Mehrheitsentscheidungen sind im Ergebnis überprüfbar, z.B. auch im Rahmen einer Verfassungsbeschwerde gemäß Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG, §§ 13 Nr. 8a, 90 ff. BVerfGG.87 Neben den demokratischen Freiheitsrechten sind vor allem auch die Gleichheit der politischen Mitwirkung und die gleiche Chance zur politischen Machtgewinnung als Voraussetzung und Grenze des Mehrheitsprinzips anzuführen.88 Ferner verstoßen Mehrheitsentscheidungen, die eine unterschiedliche Behandlung von Abgeordneten regeln und nicht gerechtfertigt sind, gegen den in Art. 38 Abs. 1 GG verankerten Grundsatz der Abgeordnetengleichheit.89 Der verfassungsrechtliche Spiegelbildlichkeitsgrundsatz, ausdrücklich in § 12 GO-BT normiert, stellt eine Grenze des Mehrheitsprinzips dar.90 Auch das Prinzip der Herrschaft auf Zeit in Art. 39 Abs. 1 Satz 1 GG91 ist zu nennen. Eine kontinuierliche demokratische Legitimationskette kann nur durch die regelmäßige Wiederholung von Wahlen gesichert sein. Ebenso begrenzt der Grundsatz der demokratischen Öffentlichkeit, geregelt in Art. 42 Abs. 1 Satz 1 GG, das Mehrheitsprinzip: Der parlamentarischen Minderheit muss die Möglichkeit gegeben werden, sich dem Wahlvolk als Alternative anzubieten.92 Das parlamentarische Majoritätsprinzip beruht auf diesen Prinzipien wie auch auf einer demokratischen Wahl (Art. 38 Abs. 1 Satz 1 GG),93 sie sind Bedingung und Begrenzung des parlamentarischen Mehrheitsprinzips zugleich. Darüber hinaus findet 85

Müller-Terpitz, in: BK, GG, 164. EL Dezember 2013, Art. 42 Rn. 71. Ders., in: BK, GG, 164. EL Dezember 2013, Art. 42 Rn. 70. 87 Vgl. hierzu Starck, in: Isensee/Kirchhof, HStR, Bd. 3, § 33 Rn. 34. 88 Diese Aufzählung ist auch zu finden bei Böckenförde, in: Isensee/Kirchhof, HStR, Bd. 2, § 24 Rn. 55. 89 Siehe dazu noch 2. Kapitel B. II. 6. b). 90 Siehe 2. Kapitel B. II. 6. b) cc). 91 Die Begrenzung des Mehrheitsprinzips durch die „Legislaturperiode“ lehnt Kloepfer, Verfassungsrecht I, § 7 Rn. 32, ab. 92 Vgl. dazu Schliesky, in: Morlok/Schliesky/Wiefelspütz, Parlamentsrecht, § 5 Rn. 9. Zum Verhältnis von Mehrheitsprinzip und Minderheitenschutz siehe auch noch 2. Kapitel B. III. 93 Vgl. Hillgruber, AöR 127 (2002), 460 (465), dort heißt es überschrieben „Immanente, funktionsbedingte Grenzen des demokratischen Mehrheitsprinzips“. 86

B. Minderheitenrechte in Zeiten qualifizierter Großer Koalitionen

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das Mehrheitsprinzip auch an der Stelle eine Beschränkung, wo zur Verbindlichkeit neben der Mehrheitsentscheidung des Bundestages noch die Zustimmung des Bundesrates notwendig ist. Der föderative Staatsaufbau begrenzt das Mehrheitsprinzip im Bundestag. All dies ist Ausdruck der Verfassungsgebundenheit der Mehrheit.94 Eine Tabuzone stellt der unverfügbare Verfassungskern nach Art. 79 Abs. 3 GG i.V.m. Art. 1 und 20 GG dar. Das vom Verfassungsgeber beschlossene Bedingungsgefüge darf nicht durch eine Mehrheit aufgelöst werden, die innerhalb des Staatsaufbaus ihre eigene Legitimation nur diesem Verfassungssystem verdankt.95

II. Parlamentarischer Minderheitenschutz Die Rechtsordnung kennt nicht nur das Mehrheitsprinzip, sondern auch den Schutz parlamentarischer Minderheiten, obwohl es keine allgemeine oder ausdrückliche Vorschrift entsprechend zu Art. 42 Abs. 2 Satz 1 GG gibt.96 Für die Geltendmachung von Minderheitenrechten ist gerade keine Mehrheit notwendig. Der parlamentarische Minderheitenschutz ist Korrelat zum Mehrheitsprinzip.97 1. Minderheitenschutz und Minderheitenrechte Die Begriffe „Minderheitenschutz“ und „Minderheitenrechte“ erfahren unterschiedliche Verwendung. Minderheitenschutz umfasst Minderheitenrechte, die Ausprägungen des Minderheitenschutzes darstellen. Sie weisen unterschiedlichen Akteuren an unterschiedlichen Stellen konkrete Rechte zu, für deren Geltendmachung ausnahmsweise nicht eine Mehrheitsentscheidung notwendig ist. Die Begriffe „Minderheitenrechte“ und „Minderheitsrechte“ werden identisch genutzt. Das Bundesverfassungsgericht benutzt beide Begriffe, in der jüngeren Entscheidung von 2016 aber den Begriff „Minderheitenrechte“.98 Weite Teile des Schrifttums nutzen ebenfalls den Begriff „Minderheitenrechte“, obwohl mit Minderheiten im üblichen Sprachgebrauch in erster Linie nationale oder ethnische Minderheiten gemeint sind. Für die Verwendung des Plurals „Minderheiten“ spricht aber die Sensibilisierung für das Thema, da es die parlamentarische Minderheit nicht gibt.99 Sie kann von Abstimmung zu Abstimmung wechseln. Darüber hinaus kann innerhalb der parla94

Klein, in: Maunz/Dürig, GG, 69. EL Mai 2013, Art. 42 Rn. 74, 77. Ders., in: Maunz/Dürig, GG, 69. EL Mai 2013, Art. 42 Rn. 77. 96 Vgl. Schliesky, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, Bd. 2, Art. 42 Rn. 50. 97 In diese Richtung auch Robbers, in: BK, GG, 137. EL Dezember 2008, Art. 20 Rn. 653; Di Atena, JöR 47 (1999), 1 (6 f.); Hofmann/Dreier, in: Schneider/Zeh, Parlamentsrecht und Parlamentspraxis, § 5 Rn. 68; allgemein auch Achterberg, Die parlamentarische Verhandlung, S. 49; historisch Kluxen, Geschichte und Problematik des Parlamentarismus, S. 212 ff. 98 Anders noch in BVerfGE 105, 197. 99 Siehe oben schon 1. Kapitel B. I. 1. 95

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2. Kap.: Die Minderheitenrechte im Deutschen Bundestag

mentarischen Minderheit Uneinigkeit herrschen, es können auch während einer Debatte mehrere Minderheitspositionen vertreten werden. Daher wird auch hier der Begriff „Minderheitenrechte“ verwendet. 2. Minderheitenschutz als Ausprägung des Demokratieprinzips Der Schutz parlamentarischer Minderheiten ist verfassungsrechtlicher Natur. Das Grundgesetz lässt eine Fundierung des Minderheitenschutzes aus unterschiedlicher Richtung zu: Kelsen erfasst Minderheitenrechte als Grundrechte. Er sieht in ihnen den Anknüpfungspunkt für parlamentarischen Minderheitenschutz.100 Doch die Grundrechte sind als Abwehrrechte gegen den Staat den Bürgern vorbehalten und nicht den Organwaltern des Bundestages zugedacht.101 Teilweise wird der parlamentarische Minderheitenschutz aus dem Rechtsstaatsprinzip abgeleitet. Norbert Achterberg nennt ihn „eines von mehreren Schutzelementen“102 neben einem umfassenden Rechtsschutz und Vertrauensschutzgedanken. Eine Änderung von Geschäftsordnungsvorschriften durch die Mehrheit (§ 126 GO-BT) zulasten der Parlamentsminderheit im Einzelfall sei ein Verstoß gegen das aus Art. 20 Abs. 3 GG abzuleitende Rechtsstaatsgebot und auch gegen den Grundsatz von Treu und Glauben.103 Im parlamentarischen Regierungssystem ist es insbesondere Aufgabe der oppositionellen Parlamentsminderheit, die von der Mehrheit getragene Regierung zu kontrollieren. Eine Herleitung des Minderheitenschutzes aus dem Rechtsstaatsprinzip ist nicht fernliegend. Das Prinzip von checks and balances und die Gewaltenteilung des Art. 20 Abs. 2 Satz 2 GG zählen zum Rechtsstaatsprinzip. Gegen eine solche Herleitung spricht jedoch, dass die Minderheit nicht nur in der Lage sein soll, parlamentarische Kontrolle auszuüben. Im Gegenteil: Alle Abgeordneten nehmen am Gesetzgebungsprozess teil. Minderheitenschutz ist nicht auf Parlamentskontrolle beschränkt. Möglicher Anknüpfungspunkt des parlamentarischen Minderheitenschutzes ist ferner Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG, der Status des Abgeordneten.104 Der einzelne Abgeordnete ist stets Minderheit im Parlament. Die Repräsentation des Volkes durch alle Abgeordneten kann folglich nur gelingen, wenn der zahlenmäßig kleinsten 100

Kelsen, Vom Wesen und Wert der Demokratie, S. 53 ff. Vgl. mit gleicher Kritik Achterberg, Die parlamentarische Verhandlung, S. 54. 102 Ders., Grundzüge des Parlamentsrechts, S. 44. 103 Vgl. noch in der sechsten Auflage dens./Schulte, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, Bd. 2, Art. 42 Rn. 48; auch Troßmann, Parlamentsrecht und Praxis des Deutschen Bundestages, S. 178 f. Siehe ausführlicher dazu 2. Kapitel B. II. 7. 104 In diesem Sinne Vonderbeck, ZParl. 6 (1975), 150; Kürschner, Die Statusrechte des fraktionslosen Abgeordneten, S. 119; auch Kluth, in: Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/Henneke, GG, Art. 40 Rn. 90; vgl. auch Schindler, Datenhandbuch zur Geschichte des Deutschen Bundestages 1949 bis 1999, S. 2775. 101

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Minderheit, eine dem Status des Abgeordneten angemessene Stimme, zugewiesen wird. Insofern ist eine Verortung des parlamentarischen Minderheitenschutzes im Status des Abgeordneten schlüssig. Sie wird der grundgesetzlichen Systematik jedoch im Ergebnis nicht gerecht, da sie die ausdrücklichen Quorenrechte in anderen Grundgesetzbestimmungen aus dem Blick verliert. Parlamentarischer Minderheitenschutz beschränkt sich eben nicht nur auf die den Status des Abgeordneten immanenten Rechte.105 Wenn eine inhaltliche Konvergenz bestände, verliert der parlamentarische Minderheitenschutz seine Existenzberechtigung. Ungeachtet dessen führte eine Verortung des Minderheitenschutzes in Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG zu einer zusätzlichen Überfrachtung der Norm. Im Ergebnis gilt die Sachentscheidung der Mehrheit,106 der Minderheitenschutz ist aber Voraussetzung für die Akzeptanz der Mehrheitsentscheidung. Die parlamentarische Minderheit muss immerzu die Möglichkeit haben, zur Mehrheit werden zu können.107 Daher lässt sich der Schutz der Rechtsordnung für den parlamentarischen Minderheitenschutz mit dem Demokratieprinzip begründen.108 Der Minderheitenschutz ist wie das Mehrheitsprinzip Emanation der verfassungsrechtlichen Entscheidung für die liberale Demokratie und das Recht des Einzelnen auf Beteiligung.109 Das Bundesverfassungsgericht kommt daher treffend zu folgendem Befund: „Das Gebot, parlamentarische Minderheiten zu schützen, sowie das Recht auf verfassungsmäßige Bildung und Ausübung der Opposition wurzeln im demokratischen Prinzip (Art. 20 Abs. 1 und 2 GG). Dieser Schutz geht nicht dahin, die Minderheit vor Sachentscheidungen der Mehrheit zu bewahren (Art. 42 Abs. 2 GG), wohl aber dahin, der Minderheit zu ermöglichen, ihren Standpunkt in den Willensbildungsprozeß des Parlaments einzubringen.“110

3. England als Ideenmotor parlamentarischen Verfahrens Der Parlamentarische Minderheitenschutz ist ein Verfassungsprinzip jüngeren Datums. Auch hier gibt es kirchenrechtliche Einflüsse. So weist Karl Loewenstein auf den faktischen Minderheitenschutz hin, der durch das Erfordernis qualifizierter Mehrheiten in den Orden des Mittelalters entstand.111 Weitaus bedeutender für den 105 Vgl. aber BVerfGE 80, 188 (220); in einem anderen Kontext auch Fuchs, DVBl. 2014, 886 (887). 106 BVerfGE 70, 324 (363). 107 Den Minderheitenschutz daher in Art. 42 Abs. 2 Satz 1 GG verortend Schneider, in: AK, GG, 2. EL August 2002, Art. 42 Rn. 11; wohl ähnlich Robbers, in: BK, GG, 137. EL Dezember 2008, Art. 20 Rn. 653. 108 Zuletzt BVerfGE 140, 115 (153). 109 Schäfer, Der Bundestag, S. 77; Scherer, AöR 112 (1987), 189 (203, 210 ff.); Dreier, JZ 1990, 310 (316). 110 BVerfGE 70, 324 (363). 111 Loewenstein, Verfassungslehre, S. 180 f.

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parlamentarischen Minderheitenschutz war jedoch die frühe Entwicklung eines Geschäftsordnungsrechts in England ab dem 15. Jahrhundert. Sie wurzelte in der Gleichbehandlung aller Mitglieder des Unterhauses. Alle Parlamentarier besaßen die Freiheit, Initiativen in das Unterhaus einbringen zu können. Der Historiker Kurt Kluxen erkennt darin richtigerweise einen ersten Ansatz zum Schutz der Minderheit und ihres Anspruchs auf freies parlamentarisches Agieren.112 Der Minderheitenschutz ist außerdem nicht isoliert von der Entwicklung der parlamentarischen Opposition zu betrachten.113 Die Idee der politischen Opposition ist so alt wie die Politik selbst.114 Erstmalige theoretische Arbeiten zur parlamentarischen Opposition stammen von Lord Bolingbroke, der im 18. Jahrhundert lebte und von John Locke beeinflusst wurde.115 Freiheit verlange nach seiner Vorstellung die Überwachung der Regierung, zuvörderst durch Obstruktion. Er selbst war Teil einer parlamentarischen Opposition gegen den ersten britischen Premierminister Robert Walepole.116 Seit dem 19. Jahrhundert kann von einer institutionalisierten Opposition in Großbritannien gesprochen werden.117 Im Zuge der Verfestigung eines innerparlamentarischen Dualismus zwischen Regierung und Opposition im Unterhaus wuchs die Bedeutung einer Geschäftsordnung und deren Hüter, dem Speaker. Der Übergang zum parlamentarischen Regierungssystem führte aber auch in England nicht umgehend zum heutigen Verständnis von parlamentarischem Minderheitenschutz.118 Wie in England findet Minoritätenschutz in den deutschen Parlamenten des Konstitutionalismus erstmals durch die Wahrung von Abgeordnetenrechten statt. Die Rechte der Volksvertreter waren gleich.119 Rede- und Stimmrechte der einzelnen Parlamentarier erlangten in Form von losen Parlamentsregeln Anerkennung.120 Seit der Einführung der ersten kodifizierten Geschäftsordnungen wurde der Schutz parlamentarischer Minderheiten dann auch als ein bedeutender Zweck dieser Re-

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Kluxen, Geschichte und Problematik des Parlamentarismus, S. 98. Zur theoretischen Fundierung des Oppositionsgrundsatzes vgl. insgesamt Volkmann, ZParl. 48 (2017), 473 (474 ff.). 114 Jäger, Politische Partei und parlamentarische Opposition, S. 19. 115 Vgl. Kluxen, Geschichte und Problematik des Parlamentarismus, S. 94 ff., 101. Aus politikwissenschaftlicher Sicht Bode, Ursprung und Begriff der parlamentarischen Opposition, S. 90 ff.; zur Frage nach der Theorie der Opposition anschaulich Volkmann, ZParl. 48 (2017), 473 (474 ff.). 116 Arndt, Neue Sammlung 8 (1968), 1 (3 f.). Grundlegend Realey, The Early Opposition to Sir Robert Walpole, 1720 – 1727. 117 Ingold, Das Recht der Oppositionen, S. 30 m.w.N. 118 Vgl. z.B. hinsichtlich des Untersuchungsrechts Ziemske, Das parlamentarische Untersuchungsrecht in England – Vorbild einer deutschen Reform, S. 31 ff. 119 Schneider, Die parlamentarische Opposition im Verfassungsrecht der Bundesrepublik Deutschland, S. 49 f. Dazu ausführlich 2. Kapitel B. II. 6. b) aa). 120 Vgl. Arndt, Parlamentarische Geschäftsordnungsautonomie und autonomes Parlamentsrecht, S. 35. 113

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gelungswerke angesehen.121 Der langjährige Parlamentspräsident Eduard v. Simson hielt früh fest, dass die Geschäftsordnung der natürliche Schutz der Minorität sei.122 Fritz Morstein Marx sah den geschäftsordnungsmäßigen Minderheitenschutz gar als parlamentarische Ornamentik an.123 Erst viel später erhielt er durch die Regelung expliziter Minderheitenrechte einen verfassungsrechtlichen Status.124 Julius Hatschek verweist auf die Bedeutung des Seniorenkonvents im Preußischen Abgeordnetenhaus in der Mitte der 60er Jahre des 19. Jahrhunderts. Dieser sollte dem Berücksichtigungsbedürfnis der Minderheiten bei der Besetzung der Kommissionen gerecht werden, war aber nicht in der Geschäftsordnung geregelt.125 Der Seniorenkonvent war sowohl auf Ebene der Gliedstaaten als auch auf Reichsebene geschaffen worden, um die proportionale Beteiligung der Fraktionen an der Parlamentsarbeit zu gewährleisten und die Tages- und Redeordnung aufzustellen.126 In manchen kodifizierten Geschäftsordnungen war der Vorgänger des heutigen Ältestenrates ausdrücklich verankert.127 Schon die Geschäftsordnung des norddeutschen Reichstages von 1868 bezweckte den „Schutz der Minorität bei der Einbringung und Vertretung von Anträgen“128. Der Bedeutung der Geschäftsordnung für den parlamentarischen Minderheitenschutz war sich der zitierte v. Simson ebenso bewusst, als er 1867 feststellte, dass die Minorität der Mehrheit ausgeliefert sei, sofern die Auslegung der Geschäftsordnung 121

Mit einer Übersicht Haagen, Die Rechtsnatur der parlamentarischen Geschäftsordnung, S. 61 ff., der allerdings festhält, „daß es nicht zum rechtlichen Wesen der Geschäftsordnung gehört oder gar ihr Zweck ist, die Minderheit zu schützen.“ 122 v. Simson, in: RT-Plenarprotokoll der 15. Sitzung des Reichstages des Norddeutschen Bundes vom 19. März 1867, Bd. 1 S. 261; vgl. dazu Pietzcker, in: Schneider/Zeh, Parlamentsrecht und Parlamentspraxis, § 10 Fn. 23. 123 Morstein Marx, Beiträge zum Problem des parlamentarischen Minderheitsschutzes, S. 32; beide Zitate finden sich auch im Ausschussprotokoll der zehnten Sitzung des Ausschusses für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung (Geschäftsordnungsangelegenheiten) vom 12. Dezember 1967, in: Ausschussprotokoll, PA-DBT 3101 5. Wahlperiode, Protokoll 10, S. 5. 124 Vgl. allgemein v. Mohl, Die Geschichte und Literatur der Staatswissenschaften, Bd. 1, S. 310; Scherer, AöR 112 (1987), 189 (204 ff.). 125 Hatschek, Das Parlamentsrecht des Deutschen Reiches, S. 175; Perels, Das autonome Reichstagsrecht, S. 22, 31; Plate, Die Geschäftsordnung des Preußischen Abgeordnetenhauses, S. 230 f.; schließlich Arndt, Parlamentarische Geschäftsordnungsautonomie und autonomes Parlamentsrecht, S. 36 f. 126 Vgl. Hatschek, Das Parlamentsrecht des Deutschen Reiches, S. 185 ff. 127 So z.B. in §§ 14 und 15 der württembergischen Geschäftsordnung der Zweiten Kammer von 1909 oder in den §§ 15 und 16 der badischen Geschäftsordnung für die zweite Kammer der Landstände von 1912, abgedruckt in v. Rauchhaupt, Handbuch der deutschen Wahlgesetze und Geschäftsordnungen, S. 699, 92 f.; vgl. insgesamt dazu Arndt, Parlamentarische Geschäftsordnungsautonomie und autonomes Parlamentsrecht, S. 36; Franke, Vom Seniorenkonvent des Reichstages zum Ältestenrat des Bundestages, S. 68 ff. 128 Hatschek, Das Parlamentsrecht des Deutschen Reiches, S. 65, mit Verweis auf den Kommissionsbericht; Vonderbeck, ZParl. 14 (1983), 311 (313).

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in den Händen der Mehrheit liege.129 Erst § 118 der Geschäftsordnung des Reichstages in der Weimarer Republik von 1922 regelte die Auslegungsfrage der Geschäftsordnung zugunsten des Parlamentspräsidenten. Abweichungen von der kodifizierten Geschäftsordnung erfolgten bereits zur Kaiserzeit nur, wenn keiner der anwesenden Abgeordneten widersprach.130 Ein großer Schritt Richtung Verrechtlichung des Minderheitenschutzes gelang dann auch mit § 114 GO-WRT, der dieses Prinzip in der Geschäftsordnung fixierte.131 Dennoch befand Georg Jellinek richtigerweise, dass die Majorität tatsächlich die Herrin der Geschäftsordnung sei.132 Eine über den Einzelfall hinausgehende Auslegung gemäß § 119 GO-WRT war dem Reichstag nach Antrag und Prüfung des Geschäftsordnungsausschusses vorbehalten.133 An dieser Auffassung änderten weder die Institute von Ältestenrat und Fraktion134 noch die Vorschriften der §§ 118 und 114 GO-WRT135 oder die vermehrte wissenschaftliche Thematisierung136 mit dem Minderheitenschutz etwas.137 Bis heute bestimmt das Parlament zu Beginn jeder Wahlperiode mit Mehrheitsentscheidung über die Geschäftsordnung. Ungeachtet dessen erlangten Minderheitenrechte im Lichte des Vielparteienstaats der Weimarer Republik138 Verfassungsrang. Art. 34 Abs. 1 Satz 1 WRV regelte z.B.139 das Enqueterecht, heute in Art. 44 Abs. 1 129 Vgl. Plate, Die Geschäftsordnung des Preußischen Abgeordnetenhauses, S. 216 – 223; Scherer, AöR 112 (1987), 189 (207); zu v. Simson auch Vonderbeck, ZParl. 14 (1983), 311 (317). 130 Hatschek, Das Parlamentsrecht des Deutschen Reiches, S. 48; dazu auch Arndt, Parlamentarische Geschäftsordnungsautonomie und autonomes Parlamentsrecht, S. 104. 131 Vgl. auch Hatschek, Das Parlamentsrecht des Deutschen Reiches, S. 53; Perels, Das autonome Reichstagsrecht, S. 4; Glüth/Kretschmer, Die Geschäftsordnungen deutscher Parlamente seit 1848, § 126. 132 Jellinek, in: Jellinek, Ausgewählte Schriften und Reden von Georg Jellinek, Bd. 2, S. 269. 133 Abgedruckt in Glüth/Kretschmer, Die Geschäftsordnungen deutscher Parlamente seit 1848, § 127. Auch heute normiert § 127 Abs. 1 Satz 1 GO-BT die Auslegungskompetenz des Parlamentspräsidenten bei Fragen innerhalb der Sitzung für den Einzelfall, § 127 Abs. 1 Satz 2 Halbs. 1 GO-BT regelt ferner die Zuständigkeit des Ausschusses für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung. Nach § 127 Abs. 1 Satz 2 Halbs. 2 GO-BT kann die Auslegungsfrage auf Antrag dem Bundestag zur Entscheidung vorgelegt werden. 134 Vgl. Morstein Marx, Beiträge zum Problem des parlamentarischen Minderheitsschutzes, S. 32 ff.; Perels, in: Anschütz/Thoma, HdB-StaatsR, Bd. 1, S. 449. 135 Dazu Morstein Marx, Beiträge zum Problem des parlamentarischen Minderheitsschutzes, S. 21 ff., 31. Die Vorschriften der Reichstagsgeschäftsordnung von 1922 sind abgedruckt in RGBl. 1923 II S. 101 ff. 136 Vgl. dazu nur allgemein v. Kleist-Retzow, Das Problem des parlamentarischen Minderheitenschutzes im Deutschen Reiche; Morstein Marx, Beiträge zum Problem des parlamentarischen Minderheitsschutzes und Sackers, Das parlamentarische Minderheitenrecht in Deutschland. 137 Scherer, AöR 112 (1987), 189 (208 f.). 138 Voßkuhle, FS Schwarze, S. 284 f. m.w.N. 139 Morstein Marx, Beiträge zum Problem des parlamentarischen Minderheitsschutzes, S. 32 ff.

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Satz 1 GG normiert. Dies geht auf einen Vorschlag Max Webers zurück, der für ein effektives Untersuchungsverfahren Minderheitenschutz und Öffentlichkeit einforderte.140 Art. 24 Abs. 1 Satz 2 WRV bestimmte ferner als Vorgängerregelung des Art. 39 Abs. 3 Satz 3 GG, dass der Reichstagspräsident zur Einberufung einer Parlamentssitzung verpflichtet ist, wenn mindestens ein Drittel der Reichstagsmitglieder dies verlangen.141 Doch erst unter dem Grundgesetz erfuhr der Minderheitenschutz seinen endgültigen Durchbruch. Ein Grund für diese Entwicklung ist die von Kelsen ausgehende Annahme, dass die Minorität zur Wahrung der Verfassung stets die Chance haben müsse, die Verfassungsgerichtsbarkeit anzurufen.142 Mit Eintritt dieser Möglichkeit unter dem Grundgesetz dauerte es zudem nicht lang, bis das Bundesverfassungsgericht selbst eine ausführliche Rechtsprechung zum parlamentarischen Minderheitenschutz entwickelte. So betont das Gericht schon 1956 in der Entscheidung zum KPD-Verbot: „Was die Mehrheit will, wird jeweils in einem sorgfältig geregelten Verfahren ermittelt. Aber der Mehrheitsentscheidung geht die Anmeldung der Forderungen der Minderheit und die freie Diskussion voraus, zu der die freiheitliche demokratische Ordnung vielfältige Möglichkeiten gibt, die sie selbst wünscht und fördert, und deshalb auch für den Vertreter von Minderheitenmeinungen möglichst risikolos gestaltet. Da die Mehrheit immer wechseln kann, haben auch Minderheitenmeinungen die reale Chance, zur Geltung zu kommen.“143

4. Funktionen des Minderheitenschutzes Parlamentarischer Minderheitenschutz ist vielschichtig. Die Minderheitenrechte sind Ausprägungen des Demokratiegedankens. Ihre Funktion ist die Schaffung von Verfahrensgerechtigkeit. Das Demokratieprinzip verlangt gerade keine monistischmajoritäre Herrschaft, sondern eine Herrschaft der Mehrheit unter Berücksichtigung von Rechten der Minderheit.144 Die parlamentarischen Minderheitenrechte gewähren einer zahlenmäßig unterlegenen Parlamentsminderheit besondere Rechte, die ihr nach einem Prinzip der stringenten Mehrheitsherrschaft nicht gewährt würden. Der Minderheitenschutz schützt vor Mehrheitswillkür. Eine Mehrheitsentscheidung ist nicht Ausdruck von Richtigkeit oder Wahrheit. Deshalb muss die Parlamentsminderheit stets die Möglichkeit haben, durch politische Wahlen zur Mehrheit werden zu

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Weber, Parlament und Regierung im neugeordneten Deutschland, S. 55 ff., 66 f.; Klein, in: Maunz/Dürig, GG, 76. EL Dezember 2015, Art. 44 Rn. 15 ff. m.w.N. 141 Abgedruckt in Huber, Dokumente zur Deutschen Verfassungsgeschichte, Bd. 4, S. 155 f. 142 Kelsen, Vom Wesen und Wert der Demokratie, S. 75 f. 143 BVerfGE 5, 85 (199). 144 Wollmann, in: Röhring/Sontheimer, HdB-Parlamentarismus, S. 285.

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2. Kap.: Die Minderheitenrechte im Deutschen Bundestag

können.145 Die Parlamentsminderheit ist potentielle Parlamentsmehrheit wie auch andersherum die Parlamentsmehrheit potentielle Parlamentsminderheit ist.146 Minderheitenrechte bedeuten Chancengleichheit durch Verfahren. Sie können den parlamentarischen Ablauf beeinflussen und vorantreiben. Der Mehrheit aber ist die Entscheidung über Sachfragen überlassen.147 Der politische Entscheidungsprozess soll offen und vielfältig gestaltet werden. Minderheitenpositionen sollen eingebracht werden, auch um die Akzeptanz für politische Entscheidungen zu erhöhen.148 Relativierend ist allerdings festzustellen, dass Minderheitsentscheidungen nicht immer hinsichtlich Verfahrensfragen sowie Mehrheitsentscheidungen nicht bloß hinsichtlich Sachfragen ergehen.149 Die Einsetzung eines Untersuchungsausschusses beispielsweise birgt in sich schon eine endgültige Sachentscheidung über die Notwendigkeit einer Erforschung des Untersuchungsgegenstandes. Andererseits handelt es sich bei einer Beschlussfassung i.S.v. § 126 GO-BT um eine Mehrheitsentscheidung über eine reine Verfahrensfrage. Insofern kann vom Typus der Frage nicht automatisch auf die Funktion von Minderheitenrechten geschlossen werden.150 Die Aufgaben des Parlaments als Ganzes und der Parlamentsminderheit sind grundsätzlich identisch. Doch im parlamentarischen Regierungssystem verschmelzen faktisch-politisch Regierung und Parlamentsmehrheit zu einer Funktionseinheit. Daher weist der neue Dualismus von Regierung und Opposition der parlamentarischen Minderheit zumindest schwerpunktmäßig und in besonderer Weise die parlamentarische Kontrollfunktion zu:151 Die Minderheitenrechte spielen folgerichtig vor allem im Rahmen der Regierungskontrolle und -kritik eine entscheidende Rolle.152 Ein wesentlicher Teil der Kontrolle ist der parlamentarischen Minderheit überlassen.153 Dies bedeutet nicht, dass die Parlamentarier der Regierungsfraktionen 145 Vgl. Schneider, in: AK, GG, 2. EL August 2002, Art. 42 Rn. 11; zurecht kritisch Achterberg, Die parlamentarische Verhandlung, S. 50 f. 146 Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Rn. 157. 147 Schäfer, Der Bundestag, S. 75, 81; Dreier, JZ 1990, 310 (316). 148 Hofmann/Dreier, in: Schneider/Zeh, Parlamentsrecht und Parlamentspraxis, § 5 Rn. 67. 149 Vgl. Schäfer, Der Bundestag, S. 74, 77; auch Vonderbeck, ZParl. 6 (1975), 150; Wollmann, in: Röhring/Sontheimer, HdB-Parlamentarismus, S. 285. 150 Achterberg, Die parlamentarische Verhandlung, S. 51 f.; dennoch räumt auch Achterberg richtigerweise ein, dass es eine Tendenz dahingehend gibt, dass Minderheitenrechte vor allem auf Verfahrensfragen Einfluss haben. 151 Vgl. zu Überlegungen der Stärkung von „Oppositionsrechten“ im Vorfeld der großen Parlamentsreform von 1980 Echternach, ZParl. 6 (1975), 3. 152 BVerfGE 49, 70 (86); 105, 197 (222); die Kontrollfunktion als „zentrale“ Funktion der Opposition herausarbeitend Haberland, Die verfassungsrechtliche Bedeutung der Opposition nach dem Grundgesetz, S. 40; ähnlich Birk, NJW 1988, 2521 (2521 ff.); anders dagegen Schneider, in: ders./Zeh, Parlamentsrecht und Parlamentspraxis, § 38 Rn. 43; Waack, in: Morlok/Schliesky/Wiefelspütz, Parlamentsrecht, § 22 Rn. 22. 153 BVerfGE 49, 70 (85 f.); vgl. auch Höfling/Burkiczak, Jura 2007, 561 (565); Kloepfer, Verfassungsrecht I, § 15 Rn. 28; Waack, in: Morlok/Schliesky/Wiefelspütz, Parlamentsrecht, § 22 Rn. 19.

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die Regierung nicht kontrollieren.154 Die Kontrolle der Regierung durch Abgeordnete aus den eigenen Reihen wird teilweise gar für effektiver erachtet als die Kontrolle durch die Oppositionsfraktionen.155 Kontrolle durch die regierungstragende Mehrheit und Kontrolle durch die Opposition sind aber vor allem grundverschieden. Beide sind unverzichtbar.156 Erstere ist davon geprägt, dass die Regierung von der Parlamentsmehrheit abhängig ist (Art. 63, 67, 68 GG), vor allem im Rahmen der Gesetzgebung (Art. 76 ff. GG). Infolgedessen wird sie als interne Kritik im Entscheidungsfindungsprozess wahrgenommen. Sie wird verarbeitet, auch um die Parlamentarier aus den eigenen Reihen zufriedenzustellen. Sie ist effektiv, weil konstruktiv.157 Die Kontrolle durch die parlamentarische Opposition dagegen ist geprägt von einer konfrontativen und medienwirksamen Kritik,158 sie will Schwachstellen der Regierungsarbeit aufdecken. Sie zielt auf die Schwächung der Regierung. Die Opposition kann die Resultate der Regierungspolitik anhand ihrer Verfassungsmäßigkeit, den eigenen politischen Maßstäben und denen der Regierung (Wahlversprechen und Regierungsprogramm) messen. Dies führt immer auch zu einer erhöhten Wahrscheinlichkeit von Rationalität und Sachrichtigkeit der Regierungspolitik, ist aber zuvörderst auf Obstruktion angelegt.159 Schließlich dienen die Minderheitenrechte der oppositionellen Parlamentsminderheit dazu, Alternativen gegenüber der Mehrheit und dem Wahlvolk zu präsentieren, z.B. mittels Gesetzesinitiativen i.S.d. Art. 76 Abs. 1 GG. Regierungskritik findet öffentlich statt,160 auch um dem Wahlvolk Alternativen aufzuzeigen.161 Die Funktionen der Minderheitenrechte gleichen damit denen der Opposition. Dennoch dienen Minderheitenrechte nicht in erster Linie dem Schutz der Opposition, Minderheit und Opposition sind nicht notwendig identisch.162 Minderheitenrechte fördern aber die Wirkungsmöglichkeiten parlamentarischer Opposition.163 Kontrolle, Kritik und Alternative 154 Vgl. nur Lorz/Richterich, in: Morlok/Schliesky/Wiefelspütz, Parlamentsrecht, § 35 Rn. 115. 155 So z.B. Busch, Parlamentarische Kontrolle, S. 24 ff.; Heinzerling, in: Busch/Berger, Die parlamentarische Kontrolle, S. 122; Lorz/Richterich, in: Morlok/Schliesky/Wiefelspütz, Parlamentsrecht, § 35 Rn. 119; Schmidt-Jortzig, FS Rauschning, S. 148 f. 156 Vgl. Voßkuhle, BayVBl. 2016, 289 (291); Waack, in: Morlok/Schliesky/Wiefelspütz, Parlamentsrecht, § 22 Rn. 20 f. 157 Lorz/Richterich, in: Morlok/Schliesky/Wiefelspütz, Parlamentsrecht, § 35 Rn. 119; Waack, in: Morlok/Schliesky/Wiefelspütz, Parlamentsrecht, § 22 Rn. 20. 158 Vgl. zuletzt BVerfG, Urteil vom 7. November 2017 – 2 BvE 2/11 –, juris Rn. 200. 159 Haberland, Die verfassungsrechtliche Bedeutung der Opposition nach dem Grundgesetz, S. 42. 160 BVerfG, Urteil vom 7. November 2017 – 2 BvE 2/11 –, juris Rn. 200. 161 Waack, in: Morlok/Schliesky/Wiefelspütz, Parlamentsrecht, § 22 Rn. 21. 162 Achterberg, Die parlamentarische Verhandlung, S. 51; auch in diese Richtung argumentierend Schäfer, Der Bundestag, S. 77 ff.; Schneider, AöR 99 (1974), 628 (628 f.); Wollmann, in: Röhring/Sontheimer, HdB-Parlamentarismus, S. 285. Siehe schon 1. Kapitel B. I. 1. und 2. 163 Vgl. bereits den Titel bei Cancik, NVwZ 2014, 18 – 24: „Wirkungsmöglichkeiten parlamentarischer Opposition im Falle einer qualifizierten Großen Koalition“.

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2. Kap.: Die Minderheitenrechte im Deutschen Bundestag

werden in bestimmter Weise durch die Opposition ausgeübt. So erweisen sich die Minderheitenrechte als Stärkung des Institutionsgefüges der parlamentarischen Demokratie insgesamt. 5. Träger von Minderheitenrechten Minderheitenrechte stehen grundsätzlich allen Parlamentariern zu. Die zahlenmäßige Stärke der parlamentarischen Minderheit kann vom einzelnen Abgeordneten bis hin zu einer Gruppe von Abgeordneten reichen, die nur ein Mandat weniger als die Mehrheit auf sich vereint.164 Sie kann sich in ihrer inhaltlichen wie personellen Formation temporär verändern. Im Wesentlichen sind statusgebundene und nichtstatusgebundene Minderheitenrechte unterscheidbar. Der Opposition oder gar einzelnen Oppositionsfraktionen weist die Rechtsordnung grundsätzlich keine Rechte zu. Das Grundgesetz kennt die Institute des parlamentarischen Regierungssystems als rechtliches Staatsgebilde und nicht als politisches Machtgefüge. Minderheitenrechte sind Rechte der Parlamentsminderheit(en) und nicht der parlamentarischen Opposition(en). a) Statusgebundene Minderheitenrechte Statusgebunden sind Abgeordneten-, Gruppen- und Fraktionsrechte. Zunächst ist der einzelne Abgeordnete Träger von Minderheitenrechten, obwohl der Begriff „Minderheit“ eine Vielzahl von Abgeordneten vorauszusetzen scheint.165 Als einzelne Organwalter des Bundestages sind Abgeordnete auf sich alleingestellt immer Minderheit. Rede-, Frage-, Antrags- und Abstimmungsrechte des einzelnen Abgeordneten sind Minderheitenrechte. Ferner können mehrere Abgeordnete Minderheitenrechte wahrnehmen, wenn sie sich zu einer Gruppe oder Fraktion zusammenschließen. Gruppen und Fraktionen sind nicht nur lose ad hoc-Zusammenschlüsse von Parlamentariern, sondern auf Dauer einer Legislaturperiode angelegte und institutionalisierte Vereinigungen politisch gleichgesinnter Abgeordneter.166 Bei Rechten, deren Wahrnehmung an den Status der Gruppe oder Fraktion geknüpft sind, handelt es sich insofern anders als bei Abgeordneten- und nicht-statusgebundenen Quorenrechten um besonders qualifi164 Vgl. Achterberg, Die parlamentarische Verhandlung, S. 51; Arndt, Parlamentarische Geschäftsordnungsautonomie und autonomes Parlamentsrecht, S. 80; Kürschner, Die Statusrechte des fraktionslosen Abgeordneten, S. 120; Vonderbeck, ZParl. 6 (1975), 150 (151); Wollmann, in: Röhring/Sontheimer, HdB-Parlamentarismus, S. 285. 165 Vgl. noch in der sechsten Auflage Achterberg/Schulte, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, Bd. 2, Art. 42 Rn. 46; Dreier, in: ders., GG, Bd. 2, Art. 42 Rn. 74; Hofmann/Dreier, in: Schneider/Zeh, Parlamentsrecht und Parlamentspraxis, § 5 Rn. 66; Kürschner, Die Statusrechte des fraktionslosen Abgeordneten, S. 119 ff. 166 Linck, DÖV 1975, 689 (692).

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zierte Rechte.167 Viel häufiger als Gruppen (§ 10 Abs. 4 GO-BT)168 sind Fraktionen Träger von Minderheitenrechten.169 Fraktionen wirken im Gegensatz zu den Parteien nicht kontinuierlich, sie existieren nur für die jeweilige Wahlperiode. Der Zusammenschluss zur Fraktion, das Loslösen von einer solchen und die Freiheit, sich gar nicht in eine Fraktion einzufügen, resultieren aus dem Abgeordnetenmandat nach Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG.170 Fraktionen sind Abgeordnetenzusammenschlüsse. Obwohl eine alleinige Fraktion auch die absolute Mehrheit der Parlamentsmandate auf sich vereinigen kann, ist eine einzelne Fraktion in der Bundesrepublik regelmäßig Minderheit im Parlament.171 Fraktionen sind öffentlich-rechtlicher Natur eigener Art.172 Sie sind Teil der organisierten Staatlichkeit und die Gliederungseinheiten im Parlament. Die Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages weist den Fraktionen die Schlüsselstellung im Parlament zu173 und diese nehmen sie auch de facto wahr. Sie steuern und erleichtern174 den Parlamentsbetrieb – sie ermöglichen durch die Organisation der Arbeitsteilung die Handlungsfähigkeit des Bundestages.175 Die Fraktionen bereiten Initiativen vor, stimmen sich dazu ab und bringen sie ein.176 In wesentlichen Fragen vertreten die Fraktionen einheitliche Standpunkte nach außen, um ein politisches Profil entstehen zu lassen bzw. zu schärfen. Im Rahmen der internen Fraktionsarbeit findet ein Großteil des parlamentarischen Willensbildungsprozesses statt. Fraktionen sorgen für eine erhöhte politische Wirksamkeit. Sie generieren und verarbeiten die Informationen ihrer Abgeordneten. Innerhalb der 167

Linck, DÖV 1975, 689 (692). Die parlamentarische Gruppe kann zumindest ein Minderheitenrecht im weiteren Sinne wahrnehmen, ihr steht nach verfassungsgerichtlicher Rechtsprechung eine Berücksichtigung bei der Vergabe von Ausschusssitzen zu. Hier ist der Anspruch gemeint, Mitglieder mit Stimmrecht nach dem Grundsatz der Spiegelbildlichkeit in einen Ausschuss zu senden. Ein Grundmandat können Gruppen nicht beanspruchen, BVerfGE 84, 304 (323 ff.); zur Frage des Grundmandats insgesamt Dreier, JZ 1990, 310 (316 ff.); allgemein und aktuell zu Gruppen Hölscheidt/Mundil, DÖV 2018, 546 – 552. 169 Vgl. zur Opposition, die den Fraktionsstatus nicht erreicht Linck, DÖV 1975, 689 (693): „Sofern bei der Bildung einer Großen Koalition den Regierungsfraktionen im Parlament eine zahlenmäßig sehr kleine Opposition von z.B. nur drei oder vier Abgeordneten gegenüberstünde, könnte sie den Status einer Fraktion beanspruchen, weil ihre parlamentarischen Befugnisse andernfalls derart eingeschränkt wären, daß das Recht auf Ausübung einer parlamentarischen Opposition weitgehend leerliefe.“ 170 BVerfGE 80, 188 (219 f.); 84, 304 (322); ferner Morlok, DVBl. 1991, 998 (999); Mundil, Die Opposition, S. 92 f. 171 Ausnahme ist auf Bundesebene lediglich die 3. Wahlperiode. 172 Waldhoff, in: Austermann/Schmahl, AbgG, § 50 Rn. 5, nennt sie treffend „eigenartige parlamentsrechtliche Organisationseinheiten“. Vgl. zur Rechtsstellung nur Klein, in: Maunz/ Dürig, GG, 60. EL Oktober 2010, Art. 38 Rn. 243; Lontzek, in: Austermann/Schmahl, AbgG, § 46 Rn. 4; Hölscheidt, Das Recht der Parlamentsfraktionen, S. 174. Kritisch Wolters, Der Fraktions-Status, S. 156 f. 173 BVerfGE 20, 56 (104); 62, 194 (202); 80, 188 (231). 174 Ebenfalls seit BVerfGE 20, 56 (104). 175 Vgl. nur Kloepfer, Verfassungsrecht I, § 15 Rn. 197. 176 BVerfGE 80, 188 (231). 168

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2. Kap.: Die Minderheitenrechte im Deutschen Bundestag

Fraktionen werden die politischen Vorhaben kontrovers diskutiert und verfolgt,177 mag dies auch häufiger in kleineren Arbeitsgruppen und -kreisen als in der großen Fraktionssitzung der Fall sein.178 Die Fraktionen fassen die differenzierenden politischen Abgeordnetenpositionen innerhalb der Fraktionen zusammen. Erst dadurch entstehen innerhalb des Parlaments mit seinen mindestens 598 Abgeordneten handlungs- und verständigungsfähige Entscheidungseinheiten.179 Das Bundesverfassungsgericht bezeichnet Fraktionen daher als „notwendige Einrichtungen des Verfassungslebens“180. Dies untermauert die deutsche Parlamentstradition. Die Fraktionen gingen den Parteien voraus. In der Frankfurter Nationalversammlung schlossen sich gleichgesinnte Abgeordnete zu Klubs zusammen. Sie waren die Vorgänger der Fraktionen, gleichwohl sie sich noch als weniger organisiert und durchlässiger erwiesen.181 Fraktionen sind historisch gewachsene und unersetzliche Steuerungseinheiten des Parlaments.182 Fraktionsbildungen sind kein Produkt des Verfassungsgebers,183 sondern eine autarke Entwicklung im Parlamentarismus, die nichts anderes als die Rationalisierung des parlamentarischen Verfahrens, die Arbeitsteilung durch Sachzwang und Kanalisierung von Meinungsvielfalt realisiert. Das Grundgesetz nennt sie nur beiläufig, auch weil es sie voraussetzt.184 Dies zeigen die Protokolle des Parlamentarischen Rates.185 Schließlich dient der Zusammenschluss von Abgeordneten zu Fraktionen nicht nur der Arbeitsteilung, -effizienz und Meinungssammlung; er führt auch dazu, dass Abgeordnete an den Willensbildungsprozessen außerhalb des Plenums und der eigenen Ausschusstätigkeit beteiligt sein können. Darüber hinaus beugen Fraktionsbildungen Alleingänge von Abgeordneten vor, die weit mehr Aufmerksamkeit erzeugen als es der ihnen zustehenden politischen Bedeutung angemessen ist, die sie innerhalb des Parlaments repräsentieren. 177

Linn/Sobolewski, So arbeitet der Deutsche Bundestag, S. 19 f. Insgesamt hierzu Hölscheidt, Das Recht der Parlamentsfraktionen, S. 266 ff. 179 BVerfGE 80, 188 (231); vgl. auch StGH Bremen, NVwZ 2005, 929 (932). 180 Vgl. BVerfGE 10, 4 (14); 20, 56 (104); vorher schon BVerfGE 2, 143 (160, 167). 181 Siehe schon die Ausführungen und Nachweise in 1. Kapitel B. II. 1. 182 Vgl. BVerfGE 10, 4 (14); vorher schon BVerfGE 2, 143 (160, 167); so wie hier Demmler, Der Abgeordnete im Parlament der Fraktionen, S. 478 f. Vgl. auch schon Gelze, Das Arbeitsparlament im Wartemodus – ein Hauptausschuss für den 19. Deutschen Bundestag?, 23. 10. 2017, http://verfassungsblog.de/das-arbeitsparlament-im-wartemodus-ein-hauptausschuss -fuer-den-19-deutschen-bundestag/, zuletzt geprüft am 26. 4. 2018. 183 Siehe zu den Bestrebungen in Richtung einer stärkeren Verankerung im Grundgesetz BT-Drs. 12/6000, S. 89 ff. 184 Hauenschild, Wesen und Rechtsnatur der parlamentarischen Fraktionen, S. 15 ff.; Troßmann, JöR 28 (1979), 1 (138 f.); Schmidt-Jortzig, NVwZ 1994, 1145 (1146). Vgl. insgesamt anschaulich zur Bewertung der Aufgaben der Fraktionen aus der Politikwissenschaft Bäcker, APuZ 2012, Heft 38/39, 43 – 48. 185 Siehe nur beispielhaft die Aussagen der Beteiligten des Parlamentarischen Rates in der 23. Sitzung des Hauptausschusses am 8. Dezember 1948, in: Risse/Weber (Hrsg.), Der Parlamentarische Rat 1948 – 1949, Bd. 14/1, S. 690 f. 178

B. Minderheitenrechte in Zeiten qualifizierter Großer Koalitionen

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b) Nicht-statusgebundene Minderheitenrechte Nicht-statusgebunden sind Quorenrechte. Dabei existieren bestimmte Abstimmungsquoren: Rechte, die an den Status der Fraktion geknüpft werden, können meist auch von fünf Prozent der Mitglieder des Bundestages wahrgenommen werden (siehe § 10 Abs. 1 Satz 1 GO-BT). Hinzukommen die Rechte, die durch ein Zehntel, ein Drittel oder ein Viertel der Mitglieder des Bundestages geltend gemacht werden können.186 6. Inhalt des Minderheitenschutzes Wie bereits erwähnt ist der Begriff „Minderheitenschutz“ weiter als der Begriff „Minderheitenrechte“. Daraus folgt, dass Minderheitenschutz nicht nur als Sammelbegriff der verfassungsrechtlichen Minderheitenrechte existiert, sondern einen eigenständigen und die Minderheitenrechte überlagernden Gehalt hat, der insgesamt aus drei Komponenten besteht: ausdrückliche Minderheitenrechte, Mandatsgleichheit und einem Kern parlamentarischen Minderheitenschutzes. a) Ausdrücklich geregelte Minderheitenrechte Den Trägern von Minderheitenrechten werden fragmentarisch Rechte eingeräumt: vereinzelt in der Verfassung, punktuell in Bundesgesetzen und ausführlicher in der Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages.187 Es kann dabei erstens zwischen Minderheitenrechten im engeren und weiteren Sinne unterschieden werden. Minderheitenrechte im engeren Sinne sind ausdrücklich geregelte Befugnisse, die die rechtliche Besserstellung einer Parlamentsminderheit gerade bezwecken.188 Minderheitenrechte im weiteren Sinne sprechen einer Parlamentsminderheit nicht ausdrücklich Rechte zu, entfalten aber ihre Wirkung, obwohl sie dies nicht notwendig (allein) bezwecken.189 Zweitens kann zwischen absoluten (echten, unbe186

In den Landesverfassungen gibt es regelmäßig auch Fünftelquoren. Ferner kann es andere Quoren geben. z.B. das Erfordernis von 100 Abgeordnetenstimmen, § 14 Satz 2 WahlPrG, dazu 1. Kapitel B. I. 3. c). 187 Vgl. dazu wie auch zu den Minderheitenrechten insgesamt die Aufzählung bei Wissenschaftliche Dienste des Deutschen Bundestages, Rechte der parlamentarischen Minderheiten im Bundestag. Infobrief WD 3 - 3010 - 196/13 vom 3. 12. 2013, S. 8 ff.; auch vorher schon dies., Minderheitenschutz im Deutschen Bundestag. Ausarbeitung WF 1 - 17/92 vom 21. 12. 1992; dies., Minderheitsschutz im Deutschen Bundestag. Ausarbeitung WF 1 - 1/9 (Neufassung zu 17/92) vom 28. 1. 1997. Eine weitere Aufzählung ist zu finden bei Vonderbeck, ZParl. 6 (1975), 150 (151 ff.); dems., ZParl. 14 (1983), 311 (321 ff.), und Schindler, Datenhandbuch zur Geschichte des Deutschen Bundestages 1949 bis 1999, S. 2775 ff. 188 Art. 39 Abs. 3 Satz 3 GG z.B. verpflichtet den Bundestagspräsidenten ausdrücklich zur Parlamentseinberufung, sofern ein Drittel der Abgeordneten dies verlangt. 189 Das Erfordernis einer qualifizierten Mehrheit schafft die Möglichkeit von Sperrminoritäten, die nicht primär dem Minderheitenschutz dienen, aber unzweifelhaft minderheitenschützende Wirkung entfalten. Auch die Spiegelbildlichkeit von Plenum und Ausschusszu-

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2. Kap.: Die Minderheitenrechte im Deutschen Bundestag

schränkten) und relativen (unechten, beschränkten) Minderheitenrechten differenziert werden. Sie erweisen sich als absolute Minderheitenrechte, wenn die Parlamentsminderheit die Parlamentsmehrheit zu einem bestimmten Tun verpflichten kann, ohne dass die Mehrheit sich darüber hinwegsetzen könnte.190 Relative Minderheitenrechte führen dazu, dass das Plenum bzw. der Ausschuss sich lediglich mit einem Antrag befassen muss.191 aa) Normierung von Minderheitenrechten (1) Minderheitenrechte im Grundgesetz Minderheitenrechte des einzelnen Abgeordneten sind kaum ausdrücklich in der Verfassung verankert. Zentraler Angelpunkt ist der Abgeordnetenstatus des Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG. Abgeordnete haben Anwesenheits-, Rede-, Stimm-, Initiativ-, Frage- und Informationsrechte sowie das Recht, sich an Wahlen im Parlament zu beteiligen und das Recht, sich mit anderen Abgeordneten zu einer Gruppe oder Fraktion zusammenzuschließen.192 Auch im Ausschuss stehen ihnen diese Rechte im Rahmen der Geschäftsordnung zu, Fraktionslose haben nach verfassungsgerichtlicher Rechtsprechung jedoch kein Stimmrecht im Ausschuss.193 Der Abgeordnete hat zudem gemäß Art. 93 Abs. 1 Nr. 1 GG i.V.m. §§ 13 Nr. 5, 63 ff., 64 Abs. 1 Alt. 1 BVerfGG das verfassungsrechtlich verbürgte Recht zur Organklage, wenn es um die Verletzung seiner Statusrechte aus Art. 38 Abs. 1 GG geht. Den Fraktionen als notwendige Einrichtungen des Verfassungslebens194 stehen ebenfalls Minderheitenrechte zu, allerdings leiten sie sich nicht etwa aus Art. 53a Abs. 1 Satz 2 GG ab. Auch die Fraktionsrechte finden sich insbesondere in der Geschäftsordnung und in Gesetzen. Verfassungsrechtlich verankert ist nur ihr Rechtsschutz im Organstreit, dort können sie ihre Rechte oder in Prozessstandschaft die des Bundestages geltend machen, Art. 93 Abs. 1 Nr. 1 GG i.V.m. §§ 13 Nr. 5, 63 ff., 64 Abs. 1 BVerfGG. Auch die parlamentarische Gruppe ist im Organstreit sammensetzung schützt die Parlamentsminderheit, obwohl sie zuvörderst der Freiheit und Gleichheit des Abgeordnetenmandats entspringt. Es handelt sich um Minderheitenrechte im weiteren Sinne. Dazu BVerfGE 80, 188 (222); 84, 304 (323); 112, 118 (133); 140, 115 (152); vgl. auch Wolters, Der Fraktions-Status, S. 65 f. Siehe zum Spiegelbildlichkeitsgrundsatz 2. Kapitel B. 6. b) cc) und 5. Kapitel C. III. 3. a). 190 Ein absolutes Minderheitenrecht regelt z.B. Art. 44 Abs. 1 Satz 1 GG, auf Antrag eines Viertels seiner Mitglieder hat der Bundestag die Pflicht, einen Untersuchungsausschuss einzusetzen. 191 Ein relatives Minderheitenrecht findet sich z.B. in Art. 42 Abs. 1 Satz 2 GG. Vgl. bezogen auf Informationsrechte Schneider, AöR 99 (1974), 628 (629 f.); darüber hinaus auch Achterberg, Die parlamentarische Verhandlung, S. 50; Wollmann, in: Röhring/Sontheimer, HdB-Parlamentarismus, S. 285; noch in der sechsten Auflage Achterberg/Schulte, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, Bd. 2, Art. 42 Rn. 47. 192 Zusammenfassend BVerfGE 130, 318 (342). 193 BVerfGE 80, 188 (224). 194 BVerfGE 80, 188 (219).

B. Minderheitenrechte in Zeiten qualifizierter Großer Koalitionen

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parteifähig, sofern es um ihre Rechte geht, Art. 93 Abs. 1 Nr. 1 GG, §§ 13 Nr. 5, 63 ff. BVerfGG. Minderheitenrechte sind im Grundgesetz am häufigsten an Quoren gebunden, die zu ihrer Geltendmachung erreicht werden müssen. Es gibt fünf absolute Minderheitenrechte im Grundgesetz: Ein erstes Quorum ist in Art. 23 Abs. 1a Satz 2 GG, § 12 Abs. 1 Satz 1 IntVG normiert. Eine Subsidiaritätsklage gemäß Art. 8 des Subsidiaritätsprotokolls zu erheben, ist auf Antrag eines Viertels der Mitglieder des Bundestages195 verpflichtend. Ein weiteres Quorenrecht regelt Art. 39 Abs. 3 Satz 3 GG, § 21 Abs. 2 GO-BT. Der Bundestagspräsident muss den Bundestag einberufen, wenn ein Drittel der Mitglieder des Bundestages196 dies verlangt. Ebenfalls ein Viertelquorum bietet der schon erwähnte Art. 44 Abs. 1 Satz 1 GG, §§ 1 Abs. 1 und 2 Abs. 1 PUAG. Es handelt sich um eine Minderheitenenquete.197 Auch der Antrag, eine Angelegenheit zum Gegenstand einer Untersuchung im Verteidigungsausschuss zu machen und sich als Untersuchungsausschuss zu konstituieren, bedarf eines Viertels der Mitglieder des Verteidigungsausschusses, Art. 45a Abs. 2 Satz 2 GG, § 34 Abs. 1 Satz 2 PUAG. Außerdem entscheidet das Bundesverfassungsgericht gemäß Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 GG, §§ 13 Nr. 6, 76 BVerfGG auf Antrag eines Viertels der Mitglieder des Bundestages über die Vereinbarkeit von Bundesrecht oder Landesrecht mit dem Grundgesetz. Schließlich finden sich zwei relative Minderheitenrechte im Grundgesetz: Für eine Abstimmung über die Bundespräsidentenanklage bedarf es des Antrages von mindestens einem Viertel der Mitglieder des Bundestages, Art. 61 Abs. 1 Satz 2 GG. Sofern mindestens ein Zehntel der Mitglieder des Bundestages198 den Ausschluss der Öffentlichkeit im Bundestag beantragt, kann Beschluss darüber gefasst werden, Art. 42 Abs. 1 Satz 2 GG. Ob Sperrminoritäten Minderheitenrechte darstellen, ist umstritten.199 Die Formulierungen der Vorschriften, die für ein Vorhaben z.B. zwei Drittel der Stimmen verlangen, legen nahe, dass weniger der Schutz der parlamentarischen Minderheit als vielmehr eine, über das gewöhnliche Maß hinausgehende, Normbeständigkeit im Vordergrund steht.200 Die Minderheit hat dennoch die Chance, das Handeln der Mehrheit negativ zu beeinflussen.201 Es bleibt bei derselben Wirkung. Die Min195

Bei 631 Parlamentssitzen in der 18. Wahlperiode waren das 158 Abgeordnete. Bei 631 Parlamentssitzen in der 18. Wahlperiode waren das 211 Abgeordnete. 197 Brocker, in: Epping/Hillgruber, GG, 37. Edition Mai 2018, Art. 44 Rn. 22 ff. 198 Bei 631 Parlamentssitzen in der 18. Wahlperiode waren das 64 Abgeordnete. 199 Bejahend z.B. Loewenstein, Verfassungslehre, S. 180 f.; Brocker, in: BK, GG, 150. EL Februar 2011, Art. 40 Rn. 228. 200 Diese Stabilitätswahrung betonend Hofmann/Dreier, in: Schneider/Zeh, Parlamentsrecht und Parlamentspraxis, § 5 Rn. 61; Waack, in: Morlok/Schliesky/Wiefelspütz, Parlamentsrecht, § 22 Rn. 58. 201 Achterberg, Die parlamentarische Verhandlung, S. 51; Dreier, in: ders., GG, Bd. 2, Art. 20 (D) Rn. 71; dagegen dem Minderheitenschutz zuordnend Hesse, Grundzüge des Ver196

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2. Kap.: Die Minderheitenrechte im Deutschen Bundestag

derheit hat in diesem Fall das Recht, Vorhaben scheitern zu lassen. Sie können als passive Minderheiten- oder auch als Widerspruchsrechte eingestuft werden,202 denn qualifizierte Mehrheitserfordernisse verhindern die Überstimmung von Minderheiten.203 Sie sind also zumindest Minderheitenrechte im weiteren Sinne. Die bedeutendste Sperrklausel findet sich in Art. 79 Abs. 2 GG. Für die Änderung des Grundgesetzes bedarf es der Stimmen von zwei Dritteln der Mitglieder des Bundestages (und des Bundesrates). Art. 23 Abs. 1 Satz 3 GG verweist auf Art. 79 Abs. 2 GG. In Art. 61 Abs. 1 Satz 3 GG, § 49 Abs. 3 Satz 2 BVerfGG ist geregelt, dass der Beschluss auf Erhebung der Anklage des Bundespräsidenten wegen vorsätzlicher Verletzung des Grundgesetzes oder eines Bundesgesetzes vor dem Bundesverfassungsgericht von mindestens zwei Dritteln der Mitglieder des Bundestages ausgehen muss. Eine Zweidrittelmehrheit bedarf es außerdem für den Ausschluss der Öffentlichkeit nach Art. 42 Abs. 1 Satz 2 GG, für die Zurückweisung von Einsprüchen nach Art. 77 Abs. 4 Satz 2 GG und für die Feststellung des Spannungsfalles nach Art. 80a Abs. 1 Satz 2 GG. (2) Minderheitenrechte in einfachen Gesetzen Dem Parlaments- und Abgeordnetenrecht sind einfachgesetzliche Rechtsquellen nicht fremd. Es handelt sich um „Ausführungsgesetze“ des Grundgesetzes, die wie z.B. bei dem Gesetz über die Zusammenarbeit von Bundesregierung und Deutschem Bundestag in Angelegenheiten der Europäischen Union (Art. 23 Abs. 3 Satz 3 GG), bei dem Wahlprüfungsgesetz (Art. 41 Abs. 3 GG) oder bei dem Kontrollgremiumgesetz (Art. 45d Abs. 2 GG) eine verfassungsrechtliche Verweisungsnorm zur Grundlage haben. Vereinzelt fehlt auch eine solche Bestimmung in der Verfassung, wie bei dem Untersuchungsausschussgesetz und Parlamentsbeteiligungsgesetz. Zunächst sind Abgeordnetenrechte in einfachen Bundesgesetzen zu finden. Dabei werden teilweise verfassungsrechtlich in Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG verbürgte Rechte deklaratorisch in Gesetzen aufgeführt, z.B. das Recht, sich zu Fraktionen zusammenzuschließen, § 45 Abs. 1 AbgG. Andere Abgeordnetenrechte werden konstitutiv normiert, z.B. die Beschwerdemöglichkeit im Rahmen der Bundestagswahl in § 48 Abs. 1 BVerfGG. Weitere Abgeordnetenrechte finden sich für die Mitglieder des Untersuchungsausschusses in § 14 Abs. 3 Nr. 1 und § 25 Abs. 1 Satz 3 PUAG: Die Abgeordneten können den Ausschluss oder die Beschränkung der Öffentlichkeit im Untersuchungsausschuss sowie eine Abstimmung über die Zulässigkeit einer Frage oder die Rechtmäßigkeit einer Zurückweisung einer Frage bei der Zeugenvernehmung im Untersuchungsausschuss beantragen. Einem Mitglied des Kontrollgremiums steht das Recht zur Sitzungseinberufung zu, § 3 Abs. 2 PKGrG. fassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Rn. 144. Zur möglichen Parteifähigkeit der Sperrminorität als Antragsteller vor dem Bundesverfassungsgericht BVerfGE 2, 143 (162 ff.). 202 Schmidt-Jortzig, FS Schnapp, S. 278. 203 Höfling/Burkiczak, Jura 2007, 561 (565); weitergehend z.B. Huber, in: Isensee/Kirchhof, HStR, Bd. 3, § 47 Rn. 51 f.

B. Minderheitenrechte in Zeiten qualifizierter Großer Koalitionen

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Die Fraktionen haben ein Vorschlagsrecht im Hinblick auf die Mitglieder des Wahlausschusses nach § 6 Abs. 2 Satz 2 BVerfGG. Im Übrigen haben auch sie die Beschwerdemöglichkeit im Rahmen der Bundestagswahl gemäß § 48 Abs. 1 BVerfGG. Weitere einfachgesetzliche Fraktionsrechte befinden sich im Parlamentsbeteiligungsgesetz. Fraktionen können eine Parlamentsbefassung im vereinfachten Zustimmungsverfahren und im Rahmen von Einsatzverlängerungen erzwingen gemäß §§ 4 Abs. 1 Satz 4, 7 Abs. 1 ParlBG. Nach § 3 Abs. 3 Satz 3 StabMechG und § 6 Abs. 2 ESMFinG steht allen Fraktionen ein Grundmandat im Sondergremium (sogenanntes Neuner-Gremium) zu. Ferner gibt es einfachgesetzliche Quorenrechte. Nicht nur Fraktionen können die Rechte nach §§ 4 Abs. 1 Satz 4, 7 Abs. 1 ParlBG geltend machen, auch fünf Prozent der Bundestagsabgeordneten. Neben den verfassungskonkretisierenden Vorschriften im Bundesverfassungsgerichtsgesetz und im Untersuchungsausschussgesetz204 gibt es vor allem Regelungen im Bereich der Angelegenheiten der Europäischen Union, die die Zustimmung eines Viertels aller Abgeordneten verlangen. Beispielhaft sind hier § 5 Abs. 6 ESMFinG und § 4 Abs. 5 Satz 2 StabMechG zu nennen, die für die Durchführung einer öffentlichen Anhörung gemäß § 70 GO-BT nicht nur die Zustimmung von einem Viertel der Mitglieder des Haushaltsausschusses, sondern auch von mindestens zwei Fraktionen im Ausschuss verlangen. Das gleiche Quorum gilt für Informationsverlangen gegenüber dem deutschen Gouverneur im Gouverneursrat im Europäischen Stabilitätsmechanismus oder seinem Stellvertreter gemäß § 5 Abs. 4 ESMFinG.205 Neben diesen Viertelquoren existieren weitere Quoren: 204

Ein Viertel der Mitglieder des Untersuchungsausschusses können die Einberufung einer Sitzung innerhalb des Zeitplanes zum nächstmöglichen Termin unter Angabe einer Tagesordnung verlangen (§ 8 Abs. 2 PUAG), die Einberufung einer Sitzung außerhalb des Zeitplanes oder außerhalb des ständigen Sitzungsortes des Bundestages unter Angabe der Tagesordnung und der Genehmigung des Bundestagspräsidenten verlangen (§ 8 Abs. 3 PUAG), die Einsetzung eines Ermittlungsbeauftragten verlangen (§ 10 Abs. 1 Satz 1 PUAG), die Erhebung von Beweisen fordern (§ 17 Abs. 2 PUAG), der Reihenfolge der Vernehmung von Zeugen und Sachverständigen widersprechen (§ 17 Abs. 3 Satz 2 PUAG), gegen die Ablehnung der Beweiserhebung oder die Anwendung bestimmter Zwangsmittel den Ermittlungsrichter beim Bundesgerichtshof anrufen (§ 17 Abs. 4 PUAG), eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts über die Rechtmäßigkeit der Ablehnung der Vorlage von Beweismitteln und des Ermittlungsrichters beim Bundesgerichtshof über die Rechtmäßigkeit der Einstufung von Beweismitteln (§ 18 Abs. 3 PUAG) oder den Umfang der Rechts- und Amtshilfe (§ 18 Abs. 4 Satz 2 PUAG) herbeiführen, beim Ermittlungsrichter am Bundesgerichtshof die Verhängung der Haft gegen Zeugen oder zur Herausgabe von Beweismitteln Verpflichtete sowie die Beschlagnahme von Beweismitteln beantragen (§§ 27 Abs. 2, 29 Abs. 2 Satz 2, Abs. 3 Satz 1 Halbs. 1, 30 Abs. 4 Satz 2 PUAG). 205 Das Viertelquorum spielt im Zusammenhang mit der Arbeit der Europäischen Union ferner eine Rolle bei Stellungnahmen des Parlaments zu einem Rechtsetzungsvorhaben der Europäischen Union gemäß Art. 23 Abs. 3 Satz 1 GG, die Bundesregierung hat auf Verlangen eines Viertels der Mitglieder des Bundestages die Pflicht, in einer Plenardebatte zu erläutern, warum nicht alle Belange der Stellungnahme des Parlaments berücksichtigt worden sind (§ 8 Abs. 5 Satz 3 EUZBBG). Eine Subsidiaritätsklage gemäß Art. 8 des Subsidiaritätsprotokolls zu erheben, ist auf Antrag eines Viertels seiner Mitglieder verpflichtend. Stützt ein Viertel der

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2. Kap.: Die Minderheitenrechte im Deutschen Bundestag

Gemäß § 16 Abs. 3 WahlPrG kann ein Zehntel der Mitglieder des Bundestages einen Antrag auf einstweilige Anordnung durch das Bundesverfassungsgericht stellen, damit einem Abgeordneten vor Abschluss eines Wahlprüfungsverfahrens die Arbeit im Bundestag nach § 16 Abs. 2 WahlPrG vorläufig untersagt werden kann. § 14 Satz 2 WahlPrG regelt ferner den Einspruch gegen die Gültigkeit der Wahl, den der Bundestagspräsident auf Verlangen von 100 Abgeordneten einlegen muss, wenn Zweifel an der Wählbarkeit eines Abgeordneten bestehen. Schließlich sind einfachgesetzliche Sperrminoritäten vorhanden: Der Bundestag kann im Wahlprüfungsverfahren nach § 46 Abs. 1 BWahlG hinsichtlich des Verlusts der Mitgliedschaft eines Abgeordneten den betroffenen Mandatsträger gemäß § 16 Abs. 2 WahlPrG mit einer Mehrheit von zwei Dritteln seiner Mitglieder bis zur rechtskräftigen Entscheidung von der Bundestagsarbeit ausschließen. Das Kontrollgremiumgesetz verlangt gemäß § 7 Abs. 1 und 2 PKGrG ebenso eine Zweidrittelmehrheit im Parlamentarischen Kontrollgremium, sowohl für die Beauftragung eines Sachverständigen zur Durchführung von Untersuchungen als auch für die schriftliche Berichterstattung über diese Untersuchungen an das Plenum. Die Zweidrittelmehrheit gilt auch gemäß § 10 Abs. 2 Satz 1 PKGrG für die Einstufung als geheime oder nichtgeheime Beratung und nach § 14 PKGrG für die Klageerhebung vor dem Bundesverfassungsgericht. Ein neues Dreiviertelquorum findet sich mit § 5b Abs. 4 Halbs. 2 PKGrG für das Ersuchen des Kontrollgremiums beim Bundestagspräsidenten, den Ständigen Bevollmächtigen von seinen Aufgaben zu entbinden. Das Zweidrittelquorum gilt wiederum nach § 8 Abs. 2 Satz 2 G 10-Gesetz für die Festlegung der internationalen Telekommunikationsbeziehungen im Parlamentarischen Kontrollgremium, die der strategischen Überwachung unterliegen. Eine Zweidrittelmehrheit der Untersuchungsausschussmitglieder verlangt auch das Untersuchungsausschussgesetz, so z.B. für die Bestimmung und Abberufung des Ermittlungsbeauftragten im Untersuchungsausschuss gemäß § 10 Abs. 2 Satz 1, Abs. 4 Satz 2 PUAG. In § 13 Abs. 1 Satz 4 PUAG ist geregelt, dass Ton- und Filmaufnahmen bei Sitzungen zur Beweisaufnahme ausnahmsweise mit einer Mehrheit von zwei Dritteln der anwesenden Mitglieder zugelassen werden können.206 Es bedarf zwei Drittel der abgegebenen Stimmen zur Wahl der Richter am Bundesverfassungsgericht, § 6 Abs. 1 BVerfGG konkretisiert Art. 94 Abs. 1 Satz 2 GG. (3) Minderheitenrechte in der Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages Die Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages konkretisiert unter anderem den Status des Abgeordneten aus Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG, namentlich Rede- und Mitglieder des Bundestages die Erhebung der Klage nicht, ist die Auffassung derer auf Antrag in der Klageschrift deutlich zu machen gemäß § 12 Abs. 1 Satz 2 IntVG. 206 Auch bei Zweifeln über die Zulässigkeit oder Zurückweisung einer Frage an Zeugen oder Sachverständige entscheidet der Ausschuss mit Zweidrittelmehrheit seiner anwesenden Mitglieder (§§ 25 Abs. 1 Satz 3, 28 Abs. 1 PUAG).

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Fragerecht des Abgeordneten in den §§ 28 ff., 105 i.V.m. Anlage 4 GO-BT, das Recht zur Mitwirkung in Ausschüssen in § 57 Abs. 1 Satz 2 GO-BT, das Änderungsantragsrecht in den Ausschüssen in § 71 Abs. 1 und 2 GO-BT, das Änderungsantragsrecht in der zweiten Beratung in §§ 82 Abs. 1 Satz 2 und 78 Abs. 4 GO-BT, das Antragsrecht auf Änderung der Plenartagesordnung in § 20 Abs. 2 Satz 2 GO-BT sowie das Stimmrecht in §§ 48 ff. GO-BT. Die Geschäftsordnung bietet den größten Fundus an Fraktionsrechten. Sie heben die herausragende Bedeutung der Fraktionen bei der Bewältigung der Parlamentsaufgaben hervor. Zunächst normiert § 12 GO-BT den verfassungsrechtlichen Spiegelbildlichkeitsgrundsatz. Die Zusammensetzung des Ältestenrates und der Ausschüsse sowie die Regelung des Vorsitzes in den Ausschüssen hat im Verhältnis zur Stärke der einzelnen Fraktionen im Bundestag zu erfolgen.207 Ferner steht es jeder Fraktion im Rahmen der Gesetzgebungsfunktion des Bundestages zu, Gesetzentwürfe und Anträge gemäß §§ 75, 76 und 85 GO-BT einzubringen und diese bei Verstreichen von drei Wochen nach der Verteilung auf die Tagesordnung setzen und beraten zu lassen gemäß § 20 Abs. 4 GO-BT.208 Die Fraktionen können Debatten in der ersten und zweiten Lesung gemäß §§ 79 und 81 Abs. 1 GO-BT verlangen. Sie können auch eine namentliche Abstimmung gemäß § 52 Satz 1 GO-BT verlangen.209 Die Kontrollfunktion des Bundestages können Fraktionen sowohl mittels Großer und Kleiner Anfragen gemäß §§ 100, 104 i.V.m. §§ 76, 75 Abs. 1 lit. f und Abs. 3 GO-BT als auch mit aktuellen Stunden gemäß § 106 i.V.m. Anlage 5 GO-BT ausüben. Auch die Beantragung der Herbeiführung eines Regierungsmitgliedes gemäß § 42 GO-BT ist ein Fraktionsrecht. Ergreift ein Mitglied der Bundesregierung, des Bundesrates oder einer ihrer Beauftragten außerhalb der Tagesordnung das Wort, können Fraktionen die Eröffnung einer Aussprache über das Gesprochene verlangen gemäß § 44 Abs. 3 Satz 1 GO-BT.210 Sie können Widerspruch gegen die Erweiterung der Tagesordnung einer laufenden Ausschusssitzung einlegen gemäß § 61 207

Siehe ausführlicher 2. Kapitel B. II. 6. b) cc) und 5. Kapitel C. III. 3. a). Vgl. zur Bedeutung dieses Minderheitenrechts auch anschaulich Hadamek, in: Kluth/ Krings, Gesetzgebung, § 17 Rn. 48. 209 Fraktionen steht es außerdem zu, eine Fristverkürzung zu beantragen für die Beratung von Gesetzentwürfen zwischen der zweiten und dritten Lesung (§ 84 Satz 1 lit. b GO-BT). Fraktionen können die Beschlussfähigkeit des Bundestages vor Beginn einer Abstimmung anzweifeln (§ 45 Abs. 2 Satz 1 GO-BT) und bei einer erneuten Einberufung des Bundestages am selben Tag der Wiederholung oder der Absetzung von Abstimmungen von der Tagesordnung durch den Bundestagspräsidenten widersprechen (§ 20 Abs. 5 Satz 2 GO-BT). Die Fraktionen haben das Recht, einer Abstimmung von einer noch nicht verteilten Vorlage zu widersprechen (§ 78 Abs. 2 Satz 2 Halbs. 2 GO-BT). Überdies können Fraktionen der Überweisung eigener Entschließungsanträge an einen Ausschuss widersprechen und eine Abstimmung jeglicher Entschließungsanträge am nächsten Sitzungstag verlangen (§ 88 Abs. 2 GO-BT). 210 Die Fraktionen haben zusätzlich das Recht, gegen die Erweiterung der Tagesordnung Widerspruch zu erheben (gemäß § 20 Abs. 3 Satz 1 GO-BT) und die Einberufung des Ältestenrates zu verlangen (§ 6 Abs. 1 Satz 3 GO-BT). 208

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2. Kap.: Die Minderheitenrechte im Deutschen Bundestag

Abs. 2 GO-BT.211 Im Übrigen haben sie das Recht, zehn Sitzungswochen nach Überweisung einer Vorlage an einen Bundestagsausschuss, eine Berichterstattung über den Stand der Beratungen durch den Vorsitzenden oder Berichterstatter zu verlangen (§ 62 Abs. 2 GO-BT), der Bericht ist auf Verlangen der Fraktion auf die Tagesordnung zu setzen. Auch in Angelegenheiten der Europäischen Union haben Fraktionen ausführliche Geschäftsordnungsrechte. Sie können sowohl die Überweisung von Unionsdokumenten gemäß § 93 Abs. 3 Satz 3 Halbs. 2 GO-BT als auch einen Tagesordnungspunkt mit Beratung schriftlicher Unterrichtungen durch die Bundesregierung über ein Vorhaben der Europäischen Union gemäß § 93 Abs. 8 GO-BT verlangen.212 Fraktionen können der Überweisung einer Vorlage an einen Ausschuss widersprechen. Dann muss sich der Ältestenrat mit der Frage befassen, § 93 Abs. 5 Satz 3 GO-BT. In § 127 Abs. 1 Satz 2 Halbs. 2 GO-BT ist außerdem die Möglichkeit geregelt, dass unter anderem Fraktionen die Auslegung der Geschäftsordnung durch eine Entscheidung des Plenums herbeiführen können. Die Geschäftsordnung kennt auch Quorenrechte: Mit Ausnahme der Rechte aus Art. 93 Abs. 1 Nr. 1 GG, 63 ff., 64 Abs. 1 BVerfGG kann auch ein Zwanzigstel – fünf Prozent – der Mitglieder des Bundestages, die Fraktionsrechte geltend machen. In den Bundestagsausschüssen selbst können ebenfalls ausschließlich Fraktionen die Einberufung einer Ausschusssitzung gemäß § 60 Abs. 2 und 3 GO-BT und die Einberufung einer Ausschusssitzung außerhalb des Zeitplans zur Beratung über einen Antrag nach § 4 Abs. 1 oder § 7 Abs. 1 ParlBG beantragen, § 96a Abs. 1 GO-BT. Ein Viertel der Mitglieder des Bundestages ist gemäß § 4 Satz 2 GO-BT notwendig für Wahlvorschläge bei der Bundeskanzlerwahl nach Art. 63 Abs. 3 und 4 GG, für einen Misstrauensantrag gegen den Bundeskanzler gemäß § 97 Abs. 1 Satz 2 GO-BT und für einen Antrag auf Wahl eines anderen Bundeskanzlers nach abgelehntem Vertrauensantrag gemäß § 98 Abs. 2 GO-BT. Es braucht auch ein Viertel der Mitglieder des Bundestages, um eine Enquete-Kommission einzusetzen, § 56 Abs. 1 Satz 2 GO-BT. Ein federführender Ausschuss ist bei überwiesenen Vorlagen auf Verlangen eines Viertels der Mitglieder dazu verpflichtet, eine öffentliche Anhörung durchzuführen, § 70 Abs. 1 Satz 2 Halbs. 1 GO-BT. Die Vorschrift des § 127 Abs. 1 Satz 2 Halbs. 2 GO-BT ermöglicht es neben dem Präsidenten, einem Ausschuss, einer Fraktion, fünf Prozent der Bundestagsabgeordneten auch einem Viertel der Mitglieder des Ausschusses für 211

Auch hinsichtlich der Überweisung von Unionsdokumenten haben die Fraktionen besonderen Einfluss i.S.v. § 93 Abs. 5 und § 6 Satz 2 GO-BT. 212 Der Bundestag kann außerdem auf Antrag einer Fraktion, den Ausschuss nach Art. 45 GG ermächtigen, zu bestimmt bezeichneten Unionsdokumenten oder hierauf bezogene Vorlagen die Rechte aus Art. 23 GG gegenüber der Bundesregierung sowie die Rechte, die dem Bundestag in den vertraglichen Grundlagen der Europäischen Union eingeräumt sind, wahrzunehmen (§ 93b Abs. 2 Satz 1 GO-BT). Fraktionen können dem Verzicht des Bundestages auf Unterrichtungen durch die Bundesregierung widersprechen (§ 3 Abs. 5 EUZBBG, § 93 Abs. 2 GO-BT) und über den Bericht zur Stellungnahme des Ausschusses für die Angelegenheiten der Europäischen Union gegenüber der Bundesregierung zu einem Unionsdokument die Aussprache im Plenum herbeiführen (§ 93b Abs. 6 Satz 2 GO-BT).

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Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung, die Auslegung der Geschäftsordnung dem Bundestag zur Entscheidung vorzulegen. Ein Drittel der Abgeordneten eines Ausschusses kann der Einsetzung eines Unterausschusses zur Vorbereitung von Arbeiten widersprechen, § 55 Abs. 1 Satz 1 GO-BT. Solche Unterausschüsse, die nur für eine bestimmte Dauer eingesetzt wurden, können vor Ablauf dieser Zeit aufgelöst werden, sofern ein Drittel der Abgeordneten nicht gemäß § 55 Abs. 2 Satz 2 GO-BT widerspricht. Ein Drittel der Ausschussmitglieder kann auch unter Angabe der Tagesordnung verlangen, dass der Vorsitzende den Ausschuss zum nächstmöglichen Termin innerhalb des Zeitplans einberuft, 60 Abs. 2 GO-BT. Eine ähnliche Regelung findet sich in § 96a Abs. 1 GO-BT hinsichtlich eines Antrages nach dem Parlamentsbeteiligungsgesetz. Zuletzt befindet sich ein Widerspruchsrecht in § 61 Abs. 2 GO-BT, ein Drittel der Ausschussmitglieder darf einer Tagesordnungserweiterung nicht widersprechen. Schließlich gibt es auch geschäftsordnungsrechtliche Sperrminoritäten: So bedarf eine, von einer Fraktion oder fünf Prozent der Mitglieder des Bundestages beantragte Fristverkürzung zwischen der zweiten und dritten Beratung von Gesetzentwürfen, die in zweiter Lesung geändert wurden, grundsätzlich der Zustimmung von zwei Dritteln der anwesenden Mitglieder des Bundestages, § 84 Satz 1 lit. b GO-BT. Generell kann eine Abweichung von der Geschäftsordnung im Einzelfall ebenfalls nur mit einer Mehrheit von zwei Dritteln der anwesenden Mitglieder beschlossen werden, § 126 GO-BT. (4) Exkurs: Ungeschriebene Minderheiten- und Oppositionsrechte Zuletzt existieren einige ungeschriebene Minderheiten- und Oppositionsrechte als ungeschriebene Abgeordneten- und Fraktionsrechte. Sie sind je nach Einzelfall entweder als verbindliches Gewohnheitsrecht oder als unverbindlicher Parlamentsbrauch zu klassifizieren. Oftmals handelt es sich um regelmäßig erneuerte interfraktionelle Vereinbarungen im Ältestenrat.213 Alle Abgeordneten können etwa die Wissenschaftlichen Dienste des Bundestages in Anspruch nehmen. Die Fraktionen haben das ungeschriebene Recht, die Unterbrechung der Plenarsitzung zu verlangen.214 Es gibt das fraktionelle Vorschlagsrecht der auf sie zufallenden Ausschussvorsitzenden215 und Stellvertreter, das Vorschlagsrecht für Fraktionen bei der Wahl der Bundestagsvizepräsidenten, das Vorschlagsrecht der Fraktionen für zukünftige Bundesverfassungsrichter und im Falle einer fehlenden absoluten Mehrheit für die stärkste Fraktion auch ihr (Minderheiten-)Recht, einen Kandidaten für den Bundestagspräsidenten aufzustellen. Darüber hinaus existiert das Recht der stärksten Oppositionsfraktion, den Vorsitz im Haushaltsausschuss zu besetzen. Eine ähnliche Oppositionstendenz wird zwar dem Petitionsausschuss nachgesagt, der nur in der Zeit von 1966 bis 1969 und von 1982 bis 1994 von Abgeordneten der Regie213 214 215

Schulze-Fielitz, in: Schneider/Zeh, Parlamentsrecht und Parlamentspraxis, § 11 Rn 6. Zeh, in: Isensee/Kirchhof, HStR, Bd. 3, § 52 Rn. 25. Maibaum, Der Ältestenrat des Deutschen Bundestages, S. 80, 84.

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rungsfraktionen geführt wurde.216 In der 19. Wahlperiode bekleidet jedoch wiederum ein Parlamentarier der Regierungsfraktion das Amt des Ausschussvorsitzenden. Oppositionsrechte finden sich weder im Grundgesetz, noch in Gesetzen217 oder in der Geschäftsordnung. Zumindest bei dem Recht auf den Vorsitz im Haushaltsausschuss handelt es sich jedoch um ein genuines Oppositions(fraktions)recht, mag es auch ungeschrieben sein. bb) Änderung und Abweichung von Minderheitenrechten Parlamentarische Minderheitenrechte finden sich auf Verfassungs-, Gesetzes- und Geschäftsordnungsebene. Zu klären bleibt, wie bestandssicher die Vorschriften sind, d.h. unter welchen Voraussetzungen die Minderheitenrechte geändert oder abgeschafft werden können bzw. ob von ihnen im Einzelfall abgewichen werden kann. Rechtsdogmatisch erweist sich dies für die Verfassungs- und Gesetzesebene als wenig problematisch: Die Änderbarkeit der Verfassung ergibt sich aus Art. 79 Abs. 2 und 3 GG. Eine Änderung minderheitenschützender Gesetzesbestimmungen muss den grundgesetzlichen Vorgaben genügen, insbesondere das parlamentarische Gesetzgebungsverfahren beachten, Art. 76 ff. Hinsichtlich der Normanwendung gelten die Grundsätze lex specialis und lex-posterior-derogat-legi-priori. Eine Abweichung von grundgesetzlichen wie gesetzlichen Minderheitenrechten ist im Einzelfall nicht möglich, die Bestimmung des § 126 GO-BT ist exklusives Wesensmerkmal eines flexiblen Geschäftsordnungsrechts. Auch die Geschäftsordnung hat sich in die grundgesetzliche Rahmenordnung einzufügen. Eine erhöhte Regelungsfestigkeit von minderheitenschützenden Bestimmungen in der Geschäftsordnung von Verfassungs wegen existiert nicht. Der Bundestag übernimmt durch Mehrheitsbeschluss in aller Regel die Geschäftsordnung des alten Bundestages. Dennoch kann das Parlament sich jederzeit Änderungen vorbehalten oder eine neue Geschäftsordnung mit einfacher Mehrheit beschließen. Dies ergibt sich aus dem verfassungsrechtlichen Selbstorganisationsrecht nach Art. 40 Abs. 1 Satz 2 GG.218 Eine Zweidrittelmehrheit ist für die Neuschaffung oder Änderung einer Geschäftsordnung anders als in manchen Bundesländern219 nicht 216 Zeh, in: Isensee/Kirchhof, HStR, Bd. 3, § 52 Rn. 25; Vitzthum/März, in: Schneider/Zeh, Parlamentsrecht und Parlamentspraxis, § 1 Fn. 1. Das Petitionsrecht sei zum Teil ein Recht der Opposition und wird von der Bevölkerung auch so gesehen, siehe so Klaus-Dieter Kühbacher (SPD), in: BT-Plenarprotokoll 10/222 vom 19. Juni 1986, S. 17149 (D). Ein Entwurf des Petitionsausschussgesetzes sah ein Minderheitenrecht vor, dieses wurde jedoch in der Beratung gestrichen, dazu Würtenberger, in: BK, GG, 74. EL November 1995, Art. 45c Rn. 9; Vitzthum/ März, JZ 1985, 809 (814 Fn. 60). 217 Als Ausnahme kann auch der Anspruch auf einen Oppositionszuschlag betrachtet werden, siehe dazu insgesamt 4. Kapitel. 218 Siehe 2. Kapitel F. I. 219 In Baden-Württemberg und Sachsen gibt es landesverfassungsrechtliche Vorschriften (Art. 32 Abs. 1 Satz 2 Verf. Baden-Württemberg, Art. 46 Abs. 4 Verf. Sachsen), die für all-

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notwendig. Ein hervorgehobener Bindungscharakter für alle minderheitenschützenden Vorschriften in der Geschäftsordnung existiert nicht per se – er widerspricht der normhierarchischen Systematik.220 Zu unterscheiden ist jedoch die Änderung der Geschäftsordnung von der Abweichungsmöglichkeit nach § 126 GO-BT. Solche Abweichungen von der Geschäftsordnung im Einzelfall sind zulasten einer parlamentarischen Minderheit regelmäßig nicht möglich:221 Hans Hugo Klein bemerkt richtigerweise, dass ein Minderheitenrecht keines sei, sofern es zur Disposition einer sei es auch großen Mehrheit stünde.222 Nach Ansicht Achterbergs verstößt die Abweichung der Geschäftsordnung im Einzelfall nach § 126 GO-BT, wie bereits erwähnt, gegen das Rechtsstaatsprinzip und den Grundsatz von Treu und Glauben, wenn sie zulasten parlamentarischer Minderheiten gehe.223 Brocker sieht hier ein Willkürverbot.224 Der Bundestag gibt sich zu Beginn jeder Wahlperiode eine Geschäftsordnung. Einmal festgelegte Spielregeln – so werden die Geschäftsordnungsbestimmungen nicht selten genannt – können nicht inmitten eines Spiels abgeändert werden, und ohnehin dürfe die Mehrheit der Minderheit die Tür nicht zuschlagen, durch die sie selbst einmal gekommen ist.225 Es muss eine Chance zum Machtwechsel bestehen.226 So legte der Geschäftsordnungsausschuss des Deutschen Bundestages § 126 GO-BT schon am 12. Februar 1998 dahingehend aus, dass zwar eine generelle Änderung von minderheitenschützenden Geschäftsordnungsvorschriften zulässig sei, nicht aber die Einschränkung minderheitenschützender Widerspruchsrechte bei ihrer tatsächlichen Ausübung im Einzelfall:227

gemeine Änderungen der Geschäftsordnung eine Zweidrittelmehrheit verlangen. Dies ist nicht unproblematisch, dazu anschaulich Schmidt, AöR 128 (2003), 608 (635 f.). 220 Einklagbar sind nur solche Minderheitenrechte, die eine verfassungsrechtliche Stütze finden, BVerfGE 142, 25 (53); Ritzel/Bücker/Schreiner/Winkelmann, HdbPP, 30. EL Dezember 2014, Erl. 1. zu § 126a, S. 3. 221 Noch in der sechsten Auflage Achterberg/Schulte, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, Bd. 2, Art. 42 Rn. 48; Klein, in: Maunz/Dürig, GG, 69. EL Mai 2013, Art. 42 Rn. 97; Ritzel/ Bücker/Schreiner/Winkelmann, HdbPP, 22. EL Juni 2005, Erl. e) zu § 126, S. 2; Troßmann, Parlamentsrecht des Deutschen Bundestages, § 127 Rn. 4; wohl auch Waack, in: Morlok/ Schliesky/Wiefelspütz, Parlamentsrecht, § 22 Rn. 81; kritisch Pietzcker, in: Schneider/Zeh, Parlamentsrecht und Parlamentspraxis, § 10 Rn. 35. 222 Klein, in: Maunz/Dürig, GG, 69. EL Mai 2013, Art. 42 Rn. 97. 223 Noch in der sechsten Auflage Achterberg/Schulte, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, Bd. 2, Art. 42 Rn. 48; sie verweisen auf Ausführungen des Bundesverwaltungsgerichts zum Inhalt des Rechtsstaatsprinzips, BVerwG, DÖV 1964, 276 (277). 224 Brocker, in: BK, GG, 150. EL Februar 2011, Art. 40 Rn. 228; auch ders., DÖV 2014, 475 (477). 225 Böckenförde, in: Isensee/Kirchhof, HStR, Bd. 2, § 24 Rn. 54, er verweist auf Schmitt, Legalität und Legitimität, vgl. dort vor allem S. 29 f. 226 Schneider, in: AK, GG, 2. EL August 2002, Art. 62 Rn. 4. 227 Dazu Ritzel/Bücker/Schreiner/Winkelmann, HdbPP, 22. EL Juni 2005, Erl. e) zu § 126, S. 2.

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„Räumt die Geschäftsordnung des Bundestages ausdrücklich Widerspruchsrechte ein und werden diese Widerspruchsrechte durch berechtigte Teile des Bundestages ausgeübt, so ist ein Beschluss gemäß § 126 GO-BT, der Abweichungen von den Vorschriften der GO-BT vorsieht, unzulässig.“228

Bei einer Auslegungsentscheidung nach § 127 Abs. 1 Satz 2 Halbs. 1 GO-BT durch den Geschäftsordnungsausschuss handelt es sich um gleichrangiges Geschäftsordnungsrecht, sofern der Bundestag nach § 127 Abs. 1 Satz 2 Halbs. 2 GO-BT darüber Beschluss fasst. Es handelt sich zumindest um verbindliches Gewohnheitsrecht, wenn wie bei der Entscheidung vom 12. Februar 1998229 in gängiger Übung nach ihr verfahren wird.230 Wie im nächsten Abschnitt ausführlicher beschrieben, sind geschäftsordnungsrechtlich geregelte Minderheitenrechte darüber hinaus in ihrer konkreten Anwendung mittelbar auch verfassungsrechtlich geschützt über Art. 38 Abs. 1 GG und den Grundsatz formaler Chancengleichheit, wenn sie an einen Status geknüpft sind.231 Sofern der einen statusgebundenen Minderheit (Abgeordneter, Gruppe, Fraktion) ein ihr ausdrücklich zustehendes Recht gewährt wird und der anderen nicht, verstößt dies gegen Art. 38 Abs. 1 GG. Folglich besteht nicht nur ein Willkürverbot,232 sondern die Notwendigkeit eines besonders gewichtigen Grundes für eine Abweichung von der formalen Gleichbehandlung der Abgeordneten und ihrer Zusammenschlüsse. b) Mandatsgleichheit als Teil des Minderheitenschutzes Mandatsgleichheit und Minderheitenschutz widersprechen sich nicht, gleichwohl sie nicht inhaltsgleich sind. Sie bleiben eigenständige Verfassungspostulate. Mandatsgleichheit bedeutet die Rechtsgleichstellung für Abgeordnete und ihre Zusammenschlüsse. Minderheitenschutz bedeutet, dass sich eine Minderheit – jede gleichermaßen – durch bestimmte Rechtsmittel in den parlamentarischen Willensbildungsprozess einbringen können muss.233 Dieter Birk bezeichnet den Minderheitenschutz als Ausfluss des Gebots politischer Gleichheit, dessen es für eine effektive 228 Auslegungsentscheidung 13/18 des Geschäftsordnungsausschusses in der 13. Wahlperiode vom 12. Februar 1998 zu § 126 GO-BT, Ritzel/Bücker/Schreiner/Winkelmann, HdbPP, 22. EL Juni 2005, Erl. e) zu § 126, S. 2; vgl. auch Wissenschaftliche Dienste des Deutschen Bundestages, Minderheitenschutz im Deutschen Bundestag. Ausarbeitung WF 1 - 17/92 vom 21. 12. 1992, S. 18; dies., Minderheitsschutz im Deutschen Bundestag. Ausarbeitung WF 1 - 1/9 (Neufassung zu 17/92) vom 28. 1. 1997, S. 16. 229 Vgl. schon Troßmann, Parlamentsrecht des Deutschen Bundestages, § 127 Rn. 4: „Minderheitenrechte werden in der Tat auch strikt beachtet.“ 230 Dies gilt auch für Auslegungsentscheidungen aus vorangegangenen Legislaturperioden. Vgl. dazu Kretschmer, in: Schneider/Zeh, Parlamentsrecht und Parlamentspraxis, § 9 Rn. 60; Roll, Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages, § 127 Rn. 6; Haug, Bindungsprobleme und Rechtsnatur parlamentarischer Geschäftsordnungen, S. 160 ff. 231 Zuletzt VerfGH Sachsen, Urteil vom 27. Oktober 2016 – Vf. 134-I-15 –, juris Rn. 46. 232 So aber Brocker, in: BK, GG, 150. EL Februar 2011, Art. 40 Rn. 228. 233 BVerfGE 70, 324 (363).

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Kontrolle der „kooperativen Einheit“ zwischen Regierung und der sie tragende Parlamentsfraktion(en) bedarf.234 Mandatsgleichheit bewirkt Minderheitenschutz. Damit ist sie auch Teil des parlamentarischen Minderheitenschutzes, zumindest im weiteren Sinne.235 Mandatsgleichheit führt dazu, dass die Minderheit zur Mehrheit und die Mehrheit zur Minderheit werden können. Abgeordnete sind untereinander gleich, unabhängig davon, ob sie der Regierungskoalition oder Opposition, der Mehrheit oder der Minderheit im Parlament angehören. An keiner Stelle des Grundgesetzes werden Abgeordnete dahingehend unterschieden. Dies ist elementar für die demokratische Herrschaft.236 aa) Herleitung des formalen Gleichbehandlungsgrundsatzes Die Verfassung kennt keine Regelung, die eine Gleichbehandlung von Abgeordneten oder gar eine „formalisierte Gleichbehandlung“237 ausdrücklich normiert. Im Gegensatz zu der Abgeordnetengleichheit vorgelagerten Wahlrechtsgleichheit, die 1919 Eingang in die Weimarer Verfassung fand,238 erwies sich die Gleichheit von Mandatsträgern nie als besonders problembehaftet. Auch die sich ab dem 15. Jahrhundert herausbildende Geschäftsordnung des britischen Unterhauses hatte, wie bereits dargelegt, schon die Gleichbehandlung aller Abgeordneten zur Grundlage.239 Die Rechte und Pflichten von Mandatsträgern derselben Kammer waren gleich.240 Zum einen mag die Abgeordnetengleichheit die heutige Bedeutung erst im Zuge der Entwicklung hin zu mehr Arbeitsteilung im Parlament erlangt haben.241 Zum anderen lässt der Repräsentationsgedanke242 auf eine gewisse Selbstverständlichkeit gleicher Mitwirkungsrechte für Mandatsträger untereinander schließen.243 Dieser Befund wird bestätigt durch frühkonstitutionelle Vor234

Birk, NJW 1988, 2521 (2522). Siehe zur Unterscheidung nochmals 2. Kapitel B. 6. a). 236 Birk, NJW 1988, 2521. 237 Erstmals BVerfGE 40, 296 (317 f.). 238 Art. 17 und 22 WRV regelten für die Länder bzw. für das Reich nicht nur das Frauenwahlrecht, sondern auch vier der Wahlrechtsgrundsätze, unter anderem die Wahlrechtsgleichheit. Art. 125 WRV regelte die Wahlfreiheit, abgedruckt in Huber, Dokumente zur Deutschen Verfassungsgeschichte, Bd. 4, S. 154 f., 169. 239 Kluxen, Geschichte und Problematik des Parlamentarismus, S. 98. 240 Zum Abgeordnetenmandat schon Hatschek, Das Parlamentsrecht des Deutschen Reiches, S. 568 ff. 241 Während die Frankfurter Nationalversammlung rasch zum Redeparlament wurde, erreichte der Reichstag schon im Bismarckreich den Charakter eines Arbeitsparlaments: Vgl. zum Bundestag zwischen Rede- und Arbeitsparlament aus politikwissenschaftlicher Perspektive Rudzio, Das politische System der Bundesrepublik Deutschland, S. 240 f. 242 Nicht an Aktualität und Anschaulichkeit einbüßend Hofmann/Dreier, in: Schneider/Zeh, Parlamentsrecht und Parlamentspraxis, § 5 Rn. 1 ff. 243 Vgl. Grimm, Deutsche Verfassungsgeschichte 1776 – 1866, S. 125; Willoweit, Deutsche Verfassungsgeschichte, § 29 Rn. 10. 235

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schriften wie die aus der Verfassung von Sachsen-Weimar von 1816. Bezogen auf das Stimmrecht heißt es dort, dass alle Abgeordneten im Landtag gleiches Stimmrecht, ohne Unterschied des persönlichen Ranges, der Kreise oder Bezirke haben.244 Wie eingangs erwähnt ist die Mandatsgleichheit jedoch bis heute nicht ausdrücklich im Grundgesetz geregelt: In Art. 3 Abs. 1 GG findet sich der allgemeine Gleichheitssatz mit seinen Spezialisierungen in Art. 3 Abs. 2 und 3 GG. In Art. 38 Abs. 1 Satz 1 GG sind die Wahlrechtsgrundsätze festgeschrieben, darunter die gleiche Wahl. Die Mandatsgleichheit lässt sich auch nicht ohne Weiteres ablesen aus Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG. Mithilfe systematischer Erwägungen aber lässt sich das im Grundsatz Unbestrittene verfassungsrechtlich unterlegen: Dies gelingt zum einen mit einem Rückgriff auf Art. 38 Abs. 1 Satz 1 GG. Wahlrechtsgleichheit meint, dass alle Staatsbürger das aktive und passive Wahlrecht gleichermaßen ausüben können. Sie verlangt einen gleichen Zählwert und zumindest eine gleiche Erfolgschance der Stimmen.245 Ein Pluralwahlrecht, also eine unterschiedliche Gewichtung der Stimmen aufgrund persönlicher Merkmale, der Klassenzugehörigkeit, des Familien- oder Besitzstandes, ist damit per se ausgeschlossen – die Chancengleichheit bleibt gewahrt.246 Die Wahlrechtsgleichheit wirkt sich auf den Status der Abgeordneten aus, der eine Fortpflanzung der demokratischen Wahl und letztlich eine nächste Stufe demokratischer Willensbildung darstellt. Das Bundesverfassungsgericht spricht von einer Fortwirkung der Wahlrechtsgleichheit im Status und in der Tätigkeit der Abgeordneten.247 Schon aus der Wahlrechtsgleichheit selbst folgt also eine Notwendigkeit einer Mandatsgleichheit, denn nur so bleibt das Ergebnis der demokratischen und gleichen Wahl im Parlament gesichert. Bestünden bedeutende Unterschiede zwischen den Abgeordneten, beispielhaft in Form einer ungleich gewichteten Stimme bei Parlamentsabstimmungen, wäre die Gleichheit der Wahl ad absurdum geführt. Solche Regelungen liefen auf eine Umgehung der in Art. 38 Abs. 1 Satz 1 GG geregelten Wahlrechtsgleichheit hinaus.248

244 Siehe neben § 66 auch § 79 Verf. Sachsen-Weimar 1816, der eine gewisse Sitzordnung vorgibt, aber die Gleichheit aller Abgeordneten voranstellt; § 82 Abs. 1 Verf. Sachsen-Weimar 1816 regelt das Problem der gleichen Stimmenzahl, vgl. auch dazu § 74 Abs. 1 Satz 2 Verf. Baden 1818, abgedruckt in Kotulla, Thüringische Verfassungsurkunden, S. 822 ff., bzw. Huber, Dokumente zur Deutschen Verfassungsgeschichte, Bd. 1, S. 184. 245 BVerfGE 16, 130 (138 f.); 82, 322 (337); vgl. dazu Magiera, in: Sachs, GG, Art. 38 Rn. 95; Pieroth, in: Jarass/Pieroth, GG, Art. 38 Rn. 11; Schreiber, in: BerlK, GG, 41. EL Juli 2013, Art. 38 Rn. 118 ff.; ferner aus der Politikwissenschaft Nohlen, in: Röhring/Sontheimer, HdB-Parlamentarismus, S. 519. 246 BVerfGE 6, 84 (91); 82, 322 (337); 95, 335 (353); Klein, in: Maunz/Dürig, GG, 60. EL Oktober 2010, Art. 38 Rn. 115. 247 BVerfGE 102, 224 (237 ff.); 112, 118 (134); 130, 318 (352); 142, 25 (61). 248 In diesem Sinne BVerfGE 112, 118 (134).

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Ursprünglich führte das Bundesverfassungsgericht die Wahlrechtsgleichheit nicht allein auf Art. 38 Abs. 1 Satz 1 GG zurück, sondern auch auf den allgemeinen Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG.249 Die Rechtsprechung folgte damit einer These von Gerhard Leibholz.250 Im Diätenurteil von 1975 entwickelte das Bundesverfassungsgericht das „Prinzip der formalisierten Gleichbehandlung aller Abgeordneten“251 aus der Wahlrechtsgleichheit heraus und dennoch rekurrierte das Gericht auf Art. 3 Abs. 1 GG und den „egalitären Gleichheitssatz“252. Die Wahlrechtsgleichheit beruht auf einem egalitären Demokratieprinzip, das geprägt ist von der Vorstellung einer freien Selbstbestimmung gleichberechtigter Bürger.253 Nur eine Gleichheit der Wahl kann Entscheidungen des Staates in Sachfragen legitimieren, wenn nämlich im Ergebnis alle Bürger betroffen sind.254 Die Wahlrechtsgleichheit ist aufgrund dieser Verwandtschaft mit dem Demokratieprinzip strenger und formaler Art.255 Während Art. 3 Abs. 1 GG eine Differenzierung je nach Bezug256 schon mittels einer nicht willkürlichen Differenzierung257 bzw. eines sachlichen Rechtfertigungsgrundes258 zulässt, ist eine Einschränkung der Wahlrechtsgleichheit daher nur mittels eines besonderen Grundes möglich. Die Anforderungen an eine Einschränkung der Wahlrechtsgleichheit sind aufgrund des verwandten demokratischen Prinzips folglich höher als bei dem allgemeinen Gleichheitssatz nach Art. 3 Abs. 1 GG.259 Die Mandatsgleichheit aus Art. 3 Abs. 1 GG abzuleiten verbietet sich: 249 BVerfGE 1, 208 (237); 3, 383 (390 f.); 4, 31 (39); 4, 375 (382); 6, 84 (91); 11, 266 (271); 11, 351 (360); weitere aufgezählt in BVerfGE 99, 1 (8); bezogen auch auf die Mandatsgleichheit BVerfGE 4, 144 (155). 250 Leibholz, JW 1929, 3042; ders., Strukturprobleme der modernen Demokratie, S. 44; auch ders./Rinck, GG, 66. EL August 2014, Art. 38 Rn. 31; die Überlegungen von Leibholz als „verblüffend unlogische These“ bezeichnend Meyer, in: Isensee/Kirchhof, HStR, Bd. 3, § 46 Rn. 33. 251 BVerfGE 40, 296 (317 f.). 252 BVerfGE 40, 296 (317 f.); vgl. auch Kürschner, Die Statusrechte des fraktionslosen Abgeordneten, S. 136; schon angesprochen in BVerfGE 10, 4 (16), 11, 266 (272); 11, 351 (364); 13, 1 (12); 13, 243 (246); dazu auch Häberle, Kommentierte Verfassungsrechtsprechung, S. 219. 253 BVerfGE 44, 125 (138); dazu auch Sommermann, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, Bd. 2, Art. 20 Rn. 82 f. 254 Hierzu Meyer, in: Isensee/Kirchhof, HStR, Bd. 3, § 46 Rn. 30. 255 BVerfGE 41, 399 (413); 82, 322 (337); vgl. auch Böckenförde, in: Isensee/Kirchhof, HStR, Bd. 2, § 24 Rn. 45; Magiera, in: Sachs, GG, Art. 38 Rn. 97; Trute, in: v. Münch/Kunig, GG, Bd. 1, Art. 38 Rn. 53. 256 Der strengere Maßstab mittels Verhältnismäßigkeitsprüfung in Form der „neuen Formel“ wird vor allem bei personenbezogenen und nicht nur sachbezogenen Ungleichbehandlungen vom Bundesverfassungsgericht verwendet, vgl. dazu z.B. BVerfGE 88, 87 (96); 110, 274 (291); dazu Sodan, in: ders., GG, Art. 3 Rn. 15. 257 So beispielhaft noch BVerfGE 1, 14 (52); 4, 144 (155). 258 Später dann BVerfGE 55, 72 (88); 82, 126 (146). 259 Vgl. Morlok, in: Dreier, GG, Bd. 2, Art. 38. Rn. 98; wohl anders beurteilend, wenn er lediglich eine Willkürfreiheit verlangt, Schneider, in: AK, GG, 2. EL August 2002, Art. 38 Rn. 21.

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2. Kap.: Die Minderheitenrechte im Deutschen Bundestag

Art. 3 Abs. 1 GG ist ein Gleichheitsgrundrecht. Die Abgeordneten sind als Organwalter des Bundestages260 im Rahmen von Ungleichbehandlungen immer in ihrer organschaftlichen Stellung betroffen. Auch während der Mandatsausübung können die Abgeordneten zwar gegenüber dem Staat grundrechtsberechtigt sein,261 nie jedoch gegenüber den tauglichen Antragsgegnern im Organstreit nach Art. 93 Abs. 1 Nr. 1 GG.262 Das formalisierte Gleichheitsrecht der Abgeordneten ist daher im Wege des Organstreits und nicht mithilfe der Verfassungsbeschwerde geltend zu machen.263 Die Rechtsschutzmöglichkeit der Abgeordneten bei Ungleichbehandlungen zeigt also, dass eine Rückführung der Mandatsgleichheit auf Art. 3 Abs. 1 GG fehlgeht. Demgemäß ist der Rechtsprechungswandel des Bundesverfassungsgerichts264 hin zu einer Herleitung der Wahlrechtsgleichheit aus Art. 38 Abs. 1 Satz 1 GG als lex specialis zu Art. 3 Abs. 1 GG folgerichtig.265 Eine zweite Herleitungsmöglichkeit bietet Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG:266 Die Abgeordneten des Deutschen Bundestages sind Vertreter des ganzen Volkes. Daraus lässt sich zwar zunächst nur entnehmen, dass die einzelnen Abgeordneten das ganze Volk vertreten und nicht bloß Wahlkreise oder Bundesländer. Vertreten meint dabei keineswegs eine Stellvertretung im Sinne des Bürgerlichen Gesetzbuches, sondern

260 Vgl. zum Rechtsstatus der Abgeordneten Müller, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, Bd. 2, Art. 38 Rn. 69. 261 So zuletzt BVerfG, NJW 2014, 3085 (3086), im Anschluss an BVerfGE 108, 251 (266). 262 Vgl. dazu aber auch besondere Konstellationen wie bei der Beobachtung von Abgeordneten durch das Bundesamt für Verfassungsschutz, BVerfGE 134, 141 (170). 263 Kempny/Reimer, Die Gleichheitssätze, S. 24; Magiera, in: Sachs, GG, Art. 38 Rn. 74; du Mesnil de Rochemont/Müller, JuS 2016, 603 (607 f.). 264 BVerfGE 99, 1 (7); hier nimmt das Bundesverfassungsgericht einen Rechtsprechungswechsel dahingehend vor, dass ein Rückgriff auf Art. 3 Abs. 1 GG bei Anwendungsmöglichkeit der spezielleren Gleichheitssätze im Hinblick auf die Wahlrechtsgleichheit ausscheidet, das Gericht widerspricht damit der These von Leibholz; zusammenfassend dazu Trute, in: v. Münch/Kunig, GG, Bd. 1, Art. 38 Rn. 53. 265 Die formale Gleichstellung der Abgeordneten wurde in der früheren Rechtsprechung allein aus Art. 38 Abs. 1 Satz 1 GG abgeleitet, so BVerfGE 40, 296 (317); ebenso nachvollziehbar noch auf Art. 38 Abs. 1 Satz 1 GG verweisend BVerfGE 142, 25 (61); Badura, in: BK, GG, 132. EL Februar 2008, Art. 38 Rn. 56; Morlok, in: ders./Schliesky/Wiefelspütz, Parlamentsrecht, § 3 Rn. 49; Schmahl, AöR 130 (2005), 114 (128); dahingehend tendierend und dem Bundesverfassungsgericht folgend Birk, NJW 1988, 2521 (2521 f.); Kloepfer, Verfassungsrecht I, § 15 Rn. 127; Kluth, in: Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/Henneke, GG, Art. 38 Rn. 75; Risse/Witt, in: Hömig/Wolff, GG, Art. 38 Rn. 25; Schneider, in: AK, GG, 2. EL August 2002, Art. 38 Rn. 21; Schreiber, in: BerlK, GG, 41. EL Juli 2013, Art. 38 Rn. 124. 266 Allein auf Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG stellt das Bundesverfassungsgericht in seiner Entscheidung zu den Minderheiten- und Oppositionsrechten nicht ab, wenngleich es nur noch diese Norm ausdrücklich nennt, BVerfGE 142, 25 (61); einen Zusammenhang mit der Wahlrechtsgleichheit sprechen nicht ausdrücklich an Leisner, in: Sodan, GG, Art. 38 Rn. 13; Magiera, in: Sachs, GG, Art. 38 Rn. 58; Morlok, in: Dreier, GG, Bd. 2, Art. 38 Rn. 169; Trute, in: v. Münch/Kunig, GG, Bd. 1, Art. 38 Rn. 93; Wiefelspütz, in: Morlok/Schliesky/Wiefelspütz, Parlamentsrecht, § 12 Rn. 22.

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eine repräsentative Herrschaft des Volkes.267 Aus dem Verfassungswortlaut des Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG resultiert noch nicht, dass eine Vertretung des Volkes nur durch die Gesamtheit aller Abgeordneten geschehen kann. Das Bundesverfassungsgericht betont aber, dass nur das Parlament als Ganzes die Vertretung des Volkes übernehmen könne.268 Dies ergebe sich schon aus der Formulierung in Art. 20 Abs. 2 GG, nach der die vom Volk ausgehende Staatsgewalt unter anderem durch „besondere Organe der Gesetzgebung“ ausgeübt werde. Nicht die einzelnen Mandatsträger, sondern der Bundestag in seiner Gesamtheit vertrete demgemäß das Volk.269 Die Argumentation des Bundesverfassungsgerichts überzeugt: Nur alle Abgeordneten zusammen, die der Regierungsfraktion(en), der Oppositionsfraktion(en) und gegebenenfalls Fraktionslose, bewirken die Repräsentation des Volkes. Wenn dies aber der Fall ist, bedarf es einer gleichen Mitwirkungsbefugnis aller Abgeordneten, die wiederum gleiche Rechte und Pflichten für alle voraussetzt.270 Mithilfe des systematischen Hinweises auf Art. 20 Abs. 2 GG lässt sich der Gleichbehandlungsgrundsatz mit Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG begründen. Zunächst entwickelte das Bundesverfassungsgericht die Mandatsgleichheit ausschließlich aus Art. 38 Abs. 1 Satz 1 GG heraus.271 Im Urteil zum Organstreitverfahren der Gruppe von PDS/Linke Liste gegen den Deutschen Bundestag 1991 hielt es dagegen fest: „Der Grundsatz der Wahlrechtsgleichheit aus Art. 38 Abs. 1 Satz 1 GG betrifft weder die Stellung der Abgeordneten im Parlament noch den Status von Gruppen von Abgeordneten derselben Partei oder Liste; sein Anwendungsbereich ist auf Wahlen beschränkt. Demgegenüber hat der parlamentsbezogene Grundsatz, wonach alle Mitglieder des Parlaments einander formal gleichgestellt sind, seine verfassungsrechtliche Grundlage in Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG.“272

Doch schon 2000 machte das Bundesverfassungsgericht eine Kehrwende und stützt sich wieder auf beide Sätze des Art. 38 Abs. 1 GG, da eine isolierte Betrachtung dem „unauflösbaren, sich wechselseitig bedingenden Zusammenhang“273 beider Normen nicht gerecht werde.274 Im Urteil zum Organstreitverfahren der Linksfraktion gegen den Deutschen Bundestag von 2016 stellte es nur auf Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG ab, will aber die Maßstäbe der Einschränkbarkeit der Abgeord267

Vgl. Ipsen, Staatsrecht I, Rn. 246 f. BVerfGE 44, 308 (316). 269 BVerfGE 44, 308 (316); 56, 396 (405). 270 BVerfGE 80, 188 (218). 271 BVerfGE 40, 296 (317); hier stützt das Bundesverfassungsgericht sich auf Art. 38 Abs. 1 Satz 1 GG; dazu Schreiber, in: BerlK, GG, 42. EL August 2013, Art. 38 Rn. 173 f.; auch Kürschner, Die Statusrechte des fraktionslosen Abgeordneten, S. 136 f. 272 BVerfGE 84, 304 (324 f.). 273 BVerfGE 102, 224 (238). 274 Vgl. zunächst BVerfGE 80, 188 (217), und dann den Rechtsprechungswandel in BVerfGE 102, 224 (238). 268

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2. Kap.: Die Minderheitenrechte im Deutschen Bundestag

netengleichheit an der Wahlrechtsgleichheit des Art. 38 Abs. 1 Satz 1 GG gemessen wissen.275 Alles in allem sind beide Anknüpfungspunkte, sowohl die Entwicklung der Mandatsgleichheit aus Art. 38 Abs. 1 Satz 1 GG als auch eine Herleitung mittels Art. 38 Abs. 1 Satz 2 und 20 Abs. 2 GG, nachvollziehbar. Insofern kann die unterschiedliche Begründung durch das Gericht auch genau damit erklärt werden, denn ein Rückgriff auf beide Bestimmungen ist systematisch plausibel. „Beide besonderen Gleichheitssätze stützen den Repräsentationsgedanken aus unterschiedlichen Richtungen“276 – infolgedessen ist eine Herleitung aus der Gesamtheit des Art. 38 Abs. 1 GG nur konsequent.277 bb) Funktionen der Mandatsgleichheit Wie dargestellt wurzelt die Abgeordnetengleichheit im Demokratieprinzip: Der Wille des Volkes spiegelt sich in der Gesamtheit der Abgeordneten, in der Volksvertretung, wider. Der Bundestag repräsentiert Gesamtheit und auch Verschiedenheit des Volkswillens.278 Die Wahlrechtsgleichheit resultiert aus dem gleichen demokratischen Teilhaberecht aller Wahlbürger,279 die Abgeordnetengleichheit letztlich auch, nur auf einer nächsten Stufe. Sie ist von Art. 79 Abs. 3 GG umfasst280 und untrennbar mit der repräsentativen Demokratie verknüpft. Die Abgeordnetengleichheit verbindet die Wahlrechtsgleichheit mit der Verfahrensgleichheit in der politischen Willensbildung. Eine Ungleichheit von Abgeordneten unterbräche die Repräsentation des Volkes im Parlament. Ungeachtet dessen sprechen Zweckmäßigkeitserwägungen für eine Gleichbehandlung der Abgeordneten, denn innerparlamentarische Differenzierungen konfligieren nicht nur mit der Wahlrechtsgleichheit, sondern auch mit einem pluralistischen System des Diskurses und der Suche nach den „besten Lösungen“ für politische Probleme.281 Gerade weil die Abgeordneten gleiche Rechte haben, ist ihnen die Möglichkeit gegeben, ergebnisorientierte und politisch notwendige Diskurse 275

Auch vorher schon, so z.B. BVerfGE 84, 304 (321); 93, 195 (204); 96, 264 (278). BVerfGE 102, 224 (238). 277 Im Ergebnis stellt das Bundesverfassungsgericht trotz der aktuellen Nuancierung auch weiter auf beide Sätze des Art. 38 Abs. 1 GG ab, BVerfGE 142, 25 (61); insgesamt zur Herleitung auch Moench, Verfassungsmäßigkeit der Bundestagsausschüsse, S. 41 ff. 278 Dreier, JZ 1990, 310 (317); Hofmann, Recht, Politik, Verfassung, S. 249 ff., 258; Schmahl, AöR 130 (2005), 114 (128). 279 Vgl. hierzu BVerfGE 56, 396 (405); Morlok, JZ 1989, 1035 (1037 f.); ders./Hientzsch, JuS 2011, 1 (2). 280 BVerfGE 123, 267 (341 f.); vgl. zumindest Hain, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, Bd. 2, Art. 79 Rn. 76; Sannwald, in: Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/Henneke, GG, Art. 79 Rn. 61; Wegge, Zur normativen Bedeutung des Demokratieprinzips nach Art. 79 Abs. 3 GG, S. 77, 249 ff. 281 Hierzu Butzer, in: Epping/Hillgruber, GG, 37. Edition Februar 2018, Art. 38 Rn. 109; Morlok, in: Dreier, GG, Bd. 2, Art. 38 Rn. 134, 161, 175. 276

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einzugehen.282 Die Gleichheit der Abgeordneten schützt somit die Arbeitsfähigkeit des Parlaments, indem Abhängigkeiten und Hierarchien nicht über die fraktionsinternen Ämter und Positionen sowie das erforderliche Maß hinaus etabliert werden.283 Mittels gleicher Mitwirkungschancen ist es den Parlamentariern möglich, unabhängig zur gemeinsamen Willensbildung beizutragen.284 Dies kommt im Ergebnis der demokratischen Gemeinwohlfindung zugute,285 es geht um die vielzitierte „Freiheit durch Gleichheit“286. cc) Inhalt der Mandatsgleichheit Der formalisierte Gleichbehandlungsgrundsatz umfasst alle Rechte und Pflichten eines Bundestagsabgeordneten. Darunter fallen die Mitwirkungsmöglichkeiten sowohl in der Plenar- als auch Ausschussarbeit. Dort haben sie grundsätzlich gleiche Anwesenheits-, Rede-, Informations- und Frage-, Antrags- sowie Stimmrechte. Sie haben das gleiche Recht, parlamentarische Initiativen zu ergreifen, sich an Wahlen des Parlaments zu beteiligen und sich zu Fraktionen zusammenzuschließen. Überdies erhalten sie grundsätzlich die gleiche Vergütung. So können die Mandatsträger gleichermaßen und unabhängig auf die Willensbildung hinsichtlich der parlamentarischen Aufgaben einwirken.287 Eine Bevorzugung der direktgewählten Abgeordneten gegenüber den über eine Landesliste gewählten Abgeordneten darf es schon mit Verweis auf die Fortpflanzung der Wahlrechtsgleichheit in der Mandatsgleichheit nicht geben.288 Ferner gilt die formalisierte Gleichheit der Abgeordneten auch für Zusammenschlüsse wie Fraktionen und Gruppen fort; alles andere wäre widersinnig.289 Der Bundestag kann auf Ausschüsse und andere Gremien überwiesene Parlamentsaufgaben zu jedem Zeitpunkt wieder an sich ziehen.290 Die Mandats-

282 Vgl. zunächst Häberle, JuS 1967, 64 (72); auch Morlok, in: Dreier, GG, Bd. 2, Art. 38 Rn. 141; Schmahl, AöR 130 (2005), 114 (128 f.). 283 BVerfGE 40, 296 (317 f.); 102, 224 (239). 284 BVerfGE 56, 396 (405); 80, 188 (217 f.); 102, 224 (239); dazu Demmler, Der Abgeordnete im Parlament der Fraktionen, S. 136 ff.; Laubach, ZRP 2001, 159 (160). 285 Insgesamt Schmahl, AöR 130 (2005), 114 (128 f.). 286 Häberle, JuS 1967, 64 (64 ff.); ders., Kommentierte Verfassungsrechtsprechung, S. 220. 287 Trute, in: v. Münch/Kunig, GG, Bd. 1, Art. 38 Rn. 93; Wiefelspütz, in: Morlok/ Schliesky/Wiefelspütz, Parlamentsrecht, § 12 Rn. 23 f. 288 Kluth, in: Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/Henneke, GG, Art. 38 Rn. 75; Morlok, in: Dreier, GG, Bd. 2, Art. 38 Rn. 161; Trute, in: v. Münch/Kunig, GG, Bd. 1, Art. 38 Rn. 94. 289 BVerfGE 142, 25 (61); schon vorher z.B. BVerfGE 93, 195 (204); hierzu Trute, in: v. Münch/Kunig, GG, Bd. 1, Art. 38 Rn. 94. 290 Vgl. Kluth, in: Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/Henneke, GG, Art. 40 Rn. 16; so auch Brocker, in: BK, GG, 150. EL Februar 2011, Art. 40 Rn. 5; Dreier, JZ 1990, 310 (317).

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gleichheit führt zu einer grundsätzlichen Letztentscheidungskompetenz für die Vollversammlung in Parlamentsangelegenheiten.291 Aus der Gleichheit der Abgeordneten (und der Freiheit des Mandats sowie aus dem Repräsentationsgedanken) folgt ferner der verfassungsrechtliche Anspruch auf eine Spiegelbildlichkeit von Plenum und Ausschüssen.292 Bei dem sogenannten Grundsatz der Spiegelbildlichkeit als ein „zentrales Element der Proporzdemokratie“293 und der Mandatsgleichheit wird besonders deutlich, dass die Mandatsgleichheit minderheitenschützende Wirkung und damit Bestandteil des Minderheitenschutzes ist. Die Sitzvergabe nach Maßgabe der Proportionalität garantiert eine dem Kräfteverhältnis im Plenum entsprechende Sitzverteilung. Die parlamentarische Mehrheit kann die Zusammensetzung von Ausschüssen nicht beliebig festlegen.294 Dies erkennt auch das Bundesverfassungsgericht: „Das Prinzip der proportionalen Repräsentation endet als Gleichheitsanspruch und Minderheitenschutz gleichsam dort, wo Entscheidungen in der Sache getroffen werden.“295

So grundlegend die Aussage auch sein mag: Die Spiegelbildlichkeit von Plenum und (Unter-)Ausschüssen schützt die Minderheit vor einer Entscheidung der Mehrheit, Ausschüsse so zu besetzen, wie es in ihre politische Fasson passt. „Fraktions-Chancengleichheit ist Minderheitenschutz.“296 dd) Ausnahmen von der Mandatsgleichheit Da sich die Wahlrechtsgleichheit in der Tätigkeit der Mandatsträger und ihrer Zusammenschlüsse fortpflanzt, sind die Anforderungen für Einschränkungen des 291

Dies wird in Art. 45 Satz 2 und 3 GG i.V.m. § 93b Abs. 2 Satz 6 GO-BT bestätigt. Gesetzliche Ausnahmen finden sich in § 3 Abs. 3 StabMechG und § 6 ESMFinG. 292 BVerfGE 80, 188 (222); 84, 304 (323); 96, 264 (282); 130, 318 (353); 131, 230 (235); 140, 115 (145). 293 Steinbach, DÖV 2016, 286 (286). 294 Aufgezählt ist § 12 GO-BT auch bei Wissenschaftliche Dienste des Deutschen Bundestages, Rechte der parlamentarischen Minderheiten im Bundestag. Infobrief WD 3 - 3010 196/13 vom 3. 12. 2013, S. 10; vgl. auch aus dem politikwissenschaftlichen Schrifttum Lehmbruch, in: Röhring/Sontheimer, HdB-Parlamentarismus, S. 404 f. § 12 GO-BT die Wirkung absoluter Minderheitenrechte zuschreibend und dennoch nicht dazu zählend Vonderbeck, ZParl. 6 (1975), 150 (151); von „Beteiligungs- und Schutzrecht“ sprechend Jekewitz, in: Schneider/Zeh, Parlamentsrecht und Parlamentspraxis, § 37 Rn. 44. 295 BVerfGE 112, 118 (141). Vgl. auch zum Verhältnis zwischen Spiegelbildlichkeitsgrundsatz und Minderheitenschutz bezogen auf die Ausschüsse eines Gemeinderates BVerwG, NVwZ 2004, 621 (622). 296 Scherer, AöR 112 (1987), 189 (210); vgl. auch die Diskussion um Art. 54 Abs. 1 Satz 3 des Herrenchiemsee-Entwurfs („Ausschüsse werden anteilig besetzt“) im Parlamentarischen Rat, dazu Dehler in der sechsten Sitzung des Kombinierten Ausschusses am 24. September 1948, in: Stelzl/Weber (Hrsg.), Der Parlamentarische Rat 1948 – 1949, Bd. 13/1, S. 185: „Ich möchte Gewicht darauf legen, den Satz unverändert zu belassen; sonst kann eine Mehrheit eine Minderheit ohne weiteres herausdrängen.“

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„formalisierten Gleichheitssatzes“ besonders hoch. Die Reichweite des Art. 38 Abs. 1 GG ist gerade nicht mit der des Art. 3 Abs. 1 GG identisch. Es bedarf eines „besonderen, sachlich legitimierten oder zwingenden“297 Grundes für Unterscheidungen der Abgeordneten untereinander. Wichtig ist, dass zwar ein „zwingender“ Grund vorliegen kann, ein besonders sachlich legitimierter Grund aber ausreicht. Im Umkehrschluss bedeutet ein „zwingender Grund“ begrifflich nämlich eine Verfassungspflicht zur Ungleichbehandlung. Insofern ist die Begriffsverwendung „zwingend“ durch das Bundesverfassungsgericht zumindest missverständlich. Die Rechtfertigung von Differenzierungen im Hinblick auf den Status des Abgeordneten verlangt eine konkurrierende systemimmanente Rechtsposition, die – wie die Gleichheit der Abgeordneten – Verfassungsrang hat und dieser somit die Waage halten kann.298 Im Übrigen besteht ein striktes Unterscheidungsverbot hinsichtlich der Statusgleichheit der Abgeordneten mit all ihren Rechten und Pflichten.299 Das Bundesverfassungsgericht akzeptiert nur wenige Ungleichbehandlungen von Abgeordneten: Hier ist zunächst das Diätenurteil von 1975 anzuführen, in dem das Gericht eine höhere Vergütung des Bundestagspräsidenten und seiner Stellvertreter zulässt.300 Als Rechtfertigungsgrund erkennt das Bundesverfassungsgericht die hervorgehobene Stellung des Bundestagspräsidiums an der Spitze eines obersten Verfassungsorgans an.301 Es ist in Art. 40 Abs. 1 Satz 1 GG ausdrücklich normiert. In einer weiteren Entscheidung des Bundesverfassungsgericht als Thüringisches Verfassungsgericht zu Funktionszulagen von Landtagsabgeordneten302 aus dem Jahr 2000 erklärt es höhere Funktionszulagen von Fraktionsvorsitzenden303 für vereinbar mit dem Gleichbehandlungsgrundsatz.304 Dies sei möglich, weil Fraktionen notwendige Einrichtungen des Verfassungslebens und ihre Vorsitzenden Schaltstellen der Macht im Parlament seien.305 Auch hier gibt es mit Art. 53a Abs. 1 Satz 2 GG eine Verfassungsvorschrift, die zumindest die Fraktionen nennt. Das Urteil verhindert jedoch nicht, dass die Fraktionen selbst intern bestimmte Positionen höher

297 BVerfGE 93, 195 (204); 94, 351 (369); 129, 300 (320); in diesem Zusammenhang erstmals von einem „zwingenden“ Grund sprechend VerfGH Bayern, VGHE n.F. Bd. 3, 2. Teil, S. 127; später BVerfGE 6, 84 (92); 14, 121 (133); 51, 222 (236); 95, 408 (418); vgl. dazu auch Trute, in: v. Münch/Kunig, GG, Bd. 1, Art. 38 Rn. 54. Eine bewusste Begriffsveränderung erkennt Klenner, DÖV 2018, 563 (565). 298 BVerfGE 129, 300 (320); vgl. auch Morlok, in: Dreier, GG, Bd. 2, Art. 38 Rn. 175. 299 Hierzu Leisner, in: Sodan, GG, Art. 38 Rn. 13. 300 BVerfGE 40, 296 (318); kritisch dazu und insgesamt zum formalen und strengen Gleichheitssatz v. Arnim, DÖV 1984, 85 (88 ff.). 301 BVerfGE 40, 296 (318). 302 Teilweise als „2. Diätenurteil“ bezeichnet, vgl. z.B. Laubach, ZRP 2001, 159 (159). 303 BVerfGE 102, 224 (233 ff.). 304 BVerfGE 102, 224 (242 ff.). 305 BVerfGE 102, 224 (242 f.).

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vergüten, indem sie dafür Fraktionsmittel aufwenden.306 Ferner sind das WüppesahlUrteil von 1989 und das dort behandelte Stimmrecht des fraktionslosen Abgeordneten im Ausschuss zu nennen. Zunächst untersagt das Gericht darin Unterschiede zwischen Fraktionsabgeordneten und Fraktionslosen, sofern es um Anwesenheits-, Rede- und Antragsrechte geht. Eine Ungleichbehandlung sei hier auch nicht aus Gründen der Funktionsfähigkeit des Bundestages geboten.307 In einem zweiten Schritt widmet es sich dem Stimmrecht des Fraktionslosen im Ausschuss. Hier wird in einem Perspektivwechsel nach der verfassungsrechtlichen Gebotenheit einer Gleichbehandlung von fraktionsangehörigen und fraktionslosen Abgeordneten gefragt. Ein Stimmrecht des Fraktionslosen im Ausschuss wirke überproportional und sei verfassungsrechtlich nicht geboten, da der Fraktionslose nicht für andere Mitglieder einer Fraktion spreche und seinem Einfluss auf die Beschlussempfehlung demnach kein so großes Gewicht zukomme wie bei Ausschussmitgliedern der Fraktionen. Er könne in zweiter Lesung Änderungsanträge stellen und ihm stünde ein Stimmrecht in zweiter und dritter Lesung zu, dies genüge.308 Hier begründet das Bundesverfassungsgericht die Ungleichbehandlung nicht mit einer widerstreitenden verfassungsrechtlichen Position, sondern stellt andersherum fest, dass eine Gleichbehandlung nach Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG nicht gerechtfertigt erscheine.309 Das Gericht unterlässt es, auf den vorherigen Maßstab zu rekurrieren. Ferner urteilte das Bundesverfassungsgericht 1991 zum Status parlamentarischer Gruppen, im Einzelfall zur Gruppe von PDS/Linke Liste. Es entschied, dass Mitglieder der parlamentarischen Gruppen keinen Status minderen Rechts gegenüber den Mitgliedern der Fraktionen haben, aber im Einzelfall unterschiedliche Behandlungen aufgrund der Geschäftsordnungsautonomie des Bundestages möglich seien.310 So haben Gruppen keinen Anspruch auf die Berücksichtigung bei der Verteilung von Posten im Ausschussvorsitz oder auf ein Grundmandat in Enquete-Kommissionen und Untersuchungsausschüssen sowie im Vermittlungsausschuss. Auch bei der Finanzierung lässt das Gericht eine Differenzierung von Gruppen und Fraktionen zu.311 Im Urteil zu den Oppositions- und Minderheitenrechten von 2016 erklärt das Gericht, dass Oppositionsfraktionsrechte nicht in der Verfassung vorgesehen seien und gegen die Mandatsgleichheit verstießen. Eine Unterscheidung zwischen Abgeordneten der Regierungskoalition und der parlamentarischen Opposition sei grundsätzlich nicht 306 Vgl. dazu Waldhoff, in: Austermann/Schmahl, AbgG, § 52 Rn. 6. Siehe hier auch 4. Kapitel Fn. 41, 55. 307 BVerfGE 80, 188 (223 f.); diese Abkehr vom vorherigen Argumentationsansatz wurde in der wissenschaftlichen Auseinandersetzung vielfach als inkonsequent gerügt, statt Vieler Morlok, JZ 1989, 1035 (1041). 308 BVerfGE 80, 188 (224 ff.); a.A. z.B. bei Mahrenholz in einem Sondervotum, BVerfGE 80, 188 (236 ff.); zusätzlich Brandner, JA 1990, 151 (154); Kloepfer, Verfassungsrecht I, § 15 Rn. 131; Morlok, JZ 1989, 1035 (1041); Schulze-Fielitz, DÖV 1989, 829 (833); Trute, Jura 1990, 184 (190 f.). 309 BVerfGE 80, 188 (225); kritisch Schulze-Fielitz, DÖV 1989, 829 (833). 310 BVerfGE 84, 304 (328 ff.); kritisch Böhm, ZParl. 23 (1992), 231 (234). 311 BVerfGE 84, 304 (333 f.).

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zulässig.312 Eine Redezeitverlängerung für die Opposition und den Oppositionszuschlag scheint das Gericht dagegen zu billigen.313 Die vom Bundesverfassungsgericht aufgezählten Verfassungspositionen, die die Mandatsgleichheit gerechtfertigt einschränken, haben keinen abschließenden Charakter.314 Besondere Gründe für Ausnahmen von der formalen Gleichheit können zunächst einen ausdrücklichen verfassungsrechtlichen Anknüpfungspunkt finden. Beispielhaft kann hier Art. 40 Abs. 1 Satz 1 GG als besondere Hervorhebung der Arbeit des Bundestagspräsidiums genannt werden, Art. 53a Abs. 1 Satz 2 GG nennt die Fraktionen. Ferner begrenzen Verfassungsgrundsätze die Mandatsgleichheit. Die Arbeitsfähigkeit des Bundestages wird als wichtigster Grund für eine Ungleichbehandlung angeführt.315 Dazu zählen z.B. auch Geheimschutzaspekte.316 Minderheitenschutz und Oppositionsgrundsatz können die Mandatsgleichheit in Ausnahmefällen dahingehend überlagern, dass parlamentarische Entscheidungen im Sinne von Abweichungen von der Abgeordnetengleichheit gerechtfertigt sind. c) Verfassungsrechtlicher Kernbestand parlamentarischen Minderheitenschutzes Es bleibt zu klären, ob der Verfassung abseits von ausdrücklichen Minderheitenrechten und der Mandatsgleichheit als Teil des Minderheitenschutzes weitere ungeschriebene Minderheitenrechte zu entnehmen sind. Bei der Frage nach dem konkreten Inhalt von Minderheitenschutz handelt es sich um eine Frage, die bereits ähnlich in Bezug auf andere Verfassungsprinzipien gestellt und kontrovers diskutiert wurde.317 Auf das Rechtsstaatsprinzip bezogen stellte Philipp Kunig in seiner Habilitationsschrift fest, dass dieses vielfach nur als bündelnder Begriff genutzt wird und letztlich rein summativen Gehalt hat.318 Eberhard Schmidt-Aßmann bezog dagegen Stellung und sprach sich für einen zweischichtigen Bedeutungsgehalt des Rechtsstaatsprinzips aus.319 Er erkennt sowohl die deklaratorische Bedeutung des Rechtsstaatsprinzips als Sammelbegriff als auch den konstitutiven Gehalt des Ver312

BVerfGE 142, 25 (60). BVerfGE 142, 25 (63 f.). 314 Insgesamt mit weiteren Beispielen auch auf Landesebene Pieroth, in: Jarass/Pieroth, GG, Art. 38 Rn. 51 f.; zu Ausnahmen vom Spiegelbildlichkeitsgrundsatz BVerfGE 130, 318 (355). 315 Vgl. Badura, in: Schneider/Zeh, Parlamentsrecht und Parlamentspraxis, § 15 Rn. 16; Klein, in: Isensee/Kirchhof, HStR, Bd. 3, § 51 Rn. 22; Magiera, in: Sachs, GG, Art. 38 Rn. 58; Trute, in: v. Münch/Kunig, GG, Bd. 1, Art. 38 Rn. 92. 316 Auch Geheimhaltungsaspekte können die Abgeordnetengleichheit einschränken, vgl. dazu BVerfGE 70, 324 (363 f.); 130, 318 (359). 317 Beispielhaft auch für das Demokratieprinzip Unger, Das Verfassungsprinzip der Demokratie, S. 242 ff. m.w.N. 318 Kunig, Das Rechtsstaatsprinzip, S. 85 ff., 109 f., 463. 319 Schmidt-Aßmann, in: Isensee/Kirchhof, HStR, Bd. 2, § 26 Rn. 8. 313

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fassungsprinzips an.320 Für die Annahme eines konstitutiven Bedeutungsgehalts des parlamentarischen Minderheitenschutzes spricht zumindest dessen gerichtliche Fundierung im Demokratieprinzip.321 Eine Anknüpfung an Art. 20 Abs. 1 und 2 GG bedürfte es nämlich nicht, es könnte direkt auf die ausdrücklich vom Grundgesetz verbürgten Rechte verwiesen werden. Das Gericht verortet den parlamentarischen Minderheitenschutz auch nicht in Art. 20 Abs. 1 und 2 GG, um alle verfassungsrechtlichen Minderheitenrechte unter den Schutz des Art. 79 Abs. 3 GG zu stellen. Es ist bereits fraglich, ob alle positivrechtlichen Ausprägungen des Demokratieprinzips von Art. 79 Abs. 3 GG erfasst werden. Wesentliche Abgeordnetenrechte wie Rede- und Stimmrecht können dem Schutzbereich des Art. 79 Abs. 3 GG zugerechnet werden,322 da in ihnen die gleiche Teilhabe an einem offenen Willensbildungsprozess in der repräsentativen Parlamentsherrschaft323 zum Ausdruck kommt; nicht aber die Quorenrechte in ihrer Bestimmtheit. Überdies nennt das Bundesverfassungsgericht die Rechte aus Art. 23 Abs. 1a Satz 2, 39 Abs. 3 Satz 3, 44 Abs. 1 Satz 1, 45 Abs. 2 Satz 2 und 93 Abs. 1 Nr. 2 GG „punktuelle Durchbrechung[en] des Mehrheitsprinzips“324. Es steht aber auch für das Gericht außer Frage, dass es darüber hinaus weitere verfassungsrechtliche Minderheitenrechte gibt („etwa“325). Unstrittig ist dies für die Minderheitenrechte aus Art. 38 Abs. 1 Satz 2 und 93 Abs. 1 Nr. 1 GG. Im Ergebnis verbietet das Gericht nur die Schaffung spezifischer Oppositionsrechte.326 Es bleibt vielmehr bei der verfassungsgerichtlichen Prämisse aus der Entscheidung zur Haushaltskontrolle der Nachrichtendienste von 1986: Parlamentarischer Minderheitenschutz verlangt als Voraussetzung der Akzeptanz des Mehrheitsprinzips, dass die Minderheit ihren Standpunkt in den Willensbildungsprozess einbringen kann.327 Aus dem demokratischen Prinzip folgt ein von Art. 79 Abs. 3 i.V.m. Art. 20 Abs. 1 und 2, 38 Abs. 1 Satz 2 GG umfasster verfassungsrechtlicher Kern parlamentarischen Minderheitenschutzes,328 der auch 320 Schmidt-Aßmann, in: Isensee/Kirchhof, HStR, Bd. 2, § 26 Rn. 9. Vgl. Schulze-Fielitz, in: Dreier, GG, Bd. 2, Art. 20 Rn. 45. 321 BVerfGE 70, 324 (363); angedeutet in BVerfGE 2, 1 (13); 44, 308 (321); beispielhaft Robbers, in: BK, GG, 137. EL Dezember 2008, Art. 20 Rn. 652 ff. 322 So wohl BVerfGE 123, 267 (341 f.). 323 BVerfGE 123, 267 (342). 324 BVerfGE 142, 25 (58 f.). 325 BVerfGE 142, 25 (58). 326 BVerfGE 142, 25 (58); Fraktionsrechte als generell problematisch erachtend Rossi, JZ 2016, 1169 (1170 f.). 327 BVerfGE 70, 324 (363); vgl. auch Mußgnug, FS Klein, S. 249; die Rolle der Opposition auch abseits der Regierungskontrolle betonend Voßkuhle, BayVBl. 2016, 289 (293). 328 Vgl. in diese Richtung Hain, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, Bd. 2, Art. 79 Rn. 87; Pieroth, in: Jarass/Pieroth, GG, Art. 79 Rn. 16, mit Verweis auf Art. 20 Rn. 22; auch Sachs, in: ders., GG, Art. 79 Rn. 66, der treffend feststellt, dass „der Schutz von Minderheiten im Parlament nicht bis zu ihrer Funktionsunfähigkeit verringert werden“ darf. Auf den Grundsatz effektiver Opposition stellt Diehl, in: Scheffczyk/Wolter, Linien der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, Bd. 4, S. 515, ab; weitergehend noch Starski, DÖV 2016, 750

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gerichtlich einklagbar ist.329 Parlamentarischer Minderheitenschutz besitzt einen eigenen verfassungsrechtlichen Gehalt, der über die ausdrücklich geregelten Rechte im Grundgesetz hinausgeht. Es geht nicht etwa um die Konstruktion spezifischer Oppositionsfraktionsrechte,330 sondern um mit der Mandatsgleichheit kongruierende Minderheitenrechte, die die Schutzlücke zwischen Verfassungstext und effektivem Minderheitenschutz nach Art. 20 Abs. 1 und 2 GG aufzufüllen in der Lage sind. Die Schutzlücke besteht darin, dass – würden alle nicht im Grundgesetz verankerten Minderheitenrechte abgeschafft oder geändert – die vom Bundesverfassungsgericht formulierte Richtschnur parlamentarischer Teilhabe unterschritten wird.331 Dann nämlich ist es der parlamentarischen Minderheit nicht mehr möglich, sich ernsthaft in den Willensbildungsprozess des Parlaments einzubringen. Die ausdrücklich in der Verfassung geregelten Minderheitenrechte allein genügen diesem Anspruch der Minderheit schlicht nicht, denn der Willensbildungsprozess des Parlaments umfasst gerade mit Blick auf die vom Bundesverfassungsgericht akzentuierte Abgeordnetengleichheit alle Parlamentsaufgaben, d.h. insbesondere Gestaltung und Kontrolle.332 Verfassungsrechtlich abgesichert sind nur äußerst wenige Minderheitenrechte. Im Wesentlichen handelt es sich um Abgeordnetenrechte nach Art. 38 Abs. 1 GG, die in ihrer Wirkung auf das parlamentarische Geschehen jedoch entsprechend gering sind. Das einzige Fraktionsrecht aus Art. 93 Abs. 1 Nr. 1 i.V.m. Art. 53a Abs. 1 Satz 2 GG dient allein ihrem Rechtsschutz. Die grundgesetzlichen Quorenrechte bezwecken im Wesentlichen parlamentarische Kontrolle. Trotz der Verankerung einiger Minderheitenrechte im Grundgesetz bleiben jedoch Rechte, die im offen-pluralistischen Meinungskampf nicht zur Disposition der Mehrheit stehen dürfen: Es braucht ein Mindestmaß an Verfahrensgarantien. Dies wird mit Blick auf die in der Geschäftsordnung geregelten Minderheitenrechte deutlich, die nicht in ihrer Konkretheit, aber in den ihnen zugrundeliegenden Rechtsgedanken elementar sind für einen offenen parlamentarischen Willensbildungsprozess: In Bezug auf die Gestaltungsfunktion ist z.B. § 20 Abs. 4 GO-BT zu nennen. Vorlagen von Fraktionen oder fünf Prozent der Abgeordneten müssen auf die Tagesordnung der nächsten (758); a.A. wohl bei Evers, in: BK, GG, 45. EL Oktober 1982, Art. 79 Rn. 183; auf Wahlen und „Herrschaft auf Zeit“ bezogen bei Bryde, in: v. Münch/Kunig, GG, Bd. 2, Art. 79 Rn. 41; ebenso Dreier, in: ders., GG, Bd. 2, Art. 79 Rn. 37. 329 Vgl. hierzu Benda/Klein/Klein, Verfassungsprozessrecht, Rn. 1011; auch Fleury, Verfassungsprozessrecht, Rn. 62; Bethge, in: Maunz/Schmidt-Bleibtreu/Klein/Bethge, BVerfGG, 49. EL Juli 2016, § 63 Rn. 48; Schlaich/Korioth, Das Bundesverfassungsgericht, Rn. 88; dagegen enger Lechner/Zuck, BVerfGG, § 63 Rn. 14. 330 BVerfGE 142, 25 (55). Dennoch kann der beschriebene Kern verfassungsrechtlichen Minderheitenschutzes gerade der Opposition zugutekommen. Werden Minderheitenrechte als Ausprägung des Oppositionsgrundsatzes verstanden, kann im Kern parlamentarischen Minderheitenschutzes auch eine Antwort auf die von Cancik gestellte Frage nach dem konkreten Inhalt parlamentarischer Opposition liegen; Cancik, ZParl. 48 (2017), 516 (520). 331 Vgl. dazu Brocker, in: BK, GG, 150. EL Februar 2011, Art. 40 Rn. 230. 332 In diesem Zusammenhang BVerfGE 5, 85 (199); Voßkuhle, FS Schwarze, S. 287.

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Sitzung gesetzt und beraten werden, wenn seit der Verteilung der Drucksache mindestens drei Wochen vergangen sind.333 Dieses Minderheitenrecht stellt sicher, dass Kritik und Alternativvorschläge der Oppositionsfraktionen überhaupt parlamentarische Beachtung finden.334 Auch das Recht eines Viertels der Mitglieder eines federführenden Ausschusses, eine Anhörung bei überwiesenen Vorlagen zu verlangen, ist für die parlamentarische Minderheit von großer Bedeutung, um auf den Gesetzgebungsprozess zumindest einwirken zu können, § 70 Abs. 1 Satz 2 GO-BT. Dies unterstrich der Sächsische Verfassungsgerichtshof mit einem Urteil aus dem Jahr 2016.335 Es spricht dem Antragsrecht auf Ausschussanhörungen verfassungskonkretisierende Bedeutung,336 das Antragsrecht aus der Geschäftsordnung sei im Ergebnis gar „Teil der [in Sachsen] verfassungsrechtlich abgesicherten Minderheitenrechte“337. Ferner können Fraktionen und fünf Prozent der Abgeordneten nach § 78 Abs. 2 Satz 2 GO-BT der Abstimmung über nicht verteilte Anträge widersprechen – Bundestagsentscheidungen sind das Ergebnis von Willensbildung, die aber auch tatsächlich stattfinden muss. Zusätzlich sind die Einberufungsrechte im Ausschuss anzuführen, § 60 Abs. 2 und 3 GO-BT.338 Überdies sind wichtige Kontrollrechte in der Geschäftsordnung verankert, unter anderem das Recht auf namentliche Abstimmung, geregelt in § 52 Satz 1 GO-BT.339 Mag eine namentliche Abstimmung den Regierungsfraktionen auch dazu dienen, „ihre eigenen Abgeordneten auf Linie zu bringen“, sie fungiert insbesondere als Kontrollmittel für die parlamentarische Minderheit. Ferner ist das Recht auf die Rüge der Beschlussunfähigkeit gemäß § 45 Abs. 2 Satz 1 GO-BT als Minderheitenrecht ausgestaltet.340 Mit Blick auf die parlamentarische Kontrolle sei noch auf die §§ 76, 75 Abs. 1 lit. f und Abs. 3 i.V.m. §§ 100, 104 GO-BT hingewiesen. Große und Kleine Anfragen sind

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Roll, Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages, § 20 Rn. 8. Vgl. Hadamek, in: Kluth/Krings, Gesetzgebung, § 17 Rn. 48: „Es handelt sich dabei um eines der bedeutendsten Minderheitsrechte, die die Geschäftsordnung enthält.“ 335 VerfGH Sachsen, Urteil vom 27. Oktober 2016 – Vf. 134-I-15 –, juris Rn. 46; zustimmend Edinger, ZParl. 48 (2017), 157 – 162. 336 VerfGH Sachsen, Urteil vom 27. Oktober 2016 – Vf. 134-I-15 –, juris Rn. 47. 337 VerfGH Sachsen, Urteil vom 27. Oktober 2016 – Vf. 134-I-15 –, juris Rn. 49; dagegen für das Anhörungsrecht aus § 173 Abs. 1 Satz 2 GO-LT Bayern a.F. VerfGH Bayern, Urteil vom 9. Mai 2016 – Vf. 14-VII-14/Vf. 3-VIII-15/Vf. 4-VIII-15 –, juris Rn. 113 f. 338 Auch Roll, Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages, § 61 Rn. 2. 339 Zunächst ders., Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages, § 52 Rn. 1; vgl. zudem die Ausführungen von Hans-Diedrich Genscher (FDP) in der zehnten Sitzung des Ausschusses für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung (Geschäftsordnungsangelegenheiten) vom 16. Dezember 1967, in: Ausschussprotokoll, PA-DBT 3101 5. Wahlperiode, Protokoll 10, S. 4, der das Recht auf namentliche Abstimmung in einer Reihe mit dem Einberufungsrecht und dem Enqueterecht nennt, dazu BT-Drs. 5/3492. 340 Vgl. die bei Schindler, Datenhandbuch zur Geschichte des Deutschen Bundestages 1949 bis 1999, S. 2762, aufgeführte Statistik zur Bezweiflung der Beschlussfähigkeit, zu finden unter „Oppositionelles Verhalten“. 334

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den Fraktionen und fünf Prozent der Bundestagsmitglieder vorbehalten.341 § 42 GO-BT erlaubt Fraktionen und fünf Prozent der Bundestagsmitglieder, die Herbeirufung eines Mitglieds der Bundesregierung zu beantragen.342 Es handelt sich um klassische Minderheitenrechte,343 die teilweise eine beachtliche parlamentarische Tradition aufweisen. Fast floskelartig nutzt das Bundesverfassungsgericht die Begriffe Geschäftsgang und Disziplin und verweist regelmäßig auf die lange Parlamentstradition, um das Selbstorganisationsrecht und die Bedeutung weitgehender parlamentarischer Unabhängigkeit zu untermauern. Bei eingehender historischer Betrachtung des „Geschäftsganges“ lassen sich traditionelle Minderheitenrechte finden, deren weit zurückliegende parlamentarische Wurzeln zumindest einen Hinweis auf ihre herausragende Bedeutung für den parlamentarischen Minderheitenschutz geben. So sind Große Anfragen, namentlich Interpellationen bereits in der Geschäftsordnung der Frankfurter Nationalversammlung etabliert (§§ 50 ff.), in § 28 Abs. 1 GO-Abghs. Preußen 1849 findet das Interpellationsrecht ebenfalls seinen Platz und auch § 31a Abs. 1 GO-RT regelte seit dem 3. Mai 1912, dass Mitglieder des Reichstages Anfragen an den Reichskanzler stellen können. Seit der Weimarer Geschäftsordnung von 1922 werden „Kleine Anfragen“ auch so genannt.344 Diese Aufzählung der bedeutendsten – lediglich in der Geschäftsordnung des Bundestages verbürgten – parlamentarischen Minderheitenrechte ist weder abschließend noch hat sie den Anspruch, die Bestimmungen in ihrer Spezifik wie Konkretheit dem Kern verfassungsrechtlichen Minderheitenschutz zuzusprechen. Deutlich sollte werden, dass solche geschäftsordnungsrechtlichen Minderheitenrechte allesamt abgeschafft werden können. Dann bleiben nur die grundgesetzlich abgesicherten Minderheitenrechte. Diese allein genügen jedoch nicht, um den verfassungsgerichtlichen Anforderungen gerecht zu werden: Um die vom Bundesverfassungsgericht treffend vorgegebene Prämisse zu erfüllen – die Minderheit muss sich jederzeit in den parlamentarischen Willensbildungsprozess einbringen können –, muss die Minderheit auch in der Lage sein, sich in allen parlamentarischen Handlungsbereichen angemessen zu beteiligen. Bei den genannten Geschäftsordnungsrechten handelt es sich nicht etwa um originäre Verfassungsrechte. Das Grundgesetz gibt nicht einmal drei Lesungen vor, insofern kann z.B. nicht von einem zum verfassungsrechtlichen Minderheitenschutz gehörenden Fraktionsrecht auf Debatte zwischen den Beratungen (§§ 79 und 81 Abs. 1 GO-BT) ausgegangen 341

Das Bundesverfassungsgericht leitet Frage- und Informationsrechte des Deutschen Bundestages gegenüber der Bundesregierung und eine damit einhergehende Antwortpflicht aus Art. 38 Abs. 1 Satz 1 und 20 Abs. 2 Satz 2 GG ab, BVerfGE 137, 185 (230), vgl. zuletzt auch BVerfG, Beschluss vom 13. Juni 2017 – 2 BvE 1/15 –, juris. 342 Das ändert nichts daran, dass das Zitierrecht im Ergebnis ein Mehrheitsrecht ist, anders dagegen in manchen Bundesländern, dazu Lorz/Richterich, in: Morlok/Schliesky/Wiefelspütz, Parlamentsrecht, § 35 Rn. 65. 343 Vgl. auch Dreier, in: ders., GG, Bd. 2, Art. 20 (D) Rn. 70. 344 Die Vorschriften sind abgedruckt in Glüth/Kretschmer, Die Geschäftsordnungen deutscher Parlamente seit 1848, §§ 100, 104. Vgl. zur Einführung der Anfragen auch Schneider, FS Smend, S. 309.

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werden. Ebenso darf die Skizzierung nicht den Anschein erwecken, dass gerade den Fraktionen solche Rechte zustehen müssten:345 Die Verfassung regelt ausdrücklich nur ein einziges Fraktionsrecht, nämlich die Parteifähigkeit im Organstreitverfahren (Art. 93 Abs. 1 Nr. 1, 53a Abs. 1 Satz 2 GG). Dennoch fokussieren diese Normen – im geschäftsordnungsrechtlichen Verfahren eingebettet – wesentliche Beteiligungsmöglichkeiten parlamentarischer Minderheiten bei Gestaltung und Kontrolle. Auch das Bundesverfassungsgericht erkennt, dass das Parlamentsrecht von Verfassungs wegen wichtige Funktionen des Minderheitenschutzes zu erfüllen hat.346 In die Mehrheitsentscheidung gehe immer auch die geistige Arbeit und die Kritik der Minderheit ein.347 Eine Entleerung des parlamentarischen Minderheitenschutzes verbietet sich jedenfalls dahingehend, dass die Mehrheit der Minderheit die Möglichkeit nimmt – auch außerhalb von Wahlen – auf den demokratischen Prozess Einfluss zu nehmen. Es bedarf eines Mindestsaldos an Verfahrensgarantien,348 der die Gesetzgebungsfunktion mittels eines offenen Wettbewerbs der politischen Kräfte fördert und die Kontrollfunktion nicht vom Wohlwollen der Parlamentsmehrheit abhängig macht.349 Es existiert ein Kern parlamentarischen Minderheitenschutzes. Die im Falle einer Abschaffung oder Änderung von Vorschriften entstehende Schutzlücke für parlamentarische Minderheiten kann Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG nicht allein schließen. Bedeutende Geschäftsordnungsbestimmungen weisen sowohl einer Minderheit als auch den Fraktionen Rechte zu, weil dem einzelnen Abgeordneten solche Rechte aus Gründen der Parlamentsfunktionalität nicht zustehen sollen. Die Geschäftsordnung bietet nicht nur Minderheitenschutz. In erster Linie beschränkt sie die Abgeordnetenrechte, um einen geregelten Parlamentsablauf sicherzustellen. Sofern Fraktionen, die in der Verfassung lediglich beiläufig genannt sind, Rechte zuerkannt werden, die dem einzelnen Abgeordneten nicht zustehen, bedarf dies der Rechtfertigung.350 Nicht Art. 21 GG, sondern Art. 38 GG ist ihr Anknüpfungspunkt.351 Fraktionen sind nicht zuvörderst Parteien im Parlament,352 sondern Zusammenschlüsse von einzelnen Abgeordneten.353 Sie bestehen nicht nach Parteienrecht, sondern nach Parlamentsrecht. Dementsprechend handelt es sich bei exklusiven Fraktionsrechten um begründungsbedürftige Einschränkungen des Abgeordnetenstatus. Im Hinblick auf die Funktionsfähigkeit des parlamentarischen 345

Gegner solcher Fraktionsrechte insgesamt ist scheinbar Rossi, JZ 2016, 1169 (1170 f.). BVerfGE 70, 324 (366). 347 BVerfGE 5, 85 (199). 348 Vgl. ablehnend zu Verfahrensgarantien, die über die verfassungsrechtlichen Minderheitenrechte hinausgehen, Waack, in: Morlok/Schliesky/Wiefelspütz, Parlamentsrecht, § 22 Rn. 77, 88. 349 Vgl. dazu BVerfGE 142, 25 (57 f.). 350 Anschaulich Morlok, DVBl. 1991, 998 (999); ders., in: Dreier, GG, Bd. 2, Art. 38 Rn. 184. 351 Ders., DVBl. 1991, 998 (999). 352 In diese Richtung noch BVerfGE 10, 4 (14); 20, 56 (104); 70, 324 (350). 353 So BVerfGE 84, 304 (322); auch schon BVerfGE 80, 188 (219 f.). 346

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Ablaufs sind Rechtszuweisungen an mehr als einen einzelnen Abgeordneten aber auch verfassungsrechtlich gerechtfertigt. Fraktions- und Quorenrechte wirken insofern der Schwerfälligkeit des Plenums mit seinen mindestens 598 Abgeordneten entgegen. Könnten alle Abgeordneten die Rechte geltend machen, die die Geschäftsordnung den Fraktionen vorbehält, wäre die Handlungsfähigkeit des Parlaments gefährdet. Mittels der Abgeordnetenrechte können parlamentarische Minderheiten daher nur begrenzt Einfluss auf den Willensbildungsprozess nehmen. Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG eignet sich insofern zumindest nicht allein, eine grundgesetzliche Fundierung des Kernbestands parlamentarischen Minderheitenschutzes zu begründen. Gleichzeitig kann die Bestimmung sachgemäßer als das Demokratieprinzip als Ganzes Anknüpfungspunkt für subjektive Rechte von Minderheiten im Parlament sein und als solcher in Stellung gebracht werden. Der Kern parlamentarischen Minderheitenschutzes ist in Art. 20 Abs. 1 und 2, 38 Abs. 1 Satz 2 GG zu verorten. Da das Grundgesetz diesen für die Teilhabe am Willensbildungsprozess unabdingbaren Mindestsaldo an Verfahrensgarantien gewährleistet, hat ein verfassungsrechtlicher Minderheitenschutz als Bedingung des Mehrheitsprinzips eigenständige Substanz. Parlamentarischer Minderheitenschutz ist damit nicht nur die summative Zusammenschau von konkret geregelten Minderheitenrechten und Mandatsgleichheit. Wann Verfahrensgarantien nicht mehr gegeben sind, hat das Bundesverfassungsgericht im Einzelfall zu entscheiden. Es handelt sich um ein bewegliches und dynamisches System parlamentarischer Minderheitenrechte. Aufgabe der Staatsrechtslehre muss es sein, Rahmenbedingungen und Kriterien zu entwickeln. Nur das Bundesverfassungsgericht kann aber die Aufgabe übernehmen, die Reichweite des parlamentarischen Minderheitenschutzes punktuell zu bestimmen, wenngleich es dabei einmal mehr in seiner Funktion als Schiedsrichter über politische Entscheidungen herausgefordert sein wird.354 7. Einklagbarkeit von Minderheitenschutz In der Praxis werden Minderheitenrechte eher selten eingeklagt. Zu groß ist der politische Schaden für die jeweilige Mehrheit, wenn sie entgegen ausdrücklich getroffener Bestimmungen von ihnen abweicht und sich der Minderheit in den Weg stellt. Werden parlamentarische Minderheitenrechte jedoch missachtet, kommen zwei Rechtsschutzmöglichkeiten in Betracht: die abstrakte Normenkontrolle und das Organstreitverfahren. Im Wege der abstrakten Normenkontrolle nach Art. 93 Abs. 1 Nr. 2, §§ 13 Nr. 6, 76 ff. BVerfGG überprüft das Bundesverfassungsgericht die formelle Verfassungsmäßigkeit von Gesetzen. Es ist zwar durchaus denkbar, dass Minderheitenrechte im Rahmen des Gesetzgebungsprozesses verletzt werden. Es 354 Die nachvollziehbaren Schwierigkeiten des Gerichts, dieser politischen Rolle gerecht zu werden, sind unter anderem erkennbar in den Entscheidungen „Wunsiedel“ und „NPD-Spinner“, BVerfGE 124, 300; 136, 323.

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2. Kap.: Die Minderheitenrechte im Deutschen Bundestag

gibt allerdings nur wenige ausdrücklich geregelte Minderheitenrechte im Bereich der parlamentarischen Gestaltung. In der formellen Rechtmäßigkeitskontrolle wird aber gerade das Gesetzgebungsverfahren unter die Lupe genommen. Wenn nur wenige Gestaltungsrechte für die Minderheit existieren, kann das Bundesverfassungsgericht jedoch auch nur wenig überprüfen. Doch selbst wenn der Bundestag im Gesetzgebungsverfahren gegen Vorschriften aus der Verfassung verstößt, hat dies nicht notwendigerweise die Nichtigkeit des entsprechenden Gesetzes zur Folge. Es muss sich um einen evidenten Verstoß handeln, wesentliche Verfahrensvorschriften und nicht nur Ordnungsvorschriften müssen verletzt sein, damit das Gericht die Nichtigkeit des Gesetzes feststellt.355 Insofern hat es die jeweiligen Minderheitenrechte auf ihren Zweck hin zu untersuchen. Die konkrete Normenkontrolle kommt zwar theoretisch als Verfahren infrage, in dem das Bundesverfassungsgericht auch die Einhaltung verfassungsrechtlicher Minderheitenrechte überprüft. Vorlageberechtigt sind bei der „Richtervorlage“ gemäß Art. 100 Abs. 1 GG, § 13 Nr. 11, 80 ff. BVerfGG jedoch nur Gerichte und nicht die betroffenen parlamentarischen Minderheiten selbst.356 Für die Durchsetzung konkreter parlamentarischer Minderheitenrechte ist vielmehr das Organstreitverfahren nach Art. 93 Abs. 1 Nr. 1, §§ 13 Nr. 5, 63 ff. BVerfGG von zentraler Bedeutung. Ein Grund für die Schwierigkeit, parlamentarische Minderheitenrechte einzuklagen, ist auch die Anforderung an die Antragsberechtigung im Rahmen der abstrakten Normenkontrolle bzw. des Organstreitverfahrens. Für eine taugliche Antragsberechtigung im Normenkontrollverfahren bedarf es eines Antrages der Bundesregierung, einer Landesregierung oder eines Viertels der Mitglieder des Bundestages. Nicht jede Bundestagsminderheit kann folglich auch Rechte mit der abstrakten Normenkontrolle einklagen. Dies ist in der Praxis nur möglich, sofern sie ein Viertel der Mitglieder des Bundestages umfasst oder eine politisch „befreundete“ Landesregierung zur Klage bewegen kann.357 Nicht selten scheitert aber auch ein Organstreitverfahren an der fehlenden Parteifähigkeit i.S.v. § 63 BVerfGG. Träger von Minderheitenrechten sind Abgeordnete, ihre Zusammenschlüsse oder eine bestimmte Abgeordnetenanzahl. Betroffene Abgeordnete, Gruppen und Fraktionen sind parteifähig, nicht dagegen Abstimmungsminderheiten wie ein Zehntel, ein Fünftel, ein Viertel oder ein Drittel der Abgeordneten. Sie sind in Anzahl und Zusammensetzung verändernde Größen, die keinerlei institutionelle Existenz außerhalb der Beschlussfassung besitzen.358 Anders ist dies, wie bereits zu Beginn der 355

Vgl. zur Evidenz BVerfGE 91, 148 (175); zur Unterscheidung zwischen wesentlichen Verfahrensvorschriften und lediglich Ordnungsvorschriften BVerfGE 10, 221 (226 f.); 44, 308 (313); deutlicher VerfGH Bayern, NVwZ 1986, 464 (466). 356 Vgl. bezogen auf Geschäftsordnungsrecht Brocker, in: BK, GG, 150. EL Februar 2011, Art. 40 Rn. 240; Pietzcker, in: Schneider/Zeh, Parlamentsrecht und Parlamentspraxis, § 10 Rn. 46. 357 Siehe 2. Kapitel C. II. 5. 358 BVerfGE 2, 143 (163 f.); vgl. dazu auch Achterberg, Die parlamentarische Verhandlung, S. 45.

B. Minderheitenrechte in Zeiten qualifizierter Großer Koalitionen

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Untersuchung erörtert, lediglich im Fall von verfassungsrechtlich normierten Quorenrechten.359 Das Hauptproblem bei der Einklagbarkeit ist der taugliche Verfahrensgegenstand. Es braucht für die Nichtigkeitserklärung von Gesetzen (§ 78 BVerfGG) die Unvereinbarkeit des Gesetzes mit dem Grundgesetz (§ 76 Abs. 1 BVerfGG). Im Organstreit wird die Maßnahme oder Unterlassung des Antraggegners ebenfalls dahingehend überprüft, ob der Antragsteller durch sie in den ihm durch das Grundgesetz übertragenen Rechten verletzt ist (§ 64 Abs. 1 BVerfGG). Es existieren drei mögliche Anknüpfungspunkte für die Annahme der Verfassungswidrigkeit aufgrund von Verstößen gegen parlamentarische Minderheitenrechte: zunächst ausdrücklich in der Verfassung geregelte Minderheitenrechte, zweitens das Recht auf chancengleiche Teilhabe am Prozess der parlamentarischen Willensbildung nach Art. 38 Abs. 1 GG in Verbindung mit den normierten Minderheitenrechten aus Gesetz und Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages sowie drittens – nicht ausdrücklich im Grundgesetz geregelte – Verfahrensgarantien als Teil eines im Demokratieprinzip verankerten parlamentarischen Minderheitenschutzes. Zunächst können verfassungsrechtlich normierte Minderheitenrechte vor dem Bundesverfassungsgericht eingeklagt werden. Dies gilt sowohl für die im Grundgesetz angelegten Abgeordnetenrechte aus Art. 38 Abs. 2 Satz 1 GG als auch für die verfassungsrechtlichen Quorenrechte nach Art. 23 Abs. 1a Satz 2, 39 Abs. 3 Satz 3, 44 Abs. 1 Satz 1 und 45 Abs. 2 Satz 2 GG. Nur in Gesetzen und der Geschäftsordnung verankerte Minderheitenrechte scheiden als Verfahrensgegenstand im Rahmen von Normenkontroll- und Organstreitverfahren aus. Ein Urteil des Sächsischen Verfassungsgerichtshofs aus dem Jahr 2016 befasste sich mit der Ablehnung eines Antrages auf Durchführung einer Ausschussanhörung durch eine Fraktion. Das Antragsrecht ist in der dortigen Geschäftsordnung des Sächsischen Landtages als Fraktionsrecht ausgestaltet (§ 38 Abs. 2 Satz 1 GO-LT Sachsen). Das Gericht stellte fest, dass eine Ablehnung des Fraktionsantrages gegen das Recht auf chancengleiche Teilhabe am Prozess der parlamentarischen Willensbildung verstoße (Art. 39 Abs. 3 Verf. Sachsen): „Der Status formaler Chancengleichheit kommt als Maßstab überall zur Geltung, wo den Fraktionen durch Verfassung, Gesetz oder Geschäftsordnung eigene Rechte eingeräumt werden. Die Fraktionen sind von Verfassungs wegen befugt, diese Rechte in formal gleicher Weise auszuüben. Deren Durchsetzung darf nicht davon abhängen, ob sie sich in der Mehroder Minderheit befinden.“360

Zwar können richtigerweise nur grundgesetzlich geschützte Rechte vor dem Bundesverfassungsgericht eingeklagt werden. Die Wahrung von nicht-verfassungsrechtlichen Minderheitenrechten ist aber mit Art. 38 Abs. 1 GG und dem Recht 359

Siehe schon 1. Kapitel B. I. 1. VerfGH Sachsen, Urteil vom 27. Oktober 2016 – Vf. 134-I-15 –, juris Rn. 46; auch schon VerfGH Sachsen, LKV 1996, 21 (22). 360

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2. Kap.: Die Minderheitenrechte im Deutschen Bundestag

auf Chancengleichheit bei der parlamentarischen Teilhabe am Willensbildungsprozess verknüpft. Die Bezugnahme auf Art. 38 Abs. 1 GG und die daraus folgende Gleichheit von Abgeordneten wie Fraktionen und Gruppen führt dazu, dass mittelbar auch subjektive Rechte von parlamentarischen Minderheiten, die eben an einen solchen Status geknüpft sind, gerichtlich geltend gemacht werden können. Dies gilt sowohl für die abstrakte Normenkontrolle als auch für das Organstreitverfahren. Die Geschäftsordnung muss „fair und loyal“ angewandt werden.361 Das Urteil aus Sachsen ist insofern verallgemeinerungsfähig, dass Rechte nach Art. 38 Abs. 1 GG überall dort für alle gleichermaßen gelten müssen, wo sie Abgeordneten, Gruppen und Fraktionen eingeräumt werden.362 Kommt es also zu einer ungerechtfertigten Ungleichbehandlung bei der Ausübung von Minderheitenrechten liegt ein Verfassungsverstoß gegen Art. 38 Abs. 1 GG vor.363 Die vom Sächsischen Verfassungsgerichtshof aufgestellte Voraussetzung, es müsse sich bei dem Recht um ein solches handeln, das Ausdruck parlamentarischen Minderheitenschutzes ist, wird im Regelfall erfüllt sein. Auch hier sind die Minderheitenrechte auf ihren Zweck hin zu untersuchen. Gegen die Mandatsgleichheit und den daraus resultierenden Mitwirkungsanspruch der Abgeordneten und ihrer Zusammenschlüsse auf gleichberechtigte parlamentarische Teilnahme am Willensbildungsprozess kann auch nicht die geschäftsordnungsrechtliche Sondervorschrift des § 126 GO-BT in Stellung gebracht werden, vielmehr weist § 126 GO-BT schon im Wortlaut auf die „Bestimmungen des Grundgesetzes“ als Begrenzung der Abweichungsmöglichkeit hin. Nur verfassungsrechtlich verbürgte Rechte sind vor dem Bundesverfassungsgericht einklagbar. Obwohl das Gleichbehandlungsgebot von Abgeordneten und ihren Zusammenschlüssen nach Art. 38 Abs. 1 GG dazu führt, dass auch statusgebundene Minderheitenrechte aus Gesetz und Geschäftsordnung im Falle einer ungerechtfertigten Ungleichbehandlung einklagbar sind, bleibt es bei der von Jost Pietzcker getroffenen und vielzitierten Grundannahme, dass dauerhafter parlamentarischer Minderheitenschutz nicht durch die Geschäftsordnung, sondern nur durch das Grundgesetz gewährleistet werden kann.364 Denn Art. 38 Abs. 1 GG und die Mandatsgleichheit schützen wie oben bereits erörtert365 keineswegs davor, dass die Mehrheit die Geschäftsordnung dauerhaft ändert. Neben den ausdrücklich in der Verfassung geregelten Minderheitenrechten und den mittelbar über Art. 38 Abs. 1 GG geschützten Rechten sind nur solche Minderheitenrechte einklagbar, die zum oben skizzierten Kernbestand verfassungsrechtlichen Minderheitenschutzes in Form von elementaren Verfahrensgarantien gehören. 361

Vgl. BVerfGE 1, 144 (149); auch Schneider, FS 50 Jahre BVerfG, Bd. 2, S. 637. BVerfGE 93, 195 (204); 135, 317 (396); 142, 25 (61); auch BVerfGE 112, 118 (133); 130, 318 (354). 363 Wohl a.A. VerfGH Bayern, Entscheidung vom 9. Mai 2016 – Vf. 14-VII-14 –, juris Rn. 114. 364 Pietzcker, in: Schneider/Zeh, Parlamentsrecht und Parlamentspraxis, § 10 Rn. 33. 365 Siehe bereits 2. Kapitel B. II. 7. 362

B. Minderheitenrechte in Zeiten qualifizierter Großer Koalitionen

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8. Grenzen parlamentarischen Minderheitenschutzes Zunächst können Minderheitenrechte nur geltend gemacht werden, wenn ihr Erfordernis eines Fraktions-, Gruppenstatus oder Quorums erreicht werden. Der den Status oder das Quorum nicht erreichenden Minderheit steht das Minderheitenrecht gerade nicht zu. Im Übrigen darf die Funktionalität des Bundestages nicht durch eine unangemessene Bevorteilung der Minderheit gefährdet werden.366 Destruktive und aussichtslose Verlangen der Minderheit können die Arbeitsfähigkeit des Parlaments stören. Die Gleichheit der Abgeordneten und der damit verwandte Spiegelbildlichkeitsgrundsatz sind Teil und Grenze des Minderheitenschutzes zugleich.367 Sie sind bei einer Ausweitung der Minderheitenrechte immer im Blick zu behalten.

III. Verfassungsrechtliches Abhängigkeitsverhältnis von Mehrheitsprinzip und Minderheitenschutz Mehrheitsprinzip und Minderheitenschutz sind Teil des Demokratieprinzips. Sie haben Verfassungsrang,368 das Mehrheitsprinzip und der Kern parlamentarischen Minderheitenschutzes fallen in den Schutzbereich des Art. 79 Abs. 3 GG. Teilweise wird die Begrenzung des Mehrheitsprinzips durch Minderheitenrechte verneint. Grund dafür ist, dass es sich bei Minderheitenrechten stets um Antragsrechte handele, insofern lägen gar keine Beschlüsse i.S.v. Art. 42 Abs. 2 Satz 1 GG vor; es bestehe kein Widerspruch.369 Wenn dies auch zutreffend ist, gibt es keinen Zweifel an der stellenweisen Durchbrechung des Mehrheitsprinzips durch Rechtszuweisungen an Minderheiten.370 Der Minderheitenschutz ist aber vor allem Voraussetzung für die Akzeptanz des Mehrheitsprinzips,371 die Mehrheit kann sich dieser Voraussetzung folglich auch nicht entledigen. In zeitlicher Hinsicht ergänzen sich beide Prinzipien ebenfalls: Im Stadium des parlamentarischen Willensbildungsprozesses steht der offene Diskurs im Vordergrund, im Zeitpunkt der parlamentarischen Entscheidung das Majoritätsprinzip.372 Die Minderheitenrechte dürfen das Mehrheitsprinzip als

366 Kürschner, Die Statusrechte des fraktionslosen Abgeordneten, S. 120; zur Schwierigkeit der Bestimmung einer Behinderung parlamentarischer Verfahren durch die parlamentarische Minderheit Schmidt-Jortzig, FS Schnapp, S. 279. 367 BVerfGE 80, 188 (222); vgl. zum Verfahren der Sitzverteilung auch Lang, in: BerlK, GG, 21. EL September 2007, Art. 40 Rn. 23; Roll, Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages, § 12 Rn. 1 ff. 368 Vgl. Robbers, in: BK, GG, 137. EL Dezember 2008, Art. 20 Rn. 652. 369 Vgl. Morlok, in: Dreier, GG, Bd. 2, Art. 42 Rn. 39; andererseits seien die Minderheitenrechte eine Ausnahme des Mehrheitsprinzips, ders., in: Dreier, GG, Bd. 2, Art. 44 Rn. 11; Müller-Terpitz, in: BK, GG, 164. EL Dezember 2013, Art. 42 Rn. 77. 370 Vgl. auch BVerfGE 142, 25 (58). 371 Klein, in: Maunz/Dürig, GG, 69. EL Mai 2013, Art. 42 Rn. 74, 93. 372 Scherer, AöR 112 (1987), 189 (210).

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2. Kap.: Die Minderheitenrechte im Deutschen Bundestag

solches nicht in Frage stellen.373 Minderheitenschutz schützt nicht vor der Sachentscheidung der Mehrheit,374 die Letztentscheidung der Mehrheit bleibt unangetastet. Nur in diesem Ausgleich hat der Mehrheit-Minderheit-Dualismus im parlamentarischen Willensbildungsprozess eine integrative Wirkung.

IV. Verschiebung der verfassungspolitischen Ordnung durch qualifizierte Große Koalitionen Qualifizierte Große Koalitionen verschieben die Koordinaten zwischen Regierungsmehrheit und oppositioneller Minderheit im parlamentarischen Regierungssystem. Staatsorganisationsrechtliche Grundgesetzbestimmungen, namentlich die minderheitenschützenden Quorenrechte, verlieren in Zeiten qualifizierter Großer Koalitionen an Wirkungskraft. Das parlamentarische Regierungssystem lebt vom Wechselspiel zwischen Regierung und Regierungsmehrheit einerseits sowie parlamentarischer Opposition andererseits. Je mandatsstärker die Regierungskoalition, desto mandatsschwächer ist die Opposition. Eine qualifizierte Große Koalition führt zu verminderten Wirkungsmöglichkeiten der parlamentarischen Opposition, der in besonderer Form die Regierungskontrolle obliegt.375 Je stärker die Regierungskontrolle, desto wirksamer ist das parlamentarische System.376 Kontrolle meint Handlungsüberprüfung und gleichzeitige Eingriffsfähigkeit.377 Die Handlungsüberprüfung ist durch eine geringere Anzahl von Parlamentariern der Opposition zumindest erschwert. Für die Kontrollaufgabe stehen der parlamentarischen Opposition gerade die verfassungsrechtlichen Minderheitenrechte in Form der Quorenrechte zur Verfügung, deren notwendige Mandatsanzahl sie aber während einer qualifizierten Großen Koalition verfehlt. Folglich ist die Eingriffsfähigkeit durch das Nicht-Erreichen der Quoren in Zeiten qualifizierter Großer Koalitionen gestört. Sofern die Große Koalition nicht qualifiziert ist, kann ein Erreichen der minderheitenschützenden Quoren dennoch scheitern, weil ein Zusammenwirken der Oppositionsfraktionen aus politischen Gründen ausgeschlossen ist:378 Parlamentarische Regierungskontrolle durch die Opposition379 ist dann, z.B. wie während der nicht-qualifizierten Großen Koalitionen 373 Sie dürfen es durchaus „antasten“, a.A. Kürschner, Die Statusrechte des fraktionslosen Abgeordneten, S. 120. 374 Dazu nur BVerfGE 112, 118 (141). 375 Siehe 2. Kapitel C. III. 2. 376 Schneider/Zeh, in: dies., Parlamentsrecht und Parlamentspraxis, § 48 Rn. 9. 377 Vgl. aus politikwissenschaftlicher Sicht sowohl Krause, ZParl. 30 (1999), 534 (535 f.), als auch Rudzio, Das politische System der Bundesrepublik Deutschland, S. 235. 378 Siehe dazu 6. Kapitel C. 379 Vgl. Udo Di Fabios Aussagen bei Berres, Verfassungsrechtler warnt vor Macht der Großen Koalition, 20. 10. 2013, http://www.spiegel.de/politik/deutschland/udo-di-fabio-verfas sungsrechtler-warnt-vor-der-grossen-koalition-a-928899.html, zuletzt geprüft am 26. 4. 2018:

C. Herleitung spezifischer Oppositionsrechte aus dem Grundgesetz

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in der 16. und aktuellen 19. Wahlperiode, auf die Zusammenarbeit der Oppositionsfraktionen angewiesen.380 Regierungsinterne Kontrolle allein vermag dies nicht zu kompensieren, selbst wenn das Verhältnis der Regierungsabgeordneten zur eigenen Regierung distanzierter sein kann als in Zeiten Kleiner Koalitionen.381 Zwar existiert kein Oppositionsmonopol für die parlamentarische Opposition.382 Die Rolle des Bundesrates und des Bundesverfassungsgerichts können sich in Zeiten Großer Koalitionen verändern.383 Ihre Aufgabenbereiche bleiben jedoch identisch. Sie können eine parlamentarische Opposition nicht ersetzen. Das Grundgesetz unterteilt die Kategorien Mehrheit und Minderheit, an keiner Stelle Koalition und Opposition. Ungeachtet dessen können Verfassungserwartungen in den Blick genommen werden. Das Grundgesetz weist unter Verwendung von unterschiedlichen Mehrheitsanforderungen auf die politische Rollenzuweisung von Koalitionsmehrheit und Oppositionsminderheit im parlamentarischen Regierungssystem der Bundesrepublik hin. Für Gestaltungsentscheidungen braucht es Mehrheiten, für bedeutende Kontrollmaßnahmen braucht es qualifizierte Minderheiten. Bei der qualifizierten Großen Koalition handelt es sich nicht um eine mit dem parlamentarischen Regierungssystem im Widerspruch befindliche Mehrheitsfindung.384 Sie paralysieren die parlamentarische Demokratie nicht, aber sie sind institutionell-normativ auch nicht erwünscht.385

C. Herleitung spezifischer Oppositionsrechte aus dem Grundgesetz Die Wirkungschancen der Opposition sind ohne die Wahrnehmungsmöglichkeit der Minderheitenrechte eingeschränkt. Das Bundesverfassungsgericht betonte schon in seiner Entscheidung zum Flick-Untersuchungsausschuss die Bedeutung parla-

An einer Großen Koalition sei nichts „verfassungsrechtlich Anrüchiges“, doch würde sie „die übliche Balance der Gewaltenteilung verändern“. 380 Dies kann theoretisch auch in Zeiten Kleiner Koalitionen der Fall sein; wenn es in der 19. Wahlperiode zu einer „Jamaika-Koalition“ gekommen wäre, hätte keine der Oppositionsfraktionen von sich aus das Viertel- oder gar Drittelquorum erreicht. 381 Leisner, DÖV 2014, 880 (883). Siehe bereits 1. Kapitel B. II. 5. d). 382 Ingold, ZRP 2016, 143 (144). 383 Aus politikwissenschaftlicher Sicht Friedel, Außer Kontrolle? Die parlamentarische Kontrolle der Exekutive durch die Opposition unter den Bedingungen der Großen Koalition 2013, 9. 12. 2013, http://www.uni-regensburg.de/philosophie-kunst-geschichte-gesellschaft/fo rum-rp/medien/frp_working_paper_05_2013.pdf, S. 8 f., zuletzt geprüft am 26. 4. 2018. 384 A.A. aus der Politikwissenschaft bei Woyke, in: Andersen/Woyke, Handwörterbuch des politischen Systems der Bundesrepublik Deutschland, S. 310. 385 Seemann/Bukow, in: dies., Die Große Koalition, S. 15, ebenfalls aus dem politikwissenschaftlichen Schrifttum.

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2. Kap.: Die Minderheitenrechte im Deutschen Bundestag

mentarischer Kontrolle. Das Grundgesetz sei derart auszulegen, dass parlamentarische Kontrolle wirksam sei.386 Wie beschrieben werden der Opposition auf Bundesebene keine spezifischen Rechte in der Verfassung, in Gesetzen387 oder der Geschäftsordnung zugewiesen. Träger von Minderheitenrechten ist nicht die Opposition. Es bleibt aber möglich, dass der Verfassung – wenn auch nicht ausdrücklich – Oppositionsrechte durch Auslegung zu entnehmen sind. Neben Abgeordnetenrechten bleiben in der Regel auch Gruppen- bzw. Fraktionsrechte für die parlamentarische Opposition verfügbar. Die Verfassung enthält jedoch vor allem bedeutende Quorenrechte. Daher ist zunächst zu fragen, ob das Grundgesetz dahingehend ausgelegt werden kann, dass die parlamentarische Opposition bestimmte Minderheitenrechte wahrnehmen können muss. In diesem Fall ständen die Minderheitenrechte auch der parlamentarischen Opposition zu – in welcher Form auch immer. Es käme in Zeiten qualifizierter Großer Koalitionen nicht exklusiv auf die Erreichung der Minderheitenquoren an.

I. Herleitung eines verfassungsrechtlichen Grundsatzes effektiver Opposition durch das Bundesverfassungsgericht Das Grundgesetz erwähnt die parlamentarische Opposition an keiner Stelle. Die Gemeinsame Verfassungskommission, 1991 von Bundestag und Bundesrat eingesetzt, um notwendige und wünschenswerte Grundgesetzänderungen nach der Wiedervereinigung zu diskutieren und zu formulieren, lehnte eine Fixierung der Opposition im Grundgesetz ab.388 Nach Ansicht der Befürworter einer solchen grundgesetzlichen Verankerung des Oppositionsbegriffs sollte die verfassungshistorische Entwicklung entsprechende Würdigung erhalten und das Grundgesetz den Landesverfassungen darin folgen. Dagegen sahen die Gegner einer Normierung keinen Bedarf für eine Nennung der Opposition in der Verfassung, weil sie aufgrund vorhandener höchstrichterlicher Rechtsprechung lediglich deklaratorisch sei und die dem Grundgesetz nicht bekannte Unterscheidung zwischen Koalition und Opposition mehr Fragen aufwürfe, als sie beantworte.389 Tatsächlich entwickelte das Bundesverfassungsgericht eine umfängliche Rechtsprechung zur parlamentarischen Opposition. Das Urteil zum Organstreit der Fraktion DIE LINKE gegen den Deutschen Bundestag aus dem Jahr 2016, in dem es einen verfassungsrechtlichen Grundsatz effektiver Opposition proklamiert, rekurriert auf jahrzehntelange –

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BVerfGE 67, 100 (130). Siehe aber § 50 Abs. 2 Satz 1 AbgG, dazu 4. Kapitel. 388 BT-Drs. 12/6000, S. 89 f. 389 BT-Drs. 12/6000, S. 90; vgl. auch die Bewertung bei Pieroth/Haghgu, Stärkung der Rechte der Abgeordneten und der Opposition im Landesverfassungsrecht, S. 97. 387

C. Herleitung spezifischer Oppositionsrechte aus dem Grundgesetz

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größtenteils oppositionsfreundliche – Rechtsprechungslinien390 und bildet ihren vorläufigen Höhepunkt.391 Das Bundesverfassungsgericht erkennt im Demokratieprinzip den ersten von drei Anknüpfungspunkten für den Schutz parlamentarischer Opposition.392 Erstmals zählte es die Bildung und Ausübung parlamentarischer Opposition im Urteil zum Parteiverbot der SRP von 1952 zu den die freiheitlich demokratische Grundordnung konstituierenden Prinzipien.393 Vier Jahre später hob das Gericht die Bedeutung von Diskussionsfreiheit, die Möglichkeit politischen Machtwechsels und die Wirkung der Minderheitsmeinung auf die Mehrheitsentscheidung im Parteiverbotsverfahren gegen die KPD hervor.394 1977 stellte es im Urteil zur Beschlussfähigkeit des Bundestages nochmals fest, dass es der oppositionellen Minderheit zustehe, ihre eigenen politischen Ansichten im Plenum vorzutragen und die Vorstellungen der Mehrheit zu kritisieren.395 Die Sachentscheidung der Mehrheit bleibe dadurch unangetastet.396 Zusätzlich leite sich das Recht auf parlamentarisches Opponieren aus dem Rechtsstaatsprinzip ab. Die dort verankerte Gewaltenteilung verlange unter anderem gegenseitige Gewaltenkontrolle.397 Schon im Urteil zum EVG-Vertrag von 1952 machte das Bundesverfassungsgericht deutlich, dass es nicht nur das Recht der Opposition sei, sondern ihre Pflicht, verfassungsrechtliche Bedenken gegenüber Regierung und Bundestagsmehrheit zu äußern.398 Außerdem erkannte es schon früh, dass das parlamentarische Regierungssystem eine Funktions- und Aktionseinheit399 von Parlamentsmehrheit und Regierung fördere:400 Nicht exklusiv, aber in besonderer Weise obliege den Abgeordneten der Parlamentsopposition daher die Kontrolle des Regierungshandelns:401 „Das ursprüngliche Spannungsverhältnis zwischen Parlament und Regierung, wie es in der konstitutionellen Monarchie bestand, hat sich in der parlamentarischen Demokratie, deren 390 Starski, DÖV 2016, 750, spricht von einem „Lehrstück in Sachen höchstrichterlicher Rechtsfortbildung“. 391 BVerfGE 142, 25 (55 f.); vgl. im Folgenden die anschauliche Rechtsprechungsübersicht bei Diehl, in: Scheffczyk/Wolter, Linien der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, Bd. 4, S. 495 ff. 392 BVerfGE 2, 1 (13); später dann BVerfGE 44, 308 (321); 70, 324 (363); zuletzt BVerfGE 142, 25 (55 f.); differenzierend und anschaulich dazu Mundil, Die Opposition, S. 77 ff., 84. 393 BVerfGE 2, 1 (12 f.). 394 BVerfGE 5, 85 (199); darauf Bezug nehmend BVerfGE 123, 267 (367). 395 BVerfGE 44, 308 (321). 396 BVerfGE 70, 324 (363). 397 BVerfGE 142, 25 (56). 398 BVerfGE 2, 143 (170 f.). 399 Krause, ZParl. 30 (1999), 534 (545). 400 BVerfGE 10, 4 (19). 401 BVerfGE 142, 25 (56).

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2. Kap.: Die Minderheitenrechte im Deutschen Bundestag

Parlamentsmehrheit regelmäßig die Regierung trägt, gewandelt. Es wird nun vornehmlich geprägt durch das politische Spannungsverhältnis zwischen der Regierung und den sie tragenden Parlamentsfraktionen einerseits und der Opposition andererseits. Im parlamentarischen Regierungssystem überwacht daher in erster Linie nicht die Mehrheit die Regierung, sondern diese Aufgabe wird vorwiegend von der Opposition – und damit in der Regel von einer Minderheit – wahrgenommen.“402

Um das oppositionelle Aufgabentrias von Kontrolle, Kritik und Alternative403 erfüllen zu können, zuvörderst die Regierungskontrolle, dürfe die Opposition nicht auf das Wohlwollen der Parlamentsmehrheit angewiesen sein.404 Das Bundesverfassungsgericht hielt in seiner Entscheidung zum Flick-Untersuchungsausschuss 1984 fest, dass das Grundgesetz im Sinne einer möglichst weitreichenden parlamentarischen Kontrolle auszulegen sei, nicht zuletzt aufgrund der hervorgehobenen Stellung der Bundesregierung.405 Es bedürfe gerade einer effektiven Oppositionsarbeit, d.h. Wirkungsmöglichkeiten der Opposition. Die die Minderheit und Opposition verknüpfende Kontrollfunktion des Parlaments und ihre herausragende Bedeutung für das Verfassungsgefüge hob das Gericht auch in seinen Entscheidungen zu den Auslandseinsätzen der Bundeswehr hervor.406 Das Bundesverfassungsgericht bekräftigt dabei, dass sich die zentrale Rolle der Opposition im parlamentarischen Regierungssystem auch im Rechtsschutzsystem des Grundgesetzes widerspiegele. In diesem Zusammenhang hob das Bundesverfassungsgericht 2009 im Lissabon-Urteil wiederholt die Möglichkeit der parlamentarischen Minderheit und Opposition hervor, als Fraktion in Prozessstandschaft im Organstreit Rechte des Gesamtparlaments geltend machen zu können.407 Im Urteil zu den Minderheiten- und Oppositionsrechten von 2016 betonte das Bundesverfassungsgericht außerdem das individuelle Recht der Abgeordneten auf strukturelle wie situative Opposition, das sich aus der Freiheit und Gleichheit der Abgeordneten ableite. Geschützt werde dieses Oppositionsrecht durch die Verfassungsinstitute von Indemnität, Immunität und Zeugnisverweigerungsrecht gemäß 402

BVerfGE 49, 70 (85 f.); vgl. auch zu den Sperrklauseln bei Bundestags- und Europaparlamentswahlen BVerfGE 129, 300 (331); 135, 259 (293 f.). Die Frage, wer der Bundesregierung gegenübersteht – Parlament oder Opposition –, beschäftigte die Abgeordneten des Deutschen Bundestages auch schon 1964, siehe dazu den Dialog zwischen Will Rasner (CDU) und dem damaligen Innenminister Hermann Höcherl (CSU), in: BT-Plenarprotokoll 4/141 vom 23. Oktober 1964, S. 7057 (C); ebenfalls Uhle, ZG 33 (2018), 1 (7). 403 Zu den Oppositionsfunktionen Cancik, Parlamentarische Opposition in den Landesverfassungen, S. 150 ff.; Haberland, Die verfassungsrechtliche Bedeutung der Opposition nach dem Grundgesetz, S. 40 ff.; Poscher, AöR 122 (1997), 444 (454 f.); Voßkuhle, FS Schwarze, S. 285; ders., BayVBl. 2016, 289 (291); politikwissenschaftlich Ismayr, GWP 2016, 53 (54). 404 BVerfGE 49, 70 (85 ff., 87), auch BVerfGE 2, 1 (13); 5, 85 (199); 123, 267 (367); 142, 25 (57 f.). 405 BVerfGE 67, 100 (130). 406 Zum Antragsrecht der Oppositionsfraktionen im Organstreit BVerfGE 90, 286 (344); 117, 359 (367 f.). 407 BVerfGE 123, 267 (341 f.).

C. Herleitung spezifischer Oppositionsrechte aus dem Grundgesetz

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Art. 46 und 47 GG.408 Nachdem das Bundesverfassungsgericht auch schon vor seinem Urteil von 2016 auf die Unterscheidung zwischen Minderheit und Opposition hinwies,409 wird der rechtlichen Identifizierung von parlamentarischer Minderheit und Opposition spätestens in der jüngsten Entscheidung des Gerichts zu Oppositionsund Minderheitenrechten eine eindeutige Absage erteilt.410 Dennoch erkennt das Gericht die besondere Kontrollfunktion der Opposition an. Dem Grundgesetz sei zwar keine institutionelle Opposition, d.h. kein verfassungsrechtliches Subjekt Opposition,411 zu entnehmen. Die Oppositionsaufgabe übertrage das Grundgesetz allen Abgeordneten, also dem Parlament als Ganzen und nicht nur den Abgeordneten der Fraktionen, die nicht die Bundesregierung tragen. Es gebe aber einen Grundsatz funktionaler Opposition.412

II. Grundgesetzliche Quorenrechte als klassische Oppositionsrechte Das Grundgesetz regelt keine Oppositionsrechte, aber es erfasst einen allgemeinen Grundsatz funktionaler Opposition.413 Die parlamentarische Opposition erhält über Abgeordneten-, Gruppen-, Fraktions- und Quorenrechte die Möglichkeit, sich in den parlamentarischen Prozess einzubringen. Die Abgeordneten- und Fraktionsrechte standen der parlamentarischen Opposition auch in der 18. Wahlperiode zur Verfügung. Dagegen ist ein Erreichen der Minderheitenquoren, insbesondere der verfassungsrechtlichen Quorenrechte, in Phasen qualifizierter Großer Koalitionen ausschließlich mit den Stimmen der Opposition nicht möglich. Zu Beginn der Legislaturperiode fehlten für das Erreichen des Viertelquorums 31 Stimmen, für das Drittelquorum sogar 84 Stimmen.414 Daher bleibt zu fragen, ob trotz der verlangten Abgeordnetenzahl mittels einer verfassungskonformen Auslegung zugunsten einer effektiven Oppositionsarbeit von Quoren abgewichen werden kann. Das Bundesverfassungsgericht verneint eine solche Verfassungsauslegung mit Verweis auf den ausdrücklichen Wortlaut der genannten Vorschriften.415 Aus diesem Grund lässt es größtenteils offen, ob es sich nach Ansicht des Gerichts bei den 408

BVerfGE 142, 25 (57). Vgl. z.B. auch BVerfGE 70, 324 (363); 105, 197 (224 f.); 124, 78 (107). 410 Vielmehr rückt das Mandat des einzelnen Abgeordneten in den Fokus der Argumentation, die Gleichheit der Abgeordneten verhindere gerade eine Kongruenz von Parlamentsminderheit und -opposition. Es bedürfe auch der parlamentarischen Kontrolle durch die Abgeordneten der Regierungskoalition, zumindest müsse ihnen ein gleichrangiges Recht zur Opposition zustehen. 411 BVerfGE 142, 25 (48 f.). 412 BVerfGE 142, 25 (55). Zur Ausgestaltung dieses Grundsatzes und seinen konkreten Folgen wird im Rahmen der einzelnen Verfassungsfragen Stellung bezogen, siehe auch 6. Kapitel C. 413 BVerfGE 142, 25 (55). 414 Nach dem Mandatsverzicht der Abgeordneten Katherina Reiche (CDU) am 4. September 2015 sank die Abgeordnetenzahl auf 630. 415 BVerfGE 142, 25 (65). 409

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2. Kap.: Die Minderheitenrechte im Deutschen Bundestag

minderheitenschützenden Quorenrechten im Grundgesetz um „essentielle Oppositionsrechte“416 handelt. Dennoch implizieren die Ausführungen des Bundesverfassungsgerichts, dass die Charakterisierung von Minderheitenrechten als essentielle Oppositionsrechte Prüfungsvoraussetzung für eine mögliche teleologische Reduktion der Normen ist. Dieser Frage soll daher zunächst nachgegangen werden. Sie ist systematisch vorgelagert. Da sich jedoch eine Trennung der parlamentarischen Opposition von ihren „essentiellen Oppositionsrechten“ von vornherein begrifflich ausschließt, wird hier der Begriff „klassische Oppositionsrechte“ genutzt. Die Bezeichnung „Oppositionsrechte“ soll zudem nicht darüber hinwegtäuschen, dass auch anderen Akteuren als der Opposition die Geltendmachung der Minderheitenrechte zusteht. Insofern handelt es sich vor allem um Oppositionsmittel. Das Grundgesetz ist folglich dahingehend zu überprüfen, ob die minderheitenschützenden Quorenrechte auch klassische Oppositionsrechte417 ausgestalten, also gerade für die Wahrnehmung effektiver Oppositionsausübung notwendig sind. Denn nur hinsichtlich solcher Oppositionsrechte kann eine verfassungskonforme Auslegung im Sinne einer teleologischen Reduktion418 der Minderheitenquoren überhaupt in Betracht gezogen werden. 1. Subsidiaritätsklage Im Zuge der Umsetzung des Lissabon-Vertrages wurde Art. 23 Abs. 1a Satz 2 GG mit Wirkung zum 1. Dezember 2009 in das Grundgesetz eingefügt. Die Vorschrift des Art. 23 Abs. 1a Satz 1 GG regelt die Subsidiaritätsklage vor dem Europäischen Gerichtshof: Bundestag und Bundesrat haben das Recht wegen eines Verstoßes von Unionsrechtsakten gegen Primärrecht, namentlich den Subsidiaritätsgrundsatz gemäß Art. 5 EUV, vor dem Europäischen Gerichtshof Klage zu erheben. Die Klage wird lediglich von der Bundesregierung im Namen des nationalen Parlaments übermittelt, es handelt sich um ein von der Bundesregierung unabhängiges und mittelbares Klagerecht.419 Auf Unionsrechtsebene ist diese Klagemöglichkeit nationaler Parlamente in Art. 12 lit. b EUV und Art. 8 des Subsidiaritätsprotokolls normiert, sie ist in das Regelungsregime der Nichtigkeitsklage nach Art. 263 AEUV eingefügt. Mit der Verankerung der Subsidiaritätsklage im Grundgesetz glich der Verfassungsgeber das nationale Recht dem Unionsrecht an. Art. 23 Abs. 1a Satz 2 GG regelt ein Minderheitenrecht. Danach ist der Bundestag verpflichtet die Subsidiaritätsklage vor dem Europäischen Gerichtshof zu erheben, sofern ein Viertel der Mitglieder des Bundestages dies beantragen.420 416

BVerfGE 142, 25 (64 f.). Vgl. diese Wortwahl in BVerfGE 142, 25 (64 f.). 418 BVerfGE 142, 25 (65). 419 Schorkopf, in: BK, GG, 153. EL August 2011, Art. 23 Rn. 108. 420 Zur möglichen Unionsrechtswidrigkeit eines solchen Minderheitenrechts UerpmannWittzack/Edenharter, EuR 2009, 313 (314 ff.); Melin, EuR 2011, 655 (674 ff.); auch Classen, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, Bd. 2, Art. 23 Rn. 61. 417

C. Herleitung spezifischer Oppositionsrechte aus dem Grundgesetz

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Fraglich aber ist, ob es sich bei Art. 23 Abs. 1a Satz 2 GG, § 12 Abs. 1 Satz 1 IntVG um ein klassisches Oppositionsrecht handelt. Erst dann kann überhaupt in Erwägung gezogen werden, ob ein solches Minderheitenrecht der parlamentarischen Opposition – in welcher Weise auch immer – gleichermaßen in Zeiten qualifizierter Großer Koalitionen zugänglich sein muss. Eine grammatikalische Auslegung spricht für die Subsidiaritätsklage als Oppositionsrecht. Gerade weil das vom Grundgesetz vorgegebene parlamentarische Regierungssystem die Dichotomie zwischen Parlamentsmehrheit und Regierung einerseits sowie der Parlamentsopposition andererseits fokussiert, weist die Durchbrechung des Mehrheitsprinzips durch minderheitenschützende Quorenrechte durchaus auf ein Oppositionsrecht hin. Systematisch lässt sich dies unterstreichen. Denn das Verlangen eines Viertels der Mitglieder des Bundestages ist dem parlamentarischen Kontrollrecht auf Einsetzung eines Untersuchungsausschusses nach Art. 44 Abs. 1 GG nachempfunden.421 Außerdem verdeutlichen die Sonderregelungen zur Subsidiaritätsklage in § 126a Abs. 1 Nr. 4 und 5 GO-BT a.F. für die 18. Wahlperiode die parlamentarische Auffassung, die Klagemöglichkeit müsse auch von der Opposition ausgehen können. Dahingehend lassen sich auch die Aussagen mancher Abgeordneter in der Parlamentsdebatte zur Schaffung von Art. 23 Abs. 1a GG verstehen: „Es besteht die Möglichkeit, dass die Opposition, wenn sie über ein bestimmtes Quorum der Mitglieder des Deutschen Bundestages verfügt, gegen europäische Vorhaben mit der Subsidiaritätsklage vorgehen kann. Ich denke, dieses Oppositionsrecht ist beispielhaft und fraktionsübergreifend begrüßenswert.“422

Anderenorts wird die neutralere Beobachtung konstatiert, dass die nationalen Parlamente insgesamt durch das Recht der Subsidiaritätsrüge und der Subsidiaritätsklage gestärkt würden.423 Auch in der wissenschaftlichen Auseinandersetzung wird der Subsidiaritätsklage zwar minderheitenschützende Wirkung zugesprochen,424 einem klassisch-oppositionellen Charakter des Art. 23 Abs. 1a Satz 2 GG wird aber zumeist eine Absage erteilt.425 Gegen die Subsidiaritätsklage als Oppositionsrecht spricht zunächst die zusätzliche Klagemöglichkeit des Bundesrates nach Art. 23 Abs. 1a Satz 1 GG. Zwar regelt Art. 23 Abs. 1a Satz 3 GG auch für den Bundesrat die Möglichkeit der Abweichung vom Mehrheitsprinzip nach Art. 53 Abs. 3 Satz 1 GG. In der Länderkammer wäre insofern ebenfalls ein „Minderheitenschutz“ möglich.426 Dennoch weist die Klagemöglichkeit des Bundesrates auf den 421

Siehe 2. Kapitel C. II. 3. Carl-Christian Dressel (SPD), in: BT-Plenarprotokoll 16/151 vom 13. März 2008, S. 15853 (A). 423 Andreas Schockenhoff (CDU), in: BT-Plenarprotokoll 16/151 vom 13. März 2008, S. 15840 (B). 424 Scholz, in: Maunz/Dürig, GG, 56. EL Oktober 2009, Art. 23 Rn. 112. 425 Statt Vieler nur Cancik, NVwZ 2014, 18 (23). 426 Im Übrigen nimmt der Bundesrat diese Möglichkeit auch informell wahr: Vgl. dazu den Beschluss der Ministerpräsidentenkonferenz vom 14. April 2005. Hier hatten sich die Länder darauf verständigt, „die Initiative eines Landes zur Erhebung einer Subsidiaritätsklage zu 422

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2. Kap.: Die Minderheitenrechte im Deutschen Bundestag

objektiven Rechtsschutzcharakter der Subsidiaritätsklage hin. Nationale Parlamente müssen im Zuge der Subsidiaritätsklage nach Art. 263 Abs. 2 AEUV zudem keine eigenen Rechtsverletzungen geltend machen.427 Das spricht gegen die Subsidiaritätsklage als genuines Oppositionsrecht. Dagegen plädiert das Bundesverfassungsgericht in seinem Lissabon-Urteil scheinbar für die Bedeutung der Subsidiaritätsklage als oppositionelles Mittel: „Sinn und Zweck der vorgesehenen Klagepflicht des Deutschen Bundestages liegen darin, der Parlamentsminderheit die Befugnis zur Geltendmachung der Rechte des Deutschen Bundestages auch dann zu erhalten, wenn dieser seine Rechte, insbesondere im Verhältnis zu der von ihm getragenen Bundesregierung, nicht wahrnehmen will. Den Oppositionsfraktionen und damit der organisierten parlamentarischen Minderheit als dem Gegenspieler der Regierungsmehrheit soll der Rechtsweg zum Gerichtshof der Europäischen Union eröffnet werden, um die tatsächliche Geltendmachung der dem Parlament im europäischen Integrationsgefüge vorbehaltenen Rechte zu ermöglichen“428.

Das Gericht erkennt, dass sowohl der die politischen Leitlinien der Europäischen Union vorgebende Europäische Rat (Art. 15 EUV) als auch der maßgeblich an der Gesetzgebungsarbeit beteiligte Ministerrat (Art. 16 EUV) mit Regierungsmitgliedern der Mitgliedstaaten besetzt ist. Eine strukturelle Interessenkongruenz429 zwischen Europäischer Union und Regierungsmehrheit besteht jedoch nicht in dem Maße wie bei Bundesregierung und Bundestagsmehrheit. Bei der Subsidiaritätsklage geht es nicht um ein klassisches Kontrollrecht im parlamentarischen Regierungssystem, sondern primär um die Einbindung der Legislativorgane in die Kontrolle der europäischen Rechtssetzung. Anders als im nationalen Kontext, kann in supranationalen Beziehungen durchaus noch in der Kategorie eines einheitlichen Parlaments gedacht werden. Es geht um ganzparlamentarische Kontrolle von supranationalen Institutionen im Außenverhältnis. Auch die Gesetzesbegründungen weisen auf parlamentarische Mitwirkungsrechte in Form von Minderheitenrechten hin, nicht aber auf eine etwaige Stärkung von oppositionellen Handlungsmöglichkeiten.430 So unterstützen, wenn das klagebegehrende Land sich darauf beruft, dass das Subsidiaritätsprinzip, die Kompetenzordnung oder die Verhältnismäßigkeit verletzt sind.“ Auf Anfrage beim Bundesrat, gelte diese Vereinbarung aus Zeiten vor dem Lissabon-Vertrag im Zweifel noch immer. Voraussetzung für eine derartige Klage wäre jedenfalls ein Beschluss des Bundesrates, der auf Antrag eines Landes im Plenum nach den allgemeinen Vorgaben der Geschäftsordnung des Bundesrates zu fassen wäre. Dazu auch Mayer, in: Morlok/Schliesky/Wiefelspütz, Parlamentsrecht, § 43 Rn. 247; Wollenschläger, in: Dreier, GG, Bd. 2, Art. 23 Rn. 107; schon kritisch Kirchhof, DÖV 2004, 893 (900); ausführlich Schwanenengel, DÖV 2014, 93 (96). 427 Ausführlicher dazu Uerpmann-Wittzack/Edenharter, EuR 2009, 313 (317). 428 BVerfGE 123, 267 (431). 429 Uerpmann-Wittzack/Edenharter, EuR 2009, 313 (322); Uerpmann-Wittzack, in: v. Münch/Kunig, GG, Bd. 1, Art. 23 Rn. 64; a.A. wohl bei Mayer, in: Morlok/Schliesky/ Wiefelspütz, Parlamentsrecht, § 43 Rn. 236; Schorkopf, in: BK, GG, 153. EL August 2011, Art. 23 Rn. 111. 430 Siehe die Begründung des Gesetzentwurfs, BT-Drs. 16/8488, S. 4; auch die Beschlussempfehlung und den Bericht des Innenausschusses, BT-Drs. 16/8912, S. 4.

C. Herleitung spezifischer Oppositionsrechte aus dem Grundgesetz

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wurde ein Änderungsantrag der damaligen Oppositionsfraktion DIE LINKE auf Zuweisung der Klagemöglichkeit an Fraktionen von allen anderen regierungstragenden wie oppositionellen Fraktionen abgelehnt.431 So sollte die missbräuchliche Ausübung des Minderheitenrechts verhindert werden.432 Die Vorschrift dient dem Schutz vor einem rechtswidrigen Kompetenzzugriff durch die Europäische Union, dessen Durchsetzung auch Minderheiten in beiden Gesetzgebungsorganen möglich sein soll. Folglich schützt Art. 23 Abs. 1a Satz 2 GG nicht zuvörderst die parlamentarische Opposition, auch wenn sie regelmäßig und de facto an Einflussmöglichkeiten gewinnt.433 Das Minderheitenrecht der Subsidiaritätsklage beim Europäischen Gerichtshof wurde bisher nicht ein einziges Mal in Anspruch genommen.434 Dagegen wurde bereits mehrmals eine Subsidiaritätsrüge erhoben.435 Sie stellt im europäischen Gesetzgebungsverfahren eine Art Frühwarnsystem dar, hier werden die Mitgliedstaaten frühzeitig beteiligt. Für eine solche Subsidiaritätsrüge braucht es jedoch in Bundestag bzw. Bundesrat anders als bei der Subsidiaritätsklage einen Mehrheitsbeschluss (§ 11 Abs. 1 IntVG, für den Bundestag § 93c GO-BT). Wenn aber solche Kontrollmaßnahmen gegenüber der Europäischen Union von Parlamentsmehrheiten abhängen und bereits wahrgenommen wurden, macht dies gerade die Wirksamkeit ganzparlamentarischer Kontrolle im Außenverhältnis sichtbar. Eine teleologische Auslegung spricht folglich dafür, Art. 23 Abs. 1a Satz 2 GG als Minderheitenrecht, nicht aber als Oppositionsrecht im klassischen Sinne zu begreifen. Die Subsidiaritätsklage ist kein – „essentielles“ – Oppositionsrecht. 2. Sitzungseinberufung Grundsätzlich bestimmt der Bundestag Schluss und Wiederbeginn seiner Sitzungen, Art. 39 Abs. 3 Satz 1 GG. Das Selbstversammlungsrecht ist Teil der Parlamentsautonomie.436 Nach Art. 39 Abs. 3 Satz 3 GG, § 21 Abs. 2 GO-BT ist der Bundestagspräsident zudem dazu verpflichtet, den Bundestag für Sondersitzungen früher einzuberufen, wenn ein Drittel der Mitglieder des Bundestages, der Bundespräsident oder der Bundeskanzler es verlangen. 431

BT-Drs. 16/8912, S. 4 f. BT-Drs. 16/8488, S. 4. 433 Uerpmann-Wittzack/Edenharter, EuR 2009, 313. 434 Eine Anfrage beim Europäischen Gerichtshof ergab, dass es bisher überhaupt noch keine Klage i.S.d. Art. 8 des Subsidiaritätsprotokolls gab. In den Rechtssachen C-176/09, C-508/13 sowie C-358/14 (es handelt sich um Klagen Luxemburgs, Estlands und Polens) wird das Subsidiaritätsprotokoll erwähnt. Es handelt sich aber um klassische Klagen eines Mitgliedsstaates, in denen unter anderem ein Verstoß gegen das Subsidiaritätsprinzip gerügt wird. Es gab bisher keine Klagen, die nach Art. 8 des Subsidiaritätsprotokolls von dem betreffenden Mitgliedstaat im Namen seines nationalen Parlaments oder einer Kammer dieses Parlaments übermittelt wurden. 435 Zum Verfahren der Subsidiaritätsrüge in Bundestag und Bundesrat Becker, ZPol. 23 (2013), 5 (15 ff.). 436 Beispielhaft Klein, in: Maunz/Dürig, GG, 50. EL Juni 2007, Art. 40 Rn. 31. 432

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2. Kap.: Die Minderheitenrechte im Deutschen Bundestag

Auch hier steht in Frage, ob Art. 39 Abs. 3 Satz 3 GG lediglich ein minderheitenschützendes Verfahrensrecht437 oder ein Recht ist, auf das die parlamentarische Opposition zur Wahrnehmung ihrer Kontroll-, Kritik- und Alternativfunktion angewiesen ist. Nur auf den ersten Blick spricht die Rechtszuweisung an den Bundespräsidenten und Bundeskanzler gegen das Einberufungsrecht als klassisches Oppositionsrecht. Dem Bundespräsidenten steht das Einberufungsrecht zu, weil er aufgrund seiner Stellung als Staatsoberhaupt speziell in Krisenzeiten die Möglichkeit zur Einflussnahme auf das parlamentarische Geschehen haben soll. Insofern kommt ihm eine politische Reservefunktion zu.438 Der Bundeskanzler soll ein Einberufungsrecht haben, weil er vom Vertrauen des Parlaments abhängig ist. Sein Einberufungsrecht steht in Verbindung mit seinem Recht, jederzeit vom Parlament und seinen Ausschüssen angehört zu werden.439 Die Zuweisung des Einberufungsrechts an den Bundeskanzler spricht im parlamentarischen Regierungssystem sogar für eine Klassifizierung des Minderheitenrechts als Oppositionsrecht. Einem Ungleichgewicht zugunsten der Bundesregierung wird so entgegengesteuert. Der Parlamentsminderheit dagegen wird mit dem Einberufungsrecht440 in vielerlei Hinsicht ein Oppositionsmittel in die Hand gegeben: Es dient zunächst als Kontrollmittel gegen die Bundesregierung und die Bundestagsmehrheit.441 Es geht für die Opposition um die Möglichkeit, Debatten über ihrer Ansicht nach bedeutende Themen zu erzwingen. Zwar fällt die Festsetzung der Tagesordnung auch bei Sondersitzungen des Bundestages in den Aufgabenbereich des Ältestenrates (§ 20 Abs. 1 Halbs. 1, siehe auch § 6 Satz 3 GO-BT) – nur im Konfliktfall erfolgt sie durch Mehrheitsbeschluss des Plenums (§ 20 Abs. 1 Halbs. 2 GO-BT) – zumindest aber muss der Tagesordnungsvorschlag den verantwortlichen Grund für die Sondersitzung als Tagesordnungspunkt enthalten.442 Die bislang letzte von einer Oppositionsfraktion beantragte Sondersitzung aus dem Jahr 1997 liegt schon einige Jahre zurück. Dennoch ermöglicht das Minderheitenrecht eine Drohwirkung für die Mehrheit, der im Regelfall ebenfalls an einem Konsens im Ältestenrat gelegen sein

437

Vgl. Waack, in: Morlok/Schliesky/Wiefelspütz, Parlamentsrecht, § 22 Rn. 63. Brocker, in: Epping/Hillgruber, GG, 37. Edition Mai 2018, Art. 39 Rn. 28; Klein, in: Maunz/Dürig, GG, 77. EL Mai 2016, Art. 39 Rn. 76. 439 Brocker, in: Epping/Hillgruber, GG, 37. Edition Mai 2018, Art. 39 Rn. 28; Klein, in: Maunz/Dürig, GG, 77. EL Mai 2016, Art. 39 Rn. 75. 440 Zur Kontroverse, ob das Einberufungsrecht für die Minderheit nur außerhalb der Sitzungen verfügbar ist, bejahend unter anderem Kretschmer, in: BK, GG, 140. EL Juni 2009, Art. 39 Rn. 139; nachvollziehbar a.A. Ritzel/Bücker/Schreiner/Winkelmann, HdbPP, 10. EL Dezember 1997, Erl. II. a) aa) zu § 21, S. 2. 441 Vgl. Versteyl, in: v. Münch/Kunig, GG, Bd. 1, Art. 39 Rn. 39. 442 So auch Kretschmer, in: BK, GG, 140. EL Juni 2009, Art. 39 Rn. 137: „Es wäre inkonsequent, würde den Antragstellern nicht auch das Recht zugebilligt, den Bundestag mit der Angelegenheit zu befassen, die dem Einberufungsverlangen zugrunde liegt“; Brocker, in: Epping/Hillgruber, GG, 37. Edition Mai 2018, Art. 39 Rn. 27; Ritzel/Bücker/Schreiner/Winkelmann, HdbPP, 10. EL Dezember 1997, Erl. II. c) zu § 21, S. 6. 438

C. Herleitung spezifischer Oppositionsrechte aus dem Grundgesetz

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wird.443 Bei einem Minderheitenrecht kommt es nicht darauf an, es auszuüben; sondern es zu besitzen.444 Das Minderheitenrecht aus Art. 39 Abs. 3 Satz 3 GG speist sich insofern auch aus seiner öffentlichkeitswirksamen Funktion. Die Plenarsitzungen sind grundsätzlich öffentlich, Art. 42 Abs. 1 Satz 1 GG. Sie dienen vor allem der oppositionellen Kritik- und Alternativfunktion.445 Es handelt sich um ein absolutes Minderheitenrecht,446 dem jedoch selten besondere Aufmerksamkeit gewidmet wird.447 Ergänzend kann eine subjektive Auslegung herangezogen werden. Im Parlamentarischen Rat gab es eine Diskussion zur Absenkung des Drittelquorums auf ein Viertel. Hier wies Paul de Chapeaurouge (CDU) darauf hin, es sei in politisch erregten Zeiten sehr reichlich, wenn hinsichtlich des Einberufungsrechts für eine Opposition ein Antrag von einem Drittel der Bundestagsmitglieder erforderlich sei.448 Die Überlegung einer Absenkung des Quorums wurde allerdings mit Blick auf die Gefahr von Obstruktionsversuchen verworfen. Dennoch zeigt die Wortwahl Chapeaurouges, dass das Einberufungsrecht gerade auch für die Opposition verfügbar sein soll. Das Datenhandbuch zur Geschichte des Deutschen Bundestages verzeichnet bis zum Ende der 18. Wahlperiode insgesamt 52 Sondersitzungen: Dreimal rief der Bundestagspräsident das Parlament gemäß Art. 39 Abs. 3 Satz 2 GG früher ein, noch nie auf Antrag des Bundespräsidenten, auf Antrag des Bundeskanzlers insgesamt 16 Mal. Das Parlament versammelte sich 14 Mal auf Verlangen einer Parlamentsminderheit, der parlamentarischen Opposition. 13 Mal tagte der Bundestag außerordentlich, weil Abgeordnete der Regierungskoalition dies verlangten. Im Übrigen kam es zu fünf Sitzungen, die gemeinsam von regierungstragenden wie oppositionellen Fraktionen gefordert wurden.449 Dies bestätigt, dass das Minderheitenrecht nach Art. 39 Abs. 3 Satz 3 GG auch in der Parlamentspraxis durchaus von der parlamentarischen Minderheit als Kontroll- und Oppositionsmittel 443

Ähnlich Schneider, in: AK, GG, 2. EL August 2002, Art. 39 Rn. 22; auf diesen beziehen sich auch noch in der sechsten Auflage Achterberg/Schulte, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, Bd. 2, Art. 39 Rn. 24 Fn. 4, die von einem „klassischen Minderheitsrecht“ sprechen. Vgl. auch in der neuen Auflage Schliesky, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, Bd. 2, Art. 39 Rn. 43; ferner Cancik, ZParl. 48 (2017), 516 (522). 444 Siehe Genscher in Bezug auf das Rederecht in der zwölften Sitzung des Ausschusses für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung (Geschäftsordnungsangelegenheiten) vom 7. März 1968, in: Ausschussprotokoll, PA-DBT 3101 5. Wahlperiode, Protokoll 12, S. 4. 445 BVerfGE 44, 308 (321). 446 A.A. Roll, Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages, § 22 Rn. 2. 447 Vgl. nur Hopfauf, in: Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/Henneke, GG, Art. 93 Rn. 276, in der 13. Auflage, in der der Bearbeiter anders als in der Neuauflage die Sitzungseinberufung unerwähnt lässt. 448 Chapeaurouge, in der elften Sitzung des Kombinierten Ausschusses am 7. Oktober 1948, in: Stelzl/Weber (Hrsg.), Der Parlamentarische Rat 1948 – 1949, Bd. 13/1, S. 433. 449 Die Zahlen finden sich bei Schindler, Datenhandbuch zur Geschichte des Deutschen Bundestages 1949 bis 1999, S. 1661 ff.; Feldkamp, Datenhandbuch zur Geschichte des Deutschen Bundestages 1990 bis 2010, S. 762 ff. Bei drei Sondersitzungen bleibt unklar, wer Antragsteller war. Zwei Sondersitzungen wurden sowohl vom Bundeskanzler als auch von den Regierungsfraktionen einberufen.

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2. Kap.: Die Minderheitenrechte im Deutschen Bundestag

genutzt wird. In der parlamentarischen Praxis genügt für die Einberufung einer Sondersitzung sogar der Antrag eines Fraktionsvorsitzenden oder Parlamentarischen Geschäftsführers im Namen seiner Fraktion,450 wenn diese ein Drittel der Bundestagsabgeordneten umfasst. Bei Art. 39 Abs. 3 Satz 3 GG handelt es sich (auch) um ein klassisches Oppositionsrecht. 3. Untersuchungsausschuss Der Bundestag hat das Recht, einen Untersuchungsausschuss nach Art. 44 Abs. 1 Satz 1 GG einzusetzen. Auf Antrag eines Viertels seiner Mitglieder ist das Parlament dazu verpflichtet. Das Minderheitenrecht des Art. 44 Abs. 1 Satz 1 GG, § 1 Abs. 1 PUAG ist für die parlamentarische Opposition von herausragender Bedeutung.451 Dafür sprechen zunächst Zweckmäßigkeitserwägungen. Das Bundesverfassungsgericht widmete sich den Aufgaben und Funktionen von Untersuchungsausschüssen mehrfach und hielt schon früh fest: „Untersuchungsverfahren haben in der parlamentarischen Demokratie eine wichtige Aufgabe zu erfüllen. Durch sie erhalten die Parlamente die Möglichkeit, unabhängig von Regierung, Behörden und Gerichten mit hoheitlichen Mitteln, wie sie sonst nur Gerichten und besonderen Behörden zur Verfügung stehen, selbständig die Sachverhalte zu prüfen, die sie in Erfüllung ihres Verfassungsauftrags als Vertretung des Volkes für aufklärungsbedürftig halten. Aufgabe der Untersuchungsausschüsse ist es, das Parlament bei seiner Arbeit zu unterstützen und seine Entscheidungen vorzubereiten. Das Schwergewicht der Untersuchungen liegt naturgemäß in der parlamentarischen Kontrolle von Regierung und Verwaltung, insbesondere in der Aufklärung von in den Verantwortungsbereich der Regierung fallenden Vorgängen, die auf Mißstände hinweisen. Gerade solcher Kontrolle kommt im Rahmen der Gewaltenteilung besonderes Gewicht zu. Sie ist nur gewährleistet, wenn zwischen Parlament und Regierung ein politisches Spannungsverhältnis besteht. Ein Untersuchungsverfahren, das nicht von dieser Spannung ausgelöst und in Gang gehalten wird, kann seinem Zweck nicht gerecht werden. In der Sicherstellung dieser Kontrolle liegt die verfassungsrechtliche Bedeutung des Minderheitsrechts. Das ursprüngliche Spannungsverhältnis zwischen Parlament und Regierung, wie es in der konstitutionellen Monarchie bestand, hat sich in der parlamentarischen Demokratie, deren Parlamentsmehrheit regelmäßig die Regierung trägt, gewandelt. Es wird nun vornehmlich geprägt durch das politische Spannungsverhältnis zwischen der Regierung und den sie tragenden Parlamentsfraktionen einerseits und der Opposition andererseits. Im parlamentarischen Regierungssystem überwacht daher in erster Linie nicht die Mehrheit die Regierung, sondern diese Aufgabe wird vorwiegend von der Opposition – und damit in der Regel von einer Minderheit – wahrgenommen. Das durch die Verfassung garantierte Recht der Minderheit auf Einsetzung

450

Vgl. Ritzel/Bücker/Schreiner/Winkelmann, HdbPP, 10. EL Dezember 1997, Erl. II. a) aa) zu § 21, S. 2. 451 Vgl. nur Unger, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, Bd. 2, Art. 44 Rn. 2; Hermes, FS Mahrenholz, S. 350.

C. Herleitung spezifischer Oppositionsrechte aus dem Grundgesetz

149

eines Untersuchungsausschusses darf, soll vor diesem Hintergrund die parlamentarische Kontrolle ihren Sinn noch erfüllen können, nicht angetastet werden.“452

Untersuchungsausschüsse dienen der Aufklärung von Sachverhalten. Sie verschaffen dem Parlament in erster Linie Informationen – Informationsgenerierung bedeutet Kontrollmöglichkeit.453 Ferner geben sie dem Bundestag rechtliche Zwangsmittel an die Hand, die ansonsten nur der Exekutive bzw. Judikative zur Verfügung stehen. Auch das Selbstinformationsrecht des Untersuchungsausschusses spricht für seine Rolle als kontrollierendes Hilfsorgan des Parlaments.454 Das Bundesverfassungsgericht stellte in der Entscheidung zu den Minderheiten- und Oppositionsrechten von 2016 folgerichtig klar, dass das Antragsrecht auf Einsetzung eines Untersuchungsausschusses nach Art. 44 Abs. 1 Satz 1 GG unumstritten ein essentielles Recht der parlamentarischen Opposition sei.455 Die Parlamentspraxis unterstreicht die Bedeutung des Enqueterechts für die parlamentarische Opposition. So wurden bis einschließlich der 18. Wahlperiode 44 Untersuchungsausschüsse eingesetzt, 32 davon auf Initiative der parlamentarischen Opposition, sieben weitere auf Grundlage einer interfraktionellen Vereinbarung. Die Regierungsfraktionen beantragten nur fünf Untersuchungsausschüsse (Tabelle 3). Zur Zeit der ersten Großen Koalition von 1966 bis 1969 wurde ein Untersuchungsausschuss eingesetzt, nachdem die FDP diesen als Oppositionsfraktion beantragte, obwohl sie das Viertelquorum verfehlte.456 Dies zeigt eine gewisse parlamentarische Selbstverständlichkeit im Umgang mit dem Minderheitenrecht auf Einsetzung eines Untersuchungsausschusses. So wies der Vorsitzende des Geschäftsordnungsausschusses Hannsheinz Bauer (SPD) bei einer Diskussion um den parlamentarischen Minderheitenschutz in einer Ausschusssitzung bereits damals darauf hin, dass seine Fraktion den berechtigten Anliegen der Opposition sicherlich Rechnung tragen werde.457 In diesem Zusammenhang muss jedoch zwischen Mehrheitsenquete und Minderheitenenquete sowie einer sogenannten Splitterenquete unterschieden wird. Eine Mehrheitsenquete meint, dass die Mehrheit der Mitglieder des Bundestages die Einsetzung des Untersuchungsausschusses beantragt und beschließt. Bei der Minderheitenenquete wird das Viertelquorum erreicht, bei der Splitterenquete wird es verfehlt.458 Das Verfahren von Mehrheits- und Minderheitenenquete verläuft iden452

BVerfGE 49, 70 (85 f.); vgl. auch BVerfGE 124, 78 (114). BVerfGE 67, 100 (135); vgl. auch Kluth, in: Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/Henneke, GG, Art. 44 Rn. 3; Voßkuhle, FS Schwarze, S. 287. 454 Cancik, NVwZ 2014, 18 (20). 455 BVerfGE 142, 25 (64 f.). 456 Siehe BT-Drs. 5/1468 und dazu BT-Plenarprotokoll 5/99 vom 16. März 1967, S. 4614 (B). 457 Bauer in der zehnten Sitzung des Ausschusses für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung (Geschäftsordnungsangelegenheiten) vom 12. Dezember 1967, in: Ausschussprotokoll, PA-DBT 3101 5. Wahlperiode, Protokoll 10, S. 4 f. 458 So auch BVerfGE 105, 197 (224); Waldhoff, in: ders./Gärditz, PUAG, § 1 Rn. 43 ff.; Brocker, in: Epping/Hillgruber, GG, 37. Edition Mai 2018, Art. 44 Rn. 22.2. Ein anderes Be453

150

2. Kap.: Die Minderheitenrechte im Deutschen Bundestag

tisch, sie weisen lediglich Unterschiede zur Splitterenquete auf.459 Der Untersuchungsgegenstand kann nach einer Mehrheits- und Minderheitenenquete im Gegensatz zur Splitterenquete nicht mehr verändert werden. Darin kommt die Bedeutung des Untersuchungsausschusses für die parlamentarische Opposition vollends zum Vorschein.460 Daran vermag keineswegs zu ändern, dass er zeitweise mehr als Skandalisierungsinstrument denn als Aufklärungsinstrument dient.461 Der Untersuchungsausschuss ist ein Kampfausschuss der politischen Opposition.462 Auch hier untermauert eine historische Auslegung die Erwägungen. Gleichwohl es Untersuchungsausschüsse erst seit der Weimarer Republik gibt (Art. 34 WRV), können Vorläufervorschriften ausgemacht werden. § 99 FNV und Art. 81 bzw. 82 Verf. Preußen 1848 und 1850 ermöglichten es dem Parlament bereits im „alten Dualismus“ des Konstitutionalismus, Kontrolle gegenüber der Regierung auszuüben. Ein Jahrhundert später waren sich die Mitglieder des Parlamentarischen Rates dahingehend einig, dass das Untersuchungsrecht im „neuen Dualismus“ zuvörderst ein Recht der Opposition sei.463 Im parlamentarischen Regierungssystem des Grundgesetzes ist das Untersuchungsrecht „in Allianz mit der öffentlichen Meinung und den Medien“464 zudem ein Kontrollmittel gegen die Regierungsmehrheit.465 Die Minderheitenenquete ist ein klassischerweise von der Opposition genutztes Recht.

griffsverständnis haben z.B. Kluth, in: Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/Henneke, GG, Art. 44 Rn. 11, und Klein, in: Maunz/Dürig, GG, 76. EL Dezember 2015, Art. 44 Rn. 73, für die eine Mehrheitsenquete eine Splitterenquete ist. 459 Brocker, in: Epping/Hillgruber, GG, 37. Edition Mai 2018, Art. 44 Rn. 24. 460 Caspar, DVBl. 2004, 845 (848). 461 Jekewitz, RuP 23 (1987), 23 (29 f.); vgl. insgesamt Riede/Scheller, ZParl. 44 (2013), 93 – 114. 462 Vgl. Versteyl, in: v. Münch/Kunig, GG, Bd. 1, Art. 44 Rn. 49 f. 463 Siehe dazu die Aussagen von Rudolf Katz (SPD) in der zweiten Sitzung des Kombinierten Ausschusses am 16. September 1948, in: Stelzl/Weber (Hrsg.), Der Parlamentarische Rat 1948 – 1949, Bd. 13/1, S. 37, sowie in der elften Sitzung des Kombinierten Ausschusses am 2. Oktober 1948, in: dies., Der Parlamentarische Rat 1948 – 1949, Bd. 13/1, S. 434, sowie die Diskussion in der zweiten Sitzung des Hauptausschusses vom 11. November 1948, in: Risse/ Weber (Hrsg.), Der Parlamentarische Rat 1948 – 1949, Bd. 14/1, S. 41 ff. Obwohl die einzelnen Regelungen des Untersuchungsrechts kontrovers diskutiert werden, steht die politische Bedeutung für die Opposition offensichtlich nicht in Frage. 464 Voßkuhle, BayVBl. 2016, 289 (292). 465 Geis, in: Isensee/Kirchhof, HStR, Bd. 3, § 55 Rn. 6.

C. Herleitung spezifischer Oppositionsrechte aus dem Grundgesetz

151

Tabelle 3 Untersuchungsausschüsse466 Wahlperiode

Untersuchungsausschüsse Eingesetzt

Beantragt von der Opposition

Verteidigungsausschüsse als Untersuchungsausschüsse Eingesetzt Beantragt von der Opposition

1. (1949 – 1953)

9

7





2. (1953 – 1957)

3

2

4

2

3. (1957 – 1961)









4. (1961 – 1965)

2

2

1



5. (1965 – 1969)

2

1

1

1

6. (1969 – 1972)

1

1





7. (1972 – 1976)

2

2





8. (1976 – 1980)

1

1

2

2

9. (1980 – 1983)

1

1

1



10. (1983 – 1987)

4

3

1



11. (1987 – 1990)

2

1

1

1

12. (1990 – 1994)

3

2





13. (1994 – 1998)

2

1

1

1

14. (1998 – 2002)

1







15. (2002 – 2005)

2

2





16. (2005 – 2009)

2

2

1



17. (2009 – 2013)

2

1

2



18. (2013 – 2017)

5

3





4. Verteidigungsausschuss als Untersuchungsausschuss Während der Untersuchungsausschuss schon seit 1949 zur verfassungsrechtlichen Grundausstattung467 gehört, findet sich die hier im Rahmen des Hauptausschusses noch ausführlicher thematisierte Vorschrift über den Verteidigungsausschuss als Untersuchungsausschuss gemäß Art. 45a Abs. 2 GG erst seit 1956 im Grundgesetz. Der Verteidigungsausschuss hat auf Antrag eines Viertels der Mitglieder des Ausschusses eine Angelegenheit zum Gegenstand seiner Untersuchung zu machen, Art. 45a Abs. 2 Satz 2 GG, § 34 Abs. 1 Satz 2 PUAG. Folglich handelt es 466 Die Statistik basiert auf Datenmaterial aus Schindler, Datenhandbuch zur Geschichte des Deutschen Bundestages 1949 bis 1999, S. 2185 ff.; Feldkamp, Datenhandbuch zur Geschichte des Deutschen Bundestages 1990 bis 2010, S. 1033 ff. Für den Untersuchungsausschuss als Verteidigungsausschuss Schindler, Datenhandbuch zur Geschichte des Deutschen Bundestages 1949 bis 1999, S. 2231 ff.; Feldkamp, Datenhandbuch zur Geschichte des Deutschen Bundestages 1990 bis 2010, S. 1061 ff. 467 Cancik, NVwZ 2014, 18 (20).

152

2. Kap.: Die Minderheitenrechte im Deutschen Bundestag

sich auch hier um ein Minderheitenrecht, das aber nicht von einem Viertel der Mitglieder des Bundestages, sondern nur von einem Viertel der Mitglieder des Ausschusses geltend gemacht werden kann. Der Verteidigungsausschuss kann sich mittels förmlichen Beschlusses selbst zum Untersuchungsausschuss mit all den investigativen Rechten des Art. 44 konstituieren.468 Bei dem Antragsrecht nach Art. 45a Abs. 2 Satz 2 GG handelt es sich genauso um ein klassisches Recht der Opposition wie bei der Minderheitenenquete nach Art. 44 Abs. 1 Satz 1 GG; es geht um die Kontrolle im Ausschuss und in Verteidigungsangelegenheiten.469 Zweck des Verteidigungsausschusses als Untersuchungsausschuss ist ebenfalls Informationsgewinnung und Sachverhaltsaufklärung zugunsten parlamentarischer Kontrolle, die im parlamentarischen Regierungssystem des Grundgesetzes in besonderer Weise der Opposition obliegt. Mit der Wiederbewaffnung durch die Schaffung der Bundeswehr ging ein Machtzuwachs der Exekutive einher. Der Verteidigungsausschuss mit seinem Untersuchungsrecht war von Beginn an auch als gegenpoliges Kontrollinstrument des Parlaments gedacht.470 Es konstituierten sich verhältnismäßig weniger Verteidigungsausschüsse auf Antrag von Abgeordneten der Opposition zum Untersuchungsausschuss als bei den Untersuchungsausschüssen nach Art. 44 GG. Dennoch gingen immerhin knapp die Hälfte der fünfzehn Ausschussbeschlüsse gemäß Art. 45a Abs. 2 GG von der Ausschussminderheit und Abgeordneten der Opposition aus (Tabelle 3). Weiterhin wurden fünf fraktionsübergreifende Beschlüsse gefasst. Es bleibt dabei: Auch der Verteidigungsausschuss als Untersuchungsausschuss stellt ein klassisches Oppositionsrecht dar. 5. Abstrakte Normenkontrolle Die Überprüfbarkeit von Gesetzen durch die abstrakte Normenkontrolle gemäß Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 GG, §§ 13 Nr. 6 und 76 Abs. 1 BVerfGG wird teilweise als bedeutendstes Recht der parlamentarischen Opposition angesehen,471 teilweise gar 468 Brocker, in: Epping/Hillgruber, GG, 37. Edition Mai 2018, Art. 45a Rn. 7 f.; Dürig/ Klein, in: Maunz/Dürig, GG, 41. EL Oktober 2002, Art. 45a Rn. 34. 469 Vgl. Dürig/Klein, in: Maunz/Dürig, GG, 41. EL Oktober 2002, Art. 45a Rn. 32; Frank, in: AK, GG, 1. EL Oktober 2001, nach Art. 87 Rn. 43; Hernekamp, in: v. Münch/Kunig, GG, Bd. 1, Art. 45a Rn. 8. 470 Siehe Wilhelm Mellies (SPD), in: BT-Plenarprotokoll 2/132 vom 6. März 1956, S. 6847 (D), und Richard Jaeger (CSU), in: BT-Plenarprotokoll 2/132 vom 6. März 1956, S. 6846 (B); anschaulich Dürig/Klein, in: Maunz/Dürig, GG, 33. EL November 1997, Art. 45a Rn. 5. Siehe zum Zweck der Vorschrift 5. Kapitel C. III. 2. c) cc). 471 Vgl. aus den Medien nur Deppe/Lindner, Rechte der Opposition – Zu klein, um Gehör zu finden?, 2. 5. 2016, http://www.deutschlandfunk.de/rechte-der-opposition-zu-klein-um-gehoerzu-finden.724.de.html?dram:article_id=353094, zuletzt geprüft am 26. 4. 2018; aber auch Stimmen in der Wissenschaft, z.B. Hillgruber/Goos, Verfassungsprozessrecht, Rn. 496; Rozek, in: Maunz/Schmidt-Bleibtreu/Klein/Bethge, BVerfGG, 52. EL September 2017, § 76 Rn. 7; Mundil, Die Opposition, S. 190; aus der Politikwissenschaft Ismayr, GWP 2016, 53 (61).

C. Herleitung spezifischer Oppositionsrechte aus dem Grundgesetz

153

nicht als solches wahrgenommen.472 Auch das Bundesverfassungsgericht lässt offen, ob es sich bei der abstrakten Normenkontrolle um ein klassisches Oppositionsrecht handelt.473 Für die abstrakte Normenkontrolle als klassisches Oppositionsmittel spricht wie bei allen anderen Quorenrechten der Verfassungswortlaut, der eine Antragstellung im Normenkontrollverfahren unter anderem einem Viertel der Mitglieder des Bundestages überlässt. Eine solche Abweichung vom Mehrheitsprinzip ist eine grundgesetzliche Ausnahmeerscheinung. An den Stellen in der Verfassung, an denen solche Rechte zugewiesen werden, geht es in aller Regel um Minderheitenrechte zur Ausübung von parlamentarischer Kontrolle. Der systematische Hinweis auf die klassischen Oppositionsrechte nach Art. 39 Abs. 3 Satz 3, 44 Abs. 1 und 45a Abs. 2 GG liegt nahe. Eine genetische Auslegung mit Verweis auf den Willen des Verfassungsgebers fügt sich hier ein. Im Parlamentarischen Rat wurde darüber diskutiert, inwiefern die Normenkontrollklage auch der oppositionellen Minderheit zustehen müsse.474 Die beiden größten Fürsprecher eines weitgehenden Minderheitenschutzes hinsichtlich der Normenkontrollklage in den Verhandlungen des Parlamentarischen Rates waren Chapeaurouge und Thomas Dehler (FDP). Der Fraktionsvorsitzende der oppositionellen CDU in Hamburg Chapeaurouge erklärte: „Ich bin mit Herrn Dr. Dehler der Meinung, daß der Minderheitenschutz durch die Verfassung garantiert werden muß. Ich sitze in einem Parlament, wo ich eine hoffnungslose Minderheit führe, und werde häufig an die Wand gedrückt. Ich würde mich schon häufig an den Staatsgerichtshof gewendet haben, wenn ich eine Möglichkeit hätte. Leider gibt es einen Staatsgerichtshof in Hamburg augenblicklich nicht. […] Die Bedenken, radikale Parteien können diesen Minderheitenschutz mißbrauchen, sind natürlich nicht ganz von der Hand zu weisen. Diese Furcht darf aber nicht dazu führen, legale, streng parlamentarische Minderheiten in ihren Rechten zu verkürzen“475,

weiter führte er aus: „Der Schutz, den wir erbitten, ist notwendig, um Mehrheitsregierungen zu größter Gewissenhaftigkeit zu veranlassen […] Mir kommt es auf den Grundsatz an. Ich will einer Parlamentsminderheit die Möglichkeit geben, eine Rechtsfrage als solche zur Entscheidung Gregor Gysi (DIE LINKE) spricht vom „Königsrecht der Opposition“, bei Lehmann/Marschal, Gysi will in der Opposition Verantwortung zeigen, 18. 1. 2014, http://www.rhein-zeitung.de/ber liner-buero-newsundkommentare_artikel,-gysi-will-in-der-opposition-verantwortung-zeigen-_ arid,1094816.html, zuletzt geprüft am 26. 4. 2018. 472 Vgl. auch hier beispielhaft aus der Presse Rath, Umstrittene Normenkontroll-Anträge: Müssen Kleinparteien klagen können?, 3. 5. 2016, http://www.taz.de/!5049910/, zuletzt geprüft am 26. 4. 2018; ferner Ennuschat, VR 2015, 1 (4); Cancik, NVwZ 2014, 18 (22). 473 BVerfGE 142, 25 (64 f.). 474 Siehe die Diskussion in der siebten Sitzung des Ausschusses für Verfassungsgerichtshof am 6. Dezember 1948, in: Stelzl/Weber (Hrsg.), Der Parlamentarische Rat 1948 – 1949, Bd. 13/ 2, S. 1359 ff. 475 Chapeaurouge in der siebten Sitzung des Ausschusses für Verfassungsgerichtshof am 6. Dezember 1948, in: Stelzl/Weber (Hrsg.), Der Parlamentarische Rat 1948 – 1949, Bd. 13/2, S. 1362.

154

2. Kap.: Die Minderheitenrechte im Deutschen Bundestag

zu bringen. Das dient, richtig gesehen, auch dem Staatsganzen. Wenn der Staatsgerichtshof gegen die Minderheit entschieden hat, ist die Sache wirklich ausgestanden, dann kann das nicht weiterschwelen und agitatorisch gegen Staat und Regierung verwandt werden. Wenn Sie das nicht tun und aus Angst vor der Minderheit ihr dieses Recht nehmen, so ist das auch undemokratisch. Wer Demokratie will, muß den Mut zur Demokratie auch in der Durchführung haben.“476

Dehler ergänzte: „Es ist nicht gewollt, daß eine Minderheit die Möglichkeit haben soll, die gesetzgeberische Arbeit eines Parlaments zu sabotieren, dadurch, daß sie einen Antrag an das Bundesverfassungsgericht stellt, sondern sie soll nach der Beschlußfassung des Parlaments beim Verfassungsgerichtshof geltend machen können: Dieses Gesetz steht in Widerspruch mit der Verfassung.“477

Dehler versteht – wie Chapeaurouge – unter Minderheitenschutz gerade auch den Schutz der parlamentarischen Opposition. Dies bekräftigte er im Hauptausschuss des Parlamentarischen Rates: „Die Minderheit muß die Möglichkeit haben, zum Verfassungsgerichtshof zu gehen und den Streit auszutragen. […] Wir als Oppositionsfraktion haben nicht die Chance, die Entscheidung des Verfassungsgerichtshofes darüber herbeizuführen, ob ein bestimmtes Gesetz mit der Verfassung vereinbar ist oder nicht. Man muß es darauf ankommen lassen, ob ein Betroffener den Verfassungsgerichtshof anruft. Ich glaube, so weit darf man es nicht kommen lassen.“478

Den Protokollen des Parlamentarischen Rates ist zu entnehmen, dass die Teilnehmer davon ausgingen, die Überprüfung von Gesetzen sei anhand des Organstreits möglich, zumindest stammen die zitierten Wortbeiträge aus der Debatte zum Organstreitverfahren. Bei dem Organstreit einigte sich der Parlamentarische Rat auf eine Regelung – vorgeschlagen von Chapeaurouge und Dehler – die den Fraktionen ein Antragsrecht einräumte.479 Die Parteifähigkeit „anderer Beteiligter“ im Organstreitverfahren weist also nicht darauf hin, dass der Verfassungsgeber sich in Bezug auf die Möglichkeit, Gesetze auf ihre Verfassungsmäßigkeit überprüfen zu lassen, bewusst gegen ein Fraktionsrecht entschied. Bei der eigentlichen Normenkontrollklage einigten sich die Teilnehmer auf ein Minderheitenquorum von einem Drittel der Bundestagsabgeordneten, wenn auch eine Absenkung zugunsten des Minderheitenschutzes diskutiert wurde. So hielt Chapeaurouge das Drittel für „viel zu hoch 476 Chapeaurouge in der siebten Sitzung des Ausschusses für Verfassungsgerichtshof am 6. Dezember 1948, in: Stelzl/Weber (Hrsg.), Der Parlamentarische Rat 1948 – 1949, Bd. 13/2, S. 1367. 477 Dehler in der siebten Sitzung des Ausschusses für Verfassungsgerichtshof am 6. Dezember 1948, in: Stelzl/Weber (Hrsg.), Der Parlamentarische Rat 1948 – 1949, Bd. 13/2, S. 1366. 478 Ders. in der siebten Sitzung des Ausschusses für Verfassungsgerichtshof am 6. Dezember 1948, in: Risse/Weber (Hrsg.), Der Parlamentarische Rat 1948 – 1949, Bd. 14/1, S. 690. 479 Siehe nur die Abstimmung im Hauptausschuss in der 23. Sitzung am 8. Dezember 1948, in: Risse/Weber (Hrsg.), Der Parlamentarische Rat 1948 – 1949, Bd. 14/1, S. 691 f.

C. Herleitung spezifischer Oppositionsrechte aus dem Grundgesetz

155

gegriffen“480. Dehler meinte, dass derjenige, wem ein Initiativrecht für die Gesetzgebung zustehe, auch eine Normenkontrollklage anstreben können müsse.481 Obwohl Walter Strauß (CDU) zu Beginn der Diskussion gegen die Schaffung eines Minderheitenrechts war und gar eine Mehrheitsentscheidung forderte,482 war später unstrittig, dass gerade der Opposition als parlamentarischer Minderheit das Recht der Normenkontrollklage diene. Das Drittelquorum der Normenkontrolle galt 50 Jahre lang seit der Einführung des Grundgesetzes 1949 bis in das Jahr 2009. Die FDPFraktion forderte 2005 eine Absenkung des seinerzeit von der Opposition verfehlten Drittelquorums.483 Zu einer solchen Absenkung kam es aber erst im Zuge der Umsetzung des Lissabon-Vertrages von 2009, als auch die Subsidiaritätsklage Eingang in die Verfassung fand. Nicht die Stärkung von Oppositionsmöglichkeiten, sondern die Anpassung an europarechtliche Bestimmungen war der damalige Grund für die verfassungsrechtliche Änderung.484 Das bestätigt auch der Entschluss, nicht gänzlich auf eine numerische Hürde zu verzichten und kein Fraktionsrecht zu gestalten.485 Gegen die abstrakte Normenkontrolle als genuines Oppositionsmittel sprechen gewichtige Gründe. Zunächst handelt es sich bei der abstrakten Normenkontrolle wie bei der Subsidiaritätsklage nach Art. 23 Abs. 1a GG um ein objektives Rechtsschutzverfahren, das nicht an eine bestimmte Fristenregelung geknüpft ist.486 Die abstrakte Normenkontrolle bezweckt in erster Linie die Sicherung der Verfassungsmäßigkeit von Gesetzen.487 Dies verdeutlicht die Möglichkeit des Bundesverfassungsgerichts, einen Normenkontrollantrag bei Antragsrücknahme weiterverfolgen zu können.488 Im Verfahren der Normenkontrolle gibt es Antragsberechtigte, aber keine Anspruchsberechtigten. Es ist folglich zweitrangig, Normenkontrollen auf ihren Erfolg, Teilerfolg oder Misserfolg aus Sicht des Antragstellers hin zu bewerten. Im Übrigen gibt es mit dem Organstreit ein in umgehender Nachbarschaft geregeltes Rechtsinstitut, das gerade auch der Einhaltung von Oppositionsrechten 480

Chapeaurouge in der siebten Sitzung des Ausschusses für Verfassungsgerichtshof am 6. Dezember 1948, in: Stelzl/Weber (Hrsg.), Der Parlamentarische Rat 1948 – 1949, Bd. 13/2, S. 1367. 481 Dehler in der siebten Sitzung des Ausschusses für Verfassungsgerichtshof am 6. Dezember 1948, in: Stelzl/Weber (Hrsg.), Der Parlamentarische Rat 1948 – 1949, Bd. 13/2, S. 1368. 482 Strauß in der siebten Sitzung des Ausschusses für Verfassungsgerichtshof am 6. Dezember 1948, in: Stelzl/Weber (Hrsg.), Der Parlamentarische Rat 1948 – 1949, Bd. 13/2, S. 1361. 483 BT-Drs. 16/126. 484 BT-Drs. 16/8488, S.4 f. 485 Starski, DÖV 2016, 750 (757). 486 Dazu auch Hopfauf, in: Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/Henneke, GG, Art. 93 Rn. 266; Dimroth, ZRP 2006, 50 (51); Hillgruber/Goos, Verfassungsprozessrecht, Rn. 492; auch Haratsch, in: Sodan, GG, Art. 93 Rn. 17. 487 BVerfGE 1, 396 (407). 488 BVerfGE 1, 14 (31).

156

2. Kap.: Die Minderheitenrechte im Deutschen Bundestag

dient.489 Dort sind Abgeordnete und Fraktionen antragsberechtigt, Fraktionen können sogar in Prozessstandschaft eigene Rechte des Bundestages einklagen. Mit der konkreten Normenkontrolle und der Verfassungsbeschwerde490 gibt es weitere Rechtsinstitute zur Überprüfung einer Verfassungswidrigkeit von Gesetzen, auch wenn sie nicht als parlamentarische Minderheitenrechte ausgestaltet sind.491 Für die Möglichkeit einer Überprüfung von Gesetzen durch die Opposition spricht ungeachtet dessen eine teleologische Auslegung. Im Organstreit lassen sich nur bedingt Gesetze auf ihre Verfassungsmäßigkeit überprüfen. Die Auffassung Gregor Gysis (DIE LINKE), dass nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts aus dem Jahr 2016 im Organstreit generell grundgesetzwidrige Gesetze als Rechtsverletzungen des Bundestages geltend gemacht werden können,492 ist – mag sie auch kreativ in der Niederlage sein – nicht haltbar. Im hiesigen Organstreitverfahren ging es um das Einklagen von Oppositionsfraktionsrechten gegen den Deutschen Bundestag, nur deshalb war die Überprüfung der unterlassenen Gesetzesverabschiedungen auf ihre Verfassungsmäßigkeit möglich. Das Rechtsmittel der abstrakten Normenkontrolle hat also weiterhin eine besondere Bedeutung für die Opposition. Die Anzahl der Organstreitverfahren kann zwar im Rahmen qualifizierter Großer Koalitionen, wie z.B. während der zweiten Großen Koalition geschehen, steigen.493 Streitgegenstand bleiben aber die verfassungsrechtlichen Organbeziehungen. Die Normenkontrollklage wird nicht ersetzt.494 Außerdem geht die konkrete Normenkontrolle von Gerichten als Antragsteller aus, die Verfassungsbeschwerde verlangt persönliche Betroffenheit. Kontrolle durch Gerichte und Bürger ist notwendig, aber begrenzt. Eine Verlagerung des Rechtsschutzes auf andere Rechtsinstrumente ist also nur eingeengt möglich. Die Oppositionsfunktionen sprechen dafür, die Normenkontrollklage nach Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 GG als Recht aufzufassen, das gerade der Opposition zugutekommen muss. Gegen die abstrakte Normenkontrolle als klassisches Oppositionsrecht spricht auch nicht, dass es sich um eine Gesetzesüberprüfung ex post handelt. Grundgesetz und Geschäftsordnung weisen den Abgeordneten und 489

Rinken, in: AK, GG, 1. EL Oktober 2001, Art. 93 Rn. 5; ausführlich aus politikwissenschaftlicher Sicht Stüwe, in: van Ooyen/Möllers, Handbuch Bundesverfassungsgericht im politischen System, S. 351 ff. 490 Auch dazu ders., in: van Ooyen/Möllers, Handbuch Bundesverfassungsgericht im politischen System, S. 360 ff. 491 Ennuschat, VR 2015, 1 (5); Cancik, NVwZ 2014, 18 (22). 492 Das Zitat Gysis ist zu finden bei Tagesschau, Reaktionen auf Karlsruher Urteil: Gewonnen und doch verloren, 3. 5. 2016, https://www.tagesschau.de/inland/verfassungsgericht-op positionsrechte-101.html, zuletzt geprüft am 26. 4. 2018. 493 Ausführlicher aus politikwissenschaftlicher Sicht Rühmann, Das Bundesverfassungsgericht in Zeiten Großer Koalitionen, S. 69 f. 494 BVerfGE 142, 25 (46); Cancik, Der Grundsatz (in)effektiver Opposition: zum Urteil des Bundesverfassungsgerichts in Sachen Oppositionsfraktionsrechte, 9. 5. 2016, http://verfas sungsblog.de/der-grundsatz-ineffektiver-opposition-zum-urteil-des-bundesverfassungsgerichtsin-sachen-oppositionsfraktionsrechte/, zuletzt geprüft am 26. 4. 2018; vgl. auch BVerfG, NVwZ 2017, 137 (139).

C. Herleitung spezifischer Oppositionsrechte aus dem Grundgesetz

157

Fraktionen vor allem Kontrollrechte zu, die sie im Gesetzgebungsprozess geltend machen können. Die Normenkontrollklage richtet sich gegen bereits rechtlich existente Gesetze, d.h. der Gesetzgebungsprozess ist schon beendet. Das Grundgesetz lässt zwar regelmäßig erkennen, dass es parlamentarische Kontrolle auf der einen Seite durch die Bundestagsopposition und den Bundesrat im Gesetzgebungsprozess (Art. 76 ff. GG) und auf der anderen Seite durch das Bundesverfassungsgericht495 und den Bundespräsidenten496 im Nachgang des Zustandekommens eines Gesetzes (Art. 93 bzw. 82 GG) zulässt. Eine zeitliche Grenzziehung bei der Regierungskontrolle ist jedoch nicht zielführend, zumal es sich bei Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 GG nur um ein Antragsrecht497 handelt. Regierungskontrolle durch die parlamentarische Opposition kann nicht nur Kontrolle im Gesetzgebungsprozess meinen, sondern auch die Gesetzesüberprüfung ex post sein.498 In Parlamentspraxis und Wissenschaft finden sich daher durchaus Stimmen, die die Bedeutung der abstrakten Normenkontrolle für die Opposition hervorheben. Der ehemalige Präsident des Bundesverfassungsgerichts Gebhard Müller erblickt in der Normenkontrolle ein besonderes Kampfinstrument der parlamentarischen Opposition499 und auch Johannes Dimroth spricht von einem bedeutenden oppositionellen Kontrollmittel.500 Im Übrigen verfängt das Argument, das Normenkontrollverfahren sei – wie die Subsidiaritätsklage kein kontradiktorisches Verfahren und daher auch kein oppositionelles Mittel – nicht. Das Normenkontrollverfahren betrifft anders als die Subsidiaritätsklage das Innenverhältnis, die Antragsteller verlangen die Überprüfung von Bundesrecht. Die Kontrollfunktion im parlamentarischen Regierungssystem des Grundgesetzes spricht für die Normenkontrolle als klassisches Oppositionsrecht. Gegen die abstrakte Normenkontrolle als klassisches Oppositionsmittel ist nicht anzuführen, dass auch dem Bundespräsidenten die Aufgabe obliegt, auszufertigende und zu verkündende Gesetze auf ihre formelle und evident materielle Verfassungsmäßigkeit zu überprüfen.501 Er übt sich hinsichtlich seines Prüfungsrechts traditionell in Zurückhaltung. Die Antragsberechtigung der Bundesregierung spricht ebenfalls nicht gegen ein klassisches Oppositionsrecht, sie kann auch hier eher als Hinweis auf die Notwendigkeit eines gegenpoligen oppositionellen Antragsrechts 495 Zum Bundesverfassungsgericht als Vetospieler, speziell in Zeiten Großer Koalitionen, aus politikwissenschaftlicher Perspektive Rühmann, Das Bundesverfassungsgericht in Zeiten Großer Koalitionen, S. 61 ff. 496 Zur Rolle des Bundespräsidenten ders., Das Bundesverfassungsgericht in Zeiten Großer Koalitionen, S. 76 ff. 497 Zu diesem Punkt Cancik, ZParl. 48 (2017), 516 (531). 498 Vgl. dazu auch Martin Morlok bei Kosfeld, Wirksame Kontrolle ist nötig, Das Parlament vom 14. 10. 2013, S. 2. 499 Ridder, FS Arndt, S. 328, mit Bezug auf den ehemaligen Bundesverfassungsgerichtspräsidenten Müller. 500 Dimroth, ZRP 2006, 50 (51); Wieland, in: Dreier, GG, Bd. 3, Art. 93 Rn. 62; Waack, in: Morlok/Schliesky/Wiefelspütz, Parlamentsrecht, § 22 Rn. 111; auch Rinken, in: AK, GG, 1. EL Oktober 2001, Art. 93 Rn. 21. 501 Cancik, NVwZ 2014, 18 (22).

158

2. Kap.: Die Minderheitenrechte im Deutschen Bundestag

verstanden werden. Vielmehr ist auf die Antragsberechtigung der Landesregierungen einzugehen: Die abstrakte Normenkontrolle umfasst insofern ein föderatives Kontrollelement. Insgesamt lassen sich 157 Normenkontrollverfahren seit 1951 nachvollziehen. 27 Normenkontrollanträge fallen auf den Bundestag, davon 17 auf die parlamentarische Opposition, sieben Normenkontrollanträge gingen von der Bundesregierung aus, bei den restlichen Normenkontrollen waren Landesregierungen die Antragsteller (Tabelle 4). Tabelle 4 Abstrakte Normenkontrollen und ihre Antragsteller502 Antragsteller

Insgesamt

Erfolg/ Teilerfolg

27

12

7

Abgeordnete der Regierungsmehrheit

9

7



2

Abgeordnete der parlamentarischen Opposition

17

4

7

6

Abgeordnete beider Lager

1

1





Bundesregierung

7

6



1 12

Bundestag

Misserfolg Einstellung 8

Landesregierungen

122

63

46

Baden-Württemberg

15

9

5

1

Bayern

27

18

6

3

Berlin

4



3

1

Brandenburg

2



2

-

Bremen

11

7

3

1

Hamburg

18

9

7

2

Hessen

22

11

8

3

Mecklenburg-Vorpommern









Niedersachsen

10

5

5



Nordrhein-Westfalen

12

6

5

1

Rheinland-Pfalz

10

6

4



502 Die Zahlen basieren fast vollständig auf der Entscheidungssammlung des Bundesverfassungsgerichts, Stand 143. Entscheidungsband. Auch die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts hinsichtlich zweier Normenkontrollanträge vom 19. September 2018 ist einbezogen. Nicht alle Entscheidungen, z.B. Einstellungen, werden abgedruckt. Die Zahl der Einstellungen wird dementsprechend höher sein. Ungenauigkeiten ergeben sich aufgrund zweier unzulässiger Anträge von Dritten, außerdem wurden manche Anträge von mehreren Landesregierungen gestellt, andererseits stellten Antragsteller auch separat Anträge, die später vom Gericht zur Entscheidung verbunden wurden. Als Erfolg oder Teilerfolg wurde gewertet, wenn das Bundesverfassungsgericht ganz oder zumindest teilweise im Sinne der Antragsteller entschied. Unzulässige und unbegründete Anträge wurden als Misserfolg gewertet; vgl. auch die Zahlen bei Hönnige, Verfassungsgericht, Regierung und Opposition, S. 217 ff.; aus der Politikwissenschaft Stüwe, APuZ 2001, Heft 51, 34 (36 ff.); vorher schon ders., APuZ 2001, Heft 51, 34 (36 ff.).

C. Herleitung spezifischer Oppositionsrechte aus dem Grundgesetz Antragsteller

159

Insgesamt

Erfolg/ Teilerfolg

Misserfolg Einstellung

Sachsen-Anhalt

3

1

2

Schleswig-Holstein

6

4

1

1

Saarland

11

6

3

2

Sachsen

5

4

1



Thüringen

3

2

1





Die Zahl oppositioneller Anträge aus dem Bundestag fällt hinter die der Anträge von Landesregierungen deutlich zurück. Der Einwand, oppositionelle Landesregierungen könnten die „oppositionelle Funktion“ der abstrakten Normenkontrolle in Zeiten qualifizierter Großer Koalitionen ersetzen, geht jedoch fehl. Die Wahrnehmung der Oppositionsfunktionen durch „oppositionelle Landesregierungen“ bei einem verfehlten Minderheitenquorum im Bundestag ist im Gegenteil nicht garantiert. Während Großer Koalitionen im Bund waren die Koalitionen auf Landesebene bisher immer so ausgestaltet, dass im Land zumindest eine der Regierungsparteien im Bund beteiligt war. Auch wenn die Landesregierungen vorwiegend Landesinteressen vertreten, ist eine Normenkontrollklage einer Landesregierung mit Beteiligung einer der Großkoalitionäre im Bund mindestens unwahrscheinlich.503 Dies zeigt auch ein Blick auf die ersten drei Großen Koalitionen, in deren Zeiträume die Opposition entweder am Drittel- (bis 2009) oder am Viertelquorum (seit 2009) scheiterte, sodass es sich in Bezug auf das Normenkontrollverfahren bei den ersten drei Großen Koalitionen auf Bundesebene um „qualifizierte“ Große Koalitionen handelte:504 Nur eine Entscheidung in einem Normenkontrollverfahren ging auf einen Antrag aus der Zeit der ersten Großen Koalition von 1966 bis 1969 zurück. Ein von der SPD-Opposition im Vorfeld der Großen Koalition beantragtes Verfahren zum Bundeshaushaltsplan wurde 1969 sogar nach Rücknahme durch die Antragsteller eingestellt. Einen Tag nach der Bundestagswahl 1969 reichte die Landesregierung Hessens außerdem einen Normenkotrollantrag ein, der sich gegen Vorschriften des Gesetzes zur Beschränkung des Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnisses richtete. Daraufhin erging das Abhörurteil des Bundesverfassungsgerichts. Die Zeit der Zusammenarbeit der ersten Großen Koalition endete allerdings spätestens am Tag der Bundestagswahl am 28. September 1969. Die Bundestagswahl kennzeichnete 503 Krajewski, Kurzgutachten zur Erweiterung des Antragsrechts für die abstrakte Normenkontrolle durch einfaches Bundesgesetz nach Art. 93 Abs. 3 GG, 28. 11. 2013, https://www. gruene-bundestag.de/fileadmin/media/gruenebundestag_de/themen_az/innenpolitik/Kurzgutach ten_Abstrakte-Normenkontrolle.pdf, S. 1, zuletzt geprüft am 26. 4. 2018. 504 In der 19. Wahlperiode verfügen FDP, DIE LINKE und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, die regelmäßig eine Zusammenarbeit mit der AfD ausschließen, sogar ohne die Stimmen der AfD über mehr als ein Viertel der Parlamentsmandate (Im September 2018 kündigten die drei Fraktionen einen Normenkontrollantrag gegen das bayerische Polizeiaufgabengesetz an). Doch in der Regierungsarbeit auf Landesebene sind entweder CDU bzw. CSU oder SPD beteiligt.

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2. Kap.: Die Minderheitenrechte im Deutschen Bundestag

zwar weder das formelle Ende der Regierung Kiesinger noch des fünften Deutschen Bundestages (Art. 39 Abs. 1 Satz 2 GG a.F.), sie bedeutete aber das faktische Ende des Bündnisses beider Fraktionen im Parlament. Folglich bleibt ein einziges Normenkontrollverfahren, das tatsächlich während der ersten Großen Koalition angeregt wurde: Wieder war es die Landesregierung Hessens, die erfolgreich gegen die Umsatzsteuerpflicht von Rundfunkanstalten klagte.505 Zur Zeit der zweiten Großen Koalition von 2005 bis 2009 gingen ebenfalls nur vier abstrakte Normenkontrollanträge in Karlsruhe ein, zwei davon506 wurden später eingestellt. 2008 entschied das Gericht gegen einen Antrag des rot-roten Senats von Berlin. Es ging um die Verfassungsmäßigkeit von Vorschriften aus dem Reichsvermögen-Gesetz von 1961 und nicht um ein großkoalitionäres Gesetzesprojekt.507 2010 entschied das Bundesverfassungsgericht in der Legehennen-Entscheidung im Sinne der antragstellenden Landesregierung Rheinland-Pfalz, die allein von der SPD geführt wurde. Bei der geprüften Tierschutz-Nutztierhaltungsverordnung handelt es sich um eine Verordnung von 2006, die in der zweiten Großen Koalition erarbeitet wurde.508 Im gleichen Jahr entschied das Gericht zudem einen Normenkontrollantrag von sechs Bundesländern zur Überprüfung des Zukunftsinvestitionsgesetzes aus dem Jahr 2009, das ebenfalls Produkt der Großen Koalition war, allerdings ging der Normkontrollantrag in Zeiten der nachfolgenden schwarz-gelben Bundesregierung ein.509 Während der dritten Großen Koalition gingen sogar nur zwei Normenkontrollanträge in Karlsruhe ein, beide betreffend die Verfassungsmäßigkeit von Vorschriften des Gesetzes über den registergestützten Zensus im Jahr 2011.510 Der rot-schwarze Berliner Senat und der allein von der SPD geführte Hamburger Senat klagten also nicht gegen großkoalitionäre Gesetzesprojekte. Diese verhältnismäßig geringe Anzahl von sieben Normenkontrollanträgen aus etwa elf Jahren Großer Koalition weist zumindest auf einen zurückhaltenden Gebrauch der Klage in Zeiten Großer Koalitionen hin, auch durch die Länder. Die durchschnittliche Anzahl abstrakter Normenkontrollen in einer einzigen Legislaturperiode liegt bei acht bis neun. Von den sieben abstrakten Normenkontrollen griffen auch nur zwei Bundesrecht an, das von der jeweiligen 505

Vgl. in der angegebenen Reihenfolge BVerfGE 25, 308; 30, 1; 31, 314. Die Klage Hessens ging am 2. Oktober 1968 beim Bundesverfassungsgericht ein. In Hessen regierte zu dieser Zeit eine Alleinregierung der SPD. 506 Bei beiden eingestellten Verfahren handelte es sich zwar um Beanstandungen von Bundesrecht. Der rot-schwarze Bremer Senat klagte aber gegen eine Vorschrift aus dem Finanzausgleichsgesetz von 2001, geändert 2003: BVerfG, Beschluss vom 13. Juli 2011 – 2 BvF 3/05 –, juris, Eingang des Antrages am 10. April 2006. Der rot-rote Berliner Senat klagte ebenfalls gegen „nicht-großkoalitionäres Recht“, gegen das Job-AQTIV-Gesetz von 2001: BVerfG, Beschluss vom 30. Januar 2012 – 1 BvF 1/09 –, juris, Eingang des Antrages am 30. April 2009. 507 BVerfGE 119, 394, Eingang des Antrages am 7. Dezember 2005. 508 BVerfGE 127, 293, Eingang des Antrages am 25. Juni 2007. 509 BVerfGE 127, 165. 510 BVerfG, Urteil vom 19. September 2018 – 2 BvF 1/15, 2 BvF 2/15 –, juris, Eingang der Anträge am 22. Juli 2015 und 29. Dezember 2015. In Berlin regierte eine rot-schwarze Regierung, in Hamburg zur Zeit der Antragstellung nur die SPD.

C. Herleitung spezifischer Oppositionsrechte aus dem Grundgesetz

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Großen Koalition zu verantworten war. Auffällig ist, dass in Zeiten Großer Koalitionen verhältnismäßig häufig aus Bundesländern mit Alleinregierungen geklagt wurde. Eine Sonderstellung nimmt hier insbesondere die CSU ein, die in Bayern zumeist alleinregierende Partei war – insgesamt gingen die meisten Normkontrollanträge von der bayerischen Landesregierung aus.511 Doch auch aus alleinregierten Bundesländern gab es nur vereinzelte Normenkontrollklagen gegen Gesetze der Großen Koalitionen. Der objektive Rechtsschutzcharakter des Normenkontrollverfahrens gebietet zwar das Fehlen einer Fristenregelung. Selten kommt es jedoch im Nachhinein zu einer Gesetzesüberprüfung in Karlsruhe. Zumindest eine politische Kraft der ehemaligen Großen Koalition ist regelmäßig auch in zukünftigen Bundesund Landesregierungen vertreten.512 Der Faktor Zeit513 vermindert die durch eine fehlende Antragsmöglichkeit der parlamentarischen Opposition entstehende Schieflage mithin nur begrenzt. Überdies spricht die durchaus wahrgenommene Möglichkeit,514 Gesetze erst nach Jahren und politischen Wechseln vom Bundesverfassungsgericht überprüfen zu lassen, keineswegs gegen die abstrakte Normenkontrolle als klassisches Oppositionsrecht. Letztlich muss die geringe Anzahl abstrakter Normenkontrollen in Zeiten Großer Koalitionen nicht bedeuten, dass andere Mehrheitsverhältnisse in Bund und Ländern zur Überprüfung von Gesetzen geführt hätten. Auch das Ergebnis solcher Normenkontrollen ist spekulativ. Nachgewiesen wurde bereits, dass die Kontrolldichte von Normen im Rahmen der ersten beiden Großen Koalitionen geringer war, aber die Annullierungswahrscheinlichkeit in Zeiten Großer Koalitionen steige.515 Die geringe Anzahl von abstrakten Normenkontrollen zeigt, dass Gesetze in Zeiten Großer Koalitionen seltener beanstandet werden; nicht mehr, aber auch nicht weniger. Landesregierungen können abstrakte Normenkontrollen beantragen. Kontrolle, ausgehend von der parlamentarischen Opposition als eigentlicher Gegenspieler von Bundestagsmehrheit und Regierung, wird dadurch aber nicht ersetzt. Dies verdeutlichen die Zahlen aus der Praxis. Insofern spricht die Möglichkeit eines Normenkontrollantrages ausgehend von Landesregierungen nicht gegen die Charakterisierung der Normenkontrollklage als klassisches Oppositionsmittel. Ungeachtet dieses Befundes verdeutlichen die zehn Anträge aus dem Bundestag, die nicht von der parlamentarischen Opposition, sondern von Abgeordneten der Regierungsfraktionen bzw. beider Lager ausgingen, dass die Ausgestaltung der 511

Vgl. in diesem Zusammenhang das Verfahren zum Schwangerschaftsabbruch, BVerfGE 88, 203. Auch von der bayerischen Landesregierung ging jedoch nur eine Normenkontrollklage in Zeiten Großer Koalitionen aus. 512 Dem Zeitfaktor größeren Einfluss zusprechend Diehl, in: Scheffczyk/Wolter, Linien der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, Bd. 4, S. 516 f. 513 Dies., in: Scheffczyk/Wolter, Linien der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, Bd. 4, S. 516. 514 Vgl. zu den ersten beiden Großen Koalitionen aus politikwissenschaftlicher Perspektive Rühmann, Das Bundesverfassungsgericht in Zeiten Großer Koalitionen, S. 64 und 68. 515 Ders., Das Bundesverfassungsgericht in Zeiten Großer Koalitionen, S. 65 ff., 73.

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2. Kap.: Die Minderheitenrechte im Deutschen Bundestag

abstrakten Normenkontrolle als Minderheitenrecht nicht lediglich ein Hinweis auf ein Oppositionsmittel ist. Acht dieser zehn Anträge waren zumindest teilweise erfolgreich, währenddessen nur vier der insgesamt 17 oppositionellen Anträge Erfolg hatten.516 Insofern behält Hans-Peter Schneider recht, wenn er die abstrakte Normenkontrolle „bislang als relativ stumpfes Schwert“517 für die Opposition bezeichnet. Durch die Normenkontrollklagen können Bundestagsabgeordnete landesrechtliche Bestimmungen vom Bundesverfassungsgericht auf ihre Vereinbarkeit mit dem Grundgesetz oder sonstigem Bundesrecht überprüfen lassen. So wendeten sich z.B. Abgeordnete der Regierungsfraktionen in Sachen Ausländerwahlrecht in Schleswig-Holstein518 und Hamburg519, hinsichtlich des Mitbestimmungsgesetzes in Schleswig-Holstein520 oder der Parteienbeteiligung am privaten Rundfunk in Hessen521 an das Bundesverfassungsgericht. Der Normenkontrollantrag ist ein Minderheitenrecht, nicht nur Oppositionsrecht. Dies allerdings steht wie auch schon im Rahmen der anderen Quorenrechte nicht zur Disposition. Es geht um ein zusätzliches Recht für die Opposition, das der Möglichkeit einer parlamentarischen Minderheit gegen Bundes- oder Landesrecht zu klagen, nicht entgegensteht. Obwohl Abgeordnete der Opposition nur in vier der insgesamt 17 Fälle zumindest teilweise erfolgreich klagten, handelt es sich in der Staatspraxis um ein zwar zurückhaltend, aber regelmäßig genutztes Kontrollinstrument. So waren politische Konflikte mehrfach Ausgangspunkt für Normenkontrollklagen zu Gesetzesprojekten, über die letztlich in Karlsruhe statt in Bonn bzw. Berlin entschieden wurde. Infolgedessen ist nicht selten von einer Fortführung politischer Kämpfe in Karlsruhe die Rede.522 1975 stand § 218 StGB auf dem Prüfstand,523 1978 klagten Abgeordnete gegen die Wehrpflichtnovelle. In beiden Fällen waren die Antragsteller Abgeordnete der CDU/CSUFraktion,524 es waren allerdings auch Landesregierungen mit Normenkontrollanträgen beteiligt. 1987 entschied das Bundesverfassungsgericht über das nieder516 Vgl. ebenfalls politikwissenschaftlich Stüwe, in: van Ooyen/Möllers, Handbuch Bundesverfassungsgericht im politischen System, S. 357, 365; zur Erfolgsbilanz von Oppositionsanträgen auch ders., in: Oberreuter/Kranenpohl/Sebaldt, Der Deutsche Bundestag im Wandel, S. 150 ff. 517 Schneider, Die parlamentarische Opposition im Verfassungsrecht der Bundesrepublik Deutschland, S. 221 f. A.A. z.B. Waack, in: Morlok/Schliesky/Wiefelspütz, Parlamentsrecht, § 22 Rn. 111, der nicht zwischen Normenkontrollverfahren, ausgehend von der parlamentarischen Opposition, und solchen, ausgehend von „oppositionellen Landesregierungen“, unterscheidet. 518 BVerfGE 83, 37. 519 BVerfGE 83, 60. 520 BVerfGE 93, 37. 521 BVerfGE 121, 30. 522 Kritisch zur „Justizialisierung“ politischer Machtkämpfe Graßhof, in: HeidelbK, BVerfGG, § 76 Rn. 2. Auch dazu aus der Politikwissenschaft Stüwe, ZParl. 28 (1997), 545 (548). 523 Zur Besonderheit der ad hoc-Opposition ders., ZParl. 28 (1997), 545 (550). 524 Insgesamt wurden vier Normenkontrollanträge aus Reihen der oppositionellen CDU/ CSU-Fraktion gestellt.

C. Herleitung spezifischer Oppositionsrechte aus dem Grundgesetz

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sächsische Rundfunkgesetz und 2012 über das negative Stimmgewicht bei Bundestagswahlen.525 Beide Normenkontrollanträge gingen von Abgeordneten der SPD526 (letzter davon zusammen mit Abgeordneten von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) aus. Bei diesen vier erfolgreichen Normenkontrollklagen blieb es bisher. Nur knapp ein Viertel der Klagen wurde also im Sinne der oppositionellen Antragsteller entschieden. Doch den beiden erstgenannten Nichtigkeitserklärungen betreffend zweier bedeutender Reformprojekte der sozialliberalen Koalition wuchs große politische Bedeutung zu. Das Bundesverfassungsgericht deutete zwar im Urteil aus dem Jahr 2016 Zweifel am klassisch oppositionellen Charakter der Normenkontrollklage an.527 Es veranschaulichte jedoch schon im Urteil zum EGV-Vertrag 1952, dass es nicht nur das Recht der Opposition sei, sondern ihre Pflicht, verfassungsrechtliche Bedenken gegenüber Regierung und Bundestagsmehrheit zu äußern.528 Es ist geradlinig, das Kontrollmittel des Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 GG dann auch als wesentlichen Bestandteil oppositioneller Wirkungsmöglichkeiten aufzufassen. Ferner hat allein die Möglichkeit einer rechtlichen Überprüfung der Gesetzgebungsarbeit auf Antrag der Opposition aus Sicht der Koalition einen Kontrolleffekt, eine Droh- und Vorwirkung.529 Vor allem teleologische Gründe und eine subjektive Auslegung sprechen folglich dafür, dass es zum Wesenskern oppositioneller Wirkungsmöglichkeiten gehört, Gesetze auf ihre Verfassungsmäßigkeit überprüfen zu lassen. Die Normenkontrolle gehört zum klassischen Repertoire der parlamentarischen Opposition.

III. Oppositionsrechte als Resultat teleologischer Auslegung Rechtsinhaberschaft und Rechtsdurchsetzungsbereitschaft fallen hinsichtlich der minderheitenschützenden Quorenrechte in Zeiten qualifizierter Großer Koalitionen vermehrt auseinander.530 Bei den in der Verfassung verankerten Rechten, Sondersitzungen des Deutschen Bundestages (Art. 39 Abs. 3 Satz 3 GG), Untersuchungsausschüsse (Art. 44 Abs. 1 Satz 1 und 45a Abs. 2 GG) und Normenkontrollklagen (Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 Satz 2 GG) zu beantragen, handelt es sich um klassische Oppositionsrechte. Diese Minderheitenrechte dienen insbesondere als Kontrollinstrumente der Opposition. Eine starke parlamentarische Opposition geht auf den Willen 525

In der Reihenfolge BVerfGE 88, 203; 46, 337; 73, 118; 131, 316. Insgesamt wurden 13 Normenkontrollanträge aus den Reihen der oppositionellen SPDFraktion gestellt. 527 BVerfGE 142, 25 (64 f.). 528 BVerfGE 2, 143 (170 f.). 529 Vgl. anschaulich Stüwe, in: van Ooyen/Möllers, Handbuch Bundesverfassungsgericht im politischen System, S. 362 f.; auch BVerfGE 142, 25 (45 f.), im Anschluss an die Entgegnung der Antragstellerin, abgedruckt bei Schneider/Schwarz, Parlamentarische Opposition zwischen Effektivität und Egalität, S. 198. 530 Lassahn, NVwZ 2016, 922 (930). 526

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2. Kap.: Die Minderheitenrechte im Deutschen Bundestag

des Verfassungsgebers zurück,531 zu ihr gehören Minderheitenrechte.532 Die Geltendmachung der Minderheitenrechte setzt das Erreichen eines Quorums voraus. Selbst wenn die parlamentarische Opposition geschlossen abstimmt, kann das Drittel- bzw. Viertelquorum wie in der 5. und 18. Wahlperiode bei entsprechenden Mehrheitsverhältnissen im Bundestag verfehlt werden. So stellen qualifizierte Große Koalitionen die Wirkungsmöglichkeiten parlamentarischer Kontrolle vor Probleme. Es entsteht ein Ungleichgewicht in der Machtbalance zwischen Regierung und Regierungsmehrheit sowie oppositioneller Minderheit. Der Zweck umfassender parlamentarischer Kontrolle spricht dafür, der parlamentarischen Opposition das Antragsrecht generell zuzusprechen. Eine dahingehende Auslegung des Grundgesetzes, die parlamentarische Opposition könne die Minderheitenrechte ungeachtet der Quoren in ihrer Gesamtheit oder gar als einzelne Oppositionsfraktion wahrnehmen, ist nur in Form einer teleologischen Reduktion der Verfassungsquoren möglich. Analogiefähige Normen sind nicht ersichtlich.533 Doch drei Gründe versperren einer solchen Auslegung i.S.e. teleologischen Reduktion den Weg: Verfassungswortlaut, Mandatsgleichheit und Rechte Dritter. 1. Verfassungswortlaut als Grenze Zunächst ist Grenze der Verfassungsauslegung der Wortlaut des Grundgesetzes oder der erkennbare Wille des Gesetzgebers.534 Die Verfassung gestaltet alle Minderheitenrechte quoren- und nicht oppositions- oder fraktionsabhängig aus. Die Minderheitenrechte konkretisieren den Grundsatz parlamentarischer Opposition. Er ist nicht in den Minderheitenrechten selbst verankert.535 Eine Umgehung des Wortlauts der spezielleren Minderheitenrechte durch die Heranziehung des allgemeinen Grundsatzes parlamentarischer Opposition verbietet sich.536 Eine Auslegung am Verfassungsquorum vorbei ist nicht möglich. Ein Quorum kann nicht weiter auf einen etwaigen Begriffskern reduziert werden. Wird eine konkrete Zahl im Verfassungstext genannt, besteht ein Höchstmaß an Bestimmtheit.537 Zahlen erhalten ihre für den naturwissenschaftlichen Verwendungskontext typische Exaktheit auch 531 Siehe nur Gerhard Kroll (CDU) in der zweiten Sitzung des Ausschusses für Wahlrechtsfragen am 22. September 1948, in: Wernicke/Booms (Hrsg.), Der Parlamentarische Rat 1948 – 1949, Bd. 6, S. 253. 532 Voßkuhle, FS Schwarze, S. 290. 533 BVerfGE 142, 25 (65). 534 Vgl. BVerfGE 95, 64 (93); 99, 341 (358); 101, 312 (329); 138, 64 (94). 535 So wohl aber Robbers, in: BK, GG, 137. EL Dezember 2008, Art. 20 Rn. 656; dagegen den Ausnahmecharakter von Minderheitenrechten betonend Di Fabio, Der Staat 29 (1990), 599 (611). 536 BVerfGE 142, 25 (58, 67); dazu Diehl, in: Scheffczyk/Wolter, Linien der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, Bd. 4, S. 510. 537 Sethy, Ermessen und unbestimmte Gesetzesbegriffe, S. 102, 112; vgl. auch v. Aswege, Quantifizierung von Verfassungsrecht, S. 110 ff.

C. Herleitung spezifischer Oppositionsrechte aus dem Grundgesetz

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im Rahmen der Verfassungsordnung.538 Für die abstrakte Normenkontrolle konstatierte das Bundesverfassungsgericht bereits, dass die parlamentarische Opposition als Antragsteller nicht in Betracht kommt.539 Es bleibt kein Raum für die Herleitung spezifischer Oppositionsrechte. Daran ändert auch eine Auslegung nichts, die auf die Wirksamkeit von Regierungskontrolle ausgerichtet ist. Den Rechtsträger Opposition, in welcher Form auch immer, kennt das Grundgesetz schlicht nicht. Darüber hinaus entschied sich der Verfassungsgeber bewusst für Quorenrechte. Zwar beabsichtigte der Parlamentarische Rat mit der Schaffung von Minderheitenrechten, speziell die Wirkungsmöglichkeiten der Opposition zu erweitern. Die Quoren sollten aber gleichzeitig auch dem Zweck dienen, einen Missbrauch der Rechte zulasten der parlamentarischen Handlungsfähigkeit zu verhindern. Gerade mit Blick auf die Weimarer Erfahrungen sind die Minderheitenquoren in das Grundgesetz aufgenommen worden.540 Obwohl die Bundesrepublik auf eine bald 70 Jahre lange Verfassungstradition zurückblickt und parlamentsinterne „Feinde der Demokratie“ die Funktionstüchtigkeit des Parlaments nicht ernsthaft bedrohen, ist eine Missbrauchsgefahr auch in Zukunft nicht auszuschließen. Dies gilt mit Blick auf den Einzug der AfD in den 19. Deutschen Bundestag umso mehr. Es gibt mit den Quoren ausdrückliche Verfassungsentscheidungen. Diese sind zu respektieren. Eine andere Auslegung ist auch nicht mit Hinweis auf einen Verfassungswandel möglich.541 Hinter dem Begriff des Verfassungswandels verbirgt sich die Änderung des ursprünglichen Sinnes von Verfassungsvorschriften ohne Änderung des Verfassungstextes.542 Andreas Voßkuhle hält fest, dass beim Verfassungswandel nicht der normative Gehalt der Verfassung, sondern die Konkretisierung einer bis zu einem gewissen Grad offenen Verfassungsnorm durch eine andere Konkretisierung ersetzt 538

1172. 539

v. Aswege, Quantifizierung von Verfassungsrecht, S. 113. Vgl. auch Hain, JZ 2016,

Wie hier mit Verweis auf BVerfGE 21, 52 (53); 68, 346 (349), und den abschließenden Charakter von Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 GG betonend Voßkuhle, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, Bd. 3, Art. 93 Rn. 120; Ipsen, Staatsrecht I, Rn. 908; Dimroth, ZRP 2006, 50 (51). A.A. in Bezug auf Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 GG mit Hinweis auf Art.93 Abs. 3 GG Krajewski, Kurzgutachten zur Erweiterung des Antragsrechts für die abstrakte Normenkontrolle durch einfaches Bundesgesetz nach Art. 93 Abs. 3 GG, 28. 11. 2013, https://www.gruene-bundestag.de/filead min/media/gruenebundestag_de/themen_az/innenpolitik/Kurzgutachten_Abstrakte-Normenkon trolle.pdf, zuletzt geprüft am 26. 4. 2018. 540 Waldhoff, in: ders./Gärditz, PUAG, Vorbemerkung A Rn. 21, § 1 Rn. 48; vgl. nur hinsichtlich des Drittelquorums des Art. 39 Abs. 3 Satz 3 GG die Diskussion in der elften Sitzung des Kombinierten Ausschusses am 7. Oktober 1948, in: Stelzl/Weber (Hrsg.), Der Parlamentarische Rat 1948 – 1949, Bd. 13/1, S. 433. Kritisch Cancik, ZParl. 48 (2017), 516 (532 f.). 541 Zur Wortprägung Laband, Das Staatsrecht des Deutschen Reiches, Bd. 2, 39 ff.; grundlegend Böckenförde, in: ders., Staat, Nation, Europa, S. 141 ff., sowie Häberle, ZfP 21 (1974), 111 (129 ff.); vgl. auch Hain, JZ 2016, 1172 (f.); Herdegen, in: Maunz/Dürig, GG, 72. EL Juli 2014, Art. 79 Rn. 33; insgesamt Roßnagel, Der Staat 22 (1983), 551 – 577; aktuell Volkmann, JZ 2018, 265 – 271. 542 Statt Vieler Bryde, Verfassungsentwicklung, S. 21; Voßkuhle, Der Staat 43 (2004), 450 (451 f.).

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2. Kap.: Die Minderheitenrechte im Deutschen Bundestag

wird.543 Von einem Verfassungswandel kann im Hinblick auf die Minderheitenrechte aber nicht ausgegangen werden, es handelt sich schon nicht um offene Verfassungsnormen. Das Grundgesetz ist eine rechtliche Rahmenordnung, die es aber gerade in seinen wenigen präzisen Ausprägungen einzuhalten gilt. Darüber hinaus besteht keine Regelungslücke für die Situation einer qualifizierten Großen Koalition. Seit der 1. Wahlperiode besteht die Möglichkeit, dass die parlamentarische Opposition die Minderheitenquoren verfehlt.544 Die Figur des Verfassungswandels kann eine Verfassungsänderung nach Art. 79 Abs. 2 GG nicht ersetzen. Entweder die Politik passt sich dem Recht an oder sie ändert das Recht. 2. Ungleichbehandlung von Abgeordneten Ferner verbietet das verfassungsrechtliche Gebot der Gleichbehandlung von Abgeordneten eine Auslegung des Grundgesetzes, die der parlamentarischen Opposition generell die Geltendmachung der Quorenrechte ermöglicht. Oppositionsrechte sind systemfremd.545 Stünde der parlamentarischen Opposition stets die Möglichkeit offen, die klassischen Oppositionsrechte auszuüben, würden Abgeordnete der Regierungskoalition von Abgeordneten der parlamentarischen Opposition rechtfertigungsbedürftig unterschieden. Zwar bliebe es bei der separaten Möglichkeit für Abgeordnete der Regierungsfraktionen, die Minderheitenrechte durch Erreichen der Quoren geltend zu machen. Es bedürfte aber für die Geltendmachung der Rechte, zumindest während qualifizierter Großer Koalitionen, eine höhere Anzahl von Abgeordneten der Regierungskoalition als der Opposition. Insofern würde es sich um „exklusive“ Oppositionsrechte handeln,546 mögen die praktischen Auswirkungen auch begrenzt sein. Eine der beiden Antragsmöglichkeiten bleibt den Abgeordneten der Regierungsfraktionen nämlich schon per definitionem unzugänglich.547 Eine Fragmentierung der Kontrollrechte ist gerade nicht im Grundgesetz angelegt.548 Alle Abgeordneten haben die Aufgabe der Regierungskontrolle. In seiner Eröffnungsrede am 18. Oktober 2005 zu Beginn der 16. Wahlperiode konnte Bundestagspräsident Lammert bereits auf die Besonderheiten der sich abzeichnenden zweiten Großen Koalition eingehen. Dabei wies er insbesondere auf die gleichen Rechte und Pflichten für Abgeordnete der Regierungsmehrheit und der

543

Voßkuhle, Der Staat 43 (2004), 450 (457). BVerfGE 142, 25 (65 f.). 545 Vgl. Starski, DÖV 2016, 750 (752). 546 A.A. dies., DÖV 2016, 750 (755). 547 BVerfGE 142, 25 (60, 70 f.). 548 Allerdings hindert dies den Verfassungsgeber nicht daran, den Grundsatz parlamentarischer Opposition im Grundgesetz zu verankern und auszuprägen. Ein generelles Verbot zur Schaffung von Oppositionsrechten besteht nicht, a.A. BVerfGE 142, 25 (60). 544

C. Herleitung spezifischer Oppositionsrechte aus dem Grundgesetz

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Opposition hin, dies müsse auch in Zeiten Großer Koalitionen gelten.549 Das Wesensmerkmal des parlamentarischen Regierungssystems ist die Abhängigkeit der Regierung von der Parlamentsmehrheit. Das Parlament bringt die Regierung hervor, kontrolliert sie und beruft sie im Zweifel ab.550 In der Bundesrepublik verdeutlichen insbesondere die verfassungsrechtlichen Vorschriften der Art. 63, 67 und 68 GG die permanente Abhängigkeit der Regierung vom Parlament.551 Es handelt sich um eine Art „Schicksalsgemeinschaft“552. Eine weitere Grunddeterminante des parlamentarischen Systems ist eine innerparlamentarische Opposition.553 In weiten Teilen löste der „neue Dualismus“ zwischen Regierung und Regierungsmehrheit auf der einen Seite und parlamentarischer Opposition auf der anderen Seite den konstitutionellen Dualismus zwischen Regierung und Parlament ab. Vielerorts ist auch von einer neuen Form der Gewaltenteilung die Rede.554 Die innerparlamentarische Frontstellung evoziert jedoch schnell ein vollständig voneinander abgrenzbares Aufgabenprofil der Regierungsmehrheit einerseits und der Opposition andererseits. Dies besteht aber nicht und ist schon deshalb nicht denkbar, weil das freie und gleiche Mandat des Abgeordneten aus Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG die Eingrenzung der Abgeordnetentätigkeit auf bestimmte Parlamentsaufgaben nicht zulässt – verfassungssystematisch gibt es dafür keine Grundlage.555 Darüber hinaus widerspricht auch die parlamentarische Praxis dem Bild einer strikten Aufgabenteilung innerhalb des Parlaments. Dem Parlament als Ganzem obliegen die Aufgaben, insbesondere 549 Lammert, in: BT-Plenarprotokoll 16/1 vom 18. Oktober 2005, S. 4 (D): „Liebe Kolleginnen und Kollegen, für die Arbeit wie für das Ansehen des Parlaments ist die Opposition im Übrigen nicht weniger wichtig als die Regierung. Regiert wird überall auf der Welt, von wem und unter welchen Bedingungen auch immer. Was ein politisches System als Demokratie qualifiziert, ist nicht die Existenz einer Regierung, sondern die Existenz eines Parlamentes und seine gefestigte Rolle im Verfassungsgefüge wie in der politischen Realität. Hier schlägt das Herz der Demokratie oder es schlägt nicht. Das Parlament ist im Übrigen nicht Vollzugsorgan der Bundesregierung, sondern umgekehrt sein Auftraggeber. Gerade in Zeiten Großer-Koalitions-Mehrheiten ist das Selbstbewusstsein des Parlaments gegenüber der Regierung besonders gefordert. Alle in diesen Bundestag gewählten Mitglieder haben das gleiche Mandat, die gleiche Legitimation und unabhängig von ihren späteren Rollenzuweisungen auf der Seite der Regierung oder der Opposition prinzipiell die gleichen Rechte und Pflichten. Die ungeschriebenen Rechte der Opposition, die große Fraktionen ganz unangefochten für sich reklamiert haben, müssen bei einer großen Koalition selbstverständlich auch für die kleinen Fraktionen gelten.“ 550 Vgl. aus der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts nur BVerfGE 134, 141 (175 f.). Anschaulich Zeh, Parlamentarismus, S. 78; Schneider/Zeh, in: dies., Parlamentsrecht und Parlamentspraxis, § 48 Rn. 1. 551 Siehe auch Art. 69 Abs. 2 GG. 552 Steffani, in: ders., Regierungsmehrheit und Opposition in den Staaten der EG, S. 15; auch ders., Parlamentarische und präsidentielle Demokratie, S. 53. 553 Woyke, in: Andersen/Woyke, Handwörterbuch des politischen Systems der Bundesrepublik Deutschland, S. 333. 554 So schon früher Gehrig, Parlament – Regierung – Opposition, S. 241; ders., DVBl. 1971, 633 – 638; aktueller z.B. Ingold, Das Recht der Oppositionen, S. 29. 555 Vgl. nur Haberland, Die verfassungsrechtliche Bedeutung der Opposition nach dem Grundgesetz, S. 166.

168

2. Kap.: Die Minderheitenrechte im Deutschen Bundestag

Gesetzgebung und Regierungskontrolle. Gesetzgebungsarbeit ist nicht allein Aufgabe der Regierungsmehrheit und Regierungskontrolle ist nicht ausschließlich Aufgabe der Opposition, mag dies in der Schwerpunktsetzung auch unstrittig richtig sein. Die Parlamentsfunktionen werden unter den Bedingungen des parlamentarischen Regierungssystems vor allem unterschiedlich wahrgenommen. Die Abgeordneten der Regierungsmehrheit kritisieren und kontrollieren die Regierungsarbeit insbesondere, indem sie schon im Rahmen der Fraktionsarbeit auf Mängel und Probleme bei der Gesetzgebung hinweisen. Oppositionsabgeordnete nehmen an der Gesetzgebungsaufgabe des Parlaments teil, indem sie Verbesserungs- und Alternativvorschläge in die Ausschussarbeit einbringen.556 Die Aufgaben der Regierungsmehrheit und der oppositionellen Minderheit sind nicht unterschiedlich,557 sondern die Schwerpunktsetzung und vor allem die operativen Mittel bei der Erledigung der parlamentarischen Aufgaben.558 Beide Formen der parlamentarischen Aufgabenbewältigung – zum einen durch die Regierungsfraktionen und zum anderen durch die Opposition – sind wichtig. Das Bundesverfassungsgericht fügt in seinem Urteil von 2016 hinzu, dass eine Bevorteilung der Abgeordneten der Opposition den übrigen Abgeordneten signalisiere, bei der Erfüllung der parlamentarischen Kontrollfunktion von untergeordneter Bedeutung zu sein.559 Solche Unterscheidungen schwächten die parlamentarische Kontrolle zusätzlich. Diese Überlegung ist zwar untersuchenswert,560 nicht aber belegbar. Jedenfalls widerspricht auch lediglich ein Plus an Rechten für Abgeordnete der Opposition dem grundlegenden Verfassungsprinzip der Abgeordnetengleichheit. Für eine solche Ungleichbehandlung der Abgeordneten kann die Funktion der Opposition und dessen Verankerung im Demokratie-, Rechtsstaatsprinzip und Abgeordnetenstatus als zwingender Grund nicht in Stellung gebracht werden.561 Es bleiben die zahlreichen Abgeordneten-562 und Fraktionsrechte für Abgeordnete beider politischer Lager. Oppositionelle Kontrolle läuft auch bei dem Wegfall der 556

Siehe dazu nur die relativ große Zahl einstimmig verabschiedeter Gesetze, Schindler, Datenhandbuch zur Geschichte des Deutschen Bundestages 1949 bis 1999, S. 1954. 557 Cancik, Parlamentarische Opposition in den Landesverfassungen, S. 155 f. 558 Vgl. schon zu diesem Zeitpunkt dies., ZParl. 48 (2017), 516 (529), die den Kern des hier vorgebrachten Verständnisses von Aufgabenwahrnehmung im Parlament anschaulich und am Beispiel des Öffentlichkeitsbezuges darlegt. 559 BVerfGE 142, 25 (63). 560 Kritisch und mit nachvollziehbaren Argumenten Cancik, Der Grundsatz (in)effektiver Opposition: zum Urteil des Bundesverfassungsgerichts in Sachen Oppositionsfraktionsrechte, 9. 5. 2016, http://verfassungsblog.de/der-grundsatz-ineffektiver-opposition-zum-urteil-des-bun desverfassungsgerichts-in-sachen-oppositionsfraktionsrechte/, zuletzt geprüft am 26. 4. 2018. 561 Zur Mandatsgleichheit und Rückbesinnung auf die basale Oppositionsgarantie aus Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG Ingold, ZRP 2016, 143 (145). 562 Die Bedeutung von Abgeordnetenrechten betont nicht nur das Bundesverfassungsgericht, vgl. auch Starski, DÖV 2016, 750 (754); Ingold, Das Recht der Oppositionen, S. 428 ff.; a.A. Huber, in: Isensee/Kirchhof, HStR, Bd. 3, § 47 Rn. 44; auch Mundil, Die Opposition, S. 74, die auf die Fraktionen abstellen.

C. Herleitung spezifischer Oppositionsrechte aus dem Grundgesetz

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Quorenrechte nicht leer. „Sanfte“563 Kontrollmöglichkeiten rücken in den Blickpunkt, z.B. Große und Kleine Anfragen sowie Aktuelle Stunden (Tabelle 5).564 Die parlamentarische Opposition nutzt diese Kontrollinstrumente seit Beginn der Bundesrepublik.565 Auffällig ist, dass die Anzahl der Kontrolltätigkeiten während der Großen Koalitionen relativ konstant blieb. Teilweise sind Anstiege, teilweise sind Rückgänge erkennbar, meistens reihen sich die Zahlen in den Trend ein. So ging die Zahl Großer Anfragen wie Aktueller Stunden in der zurückliegenden 18. Wahlperiode zurück, die Anzahl Kleiner Anfragen stieg dagegen weiter an.566 Ergänzt werden die Fraktionsrechte unter anderem durch die Möglichkeit schriftlicher und mündlicher Fragen von Abgeordneten. Auch die gemeinsame Bearbeitung von Anträgen durch die Oppositionsfraktionen ist ein Mittel, um Druck auf die politischen Gegner in der Koalition auszuüben. Ein Mindestsaldo an Verfahrensgarantien existiert derzeit,567 auch in Zeiten qualifizierter Großer Koalitionen. Tabelle 5 „Sanfte“ Kontrollmöglichkeiten der Oppositionsfraktionen568 Wahlperiode

Große Davon Kleine Davon Aktuelle Davon Anfragen oppositio- Anfragen oppositio- Stunden oppositionell (%) nell (%) nell (%)

1. (1949 – 1953)

160

38,1

335

58,9





2. (1953 – 1957)

97

52,6

377

38,7





563

Friedel, Außer Kontrolle? Die parlamentarische Kontrolle der Exekutive durch die Opposition unter den Bedingungen der Großen Koalition 2013, 9. 12. 2013, http://www.uni-re gensburg.de/philosophie-kunst-geschichte-gesellschaft/forum-rp/medien/frp_working_paper_ 05_2013.pdf, S. 5, zuletzt geprüft am 26. 4. 2018. 564 Vgl. aus dem politikwissenschaftlichen Schrifttum März, in: Jesse/Klein, Das Parteienspektrum im wiedervereinigten Deutschland, S. 177, der resümiert, dass der Vorwurf, die Supermajoritäten erstickten das parlamentarische Leben, in die Irre geht. 565 Zur durchaus selbstbewusst wahrgenommenen Oppositionsrolle der FDP-Fraktion in der ersten Großen Koalition aus historischer bzw. politikwissenschaftlicher Sicht Schmoeckel/ Kaiser, Die vergessene Regierung, S. 76 ff.; anschaulich Hildebrand, ZParl. 37 (2006), 611 (621) m.w.N.; auch dazu Grosser, in: Oberreuter, Parlamentarische Opposition, S. 206. Ausführlicher Friedrich, in: Oberreuter, Parlamentarische Opposition, S. 251 ff. 566 Zu den einzelnen Kontrollinstrumenten und zu ihrer umstrittenen Bedeutung aus der Politikwissenschaft Ismayr/Fleck, Der Deutsche Bundestag, S. 320 ff., und Kepplinger, in: Patzelt/Sebaldt/Kranenpohl, Res publica semper reformanda, S. 312 ff. Petra Sitte (DIE LINKE) beklagte, dass das Versprechen der Regierungs- und Koalitionsseite, man werde sich demokratisch verhalten, im Fortgang der Legislaturperiode immer weniger wert gewesen sei. Antworten auf Kleine Anfragen seien absichtlich aufgeblasen worden, um die Filterung der wesentlichen Informationen zu erschweren, Sitte bei Lodde, Vier Jahre im Reaktionsmodus, 4. 9. 2017, https://www.tagesschau.de/inland/btw17/bilanz-opposition-101.html, zuletzt geprüft am 26. 4. 2018; vgl. auch dazu BVerfG, Urteil vom 7. November 2017 – 2 BvE 2/11 –, juris. 567 Vgl. auch Schwarz in der Erwiderung des Antraggegners, abgedruckt bei Schneider/ Schwarz, Parlamentarische Opposition zwischen Effektivität und Egalität, S. 147 – 152. 568 Die Zahlen sind entnommen aus Schindler, Datenhandbuch zur Geschichte des Deutschen Bundestages 1949 bis 1999, S. 2759; Feldkamp, Datenhandbuch zur Geschichte des Deutschen Bundestages 1990 bis 2010, S. 1323. Vgl. insgesamt zur Bilanz der Opposition

170

2. Kap.: Die Minderheitenrechte im Deutschen Bundestag

Wahlperiode

Kleine Große Davon Davon Aktuelle Davon Anfragen oppositio- Anfragen oppositio- Stunden oppositionell (%) nell (%) nell (%)

3. (1957 – 1961)

49

87,7

411

64,0





4. (1961 – 1965)

35

68,6

308

43,8

2

50,0

5. (1965 – 1969) ab Dezember 1966

11

36,4

142

43,0

5

40,0

34

35,3

346

41,6

12

58,3

6. (1969 – 1972)

31

80,6

569

82,8

8

100,0

7. (1972 – 1976)

24

75,0

480

88,8

20

90,0

8. (1976 – 1980)

47

70,2

434

84,3

9

100,0

9. (1980 – 1983) ab Oktober 1982

32

75,0

276

84,1

6

66,7





21

100,0

6

100,0

10. (1983 – 1987)

175

84,6

1006

95,9

117

76,9

11. (1987 – 1990)

145

86,2

1419

98,5

126

78,6

12. (1990 – 1994)

98

85,7

1382

98,1

103

80,6

13. (1994 – 1998)

156

89,7

2070

98,8

103

85,4

14. (1998 – 2002)

101

95,1

1813

99,1

141

81,6

15. (2002 – 2005)

65

100,0

797

99,7

71

69,0

16. (2005 – 2009)

63

98,4

3299

100,0

113

99,1

17. (2009 – 2013)

54

96,3

3629

98,9

131

70,3

18. (2013 – 2017)

15

100,0

3922

98,9

91

93,4

3. Rechtsbetroffenheit Dritter Schließlich sprechen auch Rechte Dritter, namentlich die von anderen Verfassungsorganen und Privaten, gegen die Herleitung von Oppositionsrechten im Wege einer telelogischen Reduktion der Minderheitenquoren.569 Die Rechte Dritter sind dann beeinträchtigt, wenn direkt und nicht nur kurzweilig eine Rechtsstellung berührt wird und dies auch über ein gewöhnliches Maß an Zumutbarkeit hinausgeht. Obwohl das Überschreiten einer Bagatellgrenze vorausgesetzt werden darf, sind die Anforderungen nicht sonderlich hoch, um die Belange Dritter als berührt anzusehen. Es genügt nicht nur der Zugriff auf materielle Rechtspositionen, auch Verfahrensrechte werden umfasst. Die grundgesetzliche Forderung nach einer gewissen Abgeordnetenanzahl schützt nicht nur das Parlament vor Obstruktion, sondern mit Ausnahme des Einberufungsrechts nach Art. 39 Abs. 3 Satz 3 GG auch Dritte. Lodde, Vier Jahre im Reaktionsmodus, 4. 9. 2017, https://www.tagesschau.de/inland/btw17/bi lanz-opposition-101.html, zuletzt geprüft am 26. 4. 2018. 569 A.A. Cancik, ZParl. 48 (2017), 516 (531).

D. Verfassungsänderungspflicht angesichts qualifizierter Großer Koalitionen

171

Sofern es entgegen des Verfassungswortlauts der Art. 44 Abs. 1 Satz 1 und 45a Abs. 2 GG bei einem Antrag auf Untersuchung von weniger als einem Viertel der Abgeordneten zu einer Untersuchungspflicht kommt, sind dadurch potentiell Rechte von Privaten betroffen: Das Untersuchungsrecht ermöglicht weitreichende Rechte und deren zwangsweise Durchsetzung nach der Strafprozessordnung.570 Das Recht des Bundestages, Untersuchungsausschüsse auch bei einem Antrag von weniger als einem Viertel der Mitglieder des Bundestages nach Art. 44 Abs. 1 Satz 1 Alt. 1 GG einzusetzen (Splitterenquete), ändert daran nichts. Die Einsetzungsverpflichtung bei Erreichen des Verfassungsquorums darf contra legem nicht zu einem durchsetzungsfähigen Recht der Opposition umgestaltet werden.571 Im Rahmen der abstrakten Normenkontrolle nach Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 GG soll das Quorum auch die Funktionalität des Gerichts schützen,572 gleichwohl der Schutz des Bundesverfassungsgerichts vor Überlastung nicht vergleichbar ist mit dem Schutz von Privaten vor Grundrechtseingriffen. Es darf nicht zu einer quasi-Umgehung des verfassungsrechtlichen Schutzes von Rechten Dritter kommen.573 Eine Herleitung spezifischer Oppositionsrechte aus dem Grundgesetz scheitert mithin auch an der Rechtsbetroffenheit Dritter.

D. Verfassungsänderungspflicht angesichts qualifizierter Großer Koalitionen Eine Herleitung spezifischer Oppositionsrechte im Wege einer Auslegung der verfassungsrechtlichen Minderheitenquoren ist – wie gezeigt – nicht möglich. Denkbar ist noch eine Verfassungsänderungspflicht in Zeiten qualifizierter Großer Koalitionen. Diese könnte dahingehend bestehen, dass der Deutsche Bundestag von Verfassungs wegen verpflichtet ist,574 spezifische Oppositionsrechte auszugestalten oder zumindest die Minderheitenquoren abzusenken, wenn die parlamentarische Opposition die verfassungsrechtlichen Quorenrechte verfehlt.

I. Prüfungsmaßstab verfassungswidriges Verfassungsrecht Eine Verfassungspflicht zur Schaffung von spezifischen Oppositionsrechten machte die Fraktion DIE LINKE in ihrem ersten Antrag im Organstreit gegen den 570

Ausführlicher hierzu im Rahmen des Hauptausschusses 5. Kapitel C. III. 2. c) cc). Waldhoff, in: ders./Gärditz, PUAG, § 1 Rn. 50. 572 Cancik, NVwZ 2014, 18 (22); Dimroth, ZRP 2006, 50 (51). So auch Schwarz in der Erwiderung des Antraggegners, abgedruckt in Schneider/Schwarz, Parlamentarische Opposition zwischen Effektivität und Egalität, S. 154. 573 Rixecker, FS Wendt, S. 1277. 574 Vgl. so in Bezug auf das Enqueterecht Cancik, NVwZ 2014, 18 (21). 571

172

2. Kap.: Die Minderheitenrechte im Deutschen Bundestag

Deutschen Bundestag geltend. Eine solche Pflicht zur Schaffung von verfassungsrechtlichen Oppositionsrechten oder zumindest zur Absenkung der verfassungsrechtlichen Minderheitenquoren kann es jedoch nur geben, wenn sich eine Handlungspflicht zur Umgestaltung des Grundgesetzes aus der Verfassung selbst ergibt. Überverfassungsrechtliche Maßstäbe können dafür keineswegs fruchtbar gemacht werden. Dies führt zu dem notwendigen Umkehrschluss, dass die derzeitigen Grundgesetzbestimmungen unvollständig, also verfassungswidrig sein müssten. Ein Rückgriff auf die umstrittene Konstruktion des verfassungswidrigen Verfassungsrechts ist unumgänglich.575 Zwar ist das Grundgesetz als einheitliches Normgefüge zu verstehen.576 Art. 79 Abs. 3 GG gibt aber eine Verfassungshierarchie vor, indem er das sogenannte Kernverfassungsrecht vom übrigen Verfassungsrecht unterscheidet. Darin werden die Gliederung des Bundes in Länder, die grundsätzliche Mitwirkung der Länder bei der Gesetzgebung und die in den Art. 1 und 20 GG niedergelegten Grundsätze für unveränderbar erklärt. Einerseits werden die in Art. 20 GG niedergelegten Grundsätze nicht vollständig von Art. 79 Abs. 3 GG erfasst, die Norm ist nicht extensiv zu interpretieren.577 Andererseits darf der Schutz des Art. 79 Abs. 3 GG nicht in seiner Abstraktheit leerlaufen.578 Der Grundsatz effektiver Opposition ist mit Blick auf die Gewaltenteilung und besondere Kontrollfunktion der Opposition im parlamentarischen Regierungssystem durchaus zu diesen Essentialia des Verfassungsstaates zu zählen. Die Zugehörigkeit zu den Prinzipien der freiheitlich demokratischen Grundordnung indiziert dies.579 Daher ergibt sich folgender Prüfungsmaßstab: Der Bundestag ist dazu verpflichtet, verfassungsrechtliche Quorenrechte in Form der klassischen Oppositionsmittel derart umzugestalten, dass sie auch von der Opposition wahrgenommen werden können, sofern anderweitige ranghöhere (kern-)verfassungsrechtliche Vorgaben, namentlich der Grundsatz effektiver Opposition, eine solche Neuregelung notwendig machen. Martin Johannes Ohms vertritt die völlig vereinzelt gebliebene These, dass neben der Konstruktion verfassungswidrigen Verfassungsrechts auch Veränderungen außerhalb der Verfassung zu einer „Verfassungslegislativpflicht“580 nach Art. 79 Abs. 3 GG führen können. Durch die Veränderung der tatsächlichen Umstände 575 Zum Prüfungsmaßstab in einer Fallbearbeitung anschaulich Holterhus, JuS 2016, 711 (712); insgesamt kritisch Lassahn, NVwZ 2016, 922 (929); Hillgruber, JA 2016, 638 (640). 576 Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Rn. 20. 577 BVerfGE 30, 1 (25); dennoch ist das Bundesverfassungsgericht nicht für Konkretisierungen verschlossen, das zeigen die Ausführungen zum Unterrichtungsanspruch des Parlaments im Rahmen seiner haushaltspolitischen Verantwortung in BVerfGE 132, 195 (238); auch noch Evers, in: BK, GG, 45. EL Oktober 1982, Art. 79 Rn. 203; grundlegend für das Demokratieprinzip Kriele, VVDStRL 29 (1971), 46 (47); Wegge, Zur normativen Bedeutung des Demokratieprinzips nach Art. 79 Abs. 3 GG. 578 Bryde, in: v. Münch/Kunig, GG, Bd. 2, Art. 79 Rn. 40. 579 BVerfGE 2, 1 (12 f.). 580 Ohms, Die verfassungsimmanente Pflicht des Gesetzgebers zur Änderung des Grundgesetzes, S. 97.

D. Verfassungsänderungspflicht angesichts qualifizierter Großer Koalitionen

173

könne ein Verfassungsgebot zur Identitätswahrung entstehen.581 Doch sprechen gewichtige im Grundgesetz angelegte Gründe gegen eine solche Konstruktion,582 zuvörderst aber die einfache Möglichkeit der Verfassungsänderung. Durch eine ungeschriebene Verfassungslegislativpflicht werden rechtspolitische Forderungen mit verfassungsrechtlichen Handlungspflichten vermengt.583 Eine qualifizierte Große Koalition aber stellt schon keine besondere tatsächliche Veränderung dar, schließlich war dem Verfassungsgeber die Möglichkeit qualifizierter Großer Koalitionen, mag sie auch nicht erwünscht gewesen sein, bewusst.584 Im Übrigen waren qualifizierte Große Koalitionen in der Geschichte der Bundesrepublik häufiger als nicht-qualifizierte Große Koalitionen.585

II. Keine Grundgesetzänderungspflicht Das Grundgesetz kennt wie oben gezeigt eine Funktionsgarantie effektiver parlamentarischer Opposition. Dies bedeutet aber e contrario noch keine automatische Pflicht zur Schaffung konkreter Rechtspositionen im Falle einer politischen Situation, in der quorenabhängige Minderheitenrechte nicht von der Opposition wahrgenommen werden können. Die Machtverschiebung zulasten der parlamentarischen Opposition im Rahmen von qualifizierten Großen Koalitionen spricht zwar durchaus für ein Kompensationsbedürfnis.586 Doch selbst bei der Anerkennung des Grundsatzes effektiver parlamentarischer Opposition als Teil des von Art. 79 Abs. 3 i.V.m. Art. 20 GG geschützten Kernverfassungsrechts kann eine Grundgesetzänderungspflicht deswegen noch nicht bejaht werden. Gegen eine Verfassungsänderungspflicht 581

Dazu Ohms, Die verfassungsimmanente Pflicht des Gesetzgebers zur Änderung des Grundgesetzes, S. 89. 582 Vgl. ebenfalls ablehnend Herdegen, in: Maunz/Dürig, GG, 72. EL Juli 2014, Art. 79 Rn. 86; Sachs, in: ders., GG, Art. 79 Rn. 85; Voßkuhle, Der Staat 43 (2004), 450 (458); Starski, DÖV 2016, 750 (759); wohl a.A. hinsichtlich des Menschenwürdeschutzes Hain, Die Grundsätze des Grundgesetzes, S. 78 f. 583 Wolff, Ungeschriebenes Verfassungsrecht unter dem Grundgesetz, S. 338 f. 584 Siehe 1. Kapitel B. II. 3. 585 Siehe 1. Kapitel B. II. 2. 586 Die Gleichheit der Abgeordneten gar als Grund für die Pflicht einer Schaffung von spezifischen Oppositionsrechten anzusehen, scheint sehr konstruiert. Wenn Abgeordnete der Opposition auch stellenweise, z.B. hinsichtlich eines fehlenden Regierungsapparats benachteiligt sind, eine Pflicht zur Verfassungsänderung und Einrichtung von spezifischen Oppositionsrechten folgt daraus nicht. Vgl. Starski, DÖV 2016, 750 (756). Auch die Verlängerung der Redezeit für die Opposition (siehe 3. Kapitel) oder die finanzielle Erhöhung des Oppositionszuschlages (siehe 4. Kapitel) kann Wirkungsmöglichkeiten der Opposition durch die verfehlten Quoren nicht ersetzen. Ähnlich Cancik, Der Grundsatz (in)effektiver Opposition: zum Urteil des Bundesverfassungsgerichts in Sachen Oppositionsfraktionsrechte, 9. 5. 2016, http:// verfassungsblog.de/der-grundsatz-ineffektiver-opposition-zum-urteil-des-bundesverfassungsge richts-in-sachen-oppositionsfraktionsrechte/, zuletzt geprüft am 26. 4. 2018. A.A. anscheinend BVerfGE 142, 25 (63 f.).

174

2. Kap.: Die Minderheitenrechte im Deutschen Bundestag

hin zu spezifischen Oppositionsrechten spricht nicht nur der Dreiklang von Gründen, der bereits oben eine Auslegung zugunsten spezifischer Oppositionsrechte verhindert (Verfassungswortlaut, Mandatsgleichheit, Rechtsbetroffenheit Dritter). Aus der fehlenden Inanspruchnahmemöglichkeit der Quorenrechte für die oppositionelle Parlamentsminderheit erwächst insbesondere noch keine derart gravierende Störung des parlamentarischen Kontrollgefüges, dass sich daraus eine Verfassungspflicht ableiten ließe. Hinzu kommt, dass die Minderheitenrechte als Ausprägungen des Grundsatzes parlamentarischer Opposition jedenfalls nicht von Art. 79 Abs. 3 GG erfasst werden. Die Einführung von Oppositionsrechten in die Verfassung ist zwar grundsätzlich möglich.587 Bei einer Verankerung von spezifischen Oppositionsrechten in das Grundgesetz könnten der Grundsatz parlamentarischer Opposition und die Gleichheit der Abgeordneten als kernverfassungsrechtliche Teile des Demokratieprinzips in Einklang gebracht werden.588 Der Grundsatz effektiver Opposition führt jedoch keinesfalls zur Begründung konkreter Oppositionsrechte oder gar zur Pflicht, solche Rechte zu schaffen.589 Auch einer Pflicht zur mandatsneutralen Absenkung der Minderheitenquoren muss eine Absage erteilt werden.590 Verfassungswidriges Verfassungsrecht kann nämlich schon deshalb nicht angenommen werden, weil die Minderheitenrechte entweder seit Inkrafttreten des Grundgesetzes existieren (Art. 39 Abs. 3 Satz 3, 44 Abs. 1 Satz 1 GG), sie erst im Laufe der Jahre eingeführt und angepasst (Art. 23 Abs. 1a Satz 2, 45a Abs. 2 Satz 2 GG) oder im Sinne des Minderheitenschutzes verändert wurden (Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 GG).591 Lammert behält daher recht, wenn er sagt, dass der Gesetzgeber nicht regeln müsse, was der Wähler selbst verantworten könne.592

587 Starski, DÖV 2016, 750 (755). A.A. wohl BVerfGE 142, 25 (60). Es ist nicht notwendig davon auszugehen, dass das Bundesverfassungsgericht damit deutlich machen wollte, dass es den Grundsatz parlamentarischer Opposition im Gegensatz zum Gleichbehandlungsgrundsatz nicht vom Schutzbereich des Art. 79 Abs. 3 GG erfasst sieht, dann wäre die Einführung von Oppositionsrechten in das Grundgesetz aufgrund der binnenverfassungsrechtlichen Normordnung tatsächlich nicht möglich. Dazu ähnlich wie hier Uhle, ZG 33 (2018), 1 (12), und mit einem interessanten Hinweis auf ein mögliches „Zurückrudern“ des Gerichts in Fn. 80. Vgl. enger Hofmann, in: Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/Henneke, GG, Art. 20 Rn. 45. 588 BVerfGE 3, 225 (231). 589 Gegen eine solche Verfassungspflicht sprechen sich z.B. auch aus: Schwarz, ZRP 2013, 226 (227); Kluth, in: Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/Henneke, GG, Art. 44 Rn. 13; Wolff, in: Hömig/Wolff, GG, Art. 93 Rn. 12. 590 Hofmann, in: Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/Henneke, GG, Art. 20 Rn. 45. 591 BVerfGE 142, 25 (66 f.). 592 Lammert bei Tenfelde, Lammert: Gefälschte Nachrichten sehr gefährlich, 24. 12. 2016, https://www.noz.de/deutschland-welt/politik/artikel/823796/lammert-gefaelschte-nachrichtensehr-gefaehrlich, zuletzt geprüft am 26. 4. 2018.

E. Abstimmungspflichten zugunsten der parlamentarischen Opposition

175

E. Abstimmungspflichten zugunsten der parlamentarischen Opposition in Zeiten qualifizierter Großer Koalitionen In gebotener Kürze können Abstimmungspflichten für die Mehrheitsfraktionen im Sinne der Anträge der parlamentarischen Opposition verneint werden.593 Abgeordnete der Regierungsfraktionen sind auch nicht während qualifizierter Großer Koalitionen zu einer bestimmten Stimmabgabe verpflichtet, um der parlamentarischen Opposition das Erreichen der verfassungsrechtlichen Quoren zu ermöglichen. Zwar sind der Verfassung Abstimmungspflichten – entgegen der Erwartung – trotz der Mandatsfreiheit nicht grundsätzlich fremd: Anknüpfungspunkte finden sich sowohl im Beschluss zur Klageerhebung im Falle des Art. 23 Abs. 1a Satz 2 GG594 als auch im Einsetzungsbeschluss gemäß Art. 44 Abs. 1 Satz 1 Alt. 2 GG und im Konstituierungsbeschluss gemäß Art. 45a Abs. 1 Satz 2 GG hinsichtlich parlamentarischer Untersuchungen. Ergänzt werden diese Abstimmungspflichten durch die gesetzlichen Minderheitenrechte im Untersuchungsausschussgesetz, die im Gleichlauf zu Art. 44 Abs. 1 Satz 1 GG auch im Ausschuss Abstimmungspflichten für die Ausschussmehrheit schaffen.595 Hier sind die Abgeordneten auf Antrag eines Viertels der Mitglieder des Bundestages bzw. der Ausschussmitglieder dazu verpflichtet, einen Beschluss im Sinne des Antrages – im Zweifel und in der Praxis durch Stimmenthaltung – zu ermöglichen. Eine solche Abstimmungspflicht lässt sich aber nicht generell von Verfassung wegen aus dem Grundsatz parlamentarischer Opposition entnehmen, nur weil die parlamentarische Opposition die verfassungsrechtlichen Minderheitenquoren in Zeiten qualifizierter Großer Koalitionen verfehlt. Eine Abstimmungspflicht für die Abgeordneten der Regierungskoalition widerspräche dem Wortlaut der Verfassung,596 da Abstimmungspflichten nichts anderes hießen als eine Entleerung der grundgesetzlichen Anforderungen an die Zurverfügungstellung bestimmter Rechte. Ferner würde das Wahlergebnis verfälscht.597 Abstimmungspflichten widersprechen mit Ausnahme der normierten Fälle dem Wortlaut der Verfassung. Die parlamentarische Opposition erreicht die notwendigen Abgeordnetenzahlen der grundgesetzlichen Quoren in Phasen qualifizierter Großer Koalitionen schlicht nicht.598

593 Entsprechende Überlegungen finden sich zumindest bei Sitte, in: BT-Plenarprotokoll 18/ 26 vom 3. April 2014, S. 2070 (B). Siehe dazu auch die Antragsschrift der Fraktion DIE LINKE, abgedruckt bei Schneider/Schwarz, Parlamentarische Opposition zwischen Effektivität und Egalität, S. 36. Ferner Starski, DÖV 2016, 750 (759 f.). 594 Für die Notwendigkeit eines solchen Beschluss sprechen sich auch aus UerpmannWittzack/Edenharter, EuR 2009, 313 (314). 595 Vgl. zum Verhältnis der Vorschriften zueinander BGH, NVwZ 2017, 651 (653). 596 Wohl a.A. Starski, DÖV 2016, 750 (759). 597 Vgl. Schwarz, ZRP 2013, 226 (227). 598 Vgl. hier dens., Locker bleiben, FAZ vom 1. 11. 2013, S. 7.

176

2. Kap.: Die Minderheitenrechte im Deutschen Bundestag

F. Verfassungsmäßigkeit von § 126a GO-BT a.F. Angesichts der besonderen Mehrheitsverhältnisse beschlossen die Fraktionen von CDU/CSU, SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN bei Enthaltung der Linksfraktion am 3. April 2014 eine Geschäftsordnungsänderung des Deutschen Bundestages für die 18. Wahlperiode: § 126a GO-BT a.F.599 Sie galt bis zur konstituierenden Sitzung 599

Die Vorschrift des § 126a GO-BT a.F. hatte folgenden Wortlaut: „§ 126a Besondere Anwendung von Minderheitsrechten in der 18. Wahlperiode [Abs. 1] Für die Dauer der 18. Wahlperiode gelten folgende Regelungen: 1. Auf Antrag von 120 seiner Mitglieder setzt der Bundestag einen Untersuchungsausschuss gemäß Artikel 44 des Grundgesetzes ein. Die Zahl der Mitglieder des Untersuchungsausschusses wird nach dem vom Bundestag beschlossenen Verteilverfahren (Bundestagsdrucksache 18/212) so bestimmt, dass die Fraktionen, die nicht die Bundesregierung tragen, gemeinsam ein Viertel der Mitglieder stellen. 2. Der Verteidigungsausschuss stellt sicher, dass auf Antrag aller Ausschussmitglieder der Fraktionen, die nicht die Bundesregierung tragen, gemäß Artikel 45a Absatz 2 des Grundgesetzes eine Angelegenheit der Verteidigung zum Gegenstand seiner Untersuchung gemacht wird und die Rechte, die nach dem Untersuchungsausschussgesetz einem Viertel der Ausschussmitglieder zustehen, von diesen Mitgliedern entsprechend geltend gemacht werden können. 3. Auf Antrag von 120 Mitgliedern des Bundestages beruft der Präsident den Bundestag ein. 4. Auf Antrag von 120 seiner Mitglieder erhebt der Bundestag wegen Verstoßes eines Gesetzgebungsakts der Europäischen Union gegen das Subsidiaritätsprinzip Klage vor dem Gerichtshof der Europäischen Union entsprechend Artikel 23 Absatz 1a des Grundgesetzes. 5. Auf Antrag von 120 seiner Mitglieder macht der Bundestag deren Auffassung entsprechend § 12 Absatz 1 des Integrationsverantwortungsgesetzes in Verbindung mit § 93d in der Klageschrift deutlich, sofern sie die Erhebung einer Klage wegen Verstoßes eines Gesetzgebungsakts der Europäischen Union gegen das Subsidiaritätsprinzip vor dem Gerichtshof der Europäischen Union nicht stützen. 6. Einem Verlangen, die Bundesregierung möge nach § 8 Absatz 5 des Gesetzes über die Zusammenarbeit von Bundesregierung und Deutschem Bundestag in Angelegenheiten der Europäischen Union die Gründe erläutern, aus denen nicht alle Belange einer Stellungnahme des Bundestages berücksichtigt wurden, tritt der Bundestag dann bei, wenn es von 120 seiner Mitglieder erhoben wird. 7. Einem Verlangen nach Unterrichtung des Haushaltsausschusses gemäß § 5 Absatz 4 des ESM-Finanzierungsgesetzes durch den von Deutschland nach Artikel 5 Absatz 1 des Vertrags zur Einrichtung des Europäischen Stabilitätsmechanismus ernannten Gouverneur und dessen Stellvertreter wird der Haushaltsausschuss dann beitreten, wenn es von allen Ausschussmitgliedern der Fraktionen, die nicht die Bundesregierung tragen, erhoben wird. 8. Bei Anträgen oder Vorlagen der Bundesregierung gemäß § 5 Absatz 6 des ESM-Finanzierungsgesetzes oder § 4 Absatz 5 des Stabilisierungsmechanismusgesetzes führt der Haushaltsausschuss auf Verlangen aller Ausschussmitglieder der Fraktionen, die nicht die Bundesregierung tragen, eine öffentliche Anhörung entsprechend § 70 Absatz 1 Satz 2 durch. 9. Bei überwiesenen Vorlagen führt der federführende Ausschuss auf Verlangen aller Ausschussmitglieder der Fraktionen, die nicht die Bundesregierung tragen, eine öffentliche Anhörung entsprechend § 70 Absatz 1 Satz 2 durch. 10. Eine Plenarberatung statt einer erweiterten öffentlichen Ausschusssitzung (§ 69a Absatz 5) findet statt, wenn es von allen Mitgliedern des Ausschusses, die nicht die Bundesregierung tragen, verlangt wird. 11. Auf Antrag von 120 seiner Mitglieder setzt der Bundestag entsprechend § 56 Absatz 1 eine Enquete-Kommission ein. [Abs. 2] Auf die Regelungen nach Absatz 1 findet § 126 keine Anwendung.“

F. Verfassungsmäßigkeit von § 126a GO-BT a.F.

177

des 19. Deutschen Bundestages. Die zeitliche Befristung war ausdrücklich in der Norm angelegt.600

I. Geschäftsordnungsautonomie als Rechtsgrundlage für die Regelung von § 126a GO-BT a.F. Die Regelung der besonderen Anwendung der Minderheitenrechte in der 18. Wahlperiode in § 126a GO-BT a.F. fußte auf dem parlamentarischen Selbstorganisationsrecht nach Art. 40 Abs. 1 Satz 2 GG, in diesem Fall auf der Geschäftsordnungsautonomie im engeren Sinne. Im Rahmen des § 126a GO-BT a.F., und darüber hinaus für die in der vorliegenden Arbeit noch zu diskutierenden Verfassungsfragen, ist das parlamentarische Selbstorganisationsrecht von vielschichtiger Bedeutung. Daher findet an dieser Stelle eine ausführliche Auseinandersetzung statt. 1. Geschäftsordnungsautonomie – Selbstorganisationsrecht – Parlamentsautonomie Der Deutsche Bundestag ist das oberste Verfassungsorgan und als einziges Bundesorgan unmittelbar demokratisch legitimiert. Er fungiert in erster Linie als Gesetzgebungs- und Kontrollorgan und auch darüber hinaus kommt ihm eine Fülle von Aufgaben zu; hier seien nur noch seine Kreations- und Repräsentationsaufgaben erwähnt.601 Damit er diesen Aufgaben nachkommen kann, bedarf es einer internen Organisation. Zu unterscheiden ist das Selbstorganisationsrecht des Parlaments von der Geschäftsordnungsautonomie einerseits und der Parlamentsautonomie andererseits. Die Geschäftsordnungsautonomie ist Teil des Selbstorganisationsrechts, das Selbstorganisationsrecht ist wiederum Teil der Parlamentsautonomie.602 So ergibt sich die Ordnung: Geschäftsordnungsautonomie (im engeren Sinne) – Selbstorganisationsrecht – Parlamentsautonomie. Sowohl der Begriff der Geschäftsordnung als auch der Geschäftsordnungsautonomie sind mehrdeutig. Geschäftsordnung im engeren Sinne meint die kodifizierte Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages. Weiter verstanden meint Geschäftsordnung alle Vorschriften, die parlamentarische Organisation und Verfahren

600 Dies verringert jedoch nicht ihre rechtspolitische Bedeutung für die Zukunft, insbesondere für die Problematik von Minderheitenrechten in Phasen qualifizierter Großer Koalitionen, aber auch darüber hinaus; siehe nur BT-Drs. 19/5. 601 Das Parlament hat daneben auch eine Wahlprüfungs-, Öffentlichkeits-, Budget-, Willensbildungs-, Initiativ- und Integrationsfunktion. 602 Ein ähnliches begriffliches Verständnis wird zugrunde gelegt z.B. bei Brocker, in: BK, GG, 150. EL Februar 2011, Art. 40 Rn. 50 ff.; Schliesky, in: Morlok/Schliesky/Wiefelspütz, Parlamentsrecht, § 5 Rn. 59.

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2. Kap.: Die Minderheitenrechte im Deutschen Bundestag

regeln: von der Verfassungsnorm bis zum Parlamentsbrauch.603 Die Geschäftsordnungsautonomie im engeren Sinne ist die Befugnis, sich eine kodifizierte Geschäftsordnung zu geben. Geschäftsordnungsautonomie im weiteren Sinne meint die Befugnis des Parlaments, sich umfassend selbst zu organisieren und Parlamentsrecht zu begründen. Art. 40 Abs. 1 Satz 2 GG stellt nicht nur eine Befugnis zur Schaffung einer kodifizierten Geschäftsordnung dar, die Vorschrift ist gleichzeitig als Anknüpfungspunkt einer Geschäftsordnungsautonomie im weiteren Sinne, eines umfassenden Selbstorganisationsrechts, zu begreifen.604 Geschäftsordnungsautonomie im weiteren Sinne und parlamentarisches Selbstorganisationsrecht sind bedeutungsgleich. Dieses Selbstorganisationsrecht des Bundestages umfasst die Organisations- und die Verfahrensautonomie des Parlaments.605 Es ist in Art. 40 Abs. 1 Satz 2 GG zu lokalisieren.606 Zwar ist die Wahl des Bundestagspräsidenten, der Stellvertreter und Schriftführer (Art. 40 Abs. 1 Satz 1 GG) ebenfalls ein Akt der Selbstorganisation, weswegen es keinesfalls fernliegt, die Vorschrift des Art. 40 Abs. 1 GG insgesamt für das Selbstorganisationsrecht heranzuziehen.607 Art. 40 Abs. 1 Satz 1 GG stellt 603 Zwischen der Geschäftsordnung im engeren und im weiteren Sinne schon differenzierend Bernau, Die verfassungsrechtliche Bedeutung von Geschäftsordnungen oberster Staatsorgane, S. 16; Braun, Das autonome Reichstagsrecht, S. 11; Dondorf, Die rechtliche Natur der Geschäftsordnung und der Geschäftsgang im deutschen Reichstag, S. 5; Haagen, Die Rechtsnatur der parlamentarischen Geschäftsordnung, S. 3; Reifenberg, Die Bundesverfassungsorgane und ihre Geschäftsordnungen, S. 10; auch Kretschmer, in: Schneider/Zeh, Parlamentsrecht und Parlamentspraxis, § 9 Rn. 36; Pietzcker, in: Schneider/Zeh, Parlamentsrecht und Parlamentspraxis, § 10 Rn. 27; Schulte/Zeh, in: Schneider/Zeh, Parlamentsrecht und Parlamentspraxis, § 43 Rn. 50; zwischen kodifizierter Geschäftsordnung und innerem Parlamentsrecht unterscheidet Arndt, Parlamentarische Geschäftsordnungsautonomie und autonomes Parlamentsrecht, S. 16 f.; zwischen formeller und materieller Geschäftsordnung unterscheiden Jellinek, in: Jellinek, Ausgewählte Schriften und Reden von Georg Jellinek, Bd. 2, S. 258; Haug, Bindungsprobleme und Rechtsnatur parlamentarischer Geschäftsordnungen, 36 ff.; Rösch, Wesen und Rechtsnatur der parlamentarischen Geschäftsordnung, S. 28 ff.; Walz, in: Stammler, Das gesamte deutsche Recht in systematischer Darstellung, S. 332. 604 Klein, in: Maunz/Dürig, GG, 50. EL Juni 2007, Art. 40 Rn. 1; zwischen Geschäftsordnungsautonomie und Staatsorganautonomie unterscheidend Schneider, in: AK, GG, 2. EL August 2002, Art. 40 Rn. 2. 605 Brocker, in: BK, GG, 150. EL Februar 2011, Art. 40 Rn. 57; Morlok/Hientzsch, JuS 2011, 1 (3); Schneider, in: AK, GG, 2. EL August 2002, Art. 40 Rn. 3. 606 Wie hier ebenfalls Art. 40 Abs. 1 Satz 2 GG als verfassungsrechtliche Grundlage des Selbstorganisationsrechts ansehend Bollmann, Verfassungsrechtliche Grundlagen und allgemeine verfassungsrechtliche Grenzen des Selbstorganisationsrechts des Bundestages, S. 27 f.; Morlok, in: Dreier, GG, Bd. 2, Art. 40 Rn. 23; Schwerin, Der Deutsche Bundestag als Geschäftsordnungsgeber, S. 22 f. Fn. 22. A.A. ist Kühnreich, Das Selbstorganisationsrecht des Deutschen Bundestages unter besonderer Berücksichtigung des Hauptstadtbeschlusses, S. 58, der auf Art. 40 GG insgesamt abstellt. Wiederum anders, auf Art. 40 Abs. 1 GG abstellend Brocker, in: BK, GG, 150. EL Februar 2011, Art. 40 Rn. 59; Schneider, in: AK, GG, 2. EL August 2002, Art. 40 Rn. 3. 607 Vgl. mit beachtlichen Argumenten Brocker, in: BK, GG, 150. EL Februar 2011, Art. 40 Rn. 59.

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aber vor allem eine Spezialregelung dar, die – wie so viele – der Selbstorganisationsbefugnis Vorgaben macht, nur eben in unmittelbarer Nachbarschaft zu Art. 40 Abs. 1 Satz 2 GG steht. Die ausdrückliche Erwähnung der Leitungsorgane in Art. 40 Abs. 1 Satz 1 GG geht auf die konstitutionellen Ernennungsrechte der Krone zurück, gegen die die Vorschrift Stellung beziehen sollte.608 Der historische Gleichlauf von Art. 40 Abs. 1 Satz 1 und 2 GG ändert nichts daran, dass der Wortlaut von Art. 40 Abs. 1 Satz 1 GG gegen eine weitergehende Organisationsautonomie spricht. Vielmehr sind Organisations- und Verfahrensreglement untrennbar.609 Dies macht z.B. die Ausschusseinsetzung sichtbar, hier geht es sowohl um die Schaffung von Parlamentsorganen als auch um Verfahrenssicherung. Praktische Relevanz hat eine unterschiedliche Herleitung nicht. Das Selbstorganisationsrecht erschöpft sich jedenfalls nicht im ausdrücklichen Inhalt des Art. 40 Abs. 1 Satz 2 GG, sich eine Geschäftsordnung zu geben.610 Die Norm bietet im verfassungsrechtlichen Gesamtgefüge lediglich die Fixierung eines umfassenden Rechts, sich selbst zu organisieren, auch über den Inhalt der kodifizierten Geschäftsordnung hinaus.611 „Selbstorganisations-Recht“ (Geschäftsordnungsrecht im weiteren Sinne) ist jegliches vom Parlament autonom erlassenes Binnenrecht. Das Selbstorganisationsrecht ist Bestandteil der Parlamentsautonomie. Die Parlamentsautonomie hat ihren rechtlichen Anknüpfungspunkt zwar in Art. 40 GG,612 sie findet ihre grundgesetzliche Verankerung aber in einer Zusammenschau mehrerer Bestimmungen. Zur Parlamentsautonomie gehören über den Wortlaut des Art. 40 GG hinaus folglich nicht bloß die Wahl seiner Leitungsorgane (Art. 40 Abs. 1 Satz 1 GG) und die Geschäftsordnungsautonomie (Art. 40 Abs. 1 Satz 2 GG) sowie Hausrecht und Polizeigewalt (Art. 40 Abs. 2 GG). Die Parlamentsautonomie umfasst neben dem weitreichenden Recht, sich selbst zu organisieren,613 das Selbstversammlungsrecht in Art. 39 Abs. 3 Satz 1 GG, das Enqueterecht in Art. 44 Abs. 1 GG sowie die Immunität der Abgeordneten in Art. 46 GG. 608

S. 68. 609

Arndt, Parlamentarische Geschäftsordnungsautonomie und autonomes Parlamentsrecht,

Bollmann, Verfassungsrechtliche Grundlagen und allgemeine verfassungsrechtliche Grenzen des Selbstorganisationsrechts des Bundestages, S. 28. 610 Schliesky, in: Morlok/Schliesky/Wiefelspütz, Parlamentsrecht, § 5 Rn. 59 ff.; Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. 2, § 26 III/6, S. 81. 611 BVerfGE 80, 188 (219); 102, 224 (235); 104, 310 (332). 612 Vgl. dazu BVerfG, NJW 2005, 2843; BVerfGE 102, 224 (235); Brocker, in: Epping/ Hillgruber, GG, 37. Edition Mai 2018, Art. 40 Rn. 1; Klein, in: Maunz/Dürig, GG, 50. EL Juni 2007, Art. 40 Rn. 1; Magiera, in: Sachs, GG, Art. 40 Rn. 1; Schneider, in: AK, GG, 2. EL August 2002, Art. 40 Rn. 2; Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. 2, § 26 III/2, S. 81; auch Kluth, in: Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/Henneke, GG, Art. 40 Rn. 15, der hier auf Art. 40 Abs. 1 Satz 2 GG abgestellt; dagegen knüpft Schliesky, in: Morlok/Schliesky/ Wiefelspütz, Parlamentsrecht, § 5 Rn. 59, vor allem an Art. 40 Abs. 1 GG an. 613 BVerfGE 80, 188 (219); 102, 224 (235); 104, 310 (332); vgl. auch Bollmann, Verfassungsrechtliche Grundlagen und allgemeine verfassungsrechtliche Grenzen des Selbstorganisationsrechts des Bundestages, S. 33.

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Eine weitere Ausprägung der Parlamentsautonomie ist das Wahlprüfungsrecht in Art. 41 Abs. 1 Satz 1 GG.614 Diese Normen bilden zusätzlich zum verfassungsrechtlichen Angelpunkt615 des Art. 40 GG den Kern parlamentarischer Autonomie.616 2. Selbstorganisationsrecht als parlamentarische Errungenschaft Das parlamentarische Selbstorganisationsrecht ist – wie die Parlamentsautonomie als Ganzes – das Ergebnis einer historisch gewachsenen Bedeutung des Parlamentarismus.617 Parlamente sind aus freien Wahlen hervorgegangene Volksvertretungen.618 Sie bilden ihren eigenen Willen, unabhängig und mittels Mehrheitsentscheidung. Im Parlament sind die verschiedenen politischen Kräfte des Staates vertreten, mindestens zwei Parteien stehen hier im politischen Wettbewerb.619 Kein Parlament gleicht dem anderen, doch alle europäischen Parlamente gehen auf einheitliche, wenngleich nicht antike, historische Grundlinien zurück. Die Versammlungen im antiken Athen und in der Römischen Republik hatten auf den modernen Parlamentarismus wenig Einfluss. An den Gerichtsversammlungen Athens, die bereits 600 vor Christus stattfanden, nahmen tausende Bürger teil. Später dienten diese Versammlungen auch zur Beratung der Rechtmäßigkeit von Gesetzen. Die Versammlungsdemokratie und das Aufkommen einer Staatlichkeit durch die Verbindung zwischen Bürger und Polis zu diesem frühen Zeitpunkt sind bemerkenswert,620 das gesellschaftliche Leben basierte jedoch auf einem System der Trennung zwischen Freien und Sklaven.621 Auch der Römischen Republik war die Unterscheidung zwischen Freien und Sklaven immanent. Regelungen, die weder parla-

614

Vgl. Brocker, in: BK, GG, 150. EL Februar 2011, Art. 40 Rn. 63; dens., in: Epping/ Hillgruber, GG, 37. Edition Mai 2018, Art. 41 Rn. 9, der Art. 41 Abs. 1 Satz 1 GG im Gegensatz zu Art. 48 GG als wesentlichen Ausdruck der Parlamentsautonomie ansieht, aber das Wahlprüfungsrecht nicht zum Kern der Parlamentsautonomie zählt; auch dazu Magiera, in: Sachs, GG, Art. 41 Rn. 1. 615 Kluth, in: Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/Henneke, GG, Art. 40 Rn. 14. 616 BVerfGE 102, 224 (236). 617 BVerfGE 44, 308 (314); 70, 324 (360 f.); vgl. dazu auch Klein, in: Maunz/Dürig, GG, 50. EL Juni 2007, Art. 40 Rn. 23; zu den Wurzeln der Parlamentsautonomie sehr ausführlich Brocker, in: BK, GG, 150. EL Februar 2011, Art. 40 Rn. 1 ff.; Herz, ZParl. 41 (2010), 551 (563). Ferner Kretschmer, ZParl. 17 (1986), 334 (337): „Der Kampf um die Geschäftsordnungsautonomie war der Kampf um die Durchsetzung des Parlamentarismus“. 618 Zeh, Parlamentarismus, S. 78 f. 619 Ders., Parlamentarismus, S. 78 f. 620 Ders., Parlamentarismus, S. 23. 621 Schönberger, in: Morlok/Schliesky/Wiefelspütz, Parlamentsrecht, § 1 Rn. 10 m.w.N.

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mentarisch noch autonom entstanden, aber der Funktionalität von Versammlungen dienten, gab es freilich schon; insbesondere im Römischen Senat.622 Die Anfänge der Entwicklungsgeschichte europäischer Parlamente623 gehen jedoch weniger auf die attische Demokratie oder Römische Republik zurück als auf die Ständeversammlungen des Mittelalters. Seit dem 13. Jahrhundert wurden in ganz Europa außerordentliche Versammlungen vom König einberufen, um drängendste Fragen z.B. der Steuer und des Militärs zu klären. Teilnehmer waren die Mächtigen des Landes, d.h. insbesondere die Feudalherren und der Klerus, später auch Ritter und Städte.624 Unterschiedlich entwickelte sich der Aufgabenbereich der Versammlungen, und damit deren Machtfülle. Die Stände waren teilweise an der Steuerbewilligung und Gesetzgebung beteiligt, teilweise wurden sie mit administrativen Aufgaben betreut. Ebenso unterschiedlich verhielt es sich mit den Organisations- und Verfahrensregelungen der Ständeversammlungen. Zwar kannten auch die feudalen Versammlungen des Hoftags des Königs ab dem zehnten Jahrhundert625, des Kurfürstenkollegiums seit dem 14. Jahrhundert626 und schließlich des Reichstages des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation ab 1470627 Verfahrensregeln. Ein parlamentarisches und weitgehend unabhängiges Geschäftsordnungsrecht628 bildete sich aber erst in England, im Mutterland des Parlamentarismus. Eine Geschäftsordnung entstand dort bereits im 15. Jahrhundert. Später, nach der Glorreichen Revolution von 1688 und dem Inkrafttreten der Bill of Rights 1689629 622 Bleicken, Die Verfassung der Römischen Republik, S. 88; v. Herzog, Geschichte und System der römischen Staatsverfassung, Bd. 1, S. 903 ff.; auch Brocker, in: BK, GG, 150. EL Februar 2011, Art. 40 Rn. 2. 623 Das isländische Althing gilt als das älteste bestehende Parlament der Welt. Hier wurden schon im Jahr 930 Rechtsstreitigkeiten zum Thema von Versammlungen. Tynwald auf der Isle of Man gilt als das am längsten dauerhaft tagende Parlament, seine Ursprünge gehen auf das Jahr 979 zurück. 624 Schönberger, in: Morlok/Schliesky/Wiefelspütz, Parlamentsrecht, § 1 Rn. 11. 625 Brocker, in: BK, GG, 150. EL Februar 2011, Art. 40 Rn. 3; Moraw, in: Schneider/Zeh, Parlamentsrecht und Parlamentspraxis, § 1 Rn. 30 ff. 626 Zum Kurfürstenkollegium und seiner „Geschäftsordnung“, der Goldenen Bulle von 1356, Brocker, in: BK, GG, 150. EL Februar 2011, Art. 40 Rn. 3; Moraw, in: Schneider/Zeh, Parlamentsrecht und Parlamentspraxis, § 1 Rn. 43 ff., 87. 627 Brocker, in: BK, GG, 150. EL Februar 2011, Art. 40 Rn. 3; Kretschmer, in: Schneider/ Zeh, Parlamentsrecht und Parlamentspraxis, § 9 Rn. 14 m.w.N. 628 Herz, ZParl. 41 (2010), 551 (551 f.); auch Loewenberg, ZParl. 38 (2007), 816 (817): „Das moderne Parlament hat seine Vorgänger in den feudalen Versammlungen des mittelalterlichen Europas.“ 629 Vgl. Grimm, Deutsche Verfassungsgeschichte 1776 – 1866, S. 33 ff.; Kluxen, Geschichte und Problematik des Parlamentarismus, S. 96 ff.; ferner Haagen, Die Rechtsnatur der parlamentarischen Geschäftsordnung, S. 5 ff.; Haug, Bindungsprobleme und Rechtsnatur parlamentarischer Geschäftsordnungen, S. 29; Loewenberg, Parlamentarismus im politischen System der Bundesrepublik Deutschland, S. 29 f.; Rösch, Wesen und Rechtsnatur der parlamentarischen Geschäftsordnung, S. 7 ff.; Kretschmer, in: Schneider/Zeh, Parlamentsrecht und Parlamentspraxis, § 9 Rn. 7.

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erlangte das House of Commons auch weitgehende parlamentarische Autonomie. Von England aus gelangte die Idee parlamentarischer Selbstorganisation nach Kontinentaleuropa: In Frankreich wurden die Generalstände nach 1614 mehr als anderthalb Jahrhunderte von den Königen ignoriert und nicht einberufen. 1789 kam es zur Französischen Revolution. Am 17. Juni 1789 erklärte sich der Dritte Stand zur Nationalversammlung, die als verfassungsgebende Gewalt den Anspruch auf eine autonome Regelung der eigenen Angelegenheiten erhob.630 Unter dem französischen Einfluss erlangte auch der Rheinisch-Deutsche Nationalkonvent der Mainzer Republik 1793 erstmals, wenn auch nur kurzweilig, parlamentarische Autonomie.631 Die Herrschaft Napoleons unterbrach sodann das parlamentarische Aufbegehren.632 Ab 1814 bestimmten die beiden französischen Kammern ihre inneren Angelegenheiten jedoch selbst, während die Regelung von Parlamentsbeziehungen nach außen, dem konstitutionellen Verständnis von Gesetzgebung entsprechend,633 exekutiver Zustimmung bedurfte:634 Der Grundstein für parlamentarische Selbstorganisation war angestoßen. Die Restaurationsverfassung Frankreichs von 1814 bot damit den Ausgangspunkt des kontinentaleuropäischen Parlamentarismus in der Epoche des Konstitutionalismus des langen 19. Jahrhunderts. Die deutsche Ausgestaltung kollegialer635 Befugnisse im Rahmen der parlamentarischen Selbstorganisation aber musste in diesem Konstitutionalismus und dessen obrigkeitsstaatlichen Rahmen heranwachsen.636 Nach dem Ende des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation 1806 und der Gründung des Deutschen Bundes von 1815 entstanden nur auf Ebene der Gliedstaaten parlamentarische Institutionen. Der Bundestag in Frankfurt knüpfte an den Immerwährenden Reichstag zu Regensburg an, der als Vertretung der Fürsten ebenfalls ein Gesandtenkongress war. Zwar war auch nach dem Wiener Kongress das monarchische Prinzip des Art. 57 der Wiener Schlussakte maßgebend für die neuen Verfassungen, die zunächst in Süddeutschland in Kraft traten (süddeutscher Frühkonstitutionalismus). Die 630

Hatschek, Das Parlamentsrecht des Deutschen Reiches, S. 33 f.; vgl. auch Badura, in: BK, GG, 132. EL Februar 2008, Art. 38 Rn. 11; aus der Politikwissenschaft Szmula, in: Röhring/Sontheimer, HdB-Parlamentarismus, S. 157. 631 Brocker, in: BK, GG, 150. EL Februar 2011, Art. 40 Rn. 9. 632 Schönberger, in: Morlok/Schliesky/Wiefelspütz, Parlamentsrecht, § 1 Rn. 24. 633 Grimm, Deutsche Verfassungsgeschichte 1776 – 1866, S. 116 ff. 634 Dazu Hatschek, Das Parlamentsrecht des Deutschen Reiches, S. 37 f.; Szmula, in: Röhring/Sontheimer, HdB-Parlamentarismus, S. 157. 635 Vgl. Arndt, Parlamentarische Geschäftsordnungsautonomie und autonomes Parlamentsrecht, S. 19 f., der die kollegialen Befugnisse des Parlaments von den politischen Befugnissen abgrenzt. 636 Dazu Kriele, Einführung in die Staatslehre, S. 274: „Parlamentarische Institutionen entwickelten sich in ihrem [die konstitutionelle Monarchie] Rahmen. Sofern sich der Begriff der Demokratie mit diesen Institutionen verband, bedeutete er also: Demokratie unter den Bedingungen und unter dem Vorbehalt des ,Obrigkeitsstaates‘“; vgl. auch Brocker, in: Morlok/ Schliesky/Wiefelspütz, Parlamentsrecht, § 34 Rn. 15; Klein, in: Maunz/Dürig, GG, 50. EL Juni 2007, Art. 40 Rn. 10.

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Kammern der Gliedstaaten, die sich nun nicht mehr nach dem Stand, sondern nach den Besitzverhältnissen, zusammensetzten,637 besaßen aber Mitwirkungsrechte bei der Gesetzgebung.638 Bei Eingriffen des Staates in Freiheit und Eigentum war eine gesetzliche Grundlage notwendig. Das parlamentarische Budgetrecht entwickelte sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zum wirksamen Kontrollrecht gegenüber der Regierung.639 Geprägt ist die Zeit bis 1918 vom Tauziehen zwischen parlamentarischem Machtzuwachs und monarchischer Machterhaltung. In diesem alten Dualismus des Konstitutionalismus waren nicht Regierung und Opposition, sondern Monarch und Parlament machtpolitische Gegenspieler. Nach und nach erstritten sich die Kammern der Gliedstaaten des Deutschen Bundes auch ein unabhängiges Recht zur Selbstorganisation:640 zunächst die süddeutschen Gliedstaaten Baden 1819641, Württemberg 1820642, Bayern643 sowie Kurhessen 1831644 und Sachsen 1833645, dann auch Preußen 1848646; später die Hansestädte Bremen 1854647, Lübeck 1875648 und Hamburg 1879649 sowie Elsaß-Lothringen noch 1911650 Andere 637

Scheuner, in: Bosl, Der moderne Parlamentarismus und seine Grundlagen in der ständischen Repräsentation, S. 318. 638 Schönberger, in: Morlok/Schliesky/Wiefelspütz, Parlamentsrecht, § 1 Rn. 26. 639 Vgl. Isensee, JZ 2005, 971 (971 f.). 640 Die erste Kammer war die von Art. 13 der Wiener Schlussakte von 1820 geforderte landständische Vertretung. Die Abgeordneten der sich vor allem in Süddeutschland gründenden zweiten Kammern wurden dagegen gewählt; vgl. dazu Karpen, JZ 2009, 749 (750); Kühne, in: Schneider/Zeh, Parlamentsrecht und Parlamentspraxis, § 2 Rn. 85 ff. 641 Hier erkannte die Regierung die Geschäftsordnungsautonomie der beiden Kammern stillschweigend an, dazu Arndt, Parlamentarische Geschäftsordnungsautonomie und autonomes Parlamentsrecht, S. 24; erst 1867 wurde die Geschäftsordnung auch in der Verfassung erwähnt, siehe den durch Gesetz vom 21. Oktober 1867 eingefügten § 48a Verf. Baden 1818, abgedruckt in Huber, Dokumente zur Deutschen Verfassungsgeschichte, Bd. 1, S. 178 Fn. 23. 642 Arndt, Parlamentarische Geschäftsordnungsautonomie und autonomes Parlamentsrecht, S. 23 f. m.w.N.; auch hier erlangte die Geschäftsordnungsautonomie erst 1874 Verfassungsrang, siehe den durch Gesetz vom 23. Juni 1874 eingefügten § 164a Verf. Württemberg, abgedruckt in Huber, Dokumente zur Deutschen Verfassungsgeschichte, Bd. 1, S. 211 Fn. 72; vgl. auch Wittreck, in: Morlok/Schliesky/Wiefelspütz, Parlamentsrecht, § 2 Rn. 12 und Fn. 99. 643 Arndt, Parlamentarische Geschäftsordnungsautonomie und autonomes Parlamentsrecht, S. 25 m.w.N.; Wittreck, in: Morlok/Schliesky/Wiefelspütz, Parlamentsrecht, § 2 Rn. 11. 644 Vgl. dazu ausführlicher dens., in: Morlok/Schliesky/Wiefelspütz, Parlamentsrecht, § 2 Rn. 11 m.w.N. 645 Arndt, Parlamentarische Geschäftsordnungsautonomie und autonomes Parlamentsrecht, S. 26 m.w.N.; Wittreck, in: Morlok/Schliesky/Wiefelspütz, Parlamentsrecht, § 2 Rn. 11. 646 Art. 77 Abs. 1 Satz 2 Verf. Preußen 1848, abgedruckt in Huber, Dokumente zur Deutschen Verfassungsgeschichte, Bd. 1, S. 490. 647 § 55 Verf. Bremen 1854 regelte die Geschäftsordnungsautonomie, die Vorschriften sind abgedruckt in Stoerk/v. Rauchhaupt, Handbuch der deutschen Verfassungen, S. 160. 648 Art. 48 Verf. Lübeck 1875, abgedruckt in dies., Handbuch der deutschen Verfassungen, S. 225. 649 Art. 47 Verf. Hamburg 1879, abgedruckt in dies., Handbuch der deutschen Verfassungen, S. 177.

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Gliedstaaten wie Hannover, Hessen-Darmstadt, Oldenburg und Braunschweig mussten bis 1918 auf weitreichende parlamentarische Autonomie warten.651 Den Umfang heutiger parlamentarischer Eigenständigkeit erreichten die konstitutionellen Parlamente jedoch alle nicht. Außerdem erlangten sowohl das Recht der Bestellung eigener Organe652 als auch die Befugnis zur Regelung des parlamentarischen Ablaufs erst mit den Verfassungsurkunden für den Preußischen Staat von 1848 und 1850653 und der Frankfurter Reichsverfassung von 1849654 Verfassungsrang. Die belgische Verfassung von 1831 war mit Beginn der zweiten Verfassungswelle Vorbild für die kontinentaleuropäische Parlamentsentwicklung. Dort war in Art. 46 auch das Geschäftsordnungsrecht erstmals fixiert; jede Kammer bestimme durch ihre Geschäftsordnung die Form, in der sie ihre Befugnisse ausübt.655 Die Entwicklung hin zu mehr parlamentarischer Unabhängigkeit war nicht aufzuhalten.656 An die Preußischen Verfassungen (Art. 77 Abs. 1 Satz 2 Verf. Preußen 1848, Art. 78 Abs. 1 Satz 2 Verf. Preußen 1850) sowie die Paulskirchenverfassung (§§ 110, 114, 116 FNV) anknüpfend bestimmten auch die Verfassung des Norddeutschen Bundes von 1867 (Art. 27 Satz 2 Verf. Norddt. Bund)657 und die Verfassung des Deutschen

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Insgesamt Brocker, in: BK, GG, 150. EL Februar 2011, Art. 40 Rn. 16 f. Arndt, Parlamentarische Geschäftsordnungsautonomie und autonomes Parlamentsrecht, S. 27 m.w.N. 652 Bis dahin war es üblich, dass die Kammern dem Monarchen für die Leitungsorgane Kandidaten vorschlugen, ders., Parlamentarische Geschäftsordnungsautonomie und autonomes Parlamentsrecht, S. 28 f.; Klein, in: Maunz/Dürig, GG, 50. EL Juni 2007, Art. 40 Rn. 12; siehe auch die Vorgängervorschriften des Art. 40 Abs. 1 Satz 1 GG in den Verfassungen der Hansestädte: § 45 Abs. 1 Verf. Bremen 1854 führte den Geschäftsvorstand der Bürgerschaft – Präsident, Vicepräsidenten und Schriftführer – auf, ebenso Art. 34 Verf. Lübeck 1875, beide abgedruckt in Stoerk/v. Rauchhaupt, Handbuch der deutschen Verfassungen, S. 158, 223. 653 Siehe Art. 77 Abs. 1 Satz 2 Verf. Preußen 1848 und Art. 78 Abs. 1 Satz. 2 Verf. Preußen 1850: „Sie regelt ihren Geschäftsgang und ihre Disziplin durch eine Geschäftsordnung und erwählt ihren Präsidenten, ihre Vicepräsidenten und Schriftführer.“, abgedruckt in Huber, Dokumente zur Deutschen Verfassungsgeschichte, Bd. 1, S. 490, 510. 654 §§ 110, 114 und 116 FNV, die in dieser Reihenfolge die Wahl des Präsidenten, Vizepräsidenten und der Schriftführer, die Bestrafung und den Ausschluss seiner Mitglieder wegen unwürdigen Verhaltens im Hause sowie die Geschäftsordnungsautonomie regelten, abgedruckt in ders., Dokumente zur Deutschen Verfassungsgeschichte, Bd. 1, S. 387. 655 Art. 46 Verf. Belgien 1831; dazu Arndt, Parlamentarische Geschäftsordnungsautonomie und autonomes Parlamentsrecht, S. 21 Fn. 8; auch die deutschen Geschäftsordnungen selbst fanden ihr Vorbild in der Geschäftsordnung der belgischen Deputiertenkammer von 1931, die ihrerseits Resultat französischer und britischer Einflüsse war, vgl. dazu Kretschmer, in: Schneider/Zeh, Parlamentsrecht und Parlamentspraxis, § 9 Rn. 7 m.w.N. 656 Vgl. auch Achterberg, Parlamentsrecht, S. 62; auch Loewenberg, Parlamentarismus im politischen System der Bundesrepublik Deutschland, S. 29 f., der die Bedeutung von Jeremy Benthams Arbeiten von 1816 für die Selbstorganisation des Parlaments hervorhebt; dazu Bentham, in: Bowring, The works of Jeremy Bentham, Bd. 2, S. 299 – 373. 657 Art. 27 Satz 2 Verf. Norddt. Bund, abgedruckt in Huber, Dokumente zur Deutschen Verfassungsgeschichte, Bd. 2, S. 276. 651

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Reiches von 1871658 (Art. 27 Satz 2 RV) das Recht, Geschäftsgang und Disziplin durch eine Geschäftsordnung zu regeln und Präsident, Vizepräsidenten und Schriftführer zu wählen. Insofern regelte auch der Reichstag seinen Geschäftsgang unabhängig und selbst.659 Bestimmungen zur Sicherung parlamentsinterner Arbeitsweisen finden sich in der deutschen Verfassungstradition also seit Mitte des 19. Jahrhunderts, an der sich die Weimarer Verfassung von 1919660 anschloss. Die lange Phase des Konstitutionalismus mündete in den „massendemokratischen“661 Parlamentarismus des 20. Jahrhunderts und die Durchsetzung des parlamentarischen Regierungssystems. Der Einflussgewinn des kaiserlichen Reichstages662 bereitete dabei auch die neue Rolle des Parlaments als wichtigste Institution im Verfassungsstaat vor. Die Weimarer Verfassung regelte noch ein Prinzip des doppelten Vertrauens663. Die Berufung und Abberufung der Regierung war nicht allein in Händen des Parlaments, sondern von Parlament und Reichspräsident zugleich abhängig. Mit dem Systemwechsel zur ersten parlamentarischen Demokratie gelang nicht nur dem Selbstorganisationsrecht der endgültige Durchbruch:664 Auch andere Inhalte der Parlamentsautonomie wie Selbstversammlungsrecht, Selbstverwaltungsrecht, Indemnität und Immunität, Zeugnisverweigerungsrecht und das Verbot der Durchsuchung oder Beschlagnahme in den Parlamentsräumen fanden Eingang in die Weimarer Verfassung.665 Alle Gliedstaaten regelten nun ebenso Organisationsund Verfahrensautonomie in ihren Verfassungen, teilweise gingen sie in der Ausgestaltung des parlamentarischen Ablaufs auch weiter.666 Nachdem das parlamen658 Art. 27 Satz 2 RV, abgedruckt in Huber, Dokumente zur Deutschen Verfassungsgeschichte, Bd. 2, S. 391. 659 Hatschek, Deutsches und Preußisches Staatsrecht, Bd. 1, S. 505. 660 Siehe die Art. 26, 28 Satz 1 und 38 Abs. 2 WRV. Art. 26 WRV hatte dabei den Wortlaut des Art. 40 Abs. 1 GG, allerdings hieß es dort noch „seine Geschäftsordnung“. Art. 28 Satz 1 und 38 Abs. 2 WRV waren die Vorgängernormen des Art. 40 Abs. 2 GG, abgedruckt in Hildebrandt, Die deutschen Verfassungen des 19. und 20. Jahrhunderts, S. 76, 79; zum historischen Kontext auch Glüth/Kretschmer, Die Geschäftsordnungen deutscher Parlamente seit 1848, S. 20 ff.; Schneider, in: AK, GG, 2. EL August 2002, Art. 40 Rn. 1. 661 Schönberger, in: Morlok/Schliesky/Wiefelspütz, Parlamentsrecht, § 1 Rn. 39. 662 Zum Machtzuwachs des Reichstages ders., HZ 272 (2001), 623 (632 ff.). 663 Ders., in: Morlok/Schliesky/Wiefelspütz, Parlamentsrecht, § 1 Rn. 49. 664 Vgl. dazu Hatschek, der die Geschäftsordnung 1915 Konventionalregeln nannte, Hatschek, Das Parlamentsrecht des Deutschen Reiches, S. 42; auch noch 1930, ders., Deutsches und Preußisches Staatsrecht, Bd. 1, S. 506 m.w.N.; dazu kritisch Perels, in: Anschütz/Thoma, HdB-StaatsR, Bd. 1, S. 449. 665 Siehe in der Reihenfolge Art. 24, 28 Satz 2 und 36 – 38 WRV, abgedruckt in Brocker, in: BK, GG, 150. EL Februar 2011, Art. 40 Rn. 29; Hildebrandt, Die deutschen Verfassungen des 19. und 20. Jahrhunderts, S. 75, 78 – 79; Steiger, in: Schneider/Zeh, Parlamentsrecht und Parlamentspraxis, § 25 Rn. 5. 666 Arndt, Parlamentarische Geschäftsordnungsautonomie und autonomes Parlamentsrecht, S. 39 ff., auch Fn. 3, dazu die abgedruckten Landesverfassungen in Ruthenberg, Verfassungsgesetze des Deutschen Reichs und der deutschen Länder, S. 69 ff., siehe hier beispielhaft die Vorschriften §§ 26 – 56 Verf. Bayern 1919 zum Landtag.

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2. Kap.: Die Minderheitenrechte im Deutschen Bundestag

tarische System im Zuge der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft einen zerstörerischen Systembruch667 erlitt, kam es nach dem Zweiten Weltkrieg zu einer Wiederherstellung parlamentsrechtlicher Strukturen. Der Parlamentarische Rat übernahm die Vorschläge zum Selbstorganisationrecht durch den Verfassungskonvent von Herrenchiemsee668 beinahe unverändert, sodass Art. 40 Abs. 1 Satz 2 GG – in seiner Fassung bis heute gleichbleibend – Eingang in das Grundgesetz fand. Die Entwicklungsgeschichte des parlamentarischen Selbstorganisationsrechts geht mit der des gesamten Parlamentarismus einher. In England kam es schon früh zu einem parlamentarischen Regierungssystem, das House of Commons besaß bereits Ende des 17. Jahrhunderts ein unabhängiges Selbstorganisationsrecht. Obwohl der endgültige Durchbruch des parlamentarischen Regierungssystems in Frankreich auch erst knapp ein Jahrhundert nach der Französischen Revolution stattfand, besaßen die französischen Kammern immerhin schon seit 1814 weitgehende Autonomie.669 In Deutschland erlangten die Territorialstaaten im Laufe des 19. Jahrhunderts nach und nach ihre Unabhängigkeit. Abgeschlossen wurde diese Entwicklung mit der Weimarer Republik und dem Übergang zur parlamentarischen Demokratie. Art. 40 Abs. 1 Satz 2 GG ist mithin eine Nachfolgernorm, deren Ursprünge in der Zeit der konstitutionellen Monarchie liegen und deren Entwicklung geprägt war vom alten Dualismus zwischen Parlament und Exekutive: Die verfassungsrechtliche Verankerung des Selbstorganisationsrechts diente ursprünglich dem Schutz vor Eingriffen des Monarchen in die Rechte des Parlaments.670 Sie ist eine bedeutende Errungenschaft im Rahmen der Verfassungsgeschichte.671 Ein Selbstschutz des Parlaments scheint im parlamentarischen Regierungssystem nicht notwendig. Trotz des Systemwandels bleibt dem Selbstorganisationsrecht des Art. 40 Abs. 1 Satz 2 GG aber der Schutz vor „Gängelungsversuchen der Regierung“672 immanent. Bei dieser historisch gewachsenen Funktion bleibt es jedoch keineswegs. 3. Funktionen des Selbstorganisationsrechts Während in der Phase der konstitutionellen Monarchie bis 1918 ein Dualismus zwischen Parlament und Exekutive vorherrschte,673 ist heute von einem innerpar667

Zeh, ZParl. 17 (1986), 396 (397). Siehe Art. 52 des Entwurfs des Verfassungskonvents von Herrenchiemsee, auch Art. 50 Abs. 1 – den heutigen Art. 40 Abs. 1 Satz 1 GG, abgedruckt in Brocker, in: BK, GG, 150. EL Februar 2011, Art. 40 Rn. 34. 669 v. Albertini, HZ 188 (1959), 17 (18). 670 Schneider, in: AK, GG, 2. EL August 2002, Art. 40 Rn. 2. 671 Vgl. BVerfGE 44, 308 (314); 70, 324 (360 f.). 672 BVerfGE 70, 324 (361); vgl. auch Dreier, JZ 1990, 310 (314 f.); Klein, in: Maunz/Dürig, GG, 50. EL Juni 2007, Art. 40 Rn. 18; Schröder, Grundlagen und Anwendungsbereich des Parlamentsrechts, S. 201 f. 673 Schneider, Die parlamentarische Opposition im Verfassungsrecht der Bundesrepublik Deutschland, S. 45. 668

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lamentarischen Dualismus zwischen der von der Parlamentsmehrheit getragenen Regierung (Funktionseinheit) einerseits und der parlamentarischen Opposition andererseits die Rede.674 Dennoch dient die Parlamentsautonomie immer noch als Schutz vor Zugriffen anderer Verfassungsorgane in parlamentsinterne Angelegenheiten. Sie stellt eine unabhängige Organisation der Legislative sicher.675 Für ein austariertes Kräfteverhältnis unter den Verfassungsorganen ist die unabhängige Gestaltung der eigenen Aufgabenausübung Funktionsvoraussetzung.676 Die Parlamentsautonomie ist Ausdruck des Kernbereichs parlamentarischer Eigengestaltung.677 Dementsprechend wurzelt eine erste Funktion des Selbstorganisationsrechts im Prinzip der Gewaltenteilung nach Art. 20 Abs. 2 Satz 2 GG.678 Zum Zweiten bezweckt das Selbstorganisationsrecht die Verwirklichung des Volkswillens.679 Der Stellung des Bundestages wird nur eine sich selbst organisierende Volksvertretung gerecht. Dies ist nicht nur Ausdruck der parlamentarischen Unabhängigkeit, sondern auch der Volkssouveränität i.S.v. Art. 20 Abs. 2 Satz 1 GG. Die ununterbrochene Legitimationskette zwischen Wahlvolk und Bundestag verlangt eine Selbstregierung der Abgeordneten680 als gewählte Volksvertreter.681 Daran anknüpfend ermöglicht das Selbstorganisationsrecht die Kanalisierung der parlamentarischen Meinungsvielfalt682 zu parlamentarischer Entscheidungsfähigkeit – das Ergebnis ist ein Gesamtwille683 des Parlaments.684 Organisations- und

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BVerfGE 49, 70 (85 f.); 102, 224 (236); 123, 267 (359); 129, 300 (331); 135, 259 (293 f.); vgl. Kluth, in: Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/Henneke, GG, Art. 40 Rn. 3; aus der Politikwissenschaft Webert, Die Opposition im Deutschen Bundestag 1990 – 2005, S. 43. 675 Morlok, in: Dreier, GG, Bd. 2, Art. 40 Rn. 6. 676 Vgl. in diesem Zusammenhang zur polnischen Verfassungsreform der Justiz nur Pallokat, Polnische Justiz vor Radikalumbau, 22. 11. 2017, https://www.tagesschau.de/ausland/jus tizreform-polen-101.html, zuletzt geprüft am 26. 4. 2018. 677 BVerfGE 102, 224 (234 ff.); 104, 310 (332); vgl. Klein, in: Maunz/Dürig, GG, 50. EL Juni 2007, Art. 40 Rn. 20; Kluth, in: Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/Henneke, GG, Art. 40 Rn. 6. 678 Moench, Verfassungsmäßigkeit der Bundestagsausschüsse, S. 54 f.; Kühnreich, Das Selbstorganisationsrecht des Deutschen Bundestages unter besonderer Berücksichtigung des Hauptstadtbeschlusses, S. 59; Arndt, Parlamentarische Geschäftsordnungsautonomie und autonomes Parlamentsrecht, S. 63. 679 Vgl. zur Parlamentsautonomie und zum Demokratieprinzip Moench, Verfassungsmäßigkeit der Bundestagsausschüsse, S. 55 f. 680 Loewenstein, Verfassungslehre, S. 178. 681 Kluth, in: Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/Henneke, GG, Art. 40 Rn. 5. 682 Kühnreich, Das Selbstorganisationsrecht des Deutschen Bundestages unter besonderer Berücksichtigung des Hauptstadtbeschlusses, S. 61. 683 Vgl. Schellknecht, in: Klatt, Der Bundestag im Verfassungsgefüge der Bundesrepublik Deutschland, S. 35. 684 Hofmann, Recht, Politik, Verfassung, S. 258; Schäfer, Der Bundestag, S. 62.

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2. Kap.: Die Minderheitenrechte im Deutschen Bundestag

Verfahrensautonomie dienen vor allem der Parlamentsfunktionalität.685 Das Parlament ist das politische „Gravitationszentrum“686. Das parlamentarische Bedürfnis nach Arbeits- und Funktionsfähigkeit in Form von Konsens, Flexibilität und Effizienz stellt den ganz praktischen Grund für die parlamentarische Selbstorganisation dar.687 Die sich bereits aus der Verfassung ergebenen Aufgaben des Bundestages, darunter nicht abschließend die Gesetzgebung (Art. 76 ff. GG), die parlamentarische Kontrolle der Bundesregierung (Art. 43 Abs. 1, 44, 67 GG) und das Budgetrecht (Art. 110 Abs. 2 Satz 1 GG), das Kreationsrecht (insbesondere Art. 63, 54, 94 Abs. 1 Satz 2 GG) sowie die parlamentarische Repräsentation (Art. 42 Abs. 1 Satz 1 GG) machen eine Selbstorganisation des Deutschen Bundestages unerlässlich.688 Auch Belange des Geheimschutzes, der Vertraulichkeit oder Eilbedürftigkeit können nur von einem unabhängigen und selbstorganisierten Parlament angemessen berücksichtigt werden. Die Geschäftsordnung schützt zudem parlamentarische Minderheiten, um ein Höchstmaß an offener Entscheidungsfindung zu gewährleisten.689 Es ist auch Aufgabe der Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages, einen angemessenen Ausgleich zu schaffen zwischen Minderheitenschutz und Arbeitsfähigkeit des Parlaments.690 Das Selbstorganisationsrecht ist für die Arbeitsfähigkeit elementar. Ohne die Vorschrift des Art. 40 Abs. 1 Satz 2 GG müsste das parlamentarische Recht, sich zur Erfüllung der eigenen Aufgaben selbst zu organisieren, aus den Verfassungsprinzipien der Gewaltenteilung, der Volkssouveränität oder der Parlamentsfunktionalität abgeleitet werden.691 Das Selbstorganisationsrecht ist mit der 685 BVerfGE 1, 144 (148); 10, 4 (13); Brocker, in: Epping/Hillgruber, GG, 37. Edition Mai 2018, Art. 40 Rn. 1; Morlok, in: ders./Schliesky/Wiefelspütz, Parlamentsrecht, § 3 Rn. 52. 686 Hofmann/Dreier, in: Schneider/Zeh, Parlamentsrecht und Parlamentspraxis, § 5 Rn. 24. 687 Arndt, Parlamentarische Geschäftsordnungsautonomie und autonomes Parlamentsrecht, S. 43 ff.; Kühnreich, Das Selbstorganisationsrecht des Deutschen Bundestages unter besonderer Berücksichtigung des Hauptstadtbeschlusses, S. 59; Rösch, Wesen und Rechtsnatur der parlamentarischen Geschäftsordnung, S. 3; Ruch, Das Berufsparlament, S. 50 f. 688 Achterberg, Parlamentsrecht, S. 322 ff.; Butzer, in: Epping/Hillgruber, GG, 37. Edition Februar 2018, Art. 38 Rn. 18 ff.; Kloepfer, Verfassungsrecht I, § 15 Rn. 9 ff.; Kluth, in: Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/Henneke, GG, Art. 40 Rn. 9. 689 Dreier, JZ 1990, 310 (315); Kretschmer, ZParl. 17 (1986), 334 (338); Kühnreich, Das Selbstorganisationsrecht des Deutschen Bundestages unter besonderer Berücksichtigung des Hauptstadtbeschlusses, S. 61; Scherer, AöR 112 (1987), 189 (205); Schwerin, Der Deutsche Bundestag als Geschäftsordnungsgeber, S. 28; die Schutzfunktion als Zielsetzung der Geschäftsordnung wird allerdings seit jeher kontrovers diskutiert, vgl. beispielhaft Haug, Bindungsprobleme und Rechtsnatur parlamentarischer Geschäftsordnungen, S. 65 ff.; v. KleistRetzow, Das Problem des parlamentarischen Minderheitenschutzes im Deutschen Reiche, S. 5 ff.; Rösch, Wesen und Rechtsnatur der parlamentarischen Geschäftsordnung, S. 3 ff. 690 Kürschner, Die Statusrechte des fraktionslosen Abgeordneten, S. 119 f. 691 Arndt, Parlamentarische Geschäftsordnungsautonomie und autonomes Parlamentsrecht, S. 63; wohl auch Bücker, ZParl. 17 (1986), 324 (332), der es im parlamentarischen Regierungssystem selbstverständlich findet, dass der Bundestag sich eine Geschäftsordnung gibt; a.A. Achterberg, Parlamentsrecht, S. 325; ders., Probleme der Funktionenlehre, S. 1 f.; dem

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Gewaltenteilung in Art. 79 Abs. 3 GG „verewigt“. Zum Wesenskern der Gewaltenteilung gehört neben einer notwendigen Gewaltenkontrolle auch eine Gewaltentrennung,692 für die eine unabhängige Selbstgestaltungsbefugnis essentiell ist: Das Bundesverfassungsgericht stellte in diesem Zusammenhang fest, dass die drei Gewalten der für die Erfüllung ihrer verfassungsrechtlichen Aufgaben erforderlichen Zuständigkeiten nicht beraubt werden dürfen.693 Die konkrete Ausformung (das Wie) der Organisation der Gewalten gehört nicht zum Kern der Gewaltenteilung,694 die Befugnis zu einer solchen unabhängigen Selbstorganisation (das Ob) schon.695 Eine verfassungsrechtliche Verankerung des Selbstorganisationsrechts aufgrund einer Einheitlichkeit staatlicher Normsetzung696 ist nicht konstitutiv, wenn sie auch klarstellend sein mag. Sie ist mit Blick auf die historische Entwicklung des parlamentarischen Selbstverständnisses hin zum Selbstorganisationsrecht sinnvoll und dennoch nicht notwendig. Dies liegt auch im Unterschied zwischen Rechtsnormen697 mit Außenwirkung698 und Innenrecht begründet: Rechtsnormen mit Außenwirkung sind in Rechtsform gegossene politische Entscheidungen, die mit generell abstrakter Regelung die Rechtsstellung Dritter berühren. Der Gesetzgeber erlässt solche Rechtsnormen, insbesondere Gesetze, in einem „Gemeinwohlfindungsverfahren“699, um soziale Konflikte friedlich mit juristischer Sachlogik entscheidbar zu machen.700 Der Erlass von Rechtsnormen mit Außenwirkung bedarf einer Rechtssetzungsbefugnis im Grundgesetz (Art. 70 ff., 80, 28 Abs. 2 Satz 1 GG). Dem inneren Parlamentsrecht fehlt es an der Außenwirkung. Innenrecht kann Dritte nicht berechtigen

zustimmend Kühnreich, Das Selbstorganisationsrecht des Deutschen Bundestages unter besonderer Berücksichtigung des Hauptstadtbeschlusses, S. 56 f., der dies auch damit begründet, dass andere Unterorgane des Bundestages bei fehlender verfassungsrechtlicher Grundlage mit eigenen organisatorischen Kompetenzen ausgestattet würden. 692 Das Grundgesetz gestatte „keinen Einbruch in zentrale Aufgabenbereiche einer anderen Gewalt“, BVerfGE 9, 286 (280); vgl. auch BVerfGE 22, 106 (111). Siehe zu Art. 79 Abs. 3 GG schon 2. Kapitel D. I. 693 BVerfGE 9, 286 (289 f.); 22, 106 (111); 34, 52 (59). 694 Vgl. dazu noch die Kommentierung von Evers, in: BK, GG, 45. EL Oktober 1982, Art. 79 Rn. 198. 695 Dagegen z.B. enger Bryde, in: v. Münch/Kunig, GG, Bd. 2, Art. 79 Rn. 45; Schöbener, in: BerlK, GG, 45. EL Mai 2015, Art. 79 Rn. 128. 696 Achterberg, Parlamentsrecht, S. 325. 697 Kelsen, Reine Rechtslehre, S. 73 ff. 698 Die fehlende Außenwirkung des Geschäftsordnungsrechts, die es vom Gesetz unterscheidet, gibt allerdings keinen Aufschluss über das Verhältnis zwischen Gesetz und Geschäftsordnung. Siehe dazu 2. Kapitel F. I. 6. c). 699 Schulze-Fielitz, NVwZ 1983, 709 (711) m.w.N.; Schuppert, Governance und Rechtsetzung, S. 29. 700 Vgl. dazu Systemtheorie und strukturelle Kopplung bei Luhmann, Rechtshistorisches Journal 9 (1990), 176; dens., Das Recht der Gesellschaft, S. 468 ff.; dens., Die Politik der Gesellschaft, S. 388 ff.; auch Di Fabio, Das Recht offener Staaten, S. 3 f., 38 ff.; Waldhoff, in: Fleischer, Mysterium „Gesetzesmaterialien“, S. 83.

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2. Kap.: Die Minderheitenrechte im Deutschen Bundestag

oder verpflichten.701 Im innerorganisatorischen Bereich bedarf es gerade keiner Rückführbarkeit auf die Verfassung.

4. Inhalt des Selbstorganisationsrechts Zur Selbstorganisation des Parlaments gehören im Kern zwei Aufgabenbereiche: Die Regelung der inneren Organisation (Organisationsautonomie702) und des Verfahrens (Verfahrensautonomie703). Organisationsautonomie meint die Möglichkeit zur Schaffung der erforderlichen Institutionen, um einen reibungslosen parlamentarischen Ablauf zu gewährleisten.704 Zur Organisationsgewalt gehört neben der Wahl der Leitungsorgane705 auch die Einsetzung, Bestellung oder Berufung der nicht in Art. 40 Abs. 1 Satz 1 GG aufgeführten Parlamentsorgane.706 Art. 40 Abs. 1 Satz 2 GG enthält eine umfassende Organkreationsautonomie des Bundestages. Im Übrigen zählt zum Selbstorganisationsrecht der Verfahrensablauf. Traditionell fallen darunter die Bereiche Geschäftsgang und Disziplin, d.h. die Abwicklung der Parlamentsgeschäfte und die Bestimmung von Verhaltensregeln.707 Das Bundesverfassungsgericht zählt ausdrücklich die Entscheidungen über den Ablauf des Gesetzgebungsverfahrens, die Funktion, Zusammensetzung und Arbeitsweise der Ausschüsse, die Wahrnehmung von Initiativ-, Informations- und Kontrollrechten, die 701

Vgl. in Bezug auf die fehlende Außenwirkung BVerfGE 1, 144 (148); Achterberg, Parlamentsrecht, S. 59; Arndt, Parlamentarische Geschäftsordnungsautonomie und autonomes Parlamentsrecht, S. 163 ff.; Bollmann, Verfassungsrechtliche Grundlagen und allgemeine verfassungsrechtliche Grenzen des Selbstorganisationsrechts des Bundestages, S. 120; Klein, in: Maunz/Dürig, GG, 50. EL Juni 2007, Art. 40 Rn. 55 ff. m.w.N., und in Rn. 71 mit der Präzisierung, „dass die Regelungskompetenz des Bundestages als Geschäftsordnungsgeber sich in persönlicher Hinsicht auf alle diejenigen erstreckt, die am parlamentarischen Verfahren aktiven Anteil nehmen. Wer sich – aus eigenem Recht oder auf Einladung des Bundestages – an diesem Verfahren beteiligt, ist an die vom Parlament erstellten Spielregeln gebunden.“; Binnenrecht hat keine Außenwirkung, kann aber als parlamentarische Innenrechtsnorm oder auch intraparlamentarische Rechtsnorm unter einen weiter verstandenen Rechtssatzbegriff gefasst werden, so z.B. auch Kretschmer, in: Schneider/Zeh, Parlamentsrecht und Parlamentspraxis, § 9 Rn. 45; Magiera, in: Sachs, GG, Art. 40 Rn. 25 f.; Morlok, in: Dreier, GG, Bd. 2, Art. 40 Rn. 18; Pietzcker, in: Schneider/Zeh, Parlamentsrecht und Parlamentspraxis, § 10 Rn. 39. 702 Brocker, in: BK, GG, 150. EL Februar 2011, Art. 40 Rn. 57; Schneider, in: AK, GG, 2. EL August 2002, Art. 40 Rn. 3; Zeh, in: Isensee/Kirchhof, HStR, Bd. 3, § 52 Rn. 26. 703 Brocker, in: BK, GG, 150. EL Februar 2011, Art. 40 Rn. 57. 704 Ders., in: BK, GG, 150. EL Februar 2011, Art. 40 Rn. 57; Magiera, in: Sachs, GG, Art. 40 Rn. 2. 705 Siehe dazu § 8 Abs. 1 GO-BT, Leitungsorgan ist neben Präsidium und Schriftführern auch noch der Ältestenrat, dazu Loewenberg, Parlamentarismus im politischen System der Bundesrepublik Deutschland, S. 247 ff.; Roll, in: Schneider/Zeh, Parlamentsrecht und Parlamentspraxis, § 28 Rn. 5 ff.; Schneider, in: AK, GG, 2. EL August 2002, Art. 40 Rn. 6, 8; Versteyl, in: v. Münch/Kunig, GG, Bd. 1, Art. 40 Rn. 10 ff. 706 Siehe die unterschiedliche Begriffsverwendung in den Art. 44, 45 und 45b GG. 707 BVerfGE 44, 308 (315 f.); 80, 188 (219); 102, 224 (236); 104, 310 (332).

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Bildung und die Rechte von Fraktionen und die Ausübung des parlamentarischen Rederechts dazu.708 Bei der Regelung seiner eigenen Angelegenheiten hat der Bundestag grundsätzlich einen weiten Gestaltungsspielraum.709 Dies kann erstens mit der NichtBeteiligung und -Betroffenheit Dritter begründet werden: Dritte meint all diejenigen, die nicht Teil des Verfassungsorgans Bundestag sind. Das Geschäftsordnungsrecht kann Dritte im Grundsatz710 weder berechtigten noch verpflichten, denn es handelt sich um reines Innenrecht. Zwar sind die Zuhörer in Plenarsitzungen (§ 40 GO-BT), die nicht dem Bundestag angehörenden Auskunftspersonen (§ 70 GO-BT), die Mitglieder der Enquete-Kommissionen (§§ 56, 13, 62 und 74 GO-BT) sowie des Europa-Ausschusses (§ 93b Abs. 8 GO-BT) der parlamentarischen Ordnung unterworfen, dies allerdings nur freiwillig. Es bestehen keinerlei unmittelbar-zwingende Rechtswirkungen nach außen. Zweitens benötigt die parlamentarische Praxis Anpassungsfähigkeit an die „zunehmende Komplexität der Regelungsbefugnisse“711, sie muss ihretwegen „fließend und entwicklungsfähig“712 sein. In diesem Zusammenhang ist die Abweichungsmöglichkeit von der Geschäftsordnung mit Zweidrittelmehrheit nach § 126 GO-BT zweckmäßig.713 Dies bedeutet auch, dass der Regelungsumfang des Parlaments hinsichtlich seiner eigenen Organisation nicht abschließend skizziert werden kann, da sich die Parlamentspraxis stets neuen Herausforderungen stellen und Entwicklungen anpassen muss.714 5. Regelungsformen im Rahmen der Selbstorganisation Während das Parlamentsrecht selbst jegliche „das Parlament, seine Organisation und Tätigkeit betreffenden Rechtssätze“715 umfasst, ist das autonome Parlamentsrecht lediglich vom Parlament selbst erlassenes Intraorganrecht.716 Die Verfassung als Rahmenordnung bietet die „Leitplanken“ für rechtliche Präzisierung.717 Sie ist in ihren Handlungsaufträgen starr und muss entsprechend konkretisiert werden. Neben 708

BVerfGE 80, 188 (219). BVerfGE 80, 188 (220). 710 Dazu insgesamt Kretschmer, ZParl. 17 (1986), 334 (341 f.). 711 BVerfGE 102, 224 (236). 712 Brocker, in: BK, GG, 150. EL Februar 2011, Art. 40 Rn. 55. 713 Magiera, in: Sachs, GG, Art. 40 Rn. 27. 714 Schäfer, Der Bundestag, S. 66: „Eine Geschäftsordnung als abgeschlossenes Gesetzeswerk wäre ein Widerspruch in sich“; auch BVerfGE 102, 224 (236); Klein, in: Maunz/Dürig, GG, 50. EL Juni 2007, Art. 40 Rn. 3, 35, 47; Kluth, in: Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/Henneke, GG, Art. 40 Rn. 15. 715 Pietzcker, in: Schneider/Zeh, Parlamentsrecht und Parlamentspraxis, § 10 Rn. 1. 716 Klein, in: Maunz/Dürig, GG, 50. EL Juni 2007, Art. 40 Rn. 4. Vgl. auch Achterberg, Parlamentsrecht, S. 59; Kluth, in: Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/Henneke, GG, Art. 40 Rn. 38. 717 Vgl. beispielhaft Arndt, Parlamentarische Geschäftsordnungsautonomie und autonomes Parlamentsrecht, S. 71. 709

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2. Kap.: Die Minderheitenrechte im Deutschen Bundestag

der teilweisen Selbstorganisation durch informelles, aber verbindliches parlamentarisches Gewohnheitsrecht und bloßen, nicht verbindlichen Parlamentsbrauch, regelt der Bundestag seine Angelegenheiten mit schlichtem Parlamentsbeschluss, überwiegend in der Geschäftsordnung718 und ausnahmsweise im formellen Gesetz719. Das Parlamentsrecht ist folglich von einer starken Fragmentierung geprägt, die sowohl Ausdruck einer langen Parlamentstradition als auch der notwendigen Flexibilität politischer Entscheidungsprozesse geschuldet ist. Aus diesem Grund sind im Parlamentsrecht, für andere Rechtsgebiete ausgeschlossen, Vorschriften wie die §§ 126 ff. GO-BT normiert. Hier ist die Abweichungsmöglichkeit von der Geschäftsordnung mit Zweidrittelmehrheit, die Auslegung der Geschäftsordnung oder das Initiativrecht eines einzelnen Ausschusses geregelt. Es gibt außerdem eine Fülle von ungeschriebenen Rechtssätzen und Parlamentsbräuchen, die nicht der Diskontinuität unterliegen und damit durchaus von Bedeutung sind.720 Das Parlamentsrecht regelt aber vor allem nicht alles im Detail, vielmehr bleiben weite Teile ungeregelt. Diese Spielräume erlauben dem Parlament eine notwendige Innovations- und Anpassungsfähigkeit im Spiegel der Parlamentswirklichkeit. Problembehaftet ist jedoch die Regelung der eigenen Angelegenheiten durch die Handlungsform des Gesetzes. Während das Gesetz die wichtigste und übliche Steuerungsressource im Außenverhältnis darstellt, ist die grundsätzliche Regelungsform parlamentsinterner Angelegenheiten die Geschäftsordnung.721 Teilweise gibt aber das Grundgesetz – wie etwa bei Art. 41 Abs. 3 GG für das Wahlprüfungsgesetz oder Art. 48 Abs. 3 Satz 3 GG für das Abgeordnetengesetz – die Handlungsform des Gesetzes vor. Für das Untersuchungsausschussgesetz oder das Parlamentsbeteiligungsgesetz gibt es dagegen keinen grundgesetzlichen Gesetzes-

718

Vgl. zur Außenwirkung für Nichtparlamentarier Schneider, in: AK, GG, 2. EL August 2002, Art. 40 Rn. 11; generell zum Streit um den Rechtsstatus der Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages BVerfGE 1, 144 (148); 44, 308 (315); Arndt, Parlamentarische Geschäftsordnungsautonomie und autonomes Parlamentsrecht, S. 136 ff.; Köhler, Die Rechtsstellung der Parlamentspräsidenten in den Ländern der Bundesrepublik Deutschland und ihre Aufgaben im parlamentarischen Geschäftsgang, S. 164 f.; Morlok, in: Dreier, GG, Bd. 2, Art. 40 Rn. 18 m.w.N. 719 Siehe z.B. das Abgeordnetengesetz, das Parteiengesetz, das Untersuchungsausschussgesetz oder das Gesetz über den Wehrbeauftragten des Deutschen Bundestages, die auch Binnenrecht des Parlaments enthalten. 720 Als Beispiel kann hier die Übergangszeit des Bundestages bis zur Beschlussfassung über eine neue Geschäftsordnung dienen. Bevor der Bundestag die Geschäftsordnung des Vorgängerparlaments „übernimmt“, gilt zumindest ausdrücklich keine Geschäftsordnung. In diesem Zwischenstadium gilt Gewohnheitsrecht, nach dem der Alterspräsident die konstituierende Sitzung bis zur Wahl des neuen Bundestagspräsidenten leitet. Dann wird die neue Geschäftsordnung beschlossen. Dazu auch Pietzcker, in: Schneider/Zeh, Parlamentsrecht und Parlamentspraxis, § 10 Rn. 29. 721 Beispielhaft Kluth, in: Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/Henneke, GG, Art. 40 Rn. 28; Seiler, AöR 129 (2004), 378 (394).

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vorbehalt. Dennoch sind auch diese Gesetze verfassungsgemäß.722 Denn auch über die im Grundgesetz vorgesehenen Ausführungsgesetze hinaus ist eine Regelung der eigenen parlamentarischen Angelegenheiten in Gesetzen möglich. Für solche Gesetze, die ausnahmsweise723 Parlamentsangelegenheiten regeln können, setzt das Bundesverfassungsgericht jedoch in seiner Entscheidung zur Haushaltskontrolle der Nachrichtendienste aus dem Jahr 1986 dreierlei voraus: Es darf weder die Zustimmung des Bundesrates notwendig noch die Geschäftsordnungsautonomie des Bundestages im Kern betroffen sein und es bedarf gewichtiger sachlicher Gründe für die Wahl der gesetzlichen Handlungsform.724 Nach Ansicht des Gerichts werden der Bundesregierung keine ins Gewicht fallenden Einwirkungsmöglichkeiten auf das Verfahren und die Willensbildung des Bundestages bei der Gesetzgebung von eigentlichen Geschäftsordnungsangelegenheiten eröffnet.725 Gegen die Abkehr einer strengen Trennung der Kompetenzen zwischen Gesetz- und Geschäftsordnungsgeber sprachen sich allerdings Mahrenholz und Ernst-Wolfgang Böckenförde in ihren Sondervoten aus.726 Ihrer Ansicht nach spricht gegen das Gesetz als Handlungsform in Parlamentsangelegenheiten, dass gesetzgeberische Mitwirkungsbefugnisse anderer Verfassungsorgane die alleinige Befugnis des Bundestages, seine eigenen Angelegenheiten zu regeln, konterkariere.727 Als richtig erweist sich, dass eine Konturlosigkeit der Handlungsoptionen des Grundgesetzes zu vermeiden ist. Die Verfassung sieht für die Regelung parlamentarischer Abläufe trotz Ausnahmen im 722

Waldhoff, in: ders./Gärditz, PUAG, Vorbemerkung C Rn. 8 ff.; Gärditz, in: Waldhoff/ Gärditz, PUAG, Vorbemerkung E Rn. 15; mit anderer Begründung Morlok, in: Dreier, GG, Bd. 2, Art. 44 Rn. 18; wohl auch Mager, Der Staat 41 (2002), 598 (602 Fn. 33). A.A. Magiera, in: Sachs, GG, Art. 40 Rn. 24; kritisch Platter, Das parlamentarische Untersuchungsverfahren vor dem Verfassungsgericht, S. 150 ff. m.w.N. 723 So BVerfGE 70, 324 (361); dagegen z.B. für eine „grundsätzliche Wahlfreiheit“ Brocker, in: Epping/Hillgruber, GG, 37. Edition Mai 2018, Art. 40 Rn. 36. Darüber hinaus sei die Regelungsform letztlich eine politische und keine verfassungsrechtliche Kategorie. Dies aber ist abzulehnen mit dem Hinweis auf die dritte Voraussetzung, die das Bundesverfassungsgericht aufstellt. Es bedarf gerade gewichtiger sachlicher Gründe für die Regelung parlamentarischer Abläufe im Gesetz. 724 BVerfGE 70, 324 (361); anschließend Haug, Bindungsprobleme und Rechtsnatur parlamentarischer Geschäftsordnungen, S. 50 f.; Kluth, in: Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/Henneke, GG, Art. 40 Rn. 28; Morlok, in: Dreier, GG, Bd. 2, Art. 40 Rn. 16; Pietzcker, in: Schneider/Zeh, Parlamentsrecht und Parlamentspraxis, § 10 Rn. 13 ff.; für ein uneingeschränktes Wahlrecht Bücker, ZParl. 17 (1986), 324 (333); Kretschmer, ZParl. 17 (1986), 334 (337 ff.); Moench, Verfassungsmäßigkeit der Bundestagsausschüsse, S. 89 ff.; vgl. dagegen Mahrenholz und Böckenförde in Sondervoten mit beachtlichen Argumenten in BVerfGE 70, 324 (366 ff., 380 ff.), dem zustimmend Bollmann, Verfassungsrechtliche Grundlagen und allgemeine verfassungsrechtliche Grenzen des Selbstorganisationsrechts des Bundestages, S. 139 ff., 167 ff.; Dreier, JZ 1990, 310 (312 ff.); Schmidt, AöR 128 (2003), 608 (639 ff.); Schwerin, Der Deutsche Bundestag als Geschäftsordnungsgeber, S. 46 ff.; Steiger, Organisatorische Grundlagen des parlamentarischen Regierungssystems, S. 45. 725 BVerfGE 70, 324 (361). 726 Mit gewichtigen Argumenten: BVerfGE 70, 324 (380 ff. und 386 ff.). 727 BVerfGE 70, 324 (380 ff. und 386 ff.).

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2. Kap.: Die Minderheitenrechte im Deutschen Bundestag

Grundsatz die Geschäftsordnung vor.728 Geschäftsordnungsregeln sollten nicht Produkt der Gesetzgebung, sondern ihre Bedingung sein.729 Andererseits wäre der Handlungsspielraum des Bundestages auch bezogen auf die Regelung von drittwirkenden Bestimmungen zu sehr eingeschränkt, wenn er Parlamentsangelegenheiten allein auf Geschäftsordnungsebene regeln könnte: Sind Rechte Dritter betroffen und gleichzeitig auch Fragen der Selbstorganisation berührt, kann der Bundestag als Gesetzgeber eine – vorzugswürdigere – einheitliche Regelungsmaterie schaffen und die Bestimmung außerdem der Diskontinuität entziehen.730 Die gleichzeitige Regelungsnotwendigkeit von Vorschriften mit Bezug zu Rechten Dritter sowie Vorschriften zur bloßen parlamentarischen Organisation führt zu einer Doppellage, die nur das Gesetz zu regeln imstande ist. Die Möglichkeit der Regelung eigener Angelegenheiten durch die Handlungsform des Gesetzes ist nicht im Grundsatz systemwidrig. Darauf deuten die punktuellen Gesetzesformanweisungen des Grundgesetzes hin. Unter den oben genannten Voraussetzungen des Bundesverfassungsgerichts wird der Handlungsspielraum des Parlaments also rechtens und angemessen erweitert.731 Wird aber richtigerweise die Regelungszulässigkeit von der eigenen Organisation durch Gesetz im binnenparlamentarischen Bereich bejaht, ist im Gegenzug die Nähe der „Gesetzes-Geschäftsordnung“ zum Geschäftsordnungsrecht anzuerkennen.732 Dies hat Folgen für das Verhältnis zwischen Gesetz und Geschäftsordnung.733 6. Grenzen der Selbstorganisation Ein unbeschränktes Selbstorganisationsrecht des Bundestages ist nicht denkbar. Dadurch entstünde eine Gefahr für die Wirkungskraft anderer Verfassungsnormen und -organe.734 Gewohnheitsrecht und Parlamentsbräuche, der einfache Plenarbeschluss, die Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages und auch formelle Gesetze stehen normhierarchisch unterhalb der Verfassung (Vorrang der Verfassung), sodass der Bundestag auf der Grundlage von Art. 40 Abs. 1 Satz 2 GG nur Regelungen in der von der Verfassung vorgesehenen Rahmenordnung treffen kann.735

728 Vgl. weitere Argumente bei Dreier, JZ 1990, 310 (312 ff.); Kretschmer, ZParl. 17 (1986), 334 (337 ff.); Schmidt, AöR 128 (2003), 608 (640). 729 Dreier, JZ 1990, 310 (315). 730 Kluth, in: Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/Henneke, GG, Art. 40 Rn. 29; Waldhoff, in: ders./Gärditz, PUAG, Vorbemerkung C Rn. 10. 731 Vgl. Kretschmer, ZParl. 17 (1986), 334 (337 ff.). 732 BVerfGE 118, 277 (359). 733 Ausführlicher 2. Kapitel F. I. 6. c). 734 Kühnreich, Das Selbstorganisationsrecht des Deutschen Bundestages unter besonderer Berücksichtigung des Hauptstadtbeschlusses, S. 157. 735 Ders., Das Selbstorganisationsrecht des Deutschen Bundestages unter besonderer Berücksichtigung des Hauptstadtbeschlusses, S. 158.

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Dies führt letztlich zu den nachfolgenden und nicht abschließend aufgezählten Grenzen der selbstorganisationsrechtlichen Disposition.736 a) Ausdrückliche Vorgaben im Grundgesetz Der Verfassungsgeber entschied sich für die Aufnahme einiger Parlamentsregeln in das Grundgesetz, die der Selbstorganisationsbefugnis des Parlaments ausdrückliche Grenzen setzen. Hier ist zunächst die Norm des Art. 40 Abs. 1 GG selbst zu nennen; sowohl die Wahl der in Art. 40 Abs. 1 Satz 1 GG genannten Leitungsorgane737 als auch die Regelung eigener Angelegenheiten durch eine Geschäftsordnung738 sind verpflichtend.739 Generell ist der Grundsatz der Diskontinuität nach Art. 39 Abs. 1 GG zu beachten: Das Ende der Wahlperiode bedeutet das Ende der Amtszeit ihrer Amtsträger und Gremien (personell und institutionell) sowie aller Parlamentsarbeiten (materiell).740 Hinsichtlich der Organisationsfreiheit sind vor allem die Bestimmungen zum Ausschusswesen und zu Hilfsorganen in den Art. 44 Abs. 1 Satz 1, 45 Abs. 1 Satz 1, 45a Abs. 1 und 2, 45b, 45c Abs. 1, 45d Abs. 1, 53a Abs. 1 GG zu beachten. Auch der Verfahrensfreiheit werden Grenzen gesetzt, zuvörderst durch die Regelungen der Art. 76 ff. GG zum Gesetzgebungsverfahren. Ferner existieren z.B. Bestimmungen zu Zusammentritt und Einberufung des Bundestages gemäß Art. 39 Abs. 1 und 2 GG, zur Öffentlichkeit im Plenum gemäß Art. 42 Abs. 1 Satz 1 GG, zu Europäischen Angelegenheiten gemäß Art. 23 i.V.m. Art. 45 GG, zum Hausrecht und zur Polizeigewalt nach Art. 40 Abs. 2 GG, zum Zitier-, Zutritts- und Rederecht nach Art. 43 GG, zur Immunität gemäß Art. 46 Abs. 2 GG, zur Einberufung der Bundesversammlung nach Art. 54 Abs. 4 Satz 2 GG, zur Vereidigung des Bundespräsidenten nach Art. 56 Satz 1 GG, zur Anklage gegen den Bundespräsidenten nach Art. 61 Abs. 1 Satz 2 und 3 GG, zur Wahl des Bundeskanzlers nach Art. 63 GG, zum Misstrauensvotum sowie zur Vertrauensfrage gemäß Art. 67 und 68 GG, zur Anrufung des Bundesverfassungsgericht nach Art. 93 GG, in dem Zusammenhang zur Wahl der Bundesverfassungsrichter gemäß Art. 94 Abs. 1 GG, auch zur Wahl der Bundesrichter gemäß Art. 95 Abs. 2 GG sowie zum Zustandekommen von Haushaltsgesetz und Haus-

736

BVerfGE 70, 324 (362 ff.). Vgl. anschaulich zum Verhältnis von Bundestag und Bundesverfassungsgericht in Bezug auf die parlamentarische Freiheit insgesamt Risse, JZ 2018, 71 – 79. 737 Brocker, in: Epping/Hillgruber, GG, 37. Edition Mai 2018, Art. 40 Rn. 4. 738 Dies klingt an in BVerfGE 44, 308 (314); 60, 374 (379); vgl. auch Klein, in: Maunz/ Dürig, GG, 50. EL Juni 2007, Art. 40 Rn. 37; Kluth, in: Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/Henneke, GG, Art. 40 Rn. 36; so auch schon in der Weimarer Zeit Haagen, Die Rechtsnatur der parlamentarischen Geschäftsordnung, S. 2. 739 Nicht verwundern sollte, dass die Vorschriften, die auf der einen Seite den verfassungsrechtlichen Kern der Parlamentsautonomie ausmachen, ihr auf der anderen Seite durch ihre ausdrückliche Regelung Vorgaben machen. 740 Schneider, in: AK, GG, 2. EL August 2002, Art. 40 Rn. 6 f.

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2. Kap.: Die Minderheitenrechte im Deutschen Bundestag

haltsplan nach Art. 110 Abs. 3 GG.741 In Art. 42 Abs. 2 Satz 1 GG verankert der Verfassungsgeber mit dem Mehrheitsprinzip ebenfalls eine verfassungsrechtliche Grenze der Selbstorganisation. Der Bundestag kann nicht auf Geschäftsordnungsebene beschließen, dass eine andere als die in der Verfassung geregelte maßgebliche Stimmenmehrheit erreicht werden muss (eine Einschränkung von der Einschränkung des Selbstorganisationsrechts liefert allerdings Art. 42 Abs. 2 Satz 2 GG). Die ausdrücklichen Verfassungsentscheidungen742 zur Organisations- und Verfahrensweise des Parlaments, z.B. zum Ausschusswesen oder auch zur Erreichung von Quoren, schränken den Bundestag denknotwendig in seiner Organisations- und Verfahrensfreiheit ein. b) Allgemeine Verfassungsprinzipien Ferner ziehen, teilweise vom Bundesverfassungsgericht konkretisierte, allgemeine Verfassungsprinzipien der Selbstorganisation Grenzen.743 In diesem Zusammenhang sind sowohl das Prinzip der repräsentativen Demokratie als auch der verfassungsrechtliche Status der Abgeordneten nach Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG von besonderer Bedeutung.744 Mitwirkungsbefugnisse, gleiches (Art. 38 Abs. 1 GG) und freies Mandat (Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG) begrenzen das Selbstorganisationsrecht. Wechselseitig schränkt aber auch die Geschäftsordnung die Rechte der einzelnen Abgeordneten ein, indem sie die grundgesetzlichen Rechte aller Parlamentarier und Gesichtspunkte der Parlamentsfunktionalität in Einklang zu bringen versucht.745 Neben den Beteiligungsrechten von Abgeordneten fügt sich der Schutz parlamentarischer Minderheiten746 als Grenze der selbstorganisationsrechtlichen Disposition des Bundestages ein.747 c) Keine einfachen Gesetze Ferner ist festzuhalten, dass der Bundestag mit dem Selbstorganisationsrecht nur dort weitreichenden Gestaltungsspielraum hat, wo er eigene Angelegenheiten regelt. Diese Befugnis stößt folglich schnell an ihre Grenzen, sofern Rechte Dritter betroffen 741

Brocker, in: BK, GG, 150. EL Februar 2011, Art. 40 Rn. 89. Aufgezählt bei dems., in: BK, GG, 150. EL Februar 2011, Art. 40 Rn. 67 ff., insbesondere Rn. 89. 743 BVerfGE 44, 308 (315 ff.); Pieroth, in: Jarass/Pieroth, GG, Art. 40 Rn. 8; ablehnend hinsichtlich des Demokratie- und Bundesstaatsprinzips Kühnreich, Das Selbstorganisationsrecht des Deutschen Bundestages unter besonderer Berücksichtigung des Hauptstadtbeschlusses, S. 158 ff.; Schwerin, Der Deutsche Bundestag als Geschäftsordnungsgeber, S. 31. 744 BVerfGE 44, 308 (315 f.); vgl. auch Schwerin, Der Deutsche Bundestag als Geschäftsordnungsgeber, S. 31. 745 BVerfGE 84, 304 (321 f.); 96, 264 (278). 746 Dazu BVerfGE 70, 324 (363). 747 BVerfGE 70, 324 (377). 742

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sind. Dies gilt erstens für andere Verfassungsorgane.748 Zweitens sind Private gemeint denn für einen grundrechtlichen Eingriff bedarf es eines Gesetzesvorbehalts, dessen Voraussetzung der Bundestag als Geschäftsordnungsgeber niemals in der Lage ist, zu erfüllen.749 Sollen Rechtsbeziehungen nach außen geregelt werden, steht dem Parlament die Handlungsform des Gesetzes zur Verfügung – Geschäftsordnungsrecht ist parlamentarisches Binnenrecht. Der Bundestag kann die Rechte und Pflichten von Dritten nicht auf Geschäftsordnungsebene vorschreiben, andersherum kann er für die Regelung eigener Angelegenheiten, wie bereits beschrieben, nur ausnahmsweise auf die Gesetzesform zurückgreifen.750 Daher handelt es sich bei dem Verhältnis zwischen Gesetz und Geschäftsordnung in erster Linie um ein Kompetenzverhältnis zwischen Außenrecht- und Innenrechtsetzer. Es kann jedoch in Ausnahmefällen zu Kollisionen von „Selbstorganisations-Recht“ kommen, zum einen „mitgeregelt“ im Gesetz und zum anderen verankert auf Geschäftsordnungsebene. Dann ist fraglich, auf welche Regelung es ankommt. Das Verhältnis zwischen Gesetz und Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages ist umstritten. Das Bundesverfassungsgericht befasste sich schon früh mit dieser Frage und ging 1952 von einem Vorrang des Gesetzes aus: „Die Geschäftsordnung des Bundestages ist eine autonome Satzung, Ihre Bestimmungen binden nur die Mitglieder des Bundestages. Sie gelten nur für die Dauer der Wahlperiode des Bundestages, der die Geschäftsordnung beschlossen hat, obwohl es möglich und sogar in der Praxis die Regel ist, daß der nächste Bundestag die in Kraft befindliche Geschäftsordnung des früheren Parlamentes übernimmt. Ungeachtet ihrer großen Bedeutung für das materielle Verfassungsrecht und das Verfassungsleben folgt aus dieser Rechtsnatur der Geschäftsordnung, daß sie der geschriebenen Verfassung und den Gesetzen im Range nachsteht.“751

Die Aussagen des Gerichts zum Verhältnis zwischen Gesetz und Geschäftsordnung sind weniger erhellend als es auf den ersten Blick erscheint. Die Geschäftsordnung kann nämlich nicht als „autonome Satzung“ qualifiziert werden. Der Deutsche Bundestag ist weder eine Selbstverwaltungskörperschaft noch gibt es eine Rechtsaufsicht. Die Geschäftsordnung regelt auch keine Außenbeziehungen im Staat-Bürger-Verhältnis.752 Der Vergleich zwischen Geschäftsordnung und Satzung verfängt nicht. Die Geschäftsordnung ist weniger Satzung753 als eine Handlungsform sui generis, mag diese Einteilung auch nicht gänzlich befriedigend sein.754 Eine 748 Vgl. zum Gewaltenteilungsgrundsatz Kühnreich, Das Selbstorganisationsrecht des Deutschen Bundestages unter besonderer Berücksichtigung des Hauptstadtbeschlusses, S. 162 ff. Eine Regelung, die in den Rechtskreis eines anderen Verfassungsorgans eingreift, bedarf sogar einer verfassungsrechtlichen Grundlage, wie sie z.B. für § 68 GO-BT mit Art. 43 Abs. 1 GG vorliegt. 749 Waldhoff, in: ders./Gärditz, PUAG, Vorbemerkung C Rn. 10. 750 Siehe schon 2. Kapitel F. I. 6. 751 BVerfGE 1, 144 (148). 752 Schmidt, AöR 128 (2003), 608 (611). 753 So das Bundesverfassungsgericht seit BVerfGE 1, 144 (148). 754 Vgl. nur Morlok, in: Dreier, GG, Bd. 2, Art. 40 Rn. 18.

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2. Kap.: Die Minderheitenrechte im Deutschen Bundestag

generelle Unterordnung der Geschäftsordnung unter das Gesetz kann jedenfalls nicht damit begründet werden, dass es sich um ein Rangverhältnis zwischen Gesetz und Satzung handelt. Sollten Gesetze auf Grundlage einer verfassungsrechtlichen Ermächtigung oder unter den Voraussetzungen der verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung ausnahmsweise parlamentarisches Binnenrecht regeln, ist vielmehr von einem Gleichrang im Verhältnis zur Geschäftsordnung auszugehen. Weder die im Vergleich zum Gesetz eingeschränkte personelle wie zeitliche Bindungswirkung der Geschäftsordnung noch die vereinfachte Änderungsmöglichkeit sagen etwas über ihren Rang aus.755 Der Adressatenkreis einer Regelung bedeutet lediglich ein quantitatives Kriterium.756 Die zeitliche Geltungsdauer hat ebenfalls keinen Einfluss auf die Rangstufe einer Norm, dies verdeutlichen befristete Gesetzesbestimmungen.757 Insgesamt sind die begrenzte Bindungswirkung und auch die Abweichungsmöglichkeit von der Geschäftsordnung Ausdruck parlamentarischen Binnenrechts, nicht aber Indikatoren für die Rangstufe der Geschäftsordnung.758 Davon unberücksichtigt ist für die vereinfachte Änderungsmöglichkeit der Geschäftsordnung im Einzelfall nach § 126 GO-BT auch eine Zweidrittelmehrheit erforderlich. Für eine generelle Unterordnung der Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages unter den Gesetzesrang spricht auch nicht, dass im formellen Gesetzgebungsverfahren Bundesrat (Art. 76 ff. GG) und Bundespräsident (Art. 82 Abs. 1 Satz 1 GG) beteiligt sind;759 ebenso wenig wie der Befund, dass Gesetze sich von der Geschäftsordnung unterscheiden, indem sie einer Verkündung im Bundesgesetzblatt (Art. 82 Abs. 1 Satz 1 GG) bedürfen. Die Zustimmung des Bundesrates darf für die Geschäftsordnungsrecht regelnden Gesetze („Gesetzes-Geschäftsordnung“760) ohne verfassungsrechtliche Grundlage nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts nicht notwendig sein. Unterschiede des formalen Charakters von Rechtsnormen haben ungeachtet dessen nicht automatisch ein Rangverhältnis zur Folge,761 dies zeigt z.B. die grundsätzliche Gleichrangigkeit von Gewohnheitsrecht. Den Stimmen im Schrifttum, denen die Gleichrangigkeit von Gesetz und Geschäftsordnung reflexartig Sorgen bereitet, sei aber vor allem folgendes entgegengehalten: Es kann nur zu einer Regelungskollision kommen, wenn der Bundestag die 755 Dazu ausführlich Moench, Verfassungsmäßigkeit der Bundestagsausschüsse, S. 81 f. A.A. Kühnreich, Das Selbstorganisationsrecht des Deutschen Bundestages unter besonderer Berücksichtigung des Hauptstadtbeschlusses, S. 80 ff., 85; Morlok, in: Dreier, GG, Bd. 2, Art. 40 Rn. 17; vgl. Schneider, in: AK, GG, 2. EL August 2002, Art. 40 Rn. 10. 756 Haug, Bindungsprobleme und Rechtsnatur parlamentarischer Geschäftsordnungen, S. 53. 757 Vgl. Sachs, in: ders., GG, Art. 20 Rn. 131. 758 Moench, Verfassungsmäßigkeit der Bundestagsausschüsse, S. 82: „Ein zahlenmäßig beschränkter Adressatenkreis und die Diskontinuität von autonomen Parlamentsregelungen liegt in der Natur der Sache.“ 759 A.A. unter anderem Kühnreich, Das Selbstorganisationsrecht des Deutschen Bundestages unter besonderer Berücksichtigung des Hauptstadtbeschlusses, S. 85. 760 VfG Brandenburg, NVwZ-RR 2003, 798 (880). 761 Moench, Verfassungsmäßigkeit der Bundestagsausschüsse, S. 82 f.

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betreffende Materie grundsätzlich auch in der Geschäftsordnung hätte regeln können, d.h. die Auswirkungen einer Gleichrangigkeit von Gesetz und Geschäftsordnung sind äußerst begrenzt.762 Eine Kollision von Regelungen mit Wirkung auf die Rechte von Dritten ist ausgeschlossen, da diese gar nicht in der Geschäftsordnung Platz finden können. Die unterschiedlichen formalen Erfordernisse gehen also niemals zulasten von Dritten. Auch wenn der Bundestag im Ausnahmefall Binnenrecht im Gesetz „mitregelt“, steht dieses dem Geschäftsordnungsrecht zumindest nahe,763 sodass auch die Geschäftsordnungsrecht regelnden Gesetze den Auslegungsund Anwendungsregeln des parlamentarischen Geschäftsordnungsrechts unterliegen.764 Zwar entscheidet sich das Parlament vorher selbst und bewusst unter den genannten Voraussetzungen für die Handlungsform des Gesetzes. Um von einer gesetzlich normierten Regelung abzuweichen, bedürfte es nur einer Aufhebung derselben.765 Dennoch stehen Gesetzgeber und Geschäftsordnungsgeber kompetenziell in der Verfassung nebeneinander,766 sie beide sind Ergebnis einer direkten Wahl durch das Volk. Der Vorrang der Verfassung (Art. 1 Abs. 3, 20 Abs. 3 GG), der Gesetze gegenüber den Rechtsverordnungen (Art. 80 Abs. 1 Satz 1 GG) und der Gesetze gegenüber den Satzungen (Art. 28 Abs. 2 GG) finden ihre Rechtfertigung genauso im Grundgesetz wie der Vorrang von Bundesrecht gegenüber dem Landesrecht (Art. 31 GG).767 An einer vergleichbaren Bestimmung für das Verhältnis zwischen Gesetz und Geschäftsordnung fehlt es; freilich weil es sich grundsätzlich nicht um ein Rangverhältnis handelt. Dennoch regelt z.B. Art. 106 Verf. Bremen, dass die Geschäftsordnung von der Bremischen Bürgerschaft nach Maßgabe der Verfassung und auch der Gesetze festgestellt wird. Dies vermag jedoch über das Verhältnis von Bundestagsgeschäftsordnung und Bundesgesetz keine Aussage treffen, zumal z.B. Art. 99 Verf. Hessen besagt, dass der Hessische Landtag sich eine Geschäftsordnung (nur) im Rahmen der Verfassung gibt. Eine verfassungsrechtliche Vorschrift, wie sie mit Art. 106 Verf. Bremen existiert, findet sich für das Verhältnis zwischen Gesetz und Geschäftsordnung im Bundesrecht gerade nicht.768 Auch der Hinweis auf § 1 Abs. 3 BVerfGG kann nicht im Sinne einer Argumentation für einen 762

Wie hier Moench, Verfassungsmäßigkeit der Bundestagsausschüsse, S. 83. BVerfGE 118, 277 (359); vgl. auch Gärditz, DVBl. 2010, 1314 (1317). 764 Zum Untersuchungsausschussgesetz Brocker, in: Glauben/Brocker, HdB-PUAG, 1. Teil 3. Kapitel Rn. 28; ähnlich, wenn auch nicht ganz so weit, Waldhoff, in: ders./Gärditz, PUAG, Vorbemerkung C Rn. 7. 765 Sofern – wie hier – zumindest ein eingeschränktes Wahlrecht (unter den vom Bundesverfassungsgericht angenommenen Voraussetzungen) vertreten wird, ist zumeist auch von einem gleichrangigen Normverständnis die Rede, vgl. z.B. Brocker, in: BK, GG, 150. EL Februar 2011, Art. 40 Rn. 220; dens., in: Epping/Hillgruber, GG, 37. Edition Mai 2018, Art. 40 Rn. 35; Magiera, in: Sachs, GG, Art. 40 Rn. 26; zusätzlich Schliesky, in: v. Mangoldt/Klein/ Starck, GG, Bd. 2, Art. 40 Rn. 22; Schmidt, AöR 128 (2003), 608 (641). 766 Vgl. auch Seiler, AöR 129 (2004), 378 (394). 767 Vgl. anschaulich zum Durchbruch des Vorrangs der Verfassung Waldhoff, Der positive und der negative Verfassungsvorbehalt, S. 27 – 30. 768 Schmidt, AöR 128 (2003), 608 (637). 763

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2. Kap.: Die Minderheitenrechte im Deutschen Bundestag

Vorrang des Gesetzes fruchtbar gemacht werden. Bei der Vorschrift des § 1 Abs. 3 BVerfGG handelt es sich um eine deklaratorische Normierung einer Geschäftsordnungsbefugnis des Bundesverfassungsgerichts, die allen Verfassungsorganen qua Verfassung zusteht.769 Sie hat im Übrigen keinen Einfluss auf das Verhältnis von Gesetz und Geschäftsordnung des Parlaments. Schließlich können auch Verweisungen auf Beschlüsse des Bundestages in Gesetzen wie im Abgeordnetengesetz zur Fraktionsfinanzierung (§ 50 Abs. 2 Satz 2 AbgG) keinen Aufschluss über ein Rangverhältnis zwischen Gesetz und Geschäftsordnung geben. Im Rahmen der Regelung eigener Angelegenheiten stehen Gesetzesrecht und Geschäftsordnungsrecht nicht in einem Rangverhältnis, sie stehen nebeneinander. Dies ist letztlich die Konsequenz der Entscheidung für die Regelung von Geschäftsordnungsrecht im Gesetz. Wenn der Bundestag sich im Ausnahmefall der Handlungsform des Gesetzes bedient, muss er auch die Gleichrangigkeit von „Gesetzes-Geschäftsordnung“ und Geschäftsordnung in Kauf nehmen. Dies gilt sowohl für solche Gesetze, die unter den drei vom Bundesverfassungsgericht geforderten Voraussetzungen erlassen werden als auch für solche Gesetze mit grundgesetzlicher Anweisung der gesetzlichen Handlungsform. Im letzteren Fall leitet sich zwar die Handlungsform des Gesetzes aus der höherrangigen Verfassung ab. Die Verweisungsnorm bezieht sich aber auf den „Gesetzesteil“; der „Geschäftsordnungsteil“ wird lediglich mitgeregelt und könnte im Zweifel auch in der formellen Geschäftsordnung Platz finden.770 Die Verweisungsnormen (z.B. Art. 48 Abs. 3 Satz 3, 41 Abs. 3 GG771) sind nicht „spezieller“ als Art. 40 Abs. 1 Satz 2 GG. Sie bedeuten keine Einengung des parlamentarischen Handlungsspielraumes in eigenen Angelegenheiten, ein vom Ausführungsgesetz abweichendes parlamentarisches Vorgehen ist nicht versperrt.772 Bei der Frage nach dem Verhältnis zwischen Gesetz und Geschäftsordnung geht es im Kern um eine Kompetenzfrage, nicht um eine Rangfrage. Bei Art. 40 Abs. 1 Satz 2 GG handelt es sich um eine verfassungsrechtliche Norm. Gesetze kommen aufgrund des Vorrangs der Verfassung nicht als Grenze des Selbstorganisationsrechts in Frage. Im Rahmen von Kollisionen gilt die speziellere (lex specialis) bzw. jüngere 769

Schmidt, AöR 128 (2003), 608 (638). Siehe oben schon 2. Kapitel F. I. 3. Dies wird von Mahrenholz und Böckenförde in ihren Sondervoten verlangt, BVerfGE 70, 324 (380 ff. und 386 ff.). 771 Weitere Beispiele sind zu finden bei Klein, in: Maunz/Dürig, GG, 50. EL Juni 2007, Art. 40 Rn. 75. 772 A.A. und für den Vorrang des Gesetzes im Verhältnis zur Geschäftsordnung BVerfGE 1, 144 (148); auch Dicke, in: MitarbK, GG, Bd. 2, Art. 40 Rn. 14; Klein, in: Maunz/Dürig, GG, 50. EL Juni 2007, Art. 40 Rn. 76; neuerdings auch Kluth, in: Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/Henneke, GG, Art. 40 Rn. 43, 45; Kretschmer, in: Schneider/Zeh, Parlamentsrecht und Parlamentspraxis, § 9 Rn. 42; Kühnreich, Das Selbstorganisationsrecht des Deutschen Bundestages unter besonderer Berücksichtigung des Hauptstadtbeschlusses, S. 80 ff.; Pietzcker, in: Schneider/Zeh, Parlamentsrecht und Parlamentspraxis, § 10 Rn. 41; Schäfer, Der Bundestag, S. 64. 770

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(lex-posterior-derogat-legi-priori) Bestimmung.773 Es bleibt also dabei: Das Selbstorganisationsrecht wird begrenzt (nur) durch die verfassungsrechtliche Rahmenordnung.

II. Prüfungsmaßstab Der Bundestag hat grundsätzlich Verfahrensfreiheit, Art. 40 Abs. 1 Satz 2 GG. Er hat selbst darüber zu entscheiden, wie er seinem grundgesetzlichen Funktionsauftrag gerecht werden kann. Eine geschäftsordnungsrechtliche Einräumung von Minderheitenrechten darf höherrangigen Festlegungen jedoch nicht widersprechen.774 Das Grundgesetz hat Vorrang vor der Geschäftsordnung. Bei § 126a Abs. 1 Nr. 5 bis 8 GO-BT a.F. jedoch wurde ausnahmsweise das Rangverhältnis zwischen formellem Gesetz und Geschäftsordnung des Bundestages relevant. Wie gezeigt handelt es sich bei der Frage nach dem Verhältnis zwischen Gesetz und Geschäftsordnung regelmäßig um eine Kompetenzfrage. Überdies haben einfache Gesetze keinen Vorrang vor der Geschäftsordnung, d.h. einfache Gesetze können die parlamentarische Verfahrensfreiheit nicht begrenzen.775 Anders ist dies grundsätzlich nur, wenn Gesetze Verfassungsrecht wiederholen oder konkretisieren. Auch das Untersuchungsausschussgesetz genießt keinen Vorrang gegenüber der Geschäftsordnung. An dieser Stelle ist jedoch auf folgende Besonderheit hinzuweisen: Die minderheitenschützenden Quorenrechte des Art. 44 GG und des Untersuchungsausschussgesetzes befinden sich in einem Gleichlauf. Dies folgt aus dem Sinn und Zweck des Art. 44 GG und den „verfassungsinterpretatorischen“776 Bestimmungen des Untersuchungsausschussgesetzes unter Berücksichtigung der Gesetzesmaterialien sowie der Systematik des Untersuchungsausschussgesetzes.777 Insofern sind die im Untersuchungsausschussgesetz geregelten Minderheitenrechte dem verfassungsrechtlichen Quorum des Art. 44 Abs. 1 Satz 1 GG nachempfunden. Die Quorenrechte des Untersuchungsausschussgesetzes waren daher als verfassungsrechtliche Konkretisierungen dem Geschäftsordnungsrecht des § 126a Abs. 1 Nr. 1 und 2 GO-BT a.F. ausnahmsweise vorrangig.

773 So auch Schliesky, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, Bd. 2, Art. 40 Rn. 22; Kluth, in: Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/Henneke, GG, Art. 40 Rn 45; Schmidt, AöR 128 (2003), 608 (342). 774 Schmidt-Jortzig, FS Schnapp, S. 279. 775 Siehe ausführlich 2. Kapitel F. I. 6. c). 776 Seidel, BayVBl. 2002, 97 (98). 777 BVerfGE 105, 197 (223); BGH, NVwZ 2017, 651 (653), dazu Brocker, NVwZ 2017, 651 (655 f.).

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2. Kap.: Die Minderheitenrechte im Deutschen Bundestag

III. Verfassungsrechtliche Diskussion Die Abgeordneten der Fraktion DIE LINKE enthielten sich im Wesentlichen bei der Plenarabstimmung zur Verabschiedung der Vorschrift des § 126a GO-BT a.F.778 Im Organstreitverfahren gegen den Deutschen Bundestag bezeichnete der Prozessbevollmächtigte der stärksten Oppositionsfraktion der 18. Wahlperiode die Regelung als objektiv verfassungs- und gesetzeswidrig.779 Das Bundesverfassungsgericht selbst ließ ausdrücklich offen, ob es § 126a GO-BT a.F. für verfassungsgemäß hält,780 äußerte gleichzeitig aber Zweifel an bestimmten Einzelregelungen.781 1. Enqueterecht und Sitzverteilung im Untersuchungsausschuss Gleich hinter der ersten Nummer des § 126a Abs. 1 GO-BT a.F. verbarg sich die bedeutendste Regelung der in vielerlei Hinsicht selbst für „geschäftsordnungsrechtliche Verhältnisse“ außergewöhnlichen Vorschrift. § 126a Abs. 1 Nr. 1 Satz 1 GO-BT a.F. regelte das Enqueterecht für 120 Abgeordnete. Im Übrigen wurde nach § 126a Abs. 1 Nr. 1 Satz 2 GO-BT a.F. die Zahl der Mitglieder im Untersuchungsausschuss derart bestimmt, dass die Abgeordneten der Oppositionsfraktionen gemeinsam mindestens ein Viertel der Mitglieder des Ausschusses auf sich vereinigen. Zunächst ist auf § 126a Abs. 1 Nr. 1 Satz 1 GO-BT a.F. einzugehen: Das Viertelquorum in Art. 44 Abs. 1 Satz 1 GG, § 1 Abs. 1 PUAG erforderte in der 18. Wahlperiode für eine Einsetzungspflicht des Bundestages 158 Abgeordnetenstimmen. § 126a Abs. 1 Nr. 1 Satz 1 GO-BT a.F. senkte das Quorum auf 120 Abgeordnetenstimmen ab. Der Bundestag setzt einen Untersuchungsausschuss durch Parlamentsbeschluss ein. Nicht der Antrag auf Einsetzung, sondern der Mehrheitsbeschluss des Parlaments führt zur Ausschusseinsetzung. Bei einem Antrag durch die qualifizierte Minderheit enthält sich die Parlamentsmehrheit in der Regel. Auch wenn sie theoretisch zur Zustimmung verpflichtet ist,782 genügt die Enthaltung den Vorgaben des Art. 44 Abs. 1 Satz 1 GG, sofern ein Mehrheitsbeschluss für die Ausschusseinsetzung auch dadurch ermöglicht wird.783 Die Abgeordnete Nina Warken (CDU) hielt in der Aktuellen Stunde zur parlamentarischen Kontrolle in Zeiten Großer Koalitionen zum Abschluss der 18. Wahlperiode fest, dass es in Wahrheit keinen Untersuchungsausschuss in der 18. Wahlperiode gegeben hätte, 778

BT-Plenarprotokoll 18/26 vom 3. April 2017, S. 2085 (B) ff. Schneider im Antrag zur Einleitung des Organstreitverfahrens, abgedruckt in ders./ Schwarz, Parlamentarische Opposition zwischen Effektivität und Egalität, S. 44. 780 BVerfGE 142, 25 (53). 781 BVerfGE 142, 25 (60). 782 Morlok, in: Dreier, GG, Bd. 2, Art. 44 Rn. 35. 783 Waldhoff, in: ders./Gärditz, PUAG, § 1 Rn. 54. Siehe zur Abstimmungspflicht 2. Kapitel E. 779

F. Verfassungsmäßigkeit von § 126a GO-BT a.F.

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wenn es streng nach dem Wortlaut des Grundgesetzes gegangen wäre.784 Zwei der fünf Untersuchungsausschüsse – „NSA“ und „NSU“ – wurden jedoch interfraktionell beantragt und mit entsprechender Zustimmung aller Fraktionen eingesetzt. Der Untersuchungsausschuss zur NSA-Affäre wurde sogar noch vor Verabschiedung des § 126a Abs. 1 Nr. 1 GO-BT a.F. eingesetzt, er versammelte sich erstmals am Tag der Verabschiedung der neuen Geschäftsordnungsvorschrift am 3. April 2014. Das Viertelquorum wurde folglich im Rahmen beider Einsetzungsanträge unproblematisch überschritten. Bei den drei anderen Untersuchungsausschüssen „Sebastian Edathy“, „Cum-Ex“ und „Abgas“ verfehlte die Antragsminderheit dagegen das verfassungsrechtliche Quorum. Der Bundestagsbeschluss für einen Untersuchungsausschuss beruhte dennoch auf Mehrheitsentscheidungen des Bundestages.785 Die Einsetzung der jeweiligen Ausschüsse war daher keinesfalls rechtswidrig. Über die Verfassungskonformität des § 126a Abs. 1 Nr. 1 Satz 1 GO-BT a.F. sagt dies aber nichts aus.786 Die Einsetzung eines Untersuchungsausschusses ist gemäß Art. 44 Abs. 1 Satz 1 Alt. 1 GG auch bei einem Antrag von weniger als einem Viertel der Bundestagsmitglieder möglich (Splitterenquete), eine generelle Abweichung vom Viertelquorum durch eine Geschäftsordnungsregel ist indessen nicht zulässig. Art. 44 Abs. 1 Satz 1 Alt. 2 GG verhält sich abschließend zu einer Einsetzungspflicht. Die Grundgesetzbestimmung versperrt eine einfachgesetzliche bzw. geschäftsordnungsrechtliche Absenkung des Minderheitenquorums. Die Einsetzungspflicht gilt nur bei Erreichen des Quorums. Es handelt sich um eine der wenigen parlamentsrechtlichen Bestimmungen, für dessen Normierung sich der Verfassungsgeber im Grundgesetz entschied. Das Quorum schützt die Funktionalität des Parlaments. Minderheiten sollen erst ab einer gewissen Stimmenanzahl im Parlament eine Einsetzungspflicht von Untersuchungsausschüssen herbeiführen können. Damit soll oppositionellen Obstruktionsversuchen vorgebeugt werden. Die bewusste Erhöhung des Verfassungsquorums von einem Fünftel (Art. 34 WRV) auf ein Viertel der Abgeordneten durch den Parlamentarischen Rat ist in dieser Überlegung begründet.787 Das Grundgesetz beziffert ein Quorum unter Berücksichtigung sowohl der Notwendigkeit parlamentarischer Kontrolle als auch der Gefahr politischer Instabilität. Das Parlament kann mithin auch nicht über den verfassungsrechtlichen Schutz parlamentarischer Minderheiten hinausgehen und das Quorum auf Gesetzes784

Warken, in: BT-Plenarprotokoll 18/243 vom 29. Juni 2017, S. 24949 (C). Es geht um die Untersuchungsausschüsse zum Fall Edathy, Cum-Ex und zur Abgasaffäre. Siehe dazu Anträge und BT-Plenarprotokolle in der Reihenfolge BT-Drs. 18/1475, 18/ 1948 und dazu BT-Plenarprotokoll 18/45 vom 2. Juli 2014, S. 4071 (D); BT-Drs. 18/6839, 18/ 7601 und dazu BT-Plenarprotokoll 18/156 vom 19. Februar 2016, S. 15405 (C); zuletzt BT-Drs. 18/8273, 18/8932 und dazu BT-Plenarprotokoll 18/183 vom 7. Juli 2016, S. 18040 (C). 786 In diese Richtung noch in der elften Auflage Risse/Witt, in: Hömig/Wolff, GG, Art. 44 Rn. 5. 787 Vgl. dazu die sechste Sitzung des Kombinierten Ausschusses am 24. September 1948, in: Stelzl/Weber (Hrsg.), Der Parlamentarische Rat 1948 – 1949, Bd. 13/1, S. 187; zur Genese auch Glauben, in: BK, GG, 160. EL März 2013, Art. 44 Rn. 1 ff., 6; Klein, in: Maunz/Dürig, GG, 76. EL Dezember 2015, Art. 44 Rn. 21. 785

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2. Kap.: Die Minderheitenrechte im Deutschen Bundestag

oder Geschäftsordnungsebene absenken. Ferner schützt das Antragsquorum neben der parlamentarischen Handlungsfähigkeit die Rechte von Dritten;788 zunächst die Bundesregierung als eigentlichen Gegenspieler der Opposition, vor allem aber Private. Untersuchungsausschüsse haben strafprozessuale Zwangsmittel, sie üben öffentliche Gewalt aus und sind grundrechtsgebunden.789 Eine geschäftsordnungsrechtliche Regelung von Rechten Dritter ist nicht möglich. Die Rechtsstellung Dritter wird zwar erst durch die Ausübung von Untersuchungsrechten, geregelt im Untersuchungsausschussgesetz, berührt. Der Antrag auf Einsetzung des Untersuchungsausschusses geht dem allerdings voraus. Er ist nicht nur kausal, sondern notwendiger Anstoß für spätere Ausschusshandlungen. § 126a Abs. 1 Nr. 1 Satz 1 GO-BT a.F. stellte eine rechtswidrige Abweichung von Art. 44 Abs. 1 Satz 1 GG, § 1 Abs. 1 PUAG dar.790 Dem aufmerksamen Beobachter wird in diesem Zusammenhang die landesrechtliche Abweichung des Untersuchungsausschussgesetzes in Baden-Württemberg von der dortigen Landesverfassung auffallen. Hier gibt es ein ähnlich gelagertes Problem. In der Vorschrift des § 2 Abs. 3 Satz 1 UAG Baden-Württemberg wird nicht nur das Viertelquorum der Landesverfassung aus Art. 35 Abs. 1 Satz 1 Verf. Baden-Württemberg für die Einsetzungspflicht wiederholt, es wird zusätzlich zum landesverfassungsrechtlichen Quorum eine Einsetzungspflicht bei einem Antrag zweier Fraktionen normiert.791 Eine solche Regelung muss verfassungskonform ausgelegt werden.792 Danach liegt eine Einsetzungspflicht mit der Folge einer Minderheitenenquete auch dort nur dann vor, wenn die beiden Fraktionen das Viertelquorum erreichen. Die Verfassung schützt Rechte von Dritten, auch Gesetze können diesen Schutz nicht absenken. Der Gleichlauf von Verfassung und Untersuchungsausschussgesetz gilt auch hier, aber eben nur für das verfassungsrechtlich vorgegebene Quorum. Gravierende praktische Auswirkungen hat eine verfassungskonforme Auslegung jedoch nicht. Die Untersuchungsausschüsse selbst beruhen auf dem Einsetzungsbeschluss des Landtages durch Mehrheitsent788 Insoweit wohl a.A. Lammert bei Biallas/Stoltenberg, „Legislatur maßvoll erweitern“, Das Parlament vom 28. 10. 2013, S. 2; siehe 2. Kapitel D. II. 789 Vgl. nur Badura, FS Helmrich, S. 195, 201; Gärditz, in: Waldhoff/Gärditz, PUAG, § 2 Rn 32; Waldhoff, in: ders./Gärditz, PUAG, § 1 Rn. 30, 50. 790 A.A. Cancik, NVwZ 2014, 18 (23); Ennuschat, VR 2015, 1 (5); Waack, in: Morlok/ Schliesky/Wiefelspütz, Parlamentsrecht, § 22 Rn. 83; Starski, DÖV 2016, 750 (760); Klein, in: Maunz/Dürig, GG, 76. EL Dezember 2015, Art. 44 Rn. 75; wohl auch Ritzel/Bücker/Schreiner/ Winkelmann, HdbPP, 30. EL Dezember 2014, Erl. 2. a) zu § 126a, S. 4; Glauben, in: ders./ Brocker, HdB-PUAG, 2. Teil 4. Kapitel Rn. 3b. Dagegen kritisch Ingold, Das Recht der Oppositionen, S. 625; Rixecker, FS Wendt, S. 1277 f.; Waldhoff, in: ders./Gärditz, PUAG, § 1 Rn. 48. 791 § 2 Abs. 3 Satz 1 UAG Baden-Württemberg regelt, dass mit einem Antrag, der bei seiner Einreichung die Unterschriften von einem Viertel der Mitglieder des Landtages trägt oder von zwei Fraktionen, deren Mitglieder verschiedenen Parteien angehören, unterzeichnet ist, der Landtag zur Einsetzung eines Untersuchungsausschusses verpflichtet wird. 792 Auf die Verfassungsmäßigkeit der Vorschrift geht nicht ein: VerfGH Baden-Württemberg, Urteil vom 13. Dezember 2017 – 1 GR 29/17 –, juris. Siehe 6. Kapitel B. I. Zur verfassungskonformen Auslegung ausführlicher 5. Kapitel C. III. 2. c) cc).

F. Verfassungsmäßigkeit von § 126a GO-BT a.F.

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scheidung – sie bleiben rechtmäßig. Wenn eine mögliche Splitterenquete zweier Fraktionen, die das Viertelquorum verpassen, als Minderheitenenquete behandelt wird, ist das nicht weiter problematisch: Die Themenhoheit und die einzelnen Antragsrechte bleiben dann de facto auch bei Erreichen des gesetzlichen Quorums bestehen. Rechtssicherheit entsteht aber freilich nicht. Die Geschäftsordnungsbestimmung des § 126a Abs. 1 Nr. 1 Satz 1 GO-BT a.F. konnte anders als die badenwürttembergische Gesetzesbestimmung nicht mehr verfassungskonform ausgelegt werden, da 120 Abgeordnete in keinem Fall das grundgesetzliche Viertelquorum erreichen. Hier ist kein interpretativer Spielraum eröffnet. Der Verfassungswortlaut ist eindeutig. Eine Pflicht zur Einsetzung des Untersuchungsausschusses besteht gerade nur bei Erreichen der grundgesetzlichen Antragsminderheit und nur bei Erreichen der Minderheitenenquete hat diese Antragsminderheit einen verfassungsrechtlichen Anspruch auf Geltendmachung der gesetzlichen Untersuchungsrechte nach dem Untersuchungsausschussgesetz. Hinsichtlich § 126a Abs. 1 Nr. 1 Satz 2 GO-BT a.F. ist festzustellen, dass eine solche Festlegung der Ausschussgröße solange zulässig ist, bis auch sie den verfassungsrechtlichen Vorgaben nicht widerspricht. Die Bestimmung bezweckte die Sicherung der gesetzlich konkretisierten und minderheitenschützenden Quorenrechte im Untersuchungsausschuss.793 Ein Viertel der Mitglieder des Ausschusses können z.B. die Einsetzung eines Ermittlungsbeauftragten gemäß § 10 Abs. 1 Satz 1 PUAG verlangen oder die Erhebung von Beweisen gemäß § 17 Abs. 2 PUAG fordern. Weitere solche Quorenrechte sind geregelt in den §§ 8 Abs. 2, Abs. 3, 17 Abs. 3 Satz 2, Abs. 4, 18 Abs. 3, Abs. 4 Satz 2, 27 Abs. 2, 29 Abs. 2 Satz 2, Abs. 3 Satz 1 Halbs. 1, 30 Abs. 4 Satz 2 PUAG. Das Enqueterecht und die einzelnen Minderheitenrechte im Untersuchungsverfahren stehen in einem engen Nexus. Die Minderheitenrechte aus dem Untersuchungsausschussgesetz bieten der parlamentarischen Opposition das nötige Instrumentarium für eine wirksame Kontrollausübung. Doch täuschte § 126a Abs. 1 Nr. 1 Satz 2 GO-BT a.F. über die tatsächliche Rechtslage hinweg.794 Das verfassungsrechtliche Quorum nach Art. 44 Abs. 1 Satz 1 GG und die Quoren im Untersuchungsausschussgesetz befinden sich, wie bereits ausgeführt, in einem Gleichlauf.795 Das Quorum des Art. 44 Abs. 1 Satz 1 GG setzt sich in den Vorschriften des Untersuchungsausschussgesetzes fort. Die Minderheitenrechte im Ausschuss sind folglich an die Voraussetzungen des Art. 44 Abs. 1 Satz 1 GG gekoppelt, es handelt sich eben nicht um losgelöste Rechte. Der Minderheit eines parlamentarischen Untersuchungsausschusses kommen im Untersuchungsverfahren nur dann die Minderheitenrechte innerhalb des Ausschusses zu, wenn sie entsprechend Art. 44 Abs. 1 Satz 1 GG mindestens ein Viertel der Mitglieder des Bundestages repräsentiert (Minderheitenenquete). Das folgt aus dem Sinn und Zweck wie auch aus der gesetzgeberischen Intention des Untersu793

Siehe insoweit mit ähnlichem Zweck § 126a Abs. 1 Nr. 2 Halbs. 2 GO-BT a.F. So auch Brocker, DÖV 2014, 475 (478). 795 BVerfGE 105, 197 (223); BGH, NVwZ 2017, 651 (653), dazu Brocker, NVwZ 2017, 651 (655 f.). 794

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2. Kap.: Die Minderheitenrechte im Deutschen Bundestag

chungsausschussgesetzes.796 Folglich verfehlte die Vorschrift des § 126a Abs. 1 Nr. 1 Satz 2 GO-BT a.F. ihren Normzweck. Eine Splitterenquete führt nicht zu den besonderen von Art. 44 Abs. 1 GG umfassten Rechtspositionen. Auch die Änderung des Untersuchungsgegenstandes bleibt möglich. § 126a Abs. 1 Nr. 1 GO-BT a.F. konnte eine Minderheitenenquete und den damit einhergehenden funktionalen Zugewinn der Kontrollmöglichkeiten nicht begründen.797 Doch ein verfehlter Normzweck sagt wiederum nichts über die Verfassungsmäßigkeit von § 126a Abs. 1 Nr. 1 Satz 2 GO-BT a.F. aus. Diese beurteilt sich am Maßstab des Grundgesetzes. Bei einer geschäftsordnungsrechtlichen Vorgabe der Ausschussgröße sind speziell dem Grundsatz der Spiegelbildlichkeit sowie der Mandatsgleichheit Rechnung zu tragen.798 Überdies muss die Funktionsfähigkeit des Parlaments berücksichtigt werden.799 Die Spiegelbildlichkeit der Fraktionsstärke in Plenum und Ausschuss wurde verzerrt, sofern den Oppositionsfraktionen bei einer tatsächlichen Fraktionsstärke von 20,1 % durch § 126a Abs. 1 Nr. 1 Satz 2 GO-BT a.F. eine erhöhte Repräsentation im Untersuchungsausschuss von mindestens 25 % (ein Viertel aller Sitze) zugewiesen wurde. Folglich ist auch die Abgeordnetengleichheit beeinträchtigt. Denn neben den Abgeordneten der Oppositionsfraktionen sind die Abgeordneten der Regierungsfraktionen gleichermaßen zur Aufklärung von Sachverhalten im Untersuchungsausschuss aufgerufen. Ob ein zwingender Grund für die Überrepräsentation der parlamentarischen Opposition im Untersuchungsausschuss und eine entsprechende Ungleichbehandlung von Abgeordneten im Grundsatz parlamentarischer Opposition und der ihr im parlamentarischen Regierungssystem in besonderer Weise zukommenden Regierungskontrolle liegt, kann jedoch offenbleiben. Es existieren nämlich Ausschussgrößen, die sicherstellen, dass Ausschussmitglieder der Fraktionen, die nicht die Bundesregierung tragen, gemeinsam ein Viertel der Ausschussmitglieder stellen und gleichzeitig noch den verfassungsrechtlichen Vorgaben genügen. Nach dem in § 126a Abs. 1 Nr. 1 Satz 2 GO-BT a.F. benannten Verteilverfahren Sainte-Laguë/Schepers ließ ein Untersuchungsausschuss den Spiegelbildlichkeitsgrundsatz und die Mandatsgleichheit unberührt, sofern Ausschussgrößen von sechs bis acht oder 16 Mitgliedern gewählt wurden. Eine andere Anzahl von Ausschussmitgliedern hätte gegen das Gebot repräsentativer Spiegelbildlichkeit verstoßen.800 Sofern Abweichungen vom Spiegelbildlichkeitsgrundsatz und der Mandatsgleichheit in den Grenzen der anerkannten parlamentarischen Berechnungsverfahren bleiben, sind sie grundsätzlich hinzunehmen.801 Zwar sind die Oppositionsfraktionen bei den genannten Ausschussgrößen weiterhin überrepräsentiert, 796

BGH, NVwZ 2017, 651 (654). Ingold, Das Recht der Oppositionen, S. 625 f. 798 Vgl. dazu anschaulich dens., Das Recht der Oppositionen, S. 625 f. 799 Vgl. Georgii, in: Waldhoff/Gärditz, PUAG, § 4 Rn. 3 ff. 800 Ingold, Das Recht der Oppositionen, S. 625. 801 Dies kann anders sein, wenn es um die Erforderlichkeit von Grundmandaten oder die Notwendigkeit einer Mehrheitsfindung geht. Insgesamt für verfassungswidrig hält die Vorschrift ders., ZRP 2016, 143 (144). 797

F. Verfassungsmäßigkeit von § 126a GO-BT a.F.

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eine exakte Proportionalisierung kann bei der Ausschussbildung jedoch in den seltensten Fällen gelingen. Die Abweichungen im Rahmen des mathematischen Berechnungsverfahrens sind verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden, sofern die wesentlichen Mehrheitsverhältnisse nicht umgekehrt werden. Die – eigene – faktische Beschränkung der Ausschussmitgliederzahl auf diese Ausschusszahlen zieht der Funktionalität des Bundestages nicht unangemessen Grenzen. Die weite Geschäftsordnungsautonomie spricht insofern für die Möglichkeit des Parlaments, eine Vorschrift wie § 126a Abs. 1 Nr. 1 Satz 2 GO-BT a.F. zu erlassen.802 Eine Überdehnung des Anspruchs an die Spiegelbildlichkeit nähme dem Parlament unangemessen viel Freiraum bei der Organisation des Parlamentsbetriebes. In der 18. Wahlperiode wurden alle Untersuchungsausschüsse mit acht Mitgliedern besetzt. Die verfassungsrechtlichen Bedenken gegen § 126a Abs. 1 Nr. 1 Satz 2 GO-BT a.F. greifen nicht durch. Obwohl §126a Abs. 1 Nr. 1 Satz 1 GO-BT a.F. verfassungswidrig war, konnte das Parlament den Anträgen auf Einsetzung eines Untersuchungsausschusses von weniger als einem Viertel der Bundestagsabgeordneten zu einer Splitterenquete verhelfen. Bei einer solchen nicht-qualifizierten Minderheitenenquete wird das Antragsquorum verfehlt, das Parlament entscheidet dennoch mit Mehrheit für den Untersuchungsausschuss. Deswegen beruhten die drei eingesetzten Untersuchungsausschüsse der 18. Wahlperiode, die von der nicht qualifizierten Opposition beantragt wurden, nicht etwa auf einem verfassungswidrigen Einsetzungsbeschluss.803 Beteiligte im Untersuchungsverfahren können sich gerichtlich nicht gegen Maßnahmen zur Wehr setzen, weil eine verfassungswidrige Geschäftsordnungsregel zur Einsetzungsverpflichtung eines Untersuchungsausschusses existiert. In der 5. Wahlperiode kam es ebenfalls zu einer Splitterenquete, als die FDP-Opposition das Quorum verfehlte und der Bundestag dem Antrag dennoch ganzheitlich zustimmte. In solchen Fällen sind lediglich die Unterschiede zwischen Minderheitenenquete und Splitterenquete zu beachten. Die nicht-qualifizierte Minderheit kann gerade keine Themenhoheit beanspruchen.804 Ungeachtet dessen war die Einsetzungsverpflichtung des § 126a Abs. 1 Nr. 1 Satz 1 GO-BT a.F. in seiner abstraktgenerellen Form verfassungswidrig.805

802

Vgl. Starski, DÖV 2016, 750 (751). Das Bundesverfassungsgericht deutet ebenfalls an, dass § 126a Abs. 1 Nr. 1 GO-BT a.F. zumindest nicht mit der Mandatsgleichheit kollidiert, BVerfGE 142, 25 (60). 803 Vgl. insgesamt zum Themenkomplex „Auswirkungen der ,fehlerhaften Einsetzung‘“ Buchholz, Der Betroffene im parlamentarischen Untersuchungsausschuß, S. 40 ff. 804 BVerfGE 49, 70 (86 f.); Brocker, in: Epping/Hillgruber, GG, 37. Edition Mai 2018, Art. 44 Rn. 33. 805 A.A. Cancik, NVwZ 2014, 18 (21); Gärditz, in: Waldhoff/Gärditz, PUAG, § 2 Rn. 32; lediglich eine verfassungsfeste Einsetzungspflicht absprechend Glauben, in: ders./Brocker, HdB-PUAG, § 1 Rn. 15a; dagegen ähnlich wie hier Waldhoff, in: ders./Gärditz, PUAG, § 1 Rn. 48.

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2. Kap.: Die Minderheitenrechte im Deutschen Bundestag

2. Untersuchungsrecht im Verteidigungsausschuss Zunächst war es nach § 126a Abs. 1 Nr. 2 GO-BT a.F. auf Antrag aller Ausschussmitglieder der Oppositionsfraktionen möglich, im Verteidigungsausschuss ein Untersuchungsverfahren einzuleiten. Im Übrigen war geregelt, dass auch die minderheitenschützenden Quorenrechte aus dem Untersuchungsausschussgesetz von den Ausschussmitgliedern der Fraktionen geltend gemacht werden können, die nicht die Bundesregierung tragen. Nach Art. 45a Abs. 2 GG hat der Verteidigungsausschuss die Rechte eines Untersuchungsausschusses, zu dem er sich konstituiert, wenn ein Viertel seiner Mitglieder dies beantragen. Die Absenkung des Verfassungsquorums ist nicht zulässig. Auch im Verteidigungsausschuss ist die Ausschussmehrheit frei darin, eine Angelegenheit der Verteidigung zum Gegenstand einer Untersuchung zu machen, wenn das Antragsquorum nicht erreicht wird. Eine generell-abstrakte Regelung, die zu einer solchen Einrichtung verpflichtet, widerspricht jedoch wie bei § 126 Abs. 1 Nr. 1 Satz 1 GO-BT dem eindeutigen Wortlaut der Verfassung. Auch der zweite Teil der Vorschrift erweist sich als verfassungswidrig. Das liegt erstens in der Fortsetzung des Verfassungsquorums in den minderheitenschützenden Vorschriften im Untersuchungsausschussgesetz begründet. Zweitens bevorzugte die Vorschrift ausdrücklich die Abgeordneten der Oppositionsfraktionen.806 Die exklusive Rechtszuweisung an „Ausschussmitglieder der Fraktionen, die nicht die Bundesregierung tragen“ – es handelt sich um einen aus den Landesverfassungen bekannten Terminus für die parlamentarische Opposition –,807 widerspricht dem Gleichbehandlungsgebot nach Art. 38 Abs. 1 GG. Anders als bei § 126a Abs. 1 Nr. 1 Satz 1 GO-BT a.F. handelte es sich bei § 126a Abs. 1 Nr. 2 GO-BT a.F. um eine exklusive Rechtszuweisung und nicht um eine noch vom Spiegelbildlichkeitsgrundsatz umfasste Berechnung der Ausschussgröße (siehe § 126a Abs. 1 Nr. 1 Satz 2 GO-BT a.F.). Den Abgeordneten der Opposition wird eine prioritäre Stellung gegenüber den Abgeordneten der Regierungsfraktionen eingeräumt. Für diese Ungleichbehandlung gibt es auch keinen zwingenden Grund von Verfassungsrang, da zur Sicherung der Kontrollfunktion des Parlaments im parlamentarischen Regierungssystem jedenfalls eine neutrale Regelung wie in § 126a Abs. 1 Nr. 1, 3, 4, 5, 6 oder 11 GO-BT a.F. möglich bleibt. So werden die Abgeordneten der Regierungsfraktionen ungerechtfertigt benachteiligt. 3. Sitzungseinberufung § 126a Abs. 1 Nr. 3 GO-BT a.F. verpflichtete den Bundestagspräsidenten zur Einberufung des Bundestages, sofern 120 Abgeordnete dies beantragen. Auch hier gibt es in Art. 39 Abs. 3 Satz 3 GG eine grundgesetzliche Bestimmung, die mit 806 807

BVerfGE 142, 25 (60). Siehe z.B. ähnlich Art. 19 Abs. 2 Verf. Niedersachsen.

F. Verfassungsmäßigkeit von § 126a GO-BT a.F.

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§ 126a Abs. 1 Nr. 3 GO-BT a.F. kollidierte. Die Geschäftsordnungsvorschrift war verfassungsrechtlich unzulässig.808 Zwar besteht keine Gefahr einer Beeinträchtigung Dritter durch das Einberufungsrecht von 120 Abgeordneten. Dennoch regelt die Verfassung das Einberufungsrecht und die Einberufungspflicht des Bundestagspräsidenten in Art. 39 GG abschließend. Das Grundgesetz schreibt für letztere das Verlangen von einem Drittel der Abgeordneten vor, die Geschäftsordnung wiederholt dies in § 21 Abs. 2 GO-BT. Die Geschäftsordnung konnte mit § 126a Abs. 1 Nr. 3 GO-BT a.F. nicht von der Grundgesetzregelung abweichen. Freilich bleibt es dem Bundestagspräsidenten überlassen, die Einberufung dennoch zu veranlassen, Art. 39 Abs. 3 Satz 2 GG. 4. Subsidiaritätsklage Nach § 126a Abs. 1 Nr. 4 GO-BT a.F. konnten 120 Abgeordnete eine Subsidiaritätsklage beantragen. Unabhängig von einer möglichen Verfassungswidrigkeit des § 126a Abs. 1 Nr. 4 GO-BT a.F. ist das Minderheitenquorum in der Verfassung insgesamt nicht unumstritten. Während das Bundesverfassungsgericht die Vorschrift für zulässig hält,809 gibt es im Schrifttum Bedenken.810 Die weitere Absenkung des Quorums auf 120 Abgeordnete widerspricht jedenfalls dem Wortlaut des Art. 23 Abs. 1a Satz 2 GG, § 12 Abs. 1 Satz 1 IntVG und war damit bereits rechtswidrig. 5. Aufnahme abweichender Auffassungen zur Subsidiaritätsklage in Klageschrift § 126a Abs. 1 Nr. 5 GO-BT a.F. regelte die Aufnahmepflicht abweichender Auffassungen zur Subsidiaritätsklage in die Klageschrift auf Antrag von 120 Abgeordneten. In der Verfassung findet sich diesbezüglich keine Regelung. Nur in § 12 Abs. 1 Satz 2 IntVG ist geregelt, dass auf Antrag eines Viertels der Bundestagsmitglieder, die die Erhebung der Klage nicht stützen, deren Auffassung in der Klageschrift deutlich zu machen ist. Eine geschäftsordnungsrechtliche Absenkung dieses gesetzlichen Quorums ist mit der hier vertretenen Auffassung einer Gleichrangigkeit von Gesetz und Geschäftsordnung in Fällen der Normkollision möglich.811 Das Integrationsverantwortungsgesetz geht auf das Lissabon-Urteil vom 808 A.A. in der elften Auflage bei Risse/Witt, in: Hömig/Wolff, GG, Art. 39 Rn. 7; nach dem Urteil zu den Minderheiten- und Oppositionsrechten von 2016 heißt es in der Neuauflage treffend: „Letztlich bleibt hier nur eine Änderung der entsprechenden Verfassungsnormen, sollen die dort festgeschriebenen Quoren abgesenkt werden.“, Risse/Witt, in: Hömig/Wolff, GG, vor Art. 38 Rn. 5. 809 Mit Verweis auch auf andere europäische Regelungen wie Art. 88-6 Verf. Frankreich 1958 in der Fassung vom 21. Juli 2008, BVerfGE 123, 267 (431). 810 Vgl. im Ergebnis nur Uerpmann-Wittzack/Edenharter, EuR 2009, 313 (328); a.A. wohl Mayer, in: Morlok/Schliesky/Wiefelspütz, Parlamentsrecht, § 43 Rn. 236 ff. 811 Siehe 2. Kapitel F. I. 6. c).

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2. Kap.: Die Minderheitenrechte im Deutschen Bundestag

Bundesverfassungsgericht aus dem Jahr 2009 zurück. Die Vorschrift des § 126a Abs. 1 Nr. 5 GO-BT a.F. ging den Regelungen des § 12 Abs. 1 Satz 2 IntVG und § 93d Abs. 3 Satz 1 GO-BT daher als jüngeres Gesetz vor. § 126a Abs. 1 Nr. 5 GO-BT a.F. stand im Einklang mit der Verfassung. Ein Fortlauf des verfassungsrechtlichen Quorums aus Art. 23 Abs. 1a Satz 2 GG in Anlehnung an Art. 44 Abs. 1 Satz 1 GG und die Vorschriften des Untersuchungsausschussgesetzes ist hier nicht begründbar. 6. Stellungnahme des Bundestages zu Vorhaben der Europäischen Union Nach § 126a Abs. 1 Nr. 6 GO-BT a.F. trat der Bundestag auf Verlangen von 120 Abgeordneten einem Antrag bei, der eine Erläuterung von Gründen durch die Bundesregierung in Bezug auf Vorhaben der Europäischen Union (§ 5 EUZBBG) im Rahmen einer Plenardebatte fordert. Sofern in einer Stellungnahme geäußerte Belange des Bundestages (§ 8 EUZBBG) gegenüber der Bundesregierung keine Berücksichtigung in den Vorhaben der Europäischen Union finden, soll eine Antragsminderheit eine Debatte über die Ursachen einfordern können. Auch hier gibt es keine verfassungsrechtliche Bestimmung, die gegen die Geschäftsordnungsregelung spräche. Lediglich in § 8 Abs. 5 Satz 3 EUZBBG ist für ein solches Verlangen ein Mindestquorum von einem Viertel der Mitglieder des Bundestages genannt. § 126a Abs. 1 Nr. 6 GO-BT a.F. kollidierte folglich mit der Vorschrift aus dem Gesetz über die Zusammenarbeit von Bundesregierung und Deutschem Bundestag in Angelegenheiten der Europäischen Union. Die jüngere Norm des § 126a Abs. 1 Nr. 6 GO-BT a.F. ging dem älteren Gesetz vor. Die Vorschrift des § 126a Abs. 1 Nr. 6 GO-BT a.F. war rechtmäßig. 7. Informations- und Auskunftsverlangen des Haushaltsausschusses im Rahmen des ESM-Finanzierungsgesetzes In § 5 Abs. 4 ESMFinG ist bestimmt, dass der von der Bundesrepublik nach Art. 5 Abs. 1 ESM-Vertrag ernannte Gouverneur und dessen Stellvertreter verpflichtet sind, den Haushaltsausschuss des Deutschen Bundestages auf Verlangen mindestens eines Viertels seiner Mitglieder, das mindestens von zwei Fraktionen im Ausschuss unterstützt werden muss, zu informieren und Auskünfte zu erteilen, soweit nicht Tatbestände nach § 6 ESMFinG betroffen sind. § 126a Abs. 1 Nr. 7 GO-BT a.F. regelte dagegen eine Beitrittspflicht des Haushaltsausschusses zu Informations- und Auskunftsersuchen nach § 5 Abs. 4 ESMFinG gegenüber dem von der Bundesrepublik ernannten Gouverneur und dessen Stellvertreter nach Art. 5 Abs. 1 ESMVertrag, wenn alle oppositionellen Ausschussmitglieder eine Unterrichtung verlangen. Zwar gibt es keine ausdrückliche verfassungsrechtliche Bestimmung, die der Geschäftsordnungsregelung des § 126a Abs. 1 Nr. 7 GO-BT a.F. widersprach. Sie

F. Verfassungsmäßigkeit von § 126a GO-BT a.F.

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verstieß jedoch gegen Art. 38 Abs. 1 GG, die Gleichheit der Abgeordneten. Die oppositionellen Abgeordneten werden ungerechtfertigt bevorzugt.812 8. Anhörungsrecht im Haushaltsausschuss im Rahmen des ESM-Finanzierungs- und des Stabilisierungsmechanismusgesetzes § 126a Abs. 1 Nr. 8 GO-BT a.F. bestimmte, dass der Haushaltsausschuss bei der Beteiligung im Rahmen des ESM-Finanzierungsgesetzes und des Stabilisierungsmechanismusgesetzes eine Anhörung nach § 70 GO-BT durchführt, sofern dies von den Ausschussmitgliedern der Opposition beantragt wird. § 5 Abs. 6 Satz 2 ESMFinG und § 4 Abs. 5 Satz 2 StabMechG regeln dementgegen eine Antragsminderheit von einem Viertel der Mitglieder des Haushaltsausschusses und mindestens zwei Fraktionen im Ausschuss. Auch § 126a Abs. 1 Nr. 8 GO-BT a.F. verstieß gegen die Mandatsgleichheit, die Vorschrift war verfassungswidrig.813 9. Anhörungsrecht im federführenden Ausschuss § 126a Abs. 1 Nr. 9 GO-BT a.F. normierte ein Anhörungsrecht im federführenden Ausschuss auf Antrag der Ausschussmitglieder der Opposition. Obwohl es sich bei dem Anhörungsrecht um ein genuin eigenes Recht des Bundestages handelt und keine Rechte Dritter betroffen sind, per Parlamentsbeschluss oder Geschäftsordnung also durchaus von der Regelung des § 70 Abs. 1 Satz 2 GO-BT abgewichen werden könnte, war § 126a Abs. 1 Nr. 9 GO-BT a.F. in seiner Form verfassungswidrig. Denn auch diese Bestimmung verstieß gegen die Mandatsgleichheit – die Vorschrift benachteiligte ungerechtfertigt die Abgeordneten der Regierungsfraktionen.814 10. Plenarberatung statt erweiterter öffentlicher Ausschussberatung im federführenden Ausschuss § 126a Abs. 1 Nr. 10 GO-BT a.F. regelte, dass auf Antrag aller Ausschussmitglieder der Opposition eine Plenarberatung statt einer erweiterten öffentlichen Ausschussberatung im federführenden Ausschuss (§ 69a Abs. 5 Satz 1 GO-BT) durchgeführt wird. Auch diese Vorschrift verstieß gegen Art. 38 Abs. 1 GG und war damit verfassungswidrig.815

812 813 814 815

BVerfGE 142, 25 (60). BVerfGE 142, 25 (60). BVerfGE 142, 25 (60). BVerfGE 142, 25 (60).

212

2. Kap.: Die Minderheitenrechte im Deutschen Bundestag

11. Einsetzung von Enquete-Kommissionen Nach § 126a Abs. 1 Nr. 11 GO-BT a.F. wurden Enquete-Kommissionen auf Antrag von 120 Abgeordneten eingesetzt. Nach § 56 Abs. 1 Satz 2 GO-BT ist für eine Einsetzungspflicht des Bundestages ein Antrag eines Viertels seiner Mitglieder nötig. Dieses Quorum wurde unproblematisch durch § 126a Abs. 1 Nr. 11 GO-BT a.F. abgesenkt, die jüngere Norm ging der älteren Norm insoweit vor. Es stehen keine grundgesetzlichen Vorschriften im Wege, die Verfassung kennt keine EnqueteKommissionen. Die Regelung war verfassungskonform.

IV. § 126a Abs. 2 GO-BT a.F. § 126a Abs. 2 GO-BT a.F. schloss aus, dass die geschäftsordnungsrechtliche Durchbrechungsmöglichkeit im Einzelfall mit Zweidrittelmehrheit nach § 126 GO-BT auf die minderheitenschützende Vorschrift des § 126a Abs. 1 GO-BT a.F. Anwendung findet. Eine solche Vorschrift ist möglich. Sie schützt aber wie § 126 GO-BT insgesamt lediglich vor Einzelfallabweichungen, nicht vor Änderungen der Geschäftsordnung. Verfassungsfest ist keine der beiden Vorschriften. § 126a Abs. 2 GO-BT a.F. fingierte lediglich Rechtssicherheit. Mit einfacher Mehrheit kann der Bundestag seine Geschäftsordnung jederzeit ändern oder sich eine ganz neue Geschäftsordnung geben.816 Das Bundesverfassungsgericht verneint ebenfalls eine erhöhte Regelungsfestigkeit von speziellen minderheitenschützenden Bestimmungen unterhalb der Verfassung in seinen beiden Entscheidungen zu Minderheiten- und Oppositionsrechten und zur NSA-Sektorenliste. Dort heißt es zur minderheitenschützenden Vorschrift des § 126a GO-BT a.F., sie sei jederzeit änderbar und begründe daher – auch unter Berücksichtigung der Regelung des § 126a Abs. 2 GO-BT a.F. – keine gesicherte Rechtsposition.817 § 126a Abs. 2 GO-BT a.F. bekräftigte die politische Selbstverpflichtung der Regierungsfraktionen, der parlamentarischen Opposition die Minderheitenrechte in Zeiten der Großen Koalition zuzusprechen. Eine erhöhte rechtliche Änderungsfestigkeit vermochte sie aber nicht herbeizuführen. § 126a Abs. 2 GO-BT a.F. hatte mithin begrenzte Rechtswirkung, war aber zulässig.

816 Beckermann/Weidemann, Der Staat 53 (2014), 313 (314); Hölscheidt, ZG 30 (2015), 246 (254). Wohl a.A. ist Ennuschat, VR 2015, 1 (3), wenn er § 126a Abs. 2 GO-BT a.F. als bedeutend deklariert. Rechtliche Auswirkungen hatte die Vorschrift gerade nicht. 817 BVerfG, NVwZ 2017, 137 (139); BVerfGE 142, 25 (53); auch BGH, NVwZ 2017, 651 (655); ähnlich auch Beckermann/Weidemann, Der Staat 53 (2014), 313 (314); Gärditz, in: Waldhoff/Gärditz, PUAG, § 2 Rn. 32; Hölscheidt, ZG 30 (2015), 246 (254); insoweit wohl a.A. Ennuschat, VR 2015, 1 (3); die Änderbarkeit von § 126a GO-BT a.F. wird auch bejaht von Ritzel/Bücker/Schreiner/Winkelmann, HdbPP, 30. EL Dezember 2014, Erl. 1. zu § 126a, S. 3, dennoch biete das Abweichungsverbot des § 126a Abs. 2 GO-BT a.F. im Einzelfall „gewissen Schutz“.

F. Verfassungsmäßigkeit von § 126a GO-BT a.F.

213

V. Zulässige Selbstbindung statt verfassungswidriges Geschäftsordnungsrecht? Nur § 126a Abs. 1 Nr. 1 Satz 2, Nr. 5, 6 und 11 sowie Abs. 2 GO-BT a.F. waren verfassungsrechtlich zulässig. § 126a GO-BT a.F. war damit größtenteils verfassungswidrig. Dies deutete das Bundesverfassungsgericht in seiner Entscheidung von 2016 bereits an, als es dort mit Bezug auf die Mandatsgleichheit festhielt: „Einer Einführung spezifischer Oppositionsfraktionsrechte steht zudem Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG entgegen. Exklusiv den Oppositionsfraktionen zur Verfügung stehende Rechte – wie beispielhaft die Schaffung spezifischer Oppositionsrechte im Ausschuss in § 126a Abs. 1 Nr. 2 und 7 bis 10 GO-BT – stellen eine nicht zu rechtfertigende Durchbrechung des Grundsatzes der Gleichheit der Abgeordneten und ihrer Zusammenschlüsse aus Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG dar.“818

Eine verfassungskonforme Auslegung ist aufgrund des eindeutigen Wortlauts der Verfassung nicht möglich. Zu kurz greift der Versuch, die Norm dadurch zu „retten“, dass ihr lediglich eine politische Selbstbindungsfunktion zugesprochen wird.819 Geschäftsordnungsvorschriften des Deutschen Bundestages sind zwar mehr noch als andere Bestimmungen in Recht gegossene politische Entscheidungen. Es handelt sich um ein politisches Regelwerk, es bleiben aber rechtlich bindende Bestimmungen, selbst wenn es sich bei der Geschäftsordnung des Bundestages um eine lex imperfecta handelt. Bloße Geschäftsordnungsverstöße im parlamentsinneren Raum sind Rechtsverstöße ohne außenrechtliche Folgen.820 Wird gleichzeitig gegen Verfassungsrecht verstoßen, ist dies freilich anders. Die politische Dimension einer Geschäftsordnungsvorschrift ändert aber nichts an ihrem Rechtsnormcharakter, es fehlt lediglich an der Außenwirkung. Die Bestimmungen in § 126a Abs. 1 Nr. 1 Satz 1, Nr. 2 bis 4 und 7 bis 10 GO-BT a.F. hatten keine rechtliche Bindungswirkung; dies liegt aber in ihrer Verfassungswidrigkeit und nicht in einer Art Gnadenakt der sich politisch aufopfernden Koalition begründet. Auch Geschäftsordnungsbestimmungen sind nicht um ihrer selbst willen geschaffen, sondern anwendungsorientiert.821 Sie haben sich in den von der Verfassung vorgegebenen Rahmen einzufügen. Für eine bloß politische Selbstbindung genügt eine politische Absichtserklärung, wie sie im Übrigen auch allgemeingehalten im Koalitionsvertrag existierte. Mit anderen Worten: Eine politische Absichtserklärung ist eine politische Absichtserklärung, eine Geschäftsordnungsregel eine Geschäftsordnungsregel – eine 818

BVerfGE 142, 25 (60). So aber wohl Klein, in: Maunz/Dürig, GG, 76. EL Dezember 2015, Art. 44 Rn. 75; Gärditz, in: Waldhoff/Gärditz, PUAG, § 2 Rn. 32. 820 Zeh, in: Isensee/Kirchhof, HStR, Bd. 3, § 53 Rn. 14; Schulze-Fielitz, in: Schneider/Zeh, Parlamentsrecht und Parlamentspraxis, § 11 Rn. 19; Schliesky, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, Bd. 2, Art. 40 Rn. 22; Klein, in: Maunz/Dürig, GG, 50. EL Juni 2007, Art. 40 Rn. 36; differenzierend Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. 2, § 26 III 6 e), S. 84; Schmidt, AöR 128 (2003), 608 (643). 821 Vgl. Waldhoff, in: Fleischer, Mysterium „Gesetzesmaterialien“, S. 83. 819

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2. Kap.: Die Minderheitenrechte im Deutschen Bundestag

politische Absichtserklärung hat nichts in der Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages zu suchen.822 Davon zu unterscheiden ist die Frage der tatsächlichen – politischen – Strahlkraft der Vorschrift. Die teilweise Verfassungswidrigkeit der Norm ist hierfür kein Hinderungsgrund. Zum Abschluss der 18. Wahlperiode verlangte die Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eine Aktuelle Stunde zum Thema „Parlamentarische Kontrolle in Zeiten der Großen Koalition“. Dabei fokussierten sich die politischen Vorwürfe der Opposition gegenüber der Regierung und der Regierungsfraktionen auf die unangemessene Akteneinsicht im NSA-Untersuchungsausschuss. Die Mitglieder der Mehrheitsfraktionen versuchten dagegen auf den Titel der Aktuellen Stunde einzugehen und das Thema zu nutzen, um den Zugewinn oppositioneller Wirkungschancen durch die Einführung der Bestimmung des § 126a GO-BT a.F. hervorzuheben: Der Deutsche Bundestag schütze die parlamentarischen Minderheitenund Oppositionsrechte wie kein zweites Parlament auf der Welt.823 Praktische Auswirkungen gingen weniger von der Verfassungswidrigkeit der Norm als von ihrer Zweckverfehlung aus.824 Von entscheidender Bedeutung für die parlamentarische Opposition ist ohnehin die Verbriefung der Minderheitenrechte an sich. Die tatsächliche Relevanz der Vorschrift war aber insgesamt begrenzt. Die meisten der von § 126a GO-BT a.F. normierten Minderheitenrechte spielten in der 18. Wahlperiode keine Rolle, so wurde z.B. keine einzige Enquete-Kommission eingesetzt. Die verfassungsrechtlichen Antragsrechte blieben bis auf die Einsetzung des Untersuchungsausschusses ohne Bedeutung, das Antragsrecht auf die Normenkontrollklage wurde nicht in § 126a Abs. 1 GO-BT a.F. geregelt. Lediglich das Minderheitenrecht zur Beantragung des Untersuchungsausschusses (§ 126a Abs. 1 Nr. 1 GO-BT a.F.) und der Anhörungen im Ausschuss (§ 126a Abs. 1 Nr. 9 GO-BT a.F.) waren in der 18. Wahlperiode von größerer Bedeutung. Dabei mag eine Vorschrift wie § 126a Abs. 1 Nr. 1 Satz 1 GO-BT a.F. auf die Abgeordneten der Regierungsfraktionen eine größere politische Wirkungskraft haben als eine bloße politische Absichtserklärung. Ob ein Zusammenhang zwischen § 126a Abs. 1 Satz 1 GO-BT a.F. und der hohen Anzahl von Untersuchungsausschüssen in der 18. Wahlperiode besteht, bleibt offen. Nicht zu unterschätzen ist jedoch, dass Untersuchungsausschüsse zusätzlich neben dem parlamentarischen Normalbetrieb Personal und Ressourcen binden.825 Für mandatsschwache Oppositionsfraktionen bedeutet dies ein schmaler Entscheidungsgrad zwischen effektiver Regierungskontrolle und personeller wie fachlicher Überforderung. Das Recht im federführenden Ausschuss, bei überwiesenen Vorlagen 822 A.A. Schliesky, in: Morlok/Schliesky/Wiefelspütz, Parlamentsrecht, § 5 Rn. 84, der das geschäftsordnungsrechtliche Entgegenkommen gar als geboten ansieht. 823 Bernhard Kaster (CDU), in: BT-Plenarprotokoll 18/243 vom 29. Juni 2017, S. 24954 (B). 824 Dies verdeutlichte das Organstreitverfahren zur NSA-Sektorenliste, BVerfG, NVwZ 2017, 137 (139). 825 Das klingt an bei Sitte und Britta Haßelmann (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) bei Lodde, Vier Jahre im Reaktionsmodus, 4. 9. 2017, https://www.tagesschau.de/inland/btw17/bilanz-oppo sition-101.html, zuletzt geprüft am 26. 4. 2018.

G. Ergebnis

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eine Anhörung zu verlangen, ist nach § 70 Abs. 1 Satz 2 GO-BT zwar einem Viertel der Ausschussmitglieder vorbehalten. Sofern aber in der parlamentarischen Praxis eine Fraktion eine Anhörung verlangt, wird diese in der Regel auch mit Zustimmung der anderen Fraktionen durchgeführt.826

G. Ergebnis Die Mehrheitsverhältnisse während qualifizierter Großer Koalitionen schränken die Wirkungsmöglichkeiten parlamentarischer Kontrolle durch die Opposition ein. Der vom Bundesverfassungsgericht hergeleitete Grundsatz funktionaler Opposition führt im Ergebnis jedoch nicht dazu, dass der Verfassung auch spezifische Oppositionsrechte zu entnehmen sind. Verfassungswortlaut, Mandatsgleichheit und die Rechtsbetroffenheit Dritter verhindern eine solche Auslegung. Auch eine Pflicht zur Schaffung solcher Rechte oder zur Absenkung der Minderheitenrechte kann dem Grundgesetz nicht entnommen werden. Außerdem kann es keine Abstimmungspflichten für Abgeordnete der Regierungsfraktionen geben, weil die Opposition bestimmte Verfassungsquoren verfehlt. Ferner war die vom Bundestag in der 18. Wahlperiode gefundene „Lösung“ des „Demokratie-Problems“827 in Form des § 126a GO-BT a.F. in weiten Teilen verfassungswidrig.

826 Dazu auch aus dem politikwissenschaftlichen Schrifttum Schüttemeyer, in: Schneider/ Zeh, Parlamentsrecht und Parlamentspraxis, § 42 Rn. 25. 827 Cancik, ZParl. 48 (2017), 516.

3. Kapitel

Die Redezeiten im Deutschen Bundestag Neben den Minderheitenrechten waren kurz nach der Bundestagswahl 2013 auch die Redezeiten im Deutschen Bundestag Diskussionsgegenstand in Öffentlichkeit1 und Parlament2. Die Plenardebatten sahen sich länger schon dem Vorwurf ausgesetzt, einschläfernd zu sein.3 In der Plenardebatte zu den Minderheiten- und Oppositionsrechten stellte Konstantin v. Notz (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) pointiert fest: „Ich verweise einmal auf die Rednerliste von heute. Nach meiner Rede können eigentlich alle hier nach Hause gehen; dann nämlich, in der zweiten Halbzeit dieser Debatte, führen Sie [die Abgeordneten der Regierungsfraktionen] Selbstgespräche. Das ist so langweilig, dass selbst aus Ihren Reihen, aus den Reihen der Großen Koalition, kaum jemand bei diesem wichtigen Thema da ist. Das ist ein Armutszeugnis.“4

Sofern es im Bundestag zu sogenannten freien Abstimmungen und zur Aufhebung der Fraktionsdisziplin kommt, geht es meist um Gewissensentscheidungen.5 Hier mag der Redekunst noch die größte Wirkung auf das Abstimmungsverhalten der Abgeordneten zukommen. Solche Abstimmungen sind jedoch äußerst selten. Die parlamentarische Debatte dient nicht dazu, Abgeordnete der Gegenseite von der eigenen politischen Ansicht zu überzeugen. Dieses Pathos braucht heute niemand mehr bemühen, es trifft noch am ehesten auf das Honoratiorenparlament6 der Frankfurter Nationalversammlung zu. Bloße Fensterreden von Abgeordneten mögen 1 Vgl. nur Müller, Kleine Opposition, 17. 10. 2013, http://www.faz.net/aktuell/politik/bun destagswahl/kommentar-kleine-opposition-12622598.html, zuletzt geprüft am 26. 4. 2018. 2 Siehe die Parlamentsdebatten zu den Minderheiten- und Oppositionsrechten, BT-Plenarprotokoll 18/14 vom 13. Februar 2014, S. 1017 (C) ff. und 18/26 vom 3. April 2014, S. 2065 (B) ff. 3 Schon vor der Bundestagswahl 2013 wurde der Bundestag „Das langweiligste Parlament Europas“ genannt, anschließend „Das langweiligste Parlament der Welt“, so Maier, SPD will Fragerecht im Bundestag verändern: Das langweiligste Parlament Europas, 6. 8. 2012, http:// www.taz.de/!5087163/, zuletzt geprüft am 26. 4. 2018; Alexander, Das langweiligste Parlament der Welt, 30. 1. 2014, https://www.morgenpost.de/printarchiv/politik/article124363691/Daslangweiligste-Parlament-der-Welt.html, zuletzt geprüft am 26. 4. 2018. 4 v. Notz, in: BT-Plenarprotokoll 18/14 vom 13. Februar 2014, S. 1024 (B). Dies gesteht in der konstituierenden Sitzung der 19. Wahlperiode auch ein: Carsten Schneider (SPD), in: BT-Plenarprotokoll 19/1 vom 24. Oktober 2017, S. 5 (A). 5 Vgl. insgesamt zu Kreations- und Legitimationstheorie van Essen, in: Herzog, „Oder gilt das nur in Demokratien?“, S. 20 f. 6 Volkmann, ZParl. 48 (2017), 473 (483).

3. Kap.: Die Redezeiten im Deutschen Bundestag

217

auf Kritik stoßen;7 heute aber ist die Plenarrede vor allem an die Öffentlichkeit adressiert. Fensterreden sind zum festen Bestandteil der deutschen Parlamentskultur geworden.8 Dies ist aber weder unbefriedigend noch ein Zeichen von Demokratieversagen. Der Bundestag ist ein Arbeitsparlament, das Ringen um politische Lösungen geschieht in Ausschüssen und Fraktionen. Wer erst im Plenum überzeugt wird, hat die eigentliche parlamentarische Arbeit verpasst. Wichtig ist eine parlamentarische Auseinandersetzung mit der Anwesenheit möglichst vieler Abgeordneter im Plenum dennoch. Die Plenardebatte ist nämlich keineswegs bedeutungslos, sie dient der öffentlichen Zurschaustellung politischer Positionen,9 der Sichtbarmachung von Regierungspolitik sowie ihrer oppositionellen Kritik und Alternativen. Daher ist die parlamentarische Zuweisung von Redezeit ein politischer Kampf um Aufmerksamkeit. Eine Plenardebatte im Deutschen Bundestag braucht Rede und Gegenrede. Andernfalls handelt es sich weniger um eine Debatte als um aneinandergereihte Vorträge zu gelungener Regierungspolitik. Ein solches Procedere unterwanderte die Parlamentsfunktionen.10 Nicht nur Abgeordnete der Opposition betreiben Regierungskontrolle und -kritik, sondern in anderer und wichtiger Weise auch Abgeordnete der Regierungsfraktionen.11 In der parlamentarischen Debatte aber findet Regierungskritik durch Abgeordnete der Regierungsfraktionen praktisch nicht statt. An keinem anderen Ort ist die Funktionseinheit zwischen Regierung und Regierungsmehrheit sichtbarer als in der öffentlichen Plenardebatte. Es ist der einzige Ort im parlamentarischen Betrieb, an dem der Bundestag als Redeparlament fungiert.12 Bundesregierung und Parlamentsmehrheit sind hier versucht, ein einheitliches Bild nach außen zu vermitteln. Für Kritik an eigenen Vorhaben und Alternativvorschläge ist kein Platz. Im Bundestag richtet sich die Redezeitkontingentierung vor allem nach der Fraktionsstärke. In Phasen von großen Regierungsmehrheiten, insbesondere einer qualifizierten Großen Koalition, ist dieses Modell dem Vorwurf ausgesetzt, eine Debatte gar nicht erst zuzulassen.

7 Aus der Kaiserzeit Bamberger, Jahrbuch für Gesetzgebung, Verwaltung und Rechtspflege des Deutschen Reiches 1 (1871), 159 (171): „Zuweilen wird die Klage laut, der oder jener spreche für das Publikum außerhalb des Raumes, zumeist für seine Wähler. Wo diese Richtung vorherrscht, steht es allerdings übel mit dem Parlamentarismus“. 8 Vgl. kritisch Habermas, Strukturwandel der Öffentlichkeit, S. 305 ff. 9 Schönberger, JZ 2016, 486 (490). 10 Neben der Regierungskontrolle stünden auch Aufgaben der Öffentlichkeitsherstellung, Willensbildung und Integration in Frage. Siehe zu den Parlamentsfunktionen 2. Kapitel Fn. 601. 11 Siehe ausführlich 2. Kapitel C. III. 2. 12 Zur Unterscheidung von Arbeits- und Redeparlament aus der Politikwissenschaft Steffani, Parlamentarische und präsidentielle Demokratie, S. 333 f.

218

3. Kap.: Die Redezeiten im Deutschen Bundestag

A. Parlamentarische Debatte: Rederecht – Redeordnung – Redezeit I. Rederecht und seine Verankerung in Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG Gleichwohl der Deutsche Bundestag ein Arbeitsparlament ist,13 kommt er nicht ohne die öffentliche Debatte (Art. 42 Abs. 1 Satz 1 GG) im Parlamentsplenum aus. Insofern bleibt er in geringem Ausmaß auch ein Redeparlament. Das Rederecht ist ein Abgeordnetenrecht.14 Es ist verfassungsrechtlich im Status des einzelnen Abgeordneten verankert, wenn auch nicht – wie zunächst im Parlamentarischen Rat verhandelt15 – ausdrücklich in Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG genannt. Das Rederecht des einzelnen Abgeordneten im Plenum wie im Ausschuss gehört zum Kernbestand des Mandats,16 der Entzug des Rederechts ist mit dem Grundgesetz nicht vereinbar. Dem Recht der Abstimmung (Art. 42 Abs. 2 Satz 1 GG: „Beschlüsse“) ist das Recht der Beratung vorgeschaltet (Art. 42 Abs. 1 Satz 1 GG: „verhandelt“).17 Das Bundesverfassungsgericht bestätigt die zentrale Bedeutung des Rederechts für den Abgeordneten.18 Mittels des Rederechts können Abgeordnete auf die parlamentarische Willensbildung Einfluss nehmen.19 Im Ausschuss ist eine intensive Erörterung von Gründen und Gegengründen durch die Mitglieder möglich, im Plenum können die Abgeordneten ihren Standpunkt nach außen vermitteln. Im Sinne der parlamentarischen Handlungsfähigkeit ist der Bundestag weitestgehend frei,20 die Rahmenbedingungen des Rederechts21 der einzelnen Abgeordneten nach Art. 40 Abs. 1 Satz 2 GG auszugestalten. Das grundsätzliche Rederecht aber bleibt unberührt, jegliche Einschränkungen sind am strengen Maßstab des Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG zu messen.

II. Geschäftsordnungsrechtliche Redeordnung Die Parlamentsdebatte fußt auf Verfahrensregelungen über den Ablauf, die Organisation und Verhaltensweisen, um eine störungsfreie Verhandlung zu ermögli13

So bereits BVerfGE 44, 308 (318). BVerfGE 10, 4 (12); 60, 374 (379); 80, 188 (218). 15 Siehe dazu v. Doemming/Füsslein/Matz, JöR 1 (1951), 1 (355); vgl. zum fast identischen Wortlaut des § 13 GO-BT Ritzel/Bücker/Schreiner/Winkelmann, HdbPP, 8. EL Juli 1993, Erl. I. b) aa) zu § 13, S. 2 f. 16 Vgl auch StGH Bremen, DÖV 1970, 639 (641). 17 Vgl. BVerfGE 125, 104 (123). 18 BVerfGE 10, 4 (12); 60, 374 (379); 80, 188 (218). 19 Klein, in: Maunz/Dürig, GG, 60. EL Oktober 2010, Art. 38 Rn. 230 f.; Karcher/Korn, DÖV 2012, 725 (728). 20 BVerfGE 10, 4 (19). 21 Wie hier Demmler, Der Abgeordnete im Parlament der Fraktionen, S. 473. 14

A. Parlamentarische Debatte: Rederecht – Redeordnung – Redezeit

219

chen: die Redeordnung.22 Die nähere Ausgestaltung des verfassungsrechtlichen Rederechts der einzelnen Abgeordneten geschieht zunächst durch die Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages. Sie regelt solche Vorschriften überwiegend im sechsten Abschnitt über „Tagesordnung, Einberufung, Leitung der Sitzung und Ordnungsmaßnahmen“. In der Geschäftsordnung der Weimarer Republik von 1922 gab es noch eine weitere Untergliederung zwischen „Sitzungen des Reichstags“, „Redeordnung“ und „Ordnungsbestimmungen“, auch in einigen Parlamentsgeschäftsordnungen der Bundesländer findet sich noch der Begriff der „Redeordnung“23. In den §§ 19 bis 54 GO-BT werden Regelungen über die parlamentarische Debatte im Plenum getroffen, wobei sich die wesentlichsten Vorschriften zur Redeordnung in den §§ 27 bis 35 GO-BT finden: Nach § 27 Abs. 1 Satz 1 GO-BT wird das Wort vom Präsidenten erteilt, er ist unparteiischer Leiter der Sitzungen (§§ 22, 7 Abs. 1 Satz 2 GO-BT). Der Bundestag beschließt auf Antrag einer Fraktion oder von anwesenden fünf Prozent der Mitglieder des Bundestages über die Vertagung oder den Schluss der Aussprache (§ 25 Abs. 2 Satz 1, auch § 26 GO-BT). Der Präsident bestimmt grundsätzlich die Reihenfolge der Redner (§ 28 Abs. 1 GO-BT). Die Geschäftsordnung privilegiert Antragsteller und Berichterstatter, die das Recht haben, vor Beginn und nach Schluss der Aussprache das Wort zu verlangen, § 28 Abs. 2 Satz 2 und 3 GO-BT. Die Gestaltung und Dauer der Aussprache in der parlamentarischen Praxis ist aber ähnlich wie die Festsetzung der Tagesordnung (§ 20 Abs. 1 GO-BT) wesentlich von interfraktionellen Vereinbarungen abhängig (§ 35 Abs. 1 Satz 1 GO-BT). Sie wirken ermessensleitend.24 Dem Präsidenten stehen mit dem Katalog der Ordnungsmaßnahmen in den §§ 36 bis 38 GO-BT Möglichkeiten zur Disziplinierung der Versammlung zur Verfügung. Geregelt sind außerdem bestimmte Erklärungen, die zur Geschäftsordnung (§ 29 GO-BT), zur Aussprache (§ 30 GO-BT), zur Abstimmung (§ 31 GO-BT) und außerhalb der Tagesordnung (§ 32 GO-BT) abgegeben werden können. Schließlich finden sich Vorschriften zur Debatte verteilt an anderen Orten in der Geschäftsordnung, z.B. Aktuelle Stunden (§ 106 Abs. 1 i.V.m. Anlage 5 Nr. 6 bis 9 GO-BT), Befragungen der Bundesregierung (§ 106 Abs. 2 i.V.m. Anlage 7 GO-BT) oder auch Ausschusssitzungen (z.B. § 71 Abs. 3 GO-BT) betreffend. Die Ordnung der Redebeiträge ist für die parlamentarische Debatte unabdingbar: Das Reden soll nicht nebeneinander, sondern miteinander stattfinden. Trotz der zahlreichen Geschäftsordnungsregelungen gibt es jedoch keine abschließende Redeordnung. Manche Vorgänge bleiben ohne Erwähnung in der Geschäftsordnung, andere Geschäftsordnungsregelungen finden keine Anwendung. Dies gilt insbesondere für die Verteilung der Redezeit in der Plenardebatte, die zum bedeutendsten 22 Vgl. auch die Definition bei Besch, in: Schneider/Zeh, Parlamentsrecht und Parlamentspraxis, § 33 Rn. 3. 23 Siehe z.B. §§ 25 ff. GO-LT Brandenburg. 24 Ritzel/Bücker/Schreiner/Winkelmann, HdbPP, 23. EL März 2006, Erl. 2. h) zu § 28, S. 2.

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3. Kap.: Die Redezeiten im Deutschen Bundestag

Teil der Redeordnung gehört.25 Im Parlamentsfernsehen auf der Internetseite des Deutschen Bundestages werden alle Plenardebatten sowie eine Vielzahl öffentlicher Ausschusssitzungen und Anhörungen live, unkommentiert und in voller Länge übertragen. Sie sind auch nachträglich über eine Mediathek zugänglich. Ferner werden Teile ausgewählter Sitzungen von den öffentlich-rechtlichen Fernsehsendern ARD, ZDF und vor allem PHOENIX übertragen. Je länger die Redezeit für die Abgeordneten und Fraktionen ist, desto mehr Einfluss haben diese auf die öffentliche Wahrnehmung. Die Zielrichtung der Plenarreden verschob sich im Laufe der Zeit immer weiter vom Parlament hin zum Wahlvolk, die Bedeutung der Redezeit für die politischen Akteure ist aber ununterbrochen groß. In der Geschäftsordnung selbst findet sich keine exakte Aufschlüsselung der Redezeit. Im Rahmen der Redezeitaufteilung verweist die Vorschrift des § 35 Abs. 1 Satz 1 GO-BT für die Gestaltung und Dauer der Aussprache auf einen Vorschlag des Ältestenrates. In der parlamentarischen Praxis ersetzen die interfraktionellen Vereinbarungen die Auffangbestimmungen des § 35 Abs. 1 Satz 2 bis 4, Abs. 2 GO-BT. Das Zusammenspiel normierter Regelungen und interfraktioneller Vereinbarungen zur Redezeit ist der notwendigen Flexibilität in der parlamentarischen Verhandlung geschuldet und hat eine so lange Tradition wie die Redeordnung selbst.26

III. Parlamentarischer Verteilungskampf um Redezeit Den Geschäftsordnungen gesamtdeutscher Parlamente waren stets nur Anhaltspunkte zur Redezeitaufteilung zu entnehmen.27 Umso mehr lohnt es sich, die historischen Vorgänger des Deutschen Bundestages und deren geschriebene und ungeschriebene Redeordnungen, insbesondere die Aufteilung der Redezeit, zu analysieren. Ein tiefgreifendes Verständnis von Rederecht, Redeordnung und Redezeit verlangt einen Blick auf die akkumulierten Erfahrungen28 der deutschen Parlamente seit 1848 sowie auf die Entwicklung der parlamentarischen Redezeitenverteilung in der Bundesrepublik selbst. 1. Parlamentarische Tradition vor Gründung der Bundesrepublik Als die „goldene Zeit des englischen Parlamentarismus“29 bezeichnet Kluxen die Epoche von der Glorreichen Revolution 1688 bis zur bürgerlichen Revolution von 1832. Dies ist nicht zuletzt darin begründet, dass die Versammlungen des britischen Unterhauses in dieser Zeit schon geprägt waren von der Möglichkeit zu Kritik und 25 26 27 28 29

Besch, in: Schneider/Zeh, Parlamentsrecht und Parlamentspraxis, § 33 Rn. 51. Ders., in: Schneider/Zeh, Parlamentsrecht und Parlamentspraxis, § 33 Rn. 3. Ders., in: Schneider/Zeh, Parlamentsrecht und Parlamentspraxis, § 33 Rn. 3. Politikwissenschaftlich Riescher, Zeit und Politik, S. 136. Kluxen, in: ders., Parlamentarismus, S. 100.

A. Parlamentarische Debatte: Rederecht – Redeordnung – Redezeit

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Opposition.30 Der Speaker erteilte den politischen Kontrahenten bereits wechselseitig das Wort.31 Jeremy Bentham fasste Ende des 19. Jahrhunderts die britischen Geschäftsordnungsbräuche zusammen. Über Frankreich und Belgien gelangten die Ideen parlamentarischer Gestaltungsformen auch zu Robert v. Mohl, dem es in Anschluss an die Vorgängergeschäftsordnungen der Französischen Nationalversammlung sowie der Belgischen Deputiertenkammer gelang, eine Geschäftsordnung der verfassungsgebenden Nationalversammlung von Frankfurt zu gestalten, deren Regelungen bis in das heutige Geschäftsordnungsrecht des Bundestages hineinreichen. So widmete die Geschäftsordnung des ersten gesamtdeutschen Parlaments von 1848 auch der Redeordnung bereits vier Vorschriften (§§ 36 bis 39 GO-FN): „[§ 36] Die Redner sprechen nach der Reihenfolge der Anmeldung. Die Anmeldung kann erst an dem Tage der Berathung über den betreffenden Gegenstand und zwar eine Viertelstunde vor Anfang der Sitzung erfolgen; sie muß versöhnlich und mündlich geschehen. Die Einschreibung der Redner wird von dem zur Linken des Präsidiums sitzenden Schriftführer besorgt. Die Liste der eingezeichneten Redner ist von dem Vorsitzenden vor dem Beginn der Berathung so langsam zu verlesen, daß sie nachgeschrieben werden kann.“ [§ 37] Es wird, so lange dies möglich ist, zwischen solchen Rednern abgewechselt, welche für und welche gegen den Antrag zu sprechen erklärt haben. [§ 38] Die Verhandlung kann zu jeder Zeit von der Versammlung für geschlossen erklärt werden. Wenn 20 Mitglieder den Schluß verlangen, muß der Vorsitzende darüber abstimmen lassen. Ist der Schluß von der Versammlung ausgesprochen, so kann nur noch der Antragsteller oder der Berichterstatter vor der Abstimmung das Wort erhalten. [§ 39] Es darf kein Vortrag abgelesen werden, ausgenommen Berichte, welche im Rahmen eines Ausschusses erstattet werden. Darüber ob Actenstücke verlesen werden dürfen, ist die Versammlung ausdrücklich zu befragen.“

Lipphardt wies darauf hin, dass auch zu Zeiten der Paulskirchenversammlung um die zusammenhängenden Fragen von Rednerfolge und Redezeitbemessung bei kontingentierten Debatten gestritten wurde.32 § 36 GO-FN zielte darauf ab, allen Abgeordneten mittels einer Anmeldung auf einer Rednerliste die gleiche Chance zum Reden zu geben. Es handelte sich um eine Rednerliste im technischen Sinne33, es wurde nach der zeitlichen Abfolge der Wortmeldungen verfahren. § 37 GO-FN regelte bereits das Prinzip von Rede und Gegenrede und den Wechsel von Rednern für und wider den Verhandlungsgegenstand. Eine generelle Beschränkung der Redezeit für einzelne Abgeordnete gab es nicht, sie wurde als Selbstbeschränkung des Parlaments betrachtet34, allerdings war die Schießung der Debatte durch Mehrheitsbeschluss gemäß § 38 GO-FN bereits damals möglich. 30

Kluxen, in: ders., Parlamentarismus, S. 100. Ders., Geschichte und Problematik des Parlamentarismus, S. 99. 32 Lipphardt, Die kontingentierte Debatte, S. 130. 33 Heutzutage wird eine Rednerliste im untechnischen Sinne genutzt, vgl. auch Besch, in: Schneider/Zeh, Parlamentsrecht und Parlamentspraxis, § 33 Rn. 48. 34 Lipphardt, Die kontingentierte Debatte, S. 24 m.w.N. 31

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3. Kap.: Die Redezeiten im Deutschen Bundestag

Die Geschäftsordnung der „deutschen constituirenden Nationalversammlung“ von Frankfurt nahm wiederum Einfluss auf die Geschäftsordnung des Preußischen Abgeordnetenhauses,35 auf die sich die heutige Geschäftsordnung des Bundestages im Wesentlichen zurückführen lässt.36 Die Geschäftsordnung der zweiten Kammer von 1849 regelte eine Redeordnung im vierten Abschnitt zur Verhandlung in der Kammer (§§ 39 bis 53 GO-Abghs. Preußen): „[§ 39] Kein Mitglied darf sprechen, ohne vorher das Wort verlangt und von dem Präsidenten erhalten zu haben. Will der Präsident sich an der Debatte betheiligen, so muß er den Vorsitz abtreten. [§ 40] Die Minister und die zu ihrer Vertretung abgeordneten Staatsbeamten (Artikel 58 der Verfassungs Urkunde) müssen auf ihr Verlangen zu jeder Zeit gehört werden. Auch den Assistenten muß auf Verlangen der Minister und ihrer Vertreter das Wort ertheilt werden. [§ 44] Die Redner sprechen nach der Reihenfolge der Anmeldung. Die Anmeldung erfolgt, nachdem die Beratung über den betreffenden Gegenstand eröffnet ist, schriftlich bei demjenigen Schriftführer, welcher die Rednerliste zu führen und die Reihenfolge zu überwachen hat und als solcher durch den Präsidenten verkündigt ist. In der Anmeldung wird bemerkt, ob für oder gegen den Antrag gesprochen werden soll. [§ 47] Die Reihenfolge der Redner darf nicht unterbrochen werden. Solange es möglich ist, wird mit den Rednern welche für und wider reden wollen, gewechselt. [§ 50] Nach geschlossener Diskussion müssen der Antragsteller und der Berichterstatter noch gehört werden, und haben dieselben jedenfalls das letzte Wort. Rücksichtlich der Gesetzvorlagen haben die Minister die Rechte des Antragstellers.“

Die Geschäftsordnung des Preußischen Abgeordnetenhauses gewährleistete Rede und Gegenrede (§§ 44 Satz 3 und 47 Satz 2 GO-Abghs. Preußen) und normierte darüber hinaus als Konkretisierung der Preußischen Verfassung (Art. 58 Abs. 1 Verf. Preußen 1848, Art. 60 Verf. Preußen 1850) in fortlaufender Tradition der Paulskirchenverfassung (§ 121 FNV) das jederzeitige Zutritts- und Anhörungsrecht für Minister, das bereits in den frühkonstitutionellen Verfassungen Beachtung fand, § 40 GO-Abghs. Preußen.37 Die Verteilung von Redezeiten im Parlament war nicht ausdrücklich geregelt. Vielmehr gab es auch hier, wie schon während der verfassungsgebenden Nationalversammlung von Frankfurt, eine Rednerliste nach französischem wie belgischem Vorbild, § 46 GO-Abghs. Preußen.38 Die Rednerliste berücksichtigte die Anmeldereihenfolge der Redner. Bei gleichzeitiger Anmeldung wurde das Losverfahren genutzt, um die Reihenfolge zu bestimmen. Dies wurde seit 1849 in § 44 GO-Abghs. Preußen auch schriftlich fixiert:

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Rösch, Wesen und Rechtsnatur der parlamentarischen Geschäftsordnung, S. 20. Zur Entstehung und historischen Entwicklung vgl. auch die anschauliche Einleitung Lammerts in Glüth/Kretschmer, Die Geschäftsordnungen deutscher Parlamente seit 1848, S. 10 ff. 37 Hierzu Meier, Zitier- und Zutrittsrecht im parlamentarischen Regierungssystem, S. 63 ff. 38 Hatschek, Das Parlamentsrecht des Deutschen Reiches, S. 66. 36

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„Die Anmeldung zum Worte erfolgt, nachdem die Beratung über den betreffenden Gegenstand eröffnet ist, schriftlich bei demjenigen Schriftführer, welcher die Rednerliste zu führen und die Reihenfolge zu überwachen hat, und als solcher durch den Präsidenten verkündigt ist. In der Anmeldung wird bemerkt, ob für oder gegen den Antrag gesprochen werden soll. Wenn mehrere Redner beim Beginne der Diskussion sich gleichzeitig zum Worte melden, so wird für sie die Reihenfolge durch das Loos bestimmt.“39

Die Reichstagsgeschäftsordnungen des Norddeutschen Bundes von 1867 und 1868 setzten die Tradition der Redeordnungen fort (§§ 39 bis 45 GO-NorddtRT). Sie orientierten sich an der Geschäftsordnung des Preußischen Abgeordnetenhauses, vorübergehend nutzte der Reichstag des Norddeutschen Bundes diese sogar.40 Damit wurde zu Beginn der Verhandlungen des Reichstages des Norddeutschen Bundes, der auch als Zollparlament fungierte, ebenfalls eine Rednerliste genutzt. Die Rednerreihenfolge und -auswahl beruhte weder auf Parität noch auf Proporz, sondern maßgeblich auf Losglück.41 Die Redner meldeten sich nach Eröffnung der Verhandlung und gaben an, ob sie für oder gegen das Gesetz oder den Antrag sprechen. Die Rednerliste gab dann die Redner im Wechsel von Für und Wider in Reihenfolge der Anmeldung vor.42 Da die Anmeldungen in der Regel gleichzeitig nach Eröffnung der Debatte stattfanden, wurde den Abgeordneten, die einen Redebeitrag anmeldeten, der Redeplatz durch Los zugewiesen. Folglich waren Zeitpunkt und dementsprechend auch Sinnhaftigkeit der Vorträge dem Zufall überlassen,43 wenn keine „Korrektur des Zufalls“44 durch Tausch stattfand.45 Während das Modell der Rednerliste in Preußen noch bis in die Anfangsjahre des 20. Jahrhunderts praktiziert wurde,46 gab es in den übrigen Ländern keine solche Liste.47 Über Vor- und Nachteile48 einer Rednerliste im technischen Sinne stritten die Parlamentarier schon da39

Vgl. hierzu Plate, Die Geschäftsordnung des Preußischen Abgeordnetenhauses, S. 146. Siehe dazu das RT-Plenarprotokoll der ersten Sitzung des Deutschen Reichstages vom 10. September 1867, Bd. 1 S. 3 ff. 41 v. Thudichum, Verfassungsrecht des norddeutschen Bundes und des Deutschen Zollvereins, S. 192 ff. 42 Ders., Verfassungsrecht des norddeutschen Bundes und des Deutschen Zollvereins, S. 192. 43 Vgl. Plate, Die Geschäftsordnung des Preußischen Abgeordnetenhauses, S. 146 m.w.N. 44 Bamberger, Jahrbuch für Gesetzgebung, Verwaltung und Rechtspflege des Deutschen Reiches 1 (1871), 159 (173). 45 Vgl. zum preußischen Abgeordnetenhaus Plate, Die Geschäftsordnung des Preußischen Abgeordnetenhauses, S. 149; zum Reichstag v. Thudichum, Verfassungsrecht des norddeutschen Bundes und des Deutschen Zollvereins, S. 192. 46 Plate, Die Geschäftsordnung des Preußischen Abgeordnetenhauses, S. 146 ff.; so auch in der Politikwissenschaft interpretiert von Wermser, Der Bundestagspräsident, S. 36. 47 Vgl. nochmals dens., Der Bundestagspräsident, S. 35 m.w.N. 48 Siehe zu den Argumenten für und gegen die damalige Rednerliste zusammenfassend auch das RT-Plenarprotokoll der vierten Sitzung des Deutschen Reichstages vom 12. Februar 1974, Bd. 1 S. 40 ff. und den Bericht der Geschäftsordnungskommission über den Antrag der Abgeordneten Josef Bernards und Ludwig Windthorst (beide Zentrum) auf Abänderung des § 44 GO-RT, RT-Plenarprotokoll, Bd. 3 S. 307 ff. 40

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3. Kap.: Die Redezeiten im Deutschen Bundestag

mals. Gegen eine solche Liste brachte der Rechtsprofessor Friedrich v. Thudichum vor, dass die Debatte durch sie in ein zusammenhangloses Nebeneinander von Vorträgen ausarte und statt eines Redekampfes Ermüdung und keine Belehrung stattfinde.49 Dagegen befürchteten die Fürsprecher einer Rednerliste bei der Abschaffung des Loses, dass keine Unparteilichkeit mehr zu erwarten sei, auch nicht vom Parlamentspräsidenten, der dann vielmehr eine „Willkür-Gewalt“50 besäße.51 Die Rednerliste und Losentscheidung wurde nach kurzer Geltung der Geschäftsordnung des Preußischen Abgeordnetenhauses im Reichstag des Norddeutschen Bundes abgeschafft.52 Nach § 44 GO-NorddtRT 1868 erteilte der Parlamentspräsident dem Mitglied das Wort, das nach Eröffnung der Diskussion oder nach Beendigung der vorhergehenden Rede zuerst darum nachsuchte.53 Zu dieser Geschäftsordnungsregel hält der damalige Parlamentspräsident v. Simson anschaulich fest: „Meine Herren! Ich glaube, wenn je ein neuer Paragraph sich erst in der Handhabung bewähren muß, so ist es der § 44 der neuen Geschäftsordnung. Er legt in die Hand des Präsidenten eine ganz ungemeine Gewalt und natürlich eine der entsprechende, – ich darf sagen – ungeheure Verantwortlichkeit. Auch für die kurze Zeit, meine Herren, die unsere Berathungen voraussichtlich dies Mal noch dauern werden, habe ich darum die dringendste Veranlassung, das Wohlwollen und das Vertrauen des Hauses auch für meine Handhabung des neuen § 44 in Anspruch zu nehmen, wie ich denn meinerseits von Neuem verspreche, ohne Rücksicht auf rechts oder links, Niemand zu Liebe und Niemand zu Leid den § 44 zu handhaben. Was nun die Frage der Möglichkeit der Abwechslung der Redner für und wider angeht, so wird das zuvörderst davon abhängen, ob die Herren bei ihren Meldungen – dieselben mögen nun durch Zuruf oder sonstige Zeichen an mich gerichtet werden – einen solchen Zusatz machen. Wenn ein solcher Zusatz gemacht wird, so daß ich also erkennen kann, ob für oder gegen gesprochen werden soll, dann werde ich diese Abwechslung eintreten zu lassen und nach meinen besten Kräften bemüht sein, und dann werden wir ja sehen, wie weit wir damit kommen.“54

Auch in der Geschäftsordnung des Deutschen Reiches von 187155 und ihren zahlreich veränderten Nachfolgern fand sich eine Redeordnung (§§ 42 bis 48 GO-RT 1871). Obwohl aber die Rednerliste aus der Geschäftsordnung verschwunden war, hielt schon der Reichstag des Norddeutschen Bundes und ab 1871 der Reichstag des 49 v. Thudichum, Verfassungsrecht des norddeutschen Bundes und des Deutschen Zollvereins, S. 193. 50 v. Mohl, ZgS 31 (1875), 39 (79 f.). 51 Siehe Windthorst, in: RT-Plenarprotokoll der vierten Sitzung des Deutschen Reichstages vom 12. Februar 1974, Bd. 1 S. 40. 52 RT-Plenarprotokoll der 21. Sitzung des Reichstages des Norddeutschen Bundes vom 12. Juni 1868, Bd. 1 S. 368 ff. 53 Siehe dazu schon das RT-Plenarprotokoll der 17. Sitzung des Reichstages des Norddeutschen Bundes vom 6. Juni 1868, Bd. 1 S. 298 f. 54 v. Simson, in: RT-Plenarprotokoll der 21. Sitzung des Reichstages des Norddeutschen Bundes vom 12. Juni 1868, Bd. 1 S. 369. 55 Siehe das RT-Plenarprotokoll der ersten Sitzung des Deutschen Reichstages vom 21. März 1871, Bd. 1 S. 5.

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Deutschen Reiches zumindest inoffiziell an ihr fest.56 In diesem Zusammenhang fällt der Begriff der „geheimen Rednerliste“57. Sie war das Produkt von gewachsenen „informatorischen Elementen des Hauses“58. Fraktionen und Seniorenkonvent gewannen an Einfluss auf die parlamentarische Redeordnung.59 Nur die Redner kamen zu Wort,60 die dem Präsidenten von den Fraktionen vorgeschlagen wurden. Besonders bei der Notwendigkeit kurzer Verhandlungen ersuchte der Seniorenkonvent um eine Regelung der Debatte durch die Fraktionen.61 Die Aufteilung der Redezeit verlief also nicht so, wie es der Wortlaut der Geschäftsordnung vermuten lässt. Nicht demjenigen erteilte der Präsident das Wort, der am Anfang der Diskussion danach fragte, sondern demjenigen, der auf der inoffiziellen Rednerliste stand, die vorab von den Fraktionen an den Präsidenten weitergeleitet wurde. Mit der Abschaffung der offiziellen Rednerliste befürchteten ihre Fürsprecher Nachteile zulasten der Parlamentsminderheit, weil die Rednerliste immer nach dem Prinzip von Für und Wider Redner zuließ.62 Die Gefahr, nicht zu Wort zu kommen, sei bei einer inoffiziellen Rednerliste größer. Hier sei der Schluss der Debatte vor Anhörung aller Redner leichter herbeizuführen als bei einer formalen Rednerliste. Doch auch die inoffizielle Rednerliste berücksichtigte alle Fraktionen, die zum Verhandlungsgegenstand beizutragen wünschten – in der Regel kamen vor dem Schluss der Debatte alle verschiedenen Ansichten zu Wort. Auch ohne eine offizielle Rednerliste wurde den parlamentarischen Minderheiten Redezeit eingeräumt, damit sie ihren Standpunkt darlegen können. „Wenn heute die Minorität sich beschwert, sie sei nicht zum Worte gekommen ohne Rednerliste, so kann ich nicht gerade sagen, dass das verehrliche Mitglied für Meppen zu kurz gekommen wäre bei dem Verfahren ohne Rednerliste, [gemeint ist Ludwig Windthorst (Zentrum)] ebensowenig wie ein anderes verehrliches Mitglied aus Hannover, der Abgeordnete für die Stadt Hannover [gemeint ist wohl Heinrich Ewald (DHP)]. Derselbe hat öfter das Wort gehabt und hat längere Reden gehalten, als wohl irgendein anderes einzelnes Mitglied; und die Partei, die er vertritt, besteht eigentlich, soviel ich weiß, zunächst nur aus seiner eigenen Person, und vielleicht noch aus zwei oder drei Anderen. Sie 56

Vgl. nur v. Mohl, ZgS 31 (1875), 39 (69 f.); insbesondere zur Rolle des Parlamentspräsidenten in der Debatte politikwissenschaftlich Wermser, Der Bundestagspräsident, S. 35 ff. 57 v. Mohl, ZgS 31 (1875), 39 (71); auch Karl Braun (Nationalliberale Partei), in: RTPlenarprotokoll der vierten Sitzung des Deutschen Reichstages vom 12. Februar 1874, Bd. 1 S. 41. 58 Siehe dazu Bernards, in: RT-Plenarprotokoll der fünften Sitzung des Deutschen Reichstages vom 13. Februar 1874, Bd. 1 S. 47; Plate, Die Geschäftsordnung des Preußischen Abgeordnetenhauses, S. 147. 59 Vgl. hierzu Franke, Vom Seniorenkonvent des Reichstages zum Ältestenrat des Bundestages, S. 62 m.w.N. 60 Hatschek, Das Parlamentsrecht des Deutschen Reiches, S. 189 f. 61 Ders., Das Parlamentsrecht des Deutschen Reiches, S. 189. 62 Windthorst, in: RT-Plenarprotokoll der vierten Sitzung des Deutschen Reichstages vom 12. Februar 1874, Bd. 1 S. 40 f.; auch Wladislav v. Taczanowski (Polnische Fraktion), in: RTPlenarprotokoll der fünften Sitzung vom 13. Februar 1874, Bd. 1 S. 45.

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3. Kap.: Die Redezeiten im Deutschen Bundestag

sehen also, die Minoritäten genießen auch ohne die Rednerliste einen ganz vortrefflichen Schutz und sind durchaus nicht vom Worte ausgeschlossen.“63

Bei v. Mohl ist zur neuen Redeordnung des Reichstages zu lesen: „Es werden nämlich von den einzelnen Fractionen für welche ein zu discutierender Gegenstand von besonderem Interesse ist, in vorbereitenden Versammlungen diejenigen Redner ausgewählt, welche im Namen und im Sinn der Partei reden sollen“64

und weiter „Ferner wird die Verhandlung nicht selten unnötig verlängert. Die Versammlung hätte wohl Lust sie zu schließen nach einigen durchschlagenden Reden; allein es geht nicht an so lange nicht alle Fractionen gehört sind. Sie würden über Unterdrückung durch die Mehrheit schreien. Endlich leiden die größeren Fractionen in den Augen des Publicums. Eine Zubilligung von Rednern an die Fractionen im Verhältnisse ihrer Mitgliederzahl, etwa in der Art der Zusammensetzung der Commissionen, ist nicht thunlich, weil sonst die stärkeren Parteien eine übergroße Zahl von Sprechern erhalten, dadurch aber nur Wiederholungen, zum Theile vorgebracht durch weniger Berufene, erzeugt werden würden. Bei ungefähr gleicher Zutheilung an alle aber gewinnt es für Fernestehende den Anschein, als ob die Gründe gleich stark auf den verschiedenen Seiten gewesen seien und am Ende nur das brutale Gewicht der fast stummen Mehrheit entschieden habe.“65

Die Wahrscheinlichkeit auf einen guten Rednerplatz war für kleinere Abgeordnetengruppen allein aufgrund ihrer geringeren Losanzahl im Rahmen der offiziellen Rednerliste nicht besonders hoch, zumal die mandatsstärksten Fraktionen oftmals Strohmänner und Scheinredner einsetzten, um die besten Plätze zu ergattern.66 Dem Minderheitenschutz trug der neue Vorgang einer inoffiziellen Rednerliste also durchaus bei. Nach der Geschäftsordnung des Reichstages war die Redezeitenverteilung allein in Händen des Parlamentspräsidenten, doch fand die parlamentarische Praxis einer interfraktionellen Handhabung der Verteilung von Reden und Redezeiten hier ihren Ursprung. Nach und nach setzte sich dabei der Proporzgedanke im Reichstag durch und der Parlamentspräsident begann das Wort nach interfraktioneller Vereinbarung auch am Maßstab der Stärke der Fraktionen zu verteilen.67 Den Fraktionen wurden je nach Mandatsstärke Einflussanteile zugesprochen.68 Nachdem bereits die Besetzung des Seniorenkonvents, des Reichstagspräsidiums und der Ausschusssitze je nach Fraktionsstärke aufgeteilt wurde, kam es schrittweise auch in 63

Braun, in: RT-Plenarprotokoll der vierten Sitzung des Deutschen Reichstages vom 12. Februar 1874, Bd. 1 S. 41. Sicher ist dieses Zitat nicht repräsentativ. Dennoch zeigt es, dass Minderheiten durchaus zu Wort kamen. 64 v. Mohl, ZgS 31 (1875), 39 (69 f.), vgl. dazu auch Franke, Vom Seniorenkonvent des Reichstages zum Ältestenrat des Bundestages, S. 61. 65 v. Mohl, ZgS 31 (1875), 39 (72). 66 Vgl. Plate, Die Geschäftsordnung des Preußischen Abgeordnetenhauses, S. 149. 67 Ders., Die Geschäftsordnung des Preußischen Abgeordnetenhauses, S. 147 m.w.N.; Smend, Festgabe Bergbohm, S. 281. 68 Schönberger, in: Morlok/Schliesky/Wiefelspütz, Parlamentsrecht, § 1 Rn. 45. Siehe auch nochmals das obenstehende Zitat v. Mohls.

A. Parlamentarische Debatte: Rederecht – Redeordnung – Redezeit

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der Redeordnung zu einer Redezeitaufteilung nach der Fraktionsstärke.69 Das Kriterium der Fraktionsstärke war jedoch niemals allein ursächlich für die Aufteilung der Redezeit.70 Auch der Reichstag der Weimarer Republik griff bei seinen ersten Verhandlungen auf die Vorgängergeschäftsordnung zurück. Er nutzte die Reichstagsgeschäftsordnung von 1871 in der Fassung von 1918. Erst 1922 beschloss der Reichstag der Weimarer Republik eine neue Geschäftsordnung. Die Redeordnung befand sich im 13. Abschnitt zwischen dem Abschnitt über die Sitzungen und dem über Ordnungsbestimmungen (§§ 81 bis 88 GO-WRT): „[§ 81] Kein Mitglied darf sprechen, wenn ihm der Präsident nicht das Wort erteilt hat. Will er selbst sich als Redner an der Beratung beteiligen, so muß er während dieser Zeit den Vorsitz abtreten. Mitglieder, die zur Sache sprechen wollen, haben sich bei dem Schriftführer, der die Rednerliste führt, zum Wort zu melden, andere Wortmeldungen können durch Zuruf erfolgen. „[§ 82 Abs. 1] Der Präsident bestimmt die Reihenfolge der Redner. Dabei soll ihn die Sorge für sachgemäße Erledigung und zweckmäßige Gestaltung der Beratung, die Rücksicht auf die verschiedenen Parteirichtungen und die Stärke der Fraktionen leiten. [Abs. 2] Der erste Redner in der Besprechung von Anträgen soll nicht der Fraktion des Antragstellers entnommen werden. Antragsteller und Berichterstatter können sowohl zu Beginn wie nach Schluß der Beratung das Wort verlangen. [§ 87 Abs. 1] Die Rededauer darf eine Stunde nicht überschreiten. Für bestimmte Beratungen kann sie der Reichstag durch Beschluß ohne Besprechung verlängern. [Abs. 2] Spricht ein Mitglied über die Redezeit hinaus, so entzieht ihm der Präsident nach einmaliger Mahnung das Wort. Ist einem Redner das Wort entzogen, so darf er es über den Gegenstand nicht wieder erhalten. [§ 88] Die Zeitdauer für die Besprechung eines Gegenstandes kann auf Vorschlag des Ältestenrats begrenzt werden.“

Nachdem das Bedürfnis nach Redezeitbeschränkungen im Laufe der Reichstagsverhandlungen anstieg, wurde die Aufforderung, kürzer zu sprechen, nur vorsichtig kundgetan. Noch immer war die individuelle Redezeitbeschränkung für viele der Parlamentarier eine unzulässige Selbstbeschränkung des gesamten Parlamentarismus.71 Doch mit der Ein-Stunden-Regel des § 87 Abs. 1 Satz 1 GO-WRT fand erstmals eine allgemeine Redezeitbeschränkung für den einzelnen Abgeordneten Eingang in die Parlamentsdebatte. Dazu führte der Parlamentspräsident Paul Löbe aus: 69 Vgl. in diese Richtung politikwissenschaftlich Wermser, Der Bundestagspräsident, S. 37 m.w.N. 70 Vgl. auch aus dem politikwissenschaftlichen Schrifttum Molt, Der Reichstag vor der improvisierten Revolution, S. 311. 71 Siehe dazu Parlamentspräsident Constantin Fehrenbach, in: RT-Plenarprotokoll der 184. Sitzung des Deutschen Reichstages vom 5. Juli 1918, Bd. 313 S. 5847 (D); RT-Plenarprotokoll der 59. Sitzung des Deutschen Reichstages vom 28. Januar 1921, Bd. 347 S. 2212 (A).

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3. Kap.: Die Redezeiten im Deutschen Bundestag

„Meine Damen und Herren! Auch ich möchte nicht als Redner einer Fraktion, sondern von allgemeinem Gesichtspunkte aus für einige Verbesserungen der neuen Geschäftsordnung um Ihre Sympathie werben, und zwar besonders für das Kernstück unter ihnen, als das ich die Begrenzung der Redezeit ansehe. Ich bin der Meinung: wenn je etwas dem Ansehen des Parlaments geschadet hat, dann ist es neben gelegentlichen rednerischen Ausschreitungen, die gewöhnlich in der Berichterstattung übertrieben oder doch unnötig hervorgehoben werden, die Überproduktion von Reden, die innerhalb und außerhalb des Hauses zur Plage geworden ist. Die Wähler draußen haben manchmal den Eindruck einer Mühle, die unheimlich geräuschvoll klappert, aber sehr wenig Mehl gibt. Die wachsende Geringschätzung im Volke ist nicht zum wenigsten der Vielrednerei geschuldet. […] Die Reden sollen den Zuhörer überzeugen, sollen den Gegner widerlegen, sollen die Haltung der Parteien draußen rechtfertigen und gelegentlich auch propagandistisch oder agitatorisch wirken. Der Fall, dass hier im Hause ein Zuhörer überzeugt worden ist, muß schon sehr lange zurückliegen. Ich habe ihn nicht erlebt. Denn meistens sind die schon überzeugt, die zuhören, es sind nämlich die Angehörigen der eigenen Gesinnung, welche sich die Mühe nehmen, anwesend zu sein. Die anderen aber, die überzeugt werden sollen, sind meistens nicht am Platze.“72

Die Redeordnung der Geschäftsordnung der Weimarer Republik von 1922 brachte aber eine weitere Neuerung mit sich. Während die Reichstagsgeschäftsordnung von 1868 in der Fassung von 1918 die Rednerreihenfolge noch immer von der Worterteilung nach der Reihenfolge des Nachsuchens beim Präsidenten abhängig machte, normierte § 82 Abs. 1 Satz 2 GO-WRT erstmals die Verteilungsprinzipien für die Redereihenfolge in der Debatte: die Sorge für eine sachgemäße Erledigung und zweckmäßige Gestaltung der Beratung, die Rücksicht auf die verschiedenen Parteirichtungen und die Stärke der Fraktionen. Hierbei handelt es sich jedoch eher um eine schriftliche Normierung der parlamentarischen Übung als um eine Revolution in der parlamentarischen Debatte.73 Dies legt auch die antragslose Zustimmung der Vorschrift im Reichstagsplenum nahe. Die Bestimmung des § 82 Abs. 1 Satz 2 GO-WRT nannte wie auch die §§ 8 und 9 GO-WRT ausdrücklich das Proporzprinzip als Verteilungsmaßstab. Zwar fand das Proporzprinzip damit den Weg in die Redeordnung der Parlamentsgeschäftsordnung, gleichzeitig aber fanden auch die Parlamentsfunktionalität („die Sorge für sachgemäße Erledigung und zweckmäßige Gestaltung der Beratung“) und die Notwendigkeit von Meinungsvielfalt durch die Beteiligung der verschiedenen Parteirichtungen („Rücksicht auf die verschiedenen Parteirichtungen“) Erwähnung. In § 82 Abs. 2 Satz 1 GO-WRT war das Prinzip von Rede und Gegenrede zumindest angedeutet („Der erste Redner in der Besprechung von Anträgen soll nicht der Fraktion des Antragstellers entnommen werden“). So wendete sich der Reichstag hinsichtlich der Verteilung von Redezeiten in der Weimarer Republik auch vermehrt dem Paritätsprinzip zu,74 d.h. jede Fraktion kam zu Wort und hatte in etwa die gleiche Redezeit. Dies ist auch damit begründbar, dass 72

Löbe, in: RT-Plenarprotokoll der 266. Sitzung des Deutschen Reichstages vom 14. November 1922, Bd. 357 S. 8969 (B). 73 Wermser, Der Bundestagspräsident, S. 60. 74 Lipphardt, Die kontingentierte Debatte, S. 26 m.w.N.; anders Schreiner, ZParl. 36 (2005), 573.

A. Parlamentarische Debatte: Rederecht – Redeordnung – Redezeit

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sich eine rein proportionale Verteilung der Redezeit inklusive einer Mindestzeit für mandatsschwächere Fraktionen aufgrund der Vielzahl von Fraktionen in der Weimarer Republik schlicht komplexer gestaltete als ein reines Paritätsprinzip. In der Weimarer Republik stand auch den Fraktionslosen Redezeit zu, die zusammen ungefähr so lange sprechen konnten wie eine Fraktion.75 Dem Grundsatz, nach dem möglichst alle politischen Kräfte zu Wort kommen sollen, wurde insoweit ein größeres Gewicht eingeräumt als der exakten Verteilung der Redezeiten nach der Stärke der Fraktionen.76 Bei der Verteilung von Redezeiten nahmen wiederum Ältestenrat und Fraktionen eine entscheidende Rolle ein, interfraktionelle Vereinbarungen gaben dem geschäftsordnungsmäßig verantwortlichen Parlamentspräsidenten die Rednerauswahl vor.77 2. Parlamentarische Redezeitenverteilung seit 1949 im Deutschen Bundestag Der erste Deutsche Bundestag nutzte bis zur Ausarbeitung der eigenen Geschäftsordnung anfänglich die Reichstagsgeschäftsordnung der Weimarer Republik.78 Seit der Geschäftsordnung von 1951 befand sich die Redeordnung im Abschnitt über die Leitung der Sitzungen, Tagesordnung und Ordnungsmaßnamen (damals noch: §§ 23 bis 59 GO-BT). Vor allem zwei Vorschriften der Geschäftsordnung von 1951 betrafen die Aufteilung von Redezeit – §§ 33 und 39: „[§ 33 Abs. 1] Der Präsident bestimmt die Reihenfolge der Redner. Dabei soll ihn die Sorge für sachgemäße Erledigung und zweckmäßige Gestaltung der Beratung, die Rücksicht auf die verschiedenen Parteirichtungen und auf die Stärke der Fraktionen leiten. [Abs. 2] Der erste Redner in der Beratung von Anträgen soll nicht der Fraktion des Antragstellers entnommen werden. Antragsteller und Berichterstatter können sowohl zu Beginn wie nach Schluß der Beratung das Wort verlangen. Der Berichterstatter hat das Recht, jederzeit das Wort zu ergreifen. [Abs. 3] In den Ausschüssen erfolgt die Worterteilung in der Reihenfolge der Wortmeldungen. [§ 39 Abs. 1] Die Zeitdauer für die Beratung eines Gegenstandes wird – in der Regel nach Vorschlag des Ältestenrates – vom Bundestag festgesetzt. Sie kann während der Beratung 75

Lipphardt, Die kontingentierte Debatte, S. 26 ff. m.w.N.; siehe zudem die Aussagen im RT-Plenarprotokoll der zwölften Sitzung des Deutschen Reichstages vom 13. November 1928, Bd. 423 S. 274 (A). 76 Siehe in diesem Kontext auch Georg Ledebour (USPD), in: RT-Plenarprotokoll der 264. Sitzung des Deutschen Reichstages vom 24. Oktober 1922, Bd. 357 S. 8925 (D) f.; auch die Aussagen im RT-Plenarprotokoll der 286. Sitzung des Deutschen Reichstages vom 13. Januar 1923, Bd. 357 S. 9435 (A). 77 Franke, Vom Seniorenkonvent des Reichstages zum Ältestenrat des Bundestages, S. 72; siehe auch § 12 GO-WRT. 78 Siehe dazu das BT-Plenarprotokoll 1/5 vom 20. September 1949, S. 19 (C); die dazugehörigen Änderungen in BT-Drs. 1/18.

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3. Kap.: Die Redezeiten im Deutschen Bundestag

des Gegenstandes geändert werden. Der einzelne Redner soll nicht länger als eine Stunde sprechen. Die Mindestredezeit soll auf nicht weniger als fünf Minuten festgesetzt werden. [Abs. 2] Spricht ein Abgeordneter über die Redezeit hinaus, so kann ihm der Präsident nach einmaliger Mahnung das Wort entziehen. Ist einem Redner das Wort entzogen, so darf er es zum gleichen Gegenstand nicht wieder erhalten.“

Heute sind es die gleichen Vorschriften in der veränderten Fassung der Geschäftsordnung von 1980, die in den §§ 28 und 35 GO-BT Anknüpfungspunkte zur Redezeitenverteilung bieten. § 28 GO-BT ist die lex specialis zu § 11 GO-BT, der seit 1951 unverändert für die Festsetzung der allgemeinen Reihenfolge der Fraktionen deren Mandatsstärke vorgibt. § 28 GO-BT nennt wie vormals § 33 GO-BT die maßgeblichen Entscheidungskriterien für die Reihenfolge der Redner, allerdings ist die Vorschrift 1969 in der sogenannten Kleinen Parlamentsreform abgeändert worden. Zum einen wurde das Prinzip von Rede und Gegenrede79 in den Katalog der Entscheidungsmaßstäbe bezüglich der Reihenfolge der Redner eingegliedert (§ 28 Abs. 1 Satz 2 GO-BT). In diesem Zusammenhang kam ferner eine Vorgabe hinzu, nach der auf eine Rede der Regierungsseite eine abweichende Meinung folgen soll (§ 28 Abs. 1 Satz 2 Halbs. 2 GO-BT). § 11 und § 28 GO-BT beziehen sich im Gegensatz zu § 35 GO-BT nicht unmittelbar auf die Redezeiten. § 35 GO-BT ist heute der Angelpunkt der Redeordnung. Die Vorschrift veränderte sich im Zuge der Kleinen Parlamentsreform von 1969 und Großen Parlamentsreform von 1980 mehrfach. Insbesondere § 35 Abs. 1 Satz 1 GO-BT wandelte sich dahingehend, dass der Ältestenrat – nicht nur in der Regel – neben der Dauer auch die Ausgestaltung der Redezeitenverteilung vorschlägt. Gemäß dem ersten Satz der Vorschrift mit der amtlichen Überschrift „Rededauer“ wird Gestaltung und Dauer der Aussprache über einen Verhandlungsgegenstand auf Vorschlag des Ältestenrates vom Bundestag festgelegt. Der Deutsche Bundestag gestaltete die Aufteilung der Redezeit in der Vergangenheit unterschiedlich, obwohl die sich dazu verhaltenden Geschäftsordnungsvorschriften mit geringen Ausnahmen unverändert blieben. Von Beginn an spielten Vereinbarungen des Ältestenrates, der Fraktionen und ihrer Parlamentarischen Geschäftsführer bei der Aufteilung und Begrenzung der Redezeit eine bedeutende Rolle, § 33 GO-BT (vorher § 39 GO-BT). Das Bundestagsplenum fasste über Vorschläge des Ältestenrates zur Aussprachendauer nur in der 1. Wahlperiode, später einmal in der 3. sowie 6. Wahlperiode Beschluss.80 Dabei wurden Regelungen gefunden, die nach der Stärke der einzelnen Fraktionen, also einem Proporzprinzip, Redezeit auf die Fraktionen verteilten.81 Die 1. Wahlperiode erwies sich in Bezug auf die Redezeiten als durchaus experimentell: Zunächst wies der Bundestag den großen 79

Thaysen, Parlamentsreform in Theorie und Praxis, S. 166, 195, aus politikwissenschaftlicher Sicht. 80 Vonderbeck, Parlamentarische Informations- und Redebefugnisse, S. 49. 81 Lipphardt, Die kontingentierte Debatte, S. 30 m.w.N.; Schindler, Datenhandbuch zur Geschichte des Deutschen Bundestages 1949 bis 1999, S. 1724.

A. Parlamentarische Debatte: Rederecht – Redeordnung – Redezeit

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Fraktionen eine Stunde und den mandatsschwächeren Fraktionen eine halbe Stunde Redezeit zu.82 Nach diesen anfänglich vereinbarten und vom Bundestagsplenum beschlossenen Einzelfällen gab es einen regelmäßigen Verteilungsschlüssel, der vom Ältestenrat ausgearbeitet und vom Bundestagsplenum mit wenigen Gegenstimmen beschlossen wurde: Je 30 Minuten erhielten die beiden stärksten Fraktionen von CDU/CSU und SPD, die FDP erhielt 15 Minuten und die mandatsschwächeren Fraktionen zehn oder fünf Minuten Redezeit.83 Eine andere Ältestenratsvereinbarung regelte bei 90 Minuten Gesamtredezeit für CDU/CSU und SPD je 18 Minuten Redezeit, für FDP zwölf Minuten und für alle übrigen zehn, acht oder fünf Minuten.84 Bei einer längeren Aussprache von 480 Minuten erhielten CDU/CSU und SPD je 100 Minuten, die FDP 60 Minuten und die übrigen Parteien 40 Minuten Redezeit; unabhängigen Abgeordneten wurde eine zehnminütige Redezeit zugesprochen sofern sie eine solche wünschten.85 Doch wurde gelegentlich auch dem Paritätsprinzip Vorrang eingeräumt. So erhielt zumindest die FDP teilweise den Status einer großen Fraktion zugewiesen, sodass sie die gleiche Redezeit wie CDU/CSU und SPD in Anspruch nehmen konnte.86 Bei sogenannten Kurzdebatten erhielten alle Fraktionen paritätisch gleiche Redezeiten von je zehn Minuten.87 Im späteren Verlauf der Wahlperiode kam es zur proportionalen Aufteilung der Redezeit nach dem Höchstzahlverfahren d’Hondt; bei kürzerer Gesamtredezeit erhielten die mandatsschwächeren Fraktionen eine Mindestredezeit von fünf Minuten.88 Die Redezeiten von Bundesrats- und Regierungsmitgliedern blieben noch unberücksichtigt, gleichwohl der Präsident in der Praxis durchaus zu Zugeständnissen bereit war und auf einen Beitrag der Regierungsseite zu Ende der Aussprache regelmäßig noch einen Oppositionsvertreter erwidern ließ.89 In der 2. Wahlperiode gab es zwar ebenfalls Überlegungen hinsichtlich einer Kontingentierung der Redezeiten, allerdings einigten sich die Fraktionen darauf, die Redezeit nicht allgemein zu begrenzen.90 Grund dafür war die Uneinigkeit hinsichtlich der Redezeit von Regierungsmitgliedern.91 Während der 3. Wahlperiode 82 BT-Plenarprotokoll 1/7 vom 23. September 1949, S. 89 (C); so auch Vonderbeck, Parlamentarische Informations- und Redebefugnisse, S. 49, dessen Fundstellen hier angegeben sind. 83 BT-Plenarprotokoll 1/26 vom 11. Januar 1950, S. 788 (D). 84 BT-Plenarprotokoll 1/29 vom 20. Januar 1950, S. 900 (B); siehe auch die BT-Plenarprotokolle 1/31 vom 26. Januar 1950, S. 959 (C); 1/32 vom 27. Januar 1950, S. 982 (D). 85 BT-Plenarprotokoll 1/98 vom 8. November 1950, S. 3567 (B). 86 BT-Plenarprotokoll 1/7 vom 23. September 1949, S. 89 (C). 87 BT-Plenarprotokoll 1/48 vom 17. März 1950, S. 1644 (D). 88 Schindler, Datenhandbuch zur Geschichte des Deutschen Bundestages 1949 bis 1999, S. 1724. 89 Siehe BT-Plenarprotokoll 1/105 vom 7. Dezember 1950, S. 3902 (B). 90 Schindler, Datenhandbuch zur Geschichte des Deutschen Bundestages 1949 bis 1999, S. 1724. 91 Vonderbeck, Parlamentarische Informations- und Redebefugnisse, S. 51.

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3. Kap.: Die Redezeiten im Deutschen Bundestag

kam es ein einziges Mal zu einem Mehrheitsbeschluss über eine Redezeitkontingentierung: am 25. März 1958 im Zuge zweier Großer Anfragen zur Gipfelkonferenz und atomwaffenfreien Zone92 sowie zur deutschen Frage auf künftigen internationalen Konferenzen.93 Die Aussprache beanspruchte vier Sitzungstage. Am letzten Verhandlungstag wurde die weitere Debatte begrenzt auf insgesamt acht Stunden. Den Fraktionen wurden Redezeiten nach dem Höchstzahlverfahren d’Hondt zugewiesen. Danach standen der CDU/CSU-Fraktion vier Stunden und 17 Minuten, der SPD-Fraktion zwei Stunden und 47 Minuten, der FDP 40 Minuten und der DP 16 Minuten Redezeit zu. Im Laufe der Debatte ergriffen viele Regierungsmitglieder (Art. 43 Abs. 2 Satz 2 GG) das Wort, sodass sich die Debatte insgesamt verlängerte, aber die Redezeit der Opposition sich im Vergleich zu der von Regierung und Regierungsmehrheit verkürzte. Die Verteilung der Redezeiten wurde von der SPD und der FDP-Fraktion abgelehnt, Abgeordnete beider Fraktionen wehrten sich gegen den Redezeitbeschluss in einem Organstreitverfahren. Das daraufhin ergangene Redezeiten-Urteil des Bundesverfassungsgerichts hielt am konstitutionellen Dualismus fest und rechtfertigte die Mehrheitsentscheidung mit einem weiterhin bestehenden Spannungsfeld von Parlament und Regierung. Es sei lediglich ein Missbrauchsverbot des Art. 43 Abs. 2 Satz 2 GG zu beachten.94 In der 4. und 5. Wahlperiode gab es nur selten Ältestenratsvereinbarungen über die Debattendauer. Gerhard Loewenberg hielt in seinem Werk zum Parlamentarismus Ende der 1960er Jahre fest, dass sich niemand mehr seit dem Auszug der extremistischen Parteien aus dem Bundestag 1953 im Zusammenhang mit der Zuteilung der Redezeiten auf die Geschäftsordnung berief.95 Die Rednerzahl für jede Fraktion sei etwa gleich groß gewesen, ohne Rücksicht auf die Fraktionsstärke, und auch die Länge der Reden sei vorher bestimmt worden.96 Das traditionelle Konzept der Trennung von Regierung einerseits und Parlament andererseits sei jedoch noch immer das Organisationsprinzip der Debatten gewesen.97 Die Entwicklung des Bundestages zum Drei-Fraktionen-Parlament trug wesentlich zur Auflockerung der Proportionalisierung bei.98 Folglich wurde der FDP zur Zeit der ersten Großen Koalition von 1966 bis 1969 mehr Redezeit zugewiesen als ihr nach ihrer Mandatsstärke zustand.99 Der einzigen Oppositionsfraktion wurde im Sinne eines Pari-

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BT-Drs. 3/230. BT-Drs. 3/238. 94 BVerfGE 10, 4 (17 f.). 95 Loewenberg, Parlamentarismus im politischen System der Bundesrepublik Deutschland, S. 367. Vgl. auch Lipphardt, Die kontingentierte Debatte, S. 32 m.w.N. 96 Loewenberg, Parlamentarismus im politischen System der Bundesrepublik Deutschland, S. 367, 468. 97 Ders., Parlamentarismus im politischen System der Bundesrepublik Deutschland, S. 467. 98 Siehe BT-Plenarprotokoll 5/87 vom 25. Januar 1967, S. 4034 (D). 99 Siehe dazu beispielhaft die Debatten in den BT-Plenarprotokollen 5/140 vom 6. Dezember 1967, S. 7113 (D); 5/199 vom 28. November 1968, S. 10720 (A) ff.; 5/200 vom 93

A. Parlamentarische Debatte: Rederecht – Redeordnung – Redezeit

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tätssystems teilweise eine ähnlich lange Redezeit zugewiesen wie den beiden anderen Fraktionen. Ausnahmslos galt dies jedoch nicht, wie ein Plädoyer des Parlamentsvizepräsidenten Karl Mommer in Richtung Erich Mende (FDP) veranschaulicht: „Meine Damen und Herren, ich darf eine Bemerkung zum Ablauf der Debatte machen. Wir müssen heute um 20 Uhr schließen. Zwischen den Fraktionen ist deshalb eine Vereinbarung über die Verteilung der Redezeit zustande gekommen, und zwar 60 Minuten bei der FDPFraktion, 100 Minuten bei der CDU/CSU-Fraktion und 90 Minuten bei der SPD-Fraktion. […] Herr Mende, das ist eine freiwillige Vereinbarung der beteiligten Kollegen aus Ihrer Fraktion und aus den anderen Fraktionen. Die Vereinbarung hat den einzigen Zweck, Herr Kollege Mende, daß wir die Debatte ordentlich abwickeln und, wenn es geht, heute abend zu Ende kommen, damit wir Freitag nicht dasselbe Thema wieder aufgreifen müssen. 16 Redner sind hier gemeldet. Die bisherigen Rednerinnen haben sich nicht ganz streng an die Redezeit gehalten, die sie gemeldet hatten. Ich mache darauf aufmerksam, daß dann die Gefahr besteht, daß zum Schluß Reden zu Protokoll gegeben werden müssen. […] Herr Kollege Mende, es gibt nur die freie Rede in diesem Hause, und was die Redezeit angeht, gibt es nur die Beschränkung, die in der Geschäftsordnung steht, wo es heißt, sie soll eine Stunde nicht überschreiten. Wir sind völlig frei darin, und Ihre Fraktion ist völlig frei, so viel und so lange zu reden, wie es für richtig gehalten wird. Ich halte es aber im Interesse des ganzen Hauses und auch Ihrer Fraktion für richtig, wenn für bestimmte Themen Vereinbarungen dieser Art getroffen werden.“100

Das Problem einer einseitigen Debatte wurde auch in der Zeit der ersten Großen Koalition von 1966 bis 1969 erkannt. Daran konnte auch eine im Wesentlichen paritätische Redezeitenverteilung nichts ändern. Dies ist hauptsächlich darauf zurückzuführen, dass die FDP als alleinige Oppositionsfraktion zwei Regierungsfraktionen gegenüberstand und das Redeprivileg der Regierungsmitglieder bis dato keine Berücksichtigung im Rahmen der Redezeiten der Bundestagsmitglieder fand. So stellte der Abgeordnete Manfred Schulte (SPD) der damaligen Redeordnung in einer Sitzung des Geschäftsordnungsausschusses zur Vorbereitung der Kleinen Parlamentsreform kein gutes Zeugnis aus. Nachdem ein Regierungsvertreter gesprochen habe, seien regelmäßig mindestens zwei Mitglieder des Bundestages auf die Tribüne gegangen, die dann mit anderen Worten dasselbe ausgeführt hätten. Drei Stunden nur dieselbe Meinung zu hören, sei nicht Sinn einer Debatte.101 Erst in der 6. Wahlperiode gab es bei der Aussprache zu den Ostverträgen am 23. und 25. Februar 1972102 eine Wende in der Redezeitenverteilung im Bundestag: Erstmals wurden die Redezeiten von Regierungsmitgliedern in die Redezeitenverteilung

29. November 1968, S.10785 (D) ff.; es gibt freilich auch Gegenbeispiele, siehe BT-Plenarprotokoll 5/99 vom 16. März 1967, S. 4546 (C) ff. 100 BT-Plenarprotokoll 5/87 vom 25. Januar 1967, S. 4034 (D). 101 Schulte in der 22. Sitzung des Ausschusses für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung (Geschäftsordnungsangelegenheiten) vom 12. Juni 1969, in: Ausschussprotokoll, PA-DBT 3101 5. Wahlperiode, Protokoll 22, S. 4 f., zur Diskussion um BT-Drs. 5/396. 102 Siehe die BT-Plenarprotokolle 6/171 ff. vom 23. bis 25. Februar 1972, S. 9739 ff.

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3. Kap.: Die Redezeiten im Deutschen Bundestag

zwischen Koalition und Opposition einbezogen.103 Danach erhielten die Regierungsfraktionen von SPD und FDP elf Stunden und 30 Minuten, CDU/CSU eine Stunde weniger Redezeit. Aufgrund einer vierstündigen Verlängerung wurde den Regierungsfraktionen eine zusätzliche Redezeit von 140 Minuten und der Opposition eine zusätzliche Redezeit von 100 Minuten zugesprochen.104 Die gelungene Vereinbarung und Abkehr vom konstitutionellen Ansatz des Gesamtparlaments war nicht zuletzt auf die Erfahrungen der SPD in der Opposition zurückzuführen. In den nachfolgenden Wahlperioden gab es regelmäßig Vereinbarungen im Ältestenrat, die die Redezeit auf Regierung und Mehrheitsfraktionen einerseits und Opposition andererseits, meist im Verhältnis von 60 % zu 40 %, verteilten. In der 8. Wahlperiode wurde außerdem wieder öfter auf die Kurzzeitdebatte zurückgegriffen, die jeder Fraktion paritätisch zehn Minuten Redezeit zuwies.105 Hier erhielten alle Fraktionen bzw. Gruppen die gleiche (kurze) Redezeit, Bundesrat und Bundesregierung konnten separate Redezeiten beanspruchen.106 In der 10. Wahlperiode kam es im Ältestenrat erstmals zur Erarbeitung eines Verteilungsschlüssels für eine Zeitstunde. Danach stand allen Fraktionen eine anteilmäßig bestimmte Redezeit zu. Auf diese Redezeitaufteilung wurde in den Debatten innerhalb der Legislaturperiode zurückgegriffen. Wenngleich weiterhin paritätische Kurzzeitdebatten mit fünf bzw. zehn Minuten Redezeit pro Redner der Fraktionen stattfanden,107 führte die Ausarbeitung einer einheitlichen Redezeitaufschlüsselung auf eine Zeitstunde zu einer vermehrten Proportionalisierung. Mitursächlich für diese Entwicklung war der Einzug der GRÜNEN in den Bundestag 1983.108 Seit der 11. Wahlperiode wurde die grundlegende Gestaltung der Aussprache zu Beginn jeder Wahlperiode in einem Verteilungsschlüssel „Bonner Stunde“ genannt, da die Zeitstunde der damaligen Mehrheitsverhältnisse und der einfacheren Berechnung wegen um eine Minute überschritten wurde. Mit dem Umzug des Bundestages nach Berlin wurde die „Bonner Stunde“ zur „Berliner Stunde“. Die Verteilung der Redezeiten zu Beginn jeder Wahlperiode hat sich im Parlamentsablauf etabliert.

103 Dies gilt bis heute nicht für Regierungserklärungen, sofern nicht im Einzelfall etwas anderes vereinbart ist, dazu Ritzel/Bücker/Schreiner/Winkelmann, HdbPP, 30. EL Dezember 2014, Erl. I. 1. c) zu § 35, S. 8. Dem Plenum wurde die Redezeitenverteilung nicht bekanntgegeben, nur den Fraktionen; vgl. Schindler, Datenhandbuch zur Geschichte des Deutschen Bundestages 1949 bis 1999, S. 1724. 104 Ders., Datenhandbuch zur Geschichte des Deutschen Bundestages 1949 bis 1999, S. 1724. 105 Erstmals wieder zu finden im BT-Plenarprotokoll 8/56 vom 11. November 1974, S. 4347 (A); vgl. auch dens., Datenhandbuch zur Geschichte des Deutschen Bundestages 1949 bis 1999, S. 1725. 106 Schreiner, ZParl. 36 (2005), 573 (582). 107 Roll, ZParl. 17 (1986), 313 (315). 108 Schönberger, in: Morlok/Schliesky/Wiefelspütz, Parlamentsrecht, § 1 Rn. 45.

A. Parlamentarische Debatte: Rederecht – Redeordnung – Redezeit

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3. Proporz und Parität Die Geschäftsordnungen deutscher Parlamente stehen in einer beachtlichen Kontinuität. In ihren Redeordnungen werden bereits in großem Umfang Aussagen über die Organisation und Sicherung der parlamentarischen Debatte getroffen. Darunter befinden sich früh allgemeine Regeln, z.B. zur Worterteilung, Vortragsweise, zum Platz des Redners oder zu disziplinarischen Maßnahmen wie Wortentzug oder Sitzungsausschluss. Doch in allen Geschäftsordnungen, von der Paulskirche bis zur Bundesrepublik, gibt es auch schon Vorschriften zum Schluss der Debatte, der Rednerreihenfolge oder zum Prinzip von Rede und Gegenrede. Die wesentliche Frage nach der exakten Aufteilung von Redezeit im Parlament wird aber anders als in den Parlamentsgeschäftsordnungen von Bayern, Berlin, Brandenburg, Bremen, Hamburg, Hessen, Mecklenburg-Vorpommern, Schleswig-Holstein und Thüringen109 bis heute nicht in der Geschäftsordnung des Bundestages geregelt. § 28 GO-BT bestimmt nicht die Redezeitenverteilung, sondern die Rednerreihenfolge, die Vorschrift bietet lediglich Hinweise auf Entscheidungsmaßstäbe für den Präsidenten bei der Worterteilung. Dreh- und Angelpunkt ist vielmehr § 35 Abs. 1 Satz 1 GO-BT und der Hinweis auf die interfraktionelle Vereinbarung. Die Redezeitenverteilung ist – charakteristisch für das Parlamentsrecht – fragmentarisch geregelt. Traditionell wird bei der Aufteilung von Redezeit im Parlament auf zwei Modelle zurückgegriffen: Parität und Proporz. Das Proportionalitätsprinzip setzte sich als Ausgangspunkt spätestens Mitte der 1980er Jahre gegen eine Fraktionsparität bei den Redezeiten durch, auch wenn es weiterhin – überwiegend im Laufe der 10. bis 12. Wahlperiode – zu sogenannten paritätischen Kurzzeitrunden kam.110 Der Schwerpunkt der Redezeitaufteilung im Bundestag liegt bis heute auf dem Stärkeverhältnis der Fraktionen. Seit 1983 lag die Zahl der Fraktionen mit Ausnahme der 12. Wahlperiode (drei Fraktionen, aber zwei Gruppen) konstant bei vier bis fünf. In der 11. und 13. Wahlperiode war die PDS überdies als Gruppe im Bundestag vertreten.111 In der aktuellen 19. Wahlperiode sind sogar sechs Fraktionen im Parlament vertreten. Bisher wird überwiegend nach einem stringenten Proporzverfahren nach Sainte-Laguë/Schepers geredet, wobei die Debattenlänge sich an der mandatsschwächsten Fraktion orientiert.112 In den Wahlperioden der jüngeren Vergangenheit waren paritätische Kurzzeitrunden nicht mehr üblich. Möglicherweise aber wird in der 19. Wahlperiode wieder vermehrt auf sie zurückgegriffen. Dies legten zumindest die ersten Sitzungen und Debatten über Geschäftsordnungsfragen in der neuen 109

Siehe § 107 Abs. 1 i.V.m. Anlage 1 GO-LT Bayern, § 64 GO-Abghs. Berlin, § 28 Abs. 1 Satz 2 i.V.m. Anlage 1 GO-LT Brandenburg, § 45 GO-Bürg. Bremen, § 42 Abs. 1 i.V.m. Anlage 2 GO-Bürg. Hamburg, § 72 Abs. 1 i.V.m. Anlage 1 GO-LT Hessen, § 84 i.V.m. Anlage 6 GO-LT Mecklenburg-Vorpommern, § 56 Abs. 2 GO-LT Schleswig-Holstein, § 29 GO-LT Thüringen. 110 Siehe aber weiter gegenläufige Tendenzen, z.B. den Antrag der Grünenfraktion aus dem Jahr 1986, BT-Drs. 11/9. 111 Siehe die Auflistung in 1. Kapitel Fn. 157. 112 Siehe später 3. Kapitel Fn. 272.

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3. Kap.: Die Redezeiten im Deutschen Bundestag

Wahlperiode nahe.113 Die Redeordnungen deutscher Parlamente waren nie eindeutig der Parität oder dem Proporz zugeschrieben. Sie zeichnen sich durch ihre Flexibilität aus, die durch ein fortlaufend großzügig praktiziertes Leitungsrecht des Präsidenten unterstützt wird. Dies verdeutlichen auch Redezeitenverteilungen hinsichtlich bestimmter Aussprachen, bei denen eine einheitliche Fraktionslinie nicht vorliegt, vor allem bei moralisch-ethischen Themenstellungen. Hier kam es bereits mehrfach zu Kombinationen von „Berliner Stunde“ und paritätischer Kurzzeitrunde.114 Eine schematische Verteilung von Redezeiten verbietet sich,115 nur dieses hohe Maß an Flexibilität (Art. 40 Abs. 1 Satz 2 GG)116 wird dem Rederecht und seinen verfassungsrechtlichen Begrenzungen gerecht.

B. Verfassungsrechtliche Einordnung von Rederecht und Redezeit I. Rederecht im verfassungsrechtlichen Spannungsfeld Die Anforderungen an die parlamentarische Verhandlung sind vielschichtig. Das grundgesetzliche Rederecht jedes einzelnen Abgeordneten ist Ausgangspunkt für eine lebhafte parlamentarische Verhandlung. Insgesamt lassen sich fünf Verfassungspositionen herausarbeiten, die bei der Organisation der Redezeiten von tiefgreifender Relevanz sind. Diese, die parlamentarische Tradition durchdringenden Determinanten, rahmen das Rederecht ein und beeinflussen es wechselseitig: parlamentarische Verfahrenssicherung, Redeprivilegien, Mandatsgleichheit, Minderheitenschutz und das Prinzip von Rede und Gegenrede. 1. Funktionsfähigkeit des parlamentarischen Ablaufs Begrenzt wird das Rederecht des einzelnen Abgeordneten zuvörderst durch die Notwendigkeit eines funktionierenden Parlamentsablaufs (Art. 40 Abs. 1 Satz 2 GG). Praktikabilitätserwägungen begrenzen das Rederecht, sie sind der wesentliche Grund für eine Redeordnung. Das Bundesverfassungsgericht zählte im RedezeitenUrteil von 1959 einige Einrichtungen auf, die zum Schutz eines geordneten parla113 Dies zeigt die Debatte bei der konstituierenden Sitzung des 19. Deutschen Bundestages, hier wurde eine Kurzzeitdebatte zur Geschäftsordnung mit fünf-minütigen Wortbeiträgen aller Fraktionen durchgeführt. Auch in der Debatte um die Einsetzung von Ausschüssen in der zweiten Sitzung des Deutschen Bundestages in der 19. Wahlperiode wurde eine paritätische Kurzzeitrunde vereinbart; BT-Plenarprotokoll 19/1 vom 24. Oktober 2017, S. 4 (D) ff; 19/2 vom 21. November 2017, S. 39 (B) ff. 114 BT-Plenarprotokoll 12/34 vom 20. Juni 1991, S. 2735 (D) f.; vgl. Schreiner, ZParl. 36 (2005), 573 (583). 115 Demmler, Der Abgeordnete im Parlament der Fraktionen, S. 486 ff. 116 Siehe 2. Kapitel F. I.

B. Verfassungsrechtliche Einordnung von Rederecht und Redezeit

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mentarischen Verfahrens offensichtlich notwendig seien: die Möglichkeit zur Abstimmung auf Schluss der Debatte, der Festsetzung einer Debattengesamtdauer, der Redezeitbegrenzung für einzelne Redner, der Festsetzung der Tagesordnung als solche und der Sitzungsvertagung. Ebenso könnten zur Wahrung der parlamentarischen Disziplin Ordnungsmaßnahmen durch den Parlamentspräsidenten erfolgen, namentlich die Entziehung des Wortes oder der Sitzungsausschluss. Solche Beschränkungen seien zulässig, sofern sie fortlaufend an der grundsätzlichen Redefreiheit des einzelnen Abgeordneten gemessen werden, also weder grundlos noch missbräuchlich erfolgten.117 Die Fülle und Komplexität der parlamentarischen Aufgaben verlangt ihre disziplinierte Erledigung in möglichst kurzer Zeit ohne Qualitätsverlust.118 Die Sitzungszeit ist jährlich auf in der Regel 22 Sitzungswochen zu je drei Sitzungstagen von Mittwoch bis Freitag begrenzt. Montag und Dienstag sind regelmäßig den Fraktionen vorbehalten: Am Montagnachmittag tagen üblicherweise Fraktionsvorstände und Untergremien der Fraktionen, am Abend viele Landesgruppen, am Dienstagmorgen die Arbeitskreise und -gruppen, am Dienstagnachmittag finden die fraktionellen Vollversammlungen statt. Am Mittwochmorgen tagen die Ausschüsse, in der Regel auch das Bundestagspräsidium. Um 13 Uhr (Anlage 7 Nr. 1 GO-BT) beginnt die Befragung der Bundesregierung im Plenum, anschließend folgt die Fragestunde. Weitere Plenarsitzungen finden am Donnerstag und Freitag statt.119 In den sitzungsfreien Wochen befinden sich die Abgeordneten in der Regel in ihrem Wahlkreis. In die parlamentarische Praxis bürgerte sich aufgrund der Zeitknappheit eine Beschränkung der Gesamtredezeit ein, deren Möglichkeit sich a maiore ad minus aus dem parlamentarischen Recht, den Schluss der Debatte beschließen zu können, ableitet.120 Dies ändert nichts an der Möglichkeit von Sitzungsverlängerungen im Einzelfall. 598 und mehr Abgeordnete können in Zahl, Dauer und Inhalt121 nicht unbegrenzt vom Rederecht Gebrauch machen.122 Ohne ein solches Recht wäre die Mehrheit den Obstruktionen der Minderheit ausgeliefert.123 Obwohl schon v. Mohl einer allgemeinen Redezeitbegrenzung kritisch gegenüberstand,124 war er sich der Notwendigkeit eines begrenzten Rederechts durchaus bewusst. So bekräf117

BVerfGE 10, 4 (13), vgl. auch Hagelstein, Die Rechtsstellung der Fraktionen im deutschen Parlamentswesen, S. 167. 118 Vgl. Hauenschild, Wesen und Rechtsnatur der parlamentarischen Fraktionen, S. 115. 119 Linn/Sobolewski, So arbeitet der Deutsche Bundestag, S. 60. 120 Kritisch Lipphardt, Die kontingentierte Debatte, S. 51 ff. 121 Vgl. z.B. Abmeier, Die parlamentarischen Befugnisse des Abgeordneten des Deutschen Bundestages nach dem Grundgesetz, S. 147; Demmler, Der Abgeordnete im Parlament der Fraktionen, S. 474. Sie sind richtigerweise der Ansicht, dass das Rederecht nicht dahingehend zu verstehen sei, dass Abgeordnete immer zu jedem Problem Stellung nehmen können, sondern nur im Rahmen der Tagesordnung. Siehe dazu auch § 32 GO-BT. 122 Besch, in: Schneider/Zeh, Parlamentsrecht und Parlamentspraxis, § 33 Rn. 7. 123 BVerfGE 10, 4 (13). 124 v. Mohl, ZgS 31 (1875), 39 (76).

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3. Kap.: Die Redezeiten im Deutschen Bundestag

tigte er, dass nicht der Einzelne die Aufgaben der Versammlung erfüllen könne, sondern nur die „Gesamtheit derselben“125. Vorbehalte gegen eine Redezeitbegrenzung wurden auch im Rahmen geschäftsordnungsrechtlicher Änderungen im Bundestag geäußert, nicht nur mit Blick auf das Rederecht der einzelnen Abgeordneten, auch bezüglich einer angemessenen Redezeit für die Opposition.126 Der Bundestag darf und muss Aussprachen um seiner Handlungsfähigkeit wegen zeitlich begrenzen. 2. Privilegierte Redner des Art. 43 Abs. 2 Satz 2 GG Art. 43 Abs. 2 Satz 2 GG normiert ein ausdrücklich in der Verfassung geregeltes Rederecht von Mitgliedern des Bundesrates und der Bundesregierung. Sie müssen jederzeit gehört werden. Damit sind sie grundgesetzlich privilegierte Redner im Parlament. Die von der Geschäftsordnung getroffenen Aussagen zu den besonderen Redebefugnissen für Antragsteller und Berichterstatter (§ 28 Abs. 2 Satz 2 und 3 GO-BT) sind nicht von verfassungsrechtlicher Natur. Der Wortlaut des Art. 43 Abs. 2 Satz 2 GG, § 43 GO-BT spricht den Bundesrats- und Bundesregierungsmitgliedern ein unbeschränktes Rederecht zu, wenngleich auch sie dieses Recht nicht missbrauchen dürfen.127 Das Redeprivileg von Mitgliedern der Bundesregierung nach Art. 43 Abs. 2 Satz 2 GG, § 43 GO-BT hat seine Wurzeln im Zeitalter des Konstitutionalismus.128 Die Verteilung von Redezeiten ist seit jeher ein parlamentarischer Verteilungskampf, obwohl sich mit dem Übergang zum parlamentarischen Regierungssystem auch die Frontlinien hinsichtlich der Aufteilung von Redezeit im Parlament verrückt haben. Schon in der Weimarer Nationalversammlung wurde auf den zeitlichen Wandel hingewiesen: „Die Privilegierung der Regierung hatte in den früheren Verfassungen einen ganz guten Sinn. […] Jetzt wird die Regierung aus den Parteien entnommen und jetzt entsteht die Frage, inwieweit Redner vom Regierungstisch auf die Rednerliste der Parteien angerechnet werden sollen. […] Das kann unmöglich in der Verfassung geschehen. Das muss der Geschäftsordnung vorbehalten bleiben.“129

Doch auch im Redezeiten-Urteil des Bundesverfassungsgerichts aus dem Jahr 1959 heißt es noch:

125

v. Mohl, ZgS 31 (1875), 39 (64). Siehe die Äußerungen in der zwölften Sitzung des Ausschusses für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung (Geschäftsordnungsangelegenheiten) vom 7. März 1968, in: Ausschussprotokoll, PA-DBT 3101 5. Wahlperiode, Protokoll 12, S. 3; dazu BT-Drs. 5/2479, S. 3. 127 BVerfGE 10, 4 (18). 128 Meier, Zitier- und Zutrittsrecht im parlamentarischen Regierungssystem, S. 63 ff. 129 Adolf Gröber (Zentrum), in: Plenarprotokoll der 46. Sitzung der verfassungsgebenden Deutschen Nationalversammlung vom 4. Juli 1919, Bd. 327 S. 1290 C. 126

B. Verfassungsrechtliche Einordnung von Rederecht und Redezeit

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„Sicher trifft der Hinweis der Antragsteller zu, daß die Opposition nicht nur der Parlamentsmehrheit, sondern der Parlamentsmehrheit und der Regierung gegenübersteht. Aber damit ist die Stellung der Regierung nicht erschöpfend umschrieben. Sie steht als Spitze der Exekutive zugleich dem Parlament, also der Opposition und der Mehrheit, gegenüber. Für die Frage der Redezeitverteilung ist das insofern von Bedeutung, als die Regierungsreden nicht nur wie eine hinzukommende, erweiterte Vertretung des Mehrheitsstandpunktes betrachtet werden dürfen, für die die Opposition stets einen Ausgleich fordern kann. In den Reden der Regierungsmitglieder kommt in erster Linie der Standpunkt der Regierung zum Ausdruck, der sich mit dem der Parlamentsmehrheit nicht zu decken braucht. Der Redebefugnis der Regierung nach Art. 43 GG steht die Redebefugnis des Parlaments, d.h. die Summe der Redezeiten aller Abgeordneten gegenüber. Der auf die Opposition entfallende Anteil an der für die Abgeordneten festgesetzten Redezeit enthält daher schon, mindestens zu einem Teil, den Ausgleich und das Gegengewicht für Regierungsreden. Das wird besonders deutlich, wenn die Regierung eine Auffassung verficht, die von den Standpunkten sowohl der Opposition als der Regierungsparteien abweicht. Es gilt aber auch dann, wenn die Auffassungen der Regierung und der Regierungsparteien im wesentlichen übereinstimmen.“130

Die Vorschrift des Art. 43 Abs. 2 Satz 2 GG ist eindeutig: Die privilegierten Redner müssen „jederzeit gehört werden“. Das Missbrauchsverbot gilt hinsichtlich der Behinderung der Opposition bei der Darlegung ihres Standpunktes und des Bundestages bei der Wahrnehmung seiner Aufgaben insgesamt.131 Der Entzug des Wortes ist jedenfalls verfassungsgemäß, wenn der privilegierte Redner konstant den Tagesordnungspunkt verlässt und zu politischen Angriffen übergeht, die nichts mit dem eigentlichen Verhandlungsgegenstand zu tun haben, trotz Ermahnungen weit länger spricht als es der parlamentarische Ablauf zulässt und der Sitzungsleitung den Vorwurf des Verfassungsbruchs macht.132 Ein solcher Vorfall ereignete sich im Zuge der Flutkatastrophe 2002, als dem Bundesratsmitglied Ronald Schill (Schill-Partei) bei seiner Bundestagsrede das Wort entzogen und auch das Mikrofon abgestellt wurde.133 Die Aufteilung der Redezeit auf die Regierung einerseits und das Gesamtparlament andererseits ist anachronistisch, mag es im Ausnahmefall auch einmal zu einer Streitfrage zwischen Regierung und Parlament kommen können.134 Die Bundesregierung ist kein politisches Neutrum. Doch die Funktionseinheit von Parlamentsmehrheit und Regierung kann gegen den eindeutigen Wortlaut des Art. 43 Abs. 2 130

BVerfGE 10, 4 (19). BVerfGE 10, 4 (18). 132 Vgl. nur Lang, ZParl. 17 (1986), 295 (304 f.), der die Rechtsgrundlage für die Ordnungsmaßnahme in Art. 40 GG verortet. 133 Schill, in: BT-Plenarprotokoll 14/251 vom 29. August 2002, S. 25443 ff.; Vgl. grundlegend zum Rederecht von Bundesratsmitgliedern im Bundestag Wilke/Schulte, ZParl. 8 (1977), 413 – 421; sowie vorher schon Arndt, ZParl. 7 (1976), 317 – 322; Steffani, ZParl. 7 (1976), 322 – 328; Dichgans, ZParl. 7 (1976), 567. 134 Vgl. z.B. das Thema der „Armenienresolution“, beispielhaft Pokrata, Distanzierung – oder doch nicht?, 2. 9. 2016, http://www.br.de/nachrichten/bundestag-armenien-resolution-104. html, zuletzt geprüft am 26. 4. 2018. 131

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3. Kap.: Die Redezeiten im Deutschen Bundestag

Satz 2 GG nicht in Stellung gebracht werden.135 Die Integration der privilegierten Redner in die Fraktionsredezeiten ist ungeachtet dessen zulässig, wenn sie auch nicht verfassungsrechtlich geboten ist.136 Seit der 6. Wahlperiode ist es (freiwillige) parlamentarische Praxis, die Redezeiten der Bundesratsmitglieder zur Redezeit ihrer im Bundestag entsprechenden Parteifraktion137 und die Redezeiten der Regierungsmitglieder, die nicht selten auch Bundestagsabgeordnete sind, auf das Redezeitenkontingent der Regierungsfraktionen anzurechnen.138 3. Gleiches Rederecht für alle Abgeordneten Abgeordnete haben ein gleiches verfassungsrechtliches Recht auf Teilhabe am parlamentarischen Willensbildungsprozess,139 also im Grundsatz auch auf die gleiche Redezeit nach Art. 38 Abs. 1 GG. Ausschlaggebend ist, dass Abgeordnete die rechnerisch gleiche Chance haben, zu Wort zu kommen (Redechancengleichheit).140 Bei der Verteilung von Redezeiten in einer kontingentierten Debatte ist daher der Grundsatz der Spiegelbildlichkeit als Ausdruck parlamentarischer Gleichheit ein brauchbarer Maßstab.141 Die Aufteilung von Redezeit auf die Fraktionen als wesentliche Gliederungseinheiten des Parlaments (Fraktionsredezeiten) ist dabei an sich möglich. Dies bestätigte das Bundesverfassungsgericht in seinem Redezeiten-Urteil von 1959: „Die quotale Aufteilung der Redezeit ist geeignet, die sachliche Arbeit des Parlaments zu fördern. Durch sie wird sichergestellt, daß Abgeordnete aller Richtungen sprechen und daß nicht durch Zufälligkeiten des Ablaufs der Debatte die eine oder die andere Fraktion nur unverhältnismäßig kurz zu Wort kommt. Bei Festsetzung einer Gesamtredezeit ohne Verteilung auf die Fraktionen bestünde zudem die Gefahr, daß einzelne Redner ihre Reden übermäßig ausdehnten, nur um ihre politischen Gegner um das Wort zu bringen. Diese Gefahr ist beseitigt, wenn jeder Sprecher weiß, daß eine unangebrachte Ausdehnung seiner Rede nur seine Gesinnungsfreunde benachteiligt. Angesichts dieser Vorteile hat sich die 135 Vgl. Magiera, in: Sachs, GG, Art. 43 Rn. 12; auch Queng, JuS 1998, 610 (612); Haberland, Die verfassungsrechtliche Bedeutung der Opposition nach dem Grundgesetz, S. 112; Lipphardt, Die kontingentierte Debatte, S. 90 ff. 136 Vgl. Ritzel/Bücker/Schreiner/Winkelmann, HdbPP, 23. EL März 2006, Erl. I. 1. a) aa) (2) zu § 35, S. 11. 137 Dazu und auch zu Bundesratsmitgliedern, die einer nicht im Bundestag als Fraktion vertretenen Partei angehören oder parteilos sind dies., HdbPP, 23. EL März 2006, Erl. I. 1. a) aa) (2) zu § 35, S. 12. 138 Beispielhaft Blischke, Der Staat 12 (1973), 65 (66 f.). 139 BVerfGE 96, 264 (284). Siehe zur Mandatsgleichheit 2. Kapitel B. II. 6. b). 140 BVerfGE 10, 4 (16). 141 BVerfGE 10, 4 (16); zustimmend unter anderem Hölscheidt, Das Recht der Parlamentsfraktionen, S. 356; Klein, in: Isensee/Kirchhof, HStR, Bd. 3, § 51 Rn. 32. A.A. Lipphardt, Die kontingentierte Debatte, S. 58; Ingold, Das Recht der Oppositionen, S. 395 ff., 626; Schürmann, in: Morlok/Schliesky/Wiefelspütz, Parlamentsrecht, § 20 Rn. 40. Siehe zum Spiegelbildlichkeitsgrundsatz hier schon 2. Kapitel B. II. 6. b) cc), ferner 5. Kapitel C. III. 3. a).

B. Verfassungsrechtliche Einordnung von Rederecht und Redezeit

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Festsetzung von ,Fraktionsredezeiten‘ in den deutschen Parlamenten eingebürgert. […] Durch diesen Verteilungsschlüssel wurde gerade gesichert, daß die Redebefugnis des einzelnen Abgeordneten nicht über die Beschränkung hinaus, die schon in der Festsetzung der Gesamtredezeit lag, beeinträchtigt wurde. Durch die Begrenzung auf acht Stunden war die Chance jedes einzelnen Abgeordneten, zu Wort zu kommen, weitgehend herabgemindert worden. Sie ergab sich rechnerisch aus dem Verhältnis der Gesamtzahl der Abgeordneten (519) zur achtstündigen Redezeit. Mit der Aufteilung auf die Fraktionen nach der Fraktionsstärke blieb diese rechnerische Chance unverändert, da die Redezeit jeder Fraktion hiernach im gleichen Verhältnis zur Gesamtredezeit stand wie die Zahl der Fraktionsangehörigen zur Gesamtzahl der Parlamentsmitglieder. Es ist also irrig, wenn die Antragsteller ausgeführt haben, daß eine Redezeitaufteilung, wie sie hier vorgenommen wurde, dem einzelnen Abgeordneten der Minderheit eine geringere Redebefugnis gebe als dem einzelnen Abgeordneten, der der Mehrheit angehört. Vielmehr wird bei Festsetzung von Redezeiten für die Fraktionen gerade durch Bemessung dieser Zeiten nach der Fraktionsstärke erreicht, daß jeder Abgeordnete die gleiche Redebefugnis (die gleiche rechnerische Chance, zu Wort zu kommen) erhält, ohne Rücksicht darauf, welcher Fraktion er angehört.“142

Die Verteilung von Redezeiten auf Fraktionen ändert nichts daran, dass das Rederecht ein Abgeordnetenrecht ist. Fraktionen haben kein originäres Rederecht.143 Eine Fraktionsprärogative ist dem Grundgesetz bezüglich des Rederechts wie auch sonst nicht zu entnehmen.144 Das Grundgesetz markiert den Abgeordneten und nicht die Fraktionen als Mittelpunkt des parlamentarischen Willensbildungs- und Entscheidungsprozesses.145 Daher ist insgesamt Achtsamkeit im Hinblick auf die Einschränkung von Abgeordnetenrechten geboten, um einer „weiteren Verlagerung der Entscheidungen in Ausschüsse und Fraktionen und der damit verbundenen Entparlamentarisierung“146 entgegenzuwirken. Die Abgeordnetenmediatisierung, d.h. seine Mittelbarmachung und Unterordnung unter die Funktionsanforderungen eines Gesamtparlaments, muss möglichst geringgehalten werden.147 Teilweise wird die Verteilung der Redezeiten nach einer fraktionsproporzorientierten Regelung aus diesem Grund für unzulässig gehalten. Die Bemessung der Redezeiten am Maßstab der Fraktionsstärke widerspreche der Redefreiheit nach Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG. Daher seien allein die Interessen der Abgeordneten im Einzelfall entscheidend.148 Dieser Befund überzeugt jedoch nicht. Abgeordnete und Fraktionen können nicht separiert betrachtet werden. Eine alleinige Betrachtung von Verteilungskämpfen aus dem Blickwinkel des einzelnen Abgeordneten ist verfassungsromantisch und 142

BVerfGE 10, 4 (14 f.). Vgl. nur Scholz, ZParl. 13 (1982), 24 (25). 144 Ingold, Das Recht der Oppositionen, S. 403. 145 Klein, in: Maunz/Dürig, GG, 60. EL Oktober 2010, Art. 38 Rn. 231; Karcher/Korn, DÖV 2012, 725 (728). 146 BVerfGE 101, 297 (306 f.); ähnlich BVerfGE 120, 56 (75). 147 Dazu Hagelstein, Die Rechtsstellung der Fraktionen im deutschen Parlamentswesen, S. 168 ff. 148 Ingold, Das Recht der Oppositionen, S. 626 f. Ebenfalls kritisch Lipphardt, Die kontingentierte Debatte, S. 55 ff. 143

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3. Kap.: Die Redezeiten im Deutschen Bundestag

-idealistisch. Sie ist realitätsfern und auch gar nicht notwendig. Das Grundgesetz nennt Fraktionen nur am Rande, Art. 53a Abs. 1 Satz 2 GG. Dennoch nehmen sowohl Regierungs- als auch Oppositionsfraktionen wesentliche Aufgaben wahr, die ihnen auch ohne explizite Nennung gemäß der Verfassung obliegen.149 Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG ist keine Aufforderung zu politischem Einzelgängertum. Der Grundsatz der Spiegelbildlichkeit ist als innerparlamentarisches Ordnungsprinzip in der Lage, den Status des einzelnen Abgeordneten mit größtmöglicher Entfaltungskraft auszustatten. Die Kontingentierung der Redezeit im Verhältnis zur Mandatsstärke der Fraktion ist gerade geeignet, den funktionierenden parlamentarischen Ablauf im Rahmen der Gleichheitsanforderungen des Art. 38 Abs. 1 GG zu gewährleisten.150 Es handelt sich bei der Verteilung von Redezeiten auf die Fraktionen aber vor allem um einen rein organisatorischen Akt,151 der im Übrigen auch geschäftsordnungsrechtlich vorausgesetzt wird, § 44 Abs. 2 GO-BT. Innerhalb der Fraktionen entscheiden jedoch Führungskräfte oder Mehrheiten, wer zu welchem Thema spricht, nicht die einzelnen Abgeordneten.152 Daher ist den Kritikern von Fraktionsredezeiten zuzugeben, dass die Redezeitkontingentierung einzig am Maßstab des Fraktionsproporzes nicht zulässig ist. Dies zeigt sich am Beispiel der Abgeordneten, die von der Fraktionsmeinung abweichen und ihren Standpunkt im Plenum darstellen möchten. Entscheidungsfreiheit und Selbstverantwortlichkeit muss weiterhin – über Erklärungen nach § 29 ff. GO-BT hinaus – möglich sein.153 Damit kommt der Bundestag auch seiner Öffentlichkeitspflicht nach.154 Gleichzeitig darf die Redezeit der „Abweichler“ nicht auf die der Fraktion angerechnet werden, die ihren fraktionellen Meinungsstand weiterhin in der vorgesehenen Zeit vortragen können soll.155 Das Bundesverfassungsgericht hält die Berechnung der Redezeiten am Maßstab der Fraktionsstärke richtigerweise für verfassungsgemäß.156 Doch führt eine Zulässigkeit von Fraktionsredezeiten nicht zur Gebotenheit eines solchen Verfahrens.157

149

BVerfGE 80, 188 (231). Insgesamt anschaulich Schmidt-Preuß, FS Leisner, S. 471 f. BVerfGE 10, 4 (14). 151 Demmler, Der Abgeordnete im Parlament der Fraktionen, S. 497; anders aber Lipphardt, Die kontingentierte Debatte, S. 57 f. 152 Zum Problem Schürmann, in: Morlok/Schliesky/Wiefelspütz, Parlamentsrecht, § 20 Rn. 40; Ingold, Das Recht der Oppositionen, S. 626 f. 153 BVerfGE 10, 4 (14 ff.); so auch Demmler, Der Abgeordnete im Parlament der Fraktionen, S. 480. 154 Ders., Der Abgeordnete im Parlament der Fraktionen, S. 509 f. 155 Ders., Der Abgeordnete im Parlament der Fraktionen, S. 482. 156 BVerfGE 10, 4 (13); Hagelstein, Die Rechtsstellung der Fraktionen im deutschen Parlamentswesen, S. 168 f. 157 In diese Richtung aber Mundil, Die Opposition, S. 200; vgl. auch Ingold, Das Recht der Oppositionen, S. 626 f.; Haberland, Die verfassungsrechtliche Bedeutung der Opposition nach dem Grundgesetz, S. 112. 150

B. Verfassungsrechtliche Einordnung von Rederecht und Redezeit

243

Bernhard Kaster (CDU) wies auf die Bedeutung der parlamentarischen Repräsentationsfunktion hin: „In der öffentlichen Debatte haben vor allem die Redezeiten eine große Rolle gespielt. Wir müssen dabei immer drei Gesichtspunkte betrachten: erstens das statusrechtliche Rederecht eines jeden einzelnen Abgeordneten, zweitens das Prinzip von Rede und Gegenrede und drittens die Fraktionsstärke. Das sind die drei Elemente, die eine Rolle spielen. Die Oppositionsparteien erzielten bei der Bundestagswahl ein Wahlergebnis von zusammen 17 Prozent; sie haben 20 Prozent der Sitze hier. Die jetzt vereinbarten Redezeiten der Opposition bewegen sich je nach Debattenlänge zwischen 25 und 32 Prozent. Wer sich bewusst macht, dass alle 631 Kolleginnen und Kollegen in diesem Haus dieselben Rechte haben, dem wird auch klar: Noch mehr hätte man nicht entgegenkommen können.“158

Bei Anwendung des Spiegelbildlichkeitsgrundsatzes findet sich das Wahlergebnis in der parlamentarischen Debatte wieder.159 Das Stärkeverhältnis der Fraktionen ist jedoch weniger ein eigenständiges Prinzip, wie es § 28 Abs. 1 Satz 2 GO-BT vermuten lässt, als ein organisatorisches Verteilungsinstrument zur Wahrung der Gleichheit der Abgeordneten. Der Wähler entscheidet darüber, wer ihn im Bundestag vertritt, daraus ergibt sich aber kein verfassungsrechtliches Gebot, dass in der Plenardebatte diejenigen viel sprechen müssen, die viele vertreten.160 Es geht in der Plenardebatte weniger um die reine Abbildung des Wählerwillens als um die Gegenüberstellung von allen Meinungen und auch um die Abbildung gerade dieser verschiedenen Meinungen zu einem Verhandlungsgegenstand. Die Meinungen der Fraktionsangehörigen werden aber in der Regel schon durch die Redner ihrer Fraktion in die Debatte eingebracht. Der Wählerwille kommt schließlich in der Abstimmung zum Ausdruck. Die Proportionalisierung der Redezeitenverteilung in der Plenardebatte ist insofern nicht vergleichbar mit der Besetzung von Ausschüssen nach dem Proporzsystem,161 diese müssen in ihrer Zusammensetzung tatsächlich ein Spiegelbild des Plenums sein. Das Stärkeverhältnis der Fraktionen schränkt das Rederecht aus Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG nicht ein, es wird vielmehr durch die Rederechte der anderen Abgeordneten begrenzt. Das Instrument der Proportionalität führt zu einer Redechancengleichheit.162 Diese kann nur aufgrund besonderer Gründe eingeschränkt werden.163

158

Kaster, in: BT-Plenarprotokoll 18/26 vom 3. April 2014, S. 2066 (C). Mundil, Die Opposition, S. 200; Schuster, DÖV 2014, 516 (520). 160 In diese Richtung aber Ritzel/Bücker/Schreiner/Winkelmann, HdbPP, 3. EL Januar 1985, Erl. Nr. 8 b) zu Aktuelle Stunde (Anlage 5), S. 18. Vgl. auch Demmler, Der Abgeordnete im Parlament der Fraktionen, S. 480. 161 Vgl. dazu Konzak, ZParl. 24 (1993), 596 (598 f.). 162 Siehe auch BT-Drs. 18/481, S. 5. 163 BVerfGE 70, 324 (383). 159

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3. Kap.: Die Redezeiten im Deutschen Bundestag

4. Minderheitenschutz in der Debatte Neben dem verfassungsrechtlichen Gleichheitsgebot gilt der parlamentarische Minderheitenschutz (Art. 20 Abs. 1 und 2 GG) in der Debatte. Abgeordnete aller politischen Richtungen müssen die Möglichkeit haben, zu Wort zu kommen.164 Es handelt sich bei Mandatsgleichheit und Minderheitenschutz – wie bereits ausführlich dargestellt – um eigenständige Verfassungspositionen, gleichwohl die Mandatsgleichheit bereits minderheitenschützend wirkt.165 Minderheitenschutz verlangt, dass die Minderheit sich in den Willensbildungsprozess einbringen kann.166 Auch eine faire und loyale Anwendung der Geschäftsordnung verlangt die Beteiligungsmöglichkeit aller Ansichten an der Debatte.167 Eine kontingentierte Debatte muss demnach allen politischen Positionen im Parlament Raum zur Entfaltung lassen. Dies betont nicht nur das Bundesverfassungsgericht, sondern auch der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte. In einem Urteil von 2014 unterstrich er die Bedeutung des Schutzes von „Minderheitsabgeordneten und -parteien innerhalb des Parlaments“168. Die Öffentlichkeit habe ein Anrecht darauf, sie zu hören. Er spricht der öffentlichen Darstellung von parlamentarischen Minderheitenansichten eine integrale Funktion zu. Alle Abgeordneten müssen zu Wort kommen können. Überdies ist eine Mindestredezeit notwendig, um einen nachvollziehbaren Sachvortrag zu ermöglichen.169 Der politische Standpunkt muss verständlich werden können. Insofern sind auch den mandatsschwachen Gruppen und Fraktionen Redezeiten einzuräumen, die dem Debattenthema und seiner Komplexität angemessen sind. Die Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages nennt in Bezug auf die Rednerreihenfolge in der Debatte die Rücksicht auf die verschiedenen Parteirichtungen noch vor dem Prinzip von Rede und Gegenrede, § 28 Abs. 1 Satz 2 GO-BT. Ebenso kann § 25 Abs. 2 Satz 3 GO-BT herangezogen werden. Darin heißt es, dass jede Fraktion mindestens einmal zu Wort kommen muss, ehe ein Antrag zum Schluss der Debatte zur Abstimmung gestellt werden kann. Auch den Gruppen sowie den fraktionslosen Abgeordneten und „Abweichlern“ ist das Wort zu erteilen, wenn sie eine Meinung vorzubringen wünschen.170 Gruppen benötigen ihrer Größe entsprechend Redezeit;171 es ist aber verfassungsrechtlich nicht geboten, sie wie Fraktionen zu behandeln. Auch im Hinblick auf fraktionslose Abgeordnete und „Abweichler“ ist richtigerweise fest164

Demmler, Der Abgeordnete im Parlament der Fraktionen, S. 472. Siehe 2. Kapitel B. II. 6. b). 166 BVerfGE 70, 324 (363). 167 BVerfGE 1, 144 (149); 80, 188 (219); 84, 304 (332). 168 EGMR, NLMR 2014, 421 (423 f.). 169 Vgl. BVerfGE 80, 188 (228 f.); 96, 264 (285); Schürmann, in: Morlok/Schliesky/ Wiefelspütz, Parlamentsrecht, § 20 Rn. 42. 170 Dazu ders., in: Morlok/Schliesky/Wiefelspütz, Parlamentsrecht, § 20 Rn. 44. 171 Siehe zur Behandlung von Gruppen auch schon 2. Kapitel B. II. 5. a), ferner noch 4. Kapitel B. II. 165

B. Verfassungsrechtliche Einordnung von Rederecht und Redezeit

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zuhalten, dass die Bemessung ihrer Redezeit nicht mit der Redezeit der Fraktionen gleichzusetzen ist, sondern mit der Redezeit der anderen Abgeordneten.172 Nach Maßgabe des § 28 GO-BT hat der Bundestagspräsident über jeden Redewunsch im Einzelfall zu entscheiden und insbesondere die Gesamtdebatte im Blick zu behalten.173 Dies bedeutet im Umkehrschluss jedoch nicht, dass jedem Abgeordneten individuell der Redewunsch erfüllt werden muss. Vielmehr werden die Fraktionsangehörigen grundsätzlich bereits durch die jeweiligen Fraktionsredner repräsentiert, ihre Meinung findet sich bereits in der Debatte wieder.174 Zu unterscheiden ist der Minderheitenschutz in der Debatte vom Prinzip der Rede und Gegenrede. 5. Rede und Gegenrede Nach Art. 42 Abs. 1 Satz 1 GG verhandelt der Bundestag öffentlich. Neben dem Öffentlichkeitsgrundsatz ist hier der parlamentarische Verhandlungsgrundsatz geregelt.175 Einzelne Redebeiträge führen noch nicht zu einer Verhandlung: Dafür ist schließlich ein diskursiver Meinungsaustausch mit anderen Parlamentsmitgliedern nötig176 – Rede und Gegenrede.177 Verhandeln bedeutet das Vortragen verschiedener Argumente. Es ist die verfassungsrechtliche178 Aufgabe des Bundestages die Arena des politischen Wettstreits zu sein.179 Das Prinzip von Rede und Gegenrede war schon in der Geschäftsordnung der Paulskirchenversammlung von 1848 verankert. Löbe, langjähriger Reichstagspräsident in der Weimarer Republik und später Alterspräsident des ersten Deutschen Bundestages, resümierte in einem Vortrag zu „Reichstag und Bundestag“ vor der Deutschen Parlamentarischen Gesellschaft 1951 in Bonn: „Sofern der Redner sich keine Verbalbeleidigungen zuschulden kommen lässt, muss man gegen jede, auch noch so verworfene andere Ansicht Duldsamkeit üben. Vor einem Jahr nahm es eine Anzahl von Abgeordneten übel, dass auf der anderen Seite des Hauses andere Ansichten als bei ihrer eigenen Partei vertreten wurden – sie fingen sofort an, Krach zu machen –, dass die Redner der rechten ganz etwas anderes redeten als die der Linken. Sie hatten noch gar nicht begriffen, dass es die Aufgabe des Parlaments ist, sich gegenseitig zu überzeugen und gegenseitig zu antworten, dass in dieser freien Gegenrede unsere eigentliche Aufgabe besteht. Diese Toleranz müssen wir wahren.“180 172

BVerfGE 70, 324 (354); 80, 188 (229); Müller, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, Bd. 2, Art. 38 Rn. 124. 173 BVerfGE 96, 264 (285 ff.); dazu auch Besch, FS Ipsen, S. 594 ff. 174 Schürmann, in: Morlok/Schliesky/Wiefelspütz, Parlamentsrecht, § 20 Rn. 45 ff. 175 Vgl. BVerfGE 10, 4 (12); 70, 324 (355). 176 Vgl. Mattern, Grundlinien des Parlaments, S. 61; auch Masing/Risse, in: v. Mangoldt/ Klein/Starck, GG, Bd. 2, Art. 77 Rn. 22. 177 Vgl. Dicke, in: MitarbK, GG, Bd. 2, Art. 42 Rn. 12; Morlok, in: Dreier, GG, Bd. 2, Art. 43 Rn. 23; Klein, in: Maunz/Dürig, GG, 71. EL März 2014, Art. 43 Rn. 151. 178 Schreiner, ZParl. 36 (2005), 573. 179 BVerfGE 10, 4 (13); 84, 304 (329); 96, 264 (284). 180 Nachzulesen ist der Vortrag bei Feldkamp, ZParl. 38 (2007), 376 (400).

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3. Kap.: Die Redezeiten im Deutschen Bundestag

Auch das Bundesverfassungsgericht hält im Redezeiten-Urteil für die Rechtmäßigkeit von Beschränkungen des Rederechts fest, dass die Grenze solcher Maßnahmen am Wesen und an der grundsätzlichen Aufgabe des Parlaments, Forum für Rede und Gegenrede zu sein, Orientierung findet.181 1969 wurde die Geschäftsordnung um das Prinzip von Rede und Gegenrede in § 33 GO-BT ergänzt. Zuvor war auch die Formulierung „die Auseinandersetzung zwischen Regierung und Opposition“ beantragt und diskutiert worden.182 Der Geschäftsordnungsausschuss einigte sich nach einem Vorschlag von Mommer auf die Worte „Rede und Gegenrede“, da der Oppositionsbegriff nicht in der Geschäftsordnung normiert war und auch abweichende Meinungen innerhalb der Regierungsfraktion gemeint sein sollten.183 Die inhaltliche Nähe des Dualismus Rede und Gegenrede bzw. Regierung und Regierungsmehrheit sowie Opposition wird dadurch dennoch zutage gefördert. Im parlamentarischen Regierungssystem identifiziert sich die Regierung und Regierungsmehrheit zumeist mit dem Für, während das Wider durch die Opposition zum Ausdruck gebracht wird. Die Möglichkeit zur Gegenrede fördert den offenen Wettbewerb der unterschiedlichen politischen Kräfte.184 Die intensive Erörterung von Gründen und Gegengründen bietet der Opposition die Chance zur Darstellung von Kritik und Alternative nach außen.185 Rede und Gegenrede sind Ausdruck einer Chancengleichheit zwischen Regierungsmehrheit und Opposition. Meinungspluralismus und Opposition gehören zum Kernbestand der Demokratie, die Äußerungsmöglichkeit aller politischen Kräfte gehört zur Voraussetzung einer lebhaften Debattenkultur. In § 28 Abs. 1 Satz 2 GO-BT ist das Prinzip von Rede und Gegenrede ausdrücklich genannt, zudem regelt § 28 Abs. 1 Satz 2 Halbs. 2 GO-BT, dass nach der Rede eines Mitglieds oder Beauftragten der Bundesregierung eine abweichende Meinung zu Wort kommen soll. § 28 Abs. 2 Satz 1 GO-BT ist ebenso Ausdruck von Rede und Gegenrede wie die mögliche Erwiderung des Redners gemäß § 27 Abs. 2 Satz 3 Halbs. 2 GO-BT auf die Kurzintervention. Die Vorschrift des § 35 181

BVerfGE 10, 4 (13). Siehe BT-Drs. 5/396, dann 5/4373, S. 7. Siehe dazu auch die Äußerungen in der 22. Sitzung des Ausschusses für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung (Geschäftsordnungsangelegenheiten) vom 12. Juni 1969, in: Ausschussprotokoll, PA-DBT 3101 5. Wahlperiode, Protokoll 22, S. 6 ff. 183 Siehe dazu unter anderem die Aussagen Mommers in der 22. Sitzung des Ausschusses für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung (Geschäftsordnungsangelegenheiten) vom 12. Juni 1969, in: Ausschussprotokoll, PA-DBT 3101 5. Wahlperiode, Protokoll 22, S. 6 ff. 184 BVerfGE 142, 25 (55). 185 Hierzu BVerfGE 121, 135 (162). Das Gesetzesinitiativrecht nach Art. 76 GG reicht dafür nicht aus. Siehe die Gesetzesinitiativen der Opposition seit der siebten Wahlperiode. 1972 – 1976: 74; 1976 – 1980: 71; 1980 – 1983: 27; 1983 – 1987: 125; 1987 – 1990: 137; 1990 – 1994: 158; 1994 – 1998: 200; 1998 – 2002: 178; 2002 – 2005: 97; 2005 – 2009: 151; 2009 – 2013: 177; 2013 – 2017: 85; die Statistik basiert überwiegend auf Datenmaterial aus Schindler, Datenhandbuch zur Geschichte des Deutschen Bundestages 1949 bis 1999, S. 2392; Feldkamp, Datenhandbuch zur Geschichte des Deutschen Bundestages 1990 bis 2010, S. 1152 ff. 182

B. Verfassungsrechtliche Einordnung von Rederecht und Redezeit

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Abs. 2 GO-BT erlaubt einer Fraktion, die eine abweichende Meinung zu einem länger als 20 Minuten dauernden Vortrag eines Mitglieds der Bundesregierung, des Bundesrates oder eines ihrer Beauftragten hat, eine entsprechende Redezeit zu verlangen. Dieses Recht steht den Fraktionen unabhängig von ihrer zahlenmäßigen Stärke zu. Schließlich verdeutlicht auch § 44 Abs. 2 und Abs. 3 Satz 1 GO-BT im Rahmen der Wiedereröffnung der Aussprache die Bedeutung der Erwiderung in der parlamentarischen Debatte. Obwohl sich die Ausschussdebatten von den Plenardebatten wesentlich unterscheiden, gilt auch hier das Prinzip von Rede und Gegenrede (§§ 59 Abs. 2, 71 Abs. 3 GO-BT). Das Prinzip von Rede und Gegenrede verlangt nicht nur, dass die verschiedenen politischen Richtungen im Parlament hinreichend zu Wort kommen. Darüber hinaus ist ein Wechsel von Für und Wider wichtig, damit gegenseitig auf die Beiträge eingegangen werden kann. Andernfalls könnten z.B. wichtige Argumente ans Ende der parlamentarischen Debatte verlegt werden, um so einer wechselseitigen „Verhandlung“ zu entgehen.186 Art. 42 Abs. 1 Satz 1 GG und der Grundsatz effektiver Opposition verlangen die Möglichkeit eines lebendigen Diskurses zwischen den Meinungen.

II. Interfraktionelle Vereinbarungen als Auflösung des verfassungsrechtlichen Spannungsfeldes Die maßgeblichen Gesichtspunkte für die Aufteilung der Redezeit sind seit der Frankfurter Nationalversammlung unverändert. Die Aufteilung der Redezeit im Parlament ist durch interfraktionelle Vereinbarung geringstmöglich formalisiert, lässt aber gleichzeitig Spielraum für notwendige und kurzfristige Änderungen. Zu unterscheiden sind die Redezeitenverteilung in der normalen Plenardebatte, der Aktuellen Stunde und in den Ausschusssitzungen. Für die Befragung der Bundesregierung (§ 106 Abs. 2 i.V.m. Anlage 7 GO-BT) in Sitzungswochen am frühen Mittwochnachmittag um 13 Uhr (Anlage 7 Nr. 1 GO-BT) regelt § 106 Abs. 2 i.V.m. Anlage 7 Nr. 4 GO-BT eine Regeldauer von 30 Minuten, der Präsident erteilt dabei das Wort unter Berücksichtigung des § 28 Abs. 1 GO-BT (Anlage 7 Nr. 3 GO-BT). Grundsätzlich kann aber die Redezeitaufteilung sowohl im Rahmen der Befragung der Bundesregierung als auch in der anschließenden Fragestunde (Frage-AntwortSchema) nicht mit den Debatten im Plenum, in den Aktuellen Stunden oder im Ausschuss verglichen werden. 1. Plenardebatte: „Berliner Stunde“ Nach § 35 Abs. 1 Satz 1 GO-BT werden Gestaltung und Dauer der Aussprache über einen Verhandlungsgegenstand im Plenum auf Vorschlag des Ältestenrates vom 186

Schürmann, in: Morlok/Schliesky/Wiefelspütz, Parlamentsrecht, § 20 Rn. 40.

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3. Kap.: Die Redezeiten im Deutschen Bundestag

Bundestag vereinbart. Dies geschieht in der Praxis letztlich in zweifacher Weise: erstens zu Beginn der Wahlperiode durch die Ausarbeitung der sogenannten Berliner Stunde und zweitens bei der Wahl des konkreten Debattenformats für die jeweilige Aussprache am Sitzungstag. Wie bereits dargestellt erarbeitet der Ältestenrat seit der 10. Wahlperiode zu Beginn jeder Legislatur einen neuen Verteilungsschlüssel für die Redezeiten in der Plenardebatte („Bonner Stunde“ bzw. „Berliner Stunde“187). Im Vorfeld der interfraktionellen Vereinbarung im Ältestenrat kann es bereits zu Gesprächen und Vorentscheidungen zwischen einzelnen Fraktionsvertretern, in der Regel zwischen den Ersten Parlamentarischen Geschäftsführern, kommen. Das Entscheidungssystem über die Selbstorganisation des Bundestages ist polykratisch. Die Geschäftsordnung weist dem Bundestagspräsidenten (z.B. § 22 Satz 1 GO-BT), dem Ältestenrat (z.B. § 35 Abs. 1 Satz 1 GO-BT) und den Fraktionen (§ 57 Abs. 2 Satz 1 GO-BT) in verschiedener Weise Verantwortung zu. Eine Verlagerung von Vorentscheidungen innerhalb dieser Verantwortungsbereiche, z.B. vom Ältestenrat auf die Parlamentarischen Geschäftsführer, ist kein Verstoß gegen Geschäftsordnungsrecht. Die Letztentscheidung muss jedoch bei dem geschäftsordnungsrechtlich zuständigen Organteil des Bundestages bleiben.188 Die Verteilung von Redezeiten auf die Fraktionen zu Beginn jeder Wahlperiode kann als parlamentarisches Gewohnheitsrecht klassifiziert werden.189 Dagegen wird die Reichweite der relevanten Einflussfaktoren in jeder Wahlperiode aufs Neue und nicht einheitlich in Redezeit bemessen. Die „Berliner Stunde“ regelt die exakte Verteilung von Redezeiten an die unterschiedlichen Fraktionen im Rahmen einer Gesamtredezeit für verschiedene Debattenformate („Stunden“). Diese Debattenformate werden dann für die verschiedenen Aussprachen genutzt. Aussprachen sind mündliche Erörterungen eines Verhandlungsgegenstandes190 im Plenum. Im Verlauf der Wahlperiode selbst kommt es nur noch zur Festsetzung der Länge der Gesamtredezeit für die einzelnen Aussprachen, also zur Wahl des Debattenformats bzw. der Anzahl von „Berliner Stunden“. Die „Berliner Stunde“ kann dabei geteilt oder kombiniert werden, sodass kürzere bzw. längere Formate denkbar sind. In der Praxis geschieht dies wiederum

187 Vgl. insgesamt Ritzel/Bücker/Schreiner/Winkelmann, HdbPP, 30. EL Dezember 2014, Erl. I. 1. d) aa) zu § 35, S. 9 ff. In der vergangenen 18. Wahlperiode und in der aktuellen 19. Wahlperiode wurde bzw. wird das Modell der „Berliner Stunde“ insoweit modifiziert, dass formal nicht mehr nur ein circa einstündiges Debattenformat vorgegeben ist, sondern bereits mehrere Debattenformate, die sich in den vorherigen Wahlperioden aus der „Berliner Stunde“ ableiteten. Damit sind keine inhaltlichen Änderungen verbunden. 188 Auch in der 18. Wahlperiode gab es einvernehmliche Ergebnisse unter den Parlamentarischen Geschäftsführern, die im Ältestenrat Widerspruch fanden (z.B. durch den Bundestagspräsidenten) und dort nochmals zur Diskussion standen. 189 Zeh, in: Isensee/Kirchhof, HStR, Bd. 3, § 53 Rn. 31; Schuster, DÖV 2014, 516 (517); a.A. Schürmann, in: Morlok/Schliesky/Wiefelspütz, Parlamentsrecht, § 20 Rn. 39. 190 Ritzel/Bücker/Schreiner/Winkelmann, HdbPP, 30. EL Dezember 2014, Erl. I. 1. b) zu § 35, S. 8.

B. Verfassungsrechtliche Einordnung von Rederecht und Redezeit

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regelmäßig durch eine Vereinbarung der Parlamentarischen Geschäftsführer.191 Die „Berliner Stunde“ führt dazu, dass nicht jede neue Aussprache eine neue Verteilung der Redezeiten notwendig macht. Die Verteilung der Redezeiten für die einzelnen Fraktionen innerhalb einer bestimmten Debattendauer mittels der „Berliner Stunde“ folgt keinem mathematischen, sondern einem politischen Verfahren.192 Die Gemengelage der maßgeblichen Verteilungskriterien aus der Verfassung ist groß, die Anforderungen an die praktische Konkordanz193 entsprechend.194 Das Bundesverfassungsgericht stellte dazu bereits fest, dass sich eine unter allen Aspekten befriedigende Regelung nur in seltenen Fällen und auch dann meist nur um den Preis einer unangemessenen Verkomplizierung finden lassen werde.195 Für die Berechnung der „Berliner Stunde“ werden die in § 28 Abs. 1 Satz 2 GO-BT genannten Entscheidungshilfen für die Rednerreihenfolge genutzt. Den verschiedenen Gesichtspunkten kommt dabei nicht immer dieselbe Bedeutung zu.196 Die Stärke der Fraktionen bietet den Ausgangspunkt der Berechnung. Parlamentarische Funktionalität, Parteirichtung und das Prinzip von Rede und Gegenrede sind angemessen zu berücksichtigen. Die Regierungsfraktionen erhalten einen Zeitbonus für die angerechneten Regierungsreden (Art. 43 Abs. 2 Satz 2 GG) und mandatsschwächere Fraktionen oder Gruppen197 einen Zeitbonus, um ihren Standpunkt im Plenum vorbringen zu können. Auch der Opposition wurde in den vergangenen Wahlperioden ein solcher Zeitbonus gewährt.198 Mit Blick auf die Redezeitenverteilung seit Einführung eines einheitlichen Verteilungsschlüssels zu Beginn der Wahlperiode betrug die Redezeit der Koalition von der 10. Wahlperiode bis zur 17. Wahlperiode zwischen 51,5 % und 57,5 % der Gesamtredezeit (Tabelle 6). Ausnahme war lediglich die 16. Wahlperiode mit der zweiten Großen Koalition, die 63,3 % der Redezeit auf sich vereinte. Gewöhnlich entsprach die Fraktionsredezeit der ungefähren Mandatsstärke einer Fraktion. Den mandatsschwächeren Fraktionen wurde jedoch regelmäßig mehr Redezeit eingeräumt als ihnen nach ihrer Mandatsstärke zugestanden hätte. Einzige Ausnahme ist die 17. Wahlperiode, in der die Fraktion DIE LINKE nur über sieben der 60 Minuten Redezeit (11,7 %) verfügte, obwohl 12,2 % der Parlamentssitze auf sie entfielen. Ansonsten lassen sich Redezeitzuschläge für die mandatsschwächeren Fraktionen in 191

Schreiner, ZParl. 36 (2005), 573 (575), auch schon Troßmann, JöR 28 (1979), 1 (153 f.). Linn/Sobolewski, So arbeitet der Deutsche Bundestag, S. 64. 193 Schürmann, in: Morlok/Schliesky/Wiefelspütz, Parlamentsrecht, § 20 Rn. 23. 194 Da somit schon vor der Eröffnung des Verhandlungsgegenstandes eine abgestimmte Rednerliste besteht, kommt der Vorschrift des § 25 Abs. 1 GO-BT, also der Beendigung der Debatte bei Erschöpfen der Rednerliste oder fehlender Wortbeiträge keine besondere Relevanz mehr zu. 195 BVerfGE 10, 4 (20). 196 Ritzel/Bücker/Schreiner/Winkelmann, HdbPP, 30. EL Dezember 2014, Erl. I. 1. d) aa) (1) zu § 35, S. 9. 197 Dazu Besch, FS Ipsen, S. 577 ff. 198 Vgl. nur Schreiner, ZParl. 36 (2005), 573 (576). 192

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3. Kap.: Die Redezeiten im Deutschen Bundestag

Höhe von bis zu 6,4 % der Gesamtredezeit nachvollziehen. Am meisten profitierten die beiden Gruppen von PDS und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN in der 12. Wahlperiode. Hier lagen die Redezeitzuschläge sogar höher als die der Oppositionsfraktionen in der Zeit der zweiten Großen Koalition (FDP: 3,4 %, PDS: 2,9 % und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: 3,4 %). Tabelle 6 „Bonner-“ bzw. „Berliner Stunde“ von der 10. bis zur 17. Wahlperiode199 Wahlperiode, Redezeit der Koalition201 200 Debattenlänge

Redezeit der Opposition

10. Wahlperiode, Insgesamt 34,5 Min. 60 Min. (57,5 %202) CDU/CSU (49,0 %203) und FDP (6,7 %)

Insgesamt 25,5 Min. (42,5 %) SPD (38,8 %204): 20 Min./33,3 %205, DIE GRÜNEN (5,4 %): 5,5 Min./9,2 %

11. Wahlperiode, 34 Min. (55,7 %) 61 Min. CDU/CSU (45,1 %) und FDP (8,5 %)

27 Min. (44,3 %) SPD (37,2 %): 20 Min./32,8 %, DIE GRÜNEN (9,2 %): 7 Min./11,5 %

12. Wahlperiode, 36 Min. (54,5 %) 66 Min. CDU/CSU (48,2 %) und FDP (11,9 %)

30 Min. (45,5 %) SPD (36,1 %): 20 Min./30,3 %, PDS (2,6 %): 5 Min./7,6 %, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (1,2 %): 5 Min./7,6 %

13. Wahlperiode, 35 Min. (51,5 %) 68 Min. CDU/CSU (43,8 %) und FDP (7,0 %)

33 Min. (48,5 %) SPD (37.5 %): 21 Min./30,9 %, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (7,3 %): 7 Min./10,3 %, PDS (4,5 %): 5 Min./7,4 %

14. Wahlperiode, 35 Min. (51,5 %) 68 Min. SPD (44,5 %) und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (7,0 %)

33 Min. (48,5 %) CDU/CSU (36,6 %): 21 Min./30,9 %, FDP (6,4 %): 7 Min./10,3 %, PDS (5,4 %): 5 Min./7,4 %

199 Auch Fraktionslosen und „Abweichlern“ wird Redezeit eingeräumt, die aber nicht im Verteilungssystem der „Berliner Stunde“ aufgeführt wird, dazu ausführlicher Ritzel/Bücker/ Schreiner/Winkelmann, HdbPP, 12. EL September 1999, Erl. I. 5. zu § 35, S. 22. 200 Zur Redezeit werden nur Beiträge zum Verhandlungsgegenstand gerechnet, weder Erklärungen (§§ 30, 31, 32 GO-BT) noch Zwischenfragen und -bemerkungen (§ 27 Abs. 2 GO-BT) oder gar Zwischenrufe sind Teil der Debattendauer, vgl. zu Zwischenfragen aus germanistischer Sicht Burkhardt, Zwischen Monolog und Dialog, S. 560 ff. Zu Zwischenrufen ders., Zwischen Monolog und Dialog, S. 11 ff. 201 Die Redezeiten der Regierungsmitglieder sind darin enthalten. 202 Prozentualer Anteil an Gesamtredezeit. 203 Mandatsstärke der Fraktion in Prozent. 204 Mandatsstärke der Fraktion in Prozent. 205 Prozentualer Anteil an Gesamtredezeit.

B. Verfassungsrechtliche Einordnung von Rederecht und Redezeit Redezeit der Koalition201 Wahlperiode, Debattenlänge200

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Redezeit der Opposition

15. Wahlperiode, 32 Min. (51,6 %) 30 Min. (48,4 %) 62 Min. SPD (41,6 %) und CDU/CSU (41,1 %): 24 Min./38,7 %, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN FDP (7,8 %): 6 Min./9,7 % (9,1 %) 16. Wahlperiode, 38 Min. (63,3 %) 60 Min. CDU/CSU (36,8 %): 19 Min./ 31,7 % und SPD (36,2 %): 19 Min./31,7 %

22 Min. (36,6 %) FDP (9,9 %): 8 Min./13,3 %, DIE LINKE (8,8 %): 7 Min./11,7 %, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (8,3 %): 7 Min./11,7 %

17. Wahlperiode, 32 Min. (53,3 %) 60 Min. CDU/CSU (38,4 %): 23 Min./ 38,3 % und FDP (15,0 %): 9 Min./15,0 %

28 Min. (46,7 %) SPD (23,5 %): 14 Min./23,3 %, DIE LINKE (12,2 %): 7 Min./11,7 %, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (10,9 %): 7 Min./11,7 %

Die „Berliner Stunde“ gilt primär für die Redezeitenverteilung in der Plenardebatte. Vor der Abstimmung kommt es in den Lesungen in der Regel zu einer oder mehreren Aussprachen im Plenum. In der ersten Lesung findet eine Aussprache nur statt, wenn dies im Ältestenrat vereinbart oder von einer Fraktion verlangt wird.206 Dies geschieht in der Regel bei besonders relevanten Gesetzgebungsverfahren. Regelmäßig findet eine Aussprache im Rahmen der zweiten Lesung statt, in der dritten Lesung wiederum nur nach Absprache im Ältestenrat oder auf Fraktionsantrag.207 Die Debatte wird im Rahmen längerer Aussprachen in verschiedene Runden gegliedert, sodass durch einen wiederholten Wechsel von Für und Wider eine lebhafte Diskussion entstehen kann. Die Reihenfolge der Redner ist festgelegt auf ein Schema: Bei Regierungsvorlagen beginnt in der Regel die stärkste Koalitionsfraktion, darauf erwidert die stärkste Oppositionsfraktion, es folgt die zweitstärkste Koalitionsfraktion und die zweitstärkste Oppositionsfraktion, usw. Bei Koalitionsvorlagen beginnt zumeist die Fraktion, aus dessen Ministerium die Vorlage stammt. Bei Oppositionsvorlagen beginnt die antragstellende Fraktion. Die Fraktionen sind aber darin frei, die Anzahl der Redner zu bestimmen.208 Kurze Beiträge und eine zügige Abwechslung sollen die Debattenqualität fördern und für das Publikum anschaulicher machen. Fraktionen oder Gruppen können ihre Redezeiten aber nicht beliebig „zusammenfassen“, um längere Übertragungszeiten im Fernsehen zu erreichen.209 206

Linn/Sobolewski, So arbeitet der Deutsche Bundestag, S. 112. Dies., So arbeitet der Deutsche Bundestag, S. 129 f. 208 Ritzel/Bücker/Schreiner/Winkelmann, HdbPP, 30. EL Dezember 2014, Erl. I. 1. d) aa) zu § 35, S. 9. 209 BVerfGE 96, 264 (284 ff.); dazu Ritzel/Bücker/Schreiner/Winkelmann, HdbPP, 23. EL März 2006, Erl. I. 1) a) aa) (3) zu § 35, S. 12 f.; Besch, in: Schneider/Zeh, Parlamentsrecht und Parlamentspraxis, § 33 Rn. 57. 207

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3. Kap.: Die Redezeiten im Deutschen Bundestag

2. Aktuelle Stunde: Fünf-Minuten-Beiträge Für Aktuelle Stunden (§ 106 Abs. 1 i.V.m. Anlage 5 GO-BT) gilt die „Berliner Stunde“ nicht. Die Aktuelle Stunde ist eine besondere Debattenform im Plenum. Sie dauert anders als ihr Name vermuten lässt nicht immer exakt eine Zeitstunde. Die Gesamtlänge orientiert sich vielmehr an der Anzahl der Redebeiträge. Die Redner sprechen höchstens fünf Minuten. Seit der 12. Wahlperiode lag die Anzahl der Redebeiträge jedoch nicht immer bei zwölf, sodass es teilweise zur Abweichung von der Zeitstunde kam. Die Fünf-Minuten-Blöcke werden verteilt nach der Stärke der Fraktionen. Nicht wahrgenommene Redezeit verkürzt die Aussprache insgesamt, d.h. sie entfällt. Interfraktionell können weitere Modifizierungen stattfinden.210 Verlangen Mitglieder von Bundesrat oder Bundesregierung das Wort, wird ihre Redezeit nicht auf die jeweiligen Fraktionsblöcke angerechnet, allerdings wird die Aussprache nach Überschreitung der Redezeit über 30 Minuten insgesamt um 30 Minuten verlängert. Außerdem findet sich eine weitere Ausgleichsmöglichkeit, wenn Mitglieder von Bundesrat oder Bundesregierung in der Aussprache so spät das Wort ergreifen, dass keine Zeit mehr für eine Erwiderung bleibt. Dann kann auf Verlangen einer Fraktion allen Fraktionen noch einmal das Wort erteilt werden (Anlage 5 Nr. 6 bis 9 GO-BT). Fraktionslosen und „Abweichlern“ muss das Wort ebenso erteilt werden, wenn es im Einzelfall geboten ist. Hier besitzt der Präsident wie auch in der Plenardebatte einen Entscheidungsspielraum, wobei er im Zweifel zugunsten des Rederechts nach Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG zu entscheiden hat.211 Auch im Rahmen der Aktuellen Stunden wurde den mandatsschwächeren Fraktionen in der Regel mehr Redezeit zugestanden, als ihnen im Verhältnis zu ihrer Mandatsstärke zustand (Tabelle 7). Die Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN erhielt z.B. in der 14. Wahlperiode einen Redezeitzuschlag von 9,7 % und in der 15. Wahlperiode von 7,6 % der Gesamtredezeit, doch es kam wie in der 16. und 17. Wahlperiode auch schon zu Redezeitverkürzungen für die mandatsschwächeren Fraktionen in der Aktuellen Stunde. Die Redebeiträge wurden stets gleichmäßig auf Koalition und Opposition verteilt, der Unterschied war nie größer als ein Redebeitrag je fünf Minuten. Ausnahme ist wiederum die 16. Wahlperiode, damals betrug das Verhältnis acht Redebeiträge je fünf Minuten für die Koalition zu drei Redebeiträge je fünf Minuten für die Opposition.

210 Ritzel/Bücker/Schreiner/Winkelmann, HdbPP, 30. EL Dezember 2014, Erl. Nr. 6 I. 1. a) zu Aktuelle Stunde (Anlage 5), S. 13. 211 Dies., HdbPP, 3. EL Januar 1985, Erl. Nr. 8 d) zu Aktuelle Stunde (Anlage 5), S. 18 f.

B. Verfassungsrechtliche Einordnung von Rederecht und Redezeit

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Tabelle 7 Redezeitenverteilung in den Aktuellen Stunden von der 12. bis zur 17. Wahlperiode212 Wahlperiode, Redebeiträge, Debattenlänge

Verteilung der Redebeiträge

12. Wahlperiode, dreizehn Redebeiträge je fünf Minuten, insgesamt 65 Min.

CDU/CSU (48,2 %): 5 (38,5 %), SPD (36,1 %): 4 (30,8 %), FDP (11,9 %): 2 (15,4 %), PDS (2,6 %): 1 (7,7 %), BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (1,2 %): 1 (7,7 %)

13. Wahlperiode, zwölf Redebeiträge und ein zusätzlicher Redebeitrag für die antragstellende Fraktion, insgesamt 65 Min.

CDU/CSU (43,8 %): 5 (41,7 %), SPD (37,5 %): 4 (33,3 %), BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (7,3%): 1 (8,3 %), FDP (7,0 %): 1 (8,3 %), PDS (4,5 %): 1 (8,3 %)

14. Wahlperiode, zwölf Redebeiträge und ein zusätzlicher Redebeitrag für die antragstellende Fraktion, insgesamt 65 Min.

SPD (44,5 %): 4 (33,3 %), CDU/CSU (36,6 %): 4 (33,3 %), BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (7,0 %): 2 (16,7 %), FDP (6,4 %): 1 (8,3 %), PDS (5,4 %): 1 (8,3 %)

15. Wahlperiode, zwölf Redebeiträge und ein zusätzlicher Redebeitrag für die antragstellende Fraktion, insgesamt 65 Min.

SPD (41,6 %): 4 (33,3 %), CDU/CSU (41,1 %): 4 (33,3 %), BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (9,1 %): 2 (16,7 %), FDP (7,8 %): 1 (8,3 %)

16. Wahlperiode, elf Redebeiträge und ein zusätzlicher Redebeitrag für die antragstellende Fraktion, insgesamt 60 Min.

CDU/CSU (36,8 %): 4 (36,4 %), SPD (36,2 %): 4 (36,4 %), FDP (9,9 %): 1 (9,0 %), PDS (8,8 %): 1 (9,0 %), BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (8,3 %): 1 (9,0 %)

17. Wahlperiode, elf Redebeiträge und ein zusätzlicher Redebeitrag für die antragstellende Fraktion, insgesamt 60 Min.

CDU/CSU (38,4 %): 4 (36,4 %), SPD (23,5 %): 3 (27,3 %), FDP (15,0 %): 2 (18,2 %), DIE LINKE (12,2 %): 1 (9,0 %), BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (10,9 %): 1 (9,0 %)

212 Ritzel/Bücker/Schreiner/Winkelmann, HdbPP, 30. EL Dezember 2014, Erl. Nr. 6 I. 1. a) zu Aktuelle Stunde (Anlage 5), S. 13.

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3. Kap.: Die Redezeiten im Deutschen Bundestag

3. Ausschusssitzung: open end-Verfahren Nach § 59 Abs. 2 GO-BT erteilt der Ausschussvorsitzende das Wort in der Reihenfolge der Wortmeldungen unter Berücksichtigung des Grundsatzes des § 28 Abs. 1 Satz 2 GO-BT. Anders als diese Vorschrift vermuten lässt, gibt es in der parlamentarischen Praxis der Fachausschüsse jedoch keine spezielle Redezeitenverteilung, d.h. grundsätzlich kann jeder Abgeordnete, unabhängig von der Fraktion, sprechen.213 Die Ausschusssitzungen verfahren in der Regel nach einem open end-Prinzip. In Ausschusssitzungen sind die Einflussmöglichkeiten der einzelnen Abgeordneten größer als im Plenum,214 wenngleich die Fraktionen auch in der Ausschussarbeit allgegenwärtig sind. Sie können ihre Abgeordneten für die Ausschüsse benennen und auch abberufen,215 das gleiche gilt für Obleute und Berichterstatter. Sie schlagen zudem einen möglichen Ausschussvorsitzenden und seinen Stellvertreter vor. Die Fraktionen sind über den Gang der Dinge im Ausschuss stets im Bilde. Dennoch handelt es sich bei der Ausschussarbeit um die Kernarbeit des Abgeordneten im Parlament. In dessen Arbeitsumfeld hat er mehr Entfaltungsspielraum als im vollbesetzten Plenum. Die hervorgehobene Stellung der einzelnen Abgeordneten im Ausschuss kommt eindrucksvoll durch einen systematischen Vergleich zweier Geschäftsordnungsvorschriften zum Ausdruck: § 25 Abs. 2 Satz 3 GO-BT erlaubt die Abstimmung eines Antrages auf Schluss der Aussprache im Plenum erst dann, wenn jede Fraktion mindestens einmal zu Wort gekommen ist. Dagegen regelt § 71 Abs. 3 GO-BT für den Ausschuss, dass ein Antrag auf Schluss der Aussprache frühestens dann zur Abstimmung gestellt werden darf, wenn erstens jede Fraktion Gelegenheit hatte, zur Sache zu sprechen und zweitens von der jeweiligen Fraktionsauffassung abweichende Meinungen von Abgeordneten vorgetragen werden konnten. Sofern die Funktionsfähigkeit der Ausschussarbeit aufgrund ausufernder Besprechungen dennoch gefährdet ist, kann der Ausschuss sich freilich auf eine Begrenzung der Debattendauer einigen und auch ein Redezeitmodell im Sinne der „Berliner Stunde“ verabreden. Tatsächlich aber geschieht die Aufteilung von Sitzungszeit hauptsächlich im Rahmen von öffentlichen Ausschusssitzungen und Anhörungen, insbesondere im Rahmen von Sitzungen der Untersuchungsausschüsse (Art. 44 Abs. 1 Satz 1 GG).216 Die Anzahl der Sachverständigen je Fraktion orientiert sich an ihrer Mandatsstärke (siehe auch § 70 Abs. 2 Satz 2 GO-BT). Kann die eine Fraktion mehr Experten laden als die andere, wird ihr auch mehr Zeit eingeräumt. Es finden ebenfalls Expertenladungen statt, bei denen alle Fraktionen paritätisch die gleiche Anzahl an Experten bestellen kann. Auch hier wirkt das weitreichende Selbstorganisationsrecht des Art. 40 Abs. 1 Satz 2 GG fort. Im Rahmen von Expertenladungen kommt es vor allem aus Organisationsgründen zu einer bestimmten 213

Winkelmann, in: Morlok/Schliesky/Wiefelspütz, Parlamentsrecht, § 23 Rn. 56. Vgl. BVerfGE 80, 188 (221 f.). 215 Linn/Sobolewski, So arbeitet der Deutsche Bundestag, S. 37. 216 Siehe dazu Susanne Mittag (SPD), in: BT-Plenarprotokoll 18/243 vom 29. Juni 2017, S. 24957 (C). 214

C. Verfassungsrechtliche Pflicht zur Verlängerung der Redezeit

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Zeitaufteilung. Die Interessen der Experten werden im Zweifel ebenfalls berücksichtigt.

III. Anforderungen an die Redeordnung im Parlament der qualifizierten Großen Koalition Eine streng proportionale Ausgestaltung der Redezeitenverteilung führt in Zeiten qualifizierter Großer Koalitionen zu langen Redezeiten für die Koalition und zu kurzen Redezeiten für die Opposition. Es kommt zu einer Minimierung von Rede und Gegenrede: In der 5. Wahlperiode hätten der damaligen FDP-Opposition bei einer auf 60 Minuten begrenzten Debattendauer nur sechs von 60 Minuten Redezeit zugestanden. In der 18. Wahlperiode wären der Koalition bei einer rein proportionalen Redezeitenverteilung 48 Minuten zugewiesen worden, die Oppositionsfraktionen hätten zusammen zwölf Minuten Redezeit erhalten. Dagegen erhält die Opposition der aktuellen nicht-qualifizierten Großen Koalition der 19. Wahlperiode in der Plenardebatte ihrer Mandatsstärke entsprechend fast die Hälfte der Redezeit, 27 von 60 Minuten. Doch auch in der 16. Wahlperiode, während der nicht-qualifizierten Großen Koalition von 2005 bis 2009, hätten die Redner der drei Oppositionsfraktionen zusammen mit nur 16 von 60 Minuten Redezeit auskommen müssen. Große Koalitionen – qualifizierte oder solche, die annähernd viele Mandate auf sich vereinigen – stellen die parlamentarische Redeordnung folglich vor besondere Herausforderungen.

C. Verfassungsrechtliche Pflicht zur Verlängerung der Redezeit für die Opposition angesichts qualifizierter Großer Koalitionen Zu untersuchen ist, ob es in Zeiten besonders mandatsstarker Großer Koalitionen verfassungsrechtlich geboten ist, die Redezeit der Oppositionsfraktionen trotz ihrer geringen Sitzanzahl im Parlament derart zu erhöhen, dass zwischen Koalition und Opposition ein ungefähres Gleichgewicht besteht.217 Die Ausarbeitung einer „Berliner Stunde“ bzw. allgemein der Redezeiten für bestimmte Debattenformate findet nicht rein mathematisch am Maßstab der Proportionalität statt. Sie nutzt den Spiegelbildlichkeitsgrundsatz lediglich als Ausgangspunkt. Die Redezeitaufteilung anhand der Stärke der jeweiligen Fraktionen hat wie oben erörtert den Zweck, allen Abgeordneten die gleiche Chance auf Redezeit einzuräumen. Die Mandatsgleichheit 217

Für eine solche Pflicht sind Cancik, NVwZ 2014, 18 (23); Schuster, DÖV 2014, 516 (519), Mahrenholz, FS Hufen, S. 206; ähnlich Schürmann, in: Morlok/Schliesky/Wiefelspütz, Parlamentsrecht, § 20 Rn. 43. Zweifel an einer verfassungsrechtlichen Pflicht hat Hölscheidt, ZG 30 (2015), 246 (257); ebenso ablehnend Brocker, in: Epping/Hillgruber, GG, 37. Edition Mai 2018, Art. 42 Rn. 5.2.

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3. Kap.: Die Redezeiten im Deutschen Bundestag

spricht also gerade gegen die pauschale Verlängerung der Redezeit von Oppositionsfraktionen in Zeiten Großer Koalitionen.218 Nur besondere Grundgesetzpositionen können gegen die Mandatsgleichheit in Stellung gebracht werden, um eine solche Verfassungspflicht zu begründen. Als solche kommen der verfassungsrechtliche Minderheitenschutz und das Prinzip von Rede und Gegenrede in Betracht.

I. Anforderungen des parlamentarischen Minderheitenschutzes an die Redezeitaufteilung in Zeiten qualifizierter Großer Koalitionen Das Rederecht ist als Abgeordnetenrecht und damit als Minderheitenrecht zu klassifizieren.219 Das Verhältnis von Mandatsgleichheit und Minderheitenschutz ist vielschichtig. Mandatsgleichheit bewirkt Minderheitenschutz, gleichzeitig begrenzt sie ihn. Andersherum ist auch parlamentarischer Minderheitenschutz in bestimmten Konstellationen in der Lage die formale Mandatsgleichheit einzuschränken, sofern dieser Minderheitenschutz gleichermaßen für alle Parlamentarier gilt.220 Aufgeworfen wurde die Frage nach dem Verhältnis zwischen Mandatsgleichheit und Minderheitenschutz bisher weniger im Rahmen der Verteilung von Redezeiten als bei der Verteilung von Ausschusssitzen.221 Die Stoßrichtung ist die gleiche. Es geht um den Schutz parlamentarischer Minderheiten (und nicht etwa der Opposition), die angesichts ihrer zahlenmäßigen Schwäche kaum die Möglichkeit haben, sich im Willensbildungsprozess bemerkbar zu machen. Minderheitenschutz ist hier möglich, da weder Redezeit noch die alleinige Ausschussmitgliedschaft zu einer Veränderung beim entscheidenden Abstimmungsverhalten im Plenum führen. Auf Kommunalebene gibt es teilweise gesetzliche Grundlagen für solche Ungleichbehandlungen aus Gründen des Minderheitenschutzes, gleichwohl es sich bei Gemeinderäten nicht um Parlamente handelt. In § 71 Abs. 4 Satz 1 KomVG Niedersachsen wird z.B. den Fraktionen und Gruppen, auf die bei der Sitzverteilung kein Ausschusssitz entfallen, das Recht zugewiesen, ein zusätzliches Mitglied mit beratender Stimme zu entsenden. Der parlamentarische Minderheitenschutz kann eine Verfassungspflicht zur Schaffung längerer Redezeiten für die Opposition jedoch erst dann erzwingen, wenn die parlamentarische Minderheit ihren Standpunkt nicht mehr verständlich darstellen kann. Die einer parlamentarischen Minderheit spiegelbildlich zustehende Redezeit kann sehr gering ausfallen, theoretisch gar die Fünf-Prozent-Hürde unterschreiten, wenn Abgeordnete als Direktkandidaten in den Bundestag einzögen oder ihre Fraktion verließen. In diesen Fällen ist zu gewährleisten, dass die Abgeordneten sich 218

Schuster, DÖV 2014, 516 (521); Ingold, Das Recht der Oppositionen, S. 626. Di Fabio, Der Staat 29 (1990), 599 (611 f.). 220 Siehe schon 2. Kapitel B. II. 6. b). 221 Vgl. zur Grundmandatsproblematik restriktiv BVerfGE 84, 304 (323 f., 332); dem z.B. folgend für die Kommunalebene VerfGH Rheinland-Pfalz, Beschluss vom 23. Mai 2014 – VGH B 22/13 –, juris Rn. 18; kritisch Dreier, JZ 1990, 310 (316 ff.). 219

C. Verfassungsrechtliche Pflicht zur Verlängerung der Redezeit

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in den Willensbildungs- und Entscheidungsprozess einbringen können, auch in die parlamentarische Debatte. Dies gilt jedoch auch abseits der typischen Trennlinie zwischen Koalition und Opposition, die sich zwar selten, aber nicht nur bei Abstimmungen ohne Fraktionsdisziplin als beweglich erweisen kann. Dies zeigt die Debatte vom 22. September 2011 um den Euro-Rettungsschirm.222 Der damalige Bundestagspräsident Lammert erteilte den Abgeordneten Klaus-Peter Willsch (CDU) und Frank Schäffler (FDP) außerhalb des Redezeitenkontingents für jeweils fünf Minuten das Wort, obwohl sie nicht von den Fraktionen als Redner aufgeführt wurden. Von der Fraktionslinie abweichende Positionen müssen in der Plenardebatte artikulierbar sein.223 Ein Vorstoß zur Änderung der Geschäftsordnung, der eine Verpflichtung des Bundestagspräsidenten zur Einhaltung der Fraktionsrednerliste vorsah, scheiterte vor allem am Widerstand der Öffentlichkeit. Auch in der Wissenschaft wurde einem solchen Zwang richtigerweise ein Riegel vorgeschoben.224 Dem Bundestagspräsidenten kann nicht verboten werden, Redner zu Wort kommen zu lassen, die sich nicht auf Fraktionslinie befinden. Im Gegenteil: Das Rederecht nach Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG gebietet es sogar, Abgeordnete zu Wort kommen zu lassen, die eine andere Meinung als die der Fraktion kundtun möchten, solange dies den Parlamentsbetrieb nicht unangemessen stört. Das Rederecht der einzelnen Abgeordneten bleibt trotz der zulässigen „Fraktionalisierung“ der Redezeitaufteilung im Bundestag erhalten. Während aller Großen Koalitionen im Deutschen Bundestag erreichte die Opposition jedoch noch genügend Mandate, um ihren Standpunkt in der parlamentarischen Debatte verständlich darzustellen. Der Minderheitenschutz in Form des Rederechts nach Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG gebietet folglich keine verlängerte Redezeit für die Opposition in Zeiten qualifizierter Großer Koalitionen.

II. Rede und Gegenrede in Zeiten qualifizierter Großer Koalitionen Höher sind die Anforderungen, die das Prinzip von Rede und Gegenrede im Sinne des parlamentarischen Verhandlungsgrundsatzes nach Art. 42 Abs. 1 Satz 1 GG an die Plenardebatte im Bundestag stellt. Hier geht es nicht nur um die Möglichkeit, den eigenen politischen Standpunkt darzustellen. Eine Verhandlung setzt darüber hinaus voraus, dass die politischen Kontrahenten in der Lage sein müssen, ihre Verhandlungspositionen gegenüberzustellen, zu erwidern und zu anderen Meinungen Stellung zu beziehen. Der parlamentarische Verhandlungsgrundsatz schützt nicht vor „langweiligen“ Plenardebatten. Das Interesse an der öffentlichen Plenardebatte 222 Siehe dazu BT-Plenarprotokoll 17/130 vom 29. September 2011, S. 15226 (A) und 15230 (A) f.; zur Problematik statt Vieler nur Cancik, VVDStRL 72 (2013), 268 (274 Fn. 20); Ingold, Das Recht der Oppositionen, S. 397. 223 In diese Richtung BVerfGE 10, 4 (15); vgl. auch Ritzel/Bücker/Schreiner/Winkelmann, HdbPP, 29. EL September 2013, Erl. I. 5. b) aa) zu § 35, S. 24.1. 224 Ingold, Das Recht der Oppositionen, S. 397 ff.

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3. Kap.: Die Redezeiten im Deutschen Bundestag

„darf“ in Zeiten Großer Koalitionen abnehmen.225 Es gibt keine Pflicht zum Streit, Einigkeit ist erlaubt. Das Prinzip von Rede und Gegenrede sowie der parlamentarische Verhandlungsgrundsatz schützen jedoch die Möglichkeit zur kontroversen Debatte. In der Plenardebatte im parlamentarischen Regierungssystem der Bundesrepublik trennt die Konfliktlinie vor allem Regierungsmehrheit und Opposition. 1. Parlamentarische Öffentlichkeitsverpflichtung und Kontrollauftrag Schuster erkennt im Prinzip von Rede und Gegenrede einen zwingenden verfassungsrechtlichen Grund für die Pflicht zur Anpassung der Redezeitenverteilung in Zeiten besonders mandatsstarker Großer Koalitionen.226 Er stellt dabei auf einen prononcierten Nexus zwischen „Öffentlichkeitsverpflichtung“ und oppositioneller Kontrollfunktion in der parlamentarischen Willensbildung ab: „Der Bundestag darf bei der Ausgestaltung seiner Geschäftsordnung nicht nur seine Entscheidungsfähigkeit im Blick haben. Ebenso muss er seinen Funktionsauftrag als zentrales Volksvertretungsorgan in einer repräsentativen Demokratie, den parlamentarischen Minderheitenschutz und seinen Kontrollauftrag beachten. Die öffentliche parlamentarische Debatte ist in einer repräsentativen Demokratie ein unabdingbares Instrument zur vollumfänglichen Ausführung dieses Funktionsauftrages […] Für die Öffentlichkeit vollziehen sich der Kontrollauftrag des Bundestags und seine Aufgaben im System der Gewaltenteilung in der parlamentarischen Debatte.“227

Schusters Begründung für eine Anpassungspflicht der Redezeitenverteilung leitet sich aus der öffentlichen Verhandlung nach Art. 42 Abs. 1 Satz 1 GG in Verbindung mit dem Gewaltenteilungsgrundsatz aus Art. 20 Abs. 2 GG ab.228 Der besonderen Kontrollfunktion der Opposition im parlamentarischen Regierungssystem müsse auch in der Plenardebatte ausreichend Raum zur Verfügung gestellt werden. Richtig ist, dass die öffentliche Verhandlung des Bundestages in einer repräsentativen Demokratie eine Rückkoppelung zwischen Volksvertreter und Wahlvolk, nämlich Transparenz und Nachvollziehbarkeit, bezweckt.229 Die Parlamentsöffentlichkeit ist unabdingbares Resultat eines Kontrollanspruchs des Souveräns.230 Eine öffentliche 225 Vgl. aus der Politikwissenschaft Ismayr, GWP 2016, 53 (59 f.); insgesamt zum Interesse an Plenardebatten Hierlemann/Sieberer, Sichtbare Demokratie. 226 Schuster, DÖV 2014, 516 (524): „Eine Durchbrechung des grundlegenden Prinzips der ,Rede und Gegenrede‘ ist bei einer solchen Verteilung [wie in der 18. Wahlperiode] unvermeidbar.“; ähnlich Schürmann, in: Morlok/Schliesky/Wiefelspütz, Parlamentsrecht, § 20 Rn. 42 f. 227 Schuster, DÖV 2014, 516 (525). 228 Cancik, NVwZ 2014, 18 (23). 229 Brocker, in: Epping/Hillgruber, GG, 37. Edition Mai 2018, Art. 42 Rn. 1. Vgl. auch Zeh, in: Schneider/Zeh, Parlamentsrecht und Parlamentspraxis, § 32 Rn. 8 ff. 230 Vgl. Morlok, in: Dreier, GG, Bd. 2, Art. 42 Rn. 20; Schliesky, in: v. Mangoldt/Klein/ Starck, GG, Bd. 2, Art. 42 Rn. 14; Klein, in: Maunz/Dürig, GG, 69. EL Mai 2013, Art. 42 Rn. 9. Kritisch Mahrenholz, FS Hufen, S. 202.

C. Verfassungsrechtliche Pflicht zur Verlängerung der Redezeit

259

Verhandlung legitimiert den demokratischen Willensbildungs- und Entscheidungsprozess. Richtig ist auch, dass Regierungskontrolle durch das Parlament und durch die Bürger nicht gänzlich unabhängig voneinander sind, gleichwohl das Wahlvolk in seinem Kontrollanspruch nicht auf die parlamentarische Opposition angewiesen ist. Daher ist in der parlamentarischen Verhandlung sicherzustellen, dass das Wahlvolk umfassend über die verschiedenen Meinungen zu einem Sachgegenstand im Parlament – Rede und Gegenrede – informiert wird. Argumente dürfen nicht derart gestreut werden können, dass die Opposition in einer Großen Koalition mangels „aufgebrauchter“ Redezeit nicht mehr darauf reagieren kann.231 Wenn oppositionelle Kontrolle in der Plenardebatte nicht dargestellt werden kann, sind die Kontrollmöglichkeiten des Wahlvolkes ebenfalls eingeschränkt. Oppositionelle Kontrolle erhält ihre Machtwirkung durch Öffentlichkeitsbezug.232 Sofern nun in Zeiten Großer Koalitionen keine Debatte mehr entstehen kann, weil hauptsächlich Zeit für das Für von Regierung und Parlamentsmehrheit und kaum Zeit für das Wider der Opposition bleibt, büßt auch die Kontrollkomponente der Plenardebatte ein. In der 18. Wahlperiode stand der Opposition so wenig Redezeit zur Verfügung wie nie zuvor,233 da der FDP-Opposition in der 5. Wahlperiode häufig paritätisch Redezeit zugebilligt wurde. Aus diesem Grund hält Schuster eine Durchbrechung des Proporzprinzips zugunsten einer effektiven Parlamentskontrolle in der 18. Wahlperiode für verfassungsrechtlich geboten. Entschärft würde die Einschränkung der Mandatsgleichheit dadurch, dass sich an der Stimmenmehrheit der Koalition nichts ändert. Lediglich der Entscheidungsweg werde den Notwendigkeiten eines gewaltenteilenden Systems angepasst.234 Die Trennlinie im Parlament zwischen Koalition und Opposition müsse in der parlamentarischen Debatte erkennbar bleiben. Das Postulat für eine Verlängerung der Redezeit der Opposition in Zeiten wie der 18. Wahlperiode ist jedoch defizitär: Der Hauptteil der Regierungskontrolle findet gerade nicht innerhalb der parlamentarischen Debatte statt. Vielmehr geht es, wie Mahrenholz richtig feststellt, um den Wettbewerb zur bestmöglichen Einflussnahme auf die öffentliche Meinung im Sinne der Machtausübung oder mit dem Ziel der Machtgewinnung.235 Kontrolle bedeutet vor allem Informationsgewinnung von 231

Schuster, DÖV 2014, 516 (524). Vgl. nochmals Schneider, in: ders./Zeh, Parlamentsrecht und Parlamentspraxis, § 38 Rn. 19. 233 Siehe die Redezeitenverteilung im Verhältnis zwischen Koalition (inklusive Regierung) und Opposition seit der 10. Wahlperiode bei etwa einer Stunde Redezeit. 1983 – 1987 (Kleine Koalition): 57,5 % Redezeit für die Koalition, inklusive Regierung/42,5 % Redezeit für die Opposition; 1987 – 1990 (Kleine Koalition): 55,7 %/44,3 %; 1990 – 1994 (Kleine Koalition): 54,5 %/45,5 %; 1994 – 1998 (Kleine Koalition): 51,5 %/48,5 %; 1998 – 2002 (Kleine Koalition): 51,5 %/48,5 %; 2002 – 2005 (Kleine Koalition): 51,6 %/48,4 %; 2005 – 2009 (Große Koalition): 63,3 %/36,6 %; 2009 – 2013 (Kleine Koalition): 53,3 %/46,7 %; 2013 – 2017 (Große Koalition): 73,3 %/26,7 %; seit der Bundestagswahl 2017 (Große Koalition): 55 %/45 %. Siehe schon 3. Kapitel B. II. 1. 234 Schuster, DÖV 2014, 516 (525). 235 Mahrenholz, FS Hufen, S. 202. 232

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3. Kap.: Die Redezeiten im Deutschen Bundestag

innen und deren Kommunikation nach außen.236 Das Tableau parlamentarischer Kontrollmöglichkeiten misst sich von Fragerechten wie der Großen und Kleinen Anfrage, Aktuellen Stunden, Fragestunden über Untersuchungsausschüsse und Normenkontrollen bis hin zum Budgetrecht des Parlaments.237 In Zeiten qualifizierter Großer Koalitionen kann die Opposition zwar eine Reihe dieser wesentlichen Kontrollrechte nicht wahrnehmen. Mehr Redezeit für die parlamentarische Opposition eignet sich jedoch nicht für eine Kompensation dieses Defizits der Kontrollmöglichkeiten. Die Plenardebatte dient der parlamentarischen Opposition nämlich in erster Linie dazu, ihrer Kritik- und Alternativfunktion nachzukommen. Sie ist der Ort, wo die oppositionelle Minderheit die Vorstellungen der Mehrheit kritisieren und gleichzeitig eigene Meinungen vortragen kann.238 Die Herleitung einer Verfassungspflicht zur Verlängerung der Redezeiten der Opposition kann nicht auf den besonderen Kontrollauftrag der Opposition gestützt werden.239 2. Parität als parlamentarisches Pflichtprogramm? Mahrenholz stellt ähnlich wie Schuster die Öffentlichkeit der Plenarsitzung in den Mittelpunkt der Diskussion um die parlamentarische Redezeitaufteilung. Es sei unausweichlich parteipolitische Bevormundung und Benachteiligung des Publikums, sofern eine quantitativ differenzierende am Wahlergebnis ausgerichtete Struktur in die Öffentlichkeit des Art. 42 Abs. 2 Satz 1 GG hineingelesen werde. Dies wäre das Gegenteil von dem, was Öffentlichkeit begrifflich besage, dass ihr nämlich keine parteipolitisch zu quantifizierende Struktur innewohnen könne. Der Öffentlichkeit des Bundestages entspreche daher nur die gleiche Redezeit für jede Fraktion.240 Seines Erachtens sei es nicht fernliegend, dass das Bundesverfassungsgericht im Zweifelsfall dem paritätischen Gliederungsprinzip den Vorrang gegenüber dem Proporz gebe. Ob der ehemalige Verfassungsrichter Mahrenholz seinen beruflichen Nachfolgern eine solche Entscheidung auch nach dem Urteil zu den Minderheiten- und Oppositionsrechten von 2016 noch zutraut, ist aber zu bezweifeln. Die Grundannahme von Mahrenholz, die parlamentarische Rede habe nicht nur die Bundestagsmitglieder, sondern insbesondere die Öffentlichkeit als Adressaten, ist wesentlich. Eine verfassungsrechtliche Pflicht zur Einführung einer paritätischen Redezeitaufteilung kann allein aus dieser Feststellung aber nicht resultieren. Sie 236 Die Plenardebatte bietet Raum für die Einbindung der Öffentlichkeit in den Informationsprozess. Der Opposition bleiben aber neben der Plenardebatte zahlreiche weitere Informationskanäle, z.B. gehören Einzelinterviews, Pressekonferenzen oder Politrunden zum Repertoire der täglichen politischen Berichterstattung. 237 Vgl. Ingold, Das Recht der Oppositionen, S. 243 ff. Zu den Fragerechten überblicksartig Siefken, ZParl. 41 (2010), 18 (20 ff.). 238 So schon BVerfGE 44, 308 (321); auch BVerfGE 142, 25 (63). 239 A.A. Schuster, DÖV 2014, 516 (525). 240 Mahrenholz, FS Hufen, S. 206.

C. Verfassungsrechtliche Pflicht zur Verlängerung der Redezeit

261

ignoriert zum einen die Mandatsgleichheit. Zum anderen stößt ein Paritätsprinzip immer dann an Grenzen, wenn wenige Fraktionen vielen Fraktionen im Dualismus von Regierung und Opposition gegenüberstehen. Dann ist dem Prinzip von Rede und Gegenrede keinesfalls gedient, es handelt sich bei der paritätischen Redezeitenverteilung eben nur um ein „meist verläßliches“241 Mittel zur Erreichung von Rede und Gegenrede. In dem einen Parlament kann sich das Paritätsprinzip als optimal erweisen,242 im dem anderen als verfassungswidrig.243 In der Öffentlichkeit entstünde nicht nur ein verzerrtes Meinungsbild, wenn der einen Regierungsfraktion nur ein Bruchteil der Redezeit zustünde, weil ihr etwaige Oppositionsfraktionen gegenüberstünden; die verschiedenen Richtungen innerhalb einer großen Fraktion würden ebenso radiert. Die Öffentlichkeitsfunktion gebietet kein besonderes Gliederungsprinzip, weder Parität noch Proporz, sondern die Sichtbarmachung aller im Parlament vertretenen Positionen.244 Es bestehen zudem praktische Bedenken gegen eine Anpassungspflicht der Redezeit für die Opposition in Phasen Großer Koalitionen: Zunächst variiert die parlamentarische Opposition in ihrer Abgeordnetenzahl, selbst im Rahmen qualifizierter Großer Koalitionen. In Zeiten von Allparteienbündnissen gibt es keine organisierte Parlamentsopposition, sie kann theoretisch nur über einen Abgeordneten verfügen oder aber nur knapp am Viertelquorum scheitern. Wenn die Verfassung Allparteienregierungen zulässt, ist eine pauschalisierende Forderung nach der Verteilung von Redezeiten auf Koalition und Opposition nicht überzeugend. Außerdem widerspricht eine schematische Verfassungspflicht zur Verlängerung der Redezeit für die Opposition in Phasen Großer Koalitionen dem kaum dezisionistischen Rechtscharakter einer Redezeitaufteilung. Die Bedenken gegen eine Quantifizierung parlamentarischer Redezeit in Phasen Großer Koalitionen liegen auf der Hand: Fraglich bliebe, ob der Opposition so viel Redezeit wie in Phasen Kleiner Koalitionen zustehen solle, gar die Hälfte der Redezeit, oder mit Verweis auf Art. 44 Abs. 1 Satz 1 GG ein Viertel der Redezeit. Redezeiten lassen sich gerade nicht in ein dualistisches System „rechtmäßig – rechtswidrig“ einordnen. Schließlich existieren auch während qualifizierter Großer Koalitionen weitere oppositionelle Einflussmöglichkeiten auf die Plenardebatte: Den Oppositionsfraktionen steht es z.B. frei, ihre Redezeit auf mehrere Redner aufzuteilen, um somit die Chance, auf andere Redebeiträge einzugehen, zu erhöhen.245 Die untechnische 241

Scholz, ZParl. 13 (1982), 24. Im 19. Deutschen Bundestag mit jeweils drei Fraktionen auf Regierungs- und auf Oppositionsseite erscheint ein zumindest vermehrter Einsatz von paritätischen Redezeitrunden durchaus zweckmäßig. Siehe 3. Kapitel A. III. 2. 243 Im Zusammenhang des Steigerungsbetrages für Fraktionen Hölscheidt, Das Recht der Parlamentsfraktionen, S. 603. 244 Demmler, Der Abgeordnete im Parlament der Fraktionen, S. 471. 245 Die Oppositionsfraktionen entschieden sich in der 18. Wahlperiode jedoch regelmäßig dafür, wenige Redner sprechen zu lassen. Zum einen liegt dies darin begründet, dass eine Redezeit unter drei bis fünf Minuten oftmals nicht ausreicht, um eine Ansicht verständlich 242

262

3. Kap.: Die Redezeiten im Deutschen Bundestag

Rednerliste im Bundestag wird von den Schriftführern erst im Plenum erstellt. Daher wurden auch während der Sitzungen bisweilen kurzfristig Änderungen herbeigeführt, teilweise auch auf Vorschlag des Bundestagspräsidenten, um z.B. einer Ministerrede einen oppositionellen Beitrag folgen zu lassen. Abgeordneten der parlamentarischen Opposition stehen neben der regulären Fraktionsredezeit zudem die Institute der Zwischenfragen und Zwischenbemerkungen nach § 27 Abs. 2 Satz 1 und 2 GO-BT zur Verfügung, aber auch die von der Zustimmung des Redners unabhängige und sehr flexible246 Kurzintervention im Anschluss an einen Debattenbeitrag nach § 27 Abs. 2 Satz 3 GO-BT.247 Sie bleiben in der Lage, Kritik zu üben und Alternativen zur Regierungspolitik vorzuschlagen. In der öffentlichen Debatte wird den Beiträgen der oppositionellen Abgeordneten zudem ähnlich viel Zeit eingeräumt wie den Beiträgen der Abgeordneten der Mehrheitsfraktionen, schon allein aus Gründen einer anschaulichen Berichterstattung. Den Abgeordneten der Opposition muss nicht mit einer konstruierten Verfassungspflicht an die Seite gesprungen werden.

D. Verfassungsmäßigkeit einer Verlängerung der Redezeit für die Oppositionsfraktionen in der 18. Wahlperiode Aufgrund der besonderen Mehrheitsverhältnisse im Parlament der qualifizierten Großen Koalition wurde in der 18. Wahlperiode eine „Redezeitbezuschussung“ für die Oppositionsfraktionen schon in einem ersten Antrag der Fraktion BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN auf Änderung der Geschäftsordnung zwecks Sicherung der Minderheitenrechte vom 16. Dezember 2017 gefordert. Darin fand sich auch ein Passus zu den Redezeiten: „Die Stärke der Fraktionen ist bei Vereinbarungen über Tagesordnungspunkte und Redezeiten nicht der wesentliche Verteilungsmaßstab. Vielmehr ist auch auf eine ausgewogene Repräsentanz der Oppositionsfraktionen zu achten.“248

Nachdem die Redezeitenvereinbarung in der Folge zunächst in der neuen Geschäftsordnungsvorschrift des § 126a GO-BT a.F. Platz finden sollte (als § 126a vorzutragen (siehe als Anhaltspunkt die dreiminütige Kurzintervention, § 27 Abs. 2 Satz 3 Halbs. 1 GO-BT). Zum anderen sollte die Aufmerksamkeit der Zuhörer nicht zu sehr strapaziert werden, siehe z.B. BT-Plenarprotokoll 18/245 vom 5. September 2017, S. 25261 (D) ff. In der 180-minütigen Debatte sprachen für beide Oppositionsfraktionen nur die jeweiligen Spitzenkandidaten für je zwölf Minuten. 246 Roll, Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages, § 27 Rn. 3. 247 Die Begriffe Zwischenbemerkung und Kurzintervention werden synonym verwendet, allerdings unterscheidet die Geschäftsordnung zwei Formen der Kurzintervention nach § 27 Abs. 2 Satz 1 und 2 bzw. 3 GO-BT; dazu näher Ritzel/Bücker/Schreiner/Winkelmann, HdbPP, 22. EL Juni 2005, Erl. II. zu § 27, S. 2 f. 248 BT-Drs. 18/183.

D. Verfassungsmäßigkeit einer Verlängerung der Redezeit

263

Abs. 1 Nr. 12 GO-BT a.F.),249 kam es schließlich – wie üblich – zu einer gemeinsamen Vereinbarung der Bundestagsfraktionen.250 Grund dafür waren Bedenken hinsichtlich der unüblichen und starren Festlegung der Redezeitenverteilung in der formellen Geschäftsordnung. Schon im Frühjahr 2014 einigten sich die Ersten Parlamentarischen Geschäftsführer entsprechend der parlamentarischen Praxis auf die neue Redezeitenverteilung, die auch seitdem im Plenum Anwendung fand.251 Diese Vereinbarung wurde aber erst am 8. April 2014, fünf Tage nach Verabschiedung des § 126a GO-BT a.F., schriftlich festgehalten und durch die stärkste Fraktion versandt.252 Der programmatische Zusammenhang zwischen der Stärkung von Oppositions- und Minderheitenrechten (§ 126a GO-BT a.F.) und der Verlängerung von Redezeiten für die Opposition in Zeiten einer qualifizierten Großen Koalition wird durch die anfänglich gemeinsame Verortung in § 126a Abs. 1 GO-BT a.F. sichtbar. Diese Parallelität kommt auch im Koalitionsvertrag der Bündnispartner zum Ausdruck; dort werden die Stärkung von Oppositionsrechten sowie die angemessene Berücksichtigung von Abgeordneten der Opposition bei der Redezeitenverteilung gemeinsam genannt.253

I. Parlamentarisches Selbstorganisationsrecht als Rechtsgrundlage für die Verlängerung der Redezeit der Oppositionsfraktionen Das Selbstorganisationsrecht des Bundestages nach Art. 40 Abs. 1 Satz 2 GG umfasst die Befugnis des Parlaments, die Aufteilung der Redezeit selbst zu gestalten.254 Nach § 35 Abs. 1 Satz 1 GO-BT regelt der Ältestenrat die Gestaltung und Dauer der Aussprache; konkret meint dies die zu Beginn der Wahlperiode stattfindende Redezeitenverteilung und die Auswahl der Debattenlänge für die Aussprachen am Sitzungstag.

249

BT-Drs. 18/481, S. 3; darauffolgend BT-Drs. 18/997. BT-Drs. 18/997. 251 Siehe schon BT-Plenarprotokoll 18/8 vom 16. Januar 2014, S. 359 (A), 415 (C), 459 (D), 491 (C), hier werden bereits die Debattenformate 25 bis 96 Minuten benutzt, die später auch im Entwurf zu § 126a GO-BT a.F. wiederzufinden sind, siehe BT-Drs. 18/481, S. 3; Siehe auch die Hinweise in der Plenardebatte von Stefan Heck (CDU), in: BT-Plenarprotokoll 18/26 vom 3. April 2014, S. 2079 (D), und Johannes Fechner (SPD), in: BT-Plenarprotokoll 18/26 vom 3. April 2014, S. 2080 (D). 252 Am 16. Juni 2014 kam es wiederum nach einer Vereinbarung der Parlamentarischen Geschäftsführer zu einer Ergänzung der Debattenformate um einen „77 Minüter“. 253 CDU, CSU und SPD, Deutschlands Zukunft gestalten, 14. 12. 2017, https://www.cdu.de/ sites/default/files/media/dokumente/koalitionsvertrag.pdf, S. 128, zuletzt geprüft am 26. 4. 2018; vgl. auch Ennuschat, VR 2015, 1 (2), der in diesem Zusammenhang von einem „Zeugnis für Kraft und Reife unserer Demokratie“ spricht. Siehe 2. Kapitel A. I. 254 Siehe ausführlich 2. Kapitel F. I. 250

264

3. Kap.: Die Redezeiten im Deutschen Bundestag

II. Redezeitmodell in der 18. Wahlperiode Vom üblichen Modell der „Berliner Stunde“ wurde in der 18. Wahlperiode nur geringfügig abgewichen. Während früher die Teilung und Kombinierung der „Berliner Stunde“ möglich war, dadurch also mehrere unterschiedliche Debattenformate entstanden (z.B. in der 15. Wahlperiode bei einer „Berliner Stunde“ von 62 Minuten Debattenformate i.H.v. 31, 124 oder auch 186 Minuten), gab die Vereinbarung in der 18. Wahlperiode sechs (XS, S, M, L, XL, XXL) und nach der Sommerpause 2015 sieben Debattenformate (dann auch 77 Minuten) mit entsprechenden Redezeiten vor (Tabelle 8). In der Praxis wurden aber auch weiterhin von den vereinbarten Debattenformaten abweichende Regelungen gefunden, z.B. eine Gesamtredezeit von 180 Minuten (dreimal Debattenformat M).255 Bei den Debatten mit Dauer von 25, 38, später auch 60 und 77 Minuten, erhielten die Oppositionsfraktionen in der ersten Beratung je eine zusätzliche Redeminute, wenn es sich um eine eigene Initiative handelte. Das Debattenformat 60 Minuten galt insbesondere für die kernzeitnahen Debattenpunkte am Donnerstag.256 Im Übrigen wurde festgehalten, dass je ein Redner von DIE LINKE und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN in den Debattenformaten bis 77 Minuten seine Redezeit innerhalb eines Tagesordnungspunktes auf zwei Rederunden aufteilen kann. Weiterhin wurden Redezeiten der Bundesrats- wie Regierungsmitglieder angerechnet. Wie schon in der 16. und 17. Wahlperiode wurde zudem auch die Redezeit der Regierungskoalition nach den einzelnen Regierungsfraktionen aufgeschlüsselt. Die Reihenfolge der Redner war nach dem üblichen Schema festgelegt.257 Tabelle 8 Redezeitenverteilung in den Plenardebatten der 18. Wahlperiode258 Debattenlänge (Format)

CDU/CSU (49,3 %259)

SPD (30,6 %)

DIE LINKE (10,1 %)

BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN (10,0 %)

25 Min. (XS)

10 Min. (40,0 %260)

7 Min. (28,0 %)

4 Min. (16,0 %)

4 Min. (16,0 %)

38 Min. (S)

17 Min. (44,7 %)

11 Min. (28,9 %)

5 Min. (13,2 %)

5 Min. (13,2 %)

60 Min. (M)

27 Min. (45,0 %)

17 Min. (28,3 %)

8 Min. (13,3 %)

8 Min. (13,3 %)

255

Siehe BT-Plenarprotokoll 18/245 vom 5. September 2017, S. 25261 (D) ff. Während der parlamentarischen Kernzeit finden keine anderen Gremiensitzungen statt, auch um die Anwesenheit der Abgeordneten im Plenum zu fördern. Sie soll seit 1995 dazu dienen, die Glaubwürdigkeit und das Interesse an der Parlamentsarbeit zu erhöhen. 257 Siehe 3. Kapitel B. II. 1. 258 Die Zahlen sind größtenteils schon zu finden in BT-Drs. 18/481. 259 Mandatsstärke der Fraktion in Prozent. 260 Prozentualer Anteil an Gesamtredezeit. 256

D. Verfassungsmäßigkeit einer Verlängerung der Redezeit

265

Debattenlänge (Format)

CDU/CSU (49,3 %259)

SPD (30,6 %)

DIE LINKE (10,1 %)

BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN (10,0 %)

77 Min.261

35 Min. (45,5 %)

22 Min. (28,6 %)

10 Min. (13,0 %)

10 Min. (13,0 %)

96 Min. (L)

44 Min. (45,8 %)

28 Min. (29,2 %)

12 Min. (12,5 %)

12 Min. (12,5 %)

125 Min. (XL)

57 Min. (45,6 %)

35 Min. (28,0 %)

17 Min. (13,6 %)

16 Min. (12,8 %)

224 Min. (XXL)

95 Min. (42,4 %)

65 Min. (29,0 %)

33 Min. (14,7 %)

31 Min. (13,8 %)

Im Rahmen von Aktuellen Stunden (Tabelle 9) wurde der antragstellenden Fraktion kein zusätzlicher Redebeitrag mehr eingeräumt. Wie üblich wurde die Redezeit von Bundesrats- und Regierungsmitgliedern in der Aktuellen Stunde nicht angerechnet. Tabelle 9 Redezeitenverteilung in den Aktuellen Stunden der 18. Wahlperiode262 Debattenlänge

CDU/CSU (49,3 %)

SPD (30,6 %)

DIE LINKE (10,1 %)

BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN (10,0 %)

60 Min. und zwölf Redebeiträge

25 Min. (41,7 %)

15 Min. (25,0 %)

10 Min. (16,7 %)

10 Min. (16,7 %)

fünf Redebeiträge

drei Redebeiträge

zwei Redebeiträge

zwei Redebeiträge

Im Ergebnis wurde den Oppositionsfraktionen der 18. Wahlperiode Redezeit gutgeschrieben. In allen Debattenformaten wurde ihnen ein Redezeitaufschlag gewährt, der die übliche Aufschlagshöhe für mandatsschwächere Fraktionen bei weitem überstieg. Die verhältnismäßig stärkste Redezeitverlängerung erlangten die beiden Fraktionen im Rahmen der kurzen Debatte von 25 Minuten. Dort erhielten sie Redezeitenanteile i.H.v. 16,0 %, obwohl sie nur jeweils etwa 10 % der Mandate auf sich vereinten. Bei aktuellen Stunden waren es gar 16,7 %. Damit erhöhte sich ihr Redezeitanteil teilweise um mehr als 60 % im Vergleich zur Redezeit gemessen an der Mandatsstärke. Auch die geringsten Redezeitverlängerungen im Rahmen des Debattenformats 96 Minuten führten zu einem erhöhten Redezeitanteil von circa 25 %. Im Vergleich dazu stiegen die Redezeiten für die Oppositionsfraktionen während der zweiten Großen Koalition von 2009 bis 2013 in der Plenardebatte im 261 Dieses Debattenformat wurde nachträglich eingeführt nach einer interfraktionellen Vereinbarung der Ersten Parlamentarischen Geschäftsführer vom 16. Juni 2015. Es sollte das Format 96 Minuten in der parlamentarischen Kernzeit ersetzen und nach der Sommerpause 2015 genutzt werden. 262 Siehe BT-Drs. 18/481.

266

3. Kap.: Die Redezeiten im Deutschen Bundestag

Verhältnis zu ihrer Redezeit je nach Mandatsstärke um etwa 25 % bis 40 %. Während Aktueller Stunden stieg die Redezeit für die FDP damals um 21,3 %, da sie zwei Redebeiträge erhielt. Dagegen entfiel auf DIE LINKE und BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN nur ein Redebeitrag und damit weniger Redezeit als ihnen im Verhältnis zu ihrer Mandatsstärke zugestanden hätte. Die Verlängerung der Redezeiten in der 18. Wahlperiode geht über bisherige Redezeitverlängerungen für Oppositionsfraktionen hinaus.

III. Verfassungsrechtliche Diskussion Das Parlament hat bei der Regelung der eigenen Angelegenheiten im Rahmen der Verfassung umfassende Freiheit. Es ist charakteristisch für die Redeordnung, dass nicht jedes Detail normiert ist. Die Verteilung von Redezeiten bedarf parlamentarischer Flexibilität263 – nicht zufällig ist sie seit mehr als einem Jahrhundert maßgeblich geprägt von interfraktionellen Absprachen des Seniorenkonvents bzw. Ältestenrates und der Fraktionen. Diese Vereinbarungen haben dabei die Vielschichtigkeit der grundgesetzlichen Anforderungen im Blick zu behalten, vor allem die parlamentarische Funktionsfähigkeit, das Redeprivileg des Art. 43 Abs. 2 Satz 2 GG, die Mandatsgleichheit, den Minderheitenschutz und das Prinzip von Rede und Gegenrede. Die Verteilung von Redezeit ist von großer Bedeutung für die politischen Kräfte im Parlament. Je mehr Redezeit die oppositionellen Abgeordneten haben, desto mehr Zeit steht ihnen für öffentlichkeitswirksame Kritik an den Regierenden und für die Präsentation des eigenen und alternativen politischen Standpunktes zur Verfügung. Es geht um Außendarstellung. Das Problemfeld der Redezeiteitaufteilung im Parlament ist dabei geprägt von einer besonderen Spannungslage: Einerseits muss den ungleichen Mehrheitsverhältnissen in einer qualifizierten Großen Koalition Rechnung getragen werden, wenn der verfassungsrechtliche Minderheitenschutz sowie das Prinzip von Rede und Gegenrede ins Leere zu laufen drohen. Andererseits steht eine ungleichmäßige Verteilung von Redezeiten der Gleichheit von Abgeordneten entgegen. Mag eine verhältnismäßig längere Redezeit für die Abgeordneten der Opposition in Zeiten qualifizierter Großer Koalitionen eine Art Kompensation des Stimmenübergewichts und der informellen Schieflage bedeuten,264 sie bleibt für die Abgeordneten der Regierungsfraktionen eine verhältnismäßige Benachteiligung.265 Das bringt das korrelierende Verhältnis zwischen der Redezeit von Abgeordneten der Regierungsfraktionen und der von Abgeordneten der Oppositionsfraktionen bei einer begrenzten Gesamtredezeit mit sich. Es besteht insofern ein Format der gegenseitigen Begrenzung, das in dieser Charakteristik weder bei der Regelung der Minderheitenrechte noch beim Oppositionszuschlag zu erkennen ist: Je mehr Re263 264 265

BVerfGE 10, 4 (19 f.); siehe auch BT-Drs. 8/3460, S. 88 f. So in etwa Hölscheidt, ZG 30 (2015), 246 (257). Schuster, DÖV 2014, 516 (520 f.).

D. Verfassungsmäßigkeit einer Verlängerung der Redezeit

267

dezeit die Abgeordneten der Oppositionsfraktionen haben, desto weniger Redezeit haben die Abgeordneten der Regierungsfraktionen.266 Infolgedessen gelten die Worte Ludwig Bambergers (Nationalliberale Partei) für den Bundestag, speziell für den 18. Deutschen Bundestag, nach wie vor: „Bekanntlich hat von jeher und diesmal ganz besonders die Frage viel Kopfzerbrechens gemacht: welches die beste Sprechordnung sei.“267

Das Bundesverfassungsgericht räumt der Gleichbehandlung der Abgeordneten in seinem Urteil von 2016 eine herausragende Bedeutung zu. In ihrer Tendenz ist dies richtig, wenn es teilweise auch den Abgeordnetenstatus überhöht.268 Die Passagen über das Verbot von Oppositionsfraktionsrechten beziehen sich aber nicht in erster Linie auf das Rederecht und die Redeordnung. Dies wird deutlich, wenn das Gericht die Verlängerung der Redezeit für die Opposition und die damit verbundene Ungleichbehandlung von Abgeordneten in der 18. Wahlperiode indirekt billigt. Es scheint darüber hinaus gar eine Kompensationsfunktion anzunehmen: „Die Möglichkeiten gerade der oppositionellen Abgeordneten, vor allem die Funktionen der Kritik und der Formulierung von Alternativen im Rahmen von Rede und Gegenrede auszuüben, wurden zudem durch die – wenn auch durch den Ältestenrat und nicht durch die Geschäftsordnung – erfolgte Anhebung der Redezeiten der Oppositionsfraktionen erweitert. Die Redezeitverteilung unterscheidet sich von der Frage der Zuweisung von Minderheitenrechten dadurch, dass sie eine Entscheidung unter Knappheitsbedingungen darstellt und eine Besserstellung auf der einen Seite daher zwingend zu einer Schlechterstellung auf der anderen Seite führt.“269

Ein „Oppositionsbonus“270 hat bei der Aufteilung von Redezeit im Parlament mittlerweile Tradition. Dies bedeutet aber nicht automatisch, dass das Verteilungssystem der „Berliner Stunde“ einer Oppositionsfraktion stets mehr Redezeit zuweist als ihr nach der Mandatsstärke zustünde. So entfiel bis zur 18. Wahlperiode nur zweimal mehr Redezeit auf die Opposition als ihr nach der Mandatsstärke zugestanden hätte (16./17. Wahlperiode).271 Grund dafür ist, dass neben den Oppositionsfraktionen auch mandatsschwache Fraktionen mit Redezeit „bezuschusst“ werden. Außerdem erhalten die Regierungsfraktionen einen Zuschlag für die Anrechnung der Reden von Mitgliedern des Bundesrates und der Bundesregierung (Art. 43 Abs. 2 Satz 2 GG). Es gibt jedoch keine mathematischen Multiplikatoren zur exakten Berechnung der Redezeiten. Im Detail ist die Redezeitaufteilung daher undurchsichtig. Sie bleibt im Wesentlichen abhängig von der unvorhersehbaren und 266

BVerfGE 142, 25 (63); Hölscheidt, ZG 30 (2015), 246 (256). Bamberger, Jahrbuch für Gesetzgebung, Verwaltung und Rechtspflege des Deutschen Reiches 1 (1871), 159 (172). 268 Siehe dazu 6. Kapitel B. I. 269 BVerfGE 142, 25 (63). 270 Ritzel/Bücker/Schreiner/Winkelmann, HdbPP, 30. EL Dezember 2014, Erl. I. 1. d) aa) (1) zu § 35, S. 9; Roll, Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages, § 35 Rn. 2. 271 Siehe 3. Kapitel B. II. 1. 267

268

3. Kap.: Die Redezeiten im Deutschen Bundestag

politischen Gemengelage im Parlament als solchem und im Rahmen interfraktioneller Vereinbarungen. Dieser Befund wird nicht durch die bisherige Redezeitenverteilung in der 19. Wahlperiode widerlegt. Zwar wird im Rahmen der Plenardebatte mit Ausnahme einiger Kurzzeitrunden ausschließlich auf das Verfahren nach Sainte-Laguë/Schepers abgestellt.272 Dies aber ist vielmehr die Folge der aktuellen parlamentarischen Mehrheitsverhältnisse als einer grundlegenden Entscheidung für eine stringente Redezeitaufteilung am Maßstab der Proportionalität. Ein geordneter parlamentarischer Ablauf, der parlamentarische Minderheitenschutz oder das Prinzip von Rede und Gegenrede sind als gewichtige Gründe zu kategorisieren, die die Einschränkung der Mandatsgleichheit zu rechtfertigen in der Lage sind. Darauf weist möglicherweise auch die Reihenfolge in § 28 Abs. 1 Satz 2 GO-BT hin. Eine Auslegungsentscheidung des Geschäftsordnungsausschusses vom 5. Dezember 2002 fügt sich jedenfalls dahingehend ein, dass gerade dem Prinzip von Rede und Gegenrede Beachtung zu schenken ist: „Bei der Bestimmung der Reihenfolge der Redner gem. § 28 GO-BT sollte bei einem Konflikt zwischen den Prinzipien Rede/Gegenrede und Stärkeverhältnis der Fraktionen im Regelfall das Prinzip Rede/Gegenrede vorgezogen werden. Das gilt grundsätzlich auch für den Übergang in die nächste Runde bei Debatten, die in zwei oder mehr Runden aufgeteilt werden“273.

Nach einem reinen Proporzprinzip hätte den Oppositionsfraktionen in der 18. Wahlperiode nur 20,1 % der Gesamtredezeit zugestanden. Die geringfügige Anpassung der Redezeitenverteilung und Einschränkung der Mandatsgleichheit lässt sich mit dem Grundsatz effektiver Opposition und mit dem Prinzip von Rede und Gegenrede rechtfertigen.274 Insofern wird auch den Befürwortern von verfassungsrechtlichen Anpassungspflichten275 in Zeiten qualifizierter Großer Koalition eine Antwort gegeben, wenn sie das Prinzip von Rede und Gegenrede und den Grundsatz funktionaler Opposition in leere Hüllen verwandelt sehen. Zugegeben sei ihnen, dass eine Verfassungspflicht zur Verlängerung der Redezeit für die Opposition weniger abenteuerlich als eine Verfassungspflicht zur Schaffung von Oppositionsfraktions272

Soweit erkennbar werden in der 19. Wahlperiode jeweils die Debattenformate gewählt, die der mandatsschwächsten Fraktion von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN jeweils die maximale Redezeit zuweist. Debattenformate sind danach 27, 38, 60, 90, 120, 210 Minuten. Im Rahmen einer 27-minütigen Debatte erhält die Fraktion von CDU/CSU beispielsweise neun Minuten Redezeit, die SPD sechs Minuten, alle Oppositionsfraktionen jeweils drei Minuten. Im Rahmen Aktueller Stunden erhält die CDU/CSU-Fraktion vier Redebeiträge, die SPD drei, die AfD zwei. FDP, DIE LINKE und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN erhalten einen Redebeitrag und bei einem Antrag ihrer eigenen Fraktion noch einen zusätzlichen Redebeitrag. 273 Abgedruckt in Ritzel/Bücker/Schreiner/Winkelmann, HdbPP, 23. EL März 2006, Erl. 2. g) zu § 28, S. 2. 274 Siehe schon 3. Kapitel C. II. 2. 275 Dazu zählen Cancik, NVwZ 2014, 18 (23); Schuster, DÖV 2014, 516 (521 ff.); wohl auch Mahrenholz, FS Hufen, S. 206; Schürmann, in: Morlok/Schliesky/Wiefelspütz, Parlamentsrecht, § 20 Rn. 43.

E. Ergebnis

269

rechten ist.276 Sie fände in Art. 42 Abs. 1 Satz 1 GG zumindest einen Anknüpfungspunkt. Eine grundgesetzliche Anpassungspflicht des geschäftsordnungsrechtlichen Gewohnheitsrechts der „Berliner Stunde“ kann jedoch mit Blick auf die Mandatsgleichheit nicht aus dem Grundgesetz entnommen werden. Schließlich folgt Redezeit dem Rederecht des einzelnen Parlamentariers, gleichwohl eine „Fraktionalisierung“ gerechtfertigt ist. Ungeachtet dessen würde Art. 42 Abs. 1 Satz 1 GG schlichtweg überladen.277 Allgemeine Grundsätze wie der Grundsatz funktionaler Opposition und das Prinzip von Rede und Gegenrede vermögen keine Verfassungspflichten zu begründen. Ihre eigentliche Substanz liegt andersherum darin, dass sie imstande sind, zugunsten ihrer Verfassungspositionen Abweichungen von der Mandatsgleichheit zu rechtfertigen.278 Daher steht die geschäftsordnungsrechtliche Redezeitenverteilung im Hessischen Landtag z.B. auch im Einklang mit der Hessischen Landesverfassung. In § 72 i.V.m. Anlage 1 GO-LT Hessen wird den Fraktionen paritätisch Redezeit zugesprochen. Die Abweichung von der Mandatsgleichheit (Art. 77 Verf. Hessen) kann mit dem parlamentarischen Verhandlungsgrundsatz von Rede und Gegenrede sowie dem allgemeinen Grundsatz effektiver Opposition gerechtfertigt werden, der wie im Bund keine Normierung in der Hessischen Landesverfassung erfährt.

E. Ergebnis Die Mehrheitsverhältnisse Großer Koalitionen erschweren eine Redezeitenverteilung, die die verschiedenen verfassungsrechtlichen Gesichtspunkte einbeziehen muss. Der Verfassung ist weder eine Gleichrangigkeit noch eine bestimmte Gewichtung der in der Plenardebatte relevanten Verfassungspositionen zu entnehmen. Das Ineinklangbringen der Grunddeterminanten von parlamentarischer Funktionssicherung über Redeprivilegien, Mandatsgleichheit und Minderheitenschutz bis zum Prinzip von Rede und Gegenrede ist dem Bundestag daher in weiten Teilen selbst überlassen. Eine grundgesetzliche Pflicht zur Abweichung vom Proportionalitätsprinzip zugunsten der Opposition kann in Zeiten mandatsstarker Großer Koalitionen nicht angenommen werden, solange die Sichtbarmachung von Kritik und Alternativen und Rede und Gegenrede überhaupt möglich bleiben. Gleichzeitig verlangt die Mandatsgleichheit im Ergebnis keine mathematisch berechnete Verteilung der Redezeiten nach dem Spiegelbildlichkeitsgrundsatz. Das Prinzip von Rede und Gegenrede, das im parlamentarischen Regierungssystem wesentlich mit dem Grundsatz parlamentarischer Opposition verknüpft ist, rechtfertigt vielmehr eine Verlängerung der Redezeit für die Opposition wie in der 18. Wahlperiode. 276

Siehe dazu schon 2. Kapitel D. Brocker, in: Epping/Hillgruber, GG, 37. Edition Mai 2018, Art. 42 Rn. 5.2. 278 Dies kann durchaus als Beitrag zur Frage nach dem Gehalt des Oppositionsgrundsatzes verstanden werden, vgl. Volkmann, ZParl. 48 (2017), 473 (474). Uwe Volkmann hält fest, dass es Opposition nicht nur geben müsse, sie müsse sich auch entfalten können. Dies führt im Ergebnis zum parlamentarischen Minderheitenschutz; dazu 2. Kapitel B. II. 277

4. Kapitel

Der Oppositionszuschlag im Deutschen Bundestag Der Deutsche Bundestag reagierte auch im Rahmen der Fraktionsfinanzierung auf das Phänomen der qualifizierten Großen Koalition. Er beschloss für die Dauer der 18. Wahlperiode den Oppositionszuschlag nach § 50 Abs. 2 Satz 1 AbgG für jedes Mitglied der Oppositionsfraktionen von 10 % auf 15 % zu erhöhen.1 Streit entbrannte darüber nicht. Dies trägt dem Umstand Rechnung, dass die Regierungsfraktionen keine direkten Einbußen durch eine Anhebung des Oppositionszuschlages hinnehmen müssen. Es sind nicht etwa die Kassen der Mehrheitsfraktionen, die im Gegenzug durch die Erhöhung des Oppositionszuschlages belastet werden, sondern der Bundeshaushalt. Ein Mehr bei der Opposition bedeutet nicht automatisch ein Weniger auf Seiten der Regierungsfraktionen. Hier unterscheidet sich die Anhebung des Oppositionszuschlages von der Verlängerung der Redezeit für die Opposition.2 Dagegen ähneln sich die verfassungsrechtlichen Diskussionen um Redezeiten und Oppositionszuschlag in anderer Weise: Einerseits ist ein Oppositionszuschlag mit Blick auf den formalen Gleichheitssatz für sich genommen schon nicht unproblematisch, andererseits ist eine Pflicht zur Erhöhung des Oppositionszuschlages in Zeiten qualifizierter Großer Koalitionen denkbar.

A. Eingliederung des Oppositionszuschlages in die Fraktionsfinanzierung Politikfinanzierung teilt sich auf in Parlaments- und Parteienfinanzierung. Die Parlamentsfinanzierung des Deutschen Bundestages kennt wiederum zwei Finanzierungssysteme:3 die Abgeordneten- und die Fraktionsfinanzierung. Art. 48 Abs. 3 Satz 1 GG regelt den Anspruch der Abgeordneten auf eine angemessene, ihre Unabhängigkeit sichernde Entschädigung. Das Abgeordnetengesetz konkretisiert die verfassungsrechtlich vorgegebene Abgeordnetenentschädigung und 1 Im Beschluss über den Haushalt 2014 wurde dies erstmals festgelegt. Siehe BT-Drs. 18/ 481, 18/997, jeweils S. 3 und 5, sowie die jährlichen Unterrichtungen durch den Bundestagspräsidenten in BT-Drs. 18/2500, 18/6155, 18/9750 und 19/2664, jeweils S. 2. 2 Hölscheidt, ZG 30 (2015), 246 (254). 3 Ders., DÖV 2000, 712 (712, 714); vgl. ferner Waldhoff, in: Austermann/Schmahl, AbgG, § 50 Rn. 1; auch Meyer, KritV 78 (1995), 216 (217), der von einer Dreiteilung der Parlamentsfinanzierung ausgeht (Organ-, Fraktions- und Abgeordnetenfinanzierung).

A. Eingliederung des Oppositionszuschlages in die Fraktionsfinanzierung

271

seine Ausprägungen in den §§ 11 bis 17 AbgG. Die finanzielle Entschädigung der Abgeordneten verfolgt den Zweck, die unabhängige Stellung des einzelnen Mandatsträgers (Art. 38 Abs. 1 GG) im Parlament in angemessener Höhe zu sichern.4 Ferner führt sie dazu, dass eine gesellschaftlich repräsentative Zusammensetzung des Parlaments möglich ist. Auch diejenigen Bürger, die das passive Wahlrecht aus finanziellen Gründen eigentlich nicht wahrnehmen könnten, sollen durch die Abgeordnetenentschädigung die Chance erhalten, ein Bundestagsmandat anzutreten.5 Doch die Abgeordnetenentschädigung bleibt nicht die einzige Säule der Finanzierung im Parlament. Auch die Fraktionen erhalten eine – separate – Finanzierung. Während die Abgeordnetenentschädigung den einzelnen Abgeordneten in den Stand setzen soll, seine verfassungsrechtlichen Aufgaben zu erfüllen, dienen die Fraktionsmittel dazu, die Koordinierungskosten der Fraktionen abzudecken.6 Die Fraktionsfinanzierung ist geregelt in § 50 AbgG.

I. Fraktionsfinanzierung als verfassungsrechtliche Notwendigkeit Die Bedeutung der Fraktionen für den Parlamentsbetrieb ist, wie bereits an anderer Stelle7 erörtert, von vielschichtiger und kaum zu überschätzender Qualität. Parlamentsaufgaben sind im Ergebnis auch Fraktionsaufgaben. Um ihre Aufgaben (§ 47 Abs. 1 AbgG) erfüllen zu können, benötigen die Fraktionen Finanzmittel (§ 50 Abs. 1 AbgG).8 Darauf haben sie sogar einen ungeschriebenen verfassungsrechtlichen Anspruch,9 der in einigen Landesverfassungen auch ausdrücklich verankert ist.10

II. Grundbetrag, Steigerungsbetrag und Oppositionszuschlag Die Finanzierung aus dem Bundeshaushalt ist nicht die einzige Finanzquelle für die Fraktionen, allerdings sind die anderen Quellen – Mitgliederbeiträge11, Spen-

4

Sinner, in: Austermann/Schmahl, AbgG, § 11 Rn. 19. Trute, in: v. Münch/Kunig, GG, Bd. 1, Art. 48 Rn. 18 ff. 6 BVerfGE 80, 188 (231). 7 Siehe 2. Kapitel B. II. 5. a). 8 Siehe auch BT-Drs. 12/4756, S. 7 f. 9 Vgl. nur Jekewitz, ZRP 1993, 344 (347); Schneider, Die Finanzierung der Parlamentsfraktionen als staatliche Aufgabe, S. 75 f.; Waldhoff, in: Austermann/Schmahl, AbgG, § 50 Rn. 12. 10 Siehe beispielhaft Art. 40 Abs. 2 Satz 2 Verf. Berlin. 11 Durchaus umstritten ist die Möglichkeit zur Pflicht von Mitgliederbeiträgen; vgl. Wissenschaftliche Dienste des Deutschen Bundestages, Mandatsträgerbeiträge. Ausarbeitung 2. WF III G – 348/05 vom 6. 12. 2005, S. 10; Klatt, ZParl. 7 (1976), 61 (63 ff.); Linde, Fraktionsfinanzierung in der parlamentarischen Demokratie, S. 254 ff.; Lontzek, Die Sonderbeiträge von Abgeordneten an Partei und Fraktion, S. 227 ff. 5

272

4. Kap.: Der Oppositionszuschlag im Deutschen Bundestag

den12 und Zinseinkünfte13 – heute kaum mehr von praktischer Bedeutung.14 Fraktionen werden fast ausschließlich aus dem Bundeshaushalt finanziert.15 Es handelt sich keineswegs um „Zuschüsse“16, obwohl es erst seit Gründung der Bundesrepublik eine konstante staatliche Fraktionsfinanzierung gibt. Vorher finanzierten sich Fraktionen aus Mitgliederbeiträgen und Zahlungen der „Mutterparteien“,17 wenn auch kleinere staatliche Zuwendungen wie die unentgeltliche Überlassung von Sitzungsräumen schon vor 1949 existierten.18 Zu der Frühzeit der Bundesrepublik wurden Bundesmittel für die Büroausstattung, ab 1955 auch für Wissenschaftliche Mitarbeiter zur Verfügung gestellt.19 Seit 1958 erfasste der Haushaltsplan für die Einrichtungen der Fraktionen einen Grund- bzw. Sockelbetrag und einen Steigerungsbetrag pro Fraktionsmitglied, seit 1977 erhalten die Oppositionsfraktionen einen Oppositionsbonus.20 Die Fraktionsfinanzierung, deren kontinuierliche Erhöhung mit Blick auf Inflation, Wiedervereinigung und der damit verbundenen Vergrößerung des Bundestages sowie einer erhöhten Fraktionsanzahl nicht exorbitant hoch erscheint,21 ersetzte sukzessiv die Generierung von Finanzmitteln durch Mitgliederbeiträge. Während in den Anfangsjahren, insbesondere bei der SPD-Fraktion, noch beachtliche Summen aus Mitgliederbeiträgen stammten22, sind sie heute sehr gering oder gänzlich abgeschafft.23 Nachdem Gesetze zur Fraktionsfinanzierung in Bayern, Sachsen-Anhalt, Niedersachsen und Hessen verabschiedet wurden,24 trat 1995 mit dem elften Abschnitt des Abgeordnetengesetzes (§§ 45 bis 54 AbgG), dem 12

Dazu Klein/Krings, in: Morlok/Schliesky/Wiefelspütz, Parlamentsrecht, § 17 Rn. 77. Für Fraktionsspenden gilt § 44a Abs. 2 Satz 4 AbgG analog, § 4 Anlage 1 GO-BT. 13 Waldhoff, in: Austermann/Schmahl, AbgG, § 50 Rn. 11. 14 Zeh, in: Isensee/Kirchhof, HStR, Bd. 3, § 52 Rn. 11. 15 Insgesamt hierzu Hölscheidt, Das Recht der Parlamentsfraktionen, S. 500 ff. 16 Schon früh v. Arnim, ZRP 1988, 83. 17 Näher Lontzek, Die Sonderbeiträge von Abgeordneten an Partei und Fraktion, S. 190 ff. 18 Mardini, Die Finanzierung der Parlamentsfraktionen durch staatliche Mittel und Beiträge der Abgeordneten, S. 59 ff.; vgl. auch Jekewitz, ZParl. 26 (1995), 395 (399 ff.). 19 Die Ausgaben wurden auf die einschlägigen Haushaltstitel gestützt; Schindler, Datenhandbuch zur Geschichte des Deutschen Bundestages 1949 bis 1999, S. 3243. 20 Waldhoff, in: Austermann/Schmahl, AbgG, § 50 Rn. 1; auch Loewenberg, Parlamentarismus im politischen System der Bundesrepublik Deutschland, S. 82 – 86; aus politikwissenschaftlicher Sicht Schüttemeyer, Fraktionen im Deutschen Bundestag 1949 – 1997, S. 52. 21 Zum Kostenanstieg im 19. Deutschen Bundestag Sturm, Der neue Bundestag ist der größte und teuerste aller Zeiten, 25. 9. 2017, https://www.welt.de/politik/deutschland/article1 69002203/Der-neue-Bundestag-ist-der-groesste-und-teuerste-aller-Zeiten.html, zuletzt geprüft am 26. 4. 2018. 22 Vgl. nur die Zahlen bei Lontzek, Die Sonderbeiträge von Abgeordneten an Partei und Fraktion, S. 194. 23 Hölscheidt, DÖV 2000, 712 (712 f.); Becker, ZParl. 27 (1996), 377 (378); Linde, Fraktionsfinanzierung in der parlamentarischen Demokratie, S. 254. 24 Morlok, NJW 1995, 29 (30). Beispielhaft zum Hessischen Fraktionsgesetz StraußZielbauer/Schnellbach, ZParl. 24 (1993), 588 – 595.

A. Eingliederung des Oppositionszuschlages in die Fraktionsfinanzierung

273

sogenannten Fraktionsgesetz (auch Fraktionsfinanzierungsgesetz25), im Bund eine gesetzliche Regelung zur Fraktionsfinanzierung in Kraft. Die Zentralnorm für die Fraktionsfinanzierung im Bund stellt § 50 AbgG dar. Diese Norm regelt die Zuweisung der aus dem Bundeshaushalt stammenden Finanzmittel. Sie unterteilen sich in Grundbetrag, Steigerungsbetrag und Oppositionszuschlag, § 50 Abs. 2 Satz 1 AbgG. Die Höhe dieser Beträge legt der Bundestag jährlich fest, § 50 Abs. 2 Satz 2 AbgG. Zunächst ist jeder Fraktion ein Grundbetrag zu zahlen. Die Fraktionsfinanzierung misst sich am formalen Gleichheitssatz, sodass dieser Betrag für die Grundausstattung der Fraktionen gleich hoch ausfällt. Alle Fraktionen leisten gewisse Fixkosten für Personal- und Sachausstattung, die nicht von der Größe der Fraktion abhängen.26 Hierunter fallen z.B. Kosten für die Einstellung von Fraktionsreferenten, insbesondere im Büro des Fraktionsvorsitzenden oder auch Druckereikosten. Besonders für die kleinen Fraktionen ist dieser Grundbetrag von Bedeutung.27 Zweitens wird ein Steigerungsbetrag an die Fraktionen ausbezahlt, d.h. je mehr Mitglieder die Fraktion hat, desto mehr Geld erhält sie. Auf eine mandatsstarke Fraktion entfallen höhere Kosten als auf eine mandatsschwache Fraktion.28 Die partielle Differenzierung nach der Mitgliederzahl im Rahmen der Fraktionsfinanzierung ist notwendig, andernfalls handelt es sich um eine Gleichbehandlung von Ungleichem.29 Drittens normiert § 50 Abs. 2 Satz 1 AbgG einen Oppositionszuschlag, teilweise auch Oppositionsbonus30 oder -zuschuss31 genannt. Es handelt sich in der Praxis des Bundestages um einen zusätzlichen Prozentbetrag für die Oppositionsfraktionen, der sich jeweils an Grund- und Steigerungsbetrag orientiert. Erhöhen sich Grund- und/oder Steigerungsbetrag, erhöht sich gleichzeitig der Oppositionszuschlag. Die Fraktionsfinanzierung aus dem Bundeshaushalt ist dahingehend zweckgebunden, dass sie nur für die Arbeit der Fraktionen verwendet werden darf. Der Adressat der Mittelbereitstellung ist vorgegeben: Es handelt sich daher um eine abstrakte Zweckbindung. Eine erste verfassungsrechtliche Grenze liegt damit in der verdeckten Parteienfinanzierung32, welche die Chancengleichheit der Parteien nach Art. 21 Abs. 1 i.V.m. Art. 3 Abs. 1 GG33 beeinträchtigen kann. Sie wird in § 50 Abs. 4 Satz 2 AbgG ausdrücklich verboten (siehe korrespondierend § 25 Abs. 2 25

Morlok, NJW 1995, 29 (30); Meyer, FS Mahrenholz, S. 321. Braun/Jantsch/Klante, AbgG, § 50 Rn. 9; Hölscheidt, Das Recht der Parlamentsfraktionen, S. 603. 27 Ders., Das Recht der Parlamentsfraktionen, S. 603. 28 Vgl. auch BVerfGE 84, 304 (333 f.). 29 Waldhoff, in: Austermann/Schmahl, AbgG, § 50 Rn. 14. 30 Vgl. Cancik, Parlamentarische Opposition in den Landesverfassungen, S. 192, 194. 31 Dies., Parlamentarische Opposition in den Landesverfassungen, S. 194. 32 BVerfGE 20, 56 (105); vgl. dazu nur Braun/Benterbusch, ZParl. 33 (2002), 653 (661). Insgesamt zu Rückforderungsmöglichkeit zweckwidrig verwendeter Fraktionsmittel im System des Parlamentsrechts Neumeier/Waldhoff, ZParl. 48 (2017), 163 – 185. 33 Zuletzt BVerfGE 140, 1 (23 f.). 26

274

4. Kap.: Der Oppositionszuschlag im Deutschen Bundestag

Nr. 1 PartG). Fraktionen und Parteien bilden eine politische Einheit. Gleichzeitig sind sie rechtlich und finanziell strikt voneinander zu trennen:34 Inner- und außerparlamentarischer Bereich existieren nebeneinander.35 Eine zweite Grenze ist in der bereits erwähnten persönlichen Abgeordnetentätigkeit verankert, d.h. Ausgaben, die für die Arbeit des einzelnen Abgeordneten allein bestimmt sind, dürfen nicht mit Fraktionsmitteln finanziert werden. Fraktionsmittel dienen der Begleichung der Kosten für die Koordinierung der Abgeordneten in der Fraktion.36 Wichtig ist aber, dass die einzelnen Abgeordneten der Fraktionen dennoch die „Früchte“ der Fraktionsfinanzierung davontragen. Sie sind ihre Mitglieder, im Ergebnis kommt ihnen die Fraktionsfinanzierung zugute, allerdings nicht unmittelbar wie bei der Abgeordnetenentschädigung. Über die Zweckgebundenheit der Fraktionsmittel wacht der Bundesrechnungshof, die §§ 51 ff. AbgG treffen hier spezielle Kontrollregelungen. Darüber hinaus handelt es sich bei der Fraktionsfinanzierung durch Grundbetrag, Steigerungsbetrag und Oppositionszuschlag um Globalposten, d.h. anders als die abstrakte Adressatenbestimmung sind Art und Zweck der konkreten Verwendung nicht vorgegeben.37 Den Fraktionen als politischen Gliederungen des Bundestages bleibt es selbst überlassen, ihre Aufgaben und deren Finanzierung zu konkretisieren.38 Den Einnahmen der Fraktionen stehen verschiedene Ausgaben gegenüber.39 In den jährlichen Einnahmen-Ausgaben-Rechnungen der Fraktionen sind gemäß § 52 Abs. 2 Nr. 2 lit. a bis i AbgG folgende neun Ausgabenbereiche angegeben:40 (lit. a) Fraktionsmitglieder mit besonderen Funktionen in der Fraktion41, der bei allen Fraktionen mit Abstand größte Posten (lit. b) Personalkosten, (lit. c) Veranstaltungskosten, (lit. d) Sachverständigen-, Gerichts- und ähnliche Kosten, (lit. e) Ausgaben für die Zusammenarbeit mit anderen Parlamenten, (lit. f) Öffentlichkeitsarbeit42, (lit. g) den laufenden Geschäftsbetrieb, (lit. h) Investitionen und (lit. i) sonstige Ausgaben.

34

Hölscheidt, DÖV 2000, 712. BVerfGE 20, 56, vgl. zuletzt auch zu Mitarbeitern von Abgeordneten im Wahlkampf BVerfG, Beschluss vom 19. September 2017 – 2 BvC 46/14 –, juris Rn. 83. 36 Becker, ZParl. 27 (1996), 189 (190 f.). 37 Vgl. dazu nur Papier, BayVBl. 1998, 513 (517); zur Konkurrenz der Transparenz mit dem freien Mandat Fensch, ZRP 1993, 209 (209 f.). 38 Neumeier/Waldhoff, ZParl. 48 (2017), 163 (164). 39 Insgesamt hierzu, insbesondere zur Fraktionsfinanzierung im Bereich Öffentlichkeitsarbeit, Cancik, ZG 22 (2007), 349 – 365. 40 Vgl. hierzu Waldhoff, in: Austermann/Schmahl, AbgG, § 52 Rn. 3. 41 Problematisiert im Hinblick auf die Zahlung von Fraktionszulagen aus dem Parlamentshaushalt in BVerfGE 102, 224. Dazu anschaulich Waldhoff, in: Austermann/Schmahl, AbgG, § 52 Rn. 6 ff., der die Zulässigkeit solcher Zahlungen im Grundsatz bejaht. 42 Das Bundesverfassungsgericht äußerte sich zur Rechtmäßigkeit der Öffentlichkeitsarbeit von Fraktionen nur begrenzt, vgl. BVerfGE 136, 190 (193); 140, 1 (27); zuletzt BVerfG, Beschluss vom 19. September 2017 – 2 BvC 46/14 –, juris Rn. 54; siehe aber § 47 Abs. 3 AbgG. 35

A. Eingliederung des Oppositionszuschlages in die Fraktionsfinanzierung

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III. Oppositionszuschlag als parlamentarische Institution Der Oppositionszuschlag gehört mittlerweile zur parlamentarischen Normalität, sowohl auf Bundes- als auch auf Landesebene43. Im Bundestag gibt es seit 1977 einen Oppositionszuschlag. Im Landtag von Baden-Württemberg wurde 1960 erstmals ein Oppositionszuschlag gezahlt; in den Folgejahren etablierte er sich in den anderen Landesparlamenten.44 Den ersten Oppositionszuschlag im Bundestag erhielt die Oppositionsfraktion der CDU/CSU. Ihr wurde damals ein Bonus in Höhe von 25 % auf den Grundbetrag und 7 % auf den Zuschlag je Abgeordneten gezahlt; 1977 waren das 674.580 DM und je Abgeordneten 3.100 DM.45 Seit 1988 betrug der Oppositionszuschlag auf den Grundbetrag 15 %, auf den Zuschlag je Abgeordneten 10 %; 1988 erhielten die damaligen Oppositionsfraktionen von SPD und DIE GRÜNEN 707.504 DM und je Abgeordneten 8.548 DM (Tabelle 10).46 Auf Landesebene existieren teilweise sogar verfassungsrechtliche Verankerungen des Oppositionszuschlages.47 In allen Bundesländern gibt es zumindest einfachgesetzliche Konkretisierungen in den Fraktions- oder Abgeordnetengesetzen.48 Die Berechnungsgrundlagen sind jedoch unterschiedlich, meistens handelt es sich wie auf Bundesebene um Mischverfahren, die also auf die Charakterisierung einer Fraktion als Oppositionsfraktion und auf deren Mitgliederzahl gleichermaßen rekurrieren.49

43

Zur Fraktionsfinanzierung der Landesparlamente Cancik, Parlamentarische Opposition in den Landesverfassungen, S. 195 ff.; auch Jekewitz, ZParl. 13 (1982), 314 (319 ff.). 44 Hölscheidt, Das Recht der Parlamentsfraktionen, S. 509 ff. 45 Zur Historie Wolters, Der Fraktions-Status, S. 124 ff.; Mardini, Die Finanzierung der Parlamentsfraktionen durch staatliche Mittel und Beiträge der Abgeordneten, S. 32 ff.; Linde, Fraktionsfinanzierung in der parlamentarischen Demokratie, S. 77 ff.; Achterberg, Parlamentsrecht, S. 297 f.; Jekewitz, ZParl. 26 (1995), 395 (406). 46 Wissenschaftliche Dienste des Deutschen Bundestages, Staatliche Finanzierung der Parlamentsfraktionen. Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 225/09 vom 13. 7. 2009, S. 4 f. 47 Art. 16a Abs. 2 Satz 2 Verf. Bayern, Art. 78 Abs. 2 Verf. Bremen, Art. 19 Abs. 2 Satz 2 Halbs. 1 Verf. Niedersachsen, Art. 85b Abs. 2 Satz 2 Verf. Rheinland-Pfalz, Art. 48 Abs. 2 Verf. Sachsen-Anhalt und Art. 59 Abs. 2 Verf. Thüringen. 48 Vgl. die Aufzählung bei Cancik, Parlamentarische Opposition in den Landesverfassungen, S. 195. 49 Vgl. auch Schneider, in: ders./Zeh, Parlamentsrecht und Parlamentspraxis, § 38 Rn. 65.

276

4. Kap.: Der Oppositionszuschlag im Deutschen Bundestag Tabelle 10 Entwicklung des jährlichen Oppositionszuschlages im Bundestag seit seiner Einführung 197750

Haushaltsjahr

Fraktionsmittel insgesamt

Grundbetrag für die Fraktion

Steigerungsbetrag je Fraktionsmitglied

Oppositionszuschlag zum Grundbetrag für die Fraktion

Oppositionszuschlag zum Steigerungsbetrag je Fraktionsmitglied

1977

34.992.964

2.698.320

44.280

674.580

3.100

1978

38.639.012

2.970.852

48.756

742.713

3.413

1979

41.591.171

3.202.584

52.560

800.646

3.679

1980

44.637.579

3.378.732

55.452

844.683

3.882

1981

47.003.207

3.554.424

58.332

888.606

4.083

1982

48.410.485

3.661.056

60.084

915.264

4.206

1983

50.851.056

3.763.560

61.764

940.890

4.323

1984

56.632.859

3.831.300

62.880

957.825

4.402

1985

58.173.116

3.932.832

64.548

983.208

4.518

1986

60.415.892

4.074.420

66.876

1.018.605

4.681

1987

62.708.769

4.208.880

69.084

1.052.220

4.836

1988

73.949.986

4.716.696

85.476

707.504

8.548

1989

77.700.171

4.961.964

89.928

744.295

8.993

1990

80.007.114

5.115.780

92.712

767.367

9.271

1991

104.236.228

5.320.416

96.420

798.062

9.642

1992

109.027.780

5.575.800

101.052

836.370

10.105

1993

98.916.624

5.575.800

101.052

836.370

10.105

1994

98.916.030

5.575.800

101.052

836.370

10.105

1995

107.327.000

5.879.244

111.564

881.887

11.156

1996

110.614.000

6.059.292

114.984

908.894

11.498

1997

112.344.000

6.153.804

116.784

923.071

11.678

1998

112.783.000

6.177.852

117.252

926.678

11.725

1999

117.665.000

6.271.140

119.028

940.671

11.903

50

Die Angaben zu den Oppositionszuschlägen sind errechnet – es handelt sich lediglich um Richtwerte, die gegebenenfalls gerundet sind. Die Beträge können aus verschiedenen Gründen von den tatsächlichen Beträgen abweichen, z. B. aufgrund von Rundungen, Ein- oder Austritten aus Fraktionen während eines Berechnungsjahres oder der Besonderheit eines Wahljahres. Bis 2002 ist der Betrag angegeben in DM, danach handelt es sich um Eurobeträge. Die Statistik basiert auf Datenmaterial aus Schindler, Datenhandbuch zur Geschichte des Deutschen Bundestages 1949 bis 1999, S. 3243 ff.; Feldkamp, Datenhandbuch zur Geschichte des Deutschen Bundestages 1990 bis 2010, S. 1473 ff.

B. Verfassungsmäßigkeit des Oppositionszuschlages

277

Oppositionszuschlag zum Grundbetrag für die Fraktion

Oppositionszuschlag zum Steigerungsbetrag je Fraktionsmitglied

119.028

940.671

11.903

6.397.812

121.428

959.672

12.143

3.348.672

63.552

502.301

6.355

58.481.000

3.348.672

69.912

502.301

6.991

2004

60.546.000

3.466.884

72.384

520.033

7.238

2005

61.231.000

3.519.240

73.476

527.886

7.348

2006

67.613.000

3.635.724

75.912

545.359

7.591

2007

68.402.000

3.678.624

76.812

551.794

7.681

2008

69.529.000

3.747.780

78.252

562.167

7.825

2009

75.468.000

4.072.332

85.032

610.850

8.503

2010

78.732.000

4.134.636

86.328

620.195

8.633

2011

80.541.000

4.229.736

88.308

634.460

8.831

2012

80.835.000

4.254.696

88.824

638.204

8.882

2013

84.645.000

4.455.096

93.012

668.264

9.301

2014

80.166.000

4.485.840

93.648

672.876

14.047

2015

83.843.000

4.691.736

97.944

703.760

14.692

2016

84.321.000

4.724.112

98.616

708.617

14.792

2017

88.097.000

4.935.756

103.032

740.363

15.455

Grundbetrag für die Fraktion

Haushaltsjahr

Fraktionsmittel insgesamt

2000

117.677.000

6.271.140

2001

119.929.000

2002

62.029.00051

2003

Steigerungsbetrag je Fraktionsmitglied

B. Verfassungsmäßigkeit des Oppositionszuschlages Das verfassungsrechtliche Gleichbehandlungsgebot des Art. 38 Abs. 1 GG gilt für Abgeordnete wie für ihre Zusammenschlüsse gleichermaßen. Aus der Abgeordnetengleichheit folgt, wie bereits dargestellt, Gruppen- und Fraktionsgleichheit.52 Das Bundesverfassungsgericht entschied bereits 1975, dass ihre finanzielle Ausstattung davon nicht ausgenommen bleibt.53 Nur für den Parlamentspräsidenten und seine Stellvertreter als Spitzen eines obersten Verfassungsorgans (Art. 40 Abs. 1 Satz 1 GG) seien ausnahmsweise höhere Entschädigungen aus dem Parlaments51 52 53

Einführung des Euro. Siehe nur BVerfGE 93, 195 (204). Siehe schon 2. Kapitel B. II. 6. b) cc). BVerfGE 40, 296 (317).

278

4. Kap.: Der Oppositionszuschlag im Deutschen Bundestag

haushalt gerechtfertigt.54 Später akzeptierte das Bundesverfassungsgericht im zweiten Diätenurteil von 2000 auch höhere Zulagen für Fraktionsvorsitzende.55 Zwar beurteilte es jeweils die Abgeordnetenentschädigung, der strenge Gleichheitssatz gilt jedoch für die Fraktionsfinanzierung gleichermaßen: Werden den Fraktionen Finanzmittel zur Verfügung gestellt, bedarf es für eine unterschiedliche finanzielle Ausstattung eines besonderen Grundes. Der Oppositionszuschlag bedeutet eine finanzielle Besserstellung von Oppositionsfraktionen, erstens gegenüber Regierungsfraktionen und zweitens gegenüber oppositionellen Abgeordneten und parlamentarischen Gruppen, die durch eine fehlende Fraktionsfinanzierung mittelbar schlechter gestellt sind. Der Oppositionszuschlag ist daher rechtfertigungsbedürftig.

I. Besserstellung der Oppositionsfraktionen gegenüber den Regierungsfraktionen Abweichungen von der Mandats-, Gruppen- und Fraktionsgleichheit sind nur dann gerechtfertigt, wenn sie zur Sicherung der Funktionsfähigkeit der Parlamentsarbeit, zur Abwehr missbräuchlicher Ausnutzung parlamentarischer Rechte oder zum Schutze anderer vorrangiger Verfassungsgüter erforderlich sind.56 Die Fraktionsgleichheit beansprucht in den Fällen Geltung, in denen Verfassung, Gesetz oder Geschäftsordnung den Fraktionen eigene Rechte einräumen.57 Die Ungleichbehandlung von Oppositions- und Regierungsfraktionen in Form der finanziellen Besserstellung der Opposition durch einen Oppositionszuschlag rechtfertigt sich im Ergebnis durch das Ineinandergreifen zweier Argumentationsstränge:58 Zunächst ist ein Ausgleich struktureller Nachteile der Oppositionsfraktionen, die anders als die Regierungsfraktionen keine gesonderte Nähe zur Ministerialverwaltung aufweisen, angestrebt. Ferner sollen die besonderen Anforderungen an die parlamentarisch-

54

BVerfGE 40, 296 (317 f.). BVerfGE 102, 224 (242). Hierbei ging es allein um die aus dem Parlamentshaushalt gezahlten Funktionszulagen. Mit den Mitteln der Fraktionsfinanzierung werden längst auch bestimmte Ämtertätigkeiten vergütet, kritisch dazu v. Arnim, Der Verfassungsbruch, S. 106 ff.; vgl. auch Wissenschaftliche Dienste des Deutschen Bundestages, Funktionszulagen für Ausschussvorsitzende im Deutschen Bundestag. Ausarbeitung WD 3 - 438/07 vom 18. 12. 2007, S. 7 ff. 56 BVerfGE 142, 25 (61); vgl. schon BVerfGE 93, 195 (204); 96, 264 (278); in diesem Zusammenhang auch VerfGH Sachsen, LKV 1996, 21 (22); zuletzt VerfGH Sachsen, Urteil vom 27. Oktober 2016 – Vf. 134-I-15 –, juris Rn. 45. 57 VerfGH Sachsen, LKV 1996, 21 (22); VerfGH Sachsen, Urteil vom 27. Oktober 2016 – Vf. 134-I-15 –, juris Rn. 33. 58 Statt Vieler Waldhoff, in: Austermann/Schmahl, AbgG, § 50 Rn. 15; Cancik, Parlamentarische Opposition in den Landesverfassungen, S. 199; a.A. Klenner, DÖV 2018, 563 (566 ff). 55

B. Verfassungsmäßigkeit des Oppositionszuschlages

279

oppositionelle Aufgabenbewältigung durch den Oppositionszuschlag finanziell anerkannt werden.

1. Strukturelle Nachteile der Oppositionsfraktionen Im Kompensationsargument findet sich die negative Rechtfertigungskomponente des Oppositionszuschlages.59 Die Regierungsfraktionen haben einen anderen – erweiterten – Zugang zum Beamtenapparat der Bundesministerien als die Oppositionsfraktionen.60 Dabei geht es nicht etwa um Regierungsinformationen, die grundsätzlich allen Fraktionen mit dem Zitierrecht nach Art. 43 Abs. 1 GG gleichermaßen zugänglich sind,61 sondern maßgeblich um Fachinformationen, die im Rahmen der Erarbeitung von Gesetzentwürfen von Bedeutung sind. Bei einer älteren Umfrage von 1994 schätzten Abgeordnete die Kontakte in die Ministerialverwaltung als ebenso wichtig ein wie die Kontakte zu Vertretern von Interessensgruppen.62 Die Zusammenarbeit zwischen der Ministerialverwaltung und den Fraktionen im Allgemeinen ist an drei verschiedenen Gesichtspunkten erkennbar: Zunächst können sich Mitarbeiter des Ministeriums zeitweise für Fraktionen „abstellen“ lassen. Nach der Sonderurlaubsverordnung werden die Beamten der Ministerialverwaltung in der Regel für eine Wahlperiode mit Möglichkeit der Verlängerung beurlaubt. Die Fraktionen selbst entlohnen die „Fraktionsreferenten“. Hier bringen sie ihre Erfahrungen in die Gesetzgebungsarbeit ein. Diese Möglichkeit besteht für Ministerialbeamte sowohl bei Regierungs- als auch bei Oppositionsfraktionen. Fraktionen sind Tendenzbetriebe. Folglich lassen sich insbesondere die Beamten an die Fraktionen „ausleihen“, deren politische Vorstellungen mit denen der jeweiligen Fraktion in Einklang stehen. Zweitens ist die Zusammenarbeit der Ministerien mit den Arbeitskreisen und -gruppen der Fraktionen von Bedeutung. Grundsätzlich besitzt jedes Ministerium ein 59 Wie hier Schneider, in: ders./Zeh, Parlamentsrecht und Parlamentspraxis, § 38 Rn. 65; Cancik, Parlamentarische Opposition in den Landesverfassungen, S. 207 f.; Linde, Fraktionsfinanzierung in der parlamentarischen Demokratie, S. 63; Waldhoff, in: Austermann/ Schmahl, AbgG, § 50 Rn. 15; Martin, Staatliche Fraktionsfinanzierung in Rheinland-Pfalz, S. 98; Ingold, Das Recht der Oppositionen, S. 215; Mundil, Die Opposition, S. 163; Waack, in: Morlok/Schliesky/Wiefelspütz, Parlamentsrecht, § 22 Rn. 72; Becker, ZParl. 27 (1996), 189 (198 f.); Fischer, Abgeordnetendiäten und staatliche Fraktionsfinanzierung in den fünf neuen Bundesländern, S. 191; Blasius, NWVBl. 1993, 1 (4 f.); Hölscheidt, ZG 30 (2015), 246 (255); auch Menzel, Landesverfassungsrecht, S. 437; a.A. Schneider, Die Finanzierung der Parlamentsfraktionen als staatliche Aufgabe, S. 130; Klenner, DÖV 2018, 563 (566 f.). Vgl. anschaulich und aus politikwissenschaftlicher Sicht Grosser, in: Oberreuter, Parlamentarische Opposition, S. 225. 60 Wissenschaftliche Dienste des Deutschen Bundestages, Die Rolle der Opposition in der Demokratie. Ausarbeitung WD 3 - 285/06 vom 1. 8. 2006, S. 7. 61 Vgl. hierzu Blasius, NWVBl. 1993, 1 (5). Insgesamt zu parlamentarischen Informationsrechten und Gewaltenteilung v. Achenbach, ZParl. 48 (2017), 491 – 515. 62 Patzelt, ZParl. 27 (1996), 462 (477 f.), aus politikwissenschaftlicher Sicht.

280

4. Kap.: Der Oppositionszuschlag im Deutschen Bundestag

Referat für die Zusammenarbeit mit der Regierung (Kabinettsreferat) und mit dem Parlament (Parlamentsreferat), die sowohl geschlossen als auch separat existieren.63 Diese Referate bereiten die Kabinettssitzungen für „ihren“ Minister vor und pflegen die Kontakte zum Parlament, indem sie z.B. an Plenar- und Ausschusssitzungen teilnehmen. Gleichzeitig nehmen Ministerialbeamte aus dem Parlamentsreferat regelmäßig an Sitzungen der Fraktionsarbeitskreise und -gruppen teil.64 Je nach ministerialer Verfahrensweise und Gesetzesvorhaben können an diesen Sitzungen auch Referatsleiter oder Fachreferenten beteiligt sein. Auch der Parlamentarische Staatssekretär hat hier eine besondere Schnittstellenfunktion. Dabei handelt es sich gerade nicht nur um ohnehin bestehende lose persönliche Kontakte, sondern um eine institutionalisierte Zusammenarbeit zwischen Ministerium und Parlament im Allgemeinen, aber auch zwischen Ministerium und Fraktion im Speziellen. Die Fraktionen müssen die Teilnahme von Regierungskreisen an ihren Sitzungen nicht zulassen, die Regierungsfraktionen tun dies aber selbstverständlich. Sie haben ein Interesse an der Mitwirkung bei der Gesetzgebungsarbeit, die in den meisten Fällen von der Bundesregierung ausgeht.65 Anders ist dies bei den Oppositionsfraktionen: Sie haben in der Regel kein Interesse an einer Zusammenarbeit mit dem Regierungsapparat. Es ist nicht zuvörderst Aufgabe der Opposition, Gesetze auf den Weg zu bringen. Vielmehr würden bei einer Zusammenarbeit von Regierungsapparat und Opposition Regierungsvertreter oppositionelle Strategien erfahren, was die Opposition zu verhindern versuchen wird. Eine Zusammenarbeit der Ministerialverwaltung mit der Opposition in gleichem Maße wie mit den Regierungsfraktionen ist nicht realisierbar und darüber hinaus auch nicht gewünscht.66 Theoretisch wäre es zwar denkbar, dass Oppositionsfraktionen um die Mithilfe eines Ministeriums bei der Formulierung von Gesetzentwürfen bitten, praktisch aber fehlte es am Willen zur beiderseitigen Zusammenarbeit. Dementsprechend schwer vorstellbar ist es, dass eine Oppositionsfraktion dem Ministerium, das von politischen Kontrahenten geleitet wird, ein Eckpunktepapier zur Formulierungshilfe vorlegt und ein Ministerium dies mit gleicher Intensität und Ernsthaftigkeit bearbeitet wie die Vorschläge der Koalition. Eine zentrale Bedeutung nehmen drittens die inmitten der Wahlperiode stattfindenden Koalitionsgespräche zur laufenden Zusammenarbeit ein. In der erweiterten Runde dieser Koalitionsrunden sind seit längerem auch die Fraktionsvorsitzenden, mittlerweile zum Teil gar die Ersten Parlamentarischen Geschäftsführer 63

Dazu ebenfalls aus dem politikwissenschaftlichen Schrifttum Mester-Grüner, ZParl. 18 (1987), 361 (362 f.); Ebner, Die Zeit des politischen Entscheidens, S. 103. 64 Becker, ZParl. 27 (1996), 189 (198); zu den Arbeitskreisen in Fraktionsarbeit vgl. BVerfGE 44, 308 (318). 65 Schindler, Datenhandbuch zur Geschichte des Deutschen Bundestages 1949 bis 1999, S. 2388 f.; Feldkamp, Datenhandbuch zur Geschichte des Deutschen Bundestages 1990 bis 2010, S. 1152 ff. 66 Vgl ähnlich Martin, Staatliche Fraktionsfinanzierung in Rheinland-Pfalz, S. 97; Morlok/ Kalb, JZ 2017, 670 (675).

B. Verfassungsmäßigkeit des Oppositionszuschlages

281

beteiligt.67 Eine besondere Rolle hat dabei das Bundeskanzleramt, bei dem die Informationsflüsse zwischen Regierung und Fraktionen stets zusammenlaufen.68 Auch hier ist also eine besondere Informationsebene zwischen Regierungsapparat und Regierungsfraktionen erkennbar, die im Verhältnis zu den Oppositionsfraktionen nicht bestehen kann. Mag die Nähe des Regierungsapparats zur Koalition auch rechtlich schwer zu greifen sein,69 ihre politische Bedeutung ist nicht von der Hand zu weisen. Der Landesrechnungshof Nordrhein-Westfalen machte in einer Vorlage an den Landtag zur Zusammenarbeit von Regierung und Fraktionen 1992 nicht unbegründet auf das Prinzip der Gewaltenteilung aufmerksam.70 Letztlich sind aber neben den gar nicht messbaren persönlichen Kontakten zwischen Regierungsapparat und Mehrheitsfraktionen auch die beschriebenen Formen des Zusammenwirkens unproblematisch, solange sie keine Bindungswirkungen entfalten. Die enge Zusammenarbeit der Ministerialverwaltung mit den Mehrheitsfraktionen ist ungeachtet dessen mit Blick auf das Gleichbehandlungsgebot der Fraktionen relevant.71 Die Opposition kann bei der Überprüfung von Vorlagen aus Reihen der politischen Gegner sowie bei der Erarbeitung von eigenen alternativen Gesetzentwürfen faktisch nicht auf den Sachverstand der Bundesministerien zurückgreifen.72 Daher ist sie vermehrt auf Sachkenntnis von außen angewiesen. Insofern findet der Oppositionszuschlag seine Rechtfertigung. Teilweise wird darauf hingewiesen, dass eine tatsächliche Gleichstellung zwischen Regierungs- und Oppositionsfraktionen allerdings auch nicht durch einen Oppositionszuschlag zu bewirken sei.73 Tatsächlich führen Geldmittel nicht zu sensiblen Informationen, die von Regierungsseite unter Verschluss gehalten werden. Selbstinformation durch Akteneinsicht ist nicht käuflich.74 Geldmittel ersetzen keine Untersuchungsausschüsse. Damit wäre der Zweck des Oppositionszuschlages je67 Feldkamp, Datenhandbuch zur Geschichte des Deutschen Bundestages 1990 bis 2010, S. 556 ff., insbesondere S. 563 ff. 68 Vgl. anschaulich Busse/Hofmann, Bundeskanzleramt und Bundesregierung, 3. Kapitel Rn. 200. 69 Auf anschauliche Art und Weise gelingt das Blasius, NWVBl. 1993, 1 (4 f.). 70 Ders., NWVBl. 1993, 1, verweist auf die Entscheidung des Landesrechnungshofs Nordrhein-Westfalen vom 25. März 1992, LT-Drs. 11/1217, S. 18 ff., 24 f.; anschaulich zusammengefasst bei Linde, Fraktionsfinanzierung in der parlamentarischen Demokratie, S. 61. 71 Blasius, NWVBl. 1993, 1 (4 f.). 72 Klein/Krings, in: Morlok/Schliesky/Wiefelspütz, Parlamentsrecht, § 17 Rn. 72. 73 Cancik, Der Grundsatz (in)effektiver Opposition: zum Urteil des Bundesverfassungsgerichts in Sachen Oppositionsfraktionsrechte, 9. 5. 2016, http://verfassungsblog.de/der-grund satz-ineffektiver-opposition-zum-urteil-des-bundesverfassungsgerichts-in-sachen-oppositionsfr aktionsrechte/, zuletzt geprüft am 26. 4. 2018; Klenner, DÖV 2018, 566 – 570. 74 Vgl. zum Aktenvorlage- und Datenzugangsrecht des Parlaments statt Vieler Klein, in: Maunz/Dürig, GG, 71. EL März 2014, Art. 43 Rn. 118; Wissenschaftliche Dienste des Deutschen Bundestages, Das Akteneinsichtsrecht als Auskunftsrecht des einzelnen Abgeordneten. Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 293/15 vom 25. 11. 2015, S. 4 f.

282

4. Kap.: Der Oppositionszuschlag im Deutschen Bundestag

doch fehlinterpretiert: Dieser liegt nicht in der Sachaufklärung, sondern in der Möglichkeit, zusätzliche Mitarbeiter einzustellen und Experten mit konkreten Sachfragen zu beauftragen. Es geht also zuvörderst um die eigenverantwortliche Generierung von Sachkenntnis. Die zusätzlichen Angebote für alle Abgeordneten stehen der Opposition fortlaufend zur Verfügung. Dies betrifft vor allem die Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages sowie den Bibliotheksservice, das Parlamentsarchiv oder die Pressedokumentation.75 Zwar mag bezweifelt werden, dass der Oppositionszuschlag die informatorische Schwäche der Opposition mit Blick auf die kaum zu überschätzende Generierung von Wissen in der Ministerialbürokratie durch Personal und Erfahrung gänzlich aufwiegen kann,76 einen Beitrag dazu leistet er jedoch allemal.77 Die Intention dazu deuten auch die Landesverfassungen von Bremen, Sachsen-Anhalt und Thüringen an, welche die politische Chancengleichheit der Opposition in unmittelbarer Nähe zur angemessenen Ausstattung der Opposition einfordern.78 2. Besondere Anforderungen an die parlamentarische Aufgabenbewältigung durch die Opposition Als positive Rechtfertigungskomponente für einen Oppositionszuschlag kann der Grundsatz effektiver Opposition angeführt werden,79 insbesondere das besondere Aufgabenprofil der Oppositionsfraktionen und dessen Erfordernisse.80 Da sich die Art und Weise der parlamentarischen Aufgabenbewältigung zwischen Regierungsfraktionen und Opposition voneinander unterscheidet,81 ist auch eine unterschiedliche Ausstattung der Fraktionen gerechtfertigt.82 Alle Landesverfassungen, die die Bedeutung der Oppositionsausstattung ausdrücklich hervorheben, sprechen der parlamentarischen Opposition „besondere Aufgaben“ zu, die eine solche entspre75

Dazu Linde, Fraktionsfinanzierung in der parlamentarischen Demokratie, S. 62. Siehe 6. Kapitel B. III. zur Idee einer „Oppositionsbehörde“. 77 Mundil, Die Opposition, S. 163 f. 78 Art. 78 Abs. 2 Verf. Bremen, Art. 48 Abs. 2 Verf. Sachsen-Anhalt und Art. 59 Abs. 2 Verf. Thüringen. 79 BVerfGE 142, 25 (55 f.). Kritisch zur Rechtfertigung von Ungleichbehandlungen mittels Verfassungsprinzipien Poscher, AöR 122 (1997), 444 (453). 80 Cancik, Parlamentarische Opposition in den Landesverfassungen, S. 208; Waldhoff, in: Austermann/Schmahl, AbgG, § 50 Rn. 15; Waack, in: Morlok/Schliesky/Wiefelspütz, Parlamentsrecht, § 22 Rn. 72; Ingold, Das Recht der Oppositionen, S. 215; Martin, Staatliche Fraktionsfinanzierung in Rheinland-Pfalz, S. 96; Becker, ZParl. 27 (1996), 189 (199); Hölscheidt, ZG 30 (2015), 246 (255); a.A. Klenner, DÖV 2018, 563 (567 f.). 81 Siehe hier schon 2. Kapitel C. III. 2. 82 Insgesamt erinnert diese „positive“ Rechtfertigung an die Rechtfertigung eines gesteigerten Messwerts der Einwohnerzahlen der Stadtstaaten beim Länderfinanzausgleich (Stadtstaatenprivileg), siehe § 9 Abs. 2 FAG. Dadurch soll ein höherer Finanzbedarf für die Einwohner der Stadtstaaten ausgeglichen werden. Mit dem Oppositionszuschlag soll der höhere Finanzbedarf für die Aufgabenbewältigung der Opposition anerkannt werden. 76

B. Verfassungsmäßigkeit des Oppositionszuschlages

283

chende finanzielle Ausstattung verdient.83 Wie hier schon festgestellt, haben alle Abgeordneten grundsätzlich die gleichen parlamentarischen Aufgaben zu erfüllen. Die Oppositionsfraktionen nehmen nicht etwa treuhänderisch Aufgaben für das Parlament als Ganzes wahr,84 sie üben aber die Kritik- und Kontroll- sowie Alternativfunktion in bestimmter Weise aus.85 Sie benötigen für diese Art der Aufgabenerfüllung zum einen finanzielle Mittel für Informationen in Form von Expertenwissen von außen und zum anderen für die Öffentlichkeitsarbeit. Regierungskontrolle bedarf regelmäßig personal- und damit kostenintensiver Untersuchungsausschüsse und Klageverfahren86 sowie Großer und Kleiner Anfragen. Für Regierungskritik braucht es Sachkenntnis. Sachliche Alternativenbildung verlangt ebenfalls Expertenwissen und eine komplexe Erarbeitung von parlamentarischen Gegenkonzepten in Form von Gesetzentwürfen87 und Anträgen. Die Opposition ist mehr als die Regierungsseite auf Sachverstand von außen und die öffentliche Wahrnehmung angewiesen. Im Hinblick auf die Generierung von Sachkenntnis führt der zuvor thematisierte Wegfall von Informationen durch die Bundesministerien in der Praxis zu notwendigen finanziellen Mehraufwendungen bei der Informationsgewinnung. Hier greifen negative und positive Rechtfertigungskomponente ineinander, die strukturellen Ressourcennachteile der Opposition erschweren die Erfüllung von Aufgaben. Die Opposition ist darüber hinaus an der Abwahl der Regierung interessiert. Abgeordnete der Regierungsfraktionen können Anfragen, Kritik und Alternativvorschläge88 zu gesetzgeberischen Einzelfragen in den fraktionellen Willensbildungsprozess einbringen. Sie halten sich zumindest in der Öffentlichkeit mit Kritik an der Regierung zurück und sind grundsätzlich regierungsloyal. Dagegen ist die Einbeziehung der Öffentlichkeit in die Arbeit der Opposition von entscheidender

83 Siehe Art. 16a Abs. 2 Satz 2 Verf. Bayern, Art. 78 Abs. 2 Verf. Bremen, Art. 19 Abs. 2 Satz 2 Verf. Niedersachsen, Art. 85b Abs. 2 Satz 2 Verf. Rheinland-Pfalz, Art. 48 Abs. 2 Verf. Sachsen-Anhalt und Art. 59 Abs. 2 Verf. Thüringen; noch konkreter zu den Aufgaben Art. 24 Abs. 2 Verf. Hamburg. 84 So aber Becker, ZParl. 27 (1996), 189 (198); vgl. dagegen „Mehraufwand der Oppositionsfraktionen“ bei Müssener, ZParl. 33 (2002), 669 (672); Braun/Jantsch/Klante, AbgG, § 50 Rn. 9. Siehe nochmals 2. Kapitel C. III. 2. 85 Dazu Hölscheidt, DÖV 1993, 593 (600); ders., Das Recht der Parlamentsfraktionen, S. 603; Mundil, Die Opposition, S. 163. Vgl. auch Schmidt, Die demokratische Legitimierungsfunktion der parlamentarischen Kontrolle, S. 78. 86 Hinsichtlich der Kosten bei Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht gelten die §§ 34, 34a BVerfGG: Grundsätzlich sind Verfahren kostenfrei, § 34 Abs. 1 BVerfGG. Eigene Auslagen sind jedoch nicht erstattungsfähig, sofern das Verfahren nicht mit Erfolg beschieden ist. Im Rahmen eines Organstreits in Prozessstandschaft tragen die Fraktionen und nicht der Bundestag die Kosten. 87 Mundil, Die Opposition, S. 163. 88 Vgl. Hölscheidt, ZG 30 (2015), 246 (255), der die Alternativfunktion der Regierungsfraktionen in Gänze verneint.

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4. Kap.: Der Oppositionszuschlag im Deutschen Bundestag

Bedeutung.89 Öffentlichkeitsarbeit der Fraktionen – finanziert durch Fraktionsmittel aus dem Bundeshaushalt – ist zulässig, sofern die Fraktion und nicht die Partei nach außen hin auftritt.90 Das Abgeordnetengesetz würdigt die Notwendigkeit der Unterrichtung der Öffentlichkeit über die Tätigkeit der Fraktionen in § 47 Abs. 3 AbgG. Zwar stehen der parlamentarischen Minderheit viele wichtige Verfahrensrechte zu, doch vor allem durch die Beeinflussung der öffentlichen Meinung kann die Opposition notwendigen politischen Druck auf die Regierungsseite ausüben. Die Opposition ist folglich auf Zusatzausgaben für die Öffentlichkeitsarbeit angewiesen. Der Staatsgerichtshof Bremen erkennt dies ebenfalls an und konstatiert überdies, dass es für die Opposition schwieriger als für die Regierungsseite ist, Aufmerksamkeit für ihre Vorhaben zu erlangen: „Der Sinn des Oppositionszuschlags (§ 40 Abs. 2 BremAbgG) liegt in der gewollten Stärkung der parlamentarischen Opposition. […] Die Präsentation der Opposition als sachliche und personelle Alternative zur Regierung erweist sich dadurch als schwierig, dass die parlamentarische Opposition von den Informationen und Machtinstrumenten abgeschnitten ist, über welche die Regierung und die sie tragende Parlamentsmehrheit verfügen. Auch im Hinblick auf die Wahrnehmung in der Öffentlichkeit ist sie gegenüber dem ,Regierungsblock‘ im Nachteil. Von daher ist es konsequent, der parlamentarischen Opposition eine erhöhte finanzielle Ausstattung zukommen zu lassen, die es ihr erlaubt, die Vorteile der die Regierung tragenden Mehrheit auszugleichen, ihre genuine Kontrollaufgabe wahrzunehmen und sich als Alternative darzustellen.“91

Die geprüften Rechnungen der Regierungs- und Oppositionsfraktionen im Bundestag geben Aufschluss darüber, ob ihre Ausgaben in den Bereichen „Sachverständigen-, Gerichts- und ähnliche Kosten“ sowie „Ausgaben für die Öffentlichkeitsarbeit“ auseinanderfallen – ob tatsächlich auch höhere finanzielle Aufwendungen der Opposition für Sachverständige und Öffentlichkeit geleistet werden. Die CDU/CSU-Fraktion gab im Bereich „Sachverständigen-, Gerichts- und ähnliche Kosten“ in der 18. Wahlperiode (Kalenderjahre 2014 bis 2016)92 484.272 Euro aus, die sich auf 0,5 % ihrer Gesamteinnahmen belaufen; die SPD-Fraktion 249.564 Euro, umgerechnet nur 0,4 % ihrer Gesamteinnahmen. DIE LINKE gab in diesem Bereich dagegen 835.715 Euro (2,2 %) aus, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN immerhin 729.230 Euro (2,0 %). Ein ähnliches Bild bieten die Ausgaben im Bereich „Öffentlichkeitsausgaben“, die sich z.B. auf Arbeit in Zusammenhang mit sozialen Netzwerken, Pflege des Internetauftritts oder Druckereikosten beziehen. Hier betrugen die Ausgaben der CDU/CSU-Fraktion 3.317.379 Euro (3,2 %), die der SPD89 Vgl. anschaulich Cancik, ZParl. 48 (2017), 516 (517); auch BVerfGE 137, 185 (265); dazu v. Achenbach, ZParl. 48 (2017), 491 (506). 90 Ausführlich Waldhoff, in: Austermann/Schmahl, AbgG, § 50 Rn. 26. Zur „Spannungszone“ zwischen Fraktions- und Parteienfinanzierung Heintzen, DVBl. 2003, 706 (708). Kritisch dazu z.B. Morlok, in: Tsatsos, Politikfinanzierung in Deutschland und in Europa, S. 98 ff.; v. Arnim, Der Verfassungsbruch, S. 113. 91 StGH Bremen, NVwZ 2005, 929 (932). 92 BT-Drs. 18/5870, 18/9490, 18/13300.

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Fraktion 3.049.611 Euro (4,3 %), die der Linksfraktion 3.705.489 Euro (9,9 %) und die der Fraktion von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 1.952.861 Euro (5,3 %). Diese Zahlen verdeutlichen, dass zumindest die Oppositionsfraktionen der 18. Wahlperiode mehr Geld in Sachverständigen- und Öffentlichkeitsarbeit investierten als die Regierungsfraktionen. Die Opposition gab in etwa das Vierfache ihres Geldes für den Posten „Sachverständigen-, Gerichts- und ähnliche Kosten“ aus. Von den gezahlten Bundesmitteln ausgehend, flossen wiederum doppelt so viel Gelder von der Opposition in den Bereich der Öffentlichkeitsarbeit. Die Art und Weise der Erledigung des parlamentarischen Aufgabenportfolios zwischen Regierungsfraktionen und Opposition unterscheidet sich. Auch aus diesem Grund ist eine unterschiedliche Ausstattung der Fraktionen gerechtfertigt.

II. Besserstellung der Oppositionsfraktionen gegenüber oppositionellen Abgeordneten und Gruppen Der Oppositionszuschlag wird zwar an die Fraktionen gezahlt, dennoch profitieren mittelbar die Abgeordneten – ihre Mitglieder – davon. Unbeantwortet bleibt daher noch, ob sich auch eine Ungleichbehandlung der Abgeordneten von Oppositionsfraktionen gegenüber den Abgeordneten oppositioneller Gruppen und einzelner oppositioneller Abgeordneter als gerechtfertigt erweist. Problematisch ist also auch die konkrete Adressatenschaft des Oppositionszuschlages. Da auf Bundesebene keine verfassungsrechtlichen Vorgaben existieren, ist die alleinige Zuweisung des Oppositionszuschlages an die Fraktionen zumindest am Gleichbehandlungsgebot nach Art. 38 Abs. 1 GG zu messen. Danach sind Abgeordnete ungeachtet einer Mitgliedschaft in einer Fraktion oder Gruppe gleich zu behandeln. In Bezug auf die Rolle des einzelnen Abgeordneten befand der Bremer Staatsgerichtshof jedoch richtigerweise, dass zunächst den Fraktionen als parlamentsrechtliches aliud93 zu Abgeordneten ein Oppositionszuschlag gezahlt würde und lediglich mittelbare Vorteile durch verbesserte Informationsmöglichkeiten und konkrete politische Unterstützung für die Fraktionsabgeordneten zu erwarten seien. Darüber hinaus sei aber auch eine Differenzierung in der finanziellen Ausstattung aufgrund der fehlenden Koordinierungskosten der einzelnen Parlamentarier und der besonderen Rolle der Fraktionen im Parlament gerechtfertigt.94 Christian Waldhoff spricht dem einzelnen Abgeordneten gar seine Fähigkeit ab, sinnvoll Oppositionsarbeit zu betreiben.95 Damit folgt er wiederum dem Bremer Staatsgerichtshof, der nüchtern festhält:

93

Schneider, Die Finanzierung der Parlamentsfraktionen als staatliche Aufgabe, S. 53. StGH Bremen, NVwZ 2005, 929 (932). 95 Waldhoff, in: Austermann/Schmahl, AbgG, § 50 Rn. 16. Ähnlich Mundil, Die Opposition, S. 124; anders Rossi, JZ 2016, 1169 (1170). 94

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4. Kap.: Der Oppositionszuschlag im Deutschen Bundestag

„Vor allem aber gilt […], daß die ohnehin schwierige Aufgabe der Kontrolle und der Präsentation sachlicher und personeller Alternativen zur Regierung und ihrer Mehrheit nur einer Fraktion, nicht Einzelabgeordneten gelingen kann. Im Verhältnis zu einer (Oppositions-)Fraktion sind die Wirkungsmöglichkeiten eines fraktionslosen einzelnen Abgeordneten bereits aus faktischen Gründen eingeschränkt. Die Anerkennung der Leistungsfähigkeit von Fraktionen […] entspricht daher den parlamentarischen Realitäten, denen Verfassung- und Gesetzgeber bei der Gestaltung des Gegenübers von Regierung und Opposition Rechnung tragen durften“96.

Dem ist zuzustimmen.97 Eine funktionierende parlamentarische Opposition bedarf einer in gewissem Maße institutionalisierten Arbeitsteilung,98 wenn es im Einzelfall auch einmal Ausnahmen geben kann.99 Während sich die Ausklammerung von einzelnen fraktionslosen Abgeordneten folglich als gerechtfertigt erweist,100 ist die Nichtberücksichtigung parlamentarischer Gruppen nicht rechtfertigungsfähig. Zwar handelt es sich bei den parlamentarischen Gruppen ebenfalls um eine in Größe, Aufgabenzuweisung sowie Bedeutung unterscheidbare Organisationseinheit, was sich auch in der Höhe der finanziellen Ausstattung widerspiegeln muss. Bei den parlamentarischen Gruppen entstehen jedoch, wie bei den Fraktionen, Koordinierungskosten. Die personelle Größe einer parlamentarischen Gruppe kann theoretisch nur minimal von der Größe einer Fraktion abweichen. Das Bundesverfassungsgericht bestätigt die grundsätzliche Anspruchsberechtigung parlamentarischer Gruppen auf eine angemessene Ausstattung mit sachlichen und personellen Mitteln, sofern auch Fraktionen solche gewährt werden.101 Dabei dürfe jedoch nach einer typisierenden Betrachtungsweise eine Differenzierung zwischen Fraktion und Gruppe erfolgen, die sich in der Finanzierung niederschlägt: „Dem Anspruch der Antragstellerin auf eine ihren Aufgaben als Gruppe angemessene Ausstattung mit sachlichen und personellen Mitteln wird durch die ihr zufließenden Haushaltsmittel genügt, die sich aus einem Grundbetrag, den nach der Zahl der Abgeordneten berechneten Zuschlägen sowie den besonderen Zuschlägen für die Oppositionsarbeit zusammensetzen. Bei der Bemessung des Grundbetrages auf die Hälfte des an Fraktionen gezahlten Grundbetrages durfte der Antragsgegner […] aufgrund einer typisierenden Betrachtungsweise davon ausgehen, daß die von Gruppen zu bewältigenden Aufgaben in der 96

StGH Bremen, NVwZ 2005, 929 (932). Brocker/Messer, NVwZ 2005, 895 (898). 98 Mundil, Die Opposition, S. 124. 99 Als Beispiel kann hier sicherlich der Coup von Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) dienen, dem es 2013 gelang, ein Treffen mit dem Whistleblower Edward Snowden zu arrangieren. Seine Bereitschaft, auch in Deutschland zur NSA-Affäre auszusagen, brachte die Bundesregierung nicht unwesentlich in Bedrängnis. 100 Wie hier StGH Bremen, NVwZ 2005, 929 (932); Becker, ZParl. 27 (1996), 189 (192 f.); Waldhoff, in: Austermann/Schmahl, AbgG, § 50 Rn. 16; Waack, in: Morlok/Schliesky/Wiefelspütz, Parlamentsrecht, § 22 Rn. 72. A.A. Cancik, Parlamentarische Opposition in den Landesverfassungen, S. 201 f. 101 BVerfGE 84, 304 (324). 97

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parlamentarischen Arbeit im allgemeinen geringer sind als die Fraktionsaufgaben. Das Argument der Antragstellerin, sie sei als Gruppe von nur 17 Abgeordneten in besonderem Maße auf außerparlamentarische wissenschaftliche Hilfsleistungen angewiesen, um ihre Mitarbeit in den Ausschüssen, deren Anzahl die Zahl ihrer Mitglieder übersteige, insbesondere durch begründete Anträge zu qualifizieren, schlägt demgegenüber nicht durch. Es ist von Verfassungs wegen nicht geboten, daß der Antragsgegner […] die durch die Entscheidung der Wähler bedingte geringere Abgeordnetenzahl der Antragstellerin durch erhöhte Zuweisungen von Haushaltsmitteln für wissenschaftliche Hilfskräfte ausgleicht.“102

In der Praxis wird auch den parlamentarischen Gruppen ein Oppositionszuschlag gewährt. Dies ist verfassungsrechtlich geboten,103 sofern auch den Fraktionen ein solcher gezahlt wird. Auf Landesebene gilt dies entsprechend, sofern zumindest die Verfassung Oppositionszuschläge nicht ausdrücklich nur für Fraktionen vorsieht.104 1997 äußerte sich der Verfassungsgerichtshof Sachsen-Anhalts dazu, wer überhaupt zur Opposition gehöre. Er entschied, dass einer Fraktion, die nicht in der Regierungskoalition vertreten ist, aber die Regierung im Rahmen einer Minderheitsregierung toleriert, nicht vom Oppositionszuschlag ausgeschlossen sei.105 Ad hocOppositionen steht der Oppositionszuschlag dagegen nicht zu. Dies ist damit zu begründen, dass einerseits kein Kompensationsbedürfnis besteht und kein besonderes Aufgabenspektrum finanziert werden muss, andererseits rein praktische Gesichtspunkte eine Umsetzung wesentlich erschwerten.106 Daraus folgt, dass eine unterschiedliche Ausstattung von Oppositionsfraktionen gegenüber einzelnen oppositionellen Abgeordneten bzw. Oppositionsgruppen angemessen ist, weil dafür ein zwingender Grund vorliegt.107 Eine Nicht-Berücksichtigung der oppositionellen Gruppen ist allerdings bei der Ausstattung mittels eines Oppositionszuschlages nicht mit dem formalen Gleichheitssatz vereinbar.108

III. Keine verfassungsrechtliche Gebotenheit des Oppositionszuschlages Der Oppositionszuschlag ist nicht verfassungswidrig. Dies beantwortet aber nicht die Frage, ob er auch verfassungsrechtlich geboten ist. Eine verfassungsrechtliche Gebotenheit des Oppositionszuschlages meint die verfassungsimmanente Pflicht zur Zahlung eines Oppositionszuschlages aus dem Bundeshaushalt. Es handelt sich 102

BVerfGE 84, 304 (333 f.). Becker, ZParl. 27 (1996), 189 (193 ff.). 104 Zur Frage von verfassungswidrigem Landesverfassungsrecht im Rahmen des Oppositionszuschlages Ingold, Das Recht der Oppositionen, S. 214. 105 VerfGH Sachsen-Anhalt, LKV 1998, 101; vgl. dazu insgesamt Cancik, AöR 123 (1998), 623 – 645. 106 Dies., Parlamentarische Opposition in den Landesverfassungen, S. 203. 107 Becker, ZParl. 27 (1996), 189 (197 ff.). 108 Ders., ZParl. 27 (1996), 189 (193 ff.). 103

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4. Kap.: Der Oppositionszuschlag im Deutschen Bundestag

letztlich, wie auch bei § 126a GO-BT a.F. und den Redezeiten, um eine grundlegend parlamentsrechtliche Frage. Sie orientiert sich einerseits an der Gleichheit der Abgeordneten und andererseits an Notwendigkeiten im Rahmen der Verfassungswirklichkeit. Der Oppositionszuschlag erreicht eine finanzielle Besserstellung der Oppositionsfraktionen, die verminderte Informationszugänge zum Beamtenapparat sowie tatsächliche Unterschiede in der Erledigung parlamentarischer Aufgaben aufzuwiegen versucht. Die Verfassung aber sieht keine ausdrückliche Zuweisung von Finanzmitteln an die Opposition vor. Vielmehr hielt das Bundesverfassungsgericht in seiner Entscheidung aus dem Jahr 2016 fest, dass dem verfassungsrechtlichen Grundsatz effektiver Opposition kein Gebot für die Schaffung spezifischer Oppositionsfraktionsrechte zu entnehmen sei.109 Für einen Anspruch auf zusätzliche finanzielle Mittel gilt im Ergebnis das Gleiche. Ähnlich wie bei den Redezeiten kann ein allgemeines Verfassungsprinzip, hier der Grundsatz effektiver Opposition, zwar grundsätzlich für die Rechtfertigung einer Differenzierung von Abgeordneten herangezogen werden, eine verfassungsrechtliche Gebotenheit aber geht weit darüber hinaus. Ein grundgesetzlicher Anspruch, zusätzliche finanzielle Zuwendungen aus dem Bundeshaushalt zu erhalten, besteht nicht. Dieser beschränkt sich vielmehr auf eine insgesamt angemessene Ausstattung der Fraktionen zur Erfüllung ihrer Aufgaben, die sich zwar in ihrer Art und Weise der Erledigung unterscheiden, nicht aber in ihrer Charakteristik als ganzheitliche Parlamentsaufgaben. Ferner gibt es kein Gebot der Chancengleichheit von Regierung und Opposition.110 Die Frage, ob es ein Gebot der Chancengleichheit von Regierungsmehrheit und Opposition gibt,111 ist ungeachtet dessen nicht zielführend. Es bleibt bereits offen, welchen Bezugspunkt eine etwaige Chancengleichheit aufweisen soll. Geht es um die Möglichkeit, Gesetze zu erlassen oder etwa die Regierung zu kontrollieren? Das kann kaum intendiert sein, schließlich geben die Mehrheitsverhältnisse faktisch keinen Raum dafür. Chancengleichheit besteht vielmehr, indem Abgeordnete und folgerichtig auch Gruppen und Fraktionen insgesamt nach dem formalen Gleichheitssatz zu behandeln sind, die gleichen Chancen haben. Die landesverfassungsrechtlichen Regelungen zur Chancengleichheit der Opposition stiften dementsprechend mehr Verwirrung,112 als dass sie praktischen Nutzen, also rechtliche Pflichten, entfalten. Mit der Abgeordnetengleichheit geht einher, dass die Chancen gleich groß sein müssen, die im Grundgesetz vorgesehenen Parlamentsaufgaben erfüllen zu 109

BVerfGE 142, 25 (58 ff.). A.A. Schneider, Die parlamentarische Opposition im Verfassungsrecht der Bundesrepublik Deutschland; wie hier Ingold, Das Recht der Oppositionen, S. 211 f. 111 Dazu unter anderem Schneider, Die Finanzierung der Parlamentsfraktionen als staatliche Aufgabe, S. 191. 112 Im Ergebnis ebenfalls kritisch Cancik, JöR 55 (2007), 151 (191 f.). Vgl. aus politikwissenschaftlicher Perspektive schon Oberreuter, in: ders., Parlamentarische Opposition, S. 271. A.A. im Rahmen der Debatte um die Minderheitenrechte Kloepfer, In großer Gefahr, FAZ vom 1. 11. 2013, S. 7. 110

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können. Rechtliche Unterschiede zwischen Abgeordneten von Mehrheits- und Oppositionsfraktionen gibt es nicht. Faktische Unterschiede sind zumindest in Grenzen hinzunehmen, auch weil sie wechselseitig bestehen. Mechanismen zur Herstellung einer absoluten und „analogen Chancengleichheit“113, also Ausgleichsmechanismen, die an die Funktionsunterschiede zwischen Regierungsmehrheit und Opposition angepasst sind, lassen sich in der Praxis schwerlich finden, wenn sie denn überhaupt existieren. Mehr Geld kann weniger Sachkenntnis nicht automatisch und gleichermaßen ersetzen, auch müssten alle Ungleichheiten dann wechselseitig in den Blick genommen werden. Insofern braucht es auch auf Seiten der Regierungsfraktionen im Rahmen der Koalition höheren Aufwand in der Zusammenarbeit mit Bündnispartnern und Ministerien bei der Gesetzgebungsarbeit. Schließlich bedürfen Koalitionsentwürfe sowie Regierungsvorlagen der Beschaffung politischer Mehrheiten. Die Abgeordneten der Mehrheitsfraktionen sind anders als die Abgeordneten der Opposition in die Gesetzgebungsarbeit der Regierung eingebunden. Für diesen Mehraufwand gibt es keinen finanziellen Ausgleich. Im Übrigen existieren informatorische Vorteile im föderalen Staatsaufbau,114 namentlich die Zusammenarbeit mit „befreundeten“ Landesregierungen, die nicht ausgeglichen werden. Die Verfassungswirklichkeit – Abgeordnete der Koalition profitieren von den Kontakten zur Ministerialbürokratie – ist hinzunehmen. Es wäre nicht begrüßenswert, die positiven Effekte der frühzeitigen Zusammenarbeit zwischen Parlament und Regierung bei der Gesetzgebungsarbeit abzuschneiden. Die Oppositionsfraktionen können zudem nicht nur auf gegebenenfalls „befreundete“ Landesregierungen zurückgreifen, sondern auch auf die vom Bundestag fraktionsunabhängig zur Verfügung gestellten Wissenschaftlichen Dienste. Auch die Hearings115 in den Ausschüssen (§ 70 Abs. 1 GO-BT) werden nicht von den Fraktionen selbst finanziert, sondern vom Bundestag nach der Richtlinie über die Entschädigung116 und Reisekostenvergütung für Sachverständige und Auskunftspersonen in der Fassung vom 1. Januar 2008.117 Gleichwohl weder die Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages noch die Ausschussanhörungen eine weitergehende Informationsgewinnung, z.B. in Form von Expertengutachten, ersetzen können, wird ein verfassungsrechtlicher Anspruch auf zusätzliche Mittel damit noch nicht begründet.118 113

Ingold, Das Recht der Oppositionen, S. 213. Hierzu Mundil, Die Opposition, S. 164. 115 Vgl. Schüttemeyer, in: Schneider/Zeh, Parlamentsrecht und Parlamentspraxis, § 42 Rn. 10 ff. 116 Diese beträgt für Sachverständige und Auskunftspersonen 100 Euro, bei Abgabe einer schriftlichen Stellungnahme 150 Euro. Überdies werden Reisekosten übernommen. 117 Siehe dazu § 70 Abs. 7 GO-BT, Ritzel/Bücker/Schreiner/Winkelmann, HdbPP, 29. EL September 2013, Anhang zu § 70, S. 14.1. Vgl. auch Winkelmann, in: Morlok/Schliesky/ Wiefelspütz, Parlamentsrecht, § 23 Rn. 61. 118 StGH Bremen, NVwZ 2005, 929 (932); deutlich Brocker/Messer, NVwZ 2005, 895 (898); ebenfalls überzeugend Poscher, AöR 122 (1997), 444 (453); letztlich wohl auch Becker, 114

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4. Kap.: Der Oppositionszuschlag im Deutschen Bundestag

Zwar bestehen auf Landesebene vielfach verfassungsrechtliche Ausstattungsgarantien für die Opposition. Auf Bundesebene führt dies aber nicht zu einem verallgemeinerungsfähigen verfassungsrechtlichen Gedanken, der eine Pflicht zur besonderen Oppositionsausstattung zur Folge hat.119 Politik ist grundsätzlich konstitutionalisierbar, so auch ein Oppositionszuschlag. Sofern aber keine ausdrücklichen Verfassungsbestimmungen die finanzielle Besserstellung der Opposition bei der Ausstattung vorsehen, ist dem Grundgesetz als Rahmenordnung kein Gebot zum Oppositionsbonus zu entnehmen. Die bis 1977 gängige Praxis, Mehrheits- und Oppositionsfraktionen bei der Fraktionsausstattung nicht zu unterscheiden, spricht nicht gegen eine grundgesetzliche Pflicht zum finanziellen Ausgleich tatsächlicher Ungleichheiten.120 Dennoch fällt es den Stimmen in der Wissenschaft, die eine Gebotenheit des Oppositionszuschlages annehmen, schwer, die Parlamentspraxis auf Bundesebene vor 1977 sowie in den Bundesländern vor Einführung der Oppositionszuschläge für verfassungswidrig zu erklären.121 Schließlich ergäben sich nicht zuletzt praktische Schwierigkeiten durch die Quantifizierung „angemessener“ Zuschläge. Entsprechend unklar bleibt bei Sven Hölscheidt, der die verfassungsrechtliche Gebotenheit des Oppositionszuschlages ausdrücklich bejaht, warum eine Erhöhung des Oppositionszuschlages wie in der 18. Wahlperiode schon über das grundgesetzlich gebotene Maß hinaus geht.122 Es bleibt dabei: Der Gesetzgeber kann eine Ungleichbehandlung von Mehrheits- und Oppositionsfraktionen mit der Kompensation informationeller Schwäche und der Anerkennung eines besonderen Aufgabenprofils der Opposition rechtfertigen; verpflichtet ist er dazu hingegen nicht. Solange auf Bundesebene eine ausdrückliche Verfassungsnorm fehlt, ist der Gesetzgeber in seiner Entscheidung frei, einen Oppositionszuschlag zu gewähren.123

ZParl. 27 (1996), 189 (199); Ingold, Das Recht der Oppositionen, S. 213; Cancik, Parlamentarische Opposition in den Landesverfassungen, S. 207 ff.; für Rheinland-Pfalz Edinger, in: Grimm/Caesar, Verf. Rheinland-Pfalz, Art. 85b Rn. 15; für Bayern Möstl, in: Lindner/Möstl/ Heinrich, Verf. Bayern, Art. 16a Rn. 8; für Nordrhein-Westfalen Thesling, in: Heusch/Schönenbroicher, Verf. Nordrhein-Westfalen, Art. 30 Rn. 9; a.A., also eine verfassungsrechtliche Gebotenheit annehmend, Jekewitz, ZParl. 13 (1982), 314 (322 ff.); Waack, in: Morlok/ Schliesky/Wiefelspütz, Parlamentsrecht, § 22 Rn. 72; Hölscheidt, ZG 30 (2015), 246 (254 f.); wohl auch Blasius, NWVBl. 1993, 1 (5); Schneider, Die Finanzierung der Parlamentsfraktionen als staatliche Aufgabe; Waldhoff, in: Austermann/Schmahl, AbgG, § 50 Rn. 16. „Herstellung von Chancengleichheit“ heißt es bei Schulte/Kloos, in: Baumann-Hasske/Kunzmann, Verf. Sachsen, Art. 40 Rn. 12; ähnlich für Niedersachsen Neumann, Verf. Niedersachsen, Art. 19 Rn. 21. 119 Anders Waldhoff, in: Austermann/Schmahl, AbgG, § 50 Rn. 16. 120 Ders., in: Austermann/Schmahl, AbgG, § 50 Rn. 16. 121 Poscher, AöR 122 (1997), 444 (453 Fn. 50). 122 Vgl. Hölscheidt, ZG 30 (2015), 246 (255). 123 Dagegen enger Waldhoff, in: Austermann/Schmahl, AbgG, § 50 Rn. 16.

C. Verfassungsmäßigkeit der Anhebung des Oppositionszuschlages

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C. Verfassungsmäßigkeit der Anhebung des Oppositionszuschlages in der 18. Wahlperiode Nachdem festgestellt wurde, dass der Oppositionszuschlag grundsätzlich verfassungsgemäß, wenn auch nicht geboten ist, bleibt noch die Frage unbeantwortet, inwieweit der Bundestag den Oppositionszuschlag in Zeiten Großer Koalitionen, insbesondere qualifizierter Großer Koalitionen, erhöhen kann. Mit jeder Anhebung der finanziellen Ausstattung der Oppositionsfraktionen wird die Ungleichbehandlung gegenüber den Regierungsfraktionen vertieft. In Frage steht damit auch die Quantifizierung des Oppositionszuschlages, welcher Oppositionszuschlag noch gerechtfertigt ist, welcher nicht mehr. Schon im Antrag der Koalitionsfraktionen auf Änderung der Geschäftsordnung zur besonderen Anwendung der Minderheitenrechte in der 18. Wahlperiode vom 11. Februar 2014 war die Erhöhung des Oppositionszuschlages für jedes Mitglied der Oppositionsfraktionen von 10 % auf 15 % geregelt.124 Im Haushaltsbeschluss für das Haushaltsjahr 2014125 wurde diese Änderung erstmals festgelegt.126 Der Zuschlag in Bezug auf den Grundbetrag blieb konstant bei 15 %.

I. Parlamentarisches Selbstorganisationsrecht als Rechtsgrundlage für die Anhebung des Oppositionszuschlages nach § 50 Abs. 2 Satz 1 AbgG Die Festsetzung der eigenen finanziellen Ausstattung mitsamt der Fraktionsausstattung, obliegt dem Parlament. Es ist eine Entscheidung in eigener Sache127. Eine Anhebung des Oppositionszuschlages durch das Parlament beruht auf dem Selbstorganisationsrecht nach Art. 40 Abs. 1 Satz 2 GG.128 Die einfachgesetzliche Vorschrift des § 50 Abs. 2 Satz 1 AbgG regelt klassisches „SelbstorganisationsRecht“. Hier wird lediglich das Verfahren der Festsetzung konkretisiert: Der Bundestag bestimmt die Höhe des Oppositionszuschlages jährlich; der Präsident legt dem Bundestag im Benehmen mit dem Ältestenrat jeweils bis zum 30. September des Jahres einen Bericht über die Angemessenheit des Oppositionszuschlages und zugleich einen Anpassungsvorschlag vor.129 124

BT-Drs. 18/481, 18/997, jeweils S. 3 und 5. Siehe das Haushaltsgesetz 2014 vom 15. Juli 2014, BGBl. I S. 914, Einzelplan 02, Kapitel 0201 bei Titel 684 01; BT-Drs. 18/2500, S. 2. Für die Haushaltspläne zu den Haushaltsjahren 2015, 2016 und 2017 gilt dies gleichermaßen. 126 Siehe dazu die jährlichen Unterrichtungen durch den Bundestagspräsidenten in BT-Drs. 18/2500, 18/6155, 18/9750 und 19/2664, jeweils S. 2. 127 Zum Begriff ausführlich Lang, Gesetzgebung in eigener Sache, S. 16 ff. 128 Anschaulich Waldhoff, in: Austermann/Schmahl, AbgG, § 50 Rn. 18. 129 In einem Wahljahr verschiebt sich das Haushaltsverfahren zeitlich nach hinten, sodass auch der Bericht erst zu einem späteren Zeitpunkt vorliegt. Dadurch soll unter anderem er125

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4. Kap.: Der Oppositionszuschlag im Deutschen Bundestag

II. Verfassungsrechtliche Diskussion Eine verfassungsrechtliche Pflicht zur finanziellen Besserstellung der Opposition besteht auch nicht in Phasen besonders mandatsstarker Großer Koalitionen. Besondere Mehrheitsverhältnisse haben insofern keine systemischen Veränderungen in Bezug auf die Fraktionsfinanzierung zur Folge. Die zusätzliche Ausstattung der Opposition hängt nicht von der Größe der parlamentarischen Opposition ab, auch weil die Oppositionsfraktionen einen gerichtlich durchsetzbaren Anspruch auf eine grundlegende Finanzierung ihrer Tätigkeiten haben. Ein Minimum an finanzieller Ausstattung ist gewährleistet. Verfassungsrechtliche Grenze der Festsetzungsfreiheit nach Art. 40 Abs. 1 Satz 2 GG ist die Zweckbindung der Gelder, also die Aufgabenerfüllung des Bundestages durch die Fraktionen. Obwohl aus der Bildung einer Großen Koalitionen keine verfassungsrechtliche Pflicht zur Anhebung des Oppositionszuschlages erwächst, hat eine qualifizierte Große Koalition Einfluss auf die Fraktionsfinanzierung. Zwar bleibt der Grundbetrag für die Oppositionsfraktionen genauso hoch wie der Grundbetrag der Mehrheitsfraktionen. Die Anzahl der Abgeordneten der Opposition ist jedoch geringer, demgemäß sinken die Steigerungsbeträge und der danach bemessene Oppositionszuschlag. In absoluten Zahlen erhalten die Regierungsfraktionen also weitaus mehr Geld als die Oppositionsfraktionen, weil ihre Steigerungsbeträge je Abgeordneten die Finanzmittel der Opposition bei weitem übersteigen. So bezogen die Fraktionen von DIE LINKE und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN in der 18. Wahlperiode in etwa so viele Finanzmittel aus dem Bundeshaushalt wie die SPD-Fraktion allein. Im Kalenderjahr 2016 waren das beispielhaft für die Linksfraktion 12.691.092 Euro, für die Fraktion von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 12.577.680 Euro und für die SPDFraktion 23.757.000 Euro – die CDU/CSU-Fraktion erhielt im gleichen Jahr 35.295.072 Euro.130 Es lässt sich im Allgemeinen feststellen, dass die mandatsschwachen Oppositionsfraktionen also in Zeiten qualifizierter Großer Koalitionen insgesamt mit weitaus weniger Geld auskommen müssen als die mandatsstarken Mehrheitsfraktionen. Gleichzeitig erweitert sich die Informationsasymmetrie zwischen Regierungsmehrheit und Opposition in Zeiten qualifizierter Großer Koalitionen. Die Regierungskoalition profitiert von der Nähe zur von ihr gewählten und getragenen Regierung.131 Diese mittelbaren Personal- und Ressourcenvorsprünge bei den Regierungsfraktionen werden durch eine qualifizierte Große Koalition noch determiniert, da eine größere Abgeordnetenanzahl davon profitiert und eine noch kleinere Anzahl von Oppositionsabgeordneten gerade nicht darauf zugreifen kann.132 Die geringere Anzahl von Abgeordneten der Opposition während mandatsstarker Großer Koalitionen führt zudem zu höherer Arbeitsbelastung und Inanspruchnahme möglicht werden, dass der Ältestenrat der neuen Wahlperiode und nicht derjenige der ablaufenden Wahlperiode sein Benehmen zu dem Bericht herstellen kann. 130 BT-Drs. 18/13300. 131 BVerfGE 142, 25 (63 f.). 132 Schneider/Zeh, in: dies., Parlamentsrecht und Parlamentspraxis, § 48 Rn. 13.

C. Verfassungsmäßigkeit der Anhebung des Oppositionszuschlages

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des Personals, um den Aufgaben gerecht werden zu können. Das Informationsmanagement in den Fraktionen hängt maßgeblich auch von der personellen Ausstattung ab. Für die mandatsschwachen Fraktionen ist es insbesondere schwerer, ein funktionierendes Berichterstattersystem aufrecht zu erhalten.133 Für eine funktionierende Arbeitsteilung in der Fraktion ist ausreichend qualifiziertes Personal vonnöten. Qualifizierte Große Koalitionen verfestigen die tatsächliche Informationsasymmetrie der Abgeordneten von Koalition und Opposition. Die Erhöhung des am Steigerungsbetrag orientierten Oppositionszuschlages in der 18. Wahlperiode des Deutschen Bundestages ist nicht unbedenklich. In der Begründung für die Erhöhung des Oppositionszuschlages in der 18. Wahlperiode heißt es kurz: „Wichtig für kompetente Oppositionsarbeit ist die Unterstützung durch qualifizierte Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Das Abgeordnetengesetz sieht deshalb vor, dass die nicht die Bundesregierung tragenden Fraktionen zusätzlich zu dem Grundbetrag für die Fraktion und zu dem Beitrag für jedes Mitglied einen Zuschlag erhalten. Die Höhe dieser Beträge und des Oppositionszuschlages legt der Bundestag jährlich fest. […] Auch hierdurch wird sichergestellt, dass die Fraktionen, die nicht die Bundesregierung tragen, handlungsfähig sind und eine besondere Mittelausstattung für ihre parlamentarische Arbeit erhalten.“134

Obwohl der Oppositionszuschlag verfassungsrechtlich gerechtfertigt ist, bedeutet gleichzeitig jede Erhöhung der finanziellen Mittel für die Opposition eine erweiterte Differenzierung der Abgeordneten. Es ist nicht Aufgabe des Bundestages das Wahlund das daraus resultierende parlamentsinterne Verteilungsergebnis sowie verfassungswirkliche Folgeerscheinungen im Nachgang der Wahl durch die Bereitstellung finanzieller Mittel zu relativieren oder gar zu korrigieren. Die Fraktionen von CDU/ CSU und SPD erhielten zwar auch nach der Erhöhung der Oppositionszulage je Abgeordneten auf 15 % noch eine weitaus höhere finanzielle Ausstattung als die Oppositionsfraktionen, dies aber ist mit Blick auf die Abgeordnetenzahl und die damit zusammenhängende parlamentarische Verantwortung der jeweiligen Fraktionen auch begründet.135 Ungeachtet der weiteren Abweichung von der finanziellen Gleichheit aller Abgeordneten ist eine Anhebung des am Steigerungsbetrag orientierten Oppositionszuschlages von 10 % auf 15 % gerechtfertigt, nicht zuletzt wegen des erhöhten Bedürfnisses der Opposition nach finanzieller Kompensation in Zeiten besonders mandatsstarker Großer Koalitionen. Die Oppositionsfraktionen erhielten in der 18. Wahlperiode in etwa ein Drittel der Fraktionsmittel, obwohl sie nur rund ein Fünftel der Parlamentsmandate auf sich vereinten. Die gesteigerte Informationsasymmetrie und der damit zusammenhängende Mehraufwand für die Oppositionsfraktionen kann so zumindest in Ansätzen austariert werden. Das Bundesverfassungsgericht erkennt die Bedeutung des Oppositionszuschlages im Urteil aus dem 133 134 135

Ismayr, GWP 2016, 53 (56), aus politikwissenschaftlicher Perspektive. BT-Drs. 18/481, S. 5. Linde, Fraktionsfinanzierung in der parlamentarischen Demokratie, S. 119.

294

4. Kap.: Der Oppositionszuschlag im Deutschen Bundestag

Jahr 2016 an, nachdem es in der vorherigen Rechtsprechung136 darauf verzichtete, den Oppositionszuschlag rechtlich einzuordnen. Die beiläufige Befassung des Gerichts zum Oppositionszuschlag überrascht zumindest im Hinblick auf die von ihm aufgestellten hohen Anforderungen für eine Durchbrechung der formalen Gleichbehandlung von Abgeordneten, auch in Bezug auf ihre finanzielle Situation.137 Obwohl es nicht eingehender auf die Verfassungsmäßigkeit und Gebotenheit eines Oppositionszuschlages bzw. dessen Erhöhung eingeht, scheint auch das Gericht die parlamentarische Vorgehensweise ähnlich wie bei den Redezeiten in der 18. Wahlperiode zu billigen: „Die strukturelle, insbesondere informatorische Schwäche der Opposition gegenüber der Regierungsmehrheit, die unter anderem auf der Nähe der die Regierung tragenden Fraktionen zur Ministerialbürokratie beruht, wird ferner durch eine relative Besserstellung auf der Ebene der Ausstattung kompensiert; insofern ist eine Anhebung des Oppositionszuschlages nach dem Abgeordnetengesetz von 10 % auf 15 % erfolgt.“138

D. Ergebnis Die Verfassungsmäßigkeit des Oppositionszuschlages nach § 50 Abs. 2 Satz 1 AbgG wird kaum infrage gestellt. Dies ist auf der einen Seite verwunderlich, handelt es sich doch um die einzige bundesgesetzliche Zuweisung eines exklusiven Oppositionsfraktionsanspruches und damit um eine rechtfertigungsbedürftige Abweichung von der formalen Gleichbehandlung aller Abgeordneten. Auf der anderen Seite ist eine Kompensation informatorischer Defizite der Opposition gegenüber der Regierungskoalition und eine Anerkennung besonderer Herausforderungen bei der Bewältigung parlamentarischer Aufgaben durch die Opposition nachvollziehbar. Eine Pflicht zur finanziellen Besserstellung der Opposition aber kann dem Grundgesetz nicht entnommen werden.139 Der Bundestag fördert die Oppositionsfraktionen damit tatsächlich über das grundgesetzlich gebotene Maß hinaus.140

136

Vgl. BVerfGE 84, 304 (333). BVerfGE 142, 25 (60); vgl. zur finanziellen Gleichstellung der Abgeordneten das Diäten-Urteil von 1975 und das Urteil zu den Funktionszulagen von 2000, BVerfGE 40, 296 (318); 102, 224 (237 f.). 138 BVerfGE 142, 25 (63 f.). 139 Insgesamt wohl a.A. Schliesky, in: Morlok/Schliesky/Wiefelspütz, Parlamentsrecht, § 5 Rn. 84. 140 Hölscheidt, ZG 30 (2015), 246 (255). 137

5. Kapitel

Der Hauptausschuss des Deutschen Bundestages Am 22. September 2013 wurde der 18. Deutsche Bundestag gewählt. Zwar fanden im Nachgang der Bundestagswahl auch Sondierungsgespräche zwischen CDU, CSU und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN statt. Diese scheiterten aber bereits nach einer zweiten gemeinsamen Sitzung am 15. Oktober 2013.1 Anders als in Hessen – dort wurde zeitgleich mit der Bundestagswahl der Landtag gewählt – waren die inhaltlichen Differenzen auf Bundesebene zu groß für ein schwarz-grünes Bündnis. Ein linkes Dreierbündnis zwischen SPD, DIE LINKE und BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN wurde schon vor der Bundestagswahl 2013 ausgeschlossen. Schnell stand daher fest: Es wird die dritte Große Koalition auf Bundesebene geben. Doch erst am 17. Dezember 2013 fanden die Wahl der Bundeskanzlerin und die Bekanntgabe der Bildung der Bundesregierung statt.2 86 Tage lagen die Bundestagswahl und die Vereidigung der Bundesregierung auseinander. Länger dauerte die Regierungsbildung nach einer Bundestagswahl – bis dahin – nie. Brandts sozialliberales Kabinett wurde schon 24 Tage nach der Bundestagswahl 1969 vereidigt.3 Ebenso schnell verlief es 1983 bei Helmut Kohl (CDU) und seiner Regierung.4 Die 65 Tage bis zur ersten Wahl Merkels und der Vereidigung ihrer Minister im Jahr 2005 bestätigen den Eindruck, dass Große Koalitionen verhältnismäßig lange für eine Regierungsfindung brauchen.5 Noch länger als 2013 brauchte es für die Regierungsbildung nur nach der vergangenen Bundestagswahl 2017. Bevor die aktuelle Große Koalition Merkel erneut zur Bundeskanzlerin wählte, vergingen 171 Tage. Der Bundestag ist ein Arbeitsparlament. Die Parlamentsarbeit findet zu großen Teilen in den Fraktionen und Fachausschüssen statt. In der politischen Praxis hängt die Einsetzung der ständigen Ausschüsse mit der Regierungsbildung zusammen, da sich die Ausschüsse am Zuschnitt der Bundesministerien orientieren und die Pos1 König/Rietzschel, Die Grünen erklären die Verhandlungen für gescheitert, 16. 10. 2013, http://www.sueddeutsche.de/politik/schwarz-gruene-sondierungsgespraeche-die-gruenen-erklae ren-die-verhandlungen-fuer-gescheitert-1.1795367, zuletzt geprüft am 26. 4. 2018. 2 BT-Plenarprotokoll 18/4 vom 17. Dezember 2013, S. 229 (D) ff. 3 BT-Plenarprotokoll 6/4 vom 22. Oktober 1969, S. 15 (B) f. 4 BT-Plenarprotokoll 10/3 vom 30. März 1983, S. 29 (B) ff. 5 BT-Plenarprotokoll 16/3 vom 16. November 2005, S. 67 (C) ff.; vgl. weitere Zahlen bei Käßner, 1976 brauchte es 73 Tage bis zur Kanzlerwahl, 8. 10. 2005, http://www.welt.de/printwelt/article169758/1976-brauchte-es-73-Tage-bis-zur-Kanzlerwahl.html, zuletzt geprüft am 26. 4. 2018; vor allem bei Stoltenberg, Zäh oder flott, Das Parlament vom 30. 9. 2013, S. 5; aktuell ders., Rekord in Sicht, Das Parlament vom 2. 10. 2017, S. 5.

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5. Kap.: Der Hauptausschuss des Deutschen Bundestages

tenverteilung innerhalb der Ausschussarbeit mit in die Koalitionsverhandlungen einfließt. Bei den großkoalitionären Regierungsbildungen von 2005, 2013 und auch 2017 verzögerte sich dementsprechend die Einsetzung der Fachausschüsse.6 In der 18. Wahlperiode setzte der Bundestag daraufhin erstmals einen Hauptausschuss ein: Er sollte schon vor der Bildung einer Regierung und der Einsetzung der Fachausschüsse die Handlungsfähigkeit des Bundestages gewährleisten. In der 19. Wahlperiode setzte der Bundestag erneut einen in seiner Charakteristik fast identischen Hauptausschuss ein, der bis zur Konstituierung der Fachausschüsse am 31. Januar 2018 existierte.7 Neben dem Hauptausschuss wurden aber noch der Petitionsausschuss und der „erste Ausschuss“ für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung eingesetzt. Ein zentraler Unterschied in der 19. Wahlperiode ist, dass die zukünftige parlamentarische Rollenverteilung zum Zeitpunkt der Einsetzung eines Hauptausschusses unklar war. Der Hauptausschuss der 18. Wahlperiode wurde eingesetzt, als der Koalitionsvertrag zwischen den großkoalitionären Bündnispartnern – wenn auch noch nicht unterschrieben – zumindest ausgehandelt war. In den meisten Punkten ist die vorliegende Diskussion aber auf den Hauptausschuss der 19. Wahlperiode anwendbar.8

A. Charakteristika des Hauptausschusses der 18. Wahlperiode I. Funktion und Kompetenzen Die Einigung auf einen Koalitionsvertrag durch die Parteiführungen von CDU, CSU und SPD führte noch nicht zur endgültigen Unterzeichnung des Koalitionsvertrages. Erst mit dem zustimmenden Votum durch die SPD-Parteimitglieder und dessen Bekanntmachung am 14. Dezember 2013 war der politische Weg frei für die dritte Große Koalition im Bund. Bis zur Regierungsbildung dauerte es weitere drei Tage, bis zur Ausschusseinsetzung fünf Tage. Die Konstituierung der Fachausschüsse fand sogar erst am 15. Januar 2014 statt. Der Hauptausschuss sollte in der 6 Ein Sonderfall ist die erste Große Koalition, da ihr keine Bundestagswahl vorausging. Die Koalitionsverhandlungen dauerten nach dem Rücktritt der Regierungsmitglieder der FDP 35 Tage bis zum 1. Dezember 1966, ein Tag nach dem Rücktritt Erhards wurde Kiesinger zum Bundeskanzler gewählt und die Regierung der ersten Großen Koalition auf Bundesebene vereidigt. Im Gegensatz zu den drei späteren Großen Koalitionen blieben aber die ein Jahr zuvor eingesetzten Fachausschüsse bestehen. 7 BT-Drs. 19/85; BT-Plenarprotokoll 19/2 vom 21. November 2017, S. 39 (B) ff. 8 Vgl. Reimer, Fahrt ins Ungewisse, Das Parlament vom 16. 10. 2017, S. 1; Möhle, Beteiligung sichern?, Das Parlament vom 30. 10. 2017, S. 2; Prantl, Schlecht, nicht Recht, Das Parlament vom 30. 10. 2017, S. 2. Eine verfassungsrechtliche Bewertung fand bei dem Hauptausschuss der 19. Wahlperiode kaum noch statt, vgl. Heine, Auf Sparflamme, Das Parlament vom 27. 11. 2017, S. 5.

A. Charakteristika des Hauptausschusses der 18. Wahlperiode

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Zwischenzeit die Handlungsfähigkeit des Deutschen Bundestages sicherstellen, also insbesondere Gesetzgebungsarbeit und Regierungskontrolle gewährleisten.9 Seine Zuständigkeiten erhielt er vom Plenum überwiesen; er besaß kein Selbstbefassungsrecht i.S.v. § 62 Abs. 1 Satz 3 GO-BT, d.h. er konnte sich nicht mit anderen als den vom Plenum an ihn überwiesenen Vorlagen befassen. Der Hauptausschuss des Bundestages übernahm zeitweise alle Aufgaben der Fachausschüsse, er war 48 Tage lang Ausschuss i.S.d. in der Verfassung geregelten Pflichtausschüsse und Haushaltsausschuss i.S.d. gesetzlichen und geschäftsordnungsrechtlichen Vorschriften.10 Überdies konnte sich der Hauptausschuss von der Bundesregierung gemäß dem Gesetz für die Zusammenarbeit von Bundesregierung und Bundestag in Angelegenheiten der Europäischen Union über Angelegenheiten der Europäischen Union mündlich unterrichten lassen. Ferner konnte er Anhörungen durchführen. Zuletzt heißt es im Einsetzungsbeschluss11, dass die Vorschriften der Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages auf den Hauptausschuss sinngemäß anzuwenden seien.12

II. Begriffsverwendung und Rechtsnatur Der Begriff „Hauptausschuss“ wird in unterschiedlichen Zusammenhängen auf politischen Ebenen verwendet.13 Hauptausschüsse treten vor allem auf Gemeinde9 Siehe Michael Grosse-Brömer (CDU), in: BT-Plenarprotokoll 18/3 vom 28. November 2013, S. 76 (C) f. 10 BT-Drs. 18/101; dazu auch Hadamek, ZG 29 (2014), 353 (357). 11 Siehe dazu BT-Drs. 18/101 im Wortlaut: „Für die Zeit bis zur Konstituierung der ständigen Ausschüsse des Deutschen Bundestages wird ein Hauptausschuss eingesetzt. Dem Ausschuss sollen je 47 ordentliche und stellvertretende Mitglieder angehören, von denen die CDU/CSU-Fraktion 23, die SPD-Fraktion 14, die Fraktion DIE LINKE. 5 und die Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN ebenfalls 5 Mitglieder entsendet. Der Vorsitz obliegt dem Präsidenten oder einem seiner Stellvertreter/-innen ohne Stimmrecht. Die Zuständigkeiten des Hauptausschusses werden durch Überweisungen des Plenums des Deutschen Bundestages begründet. Der Hauptausschuss ist Ausschuss im Sinne der Artikel 45, 45a und 45c des Grundgesetzes. Der Hauptausschuss ist zudem Haushaltsausschuss im Sinne der entsprechenden gesetzlichen und geschäftsordnungsrechtlichen Vorgaben. Er kann sich durch die Bundesregierung gemäß dem Gesetz über die Zusammenarbeit von Bundesregierung und Deutschem Bundestag in Angelegenheiten der Europäischen Union vom 4. Juli 2013 (BGBl. [2013] I S. 2170) mündlich zu Angelegenheiten der Europäischen Union unterrichten lassen. Der Hauptausschuss kann Anhörungen durchführen. Er hat kein Selbstbefassungsrecht. Im Übrigen sind auf den Hauptausschuss die Vorschriften für Ausschüsse nach der Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages sinngemäß anzuwenden. Mit der Konstituierung der ständigen Ausschüsse des Deutschen Bundestages ist der Hauptausschuss aufgelöst. Nach seiner Auflösung werden alle dort noch nicht erledigten Vorlagen vom Plenum an die zuständigen Ausschüsse überwiesen.“ 12 BT-Drs. 18/101. 13 Die Generalversammlung der Vereinten Nationen hat sechs Hauptausschüsse. Auch in Österreich gibt es einen Hauptausschuss. Im Nationalrat ist der Hauptausschuss mit besonderen

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5. Kap.: Der Hauptausschuss des Deutschen Bundestages

und Länderebene in Erscheinung:14 Die Kommunalverfassungen bzw. Gemeindeordnungen in Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern, Niedersachsen, NordrheinWestfalen und Schleswig-Holstein kennen derartige Hauptausschüsse.15 In Berlin, Brandenburg und Hessen sind Hauptausschüsse sogar als Hilfsorgane des Landtages in den Landesverfassungen16 oder Parlamentsgeschäftsordnungen17 geregelt. In Baden-Württemberg gibt es einen ständigen Ausschuss, in Bayern und RheinlandPfalz einen Zwischenausschuss.18 Der Begriff „Hauptausschuss“ gibt keinen Aufschluss darüber, welche Rechtsnatur ein Hauptausschuss des Bundestages hat. Das Präfix „Haupt“ kennzeichnet etwas als wesentlich, ein Ausschuss stellt einen aus einer größeren Personengruppe für besondere Aufgaben ausgewählten Mitgliederverbund dar. Ein Hauptausschuss des Deutschen Bundestages ist kein ständiger Fachausschuss i.S.v. § 54 Abs. 1 Satz 1 GO-BT. Er ist nicht nur mit einem Politikfeld beschäftigt wie es die „Fach“Ausschüsse des Bundestages sind. Gemäß dem Einsetzungsantrag führt die Konstituierung der Fachausschüsse gerade zur Auflösung des Hauptausschusses. Der Hauptausschuss ist daher kein „ständiger“ Ausschuss i.S.v. § 54 Abs. 1 Satz 1 GO-BT. Ein Hauptausschuss ist auch kein Sonderausschuss i.S.v. § 54 Abs. 1 Satz 2 GO-BT. Zwar besitzt der Hauptausschuss wie die Sonderausschüsse kein Selbstbefassungsrecht. Seine Funktion besteht allerdings darin, die Aufgaben aller ständigen Ausschüsse zu übernehmen. Er ist gerade nicht mit „einzelne[n] Angelegenheiten“ gemäß § 54 Abs. 1 Satz 2 GO-BT betraut. Sonderausschüsse haben den Zweck, ein bestimmtes politisches Thema zu untersuchen. Sie behandeln thematische Sonderaufgaben und sind keine Ausschüsse für besondere politische Situationen. Der Hauptausschuss ist auch kein Unterausschuss eines Ausschusses i.S.d. § 55 Abs. 1 Satz 1 GO-BT. Das Plenum setzt ihn ein. Ebenso wenig ist er eine Enquete-Kommission i.S.d. § 56 Abs. 1 Satz 1 GO-BT. Der Hauptausschuss ist ein Ausschuss eigener Art.19 Aufgaben betreut, bestimmte Verordnungen der österreichischen Regierung benötigen ebenso wie Auslandseinsätze die Zustimmung durch den Hauptausschuss. Er ist auch an der Mitwirkung im Gesetzgebungsprozess der Europäischen Union beteiligt. Das Mindestarbeitsbedingungengesetz regelt einen Hauptausschuss, der als „Mindestlohn-Kommission“ bekannt wurde (§§ 2 f. MiArbG). 14 Vgl. dazu Fuchs, DVBl. 2014, 886 (889). 15 Siehe in dieser Reihenfolge §§ 49 f. KVerf. Brandenburg, § 35 KVerf. MecklenburgVorpommern, §§ 74 ff. KomVG Niedersachsen, § 59 Abs. 1 GO Nordrhein-Westfalen, § 45a GO Schleswig-Holstein. 16 Art. 93 Verf. Hessen. 17 Siehe § 49 GO-LT Hessen, aber auch § 38 Abs. 1 Satz 2 GO-Abghs. Berlin und § 73 Abs. 1 GO-LT Brandenburg. 18 Siehe Art. 26 Abs. 1 Verf. Bayern, Art. 36 Verf. Baden-Württemberg, Art. 92 Verf. Rheinland-Pfalz. 19 Wie hier Hadamek, ZG 29 (2014), 353 (357); Winkelmann, in: Morlok/Schliesky/Wiefelspütz, Parlamentsrecht, § 23 Rn. 6; dagegen als „Sonderausschuss sui generis“ bezeichnend Thielbörger/Ackermann, ZJS 2014, 497 (498); gar einen Sonderausschuss i.S.v. § 54 Abs. 1

A. Charakteristika des Hauptausschusses der 18. Wahlperiode

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III. Vorgänger und Landesmodelle Der Begriff „Hauptausschuss“ tritt erstmals in der Zeit des Ersten Weltkrieges in Erscheinung.20 Bis dahin kannten weder Reich noch Länder einen Ausschuss, der mit dem Hauptausschuss des Bundestages vergleichbar ist. Erst durch eine Kompetenzerweiterung des Reichshaushaltsausschusses entstand ein Hauptausschuss, der als Vertretungsorgan des Reichstages außerhalb von Reichstagstagungen21 zusammenkam. Er war Vorbild für den ständigen Ausschuss der Weimarer Republik nach Art. 35 Abs. 2 WRV. Dort heißt es in der Erstfassung von 1919: „Der Reichstag bestellt ferner zur Wahrung der Rechte der Volksvertretung gegenüber der Reichsregierung für die Zeit außerhalb der Tagungen22 und nach Beendigung einer Wahlperiode einen ständigen Ausschuß.“

Dieser „ständige Ausschuss“ sollte die wichtigsten Aufgaben erledigen, wenn der Reichstag nicht zusammenkam. Er hatte ergänzend die Rechte eines Untersuchungsausschusses nach Art. 35 Abs. 3 WRV.23 Auch in den Einzelstaaten fanden sich Ausschüsse, die zeitweise die Aufgaben der Landesparlamente übernahmen.24 In der Zeit des Nationalsozialismus dagegen verbot eine Verordnung über die Aufhebung von Beiräten vom 13. September 1934 in § 1 die „Mitwirkung von Mitgliedern des Reichstags in Ausschüssen“25, der Reichstag wurde insgesamt zum Scheinparlament. Die Erfahrungen mit einem ständigen Ausschuss zur Wahrung der Rechte der Volksvertretung während parlamentsloser Zeiten wurden zunächst auf dem Verfassungskonvent von Herrenchiemsee und dann im Parlamentarischen Rat aufgegriffen. Daraufhin fand der ständige Ausschuss, dort auch Zwischen- und Hauptausschuss26 genannt, mit Art. 45 GG a.F. vorübergehend Eingang in das Satz 2 GO-BT annehmend Koschmieder, NVwZ 2014, 852 (853); Straßburger, JuS 2015, 714 (719); ebenso Fuchs, in: Morlok/Schliesky/Wiefelspütz, Parlamentsrecht, § 28 Rn. 7, aber auch als „verkleinertes Plenum“ bezeichnend ders., DVBl. 2014, 886 (888). 20 Kochsiek, Der Alt-Bundestag, S. 26 ff. 21 Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, Bd. 5, S. 104; außerdem zum Hilfsdienstausschuss Kochsiek, Der Alt-Bundestag, S. 33 f. 22 „Tagungen“ ist eine in die Weimarer Reichsverfassung übernommene Begrifflichkeit, die in der Kaiserzeit die Sitzungsperioden des Parlaments im Frühjahr und Winter meinte, siehe dazu die Aussagen der Beteiligten des Parlamentarischen Rates in der zweiten und sechsten Sitzung des Kombinierten Ausschusses am 16. und 24. September 1948, in: Stelzl/Weber (Hrsg.), Der Parlamentarische Rat 1948 – 1949, Bd. 13/1, S. 38 ff., 189 f. 23 Hatschek, Deutsches und Preußisches Staatsrecht, Bd. 1, S. 705 f. 24 Siehe Art. 26 Verf. Preußen 1920; zu ständischen Vorbildern ders., Deutsches und Preußisches Staatsrecht, Bd. 1, S. 706. 25 RGBl. 1934 I S. 830 auf Grundlage des Art. 5 des Gesetzes über den Neuaufbau des Reichs vom 30. Januar 1934, RGBl. 1934 I S. 75. 26 Siehe beispielhaft Claus Leusser, Beauftragter der Bayerischen Staatsregierung, in der zweiten Sitzung des Hauptausschusses am 11. November 1948, in: Risse/Weber (Hrsg.), Der Parlamentarische Rat 1948 – 1949, Bd. 14/1, S. 51; Lehr in der zweiten Sitzung des Kombinierten Ausschusses am 16. September 1948, in: Stelzl/Weber (Hrsg.), Der Parlamentarische Rat 1948 – 1949, Bd. 13/1, S. 38.

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5. Kap.: Der Hauptausschuss des Deutschen Bundestages

Grundgesetz, bevor er 1976 durch eine Grundgesetzänderung des Art. 39 Abs. 1 und 2 GG a.F.27 zusammen mit der parlamentslosen Zeit wieder abgeschafft wurde. Den Begriff des Hauptausschusses benutzte nach dem Zweiten Weltkrieg erstmals die hessische Landesverfassung. Gemäß Art. 93 Verf. Hessen bestellt der Hessische Landtag bis heute einen sogenannten Hauptausschuss, der in der parlamentslosen Zeit die Rechte der Volksvertretung gegenüber der Landesregierung zu wahren hat und auch die Rechte eines Untersuchungsausschusses hat. Die Funktion des ständigen Ausschusses in der Weimarer Republik und in der frühen Bundesrepublik wie auch des Hauptausschusses in Hessen hängt untrennbar mit der Regelung über Beginn und Ende der Wahlperiode und der Verfassungsentscheidung für oder gegen eine parlamentslose Zeit zusammen. Es handelt sich um Ausschüsse, die einen nicht nahtlosen Übergang zwischen dem Ende einer alten und dem Beginn einer neuen Wahlperiode überbrücken sollen. Der hessische Hauptausschuss tagt zudem nicht nur in den genannten Fällen, er ist ein ständiger Ausschuss mit eigenen Aufgabenfeldern, z.B. Immunitätsangelegenheiten und Bundesratsfragen.28 Bis zu einer Änderung der Landesverfassung von Nordrhein-Westfalen aus dem Jahr 2016 gab es auch im einwohnerstärksten Bundesland einen Hauptausschuss gemäß Art. 40 Verf. Nordrhein-Westfalen a.F., der neben seiner „lückenfüllenden“ Funktion als „Parlamentsersatz“ zwischen den Wahlperioden ebenfalls andere Aufgaben wahrnahm.29 Nach der Verfassungsänderung endet die Wahlperiode in Nordrhein-Westfalen nun wie im Bund und den meisten anderen Bundesländern mit dem Zusammentritt des neuen Landtages, sodass ein Parlamentsersatz nicht mehr nötig ist, Art. 34 Satz 3 Verf. Nordrhein-Westfalen. Der ständige Ausschuss in Baden-Württemberg ist während der Wahlperiode Fachausschuss für Verfassungs- und Rechtsfragen sowie für Medienpolitik und Datenschutz; wohingegen die Zwischenausschüsse in Bayern und Rheinland-Pfalz keine weiteren Aufgaben haben.30 In Berlin und Brandenburg gibt es wie im Bund keine parlamentslose Zeit, weshalb die dortigen Hauptausschüsse anderer Art sind. Bei ihnen handelt es sich um gewöhnliche Fachausschüsse mit besonderen Aufgabenbereichen. In Berlin ist der Hauptausschuss für Finanz- und Hauhaltsaufgaben zuständig, in Brandenburg z.B. für Angelegenheiten der Verfassungsgerichtsbarkeit.

27

Art. 39 Abs. 1 und 2 GG a.F.: „[Abs. 1] Der Bundestag wird auf vier Jahre gewählt. Seine Wahlperiode endet vier Jahre nach dem ersten Zusammentritt oder mit seiner Auflösung. Die Neuwahl findet im letzten Vierteljahr der Wahlperiode statt, im Falle einer Auflösung spätestens nach sechzig Tagen. [Abs. 2] Der Bundestag tritt spätestens am dreißigsten Tage nach der Wahl, jedoch nicht vor dem Ende der Wahlperiode des letzten Bundestages zusammen.“ 28 § 49 GO-LT Hessen. 29 In Hessen endet die Wahlperiode gemäß Art. 79 Satz 1 Verf. Hessen nach fünf Jahren, eine parlamentslose Zeit ist daher anders als in Berlin und Brandenburg möglich. 30 Die Zwischenausschüsse in Bayern und Rheinland-Pfalz tagen folglich auch nicht während der Wahlperiode.

A. Charakteristika des Hauptausschusses der 18. Wahlperiode

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Der Begriff „Hauptausschuss“ erlangte auf Bundesebene erst wieder 2013 Relevanz. Zwar erinnern Bezeichnung und auch Zweck des Hauptausschusses durchaus an den Hauptausschuss in Hessen, dennoch sind eindeutige Unterschiede erkennbar: Im Bund gab es seit 1976 keine parlamentslose Zeit mehr zu überbrücken. Der Hauptausschuss des Bundestages ersetzte zu keinem Zeitpunkt ein Parlamentsplenum, sondern nur die ständigen Fachausschüsse. Er war schon nach 48 Tagen nicht mehr existent, ist folglich kein ständiger Ausschuss und auch bestimmte Zuständigkeitsbereiche sind ihm nicht zugeordnet. Obwohl ein Hauptausschuss des Bundestages also begriffliche Vorgänger sowie historische und zeitgenössische Vorbilder hat, ist er in seiner Charakteristik ein Novum.

IV. Einsetzung und Sitzungszeitraum Art. 39 Abs. 2 GG setzt dem neu gewählten Bundestag eine 30-tägige Frist für ein erstes Zusammenkommen, die nach der Bundestagswahl 2013 mit der am 22. Oktober 2013 erfolgten Sitzung auf den Tag genau gewahrt wurde.31 Eine zweite Plenarsitzung fand am 18. November 2013 statt.32 Zwei Entschließungsanträge zu den Abhöraktivitäten der NSA wurden gegen die Stimmen der Linksfraktion und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN an den Hauptausschuss überwiesen, den es zu diesem Zeitpunkt noch gar nicht gab.33 Ferner beantragte die Linksfraktion die Einsetzung von neun ständigen Ausschüssen, darunter auch die Ausschüsse der Art. 45, 45a und 45c GG sowie den Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung und den Haushaltsausschuss.34 Der Antrag der Linksfraktion wurde bei Enthaltung der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN35 mit den Stimmen der CDU/CSU- und der SPD-Fraktion abgelehnt. Petra Sitte (DIE LINKE) erklärte zur Abstimmung gemäß § 31 GO-BT, kein Verständnis für die Nicht-Einsetzung der Ausschüsse zu haben. Den noch gar nicht existenten 31 Siehe kritisch zur Schaffung eines zusätzlichen Präsidiumsplatzes im Rahmen der Debatte um Minderheiten- und Oppositionsrechte Sitte, in: BT-Plenarprotokoll 18/1 vom 22. Oktober 2013, S. 10 (D). 32 BT-Plenarprotokoll 18/2 vom 18. November 2013, S. 27 (A) ff., 43 (B) ff. 33 BT-Plenarprotokoll 18/2 vom 18. November 2013, S. 66 (A) ff., in der Sache BT-Drs. 18/ 56 und 18/65; siehe dazu kritische Stimmen in der parlamentarischen Debatte, siehe Jan Korte (DIE LINKE), in: BT-Plenarprotokoll 18/2 vom 18. November 2013, S. 68 (B); Haßelmann, in: BT-Plenarprotokoll 18/2 vom 18. November 2013, S. 66 (B); aber auch in der Wissenschaft, z.B. Schönberger, L’isola che non c’è – ein Vorgeschmack auf Opposition in Zeiten der Großen Koalition, 19. 11. 2013, http://verfassungsblog.de/lisola-che-non-ce-vorgeschmack-auf-oppositi on-in-zeiten-grossen-koalition/, zuletzt geprüft am 26. 4. 2018. 34 BT-Drs. 18/54. 35 Von Haßelmann, in: BT-Plenarprotokoll 18/2 vom 18. November 2013, S. 67 (A) f., wird der Vorschlag der Linksfraktion, neun Ausschüsse einzusetzen, als „willkürlich“ kritisiert: „Warum nicht auch den Ausschuss für Arbeit und Soziales?“ Daraufhin kontert Sitte, in: BT-Plenarprotokoll 18/2 vom 18. November 2013, S. 70 (B) f., dass das Grundgesetz nicht willkürlich sei und der Antrag ihrer Fraktion sich an diesem orientiere.

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5. Kap.: Der Hauptausschuss des Deutschen Bundestages

Hauptausschuss bezeichnete sie als einen Ausschuss nach dem Prinzip „Hauptsache weg“36. Am 27. November 2013 wurde der Koalitionsvertrag zwischen den Unionsparteien und der SPD präsentiert. Noch am selben Tag beantragten die beiden Fraktionen die Einsetzung eines Hauptausschusses. Am Folgetag wurde dann in der dritten Bundestagssitzung zusammen mit dem Antrag auf Einsetzung eines Hauptausschusses ein Antrag der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN debattiert. Dieser forderte die vorläufige Ausschusseinsetzung der in der 17. Wahlperiode bestehenden Ausschüsse.37 Während dieser Vorschlag bei Enthaltung der Linksfraktion38 abgelehnt wurde, erhielt der Antrag auf Einsetzung eines Hauptausschusses mit Stimmen der zukünftigen Großen Koalition gegen die Stimmen der beiden anderen Fraktionen eine Mehrheit.39 Der Hauptausschuss tagte dreimal: Am 28. November 2013 konstituierte er sich, am 4. und 18. Dezember 2013 fanden zwei weitere Sitzungen statt. Zwar setzte der Bundestag am 19. Dezember 2013 die Fachausschüsse ein, doch der Hauptausschuss bestand mit dem Wortlaut des Einsetzungsantrages bis zu deren Konstituierung am 15. Januar 2014, also insgesamt 48 Tage.40 Nach der Auflösung des Hauptausschusses wurden gemäß dem Einsetzungsantrag alle nicht erledigten Vorlagen vom Plenum an die zuständigen Ausschüsse überwiesen.

V. Zusammensetzung Der Hauptausschuss hatte während seiner 48-tägigen Existenz 47 ordentliche und 47 stellvertretende Mitglieder. Während die Plätze spiegelbildlich nach dem Verfahren der mathematischen Proportionen wie üblich nach Sainte-Laguë/ Schepers auf die Fraktionen aufgeteilt wurden, oblag der Vorsitz des Hauptausschusses ohne Stimmrecht dem Bundestagspräsidenten bzw. seinen stellvertretenden Präsidiumsmitgliedern. Die Fraktion CDU/CSU schickte 23 und die SPD36

BT-Plenarprotokoll 18/2 vom 18. November 2013, S. 71 (A). BT-Drs. 18/102. 38 Sitte, in: BT-Plenarprotokoll 18/3 vom 28. November 2013, S. 77 (D), bezeichnet den Vorschlag der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN als „nicht rechtskonform“, da es sich bei einer späteren Auflösung der Ausschüsse nicht mehr um ständige Ausschüsse handele. Dies überzeugt nicht. Eine automatische Auflösung von Fachausschüssen nach Einsetzung der dem Ressortzuschnitt entsprechenden Ausschüsse, ist möglich. Denn „ständige“ Ausschüsse kennt das Grundgesetz nicht. Selbst wenn § 54 Abs. 1 Satz 1 GO-BT diesen Ausdruck nutzt, kann darin kein Verbot zweier Einsetzungen gesehen werden, dem Wortlaut entsprechend ewig tagen sie ohnehin nicht. 39 BT-Plenarprotokoll 18/3 vom 28. November 2013, S. 80 (B) f. 40 Siehe BT-Drs. 18/101; Müller, 22 ständige Ausschüsse haben sich konstituiert, 15. 1. 2014, http://www.bundestag.de/dokumente/textarchiv/2014/48617507_kw03_ausschuesse/ 214936, zuletzt geprüft am 26. 4. 2018; bei Koschmieder, NVwZ 2014, 852 (252), ist von zwei Wochen die Rede, womit wohl die Zeitspanne vom 4. bis 18. Dezember 2013 gemeint ist. 37

A. Charakteristika des Hauptausschusses der 18. Wahlperiode

303

Fraktion 14 Abgeordnete in den Hauptausschuss. Jeweils fünf Abgeordnete konnten die Fraktionen DIE LINKE und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN für den Hauptausschuss bestimmen.41

VI. Konkrete Tätigkeiten Der 18. Deutsche Bundestag beschloss in seiner dritten Sitzung die Einsetzung eines Hauptausschusses. In der zweiten, dritten und fünften Bundestagssitzung überwies das Plenum Vorlagen in den Hauptausschuss. Er beschäftigte sich mit insgesamt acht Gesetzentwürfen. Ferner wurden zwei Entschließungsanträge und vier weitere Anträge an den Hauptausschuss überwiesen. Als Haushaltsausschuss befasste sich der Hauptausschuss mit vier Haushaltsvorlagen aus dem Finanzministerium. Schließlich ließ sich der Hauptausschuss in fünf Themen von der Bundesregierung unterrichten. Im Einzelnen handelte es sich um folgende Angelegenheiten: In seiner konstituierenden (nichtöffentlichen) Ausschusssitzung am 28. November 201342 befasste sich der Hauptausschuss bereits mit zwei Vorlagen, die einer Stellungnahme des Haushaltsausschusses gemäß § 80 Abs. 2 Satz 1 und 3 i.V.m. § 96 Abs. 4 GO-BT bedurften. Solche Prüfungen durch den Haushaltsausschuss sind notwendig bei Finanzvorlagen i.S.d. § 96 GO-BT, sofern eine Zweidrittelmehrheit beschließt, ohne Ausschussüberweisung in die zweite Lesung einzutreten. Die Stellungnahme des Haushaltsausschusses soll bei Finanzvorlagen eine angemessene Berücksichtigung der Haushaltsinteressen sicherstellen.43 Es handelte sich um zwei Gesetzesinitiativen des Bundesrates, die auf Wunsch der Länder noch vor Ende des Jahres debattiert werden sollten: ein Gesetzentwurf zur Änderung des Gesetzes über Finanzhilfen des Bundes zum Ausbau der Tagesbetreuung für Kinder und zur Änderung des Kinderbetreuungsfinanzierungsgesetzes44 und ein Gesetzentwurf zur Anpassung des Investmentsteuergesetzes und anderer Gesetze an das AIFM-SteuerAnpassungsgesetz45. Der Hauptausschuss beriet in diesem Zusammenhang als Haushaltsausschuss und erstattete nach Prüfung der Vorlagen in der Mittagsunter-

41

Siehe auch BT-Drs. 18/212. Eine Berechnung nach d’Hondt hätte dazu geführt, dass die beiden späteren Oppositionsfraktionen jeweils nur vier Sitze im Hauptausschuss erhalten. 42 Siehe insgesamt die Tagesordnung der ersten Sitzung des Hauptausschusses am 28. November 2013, Deutscher Bundestag, Snapshot im Webarchiv, 18. 12. 2013, http://webar chiv.bundestag.de/cgi/show.php?id=1224&jahr=2013, zuletzt geprüft am 10. 5. 2018. 43 Roll, Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages, § 96 Rn. 1. 44 BT-Drs. 18/69; zur Überweisung BT-Plenarprotokoll 18/3 vom 28. November 2013, S. 99 (C). 45 BT-Drs. 18/68 (neu); zur Überweisung BT-Plenarprotokoll 18/3 vom 28. November 2013, S. 153 (C).

304

5. Kap.: Der Hauptausschuss des Deutschen Bundestages

brechung gemäß § 96 Abs. 4 GO-BT Bericht.46 Der Bundestag verabschiedete die Gesetzentwürfe noch am selben Tag.47 In der folgenden Sitzung am 4. Dezember 201348 einigte sich der Hauptausschuss auf eine Beschlussempfehlung49 bezüglich eines Gesetzentwurfes zum Vorschlag für eine Verordnung des Rates über das Programm „Europa für Bürgerinnen und Bürger“ für den Zeitraum 2014 – 202050 in geänderter Fassung, auf dessen Grundlage der Bundestag das Gesetz später verabschiedete.51 Die zusätzlich an den Hauptausschuss überwiesenen Vorlagen der Fraktionen DIE LINKE bzw. BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN standen ebenfalls auf der Tagesordnung, wurden allerdings nicht abschließend beraten.52 Es handelte sich um Gesetzentwürfe zu einem gesetzlichen Mindestlohn,53 zur Stabilisierung der Beitragssätze in der gesetzlichen Rentenversicherung54 und zur Abschaffung der sachgrundlosen Befristung55, weiterhin um zwei Entschließungsanträge zum NSA-Abhörskandal56 sowie um Anträge zur Klimakonferenz in Warschau57, zur Gläubigerbeteiligung nach dem EZB-Bankentest58, zur Beendigung der Haftung von Steuerzahlern59 sowie zur Operation

46

Siehe BT-Drs. 18/112 und 18/113; dies geschah nicht ohne Kritik, so wurde die Situation von Haßelmann, in: BT-Plenarprotokoll 18/3 vom 28. November 2013, S. 98 (A), als „ein kleines Stück Absurdistan“ bezeichnet, denn im Rahmen der Plenarunterbrechung am 28. November 2013 kam der Hauptausschuss zusammen, um darüber im Schnellverfahren zu beraten. 47 BT-Plenarprotokoll 18/3 vom 28. November 2013, S. 163 (B) und 160 (D). 48 Siehe insgesamt die Tagesordnung der zweiten Sitzung des Hauptausschusses am 4. Dezember 2013, Deutscher Bundestag, Snapshot im Webarchiv, 18. 12. 2013, http://webar chiv.bundestag.de/cgi/show.php?id=1224&jahr=2013, zuletzt geprüft am 10. 5. 2018. 49 BT-Drs. 18/177. 50 BT-Drs. 18/13; zur Überweisung BT-Plenarprotokoll 18/3 vom 28. November 2013, S. 191 (C). 51 BT-Plenarprotokoll 18/6 vom 19. Dezember 2013, S. 288 (D). 52 Hadamek, ZG 29 (2014), 353 (361). 53 BT-Drs. 18/6; zur Überweisung BT-Plenarprotokoll 18/3 vom 28. November 2013, S. 175 (D). 54 BT-Drs. 18/52; zur Überweisung BT-Plenarprotokoll 18/3 vom 28. November 2013, S. 109 (A). 55 BT-Drs. 18/7; zur Überweisung BT-Plenarprotokoll 18/3 vom 28. November 2013, S. 199 (A). 56 BT-Drs. 18/56 und 18/65; zur Überweisung BT-Plenarprotokoll 18/2 vom 18. November 2013, S. 69 (C) f. 57 BT-Drs. 18/96; zur Überweisung BT-Plenarprotokoll 18/3 vom 28. November 2013, S. 119 (B). 58 BT-Drs. 18/97; zur Überweisung BT-Plenarprotokoll 18/3 vom 28. November 2013, S. 184 (C). 59 BT-Drs. 18/98; zur Überweisung BT-Plenarprotokoll 18/3 vom 28. November 2013, S. 184 (C).

A. Charakteristika des Hauptausschusses der 18. Wahlperiode

305

Active Endeavour60. Nach Auflösung des Hauptausschusses wurden noch nicht erledigte Vorlagen vom Plenum des Deutschen Bundestages an die zuständigen Fachausschüsse überwiesen, sie wurden also nach ihrer Konstituierung von den Fachausschüssen bearbeitet.61 Als Haushaltsausschuss fungierend befasste sich der Hauptausschuss ebenfalls mit Haushaltsvorlagen aus dem Finanzministerium. Er gab in diesem Zusammenhang seine Einwilligung in die Aufhebung einer qualifizierten Sperre bezüglich des Erweiterungsbaus des Ozeaneums in Stralsund und seine Zustimmung zu einer finanziellen Unterstützung an das Sekretariat des Green Climate Funds sowie zur beabsichtigten Erteilung einer Hermesbürgschaft bezüglich des Baus und der Lieferung zweier Kreuzfahrtschiffe. Ferner stand eine Vorlage des Finanzministeriums zum Thema „Anpassung der Diversifizierten Ratifizierungsstrategie des Europäischen Stabilitätsmechanismus“ auf der Tagesordnung. Im Übrigen ließ sich der Hauptausschuss in seiner zweiten Sitzung von der Bundesregierung zu verschiedenen Themen unterrichten: Tagesordnungspunkte waren Europäischer Stabilitätsmechanismus und Europäische Finanzstabilisierungsfazilität, die zweite Überprüfung des Anpassungsprogrammes für die Republik Zypern, ein Vorbericht der Eurogruppe/ECOFIN, ein Nachbericht vom „EU-Gipfel“ in Vilnius und ein Vorbericht zum Europäischen Rat. In der dritten Sitzung des Hauptausschusses am 18. Dezember 2013 erging schließlich62 eine Beschlussempfehlung63 zum Entwurf eines Dreizehnten Gesetzes zur Änderung des Fünften Buches des Sozialgesetzbuches64 in unveränderter Fassung. Der Gesetzentwurf wurde ebenfalls in der sechsten Plenarsitzung verabschiedet.65 Ein weiterer Gesetzentwurf eines Vierzehnten Gesetzes zur Änderung des Fünften Buches des Sozialgesetzbuches stand lediglich auf der Tagesordnung der dritten Sitzung des Hauptausschusses, er blieb unerledigt und wurde später zur federführenden Beratung an den Ausschuss für Gesundheit überwiesen.66 Nach Auflösung des Hauptausschusses wurde dieser teilweise noch als mitberatender Ausschuss geführt.67 Dies hat keinerlei Bedeutung. 60

BT-Drs. 18/99; zur Überweisung BT-Plenarprotokoll 18/3 vom 28. November 2013, S. 205 (D) f. 61 Vgl. hierzu auch Hadamek, ZG 29 (2014), 353 (361). 62 Siehe insgesamt die Tagesordnung der dritten Sitzung des Hauptausschusses am 18. Dezember 2013, Deutscher Bundestag, Snapshot im Webarchiv, 18. 12. 2013, http://webar chiv.bundestag.de/cgi/show.php?id=1224&jahr=2013, zuletzt geprüft am 10. 5. 2018. 63 BT-Drs. 18/206 (neu). 64 BT-Drs. 18/200; zur Überweisung BT-Plenarprotokoll 18/5 vom 18. Dezember 2013, S. 276 (A). 65 BT-Plenarprotokoll 18/6 vom 19. Dezember 2013, S. 288 (B und D). 66 BT-Drs. 18/201, später dann 18/606; zur Überweisung BT-Plenarprotokoll 18/5 vom 18. Dezember 2013, S. 276 (A). 67 Z.B. zum zweiten Tagesordnungspunkt Deutscher Bundestag, Mitteilung vom 13. 3. 2014 zur achten Sitzung des Innenausschusses, 13. 3. 2014, https://www.bundestag.de/blob/1 95686/a1d124a6001cd9c85f09aab84ee99a4e/to_008_sitzung-data.pdf, zuletzt geprüft am 26. 4. 2018.

306

5. Kap.: Der Hauptausschuss des Deutschen Bundestages

B. Einsetzung des Hauptausschusses der 18. Wahlperiode als Folge einer großkoalitionären Regierungsfindung Ein Hauptausschuss des Deutschen Bundestages ist nicht automatisch ein Vorbote der Großen Koalition. Weniger noch ist er spezifische Folge einer qualifizierten Großen Koalition. Der Koalitionsvertrag war zum Zeitpunkt seiner Einsetzung noch nicht unterzeichnet, die Regierungsbildung nicht abgeschlossen. Es darf kein künstlicher Zusammenhang zwischen einer Großen Koalition und einem Hauptausschuss hergestellt werden. Dies wird durch die Entscheidung für eine Neuauflage des Hauptausschusses in der 19. Wahlperiode hinreichend veranschaulicht. Sie wurde interfraktionell noch während der „Jamaika“-Sondierungen getroffen.68 Es gilt vielmehr allgemein: Je größer die Anzahl der an den Sondierungen und Koalitionsverhandlungen beteiligten Parteien ist und je kleiner deren politische Schnittmengen ausfallen, desto länger werden sich Verhandlungen in der Regel hinziehen. Lang andauernde Sondierungen und Koalitionsverhandlungen und die Einsetzung eines Hauptausschusses sind somit auch dann möglich, wenn nicht die beiden mandatsstärksten Parteien im Versuch sind, ein Regierungsbündnis zu gründen. Darüber hinaus ist eine von der politischen Konstellation der Verhandlungspartner unabhängige Entwicklung hin zu einer Institutionalisierung und Professionalisierung von Koalitionsverhandlungen festzustellen.69 In der 18. Wahlperiode gab es neben der Runde der Parteivorsitzenden und der kleinen und großen Koalitionsrunde eine Steuerungsgruppe mit eigenem Redaktionsteam, hinzu kamen zwölf Arbeitsgruppen und vier Unterarbeitsgruppen.70 Dies muss freilich keine unmittelbaren Folgen auf die Qualität, Konkretheit und Belastbarkeit der Pläne haben, stellt aber eine neue Dimension der formalisierten Regierungsfindung dar, die sich auch auf ihren zeitlichen Ablauf und Umfang auswirkt. Dadurch wird eine Regierungsfindung verlangsamt. Gleichzeitig steigt das Bedürfnis nach parlamentarischer Handlungsfähigkeit. Eine großkoalitionäre Regierungsbildung und die Einsetzung eines Hauptausschusses sind jedoch auch nicht vollständig voneinander unabhängig, der Hauptausschuss der 18. Wahlperiode ist kein Zufallsprodukt. Die Regierungsbildungen der drei jüngeren Großen Koalitionen im Bund dauerten mit 65, 88 und 171 Tagen nämlich weitaus länger als die Regierungsbildungen der Kleinen Koalitionen (Tabelle 11). Es handelt sich um die längsten Regierungsbildungen nach Bundestags68 Siehe die vom 20. November 2017 stammende BT-Drs-19/85. Die „Jamaika“-Sondierungen wurden am 19. November 2017 von der FDP abgebrochen. Vorher aber war schon die Ankündigung einer Einsetzung des Hauptausschusses auf der Internetseite des Bundestages zu finden, vgl. daraufhin z.B. Roßmann, Der Super-Ausschuss, 15. 11. 2017, http://www.sueddeut sche.de/politik/bundestag-der-super-ausschuss-1.3751292, zuletzt geprüft am 26. 4. 2018. 69 Sturm, ZParl. 45 (2014), 207 (211 ff.); Stüwe, ZParl. 37 (2006), 544 (548), jeweils aus der Politikwissenschaft. 70 Sturm, in: Jesse/Sturm, Bilanz der Bundestagswahl 2013, S. 147.

B. Einsetzung des Hauptausschusses der 18. Wahlperiode

307

wahlen in der Geschichte der Bundesrepublik überhaupt. Die großkoalitionäre Regierungsbildung nach dem Rücktritt von Bundeskanzler Erhard 1966 war ebenso ein Sonderfall wie die bürgerlich-liberale Regierungsbildung nach dem konstruktiven Misstrauensvotum von 1982, weil sie inmitten der Wahlperiode stattfanden. Daher kam es nicht zu einer längeren Unterbrechung des herkömmlichen Parlamentsbetriebes: Die zu Beginn der Wahlperioden eingesetzten Fachausschüsse blieben bestehen. Ausgeklammert werden müssen aber auch die 74 Tage bis zur Regierungsbildung von 1976, die nur aufgrund von Art. 39 Abs. 1 und 2 GG a.F. und einem besonders frühen Wahltermin zustande kamen.71 Regierungsbildungen Großer Koalitionen im Bund dauerten folglich eindeutig länger als solche von Kleinen Koalitionen, die Ausschusseinsetzung fand entsprechend spät statt. Tabelle 11 Große Koalitionen – lange Wartezeiten? Wahljahr

Tage von der Bundestagswahl bis zur konstituierenden Sitzung

Tage bis zur Kanzlerwahl72

Tage bis zur Regierungsbildung73

Tage bis zur Einsetzung der Fachausschüsse74

1949

24

32

37

46

1953

30

33

44

66

1957

30

37

44

74

1961

30

51

58

52

1965

30

31

37

67

1969

22

23

24

38

1972

24

25

26

68

1976

72

73

74

108

1980

30

31

32

52

1983

23

23

24

24

1987

24

45

46

66

1990

18

46

47

59

1994

25

30

32

39

1998

29

30

30

45

2002

25

30

30

38

71 Siehe BT-Plenarprotokoll 8/4 vom 16. Dezember 1976, S. 25 (B) ff. Erst ab dem 14. Dezember 1976 galt die Neuregelung des Art. 39 Abs. 1 GG vom 23. August 1976. Am 3. Oktober 1976 wurde gewählt, die Wahlperiode endete nach Art. 39 Abs. 1 GG a.F. aber erst am 13. Dezember 1976. Am 8. Dezember 1976 fand noch die letzte Sitzung des alten Bundestages statt. Insofern stellt das Jahr 1976 einen Sonderfall dar. 72 Bis zur 18. Wahlperiode betrug der Durchschnitt 40,1 Tage. 73 Bis zur 18. Wahlperiode betrug der Durchschnitt 42,6 Tage. 74 Bis zur 18. Wahlperiode betrug der Durchschnitt 57,7 Tage.

308 Wahljahr

5. Kap.: Der Hauptausschuss des Deutschen Bundestages Tage von der Bundestagswahl bis zur konstituierenden Sitzung

Tage bis zur Kanzlerwahl72

Tage bis zur Regierungsbildung73

Tage bis zur Einsetzung der Fachausschüsse74

2005

30

65

65

65

2009

30

31

31

44

2013

30

86

86

88

2017

30

171

171

115

Sobald der Blick auf die Regierungsbildungen in den Bundesländern gerichtet wird, in denen es bereits Große Koalitionen gab, ergibt sich ein uneinheitliches Bild: In Baden-Württemberg, Bremen, Niedersachsen und Hessen brauchten die Großen Koalitionen verhältnismäßig weniger Zeit für die Regierungsbildung als andere Regierungsbündnisse.75 Verhältnismäßig lange dauerten aber die großkoalitionären Regierungsbildungen in Berlin, Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern, Nordrhein-Westfalen, im Saarland sowie in Schleswig-Holstein und Thüringen.76 Im Ergebnis lässt sich für die Bundesrepublik konstatieren, dass eine großkoalitionäre Regierungsbildung zumindest die Wahrscheinlichkeit für längere Koalitionsverhandlungen und die Einsetzung eines Hauptausschusses erhöht, da zwei mandatsstärkere Fraktionen als Bündnispartner mehr Zugeständnisse bei Personal und Inhalt machen müssen. Letztlich geht diese Schlussfolgerung aber auch darauf zurück, dass die allermeisten Kleinen Koalitionen im bipolaren Mehrparteiensystem der Bundesrepublik aus nur zwei Fraktionen bestehen. Mit einer erhöhten Anzahl von Verhandlungspartnern an politischen Gesprächen über eine Koalition geht die Wahrscheinlichkeit längerer Verhandlungen einher.77

75 In Bayern benötigen Regierungsbildungen insgesamt weitaus weniger Zeit als in den anderen Bundesländern, da es regelmäßig keine Koalitionsverhandlungen brauchte. Die dortigen frühen Großen Koalitionen benötigten 21 und 22 Tage zur Regierungsbildung, der Durchschnitt liegt in Bayern bei 21 Tagen. 76 Dabei ist zu beachten, dass nur Regierungsbildungen nach Wahlen miteinander verglichen wurden. Ausgangspunkt ist die Wahl, ab dem Wahltag wurden die Tage bis zur Bekanntgabe der Landesregierung gezählt. Daher ist z.B. die innerhalb der Wahlperiode entstandene Große Koalition in Rheinland-Pfalz aus dem Jahr 1948 nicht berücksichtigt. 77 Weitere langandauernde Sondierungen und Koalitionsverhandlungen im Aus- wie im Inland bestätigen, dass Regierungsfindungen verhältnismäßig viel Zeit in Anspruch nehmen können. In Belgien dauerte es z.B. länger als anderthalb Jahre bis sich die Regierung des Premierministers Elio Di Rupo nach der Wahl im Juni 2010 bildete. Erst im Dezember 2011 nahm sie ihre Regierungsgeschäfte auf. In den Niederlanden dauerte es jüngst knapp sieben Monate bis Mark Rutte im Herbst 2017 als Ministerpräsident bestätigt wurde. Im Inland gab es in Hessen die bisher längsten Koalitionsverhandlungen: Von der Neuwahl 1983 bis zur Bildung einer Minderheitsregierung der SPD, toleriert von den Grünen, vergingen 283 Tage. 2009 gab es in Hessen sogar Neuwahlen, weil keine Koalitionsbildung zustande kam. Die Phase der Regierungsfindung in der 19. Wahlperiode nahm mehr Zeit in Anspruch als jemals zuvor auf

C. Verfassungsmäßigkeit des Hauptausschusses der 18. Wahlperiode

309

Der Hauptausschuss der 18. Wahlperiode ist vor allem eine konkrete Folgeerscheinung der großkoalitionären Regierungsbildung zwischen CDU/CSU und SPD im Spätherbst 2013. Die Volksparteien betreiben im bipolaren Mehrparteiensystem der Bundesrepublik als die politischen Widersacher Wahlkampf. Zumeist wird vor der Wahl ein Bündnis mit einer politisch nahestehenden Partei anvisiert. Keine der beiden Parteien ging seit Gründung der Bundesrepublik mit dem Wahlziel einer gemeinsamen Koalition in den Wahlkampf.78 Die notwendigen Sondierungsgespräche und Koalitionsverhandlungen führten zu einer Annäherung der gegenpoligen Parteien und einer längeren Unterbrechungsphase des normalen Parlamentsbetriebes in der 18. Wahlperiode. Ferner ließ erstmals eine Bundespartei über einen Koalitionsvertrag abstimmen: Ohne die Zeitverzögerung durch das SPD-Mitgliedervotum wäre es wohl nicht zur Einsetzung eines Hauptausschusses gekommen. Gleichzeitig wurden die besonderen Mehrheitsverhältnisse während einer sich andeutenden qualifizierten Großen Koalition in einen Hauptausschuss projiziert, der ohnehin schon verfassungsrechtlichen Bedenken ausgesetzt ist. Darauf ist vorliegend das Augenmerk zu richten. Der Hauptausschuss ist vor allem Ursache für eine mögliche Einschränkung von Minderheiten- und Oppositionsrechten. Er kann eine zusätzliche Schwächung der parlamentarischen Opposition in Zeiten qualifizierter Großer Koalitionen bedeuten.

C. Verfassungsmäßigkeit des Hauptausschusses der 18. Wahlperiode Der Hauptausschuss war noch nicht eingesetzt, als er im Plenum des Bundestages schon als grundgesetzwidrig bezeichnet wurde.79 Eine verfassungsrechtliche DisBundesebene. Siehe nochmal zu den Gründen für die Unbeliebtheit Großer Koalitionen 1. Kapitel B. II. 4. 78 Das Bündnis zwischen SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN in Bremen 2011 formierte sich dementsprechend zügiger als Koalitionen dies dort üblicherweise tun, obwohl es sich formal um eine Große Koalition handelte. Auch die Koalitionsverhandlungen des großkoalitionären Bündnisses zwischen SPD und Linkspartei in Brandenburg 2009 dauerten nur wenig länger als vor Ort üblich. Selbst die 60-tägigen Koalitionsverhandlungen in Baden-Württemberg aus dem Jahr 2016 zwischen BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und CDU dauerten für badenwürttembergische Verhältnisse unterdurchschnittlich lang. 79 Sitte, in: BT-Plenarprotokoll 18/3 vom 28. November 2013, S. 77 (B). Siehe auch die den Hauptausschuss ablehnende Erklärung nach § 31 GO-BT von den Abgeordneten Halina Wawzyniak, Petra Pau, Kirsten Tackmann, Frank Tempel, Stefan Liebich, Jörn Wunderlich, Kathrin Vogler, Cornelia Möhring und Harald Petzold (alle DIE LINKE) zur Abstimmung über den Antrag der Fraktionen CDU/CSU und SPD über die Einsetzung eines Hauptausschusses, in: BT-Plenarprotokoll 18/3 vom 28. November 2013, S. 207 (C) f.; den Hauptausschuss für grundgesetzkonform haltend beispielhaft Oppermann, in: BT-Plenarprotokoll 18/3 vom 28. November 2013, S. 78 (B). Vgl. auch kritische Stimmen in der Presse bei Caspari, Das amputierte Parlament, 28. 11. 2013, http://www.zeit.de/politik/deutschland/2013-11/bundestag-

310

5. Kap.: Der Hauptausschuss des Deutschen Bundestages

kussion misst sich am Einsetzungsbeschluss vom 28. November 2013. Nur die rechtlichen Möglichkeiten des Hauptausschusses der 18. Wahlperiode, nicht seine konkreten Tätigkeiten sind Gegenstand der folgenden Prüfung.80 Ebenso wenig ist der bereits aufgelöste Hauptausschuss der aktuellen 19. Wahlperiode Gegenstand der Untersuchung.

I. Parlamentarisches Selbstorganisationsrecht als Rechtsgrundlage für die Einsetzung eines Hauptausschusses Es obliegt dem Bundestag, sich selbst zu organisieren. Die Möglichkeit zur Schaffung von Institutionen, um einen reibungslosen parlamentarischen Ablauf zu gewährleisten, bietet die Organisationsautonomie.81 Das Recht über die Funktion, Zusammensetzung und Arbeitsweise von Ausschüssen zu bestimmen, ist Teil der Verfahrensautonomie des Bundestages.82 Die Einsetzung eines Hauptausschusses umfasst letztlich beide Komponenten des parlamentarischen Selbstorganisationsrechts, die Organisations- und Verfahrensautonomie.83

II. Prüfungsmaßstab Zu klären bleibt, ob dem Selbstorganisationsrecht und der Entscheidung für einen Hauptausschuss Rechtspositionen mit Verfassungsrang entgegengehalten werden können, die eine Einschränkung des grundsätzlich weiten parlamentarischen Gestaltungsspielraums84 rechtfertigen und die Einsetzung eines Hauptausschusses verbieten. Zunächst erfolgt eine grundgesetzliche Rahmengebung durch ausdrückliche Verfassungsbestimmungen, die im Widerstreit mit einem Hauptausschuss stehen, und deren Besprechung hier nicht fehlen soll. Das Hauptaugenmerk aber liegt opposition-rechte-beteiligung-hauptausschuss, zuletzt geprüft am 26. 4. 2018; Prantl, Hauptausschuss im Bundestag – Berufsverbot für 584 Abgeordnete, 5. 12. 2013, http://www.sueddeut sche.de/politik/hauptausschuss-im-bundestag-berufsverbot-fuer-abgeordnete-1.1835946, zuletzt geprüft am 26. 4. 2018. 80 Vgl. z.B. Lammert zu der Möglichkeit, Petitionen im Hauptausschuss zu behandeln, dazu Müller, Hauptausschuss billigt EU-Programm bis 2020, 28. 11. 2013, https://www.bundestag. de/dokumente/textarchiv/2013/48079762_kw48_de_hauptausschuss/214108, zuletzt geprüft am 26. 4. 2018. 81 Vgl. – wenn auch auf Art. 40 Abs. 1 Satz 1 GG abstellend – Brocker, in: BK, GG, 150. EL Februar 2011, Art. 40 Rn. 57 m.w.N.; auch Magiera, in: Sachs, GG, Art. 40 Rn. 2; gerade bei der Einsetzung des Hauptausschusses wird deutlich, dass Art. 40 Abs. 1 Satz 1 GG als Anknüpfungspunkt einer umfänglichen Organkreationsautonomie nicht widerspruchsfrei bleibt. 82 BVerfGE 80, 188 (220); vgl. Brocker, in: BK, GG, 150. EL Februar 2011, Art. 40 Rn. 57. 83 Fuchs, DVBl. 2014, 886 (887). Siehe an dieser Stelle nochmals 2. Kapitel F. I. 4. 84 BVerfGE 80, 188 (220).

C. Verfassungsmäßigkeit des Hauptausschusses der 18. Wahlperiode

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vorliegend auf den Begrenzungen durch die Verfassungspositionen von Minderheitenschutz und effektiver Opposition sowie Mandatsgleichheit. Geschäftsordnungs- und Gesetzesbestimmungen hingegen stehen in der Normhierarchie unter den grundgesetzlichen Bestimmungen und können dem Selbstorganisationsrecht keine Grenzen setzen. Eine Prüfung der Verfassungsmäßigkeit des Hauptausschusses nach dem Vorbild einer Verhältnismäßigkeitsprüfung bietet vorliegend keine hinreichende Struktur, um alle ins Gewicht fallenden Argumente im Rahmen einer Gesamtabwägung angemessen zu berücksichtigen.85 Das Prüfungsschema Zweck – Geeignetheit – Erforderlichkeit – Angemessenheit erweist sich in der Grundrechtedogmatik als zielführend. Dort ist die Stoßrichtung jedoch eine andere: Es geht um die Verteidigung individueller Rechts- und Freiheitssphären.86 Die Anwendung des historisch aus dem Polizeirecht des 19. Jahrhunderts entspringenden Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes und seiner Prüfungsordnung ist nicht automatisch auf das gesamte Staatsorganisationrecht87 übertragbar.88 Dies führte zu einer unangemessenen Einengung der Untersuchung, gleichwohl am Ende regelmäßig eine „praktische Konkordanz“89 sich gegenüberstehender Verfassungsgüter steht.90

III. Verfassungsrechtliche Diskussion 1. Verzögerte Einsetzung von Fachausschüssen Der deutschen Parlamentstradition entspricht es, dass große Teile der zu erfüllenden Parlamentsaufgaben in Ausschüssen erledigt werden.91 Die Verfassung regelt 85

A.A. Moench, Verfassungsmäßigkeit der Bundestagsausschüsse, S. 260 ff. Vgl. BVerfGE 79, 311 (341); 81, 310 (338). 87 Im Einzelfall kann sich der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz dagegen als angemessene Prüfungshilfe erweisen, vgl. Schulze-Fielitz, in: Dreier, GG, Bd. 2, Art. 20 Rn. 188 m.w.N. 88 Anschaulich und differenzierend Aust, AöR 141 (2016), 416 (446 f.). 89 Der Begriff geht zurück auf Konrad Hesse, vgl. Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Rn. 72. 90 Insgesamt ablehnend gegenüber einer Anwendung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes im Staatsorganisationsrecht BVerfGE 81, 310 (338); Degenhart, Staatsrecht I, S. 158 f.; Voßkuhle, JuS 2007, 429 (430). Vgl. aber BVerfGE 130, 318 (350, 353); für die Anwendung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes darüber hinaus Heusch, Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit im Staatsorganisationsrecht, S. 82; Hempel, Der Bundestag und die Nachrichtendienste – eine Neubestimmung durch Art. 45d?, S. 172 ff.; Schwerin, Der Deutsche Bundestag als Geschäftsordnungsgeber, S. 199 f.; Bollmann, Verfassungsrechtliche Grundlagen und allgemeine verfassungsrechtliche Grenzen des Selbstorganisationsrechts des Bundestages, S. 89 ff.; Grzeszick, in: Maunz/Dürig, GG, 57. EL Januar 2010, Art. 20 Rn. 109; SchulzeFielitz, in: Dreier, GG, Bd. 2, Art. 20 Rn. 188. M.w.N. zum Forschungsstand Heusch, Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit im Staatsorganisationsrecht, S. 47 ff. 91 BVerfGE 44, 308 (317); 80, 188 (221); 84, 304 (323); 130, 318 (351); Schönberger, HZ 272 (2001), 623 (644). 86

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5. Kap.: Der Hauptausschuss des Deutschen Bundestages

die Arbeitsorganisation des Bundestages nur punktuell. Es finden sich jedoch mehrere Regelungen, die sich mit Parlamentsausschüssen befassen. So verlangt das Grundgesetz in den Art. 42 Abs. 3, 43 Abs. 1, Abs. 2 Satz 1, 46 Abs. 1 Satz 1, 53a Abs. 2 Satz 2 GG „Ausschüsse“. Es spricht nicht von einem „Ausschuss“, sondern von Ausschüssen in der Mehrzahl. Die Abgeordnete Sitte kritisierte in der parlamentarischen Debatte um den Hauptausschuss, dass es mit dessen Einsetzung keine Vielzahl von Fachausschüssen mehr gebe.92 Eine solche, vermeintlich strenge Wortlaut-Argumentation ist allerdings in mehrfacher Hinsicht ungenau. Dies zeigt bereits ein systematischer Überblick über das parlamentarische Ausschusswesen: Es gibt verschiedene Ausschüsse, die der Bundestag zur Organisation seiner Angelegenheiten bestellt: ständige Ausschüsse, Sonderausschüsse, Unterausschüsse und Untersuchungsausschüsse. Diese Ausschüsse unterscheiden sich in ihrer Charakteristik wie folgt voneinander: Ständige Ausschüsse gemäß § 54 Abs. 1 Satz 1 GO-BT werden die für eine Wahlperiode bestellten Fachausschüsse genannt. Zu diesen Fachausschüssen gehören die vier grundgesetzlichen Ausschüsse der Art. 45, 45a und 45c GG. Auch der in § 3 WahlprüfG und in den §§ 107 Abs. 4 und 128 GO-BT genannte „erste“ Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung ist ein Art. 41 Abs. 1 Satz 1 GG konkretisierender Fachausschuss. Ein weiterer ständiger Ausschuss des Bundestages ist der Haushaltsausschuss, der ebenfalls einfachgesetzlich (z.B. § 10a Abs. 2 BHO) und in der Geschäftsordnung (§§ 6 Abs. 3 Satz 3, 80 Abs. 2 Satz 3, Abs. 3 Satz 3 GO-BT) vorausgesetzt wird. Sonderausschüsse gemäß § 54 Abs. 1 Satz 2 GO-BT sind nichtständige Ausschüsse des Bundestages, sie behandeln spezielle Angelegenheiten. Ferner steht es Fachausschüssen nach § 55 Abs. 1 Satz 1 GO-BT frei, sogenannte Unterausschüsse zu bilden. Untersuchungsausschüsse nach Art. 44 GG sind nichtständige Ausschüsse des Bundestages mit strafprozessualen Beweiserhebungsrechten zur Aufklärung von Sachverhalten, die auf das öffentliche Interesse stoßen. Bei den aufgezählten Ausschüssen handelt es sich wie auch bei dem reformierten Wahlausschuss für die Wahl der vom Bundestag zu bestimmenden Bundesverfassungsrichter gemäß § 6 BVerfGG um Hilfs- und Unterorgane des Bundestages.93 Hinzukommen weitere Gremien, die begrifflich keine Ausschüsse sind, aber im Grundgesetz, in Gesetzen oder der Geschäftsordnung eine Normierung erfahren, so z.B. das Parlamentarische Kontrollgremium gemäß Art. 45d GG, Enquete-Kommissionen gemäß § 56 GO-BT oder der Ältestenrat 92 BT-Plenarprotokoll 18/3 vom 28. November 2013, S. 77 (B); auch als Argument aufgeführt bei der Erklärung nach § 31 GO-BT der Abgeordneten Wawzyniak, Pau, Tackmann, Tempel, Liebich, Wunderlich, Vogler, Möhring und Petzold zur Abstimmung über den Antrag der Fraktionen CDU/CSU und SPD über die Einsetzung eines Hauptausschusses, in: BT-Plenarprotokoll 18/3 vom 28. November 2013, S. 207 (C); das Argument aufgreifend Prantl, Pläne von SPD und Union – Unbehagen am Super-Ausschuss, 21. 11. 2013, http://www. sueddeutsche.de/politik/plaene-von-spd-und-union-unbehagen-am-super-ausschuss-1.1823772, zuletzt geprüft am 26. 4. 2018; diese Argumentation ebenfalls ablehnend Thielbörger/Ackermann, ZJS 2014, 497 (499). 93 BVerfGE 67, 100 (123); 77, 1 (41).

C. Verfassungsmäßigkeit des Hauptausschusses der 18. Wahlperiode

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gemäß § 6 GO-BT.94 Keine Bundestagsausschüsse sind der Gemeinsame Ausschuss95 nach Art. 53a GG, Vermittlungsausschüsse nach Art. 77 Abs. 2 GG und der Richterwahlausschuss96 nach Art. 95 Abs. 2 GG. Sie sind der Bezeichnung nach Ausschüsse, aber anteilig mit Bundesratsmitgliedern besetzt und daher keine alleinigen Ausschüsse des Bundestages. Erstmals ist im Grundgesetz in Art. 42 Abs. 3 GG von Ausschüssen die Rede, wenn es um die Verantwortungsfreiheit der Parlamentsberichterstattung geht. Die Vorschrift meint sämtliche Ausschüsse des Bundestages.97 Art. 43 Abs. 1 GG regelt sodann das Zitierrecht gegenüber Mitgliedern der Bundesregierung. Das Zitierrecht steht allen Ausschüssen des Bundestages zu, d.h. den ständigen Ausschüssen, Sonderausschüssen, Unterausschüssen98 und Untersuchungsausschüssen. Mehrheitlich wird auch den Enquete-Kommissionen,99 dem Parlamentarischen Kontrollgremium100 und den gemischten Ausschüssen mit Mitgliedern aus Bundestag und Bundesrat101 das Zitierrecht zugesprochen. Art. 53a Abs. 2 Satz 2 GG verweist auf Art. 43 Abs. 1 GG, dort ist der gleiche Ausschussbegriff gemeint. Art. 43 Abs. 2 Satz 1 GG regelt das Zutrittsrecht für Mitglieder des Bundesrates und der Bundesregierung, es korrespondiert zu Art. 43 Abs. 1 GG. Daher gilt das Zutrittsrecht wie das Zitierrecht ebenfalls nicht nur für Ausschüsse im Wortsinn. Auch der Ausschussbegriff des Art. 46 Abs. 1 Satz 1 GG ist weit zu verstehen: Die Indemnität soll nicht nur in den Ausschüssen gewährleistet sein, die diese Bezeichnung tragen, sondern in allen Arbeitsuntergliederungen, d.h. in den Ausschüssen im untechnischen Sinne.102 Dazu zählen nicht nur Enquete-Kommissionen und das Parlamentarische Kontrollgremium, sondern sogar der Ältestenrat.103 Dieser Überblick über 94

Eine ausführliche Aufzählung findet sich bei Winkelmann, in: Morlok/Schliesky/Wiefelspütz, Parlamentsrecht, § 23 Rn. 4 ff. 95 BVerfGE 84, 304 (335); Heun, in: Dreier, GG, Bd. 2, Art. 53a Rn. 5. 96 Siehe auch Art. 98 Abs. 4 GG, der einen Richterwahlausschuss in den Ländern vorschreibt. 97 Leisner, in: Sodan, GG, Art. 42 Rn. 10. 98 Hinsichtlich der Unterausschüsse besteht Uneinigkeit, da sie teilweise nicht als Ausschüsse des Bundestages („seine“) angesehen werden, so Schneider, in: AK, GG, 2. EL August 2002, Art. 43 Rn. 4; dagegen aber Leisner, in: Sodan, GG, Art. 43 Rn. 2; Morlok, in: Dreier, GG, Bd. 2, Art. 43 Rn. 9; Versteyl, in: v. Münch/Kunig, GG, Bd. 1, Art. 43 Rn. 7; insoweit differenzierend Klein, in: Maunz/Dürig, GG, 71. EL März 2014, Art. 43 Rn. 53; Magiera, in: Schneider/Zeh, Parlamentsrecht und Parlamentspraxis, § 52 Rn. 5. 99 Vgl. dens., in: Schneider/Zeh, Parlamentsrecht und Parlamentspraxis, § 52 Rn. 6; Morlok, in: Dreier, GG, Bd. 2, Art. 43 Rn. 9; Schneider, in: AK, GG, 2. EL August 2002, Art. 43 Rn. 4; a.A. Klein, in: Maunz/Dürig, GG, 71. EL März 2014, Art. 43 Rn. 54 f. 100 Ders., in: Maunz/Dürig, GG, 71. EL März 2014, Art. 43 Rn. 52. 101 Ders., in: Maunz/Dürig, GG, 71. EL März 2014, Art. 43 Rn. 52 ff., 56 f.; differenzierend Morlok, in: Dreier, GG, Bd. 2, Art. 43 Rn. 9 m.w.N. 102 Trute, in: v. Münch/Kunig, GG, Bd. 1, Art. 46 Rn. 12. 103 Klein, in: Schneider/Zeh, Parlamentsrecht und Parlamentspraxis, § 17 Rn. 30 ff.; Trute, in: v. Münch/Kunig, GG, Bd. 1, Art. 46 Rn. 61 ff.

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5. Kap.: Der Hauptausschuss des Deutschen Bundestages

die parlamentarische Ausschussstruktur führt zu folgendem Schluss: In der Zeit des Hauptausschusses bestand nicht nur theoretisch die Möglichkeit, dass – wie das Grundgesetz es nahelegt – Ausschüsse in der Mehrzahl bestehen, sofern z.B. zusätzlich zum Hauptausschuss ein Untersuchungsausschuss vom Plenum eingesetzt worden wäre. Der Bundestag besaß darüber hinaus tatsächlich mehrere Ausschüsse, zumindest i.S.d. den Ausschussbegriff nutzenden Vorschriften. Denn hierunter werden nicht nur klassische Ausschüsse, sondern zumindest auch das parlamentarische Kontrollgremium gefasst. Dieses tagt aber kontinuierlich, d.h. es bestand auch zur Zeit des Hauptausschusses. Art. 46 Abs. 1 Satz 1 GG umfasst sogar den VorÄltestenrat104, der bei Einsetzung des Hauptausschusses ebenfalls bestand. Während der Existenz des Hauptausschusses gab es folglich sogar eine Mehrzahl von Ausschüssen i.S.d. oben genannten Vorschriften, wenngleich keine Fachausschüsse. Diese Argumentation zeigt erst, wie wenig zielführend der Hinweis auf den grundgesetzlichen Ausschussbegriff ist. Die Einsetzung eines einzigen Hauptausschusses ist sogar imstande die Argumentation Sittes umzukehren: Ohne einen Hauptausschuss gäbe es einen Ausschuss weniger. Eine systematische Betrachtung des grundgesetzlichen Ausschussbegriffs zeigt, dass er nicht gegen die Einsetzung eines Hauptausschusses in Stellung gebracht werden kann. Obwohl die Verfassung den Begriff „Ausschüsse“ nutzt, verlangt sie nicht, dass dauerhaft eine Vielzahl von Ausschüssen existiert. Bei der Formulierung des Grundgesetzes ging der Parlamentarische Rat vielmehr vom Regelfall aus, der erst nach Ablösung der geschäftsführenden Bundesregierung und mit Einsetzung der ständigen Fachausschüsse beginnt (mit Ausnahme von Art. 53a Abs. 2 Satz 2 GG waren die Vorschriften, die allgemein die Formulierung „Ausschüsse“ nutzen, bereits im Verfassungstext von 1949 normiert). Es wäre schon in sprachlicher Hinsicht umständlich gewesen, eine andere Formulierung zu wählen. Den Verhandlungen des Parlamentarischen Rates kann das Verlangen nach einer unmittelbaren Einsetzung der Fachausschüsse gleich am Tag der Parlamentskonstituierung nicht entnommen werden. Vielmehr schuf der Verfassungsgeber mit dem ständigen Ausschuss nach Art. 45 a.F. GG ein (einziges) Übergangsgremium für die damals noch bestehende parlamentslose Zeit.105 Mit der Regierungsbildung und Konstituierung der Fachausschüsse besitzt der Bundestag wieder eine Vielzahl von Ausschüssen. In der parlamentarischen Praxis, die Ausschüsse nach der Regierungsbildung einzuset-

104

Der Ältestenrat wird nicht gewählt, sondern von den Fraktionen gebildet. Er besteht gemäß § 6 Abs. 1 Satz 1 GO-BT aus dem Präsidenten, seinen Stellvertretern und dreiundzwanzig weiteren von den Fraktionen zu benennenden Mitgliedern. Schon vor der konstituierenden Sitzung wurde in der 18. Wahlperiode – wie üblich – ein sogenannter Vor-Ältestenrat gebildet. Am 16. Januar 2014 fand die erste Sitzung des neuen Ältestenrates statt, vgl. allgemein dazu Payandeh, in: Morlok/Schliesky/Wiefelspütz, Parlamentsrecht, § 7 Rn. 23; Roll, in: Schneider/Zeh, Parlamentsrecht und Parlamentspraxis, § 28 Rn. 10. 105 Das war damals der einzige verfassungsrechtlich geregelte Ausschuss, die Pflichtausschüsse und das Parlamentarische Kontrollgremium waren noch nicht normiert.

C. Verfassungsmäßigkeit des Hauptausschusses der 18. Wahlperiode

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zen,106 liegt kein verfassungswidriger Zustand.107 Die Arbeit in verschiedenen Fachausschüssen ist zwar elementarer Bestandteil der funktionierenden Parlamentsarbeit. Der Zweck der Art. 42 Abs. 3, 43 Abs. 1, Abs. 2 Satz 1, 46 Abs. 1 Satz 1 sowie Art. 53a Abs. 2 Satz 2 GG liegt aber nicht darin, eine Vielzahl von Ausschüssen zu verlangen oder gar einen Hauptausschuss zu verbieten. Die Vorschriften widersprechen der Einsetzung eines Hauptausschusses nicht;108 eher handelt es sich um parteipolitisch motivierte Wortklauberei.109 Eine Nicht-Einsetzung der Fachausschüsse zu Beginn der Wahlperiode verstößt keineswegs gegen das Grundgesetz, weil dies an einigen Stellen von Ausschüssen in der Mehrzahl ausgeht. Eine Einschränkung des Selbstorganisationsrechts ist insoweit nicht gerechtfertigt. 2. Hauptausschuss als Ausschuss i.S.d. Art. 45, 45a und 45c GG Der Hauptausschuss ersetzte nach seiner Einsetzung am 28. November 2013 bis zu ihrer Konstituierung am 15. Januar 2014 alle Fachausschüsse des Bundestages. Im Einsetzungsbeschluss des Hauptausschusses heißt es „Der Hauptausschuss ist Ausschuss i.S.d. Art. 45, 45a und 45c des Grundgesetzes.“ Zwar geht die Verfassung grundsätzlich von Ausschüssen aus, nennt aber nur wenige obligatorische Ausschüsse.110 Mit den Art. 45, 45a und 45c GG gibt es jedoch ausdrückliche verfassungsrechtliche Bestimmungen zu Ausschüssen, die dem Selbstorganisationsrecht des Bundestages nach Art. 40 Abs. 1 Satz 2 GG auf gleicher Stufe Grenzen setzen. Es handelt sich um vier „Pflichtausschüsse“111. Sie sind keine selbständigen Verfassungsorgane,112 sondern Hilfsorgane des Bundestages, die zwingend einzurichten sind.113 106 Zur vorzeitigen Einsetzung der Ausschüsse in der 4. Wahlperiode siehe das BT-Plenarprotokoll 4/3 vom 8. November 1961, S. 12 (A) f.; zur Regierungsbildung BT-Plenarprotokoll 4/4 vom 14. November 1961, S. 13 (D) ff. Auch in der 4. Wahlperiode war jedoch schon der Bundeskanzler gewählt, einzige Ausnahme ist also die 19. Wahlperiode. 107 Dies aber wäre die Schlussfolgerung der Argumentation der Abgeordneten von der Linksfraktion. 108 Vgl. auch Dürig/Klein, in: Maunz/Dürig, GG, 33. EL November 1997, Art. 45a Rn. 2; Kasten, Ausschussorganisation und Ausschussrückruf, S. 35; Thielbörger/Ackermann, ZJS 2014, 497 (499). 109 Das Wortlaut-Argument erinnert an andere rein akademische Streitigkeiten, z.B. ob nur ein Bundesland oder ein Bundesministerium bestehen könne. 110 Versteyl, in: v. Münch/Kunig, GG, Bd. 1, Art. 43 Rn. 4; Wollenschläger, in: Dreier, GG, Bd. 2, Art. 45 Rn. 8. 111 Unger, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, Bd. 2, Art. 45a Rn. 6; Dürig/Klein, in: Maunz/Dürig, GG, 33. EL November 1997, Art. 45a Rn. 11; Kluth, in: Schmidt-Bleibtreu/ Hofmann/Henneke, GG, Art. 45a Rn. 3. 112 Klein, in: Maunz/Dürig, GG, 63. EL Oktober 2011, Art. 45c Rn. 15. 113 BVerfGE 77, 1 (41); Kluth, in: Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/Henneke, GG, Art. 45c Rn. 3.

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5. Kap.: Der Hauptausschuss des Deutschen Bundestages

Zwar wurden auch diejenigen Ausschüsse vom Hauptausschuss vorübergehend ersetzt, die in einfachen Gesetzen oder in der Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages normiert sind. Dies ist verfassungsrechtlich jedoch nicht zu beanstanden. Auch die durch Gesetz auf den Haushaltsausschuss vermittelten Befugnisse nach § 3 Abs. 3 StabMechG und § 6 ESMFinG können von gewählten Mitgliedern des Hauptausschusses wahrgenommen werden, sofern die gesetzlichen Voraussetzungen vorliegen.114 Ob die einheitliche Wahrnehmung von Aufgaben des Haushaltsausschusses und der Fachausschüsse und die „Konfusion von Begehren und Möglichkeiten“115 unvorteilhaft ist, bleibt eine politische Fragestellung. Problematischer erweist sich ein Hauptausschuss im Hinblick auf die verfassungsrechtlich geregelten Ausschüsse. a) Institutionelle Bestandsgarantie der Pflichtausschüsse Die vier Pflichtausschüsse des Bundestages besitzen aufgrund ihrer verfassungsrechtlichen Verankerung eine Bestandsgarantie, d.h. die Pflichtausschüsse müssen eingesetzt werden und es darf keine Aushöhlung der Ausschussaufgaben stattfinden. Eine strenge Lesart der Bestimmungen zu den Pflichtausschüssen führt dazu, dass nur eine Einsetzung der Pflichtausschüsse direkt in der konstituierenden Sitzung der institutionellen Bestandsgarantie gerecht würde. Dies fordert jedoch auch in der Wissenschaft niemand, denn eine Frist zur Einsetzung der Pflichtausschüsse wird in den Art. 45, 45a und 45c GG nicht genannt. Mit der fehlenden Frist kann zwar die dauerhafte Aufschiebung der Ausschusseinsetzung nicht gerechtfertigt werden. Die Einsetzung der Pflichtausschüsse ist zu Beginn der Legislaturperiode und nicht etwa nach einem Jahr oder der Hälfte der Legislaturperiode vorzunehmen. Ein Hauptausschuss, der auf Dauer die Pflichtausschüsse ersetzt, verstieße gegen die institutionelle Bestandsgarantie der Art. 45, 45a und 45c GG. Doch stellen eine andauernde Regierungsbildung und die damit einhergehende Koordinierung der zukünftigen Regierungsgeschäfte mit dem parlamentarischen Ausschusswesen einen sachlichen Grund für die Verzögerung der Ausschusseinsetzung dar.116 Die Überschreitung einer Schwelle zur Rechtswidrigkeit wäre wohl frühestens ab drei bis sechs Monaten erreicht.117 Vor der 18. Wahlperiode und der Einsetzung eines Hauptausschusses 114 A.A. Fuchs, DVBl. 2014, 886 (892); zum „Neuner-Gremium“ und der alten Rechtslage BVerfGE 130, 318. 115 Morlok bei Engels, Bundestags-Hauptausschuss ist „eine Art Politbüro“, 28. 11. 2013, http://www.deutschlandfunk.de/rechtswissenschaftler-bundestags-hauptausschuss-ist-eine.694. de.html?dram:article_id=270403, zuletzt geprüft am 26. 4. 2018. 116 Das Parlament entschied sich mehrheitlich gegen die Einsetzung der Ausschüsse, siehe dazu die Anträge von DIE LINKE und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN in BT-Drs. 18/54 und 18/ 102. 117 Zur Problematik der Quantifizierung im Verfassungsrecht allgemein v. Aswege, Quantifizierung von Verfassungsrecht.

C. Verfassungsmäßigkeit des Hauptausschusses der 18. Wahlperiode

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wurde ein Verfassungsverstoß wegen einer verzögerten Einsetzung der Pflichtausschüsse nie diskutiert. Auch wenn es in der 18. Wahlperiode 88 Tage und damit besonders lang bis zur Einsetzung der Fach- und Pflichtausschüsse dauerte, gab es auch vorher schon lange Wartezeiten bis zur Ausschusseinsetzung. So verstrichen in insgesamt neun der 19 Wahlperioden mindestens 65 Tage bis zur Einsetzung der Fachausschüsse. Ein „pflichtausschussloser“ Zeitraum von 88 Tagen ist hinnehmbar. Hätte der SPD-Mitgliederentscheid über den Koalitionsvertrag der Partei mit CDU und CSU ein negatives Votum zum Ergebnis gehabt, wäre es vermutlich nicht mehr im Dezember 2013 zu einer Regierungsbildung gekommen. Auch die Ausschusseinsetzung hätte sich dann verzögert. In diesem Fall wäre eine Pflicht zur Einsetzung der Pflichtausschüsse in Erwägung zu ziehen. Hier ordnet sich auch die Einsetzung und Konstituierung der Fachausschüsse in der 19. Wahlperiode ein.118 Schon zum Zeitpunkt der Einsetzung des Hauptausschusses der 19. Wahlperiode plädierten die Fraktionen für die zügige Einsetzung aller Fachausschüsse, sofern die Regierungsfindung nicht in naher Zukunft stattfinde.119 Dazu kam es letztlich auch, am 17. Januar 2018, erstmals vor der Wahl eines Bundeskanzlers. Am 31. Januar 2018 konstituierten sich die Fachausschüsse der 19. Wahlperiode. Im Übrigen wäre eine sofortige Pflicht zur Einsetzung zumindest des Verteidigungsausschusses in dem Falle denkbar, in dem eine parlamentarische Untersuchung in einer Verteidigungssache verlangt wird – eine solche kann nur vom Verteidigungsausschuss als Untersuchungsausschuss ausgehen.120 Es bleibt dennoch festzuhalten, dass die Einsetzung der Pflichtausschüsse mit der Regierungsbildung der Normalfall ist. Dies hat in der parlamentarischen Praxis Tradition. Schuldhaftes Verzögern und ein Verfassungsverstoß gegen die institutionelle Bestandsgarantie der Pflichtausschüsse liegen nicht vor. Auch der Einsetzungsbeschluss des Hauptausschusses rührt den institutionellen, also existenziellen, Bestand der Pflichtausschüsse nicht an. Deutlicher noch würde dies, wenn der Hauptausschuss selbst Ausschuss für Angelegenheiten der Europäischen Union, auswärtige Angelegenheiten, Verteidigung, Petitionsbehandlungen, Haushalt, Wahlprüfung, Inneres, Finanzen, Justiz, etc. hieße. Die Namensgebung kann aber letztlich nicht über die Verfassungsmäßigkeit des Hauptausschusses entscheiden. Der Hauptausschuss war gemäß dem Einsetzungsbeschluss Ausschuss i.S.d. Art. 45, 45a und 45c GG und wurde – wie vorgesehen – mit Konstituierung der Fachausschüsse aufgelöst.

118 Zur Ausschusseinsetzung BT-Drs. 19/437 und BT-Plenarprotokoll 19/6 vom 17. Januar 2018, S. 461 (A). 119 Siehe nach dem Ende der „Jamaika“-Sondierungen insbesondere Marco Buschmann (FDP), in: BT-Plenarprotokoll 19/2 vom 21. November 2017, S. 41 (B): „Was nicht gehen wird – das möchte ich hier betonen –, ist, dass hier über fünf, sechs, sieben oder sonst wie viele Monate mit diesem Provisorium gearbeitet wird.“ 120 Siehe 5. Kapitel C. III. 2. c) cc).

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5. Kap.: Der Hauptausschuss des Deutschen Bundestages

Ferner kann ein Hauptausschuss die Kompetenzen der Pflichtausschüsse nicht aushöhlen, solange es diese noch gar nicht gibt. Im Schrifttum wird teilweise angenommen, dass die Pflichtausschüsse durchweg „latent“121 existierten. Dies ist abzulehnen, denn die Pflichtausschüsse des Grundgesetzes werden – insoweit nicht anders als die anderen ständigen Ausschüsse – erst „bestellt“.122 Bestellung der Pflichtausschüsse meint nicht bloß die personelle Entsendung der Abgeordneten („Bestückung“) in fortwährend bestehende Pflichtausschüsse. Das unterstreicht ein systematischer Vergleich zu den im Grundgesetz durchaus vorgesehenen personellen Bestellungen in Art. 51 Abs. 1 Satz 1, 53a Abs. 1 Satz 3 Halbs. 1, 85 Abs. 2 Satz 3, 108 Abs. 1 Satz 3, Abs. 2 Satz 3 GG, die allesamt von der Bestellung jeweiliger Mitglieder sprechen. Die Art 45, 45a, 45c, Art. 45d und 10 Abs. 2 Satz 2 GG hingegen regeln die Bestellung jeweiliger Organe. Der Verfassungsgeber unterscheidet also im Wortlaut zwischen der personellen und institutionellen Bestellung. Das Bestellen der Pflichtausschüsse geschieht durch Einsetzung und Konstituierung.123 Bestünden die Pflichtausschüsse nach der Wahlperiode tatsächlich weiter, bräuchte es keine Einsetzung und Konstituierung mehr. Während den Art 45, 45a, 45c GG eine institutionelle Garantie für die Pflichtausschüsse zweifelsohne zu entnehmen ist, geht ein Hineinlesen von immerwährend existierenden Pflichtausschüssen an der Verfassungswirklichkeit vorbei. Auch der Gesetzgeber sieht dies so. Dies zeigt er mit der Schaffung der Vorschrift des § 3 Abs. 4 PKrGrG zum Parlamentarischen Kontrollgremium, das im Gegensatz zu den Pflichtausschüssen fortlaufend tätig ist. Hier wurde trotz verfassungsrechtlicher Bedenken hinsichtlich der Diskontinuität124 eine Übergangsregelung gewählt, die für die Pflichtausschüsse nicht existiert. Die institutionelle Bestandsgarantie der grundgesetzlichen Pflichtausschüsse blieb mit der Einsetzung der Ausschüsse nach Art. 45, 45a und 45c GG am 19. Dezember 2013 gewahrt.

121 Koschmieder, NVwZ 2014, 852 (854); vgl. aber im Kontext zum Hauptausschuss auch Straßburger, JuS 2015, 714 (719). 122 Dürig/Klein, in: Maunz/Dürig, GG, 33. EL November 1997, Art. 45a Rn. 12. Wie hier Hadamek, ZG 29 (2014), 353 (365); Moench, Verfassungsmäßigkeit der Bundestagsausschüsse, S. 258. 123 Vgl. auch BVerfGE 77, 1 (41); Achterberg, Parlamentsrecht, S. 193; Müller-Terpitz, in: BK, GG, 174. EL September 2015, Art. 45a Rn. 41; dagegen Berg, Der Verteidigungsausschuss des Deutschen Bundestages, S. 104 f.; Heun, in: Dreier, GG, Bd. 2, Art. 45a Rn. 4; Straßburger, JuS 2015, 714 (719). 124 Vgl. zu der Debatte um einen auch während der Amtszeit einer geschäftsführenden Bundesregierung tagenden Petitionsausschuss Hausding, Längere Amtszeit für Petitionsausschuss, 20. 6. 2016, https://www.bundestag.de/presse/hib/201606/-/428688, zuletzt geprüft am 26. 4. 2018; in dem Zusammenhang insgesamt Wissenschaftliche Dienste des Deutschen Bundestages, Verstetigung des Petitionsausschusses über das Ende der Legislaturperiode. Ausarbeitung WS 3 - 3000 - 020/14 vom 10. 3. 2014.

C. Verfassungsmäßigkeit des Hauptausschusses der 18. Wahlperiode

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b) Kompetenzielle Bestandsgarantie der Pflichtausschüsse Weniger leicht lassen sich die Bedenken gegen die kompetenzielle Bestandsgarantie ausräumen, die ebenfalls von den Art. 45, 45a und 45c GG ausgeht: Die Pflichtausschüsse müssen mit ihren eigenen abgegrenzten Aufgabenbereichen isoliert voneinander eingesetzt werden. Die parallele Aufzählung der Ausschüsse in den Art. 45, 45a und 45c GG legt eine solche Pflicht zur separaten Einsetzung nahe. In Art. 45 GG und auch in Art. 45a Abs. 1 GG heißt es „Der Bundestag bestellt einen Ausschuss für […]“. Sofern „einen“ hier als Artikel und nicht ausdrücklich als Zahlwort gebraucht wird, stellt eine solche Lesart die Bedeutung der Ausschussfunktionen in den Vordergrund. Danach käme es dem Verfassungsgeber nicht auf die Bestellung eines speziellen Ausschusses an, sondern auf die Wahrung der Ausschussfunktion.125 Ein solcher Versuch, die kompetenzielle Bestandsgarantie abzulehnen, scheitert aber spätestens am Wortlaut des Art. 45c GG. Denn dieser fordert einen „Petitionsausschuss“. Diese Bezeichnung ist ein Alleinstellungsmerkmal, das die Wahrnehmung der Aufgaben des Petitionsausschusses durch einen beliebigen Ausschuss verbietet. Es bleibt bei der kompetenziellen Bestandsgarantie der Pflichtausschüsse. Die Zusammenlegung von Zuständigkeiten der Pflichtausschüsse in einen Ausschuss ist gerade nicht vorgesehen.126 Ein Hauptausschuss, der auf Dauer die Pflichtausschüsse ersetzt, verstieße gegen die institutionelle und auch kompetenzielle Bestandsgarantie der Art. 45, 45a und 45c GG. Ein Hauptausschuss, der in gleichzeitiger Existenz der Pflichtausschüsse verfährt, wäre zumindest aufgrund der kompetenziellen Bestandsgarantie verfassungswidrig. Ein Hauptausschuss, der mit der Prämisse seiner Abschaffung bei Konstituierung der Pflichtausschüsse geschaffen wird, befindet sich in einer verfassungsrechtlichen Grauzone.127 Die organisatorische Entkopplung und Spezialisierung von Themen dienen einer funktionsfähigen Arbeitsteilung und -effizienz. Das Grundgesetz sieht für die Aufgabenbereiche der Pflichtausschüsse eine Zusammenlegung gerade nicht vor.128 Im Schrifttum wird eine „gelegentliche Durchführung gemeinsamer Sitzungen“129 von Fachausschüssen aber als unproblematisch empfunden. Die parlamentarische Praxis bestätigt dies. Die Geschäftsordnungsvorschrift des § 69 Abs. 8 GO-BT impliziert, dass Ausschüsse in gemeinsamer Sitzung über denselben Verhandlungsgegenstand beraten können. Gemeinsame Sitzungen sind keine 125 Heppner/Wierny, Der „Super-Ausschuss“ – Einer für (fast) alle(s)?, 22. 11. 2013, https:// www.juwiss.de/116-2013/, zuletzt geprüft am 26. 4. 2018; vier Jahre später zum Hauptausschuss der 19. Wahlperiode Wierny, Hauptausschuss im Bundestag, 22. 11. 2017, https://www.juwiss. de/119-2017/, zuletzt geprüft am 26. 4. 2018. 126 Brocker, in: Epping/Hillgruber, GG, 37. Edition Mai 2018, Art. 45a Rn. 1; Dürig/Klein, in: Maunz/Dürig, GG, 33. EL November 1997, Art. 45a Rn. 12. 127 Thielbörger/Ackermann, ZJS 2014, 497 (500). 128 Dürig/Klein, in: Maunz/Dürig, GG, 41. EL Oktober 2002, Art. 45a Rn. 38; Krings, in: BerlK, GG, 27. EL Juli 2009, Art. 45a Rn. 7; Müller-Terpitz, in: BK, GG, 174. EL September 2015, Art. 45a Rn. 26. 129 Dürig/Klein, in: Maunz/Dürig, GG, 33. EL November 1997, Art. 45a Rn. 13.

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5. Kap.: Der Hauptausschuss des Deutschen Bundestages

parlamentarische Besonderheit. Ein paralleles Beraten einer fachübergreifenden Thematik durch mehrere Ausschüsse ist in federführenden und mitberatenden Ausschüssen gemäß § 63 GO-BT sogar üblich. Gewöhnlich werden Vorlagen von mehreren Ausschüssen behandelt. Überdies enthält die kompetenzielle Bestandsgarantie kein Recht, eine Vorlage exklusiv an sich zu ziehen. Geschäftsordnungsrecht und Parlamentspraxis aber können eine kompetenzielle Bestandsgarantie im Grundgesetz nicht negieren. Eine teleologische Auslegung der grundgesetzlichen Vorschriften lässt dagegen einen Hauptausschuss, der von Anfang an darauf abzielte, sich selbst wieder aufzulösen, zu: Nicht nur Achterberg sieht den Sinn und Zweck der im Grundgesetz normierten Art. 45, 45a und 45c GG hauptsächlich im erhöhten institutionellen Schutz der Ausschüsse und nicht in der kompetenziellen Abgrenzung der Sachbereiche.130 Verfassungsrechtlich geschützte Bestandskraft soll nicht formal für ein Gremium, sondern materiell für dessen Funktionen bestehen. Insofern ist ein Hauptausschuss sogar zweckmäßig, da bei diesem die Erfüllung der Aufgaben des Bundestages im Mittelpunkt steht. Der Telos der Art. 45, 45a und 45c GG spricht für die Verfassungsmäßigkeit eines Hauptausschusses.131 Ergänzend stützen historische Gesichtspunkte diese Erwägungen, hierfür ist speziell die Intention des Verfassungsgebers in den Blick zu nehmen: In Art. 45 GG verlangt das Grundgesetz einen ersten Pflichtausschuss für Angelegenheiten der Europäischen Union. Grund für diese verfassungsrechtliche Verankerung im Jahr 1992 war eine Stärkung des Bundestages in Europa-Angelegenheiten.132 Vor allem die mit Art. 23 GG verbundenen Mitwirkungsrechte des Bundestages sollten effizient und zügig durch ein arbeitsfähiges Gremium ausgeübt werden.133 Neben der Bewältigung von Unionsvorlagen stand auch die Zusammenarbeit mit Parlamentariern des Europäischen Parlaments im Vordergrund der Überlegungen. Die 34 Ausschussmitglieder werden komplettiert von 14 mitwirkungs-, aber nicht-stimmberechtigten Mitgliedern des Europäischen Parlaments. Der Ausschuss wird aufgrund seiner Schnittstellenarbeit auch als Clearing-Stelle genutzt.134 Außerdem sollte er als Kontrollorgan des Bundestages in Unionsfragen fungieren. Zwei weitere Pflichtausschüsse regelt das Grundgesetz mit den Ausschüssen für auswärtige Angelegenheiten und Verteidigung in Art. 45a GG. Beide Ausschüsse fanden erst 1956 im Zuge der Wehrverfassung ihren Platz im Grundgesetz.135 Sie dienen in erster Linie

130

Achterberg, Parlamentsrecht, S. 145; wohl auch Hadamek, ZG 29 (2014), 353 (363). A.A. Thielbörger/Ackermann, ZJS 2014, 497 (500). 132 BT-Drs. 12/3896, S. 21; 12/6000, S. 24. 133 BT-Drs. 12/3896, S. 21; 12/6000, S. 24; vgl. insgesamt auch dazu v. Heinegg, in: Epping/Hillgruber, GG, 37. Edition März 2015, Art. 45 Rn. 1; Scholz, in: Maunz/Dürig, GG, 56. EL Oktober 2009, Art. 45 Rn. 1. 134 BT-Drs. 12/3986, S. 6. 135 Siehe aber zum Auswärtigen Ausschuss in der Weimarer Republik Art. 35 Abs. 1 WRV. 131

C. Verfassungsmäßigkeit des Hauptausschusses der 18. Wahlperiode

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der Stärkung der Kontrollaufgaben des Parlaments.136 Dies zeigt auch der frühere Art. 45a Abs. 1 GG: Dort war 20 Jahre lang von 1956 bis 1976 geregelt, dass der Bundestag einen Ausschuss für auswärtige Angelegenheiten und für Verteidigung bestellt und diese beiden Ausschüsse auch zwischen zwei Wahlperioden tätig werden. Die Regelung des Art. 45a Abs. 1 Satz 2 GG, die auf die damals noch vorhandene parlamentslose Zeit zurückzuführen ist, zeigt die hervorgehobene Stellung, die das Grundgesetz für diese Pflichtausschüsse vorsieht. Auch in der parlamentslosen Phase sollte die Regierungskontrolle in diesen, von nationalen Machtverhältnissen weitgehend entkoppelten Bereichen, Bestand haben.137 Art. 45a GG ist Ausdruck der Festigung parlamentarischer Anteilnahme an auswärtigen Angelegenheiten und Verteidigung.138 Ferner sollte mit dem Verteidigungsausschuss ein parlamentarischer Machtfaktor geschaffen werden, der die hervorgerufene Stärkung der Exekutive durch die Schaffung einer Bundeswehr auszubalancieren in der Lage ist. Mit dem Petitionsausschuss nach Art. 45c GG kennt das Grundgesetz einen vierten Pflichtausschuss. Er stärkt das Petitionswesen.139 Der Ausschuss nach Art. 45c GG gibt Beschlussempfehlungen hinsichtlich der Bürgeranliegen für den Bundestag ab.140 Die Verankerung des Petitionsausschusses in der Verfassung erfolgte 1975 mit der Begründung, effektive und direkte Auskunftsrechte des Petitionsausschusses gegenüber Dritten zu gewährleisten.141 Neben der Beschleunigung des Petitionsverfahrens, dient die Vorschrift als verfassungsrechtliche Grundlage für Sachaufklärung und parlamentarische Kontrolle. Zusammenfassend ergibt eine genetische Auslegung, dass die Verfassungsvorgaben vor allem darauf abzielen, Bestand und Funktion der Ausschüsse zu sichern. Die Stärkung der parlamentarischen Gesetzgebungsarbeit und Kontrollfunktion lag im Fokus des Verfassungsgebers. Die Pflichtausschüsse werden überwiegend mit den speziellen Aufgaben und vor allem mit der Stärkung des Parlaments gegenüber der Regierung begründet. Ihre verfassungsrechtliche Normierung hat dagegen nicht vorrangig den Grund, Kompetenzen abzugrenzen und ihre isolierte Existenz herauszustellen. Ob gewöhnlicher Fachausschuss, Pflichtausschuss oder Hauptausschuss – es handelt sich um Unterorgane des Bundestages, die diesen bei der Bewältigung seiner Aufgaben unterstützen. Dem historischen Zweck der Ausschüsse wird ein vorübergehend tagender Hauptausschuss durchaus gerecht.

136 BT-Drs. 2/2150, S. 3; Dürig/Klein, in: Maunz/Dürig, GG, 33. EL November 1997, Art. 45a Rn. 5. 137 Dazu BVerfGE 90, 286 (385). 138 Vgl. zur Sonderstellung nochmals Dürig/Klein, in: Maunz/Dürig, GG, 33. EL November 1997, Art. 45a Rn. 1. 139 Unger, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, Bd. 2, Art. 45c Rn. 2; Krings, in: BerlK, GG, 10. EL September 2004, Art. 45c Rn. 4. 140 Klein, in: Maunz/Dürig, GG, 63. EL Oktober 2011, Art. 45c Rn. 22. 141 BT-Drs. 6/3829, S. 31; 6/973, S. 2.

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5. Kap.: Der Hauptausschuss des Deutschen Bundestages

Die Vorschriften der Art. 45, 45a und 45c GG schützen den kompetenziellen Bestand der Pflichtausschüsse. Der Wortlaut der Art. 45, 45a und 45c GG verlangt nicht nur einen Ausschuss, sondern vier Ausschüsse. Über den Zeitraum bis zur Einsetzung der Pflichtausschüsse aber schweigt das Grundgesetz. Besondere politische Situationen können – im Rahmen der Verfassung – außergewöhnliche Regelungen erfordern.142 Die Verfassungstradition der Parlamentsautonomie zeigt, dass eine Einschränkung parlamentarischer Anpassungsfähigkeit nicht i.S.d. Verfassungsgebers war. Die nach und nach erstrittene Ausweitung und Stärkung parlamentarischer Unabhängigkeit fordert eine weite Organisations- und Verfahrensfreiheit. Die grundgesetzlichen Bestimmungen zu den Ausschussstrukturen sollten diesem errungenen parlamentarischen Spielraum nicht zuwiderlaufen. Vielmehr zeigen Telos und Genese der Art. 45, 45a und 45c GG, dass nicht die Abgrenzung der Kompetenzen im Vordergrund ihrer Verankerung im Grundgesetz standen. Es handelt sich bei der kurzzeitigen Einsetzung eines Hauptausschusses nicht um die Entleerung der kompetenziellen Bestandsgarantie. Ein Verfassungsverstoß gegen die Bestandsgarantie der Pflichtausschüsse liegt nicht vor, sofern bis zur Regierungsfindung und Einsetzung der regulären Pflichtausschüsse kurzzeitig ein Hauptausschuss die Aufgaben der Pflichtausschüsse übernimmt.143 c) Sonderbefugnisse der Pflichtausschüsse Fast alle Pflichtausschüsse haben nur ihnen zustehende, verfassungsrechtlich gesicherte, Sonderbefugnisse. Zu untersuchen ist, ob der Hauptausschuss der 18. Wahlperiode diese besonderen Rechte der Pflichtausschüsse wahrnehmen konnte. aa) Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Gemäß Art. 45 Satz 2 und 3 GG, § 93b Abs. 2 GO-BT kann der Bundestag den Ausschuss für Angelegenheiten der Europäischen Union ermächtigen, die Rechte des Parlamentsplenums gemäß Art. 23 GG gegenüber der Bundesregierung und auch die dem Bundestag in den vertraglichen Grundlagen der Europäischen Union eingeräumten Rechte wahrzunehmen. Der Hauptausschuss war gemäß dem Einsetzungsbeschluss unter anderem Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union und folglich Rechtsinhaber von dessen Sonderbefugnissen nach Art. 45 Satz 2 und 3 GG.

142

Fuchs, DVBl. 2014, 886 (892). A.A. ders., DVBl. 2014, 886 (891 f.); Koschmieder, NVwZ 2014, 852 (854); Straßburger, JuS 2015, 714 (719); Thielbörger/Ackermann, ZJS 2014, 497 (501); Moench, Verfassungsmäßigkeit der Bundestagsausschüsse, S. 259; wohl auch Heun, in: Dreier, GG, Bd. 2, Art. 45a Fn. 15. 143

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Grundsätzlich gilt der Plenarvorbehalt, d.h. das Plenum übernimmt als Hauptorgan des Deutschen Bundestages die ihm in der Rechtsordnung übertragenen Aufgaben des Parlaments.144 Ausschüsse sind nur vorbereitende Beschlussorgane.145 Der Plenarvorbehalt gilt aber nicht ausnahmslos. Die funktionsgerechte Übertragung von Befugnissen durch das Parlament auf parlamentarische Hilfsorgane ist möglich. Es ist auch nicht notwendig, dass die Verfassung ausdrücklich Befugnisse delegiert (vertikale Delegation). Voraussetzung ist jedoch, dass erstens keine staatsleitenden oder andere wesentlichen Entscheidungen z.B. im Rahmen der Gesetzgebung ohne verfassungsrechtliche Grundlage delegiert werden und zweitens zeitgleich eine fortwirkende Einwirkungsmöglichkeit des Plenums besteht (Letztverantwortung).146 Die Delegation von Befugnissen, die das Grundgesetz bereits auf ein bestimmtes Gremium überträgt, ist dagegen in aller Regel unzulässig. Das Selbstorganisationsrecht stellt dann keine taugliche Rechtsgrundlage für eine Übertragung von Befugnissen mehr dar.147 Dies gilt aber ebenfalls nicht ausnahmslos. Anders liegt es, wenn – wie hier – beide oben genannten Voraussetzungen vorliegen und das vorgeschriebene Gremium (hier der Ausschuss nach Art. 45 GG) drittens noch nicht existiert und viertens keine außenwirksamen Maßnahmen mit der Delegation der Aufgaben verbunden sind. Schließlich darf eine vorübergehende Aufgabendelegation auf ein anderes Gremium als die Verfassung es vorsieht nicht willkürlich sein. Sie muss für die Erhaltung der Parlamentsfunktionalität vielmehr angemessen sein. Liegen diese fünf Voraussetzungen vor, ist eine vorübergehende Übertragung der Aufgaben bis zur regulären Wahrnehmung durch die vom Grundgesetz vorgesehenen Hilfsorgane möglich. Bisher gab es noch keine formelle Ermächtigung des Europaausschusses durch den Bundestag nach Art. 45 Satz 2 oder 3 GG, § 93b Abs. 2 Satz 1 GO-BT.148 Die Sonderrechte des Ausschusses sind in §§ 93a, 93b GO-BT konkretisiert. Nach § 93b Abs. 2 Satz 3 GO-BT hat der Ausschuss das Recht zum plenarersetzenden Beschluss auch ohne vorherige Ermächtigung durch das Plenum, wenn die übrigen beteiligten Ausschüsse der Stellungnahme nicht widersprechen. Ob diese Regelung zulässig ist, kann hier dahinstehen. Einen solchen plenarersetzenden Beschluss auf Grundlage von § 93b Abs. 2 Satz 3 GO-BT gab es bisher jedenfalls zweimal (beide Male in der 14. Wahlperiode, konkret mit Beschlüssen vom 29. September 1999 und 4. Juli 144 Vgl. hierzu BVerfGE 44, 308 (316) in Bezug auf die Repräsentation des Volkes durch das Gesamtparlament; auch Moench, Verfassungsmäßigkeit der Bundestagsausschüsse, S. 158. 145 Morlok, in: Dreier, GG, Bd. 2, Art. 40 Rn. 30. 146 BVerfGE 130, 318 (351 ff.); dazu in der sechsten Auflage Achterberg/Schulte, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, Bd. 2, Art. 45c Rn. 30; Morlok, VVDStRL 62 (2003), 37 (59); Würtenberger, in: BK, GG, 74. EL November 1995, Art. 45c Rn. 118; grundsätzlich und zusammenfassend Berg, Der Staat 9 (1970), 21 (21 ff., 42). Vertiefend und im Ergebnis auf den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz abstellend Moench, Verfassungsmäßigkeit der Bundestagsausschüsse, S. 185 f. 147 BVerfGE 130, 318 (351). 148 Baddenhausen, in: Morlok/Schliesky/Wiefelspütz, Parlamentsrecht, § 27 Rn. 8 m.w.N.

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2001, jeweils zum Thema der Charta der Grundrechte der Europäischen Union).149 Dem Hauptausschuss wurden keine plenarersetzenden Befugnisse überwiesen. Selbst bei einer Wahrnehmung der Befugnisse i.S.v. Art. 45 Satz 2 und 3 GG bleibt ein „Rückholrecht“ des Bundestages bestehen, das Plenum hat eine Letztentscheidungskompetenz. Der Hauptausschuss besaß kein Selbstbefassungsrecht und ersetzte den noch nicht existenten Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union nur bis zu dessen Einsetzung. Ferner sind lediglich Rechte des Bundestages betroffen und nicht solche von Dritten, für die es keine Rechtsgrundlage gäbe.150 Zwar haben Informationsrechte gegenüber der Bundesregierung (Art. 45 Satz 2 i.V.m. Art. 23 Abs. 2 Satz 2 GG, § 1 Abs. 1 Satz 2 i.V.m. § 3 EUZBBG) und Mitwirkungsrechte in Form von Stellungnahmen des Ausschusses (Art. 45 Satz 2 i.V.m. Art. 23 Abs. 3 Satz. 1 und 2 GG, § 1 Abs. 1 Satz 1 i.V.m. § 8 EUZBBG) gerade eine zwingende Rechts- und Drittwirkung auf die Bundesregierung. Solche Wirkungen auf andere Staatsorgane bedürfen schon aus Gründen der Funktions- und Gewaltenteilung von Verfassungsorganen einer grundgesetzlichen Regelung.151 Die verfassungsrechtliche Rechtfertigung solcher Wirkungen auf die Bundesregierung kann für den Hauptausschuss nicht in Art. 45 Satz 2 GG erblickt werden. Doch muss die Bundesregierung dem Parlament generell Rede und Antwort stehen, Art. 38 Abs. 1 Satz 2 i.V.m. Art. 20 Abs. 1 und 2 GG. Ferner hat der Bundestag im innerparlamentarischen Zuständigkeitsbereich weitreichenden Spielraum hinsichtlich seines Selbstorganisationsrechts.152 Die Interessen der Bundesregierung werden bei Wahrnehmung der Aufgaben des Bundestages durch den Haupt- statt durch den Europaausschuss lediglich tangiert. Mit anderen Worten: Der Bundesregierung kommt es nicht darauf an, ob sie den Europaausschuss oder den Hauptausschuss i.S.v. Art. 45 GG informiert oder dessen Stellungnahme einholt. Letztlich ist die Einsetzung eines Hauptausschusses auch nicht willkürlich, sondern der mehrheitlichen Sorge um die Handlungsfähigkeit des Parlaments geschuldet. Mit der zeitlich begrenzten Übertragung der Rechte aus Art. 45 Satz 2 und 3 GG verstößt der Bundestag nicht gegen die Verfassung.153

149

Pflüger, FS Meyer, S. 273 f.; Baddenhausen, in: Morlok/Schliesky/Wiefelspütz, Parlamentsrecht, § 27 Rn. 8. 150 Vgl. auch zur Rechtsbetroffenheit Dritter Schäfer, Der Bundestag, S. 67. 151 In diesem Zusammenhang Bollmann, Verfassungsrechtliche Grundlagen und allgemeine verfassungsrechtliche Grenzen des Selbstorganisationsrechts des Bundestages, S. 151; Kretschmer, ZParl. 17 (1986), 334 (338 f.). 152 BVerfGE 130, 318 (358). 153 A.A. Fuchs, in: Morlok/Schliesky/Wiefelspütz, Parlamentsrecht, § 28 Rn. 7; ders., DVBl. 2014, 886 (892); ohne besondere Kritik Baddenhausen, in: Morlok/Schliesky/Wiefelspütz, Parlamentsrecht, § 27 Rn. 12.

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bb) Ausschuss für auswärtige Angelegenheiten Der Ausschuss für auswärtige Angelegenheiten gemäß Art. 45a Abs. 1 GG besitzt keine Sonderbefugnisse. Zwar handelt es sich um einen „geschlossenen“ Ausschuss i.S.v. § 69 Abs. 2 GO-BT (wie auch beim Verteidigungsausschuss),154 d.h. Nicht-Mitgliedern des Ausschusses ist der Zugang nicht gestattet. Aufgrund von Vertraulichkeitsgesichtspunkten wird dies üblicherweise bereits bei seiner Einsetzung festgestellt. Dem Hauptausschuss liegt ein solcher Beschluss gerade nicht zugrunde, dies aber ist auch keine Pflicht von Verfassungs wegen. Vielmehr ist es dem Bundestag auf Grundlage seiner Verfahrensfreiheit nach Art. 40 Abs. 1 Satz 2 GG möglich, einen „nicht-geschlossenen“ Hauptausschuss i.S.v. Art. 45a GG einzusetzen.155 cc) Ausschuss für Verteidigung Handelt der Hauptausschuss nach seinem Einsetzungsbeschluss als Verteidigungsausschuss gilt auch die Bestimmung des Art. 45a Abs. 2 GG, nach der er auch die Rechte eines Untersuchungsausschusses hat. Auf Antrag eines Viertels seiner Mitglieder hat er gar die Pflicht, eine Angelegenheit zum Gegenstand einer Untersuchung zu machen. Der Verteidigungsausschuss ist kein ständiger Untersuchungsausschuss, wie die grundgesetzliche Formulierung dies zuließe. Es bedarf weiterhin eines förmlichen Einsetzungsbeschlusses durch den Verteidigungsausschuss selbst.156 Dies bedeutet dennoch, dass der Hauptausschuss mit dem Einsetzungsbeschluss nicht nur Verteidigungsausschuss wurde, sondern auch potentieller Untersuchungsausschuss. Der Verteidigungsausschuss kann sich selbständig zum Untersuchungsausschuss erklären – dies ermöglicht der Wortlaut des Einsetzungsbeschlusses folgendermaßen auch dem Hauptausschuss. Dagegen bestehen verfassungsrechtliche Bedenken. Nach Egon Zweigs Korollartheorie157 und der sich im Grundsatz überwiegend anschließenden Rechtsprechung und Literatur geht das Informationsrecht des Parlaments so weit wie der Umfang der Parlamentskompetenzen insgesamt, sodass sowohl staatsinterne als auch gesellschaftliche Untersuchungen Gegenstand einer parlamentarischen Untersuchung werden können: Der Untersuchungsausschuss agiert insofern an der

154

Dazu allgemein Ritzel/Bücker/Schreiner/Winkelmann, HdbPP, 29. EL September 2013, Erl. 2. b) zu § 69, S. 3. 155 Zu geschlossenen Ausschüssen Winkelmann, in: Morlok/Schliesky/Wiefelspütz, Parlamentsrecht, § 23 Rn. 46. 156 Brocker, in: Epping/Hillgruber, GG, 37. Edition Mai 2018, Art. 45a Rn. 8; Dürig/Klein, in: Maunz/Dürig, GG, 41. EL Oktober 2002, Art. 45a Rn. 35; Umbach, in: MitarbK, GG, Bd. 2, Art. 45a Rn. 9. 157 Erstmals Zweig, ZfP 6 (1913), 265 (265 ff.); kritisch Masing, Der Staat 27 (1988), 272 – 289.

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5. Kap.: Der Hauptausschuss des Deutschen Bundestages

Schnittstelle zwischen Staatsinternum und -externum.158 Obwohl das Untersuchungsrecht hauptsächlich der Einforderung staatlicher Verantwortlichkeit dient,159 sprengen die Befugnisse des Untersuchungsausschusses den parlamentsinternen Rahmen. Dem Untersuchungsausschuss stehen besondere Rechte zu, die nicht nur Abgeordnete betreffen, sondern auch die Rechtsstellung Dritter in ganz erheblicher Weise berühren können. Zur Aufklärung von Sachverhalten kann der Untersuchungsausschuss strafprozessuale Befugnisse nutzen:160 Bei der Verpflichtung von Dritten zur Aussage vor dem Ausschuss ist die allgemeine Handlungsfreiheit nach Art. 2 Abs. 1 GG, bei dem Zugriff auf personenbezogene Daten das Recht auf informationelle Selbstbestimmung nach Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG, bei Hausdurchsuchungen der Schutz der Wohnung nach Art. 13 GG und bei Beschlagnahmungen das Eigentumsrecht nach Art. 14 GG betroffen.161 Geschäftsordnung und Parlamentsbeschluss können Unbeteiligte nicht berechtigen oder verpflichten. Vielmehr bedarf es für einen exekutiven Grundrechtseingriff einer gesetzlichen Ermächtigungsgrundlage. Das gleiche gilt für einen parlamentarischen Eingriff.162 Im Falle des Untersuchungsausschusses jedoch kommt hinzu, dass diesem als Hilfsorgan der Legislative zur parlamentarischen Kontrolle Exekutivbefugnisse zukommen. Eine solche Verschränkung der Funktionsgliederung in der Gewaltenteilung verlangt sogar eine verfassungsrechtliche Grundlage: Art. 44 Abs. 2 Satz 1 GG.163 Während dem Hauptausschuss die Befugnisse des Ausschusses für Angelegenheiten der Europäischen Union noch übertragen werden können, genügt der Parlamentsbeschluss im Fall des Art. 45a Abs. 2 Satz 1 GG nicht aus.164 An diesem Befund kann auch ein Einsetzungsbeschluss nichts ändern, der dem Hauptausschuss das Selbstbefassungsrecht abspricht: Zwar bleibt auch der Verteidigungsausschuss als Untersuchungsausschuss Hilfsorgan des Bundestages. Es besteht lediglich ein gegenständliches Monopol und keine rechtliche Sonderstellung des Verteidigungsausschusses im Vergleich zu anderen Ausschüssen.165 Grundsätzlich stehen dem Plenum und nicht dem Untersuchungsausschuss die Zwangs158

Seiler, AöR 129 (2004), 378 (407). Anschaulich Masing, Der Staat 27 (1988), 272 (288). 160 Waldhoff, in: ders./Gärditz, PUAG, § 1 Rn. 47, 50. 161 Seiler, AöR 129 (2004), 378 (384 f.). 162 Hierzu Bollmann, Verfassungsrechtliche Grundlagen und allgemeine verfassungsrechtliche Grenzen des Selbstorganisationsrechts des Bundestages, S. 150. 163 Siehe auch Art. 93 Satz 3 Verf. Hessen und Art. 40 Satz 4 Verf. Nordrhein-Westfalen a.F.; vgl. dazu sodann dens., Verfassungsrechtliche Grundlagen und allgemeine verfassungsrechtliche Grenzen des Selbstorganisationsrechts des Bundestages, S. 151. 164 Vgl. Schäfer, Der Bundestag, S. 67. Anschaulich in Bezug auf Abweichungen vom Wortlaut der Verfassung bei Rechtsbetroffenheit Dritter Schulze-Fielitz, in: Görlitz/Burth, Informale Verfassung, S. 35. 165 BVerfGE 77, 1 (41); kritisch vor allem hinsichtlich des Verteidigungsausschusses als Untersuchungsausschuss Meyer, in: Schneider/Zeh, Parlamentsrecht und Parlamentspraxis, § 4 Rn. 89. 159

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mittel gegenüber Dritten zu. Sie werden lediglich hilfsweise vom Untersuchungsausschuss ausgeführt.166 Dieser hat aber ein exklusives Zuständigkeitsmonopol, „Herrin des Untersuchungsverfahrens“ ist nicht das Plenum.167 Das Selbstbefassungsrecht des Verteidigungsausschusses als Untersuchungsausschuss steht ihm qua Verfassung zu, nicht erst gemäß § 62 Abs. 1 Satz 3 GO-BT – Verteidigungsausschuss und Untersuchungsrecht gehen also untrennbar miteinander einher. Dies hat zur Folge, dass einem Hauptausschuss als Verteidigungsausschuss auch die Möglichkeit des selbständigen Untersuchungsrechts obliegt. Ein solches Untersuchungsrecht des Hauptausschusses aber bedürfte aufgrund der Wirkungen auf das Außenverhältnis des Parlaments einer verfassungsrechtlichen Grundlage (die es für den Hauptausschuss nicht gibt). Ungeachtet dessen kann der Plenarbeschluss verfassungskonform ausgelegt werden.168 Verfassungswidrig ist eine Regelung nur dann, wenn sie nicht im Sinne von Wortlaut, Entstehungsgeschichte, Gesamtzusammenhang und Sinn und Zweck verfassungsgemäß ausgelegt werden kann.169 Die verfassungskonforme Auslegung kommt dann zur Anwendung, wenn mehrere Deutungen des Regelungswortlautes möglich sind. Falls eine der Deutungen gegen die Verfassung verstößt, ist die Regelung nach einer verfassungskonformen Auslegung zu deuten. Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ergeben sich die Grenzen einer verfassungsrechtlichen Auslegung aus dem ordnungsgemäßen Gebrauch der anerkannten Auslegungsmethoden.170 Die Möglichkeit einer verfassungskonformen Auslegung ende dort, wo der Wortlaut der Regelung oder der erkennbare Wille des Gesetzgebers entgegenstehen.171 Das Gericht betont dabei explizit die Bedeutung der prinzipiellen Zielsetzung des Gesetzgebers, die in einem wesentlichen Punkt nicht verfehlt bzw. verfälscht werden dürfe.172 Vorliegend lassen die Auslegungsmethoden, auch der Wortlaut des Beschlusses, noch eine verfassungskonforme Deutung zu. Wird die Intention des Plenums in den Blick genommen, ergibt sich folgendes Bild: Befugnisse, die von Verfassungs wegen nicht übertragbar sind, sollten auch nicht durch den Parlamentsbeschluss des Bundestages übertragen werden. Um in Verteidigungssachen eine Untersuchung herbeizuführen, bedarf es der Einsetzung des Verteidigungsausschusses. Dieses Ergebnis wahrt gerade die 166

BVerfGE 77, 1 (41). BVerfGE 90, 286 (385); Berg, in: Waldhoff/Gärditz, PUAG, § 34 Rn. 5; Brocker, in: Epping/Hillgruber, GG, 37. Edition Mai 2018, Art. 45a Rn. 10; Dürig/Klein, in: Maunz/Dürig, GG, 41. EL Oktober 2002, Art. 45a Rn. 35. 168 Das Problem sieht Gerland, in: Morlok/Schliesky/Wiefelspütz, Parlamentsrecht, § 29 Rn. 6, der aber wohl auch das Untersuchungsrecht des Hauptausschusses anerkennt; a.A. Fuchs, DVBl. 2014, 886 (892), der einen Verfassungsverstoß annimmt; vgl. auch Moench, Verfassungsmäßigkeit der Bundestagsausschüsse, S. 259. 169 BVerfGE 88, 145 (166); 119, 247 (274); 138, 64 (94). 170 BVerfGE 119, 247 (274); zuletzt z.B. BVerfGE 138, 64 (93). 171 Vgl. BVerfGE 95, 64 (93); 99, 341 (358); 101, 312 (329); 138, 64 (94). 172 BVerfGE 9, 71 (78 f.); 86, 288 (320); 112, 164 (183); 119, 247 (274); 138, 64 (94). 167

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5. Kap.: Der Hauptausschuss des Deutschen Bundestages

Zielsetzung des Beschlusses, die parlamentarische Handlungsfähigkeit zu erhalten. Nach dem Wortlaut des Parlamentsbeschlusses „ist“ der Hauptausschuss nicht Verteidigungsausschuss, sondern nur Ausschuss „im Sinne“ des Art. 45a GG. Das abgesprochene Recht auf Selbstbefassung gibt einen weiteren Hinweis auf die Intention des Beschlusses, gerade keine selbständigen Prozesse durch den Hauptausschuss zu erlauben. Die Sonderbefugnisse der Pflichtausschüsse spielten auch innerhalb der Plenardebatte im Rahmen der Kritik der politischen Opposition keinerlei Rolle – es ist nicht davon auszugehen, dass die Abgeordneten die verfassungsrechtliche Konfliktlage zwischen Hauptausschuss und Sonderbefugnis des Art. 45a Abs. 2 Satz 1 GG überhaupt im Blick hatten. Der Plenarbeschluss kann im Hinblick auf die Sonderbefugnisse des Verteidigungsausschusses nach Art. 45a Abs. 2 Satz 1 GG verfassungskonform ausgelegt werden, sodass ihm das Untersuchungsrecht tatsächlich nicht zustand. Im Ergebnis bedeutet dieser Befund keineswegs, dass in der Tagungszeit des Hauptausschusses kein Untersuchungsausschuss hinsichtlich verteidigungspolitischer Fragestellungen eingesetzt werden konnte. Dies ist mit dem Grundgesetz nicht vereinbar – Verteidigungsausschuss und Untersuchungsrecht gehören zusammen (Art. 45a Abs. 3 GG) –, vielmehr bräuchte es dafür nur die tatsächliche Einsetzung des Verteidigungsausschusses nach Art. 45a Abs. 2 GG, der sich dann zu einem Untersuchungsausschuss in Verteidigungssachen konstituieren kann. dd) Petitionsausschuss Zuletzt geht es um den Hauptausschuss als Petitionsausschuss. Nach Art. 45c Abs. 1 GG bestellt der Bundestag einen Petitionsausschuss, dem die Behandlung der nach Art. 17 GG an den Bundestag gerichteten Bitten und Beschwerden obliegt.173 Art. 45c GG berührt wie Art. 45a Abs. 2 Satz 1 GG nicht nur Rechte Dritter. Die Vorschrift bezieht sich sogar ausdrücklich auf das Petitionsgrundrecht nach Art. 17 GG, sodass sich eine ähnliche Problematik wie oben aufdrängt. Das Grundrecht regt als vielzitiertes „soziales Frühwarnsystem“174 Regierungskontrolle durch den Petitionsausschuss an und hat eine Integrationsfunktion.175 Jedermann hat das Recht, Petitionen einzureichen und ferner einen Anspruch auf Entgegennahme, sachliche Prüfung und zumindest Bescheidung der Petition.176 Zwar wird vertreten, dass der Petent aufgrund der Rückwirkungen auf Art. 17 GG ein einklagbares Leistungsrecht auf einen rechtsfehlerfreien Bescheid hat, sofern seine Petition nur in 173 Siehe § 125 GO-BT, Petitionen unterliegen nicht der Diskontinuität – im Gegensatz zum Petitionsausschuss. 174 BT-Drs. 7/5924, S. 64. 175 Vgl. Brocker, in: Epping/Hillgruber, GG, 37. Edition Mai 2018, Art. 17 Rn. 13.1; Klein, in: Maunz/Dürig, GG, 63. EL Oktober 2011, Art. 17 Rn. 142. 176 Vgl. Gnatzy, in: Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/Henneke, GG, Art. 17 Rn. 2; zur umstrittenen Begründungspflicht nur beispielhaft Krüper, in: Morlok/Schliesky/Wiefelspütz, Parlamentsrecht, § 37 Rn. 20 m.w.N.

C. Verfassungsmäßigkeit des Hauptausschusses der 18. Wahlperiode

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einem Fachausschuss behandelt wird.177 Dies ist jedoch abzulehnen. Ein Grundrecht auf eine Behandlung der Petition im Petitionsausschuss besteht gerade nicht,178 es handelt sich bei Art. 45c GG um eine staatsorganisatorische Norm, die keine Anspruchsbegründung Privater bezweckt.179 Ungeachtet dessen nahm kein anderer Fachausschuss die Rechte des Petitionsausschusses wahr, sondern nur für kurze Zeit ein Hauptausschuss i.S.d. Art. 45c GG. Er hindert die Petenten nicht an der Wahrnehmung ihres Grundrechts.180 Der Hauptausschuss der 18. Wahlperiode bearbeitete in seinen Sitzungen entgegen erster Ankündigungen keine Petitionen. Dies liegt jedoch nicht in Zweifeln an der Verfassungsmäßigkeit eines solchen Vorgehens begründet.181 Vielmehr hielten die Verantwortlichen das Abarbeiten von Petitionen im Hauptausschuss der 18. Wahlperiode aus einem anderen Grund für problematisch: Von den 26 Mitgliedern des Petitionsausschusses der 17. Wahlperiode waren zwölf Mitglieder nicht mehr im 18. Deutschen Bundestag vertreten. Nur jeweils ein Ausschussmitglied der Linksfraktion und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN wurden überhaupt wieder in das Parlament gewählt. Ein einziges ordentliches Mitglied des ehemaligen Petitionsausschusses, Obmann Günter Baumann (CDU) war wiederum ordentliches Mitglied des Hauptausschusses. Für die in der 17. Wahlperiode behandelten Petitionen sollte im Hauptausschuss nun eine Beschlussempfehlung für das Plenum ergehen. Ein Plenarbeschluss bedarf jedoch der Willensbildung in Ausschüssen und Fraktionen. Eine Bescheidung von Petitionen, welche von der Mehrheit der Abgeordneten gar nicht nachvollzogen werden kann, ist zumindest rechtspolitisch fragwürdig. Dieser Widerspruch zwischen parlamentarischer Willensbildung und dem Respekt vor dem Petitionsrecht war Ursache für die Entscheidung gegen die Petitionsbehandlung im Hauptausschuss der 18. Wahlperiode.

177 Hernekamp, in: v. Münch/Kunig, GG, Bd. 1, Art. 45c Rn. 4; Würtenberger, in: BK, GG, 74. EL November 1995, Art. 45c Rn. 44; wohl auch Bauer, in: Dreier, GG, Bd. 2, Art. 45c Rn. 14; darin auch übereinstimmend Klein, in: Maunz/Dürig, GG, 63. EL Oktober 2011, Art. 45c Rn. 20. 178 Zum Umfang von Art. 17 GG auch BVerfGE 2, 225 (229 ff.); weitergehend dagegen Hernekamp, in: v. Münch/Kunig, GG, Bd. 1, Art. 45c Rn. 4; Würtenberger, in: BK, GG, 74. EL November 1995, Art. 45c Rn. 44. 179 Krings, in: BerlK, GG, 10. EL September 2004, Art. 45c Rn. 11. 180 Daher alles in allem überzeugend ders., in: BerlK, GG, 10. EL September 2004, Art. 45c Rn. 11. Vgl. ähnlich Kluth, in: Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/Henneke, GG, Art. 45c Rn. 1, der von einer „Organisationsvorschrift“ spricht. 181 Auf Anfrage ließ der Bundestagspräsident mitteilen, dass die in der ersten Sitzung des Hauptausschusses kontrovers diskutierte Beratung von noch nicht abschließend behandelten Petitionen aus der 17. Wahlperiode letztlich nicht auf die Tagesordnung genommen worden sei, da hierüber kein Einvernehmen zwischen den Fraktionen habe hergestellt werden können. Entsprechend seiner Ankündigung habe der Bundestagspräsident von der Parlamentsverwaltung prüfen lassen, ob gegen die Beratung der Petitionen im Hauptausschuss rechtliche Bedenken bestünden. Dies sei nach deren Ergebnis nicht der Fall.

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5. Kap.: Der Hauptausschuss des Deutschen Bundestages

Der Petitionsausschuss hat zwar – wie auch der Untersuchungsausschuss – Sonderbefugnisse (wie z.B. Anhörungsrechte nach § 4 PetitionsAG), kann diese aber nicht zwangsweise durchsetzen.182 Zu beachten ist jedoch, dass der Petitionsausschuss besondere Informations- und Kontrollrechte (Aktenvorlage, Auskunftserteilung, Zutritt, Amtshilfe) gegenüber der Bundesregierung, den Bundesbehörden und auch gegenüber Gerichten hat (§ 7 PetitionsAG).183 Dennoch ist die Rechtsbetroffenheit Dritter hier minimal, sowohl für Petenten als auch für Bundesregierung, Bundesbehörden und Gerichte. Es stehen keine besonderen Rechtsbeeinträchtigungen im Raum, wenn statt des Petitionsausschusses für eine Übergangszeit der Hauptausschuss seine Befugnisse wahrnimmt.184 Vielmehr ersetzte der Hauptausschuss zeitweise die grundrechtseffektuierende Funktion185 des Petitionsausschusses. Schon der „alte“ Bundestag der 17. Legislaturperiode hatte nicht alle Petitionen abgearbeitet, ein Hauptausschuss führte insofern nicht zu einer Verschlechterung der Lage, wenngleich überhaupt keine Petitionsbehandlungen auf der Tagesordnung des Ausschusses standen. Die Betroffenheit von Rechten Dritter im Rahmen des Art. 45c GG steht einem übergangsweise tagenden Hauptausschuss nicht im Wege. 3. Marginalisierung der parlamentarischen Opposition im Hauptausschuss der qualifizierten Großen Koalition Das Demokratieprinzip verlangt den Schutz von parlamentarischen Minderheiten und das Recht auf Bildung und Ausübung einer parlamentarischen Opposition.186 Die Einsetzung eines Hauptausschusses in einem Parlament der qualifizierten Großen Koalition wie der 18. Wahlperiode führt in zweifacher Hinsicht zu einer Problemlage. Zum einen ist es für parlamentarische Minderheiten generell, insbesondere mandatsschwächere Fraktionen, nicht möglich, Fachleute für alle Ressorts in den Hauptausschuss zu schicken. Zum anderen reduzierte der Hauptausschuss der 18. Wahlpe182 Brocker, in: Epping/Hillgruber, GG, 37. Edition Mai 2018, Art. 45c Rn. 11; Stein, in: AK, GG, Erstbearbeitung 2001, Art. 45c Rn. 13; Kluth, in: Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/ Henneke, GG, Art. 45c Rn. 20. Zu Rechten Dritter Bauer, in: Dreier, GG, Bd. 2, Art. 45c Rn. 40; Klein, in: Maunz/Dürig, GG, 63. EL Oktober 2011, Art. 45c Rn. 63. 183 Vgl. anschaulich Klein, in: Maunz/Dürig, GG, 63. EL Oktober 2011, Art. 17 Rn. 110. 184 Vgl. auch Pau im Interview bei Meurer, Hauptausschuss – „Wir haben keine Notlage in Deutschland“, 29. 11. 2013, http://www.deutschlandfunk.de/hauptausschuss-wir-haben-keinenotlage-in-deutschland.694.de.html?dram:article_id=270503, zuletzt geprüft am 26. 4. 2018: „Ich bin wirklich gespannt, ob nächste Woche Mittwoch dieser Hauptausschuss, der da gestern gebildet wurde, sich diese 7000 Petitionen vornimmt, entsprechende Stellungnahmen der eingefrorenen Ministerien anfordert, weil eine Regierung haben wir ja zurzeit auch nicht, und wie hinterher damit umgegangen wird. Und vor allen Dingen bin ich gespannt, ob sich das die Bürgerinnen und Bürger oder im Amtsdeutsch Petenten genannten Menschen gefallen lassen, oder ihr verfassungsmäßig verbürgtes Recht irgendwo gerichtlich einklagen.“ 185 Würtenberger, in: BK, GG, 74. EL November 1995, Art. 45c Rn. 16. 186 BVerfGE 2, 1 (13); 44, 308 (319 ff.); 70, 324 (363); 130, 318 (352 f.); 131, 230 (235); 140, 115 (153). Ausführlicher zum parlamentarischen Minderheitenschutz 2. Kapitel B. II., zum Grundsatz effektiver Opposition 2. Kapitel C. I.

C. Verfassungsmäßigkeit des Hauptausschusses der 18. Wahlperiode

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riode die spätere parlamentarische Opposition auf insgesamt zehn von 45 Sitzen. Die daraus resultierenden Schwierigkeiten liegen auf der Hand: Für eine kleine Anzahl von Abgeordneten ist es schwerer, oppositionelle Gegenmeinungen zu bilden und zu äußern. Wenig Opposition wird weniger wahrgenommen. Dies ist im Hinblick auf die ohnehin geringeren personellen Ressourcen der Oppositionsfraktionen im Parlament einer qualifizierten Großen Koalition insgesamt problematisch.187 a) Grundsatz der Spiegelbildlichkeit von Plenum und Ausschüssen als Ausdruck parlamentarischen Minderheitenschutzes Der Grundsatz der Spiegelbildlichkeit von Plenum und Ausschüssen188 folgt aus dem Demokratieprinzip, der Freiheit und Gleichheit des Mandats und aus der Repräsentationsfunktion des Bundestages.189 Er verlangt eine vorverlagerte Repräsentation in die Ausschüsse, wenn dort in der Sache die Entscheidungen fallen.190 Jeder Ausschuss muss ein verkleinertes Abbild des Plenums sein.191 Nicht zuletzt ist der Spiegelbildlichkeitsgrundsatz damit auch Ausprägung des Minderheitenschutzes. In formaler Hinsicht wahrt der Hauptausschuss den Grundsatz der Spiegelbildlichkeit: Die beiden Fraktionen von DIE LINKE und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN erhielten nach der Bundestagswahl 20,1 % der Parlamentssitze zugewiesen. Im Hauptausschuss waren diese Fraktionen mit insgesamt 21,3 % der Abgeordneten vertreten. Die Mehrheitsverhältnisse wurden auf den Hauptausschuss nach SainteLaguë/Schepers projiziert (§ 12 GO-BT), die beiden Fraktionen waren mit zehn Sitzen im Hauptausschuss daher sogar leicht überrepräsentiert.192

187

Thielbörger/Ackermann, ZJS 2014, 497 (503); Sophie Schönberger verurteilt den beschrittenen Weg des Parlaments, in den noch nicht existenten Hauptausschuss zu verweisen als einen solchen, „der an den demokratischen Grundsätzen des Minderheitenschutzes im Parlament rüttelt“, Schönberger, L’isola che non c’è – ein Vorgeschmack auf Opposition in Zeiten der Großen Koalition, 19. 11. 2013, http://verfassungsblog.de/lisola-che-non-ce-vorgeschmackauf-opposition-in-zeiten-grossen-koalition/, zuletzt geprüft am 26. 4. 2018. 188 Mit historischer Untersuchung Edinger, Wahl und Besetzung parlamentarischer Gremien, S. 134: „Die Gremienbesetzung hatte von Anfang an auch den Zweck, dem Minderheitenschutz gerecht zu werden.“ 189 BVerfGE 112, 118 (133); 130, 318 (353). Siehe dazu schon 2. Kapitel B. II. 6. b) cc). 190 BVerfGE 140, 115 (153). 191 BVerfGE 80, 188 (222); 84, 304 (323). 192 Medienberichten zufolge war ein Ausschuss mit 40 bis 42 Abgeordneten im Gespräch, vgl. Meisner, Bundestag wird zum Provisorium, 20. 11. 2013, http://www.tagesspiegel.de/poli tik/geplanter-hauptausschuss-bundestag-wird-zum-provisorium/9104100.html, zuletzt geprüft am 26. 4. 2018. Die Berechnungsverfahren für die Sitzverteilung der Ausschüsse gelangen mehrheitlich bei 47 Sitzen erstmals auf einen Sitzanteil von über 20 % (jeweils fünf) für die späteren Oppositionsfraktionen, bei 40 Sitzen erhielten die Fraktionen von DIE LINKE und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 20 % der Sitze (jeweils vier), bei 42 Sitzen 19 % der Sitze (jeweils vier), bei 47 Sitzen errechnet nur d’Hondt noch je vier Sitze für die beiden Fraktionen, nach Sainte-Laguë/Schepers und Hare/Niemeyer sind es fünf Sitze.

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5. Kap.: Der Hauptausschuss des Deutschen Bundestages

Fraglich ist aber, ob der Hauptausschuss dem Grundsatz der Spiegelbildlichkeit auch in materieller Hinsicht gerecht wird. Trotz Wahrung der formalen Spiegelbildlichkeit kann in Ausnahmefällen die materielle Spiegelbildlichkeit problematisch sein. Voraussetzung ist, dass ein Untergremium des Bundestages für sich genommen und ohne Rechtfertigung zu klein ist.193 Dies ist mit Blick auf die Repräsentationsfunktion des Bundestages194 und die Gleichheit des Mandats erwägenswert. Die festgelegte Ausschussgröße kann im Falle des Hauptausschusses aber auch eine zusätzliche Schwächung der parlamentarischen Minderheiten im Parlament der qualifizierten Großen Koalition bedeuten. Der Spiegelbildlichkeitsgrundsatz enthält keine Aussage über eine Regelgröße von Hilfsorganen des Parlaments.195 Die Fachausschüsse des Bundestages werden in der Regel mit Abgeordneten der einzelnen Fraktionen besetzt, die sich im jeweiligen Themenbereich auskennen: Spezialisierung durch Arbeitsteilung. Damit wird der zunehmenden Kompliziertheit der Lebensverhältnisse und der Schwerfälligkeit des Plenums in Detailfragen Rechnung getragen.196 Im Hauptausschuss findet jedoch eine Überlappung von Themen verschiedener Fachausschüsse statt.197 Der Regelfall, die sachliche und personelle Arbeitsaufteilung durch Ausschuss- und Fraktionswesen,198 wird bei der Einsetzung eines Hauptausschusses für die mandatsschwächeren Fraktionen erschwert. Sie können nämlich aufgrund der geringen Sitzanzahl im Ausschuss nur wenige Spezialisten in den Hauptausschuss senden, der theoretisch Themen aller Ressorts behandeln kann. Gysi betont in diesem Zusammenhang, dass auch Generalisten an Grenzen stießen.199 Für die beiden mandatsstarken Fraktionen von CDU/CSU und SPD war eine Entsendung von Experten zu den verschiedenen Spezialgebieten der Pflichtausschüsse durch die höhere Sitzanzahl in der 18. Wahlperiode einfacher möglich als für die beiden mandatsschwächeren Fraktionen. Dies führt im Ergebnis jedoch nicht zu einem Verfassungsverstoß gegen den in Art. 20 Abs. 1 und 2 GG verankerten Minderheitenschutz: Der Hauptausschuss beteiligte alle Fraktionen anteilig an seiner Arbeit.200 Er war ein vergleichsweise großer Ausschuss und 193

BVerfGE 130, 318 (354). BVerfGE 112, 118 (133); 130, 318 (353). 195 BVerfGE 70, 324 (363 f.); 130, 318 (354); 140, 115 (153). 196 BVerfGE 44, 308 (317). 197 Vgl. Morlok bei Engels, Bundestags-Hauptausschuss ist „eine Art Politbüro“, 28. 11. 2013, http://www.deutschlandfunk.de/rechtswissenschaftler-bundestags-hauptausschuss-isteine.694.de.html?dram:article_id=270403,141., zuletzt geprüft am 26. 4. 2018. 198 Vgl. Hauenschild, Wesen und Rechtsnatur der parlamentarischen Fraktionen, S. 84 f. 199 Gysi bei Müller, Koalitionsverhandlungen – Gysi kritisiert geplanten Hauptausschuss als „Grundgesetzverletzung“, 22. 11. 2013, http://www.deutschlandfunk.de/koalitionsverhand lungen-gysi-kritisiert-geplanten.694.de.html?dram:article_id=269799, zuletzt geprüft am 26. 4. 2018; auch dazu Caspari, Das amputierte Parlament, 28. 11. 2013, http://www.zeit.de/politik/ deutschland/2013-11/bundestag-opposition-rechte-beteiligung-hauptausschuss, zuletzt geprüft am 26. 4. 2018. 200 Das Bundesverfassungsgericht wies mehrfach darauf hin, dass eine Beteiligung aller Fraktionen an der Ausschussarbeit nicht zwingend ist. Vielmehr kann eine Nicht-Beteiligung 194

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trotzdem kein Plenumsersatz. Die geringen Stimmanteile der Fraktionen DIE LINKE und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN im Parlament verlangten einen großen Ausschuss, die mit zunehmender Größe abnehmende Debattenqualität im Plenum einen kleinen Ausschuss. Die im Hinblick auf die Größe des Hauptausschusses gefundene Lösung erweist sich als angemessen, da sie in der Lage ist, beide Gesichtspunkte in Ausgleich zu bringen. Im Übrigen musste die Benennung der Mitglieder des Hauptausschusses nicht willkürlich geschehen, da schon vor Tagung des Ausschusses die meisten Tagesordnungspunkte bekannt waren. Die Anwesenheit von „Nicht-Experten“ in einem Ausschuss kann außerdem durchaus positiv wirken. Abgeordnete mit „Tunnelblick“, die lediglich über Fachwissen verfügen, sind in einem Hauptausschuss fehl am Platz. Schließlich stand den Fraktionen im Hauptausschuss zusätzliche Expertise in Form von Stellvertretern und persönlichen Mitarbeitern zur Verfügung. Zwar waren nicht alle Fraktionsmitglieder Mitglied im Hauptausschuss, die innerfraktionelle Expertise allerdings entfiel durch den Hauptausschuss nicht: Sie kann im Gegenteil den Verlust von Fachkompetenz im Ausschuss abfedern.201 Ein Hauptausschuss beeinträchtigt letztlich die Organisationsstruktur des Ausschusswesens. Die Fraktionen als politische „Vehikel kooperativer Aufgabenerfüllung“202 werden nicht beeinträchtigt.203 Expertise war, wenn auch für kurze Zeit eingeschränkt, vorhanden. Der Grundsatz der Spiegelbildlichkeit bleibt auch in materieller Hinsicht gewahrt. Letztlich kann der Vorwurf der Verletzung des Minderheitenschutzes durch den Hauptausschuss des Bundestages nicht überzeugen. b) Anforderungen des Grundsatzes effektiver Opposition an einen Hauptausschuss Die Regierungsbildung war zum Zeitpunkt der Einsetzung des Hauptausschusses noch nicht abgeschlossen, der Koalitionsvertrag aber schon ausgehandelt. Die zukünftige Rollenverteilung im Parlament stand bereits faktisch fest, wenn auch nur unter Vorbehalt des SPD-Mitgliedervotums. Die designierte Opposition wurde im Hauptausschuss auf insgesamt zehn Sitze marginalisiert. Gleichwohl die Opposition im Hauptausschuss der qualifizierten Großen Koalition an Wirkungschancen eingerechtfertigt sein aufgrund z.B. des Mehrheitsbedürfnisses, vgl. dazu BVerfGE 130, 318 (355); 140, 115 (153 f.); die Nicht-Beteiligung von Fraktionen am Hauptausschuss, der in der 18. Wahlperiode alle Fachausschüsse ersetzte, wäre dagegen nicht rechtfertigungsfähig. 201 Problematischer – wenn auch nicht verfassungswidrig – ist die Einsetzung eines Hauptausschusses aber demzufolge für fraktionslose Abgeordnete, angedeutet für die 19. Wahlperiode schon in Gelze, Das Arbeitsparlament im Wartemodus – ein Hauptausschuss für den 19. Deutschen Bundestag?, 23. 10. 2017, http://verfassungsblog.de/das-arbeitsparla ment-im-wartemodus-ein-hauptausschuss-fuer-den-19-deutschen-bundestag/, zuletzt geprüft am 26. 4. 2018. 202 VfG Brandenburg, Urteil vom 22. Juli 2016 – 70/15 –, juris Rn. 157. 203 Vgl. zu Funktions- und Politikprinzip Steiger, in: Schneider/Zeh, Parlamentsrecht und Parlamentspraxis, § 25 Rn. 6.

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5. Kap.: Der Hauptausschuss des Deutschen Bundestages

büßt, verbietet der Grundsatz effektiver Opposition die Einsetzung eines Hauptausschusses in der 18. Wahlperiode nicht. Ihr ist es weiterhin möglich, Kontroll-, Kritik- und Alternativfunktion im Hauptausschuss und im Plenum wahrzunehmen. An dieser Stelle soll dennoch erwähnt sein, dass ein Hauptausschuss besonders in Zeiten einer großen Regierungsmehrheit mit dem Einwand politischen Taktierens konfrontiert ist: Die Mehrheitsfraktionen dürfen einen Hauptausschuss nicht dazu nutzen, unliebsame Vorlagen aus dem öffentlichen Plenum durch Überweisungen in dem nichtöffentlich tagenden Hauptausschuss zu „versenken“204. Ein Hauptausschuss ersetzt das Plenum nicht. Im Rahmen einer Aussprache zu den Abhöraktivitäten der NSA in der zweiten Plenarsitzung des Deutschen Bundestages am 18. November 2013 stießen zwei Mehrheitsentscheidungen der späteren Großen Koalition auf Kritik. Zum einen wurde nicht über zwei Entschließungsanträge der Fraktionen DIE LINKE205 und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN206 abgestimmt, obwohl die Fraktionen dies gemäß § 88 Abs. 1 Satz 1 GO-BT verlangten.207 Zum Zweiten wurde stattdessen eine Überweisung der Entschließungsanträge in den noch nicht existenten Hauptausschuss beschlossen, obwohl die Fraktionen von DIE LINKE und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN dem i.S.v. § 88 Abs. 2 Satz 1 GO-BT widersprachen. Entschließungsanträge sind geregelt in § 75 Abs. 2 lit. c GO-BT, es handelt sich um unselbständige Vorlagen, die nicht isoliert auf die Tagesordnung gesetzt werden. Sie sind akzessorisch.208 Bei der Überweisung von Entschließungsanträgen in einen Hauptausschuss handelt es sich jedoch nicht um einen Verstoß gegen die Regelungen in § 88 Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 Satz 1 GO-BT, erst recht nicht um einen Verfassungsverstoß. Es gibt zur Möglichkeit einer Überweisung von Entschließungsanträgen eine Auslegungsentscheidung.209 Darin ist geregelt, dass grundsätzlich auch Entschließungsanträge zu Verhandlungsgegenständen ohne Vorlage i.S.d. § 75 Abs. 1 GO-BT zulässig sind. In solchen Fällen aber, z.B. bei vereinbarten Debatten ohne Vorlage wie bei der Debatte am 18. November 2013, sind Überweisungen von betreffenden Entschließungsanträgen in Ausschüsse möglich. Diese Auslegungsentscheidung beschloss das Plenum bereits am 14. März 1985 auf Vorschlag des Geschäftsordnungsausschusses.210 Zur Überweisung der Entschließungsanträge 204 Siehe Haßelmann, in: BT-Plenarprotokoll 18/2 vom 18. November 2013, S. 66. Kritisch auch Schönberger, L’isola che non c’è – ein Vorgeschmack auf Opposition in Zeiten der Großen Koalition, 19. 11. 2013, http://verfassungsblog.de/lisola-che-non-ce-vorgeschmack-auf-oppositi on-in-zeiten-grossen-koalition/, zuletzt geprüft am 26. 4. 2018. 205 BT-Drs. 18/56. 206 BT-Drs. 18/65. 207 Dazu BT-Plenarprotokoll 18/2 vom 18. November 2013, S. 66 (B). 208 Ritzel/Bücker/Schreiner/Winkelmann, HdbPP, 16. EL November 2002, Erl. I. 1. a) zu § 88, S. 1. 209 Siehe BT-Drs. 10/2845, dies., HdbPP, 16. EL November 2002, Erl. I. 1. b) aa) zu § 88, S. 2. 210 BT-Plenarprotokolle 10/126 vom 14. März 1985, S. 9355 (B); 11/221 vom 23. August 1990, S. 17462 (D) ff.

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bleibt im Übrigen zu sagen, dass Vorlagen bereits in der Vergangenheit in noch zu bildende Ausschüsse überwiesen wurden. Ein solches Vorgehen erweist sich gerade im Hinblick auf die weite Organisations- und Verfahrensfreiheit des Parlaments als unproblematisch. Folglich beruhen beide Vorgänge, die Mehrheitsentscheidung gegen eine Abstimmung der beiden Entschließungsanträge und für die Überweisung der Entschließungsanträge in einen noch nicht existenten Ausschuss auf geltendem Geschäftsordnungsrecht. „Ein Stück aus dem Tollhaus“211 – so wurde der Hauptausschuss bezeichnet – sieht anders aus. Die politische Brisanz einer Geschäftsordnungsauslegung in Zeiten einer Großen Koalition tritt hier jedoch erkennbar zum Vorschein. Auch eine Übergangslösung wie der Hauptausschuss muss in einem Parlament der qualifizierten Großen Koalition Feinfühligkeit für einen fairen Umgang mit dem politischen Gegner – der parlamentarischen Opposition – beweisen. Es lassen sich keine Rückschlüsse von der großen Stimmenmehrheit einer qualifizierten Großen Koalition bei der Einsetzung eines Hautpausschusses auf dessen Rechtmäßigkeit ziehen. Darüber hinaus stellt sich bei einem Hauptausschuss – wenngleich er am Rande auch Auswirkungen auf die Wirkungsmöglichkeiten der parlamentarischen Minderheiten und Opposition hat212 – vor allem die Frage nach der Gleichheit der Abgeordneten insgesamt.213 4. Mitglieder eines Hauptausschusses „gleicher unter Gleichen“? Heinhard Steiger bemerkt, dass das „zentrale Problem“214 der Selbstorganisation des Bundestages das Erfordernis der parlamentarischen Handlungsfähigkeit und die gleichzeitige Beteiligung aller Abgeordneter an der Parlamentsarbeit sei. Im Falle des Hauptausschusses der 18. Wahlperiode ist dies jedenfalls zutreffend. a) Ungleichbehandlung von Abgeordneten durch die Einsetzung eines Hauptausschusses 54 Abgeordnete waren direkt an der Arbeit im Hauptausschuss beteiligt, darunter die 47 ordentlichen Mitglieder und das siebenköpfige Bundestagspräsidium, das den Vorsitz ohne Stimmrecht übernahm. Die anderen 577 Abgeordnete besaßen nicht die Möglichkeit, (mit Stimmrecht) an den Sitzungen des Hauptausschusses teilzunehmen. Diese 91,4 % der Mandatsträger konnten zumindest nicht direkt am Ent-

211

Haßelmann, in: v. Stosch, „Ein Stück aus dem Tollhaus“, 25. 11. 2013, https://www.tages schau.de/inland/hauptausschuss102.html, zuletzt geprüft am 26. 4. 2018. 212 Dagegen Fuchs, DVBl. 2014, 886 (887), mit Verweis auf BVerfGE 80, 188 (220). 213 BVerfGE 80, 188 (219); 84, 304 (321); 96, 264 (278); 112, 118 (133); 130, 318 (348). 214 Steiger, in: Schneider/Zeh, Parlamentsrecht und Parlamentspraxis, § 25 Rn. 4. Zur Mandatsgleichheit 2. Kapitel B. II. 6. b).

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scheidungsfindungsprozess teilnehmen.215 Die Abgeordneten des Deutschen Bundestages wurden dementsprechend ungleich behandelt. b) Rechtfertigung der Ungleichbehandlung: Handlungsfähigkeit des „Arbeitsparlaments Bundestag“ Die Gleichheit der Abgeordneten verlangt, dass ein Abgeordneter „nicht ohne gewichtige, an der Funktionstüchtigkeit des Parlaments orientierte Gründe von jeder Mitarbeit in den Ausschüssen ausgeschlossen werden“216 darf. Die Einsetzung eines Hauptausschusses und die daraus resultierende Ungleichbehandlung von Mandatsträgern sind nur dann nicht zu beanstanden, wenn sie eine Rechtfertigung finden, also ein besonders sachgerechter Grund vorliegt. Eine konkrete Rechtsgrundlage für den Hauptausschuss existiert nicht; insbesondere Art. 53a GG kommt als Anknüpfungspunkt eines Hauptausschusses nicht in Frage. Die Bestimmung widerspricht einem Hauptausschuss aber auch nicht.217 Der Gemeinsame Ausschuss ist ein aus Mitgliedern von Bundestag und Bundesrat zusammengesetztes oberstes Verfassungsorgan, das im Verteidigungsfall (Art. 115a Abs. 1 GG) als Notparlament tätig wird. Es handelt sich um einen Ausschuss, der bei Funktionsunfähigkeit des Bundestages mit Mehrheitsbeschluss die gesamte Legislative ersetzt. Ein Hauptausschuss ersetzt Bundestag und Bundesrat nicht. Vielmehr handelt er als vorbereitendes Hilfsorgan des Bundestages. Der Gemeinsame Ausschuss ist in Aufgaben, Funktion und Zusammensetzung nicht vergleichbar mit einem Hauptausschuss. Darüber hinaus ist der Hauptausschuss auch an keiner anderen Stelle geregelt. Der Fundus von Bestimmungen zu Ausschüssen in der Geschäftsordnung des Bundestages kennt ebenfalls keinen Hauptausschuss – dies ist aber unproblematisch. Der verfassungsrechtlich verbürgten Mandatsgleichheit könnte eine solche Bestimmung in der Geschäftsordnung ohnehin nicht die Waage halten. Außerdem ist eine Geschäftsordnung „als abgeschlossenes Gesetzeswerk […] ein Widerspruch in sich“218, sie dient gerade dem parlamentarischen Bedürfnis nach Praktikabilität und Flexibilität. Mit dem Hauptausschuss passt der Bundestag sich einer besonderen politischen Lage an. Fragen der Arbeitsweise in Fraktionen und Ausschüssen überlässt das Grundgesetz überwiegend der parlamentarischen

215

Diesem Argument gegen den Hauptausschuss räumt Fuchs, DVBl. 2014, 886 (890), vergleichsweise wenig Platz ein. 216 BVerfGE 80, 188 (222). 217 So aber Koschmieder, NVwZ 2014, 852 (854); Kämmerer, NVwZ 2014, 29 (31); Thielbörger/Ackermann, ZJS 2014, 497 (500); auch Pau bei Meurer, Hauptausschuss – „Wir haben keine Notlage in Deutschland“, 29. 11. 2013, http://www.deutschlandfunk.de/hauptaus schuss-wir-haben-keine-notlage-in-deutschland.694.de.html?dram:article_id=270503, zuletzt geprüft am 26. 4. 2018. 218 Schäfer, Der Bundestag, S. 66.

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Selbstorganisation. Die Rechtsgrundlage findet sich in Art. 40 Abs. 1 Satz 2 GG.219 Gysi stellt hinsichtlich einer fehlenden ausdrücklichen Rechtsgrundlage des Hauptausschusses daher prägnant fest: „Den [Hauptausschuss] gibt es gar nicht in der Geschäftsordnung. Den gibt es auch nicht im Grundgesetz. Aber weil es das nicht gibt, ist es natürlich auch nicht verboten.“220

Obwohl das Grundgesetz einen Hauptausschuss nicht vorsieht, kann die Ungleichbehandlung der Abgeordneten durch die Einsetzung eines Hauptausschusses vorliegend mit einem besonderen Grund gerechtfertigt werden: der Handlungsfähigkeit des Parlaments.221 Wie bereits erwähnt, gehören Gesetzgebung und Regierungskontrolle zu den elementaren Aufgaben des Deutschen Bundestages. Die Bewältigung dieser Aufgaben gelingt zuvörderst durch Arbeitsteilung in Ausschüssen. Sie sind zwar grundsätzlich darauf beschränkt, Plenarbeschlüsse vorzubereiten (§ 54 Abs. 1 Satz 1 GO-BT). Innerhalb der Ausschüsse finden aber die entscheidenden Teile der Gesetzgebungs- sowie der Informations-, Kontroll- und Untersuchungsarbeiten statt.222 Ohne die „Arbeitszimmer des Parlaments“ ist der Bundestag nicht rechtlich, aber tatsächlich arbeitsunfähig.223 Zur Bedeutung des Ausschusswesens stellt das Bundesverfassungsgericht fest: „Wie es parlamentarischer Tradition in Deutschland entspricht, wird im Bundestag ein wesentlicher Teil der anfallenden Arbeit außerhalb des Plenums, vor allem in den Ausschüssen, geleistet. […] Die prinzipielle Möglichkeit, in einem Ausschuß mitzuwirken, hat allerdings für den einzelnen Abgeordneten angesichts des Umstandes, daß ein Großteil der eigentlichen Sacharbeit des Bundestages von den Ausschüssen bewältigt wird, eine der Mitwirkung im Plenum vergleichbare Bedeutung; vor allem in den Ausschüssen eröffnet sich den Abgeordneten die Chance, ihre eigenen politischen Vorstellungen in die parlamentarische Willensbildung einzubringen.“224

Nach der Überweisung an den Ausschuss gemäß § 80 GO-BT wird dort die eigentliche Gesetzgebungsarbeit getan. Die federführenden und mitberatenden Ausschüsse als „vorbereitende Beschlußorgane“ (§ 62 Abs. 1 Satz 2 GO-BT) sollen das Plenum entlasten, indem sie die Sach- und Detailfragen klären. In grundsätzlich 219 Der Hauptausschuss wird dagegen von Max-Emanuel Geis als Gremium praeter constitutionem bezeichnet, bei Prantl, Pläne von SPD und Union – Unbehagen am SuperAusschuss, 21. 11. 2013, http://www.sueddeutsche.de/politik/plaene-von-spd-und-union-unbeha gen-am-super-ausschuss-1.1823772, zuletzt geprüft am 26. 4. 2018. 220 Gysi bei Müller, Koalitionsverhandlungen – Gysi kritisiert geplanten Hauptausschuss als „Grundgesetzverletzung“, 22. 11. 2013, http://www.deutschlandfunk.de/koalitionsverhand lungen-gysi-kritisiert-geplanten.694.de.html?dram:article_id=269799, zuletzt geprüft am 26. 4. 2018. 221 Hierzu beispielhaft BVerfGE 80, 188 (222); als Rechtfertigung für die Fünf-ProzentSperrklausel vgl. ferner auch BVerfGE 82, 322 (338). 222 Friesenhahn, VVDStRL 16 (1958), 9 (32). 223 Steiger, Organisatorische Grundlagen des parlamentarischen Regierungssystems, S. 122 f. 224 BVerfGE 80, 188 (221 f.).

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5. Kap.: Der Hauptausschuss des Deutschen Bundestages

nichtöffentlicher Sitzung wird in spiegelbildlicher Sitzverteilung zum Plenum getagt. Der federführende Ausschuss ist für die Prüfung von Gesetzentwürfen hauptverantwortlich, die mitberatenden Ausschüsse kooperieren. Die Ausschüsse können Informationen sowohl bei Experten, Verbänden und Betroffenen als auch bei den Wissenschaftlichen Diensten des Deutschen Bundestages einholen. Sie können die Erstellung von Gutachten in Auftrag geben oder nichtöffentliche wie öffentliche Anhörungen225 durchführen. Während der Einzelberatungen im Ausschuss werden z.B. die Notwendigkeit von Gesetzesvorhaben, Kosten-Nutzen-Analysen oder prospektive Gesetzes- und Technikfolgenabschätzungen erörtert. Die Kooperation von Vertretern der gesetzesausführenden Länder (Art. 43 Abs. 2 Alt. 1 GG) und von Mitgliedern der Bundesregierung (Art. 43 Abs. 2 Alt. 2 GG) kann die Durchsetzbarkeit von Gesetzgebungsvorhaben voranbringen. Im Ausschuss werden Gesetzesvorlagen regelmäßig weiterentwickelt, ein Gesetz verlässt den Bundestag nur selten so wie es hineinkommt („Strucksches Gesetz“). Die Beschlussempfehlung des Ausschusses wird aufgrund der entsprechenden Mehrheitsverhältnisse im Plenum in aller Regel angenommen. Darüber hinaus sind die Ausschüsse wesentlich in die Aufgabe der Legislative, die Exekutive zu kontrollieren, eingebunden. Dies verdeutlicht bereits der Wortlaut des Art. 43 Abs. 1 GG, das Zitierrecht gilt ausdrücklich auch für Ausschüsse. Die beschriebene Arbeitsweise des Deutschen Bundestages und die herausragende Rolle der Ausschussarbeit im parlamentarischen Willensbildungsprozess sind kennzeichnend für den deutschen Parlamentarismus. Zwar stellt der Hauptausschuss ein minus zur Einsetzung aller ständigen Ausschüsse dar. Gleichzeitig handelt es sich bei dem Hauptausschuss um einen maius im Vergleich zur vorherigen Situation ohne Fachausschuss.226 Nur den Mitgliedern des Hauptausschusses stand das Rede- und Stimmrecht im Ausschuss zu.227 Den übrigen Abgeordneten aber war es möglich, die Ausschusssitzungen zu besuchen und Anträge zu stellen, §§ 69 Abs. 2 Satz 1, 71 GO-BT.228 Schließlich bleibt festzuhalten, dass Abgeordnete auch in „Normalzeiten“ keinen Anspruch auf die Mitgliedschaft in einem bestimmten Ausschuss haben.229 Im Wüppesahl-Urteil erachtet das Bundesverfassungsgericht sogar ein dauerhaft fehlendes Stimmrecht für Fraktionslose im

225

Siehe dazu auch Anlage 2 GO-BT. A.A. Thielbörger/Ackermann, ZJS 2014, 497 (500); Moench, Verfassungsmäßigkeit der Bundestagsausschüsse, S. 262. 227 Besch, in: Schneider/Zeh, Parlamentsrecht und Parlamentspraxis, § 33 Rn. 5. 228 Hadamek, ZG 29 (2014), 353 (366); dagegen heißt es bei Thielbörger/Ackermann, ZJS 2014, 497 (501): „Sie waren vielmehr auf die deutlich geringeren Möglichkeiten der Einflussnahme im Plenum beschränkt“; vgl. schon die Titel in der Presse bei Prantl, Hauptausschuss im Bundestag – Berufsverbot für 584 Abgeordnete, 5. 12. 2013, http://www.sueddeut sche.de/politik/hauptausschuss-im-bundestag-berufsverbot-fuer-abgeordnete-1.1835946, zuletzt geprüft am 26. 4. 2018, oder auch Heidenreich, Stillstand im Bundestag – Abgeordnete im Wartestand, 7. 12. 2013, http://www.sueddeutsche.de/politik/stillstand-im-bundestag-abgeordne te-im-wartestand-1.1838022, zuletzt geprüft am 26. 4. 2018. 229 Badura, in: Schneider/Zeh, Parlamentsrecht und Parlamentspraxis, § 15 Rn. 57. 226

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Ausschuss als verfassungsgemäß.230 Die Ausschussmitglieder des Ausschusses für Angelegenheiten der Europäischen Union, des Ausschusses für Verteidigung, des Petitionsausschusses und des Haushaltsausschusses haben unmittelbare Teilhabe an den Sonderbefugnissen ihrer Ausschüsse. Das Grundgesetz regelt teilweise sogar plenarersetzende Befugnisse, Art. 45 Satz 2 und 3 GG.231 Eine Differenzierung der Bedeutung von Ausschussthemen und Arbeitsbelastung kann hier nicht stattfinden. Ungeachtet dessen ist es praxisfern, die Bedeutung des Tourismusausschusses mit der des Haushaltsausschusses gleichzusetzen. Dieses Beispiel zeigt, dass eine völlige Gleichbehandlung von Abgeordneten im Rahmen der Ausschussarbeit nicht möglich, verfassungsrechtlich aber auch gar nicht vorgesehen ist. Indem sich alle Abgeordneten zu jeder Zeit im Plenum beteiligen konnten und der Hauptausschuss kein Selbstbefassungsrecht nach § 62 Abs. 1 Satz 3 GO-BT hatte, wird zumindest die Sorge um eine weitere inhaltliche Ausgrenzung nichtbeteiligter Abgeordneter abgemildert. Über die vom Plenum erteilten Zuständigkeiten hinaus, kann es keine Kompetenz des Hauptausschusses geben – er bleibt ein Hilfsorgan ohne Blankettermächtigung. Daher greift die Kritik, das fehlende Initiativrecht des Hauptausschusses habe vor allem eine verminderte Kontrollfähigkeit zur Folge und falle daher besonders ins Gewicht, zu kurz.232 Die Letztentscheidung233 über Beschlussempfehlungen des Hauptausschusses fällt nach der zweiten und dritten Lesung im Plenum, an dessen Abstimmungen alle Abgeordneten teilnehmen können. Ein Minimum an unmittelbaren und mittelbaren Mitwirkungsmöglichkeiten bleibt daher stets bestehen. Die Willensbildung im Ausschuss geht jedoch einher mit der Willensbildung in der Fraktion. Sie nimmt in der politischen Praxis eine ebenso herausragende Rolle ein wie die Willensbildung in den Ausschüssen.234 Vor den Ausschusssitzungen sprechen die Fraktionen ihre Position zu den Vorlagen in den Arbeitsgruppen und -kreisen ab und vor den Plenarsitzungen befassen sich die Fraktionen in den Fraktionsvollversammlungen mit der Vorbereitung aller Tagesordnungspunkte. Auf diesem Weg gelangen neue Impulse in die Ausschussarbeit. Überdies bestehen 230

BVerfGE 80, 188 (224 f.). Dies unter anderem als verfassungswidrig ansehend Baach, Parlamentarische Mitwirkung in Angelegenheiten der Europäischen Union, S. 207 f.; Badura, FS Schambeck, S. 901; dagegen z.B. Wollenschläger, in: Dreier, GG, Bd. 2, Art. 45 Rn. 25. 232 Klein, Fangt endlich an zu arbeiten! Der Bundestag setzt einen Hauptausschuss ein – muss aber bald seiner eigentlichen Aufgabe nachkommen, FAZ vom 13. 12. 2013, S. 7. 233 Vgl. Brocker, in: BK, GG, 150. EL Februar 2011, Art. 40 Rn. 53. 234 Die Mitwirkungsmöglichkeiten der Fraktionen blieben auch während der Tagungszeit des Hauptausschusses bestehen. Joachim Linck entwickelte bereits 1975 folgende These: „Je mehr das Parlament – als Arbeitsparlament – an der Staatsleitung teilnimmt („Regierung zur gesamten Hand“), je enger dürfen die Einschränkungen des Abgeordnetenstatus bei der parlamentarischen Behandlung dieses Bereichs sein – je mehr das Parlament hingegen – als Redeparlament – schwerpunktmäßig Kontrolltätigkeit ausübt, je weniger darf die Rechtsstellung des Abgeordneten gemindert werden.“, Linck, DÖV 1975, 689 (691). Der Hauptausschuss war gerade Ausdruck eines Arbeitsparlaments. 231

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5. Kap.: Der Hauptausschuss des Deutschen Bundestages

Fraktionsrechte, von denen hier nochmals drei hervorzuheben sind: Vorlagen von Antragstellern müssen auf die Tagesordnung gesetzt und beraten werden, wenn seit der Verteilung der Drucksache mindestens drei Wochen vergangen sind, § 20 Abs. 4 GO-BT. Die Fraktionen können Debatten in der ersten und zweiten Lesung beantragen, §§ 79, 81 Abs. 1 GO-BT. Außerdem können die Fraktionen eine namentliche Abstimmung verlangen, § 52 GO-BT.235 Zweck der Fraktionsbildung ist es auch, den parlamentarischen Ablauf im Interesse der Funktionalität des Parlaments verlässlich zu ordnen.236 Alle Fraktionen waren beteiligt an den Sitzungen des Hauptausschusses und alle Abgeordneten waren zu diesem Zeitpunkt Mitglied einer Fraktion im 18. Deutschen Bundestag. Die Verfassungsmäßigkeit eines Hauptausschusses kann nicht von der freien Entscheidung der Abgeordneten für oder gegen einen Zusammenschluss zu einer Fraktion abhängen. Für die nicht am Hauptausschuss beteiligten Abgeordneten bestanden innerhalb der Fraktionen dennoch Wege der Einflussnahme: Sie konnten sich sowohl in fraktionsinternen Sitzungen, Arbeitsgruppen und -kreisen einbringen237 als auch über die Geltendmachung von Fraktionsrechten Einfluss gewinnen. Die Möglichkeit aller Abgeordneten der 18. Wahlperiode an der Willensbildung innerhalb der Fraktionen teilzunehmen, wirkt auf die vorübergehende Arbeitsweise des Parlaments in einem Hauptausschuss abfedernd. Auch in Zeiten einer geschäftsführenden Bundesregierung ist die Funktionsfähigkeit des Parlaments notwendig. Der Hauptausschuss der 18. Wahlperiode existierte vom Tag der Regierungsbildung bis zur Konstituierung der Fachausschüsse 29 Tage lang. In diese Zeit fällt jedoch der Jahreswechsel, währenddessen der politische Betrieb gewöhnlich pausiert. Insofern sind vor allem die 19 Tage von der Einsetzung des Hauptausschusses bis zur Regierungsbildung in den Blick zu nehmen: Zu diesem Zeitpunkt war noch die geschäftsführende Regierung des Kabinetts der 17. Wahlperiode im Amt. Rechte und Pflichten der geschäftsführenden Regierung sind annähernd die gleichen wie die der Bundesregierung mit neu gewähltem Kanzler.238 Die Parlamentsarbeit in Zeiten einer geschäftsführenden Regierung ist in der Praxis jedoch nicht mit der in Zeiten der gewöhnlichen Regierung gleichzusetzen. Die Parlamentsgeschäfte, insbesondere Gesetzgebung und parlamentarische Kontrolle, befinden sich in einem Wartezustand. Für die geschäftsführende Regierung ist es keine Frage des Rechts, sondern des politischen Takts, sich Zurückhaltung

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Vgl. anschaulich Hadamek, in: Kluth/Krings, Gesetzgebung, § 17 Rn. 48. Hinsichtlich Landtagsfraktionen VfG Brandenburg, Urteil vom 22. Juli 2016 – 70/15 –, juris Rn. 154. 237 Vgl. Rath, Kommentar Hauptausschuss: Keiner muss faulenzen, 27. 6. 2015, http://www. taz.de/!5054367/, zuletzt geprüft am 26. 4. 2018. 238 Schnapauff, VR 29 (1983), 77 (79); beispielhaft auch Pieper, in: Epping/Hillgruber, GG, 37. Edition Mai 2018, Art. 69 Rn. 8. Dem Bundeskanzler einer geschäftsführenden ist lediglich das Recht der Vertrauensfrage verwehrt. 236

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aufzuerlegen.239 Dementsprechend wurde auch die geschäftsführende Regierung nach der Bundestagswahl 2013 nur ausnahmsweise initiativ. Ungeachtet dessen tagt das Parlament nicht der Bundesregierung wegen. Auch in Zeiten einer geschäftsführenden Regierung stellt die parlamentarische Handlungsfähigkeit kein Scheinargument dar, schließlich bleiben Gesetzgebungs- und Kontrollaufgaben. Dies zeigen die konkreten Tätigkeiten des Hauptausschusses der 18. Wahlperiode.240 So beriet der Hauptausschuss allein acht Gesetzentwürfe und gab vier Beschlussempfehlungen dazu ab. Gerade eilige Parlamentsreaktionen gewinnen in schnelllebigen Zeiten internationaler Beziehungen und Konflikte an Bedeutung. Flexible, zügige und detaillierte Arbeit kann angemessener in einem Ausschuss als im Plenum stattfinden. Der Hauptausschuss des Bundestages ermöglichte kurzfristig und kurzzeitig eine Gesetzgebungsarbeit schon vor Konstituierung der Fachausschüsse.241 Er gewährleistete ebenso parlamentarische Kontrolle in allen Politikbereichen durch einen Ausschuss. Dementsprechend ließ sich der Hauptausschuss von der geschäftsführenden Bundesregierung in mehreren Themenfeldern unterrichten.242 Die Einsetzung eines kurzzeitig tagenden Hauptausschusses bis zur Konstituierung der Fachausschüsse ist mit der Handlungsfähigkeit des Parlaments rechtfertigungsfähig. aa) Übergangslösung Hauptausschuss Das Recht hat auch einen dezisionistischen Charakter. Die Frage, wann alle Abgeordneten einen Ausschusssitz beanspruchen können, ist schwerlich zu beantworten. Ein dauerhafter Hauptausschuss wäre verfassungswidrig – eine Beteiligung aller Abgeordneten am Ausschussleben schon ab der konstituierenden Sitzung des Bundestages gab es allerdings auch noch nie und ist auch nicht von Verfassung wegen geboten. Der Einsetzungsbeschluss des Hauptausschusses zielte von Anfang an auf einen Hauptausschuss als provisorische Übergangslösung ab. Er bestand nur bis zur Konstituierung der Fachausschüsse. Es war niemals parlamentarische Intention, den übrigen Abgeordneten einen Sitz im Ausschuss dauerhaft vorzuenthalten.243 An239 Im Ergebnis auch Lutz, Die Geschäftsregierung nach dem Grundgesetz, S. 79, der sich auf Gerhard Anschütz beruft. 240 Siehe an dieser Stelle auch die Tagesordnungen des Hauptausschusses der 19. Wahlperiode, einsehbar auf der Internetseite des Deutschen Bundestages. 241 Thielbörger/Ackermann, ZJS 2014, 497 (502). Sie nennen eine solche Argumentation einen „essentiellen Irrtum“, da die relevante Vergleichsalternative die sofortige Einsetzung aller Fachausschüsse sei. Dies mag zwar aus rechtspolitischer Sicht wünschenswert sein, aber die sofortige Einsetzung aller Fachausschüsse nach Konstituierung des Bundestages ist weder von Verfassungs wegen verlangt noch politischer Normalfall, schon gar nicht „üblich“; vgl. eine ähnliche Argumentation bei Koschmieder, NVwZ 2014, 852 (855). 242 Siehe die Tagesordnung der zweiten Sitzung des Hauptausschusses am 4. Dezember 2013, Deutscher Bundestag, Snapshot im Webarchiv, 18. 12. 2013, http://webarchiv.bundestag. de/cgi/show.php?id=1224&jahr=2013, zuletzt geprüft am 10. 5. 2018. 243 Siehe § 57 Abs. 1 Satz 2 GO-BT und BVerfGE 80, 188 (223 f.).

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gesichts eines negativen SPD-Mitgliederentscheids wäre möglicherweise eine politische Lage entstanden, in der eine Einsetzung der Fachausschüsse nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts alternativlos gewesen wäre.244 Eine zeitweise und organisatorische Beeinträchtigung der Abgeordnetenrechte ist zwecks parlamentarischer Instandsetzung unzweifelhaft weniger Bedenken ausgesetzt als ein grundgesetzwidriger langfristiger und konzeptioneller Entzug der Abgeordnetenrechte.245 bb) Bedeutung von Ressortzuschnitt und Personalfragen bei der Ausschusseinsetzung Die Entscheidung für einen Hauptausschuss wurde außerdem von Seiten der politischen Befürworter mit dem Zusammenhang zwischen Regierungsbildung und Einsetzung der Fachausschüsse begründet. Aufgrund der Wechselwirkung zwischen Ministerium und Fachausschuss widerspreche die Einsetzung der Fachausschüsse vor der Regierungsbildung jeder Parlamentspraxis.246 Nach der Bundestagswahl 2017 kam es das erste Mal überhaupt zu einer Ausschusseinsetzung vor einer Regierungsbildung. Am 15. Januar 2014 konstituierten sich die 22 Fachausschüsse, im Februar 2014 folgte noch der Ausschuss Digitale Agenda. Den insgesamt 23 Fachausschüssen standen in der 18. Wahlperiode 15 Bundesministerien gegenüber. Die Aufgabenbereiche der Fachausschüsse finden sich mit einigen Ausnahmen in den Bundesministerien wieder. Die symmetrische Anordnung von Fachausschuss und Ministerium trägt traditionell einer engen Zusammenarbeit in der Gesetzgebung Rechnung und auch die parlamentarische Kontrolle der Bundesregierung ist überwiegend bei den jeweiligen Fachausschüssen angesiedelt.247 Eine Einsetzung der Fachausschüsse vor Regierungsbildung ist wegen des nicht frühzeitig und exakt vorherzusagenden Ressortzuschnitts also erschwert, sie ist nur vorläufig. Dies zeigen die vier strukturellen Kompetenzveränderungen, die die Ressorts nach der Bundestagswahl 2013 erfuhren: Die digitale Infrastruktur fand ihren Platz im Verkehrsministerium, Bauen im Umweltministerium und mit dem Bundesministerium für Wirtschaft und Energie entstand ein „Superministerium“.248 Auch Bundesministerien mit langer Tradition und Verankerung im Grundgesetz (Art. 96 Abs. 2

244

Siehe dazu und zur Situation in der 19. Wahlperiode schon 5. Kapitel C. III. 2. a). Winkelmann, in: Morlok/Schliesky/Wiefelspütz, Parlamentsrecht, § 23 Rn. 6; vgl. auch Morlok bei Engels, Bundestags-Hauptausschuss ist „eine Art Politbüro“, 28. 11. 2013, http:// www.deutschlandfunk.de/rechtswissenschaftler-bundestags-hauptausschuss-ist-eine.694.de. html?dram:article_id=270403, zuletzt geprüft am 26. 4. 2018. 246 Grosse-Brömer, in: BT-Plenarprotokoll 18/3 vom 28. November 2013, S. 76 (B); Oppermann, in: BT-Plenarprotokoll 18/3 vom 28. November 2013, S. 78 (B) f. 247 Vgl. Schwerin, Der Deutsche Bundestag als Geschäftsordnungsgeber, S. 158. 248 Von „nur“ vier nennenswerten Zuständigkeitsänderungen sprechen Thielbörger/ Ackermann, ZJS 2014, 497 (503). 245

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Satz 4 GG)249 können Veränderungen im Zuschnitt erfahren, dies verdeutlichte die Erweiterung des Bundesministeriums der Justiz um den Verbraucherschutz. Michael Grosse-Brömer (CDU) führte außerdem die „personelle Ausstattung“250 gegen die Einsetzung aller Fachausschüsse auf. Zunächst müsse geklärt werden, welcher Ausschussvorsitz an welche Fraktion gehe. Richtig ist, dass vor der Regierungsbildung nicht umfassend ersichtlich ist, wer welche Positionen und wer welche Positionen gerade nicht bekleiden wird können. Dabei schließen sich Minister-, Staatsminister- und Staatssekretärsposten und ein Ausschussvorsitz in der Parlamentspraxis gegenseitig aus. Die Harmonie in Fraktion und Koalition kann gestört werden, wenn im Nachhinein Ämter „wechseln“.251 Auf den ersten Blick haben Ressort- wie auch Personalfragen zwar praktische Bedeutung, jedoch keinen grundgesetzlich geschützten Rang, der gegen die verfassungsrechtlichen Bedenken hinsichtlich der Ungleichbehandlung von Abgeordneten durch die Einsetzung eines Hauptausschusses in Stellung gebracht werden kann. In diesem Zusammenhang konstatiert Thomas Hadamek anschaulich: „Die fachpolitische Schwerpunktsetzung der Koalitionsvereinbarung, die Verteilung der Ressourcen zwischen Koalitionspartnern und die Berücksichtigung unterschiedlicher Strömungen innerhalb der Fraktionen bilden die Grundlage eines filigranen Systems von checks and balances zwischen Bundestag und Bundesregierung auf der einen Seite, sowie zwischen den einzelnen Fachpolitiken im Deutschen Bundestag, die um Beteiligung und Berücksichtigung ihrer politischen Ziele kämpfen, auf der anderen Seite.“252

Die Relevanz solcher Fragen ist in der Parlamentspraxis unbestritten. Zwar können Ausschusszuständigkeiten auch nach der Ausschusseinsetzung abgeändert253 und Personalentscheidungen durch Nachnominierungen von Ausschussvorsitzenden angepasst werden.254 Der Mehraufwand bedeutet für die Fraktionen aber zusätzli249 Neben dem Bundesminister für Justiz sind die Bundesminister für Verteidigung (Art. 65a Abs. 1 GG) und für Finanzen (Art. 108 Abs. 3 Satz 2, 112 Satz 1 und 114 Abs. 1 GG) in der Verfassung genannt. 250 Grosse-Brömer, in: BT-Plenarprotokoll, 18/3 vom 28. November 2013, S. 76 (B). 251 Beispielsweise sind die Posten als stellvertretende Fraktionsvorsitzende sehr beliebt. Die Kandidaten für solche Stellen werden aber häufig aus demselben „Abgeordnetenpool“ von erfahrenen und angesehenen Politikern stammen. 252 Hadamek, ZG 29 (2014), 353 (363). 253 Vgl. Roßner, Der Bundestag betritt Neuland, 27. 11. 2013, http://www.lto.de/recht/hinter gruende/h/bundestag-hauptausschuss-koalitionsverhandlung-regierungsbildung/, zuletzt geprüft am 26. 4. 2018. 254 Vgl. Morlok bei Engels, Bundestags-Hauptausschuss ist „eine Art Politbüro“, 28. 11. 2013, http://www.deutschlandfunk.de/rechtswissenschaftler-bundestags-hauptausschuss-isteine.694.de.html?dram:article_id=270403, zuletzt geprüft am 26. 4. 2018. Der Organisationsaufwand vor allem bei den beiden großen Fraktionen von CDU/CSU und SPD ist tatsächlich relativ groß, wenn mit den genannten Positionen in der 18. Wahlperiode insgesamt 71 Posten besetzt werden müssen. Es gibt grundsätzlich zwei parlamentarische Staatssekretäre pro Ministerium, im Bundesministerium für Wirtschaft und Energie und im Bundesministerium für Verkehr und Digitale Infrastruktur sind es drei, der Bundeskanzlerin stehen drei Staatsminister

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chen Ressourceneinsatz. Das Recht, einer Fraktion beizutreten oder dies auch nicht zu tun, fußt auf Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG.255 Die Funktionsfähigkeit von Fraktionen ist wesentlich, wenn diese als notwendige Einrichtungen des Verfassungslebens und maßgebliche Faktoren der parlamentarischen Willensbildung fungieren.256 Fraktionen müssen in der Lage sein, ihren Teil an der Willensbildung des Parlaments beizutragen. Dafür sollten sie aber nicht überfrachtet werden mit im Ergebnis wieder zu korrigierenden Aufgaben, die sie von der Arbeit in den Koalitionsverhandlungen257 oder in den Bundestagsdebatten abbringen. Mag sich dies für mandatsschwächere Fraktionen noch in Grenzen halten, für mandatsstärkere Regierungsfraktionen stellt es ein spürbares Problem dar. Es besteht zwar keine verfassungsrechtliche Abhängigkeit von Regierungsbildung und Ausschusseinsetzung.258 Auf den zweiten Blick stellen sich Fragen des Ressortzuschnitts und Personals aber auch als Fragen der Fraktionsfunktionalität und -flexibilität heraus. Es handelt sich mithin um durchaus relevante Belange. Letztlich fußt der Einsetzungsbeschluss des Hauptausschusses auf dem Selbstorganisationsrecht des Parlaments, das aber auch die Funktionsfähigkeit der wichtigsten Steuerungseinheiten des Parlaments zugunsten einer parlamentarischen Willensbildung im Blick haben muss. Der Mandatsgleichheit können solche Erwägungen sicher nicht die Waage halten, erwähnenswert sind sie an dieser Stelle aber allemal. cc) Kein entgegenstehender Wille des Verfassungsgebers In einer Erklärung zum Abstimmungsverhalten wiesen Abgeordnete der Linksfraktion darauf hin, dass ein Hauptausschuss dem Willen des Verfassungsgebers entgegenstehe:259 In einem Unterausschuss des Herrenchiemsee-Konvents regte Otto Suhr an, dem ständigen Ausschuss ein Zustimmungsrecht zum Erlass von Notverund ein Staatssekretär zur Seite; dazu kommen 15 Ministerposten und 22 bzw. 23 Ausschussvorsitze. 255 BVerfGE 80, 188 (219 f.); 84, 304 (322). 256 BVerfGE 70, 324 (350 f.); 80, 188 (219); auch schon BVerfGE 10, 4 (14); 43, 142 (147). 257 Zwar schließen die Parteien den Koalitionsvertrag, die Personalunion von Parteivertretern und Abgeordneten führt im Ergebnis jedoch zu dieser Problematik. Auch den Fraktionen obliegt die parlamentarische Kreationsfunktion. 258 Straßburger, JuS 2015, 714 (718); dagegen Hadamek, ZG 29 (2014), 353 (363). 259 Wawzyniak, Pau, Tackmann, Tempel, Liebich, Wunderlich, Vogler, Möhring und Petzold zur Abstimmung über den Antrag der Fraktionen CDU/CSU und SPD über die Einsetzung eines Hauptausschusses, in: BT-Plenarprotokoll 18/3 vom 28. November 2013, S. 208 (B) f. Vereinzelte Abgeordnete der Fraktion DIE LINKE planten ein Organstreitverfahren am Bundesverfassungsgericht anzustrengen. Auf ein solches Vorgehen gegen den Hauptausschuss konnte sich die Fraktion jedoch nicht einigen. Grund dafür war die kurzfristige Tagungsdauer des Hauptausschusses, der mit dem Verfahren zusammenhängende Kosten- und Ressourceneinsatz sowie die Uneinigkeit über die Erfolgsaussichten eines solchen Verfahrens. Ein Organstreitverfahren wäre das zulässige Rechtsschutzverfahren gegen einen Hauptausschuss. Dagegen wäre eine Verfassungsbeschwerde wegen der Verletzung von Art. 17 GG schon unzulässig, das Petitionsrecht schützt nicht das Recht auf Einsetzung der Petition in einem Petitionsausschuss.

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ordnungen einzuräumen. Der Unterausschuss stimmte jedoch mehrheitlich dafür, das Recht dem Bundesrat zu übertragen.260 Letztlich entschied sich der Parlamentarische Rat insgesamt gegen das Notverordnungsrecht. Damit sei der Hauptausschuss nach Ansicht der Abgeordneten „bereits seiner Konzeption nach als ein Krisenzeiten vorbehaltenes Konstrukt gedacht“261, das dem Willen des Verfassungsgebers widerspreche.262 Die Mitglieder des Herrenchiemsee-Konvents, auf dessen Protokolle sich die Kritik der Parlamentarier stützt, berieten über den oben bereits erwähnten ständigen Ausschuss, der später auch bis zu einer Grundgesetzänderung vom 23. August 1976 in Art. 45 GG a.F. geregelt war. Der ständige Ausschuss sollte das Vakuum der Regierungskontrolle füllen, das durch die parlamentslose Zeit entstand.263 Am 30. Oktober 1972 kam der ständige Ausschuss das erste und einzige Mal zusammen,264 im Übrigen waren die parlamentslosen Zeiträume sehr kurz.265 Eine subjektive Auslegung spricht jedoch nicht gegen die Möglichkeit des Parlaments, einen Hauptausschuss einzusetzen: Erstens sah Art. 58 des endgültigen „Chiemseer Entwurfs“ einen ständigen Ausschuss vor, der auch bei Auflösung des Parlaments tagen sollte.266 Folglich hatte sich der Herrenchiemsee-Konvent nicht gegen einen in Krisenzeiten eingerichteten Ausschuss entschieden, sondern gerade für einen Ausschuss gestimmt, der auch „besondere Notmaßnahmen“267 ermöglichte. Darüber hinaus wurde sogar im Kombinierten Ausschuss des Parlamentarischen Rates erklärt, dass ein „Hauptausschuss“ unbedingt notwendig und in allen parlamentarischen Ländern üblich sei.268 Sofern eine ordnungsgemäße Tagung des Parlaments 260 Protokoll der ersten und sechsten Sitzung des dritten Unterausschusses/Verfassungsausschuss der Ministerpräsidentenkonferenz vom 13. August 1948, S. 12, und vom 17. August 1948, S. 121. Siehe dazu auch die Angaben, in: Wernicke/Booms (Hrsg.), Der Parlamentarische Rat 1948 – 1949, Bd. 2, S. 281 Fn. 7 und S. 291 Fn. 39 sowie S. 604 und Art. 111 des Herrenchiemseer Entwurfs. 261 Wawzyniak, Pau, Tackmann, Tempel, Liebich, Wunderlich, Vogler, Möhring und Petzold zur Abstimmung über den Antrag der Fraktionen CDU/CSU und SPD über die Einsetzung eines Hauptausschusses, in: BT-Plenarprotokoll 18/3 vom 28. November 2013, S. 208 (C). 262 Dies., in: BT-Plenarprotokoll 18/3 vom 28. November 2013, S. 208 (C). 263 Siehe dazu Lehr in der zweiten Sitzung des Hauptausschusses am 11. November 1948, in: Risse/Weber (Hrsg.), Der Parlamentarische Rat 1948 – 1949, Bd. 14/1, S. 52. 264 Lenz, Erste und einzige Sitzung des Ständigen Ausschusses, 26. 10. 2012, https://www. bundestag.de/dokumente/textarchiv/2012/41161607_kw44_kalenderblatt_ausschuss/209758, zuletzt geprüft am 26. 4. 2018. 265 Troßmann, Parlamentsrecht und Praxis des Deutschen Bundestages, S. 29. 266 Siehe dazu Art. 44 des Entwurfs im Protokoll der fünften Sitzung des dritten Unterausschusses/Verfassungsausschuss der Ministerpräsidentenkonferenz vom 17. August 1948, S. 108 f.; auch Art. 58 des Herrenchiemsee Entwurfs. 267 Lehr in der zweiten Sitzung des Kombinierten Ausschusses am 16. September 1948, in: Stelzl/Weber (Hrsg.), Der Parlamentarische Rat 1948 – 1949, Bd. 13/1, S. 38; zur Auflösung des Bundestages Schäfer, Der Bundestag, S. 106. 268 Nochmals Lehr in der zweiten Sitzung des Kombinierten Ausschusses am 16. September 1948, in: Stelzl/Weber (Hrsg.), Der Parlamentarische Rat 1948 – 1949, Bd. 13/1, S. 38.

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5. Kap.: Der Hauptausschuss des Deutschen Bundestages

nicht möglich sei, müsse dieser Ausschuss dessen Rechte zeitweise wahrnehmen.269 Zweitens sollte der Hauptausschuss des Bundestages keinen Notverordnungen zustimmen, sondern Vorlagen für das Plenum vorbereiten. Ferner sind Notverordnungen trotz Notstandsgesetzen von 1968 ein Relikt aus Zeiten vor dem Grundgesetz. Drittens basiert die Kritik auf Äußerungen vom Herrenchiemsee-Konvent, der kein demokratisches Mandat hatte.270 Für eine subjektive Auslegung kann er nur Hinweise geben, Bindungswirkung kommt den Dokumenten in keiner Weise zu. Eine subjektive Auslegung kann die Verfassungswidrigkeit des Hauptausschusses nicht begründen:271 Der Parlamentarische Rat regelte mit dem ständigen Ausschuss eine „Zwischenlösung“ für die parlamentslose Zeit, die es seit der Einführung von Art. 39 GG zwar nicht mehr gibt, doch lange Regierungsbildungen haben lange Phasen geschäftsführender Regierungen zur Folge. Auch in Phasen geschäftsführender Regierungen bedarf es parlamentarischer Kontrolle, wenn auch nicht im gleichen Maße, sodass ein Hauptausschuss durchaus dem Zweck des ständigen Ausschusses dient.

D. Ergebnis Der Hauptausschuss befindet sich in einem Spannungsfeld selbstorganisationsrechtlicher Disposition und grundgesetzlicher Rahmengebung. Der Bundestag stößt trotz weiten Gestaltungsspielraums im Rahmen seines Selbstorganisationsrechts an die Grenze seiner rechtlichen Möglichkeiten, wenn er einen Hauptausschuss einsetzt. Im Ergebnis ist die Einsetzung eines Hauptausschusses jedoch verfassungsgemäß. Problematisch ist es aber, wenn der Hauptausschuss als Ausschuss i.S.d. Art. 45, 45a und 45c GG verfassungsrechtliche Sonderbefugnisse wahrnimmt, die die Rechtsstellung Dritter berühren, namentlich anderer Verfassungsorgane und Privater. Diese Außenwirkungen können nicht mittels Plenarbeschluss geregelt werden. Sinn und Zweck sowie eine historische Auslegung der Grundgesetzvorschriften stehen der Einsetzung eines Hauptausschusses aber nicht im Wege. Lediglich mit Blick auf Art. 45a Abs. 2 Satz 1 GG bedarf es einer verfassungskonformen Auslegung des Plenarbeschlusses; die Rechte eines Verteidigungsausschusses als Untersuchungsausschusses konnten dem Hauptausschuss nicht übertragen werden. Ferner verlangen die Art. 45, 45a und 45c GG sowie die Abgeordnetengleichheit nach Art. 38 Abs. 1 GG, dass der Bundestag den parlamentarischen Normalbetrieb schnellstmöglich herzustellen versucht. Die Bun269 Lehr in der zweiten Sitzung des Kombinierten Ausschusses am 16. September 1948, in: Stelzl/Weber (Hrsg.), Der Parlamentarische Rat 1948 – 1949, Bd. 13/1, S. 38. 270 Im Übrigen wird auf die mangelhafte Qualität der Protokolle des HerrenchiemseeKonvents hingewiesen, vgl. Bucher, in: Wernicke/Booms (Hrsg.), Der Parlamentarische Rat 1948 – 1949, Bd. 2, S. CXXXI. 271 Klein, Fangt endlich an zu arbeiten! Der Bundestag setzt einen Hauptausschuss ein – muss aber bald seiner eigentlichen Aufgabe nachkommen, FAZ vom 13. 12. 2013, S. 7.

D. Ergebnis

347

desrepublik braucht ein handlungsfähiges Parlament inklusive seiner Fachausschüsse, schließlich ist der Bundestag „der Ort, an dem die wesentlichen Entscheidungen für unser Gemeinwesen getroffen werden“272.

272 Voßkuhle bei Amann/Kloepfer, „Mehr Europa lässt das Grundgesetz kaum zu“, 25. 9. 2011, http://www.faz.net/aktuell/wirtschaft/eurokrise/im-gespraech-andreas-vosskuhle-mehr-eu ropa-laesst-das-grundgesetz-kaum-zu-11369184.html, zuletzt geprüft am 26. 4. 2018; auch von Lammert in der konstituierenden Sitzung der 18. Wahlperiode zitiert.

6. Kapitel

Fazit A. Zusammenfassung In dieser Arbeit wurden Verfassungsfragen untersucht, die im Parlament der Großen Koalition, insbesondere der qualifizierten Großen Koalition, entstehen oder – im Falle des Hauptausschusses – zumindest vertieft werden. Zentral für das Verständnis der verfassungspolitischen Gemengelage in Phasen solcher Mehrheitskonstellationen und der daraus resultierenden Fragen ist die Ausgangssituation, die das parlamentarische Regierungssystem der Bundesrepublik bietet. Dieses zeichnet sich durch den Dualismus zwischen der Regierung und der sie tragenden Regierungsmehrheit auf der einen Seite und der oppositionellen Minderheit auf der anderen Seite aus. Minderheitsregierungen bleiben eine Ausnahmeerscheinung. Die politischen Begrifflichkeiten von Mehrheit und Minderheit werden unterschiedlich verwendet: Die Rechtsordnung gibt mit ihnen die Verfügbarkeit von Parlamentsentscheidungen an – die Parlamentsmehrheit oder -minderheit existiert für die Rechtsordnung nicht. Anders ist die Begriffsverwendung in der parlamentarischen Praxis, die die Parlamentsmehrheit mit der Regierungskoalition und die Parlamentsminderheit mit der Opposition gleichsetzt. Auch die Begriffe Koalition und Opposition sind politischer Natur, obwohl der Oppositionsbegriff vermehrt in Landesverfassungen und mitunter auch in Bundesgesetzen Verwendung findet. Zur Koalition gehören nur die an der Koalitionsvereinbarung beteiligten Parteien bzw. Fraktionen, wenngleich auch Abgeordnete der Opposition für Vorhaben der Koalition stimmen können. Der Oppositionsbegriff kann funktional und organisatorisch verstanden werden.1 Unter den letzteren, vorliegend verwendeten Oppositionsbegriff, fallen die Abgeordneten, Gruppen und Fraktionen, die nicht in der Regierung vertreten sind. Sie sind dauerhafter politischer Gegner der Bundesregierung. Das Bild Kleiner wie Großer Koalitionen ist hierzulande geprägt vom bipolaren Mehrparteiensystem der Bundesrepublik, das bis heute Bestand hat, gleichwohl es keinesfalls änderungsfest ist – dies wird mit Blick auf die jüngsten Wahlergebnisse der sogenannten Volksparteien deutlich. Für eine rechtswissenschaftliche Untersuchung erweist sich ein Begriffsverständnis, das auf die politischen Partner einer Koalition rekurriert, ohnehin nicht als zielführend. Daher beschreibt eine Kleine Koalition vorliegend ein Bündnis zwischen der mandatsstärksten oder zweitstärksten Fraktion 1 Zum Begriffsverständnis anschaulich Cancik, Parlamentarische Opposition in den Landesverfassungen, S. 104.

A. Zusammenfassung

349

und mindestens einer weiteren mandatsschwächeren Fraktion im Parlament.2 Großkoalitionäre Bündnisse bezeichnen Koalitionen zwischen mindestens den beiden mandatsstärksten Fraktionen im Parlament. „Qualifiziert“ ist eine solche Große Koalition, wenn die Opposition so mandatsschwach ist, dass sie die ausdrücklich in der Verfassung bestimmten Verfassungsquoren allesamt verfehlt.3 Zwei der vier Großen Koalitionen im Bund waren qualifiziert; in den Bundesländern4 sind qualifizierte Große Koalitionen sogar knapp in der Überzahl (19 von 35). Der Verfassungsgeber kannte die Möglichkeit eines großkoalitionären Regierungsbündnisses, das die parlamentarische Opposition auf ein Minimum der Mandate reduziert. Das Verhältniswahlrecht und die in der Bundesrepublik weit verbreiteten Bedenken gegenüber Minderheitsregierungen fördern die Bildung Großer Koalitionen.5 Für ihre Bündnispartner aber bedeuten sie regelmäßig Einbußen bei Regierungsposten, der Chance zur Umsetzung politischer Inhalte und der politischen Profilierung. Daher bleiben Große Koalitionen unbeliebte Notfallkoalitionen. Sie sind bedingt durch parlamentsinterne wie -externe Zwänge.6 Nur etwa jede fünfte Bundesregierung und jede siebte Landesregierung in Deutschland werden von einer Großen Koalition im Parlament getragen, gleichwohl Große Koalitionen in jüngster Vergangenheit nicht nur auf Bundesebene häufiger in Erscheinung treten. Mit Großen Koalitionen gehen ferner politische Nebeneffekte einher. Ungeachtet dessen findet sich die wesentlichste Veränderung in den ungleichen parlamentarischen Mehrheitsverhältnissen zwischen Koalition und Opposition – Große Koalitionen, insbesondere das Phänomen qualifizierter Großer Koalitionen, führen zu besonderen parlamentarischen Herausforderungen. Die größte Aufmerksamkeit der vorliegenden Verfassungsfragen erlangten in der 18. Wahlperiode die parlamentarischen Minderheitenrechte, sowohl im Parlament als auch in der Öffentlichkeit. In Zeiten qualifizierter Großer Koalitionen vereint die parlamentarische Opposition zu wenig Mandate auf sich, um die verfassungsrechtlichen Quorenrechte nur mit den eigenen Stimmen zu erreichen. Wirkungsmöglichkeiten parlamentarischer Opposition sind jedoch auch von der Verfügbarkeit von Minderheitenrechten abhängig. Der Dualismus zwischen Mehrheit und Minderheit gerät durch eine qualifizierte Große Koalition folglich in eine Schieflage. Die Sachentscheidung der Mehrheit muss unangetastet bleiben, die Minderheit aber 2

Strohmeier, ZPol. 19 (2009), 5 (8), aus politikwissenschaftlicher Sicht. Cancik, NVwZ 2014, 18; vgl. auch dies., ZParl. 48 (2017), 516 (516 Fn. 2). 4 Auf Landesebene muss der Begriff der qualifizierten Großen Koalition insofern ergänzt werden, dass die teilweise in den Landesverfassungen verankerten Fünf-Prozent-Quoren nicht dazu führen, dass eine qualifizierte Große Koalition erst bei Erreichen von 95 % der Sitze im Parlament besteht. Hier ist vielmehr das höchste Quorum für die Opposition ausschlaggebend, das für das Erreichen der klassischen Oppositionsrechte (Einberufungsrecht, Enqueterecht, Recht auf Normenkontrollantrag) notwendig ist (derzeit entweder ein Viertel oder ein Fünftel der Mitglieder des jeweiligen Landesparlaments). 5 Aus der Politikwissenschaft Seemann/Bukow, in: dies., Die Große Koalition, S. 10. 6 Strohmeier, ZPol. 19 (2009), 5 (9 ff.). 3

350

6. Kap.: Fazit

muss sich auch in Phasen qualifizierter Großer Koalitionen in den Willensbildungsprozess einbringen können.7 Die Verfassung kennt insbesondere minderheitenschützende Quorenrechte (Art. 23 Abs. 1a Satz 2, 39 Abs. 3 Satz 3, 44 Abs. 1 Satz 1, 45a Abs. 2 Satz 2, 93 Abs. 1 Nr. 2 GG); zudem enthält sie einen Kern parlamentarischen Minderheitenschutzes (Art. 20 Abs. 1 und 2, 38 Abs. 1 Satz 2 GG), dahinter verbirgt sich ein Mindestsaldo an subjektiven Verfahrensgarantien. Diese grundgesetzlich verbürgten Minderheitenrechte sind vor dem Bundesverfassungsgericht vor allem mit dem Organstreitverfahren einklagbar. Im Ergebnis lassen sich sogar gesetzliche wie geschäftsordnungsrechtliche Minderheitenrechte mittelbar über die formale Abgeordnetengleichheit einklagen, sofern sie an den Abgeordneten-, Gruppen oder Fraktionsstatus gebunden sind und ihnen ungerechtfertigt verwehrt werden. Denn dort, wo solche statusgebundenen Minderheitenrechte existieren, müssen sie gemäß dem Recht auf chancengleiche Teilhabe nach Art. 38 Abs. 1 GG für alle gelten.8 Mandatsgleichheit bewirkt Minderheitenschutz. Darüber hinaus lassen sich dem Grundgesetz keine spezifischen Oppositionsrechte entnehmen, trotz eines existierenden Grundsatzes effektiver parlamentarischer Opposition; auch nicht in Zeiten qualifizierter Großer Koalitionen. Das Einberufungs- sowie Enqueterecht und auch das Recht des Normenkontrollantrages sind zwar „klassische Oppositionsrechte“ in Form von typischen Oppositionsmitteln (anders liegt dies bei der Subsidiaritätsklage nach Art. 23 Abs. 1a Satz 2 GG), dennoch können sie nach dem Wortlaut des Grundgesetzes nur von einem Drittel bzw. einem Viertel der Abgeordneten geltend gemacht werden. Ungeachtet dessen bliebe bereits fraglich, wie die Opposition bei einer Rechtszuweisung zu qualifizieren bzw. quantifizieren sei. Außerdem umgeht eine Herleitung spezifischer Oppositionsrechte aus dem Grundgesetz nicht nur den Verfassungswortlaut, sie verstößt – wie das Bundesverfassungsgericht richtig feststellte – ihrerseits auch gegen die formale Gleichheit aller Abgeordneten: Sofern Abgeordnete der Regierungskoalition bereits per definitionem von der Wahrnehmung eines Rechts ausgeschlossen sind, verstößt dies gegen Art. 38 Abs. 1 GG.9 Schließlich werden Rechte Dritter unzulässig eingeengt. Ebenso wenig besteht in Zeiten qualifizierter Großer Koalitionen eine Verfassungsänderungspflicht zugunsten der parlamentarischen Opposition.10 Eine Pflicht zur Schaffung von Oppositionsrechten oder zur Absenkung der Quoren setzt voraus, dass verfassungswidriges Verfassungsrecht vorläge, doch existieren die Quorenrechte entweder bereits seit Inkrafttreten des Grundgesetzes oder sie wurden im Sinne des Minderheitenschutzes eingefügt bzw. angepasst.11 Keinesfalls sind die vereinzelten Abstimmungspflichten im Grundgesetz (z.B. nach Art. 44 Abs. 1 Satz 1 Alt. 2 GG im Falle des Einsetzungsbeschlusses für einen Untersuchungsausschuss) für den Fall 7

BVerfGE 70, 324 (363). Vgl. dazu VerfGH Sachsen, Urteil vom 27. Oktober 2016 – Vf. 134-I-15 –, juris; vorher schon VerfGH Sachsen, LKV 1996, 21 (22). 9 BVerfGE 142, 25 (71). 10 BVerfGE 142, 25 (54 f.). 11 BVerfGE 142, 25 (66). 8

A. Zusammenfassung

351

einer qualifizierten Großen Koalition erweiterungsfähig. Die besonderen Mehrheitsverhältnisse im Parlament der qualifizierten Großen Koalition führen nicht dazu, dass Abgeordnete der Koalition entgegen ihres freien Mandats im Sinne ihrer oppositionellen Widersacher zu stimmen haben. Mit der Verabschiedung der Geschäftsordnungsvorschrift des § 126a GO-BT a.F. war der 18. Deutsche Bundestag bemüht, die Wirkungsmöglichkeiten der Opposition im Anschluss an die großkoalitionäre Regierungsbildung nachzubessern. Die Vorschrift verstößt jedoch in weiten Teilen gegen Verfassungsrecht, im Einzelnen gegen den Wortlaut der Verfassung, die Mandatsgleichheit und die Rechte Dritter. Eine geschäftsordnungsrechtliche Absenkung von verfassungsrechtlichen Quoren widerspricht dem eindeutigen Wortlaut und auch der Intention des Grundgesetzes. Ein Quorum kann nicht weiter auf einen etwaigen Begriffskern reduziert werden. Zahlen erhalten ihre für den naturwissenschaftlichen Verwendungskontext typische Exaktheit auch im Rahmen der Verfassungsordnung.12 Die Bestimmungen des § 126a Abs. 1 Nr. 2 und 7 bis 10 GO-BT a.F. weisen Abgeordneten der „Fraktionen, die nicht die Bundesregierung tragen“ in verfassungsrechtlich unzulässiger Weise Rechte zu. Sie verstoßen gegen das Gleichbehandlungsgebot, indem sie ungerechtfertigt eine exklusive Rechtszuweisung an Abgeordnete der Opposition vornehmen.13 Im Rahmen der Minderheitenrechte ist es im Sinne eines Oppositionsschutzes (anders als bei Redezeiten und Oppositionszuschlag) möglich, Bestimmungen zu normieren, die nicht auf die Zugehörigkeit zu Koalition oder Opposition rekurrieren. Schließlich beeinträchtigt eine geschäftsordnungsrechtliche Selbstverpflichtung zur Einsetzung eines Untersuchungsausschusses contra legem bei Erreichen eines abgesenkten Minderheitenquorums auch den verfassungsrechtlich vorgesehenen Schutz von Dritten. Die Einsetzung eines Untersuchungsausschusses im Zuge einer Splitterenquete ist möglich (und führt keineswegs zur Verfassungswidrigkeit entsprechender Untersuchungsausschüsse). Sie fußt auf einer konkreten parlamentarischen Mehrheitsentscheidung. Eine allgemeine Vorschrift, die eine – tatsächlich nicht existente – Pflicht zur Einsetzung von Untersuchungsausschüssen suggeriert, widerspricht jedoch dem Telos des Art. 44 Abs. 1 Satz 1 GG, der auch den Schutz von Privaten vor strafprozessualen Zwangsmitteln umfasst. Im Übrigen führt der Versuch, die minderheitenschützende Vorschrift des § 126a Abs. 1 GO-BT a.F. vor Abweichungen i.S.d. § 126 GO-BT zu schützen, indem diese nach § 126a Abs. 2 GO-BT a.F. ausdrücklich ausgeschlossen werden, nicht zu einer erhöhten Rechtssicherheit der Bestimmung.14 Vielmehr kann der Bundestag seit jeher mit einfacher Mehrheit Änderungen der Geschäftsordnung beschließen oder sich sogar eine neue Geschäftsordnung geben. Die praktischen Auswirkungen der Verfassungswidrigkeit der Geschäftsordnungsbestimmung des § 126a GO-BT a.F. sind gering. Dies liegt nicht darin begründet, dass die Vorschrift mit Beginn der 19. Wahlperiode ihre Geltung 12

v. Aswege, Quantifizierung von Verfassungsrecht, S. 113. Vgl. dazu BVerfGE 142, 25 (60), dennoch äußert sich das Gericht ausdrücklich nicht zur Verfassungsmäßigkeit der Vorschrift, BVerfGE 142, 25 (53). 14 BVerfGE 142, 25 (53). 13

352

6. Kap.: Fazit

verlor – qualifizierte Große Koalitionen wird es auch in Zukunft geben. Vielmehr führt eine Rechtswidrigkeit der Norm nicht zu konkreten Folgewirkungen, so wird z.B. den Untersuchungsausschüssen der 18. Wahlperiode und ihren Tätigkeiten nicht etwa ihr rechtmäßiger Boden entrissen. Ungeachtet dessen wird das politische Interesse an Zugeständnissen der Parlamentsmehrheit – gleichgültig auf welcher Normebene – primär bei der Opposition liegen. Der Bundestag kann sich jedoch nicht entgegen verfassungsrechtlicher Direktiven selbst verpflichten – eine politische Absichtserklärung hat in der Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages keinen Platz. Im Ergebnis bleibt festzuhalten, dass sich aus der Verfassung keine spezifischen Oppositionsrechte herleiten lassen, weder eine Pflicht zur Schaffung solcher Rechte oder zur Absenkung der Minderheitenrechte noch Abstimmungspflichten in Zeiten qualifizierter Großer Koalitionen bestehen und die gefundene Vorschrift des § 126a GO-BT a.F. in weiten Teilen gegen die Verfassung verstößt.15 Die Rechtsordnung ist bei der Aufteilung parlamentarischer Redezeit weniger konkret als bei der Zuweisung von Minderheitenrechten. Redezeit bedeutet Aufmerksamkeit. Die exakte Aufteilung der Redezeit im Deutschen Bundestag ist nicht in der Geschäftsordnung geregelt. Vielmehr wird die wichtigste Frage der Redeordnung – die nach der Redezeit – von einem teils formalen und teils informalen sowie fragmentierten System parlamentarischer Regelungen beantwortet. Dies entspringt einer langen Tradition von Redeordnungen deutscher Parlamente. Außerdem ist die Aufteilung parlamentarischer Redezeit von verschiedenen sich in der Gewichtigkeit verändernden Faktoren abhängig, sodass sich ihre schematische Verteilung verbietet. Ein die parlamentarische Tradition durchdringender Fünfklang verfassungsrechtlich relevanter Determinanten rahmt das Rederecht des einzelnen Abgeordneten nach Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG ein und beeinflusst es von unterschiedlichen Seiten: Parlamentarische Verfahrenssicherung, Redeprivilegien von Mitgliedern des Bundesrates sowie der Bundesregierung, Mandatsgleichheit, Minderheitenschutz und das Prinzip von Rede und Gegenrede müssen im Sinne einer praktischen Konkordanz in Einklang gebracht werden. Dies gelingt dem Bundestag für gewöhnliche Aussprachen (sogenannte „Berliner Stunde“) und Aktuelle Stunden durch eine interfraktionell vereinbarte Aufteilung von Redezeit zu Beginn der Legislaturperiode, indem er den Fraktionen Redezeiten für verschiedene Debattenlängen zuweist. Vor Beginn der Aussprache wird dann nur noch die Auswahl der Debattenlänge getroffen. In Phasen Großer Koalitionen wird die ohnehin komplizierte Frage der Redezeiten durch die besonderen Mehrheitsverhältnisse beeinflusst. Sofern den Abgeordneten verhältnismäßig gleich viel Redezeit zugesprochen werden soll, gibt es im Parlament der besonders mandatsstarken Großen Koalition nur wenig Raum für Rede und Gegenrede. Eine Pflicht zur Verlängerung der Redezeit für die Opposition in Phasen solcher Großer Koalitionen besteht jedoch nicht. Auch im Rahmen der Redezeit widerspräche eine solche Verfassungspflicht der Mandatsgleichheit – jeder Abgeordnete hat grundsätzlich das gleiche Rederecht und auch 15

Siehe 2. Kapitel.

A. Zusammenfassung

353

Anspruch auf die gleiche Redezeit. Andersherum ist aber eine Redezeitverlängerung für eine mandatsschwache Opposition in Zeiten qualifizierter Großer Koalitionen nicht verfassungswidrig. Zwar handelt es sich auch hierbei um eine verhältnismäßige Besserstellung der oppositionellen Abgeordneten gegenüber den die Regierung tragenden Abgeordneten. Oppositions- und Verhandlungsgrundsatz stellen jedoch einen besonderen Grund zur Differenzierung dar. Anders als im Rahmen der Minderheitenrechte existieren keine ausdrücklichen Vorgaben in der Verfassung. Außerdem gelten andere Maßstäbe in der Plenardebatte, da sie andere Ziele als die Zuweisung parlamentarischer Minderheitenrechte verfolgt, namentlich die Sichtbarmachung des politischen Streits, insbesondere Kritik und Alternativen. In manchen Bundesländern existieren Redezeitmodelle, die der Parität den Vorzug vor einem Proporzprinzip geben. Auch solche Redezeitmodelle sind rechtfertigungsfähig. Die Verfassung als Rahmenordnung gibt kein Redezeitenmodell vor. Vielmehr hat der Bundestag auch hier einen weiten Gestaltungsspielraum. Dementsprechend war die Redezeitverlängerung der beiden Oppositionsfraktionen in der 18. Wahlperiode, sowohl in gewöhnlichen Aussprachen als auch in Aktuellen Stunden, um mindestens 25 % verfassungsgemäß. Charakteristisch für die Redezeitenverteilung ist, dass ihre Verlängerung auf der einen Seite eine Verkürzung auf der anderen Seite zur Folge hat.16 Ferner erhöhte der 18. Deutsche Bundestag den Oppositionszuschlag nach § 50 Abs. 2 Satz 1 AbgG. Parlamentsfinanzierung besteht aus Abgeordneten- sowie Fraktionsfinanzierung. Fraktionen sind notwendige Einrichtungen des Verfassungslebens17, denen auch von Verfassungs wegen bedeutende – zu finanzierende – Aufgaben zukommen. Die verfassungsrechtlich gebotene Fraktionsfinanzierung deckt die Kosten für die Koordinierung der Fraktionen. Der Oppositionszuschlag ist neben einem Grund- und Steigerungsbetrag Teil der Fraktionsfinanzierung. Er zählt mittlerweile zum festen parlamentarischen Inventar, sowohl auf Bundes- als auch auf Landesebene. Trotz der finanziellen Besserstellung der Oppositions- gegenüber den Regierungsfraktionen ist der Oppositionszuschlag verfassungsgemäß. Dies ist einerseits negativ in dem Ausgleich struktureller informationeller Nachteile der Abgeordneten der Opposition gegenüber den Abgeordneten der Regierungsfraktionen und andererseits positiv in den besonderen Anforderungen an die oppositionelle Aufgabenbewältigung begründet.18 Überdies ist die Auszahlung eines Oppositionszuschlages lediglich an die Fraktionen gegenüber den einzelnen oppositionellen Abgeordneten gerechtfertigt, da es sich um eine Erstattung der Koordinierungskosten handelt und den Fraktionen eine besondere Stellung im Parlament zukommt.19 Parlamentarischen Gruppen muss der Oppositionszuschlag allerdings gewährt

16 17 18 19

Siehe 3. Kapitel. BVerfGE 70, 324 (350 f.); 80, 188 (219); auch schon BVerfGE 10, 4 (14); 43, 142 (147). Vgl. an dieser Stelle nur Waldhoff, in: Austermann/Schmahl, AbgG, § 50 Rn. 15. StGH Bremen, NVwZ 2005, 929 (932).

354

6. Kap.: Fazit

werden, wenn auch nicht in Höhe der Fraktionszahlungen.20 Der Oppositionszuschlag erweist sich anders als die Fraktionsfinanzierung insgesamt aber nicht als von Verfassungs wegen geboten. Wie im Rahmen der Redezeit sind ein Oppositionszuschlag und die Ungleichbehandlung von Abgeordneten aber durch den Grundsatz effektiver Opposition gerechtfertigt. Eine Erhöhung des Oppositionszuschlages in Zeiten qualifizierter Großer Koalitionen ist ebenfalls nicht geboten, dafür aber möglich und begrüßenswert, da das oppositionelle Bedürfnis nach tatsächlich gesteigerten Finanzmitteln in Phasen solcher besonders mandatsstarker Großer Koalitionen ansteigt. Die Mandatsschwäche der Opposition führt im Ergebnis dazu, dass sich Steigerungsbetrag und Oppositionszuschlag stark verringern. Gleichzeitig erhöht sich das Informationsgefälle zwischen Regierungs- und Oppositionsfraktionen, da mehr Abgeordnete der Koalition und weniger Abgeordnete der Opposition Zugang zum Beamtenapparat der Regierung haben.21 Schließlich untersuchte die Arbeit die Einsetzung eines sogenannten Hauptausschusses nach der Bundestagswahl 2013. Ein solcher „Super-Ausschuss“, der zu Beginn der Wahlperiode bis zur Konstituierung der Fachausschüsse tagt, um ihre Aufgaben vorübergehend wahrzunehmen, ist kein Sonderausschuss i.S.v. § 54 Abs. 1 Satz 2 GO-BT, sondern ein Ausschuss sui generis. Obwohl begriffliche Vorgänger und historische sowie zeitgenössische Vorbilder existieren, ist ein Hauptausschuss des Deutschen Bundestages in seiner Charakteristik ein Novum. Die Einsetzung eines Hauptausschusses fördert einige verfassungsrechtliche Fragen zutage: Eine verzögerte Einsetzung der Fachausschüsse erweist sich nicht als verfassungswidrig, weil das Grundgesetz von „Ausschüssen“ in der Mehrzahl ausgeht. Denn daraus ergibt sich keine Pflicht zur Einsetzung aller vorgesehenen Fachausschüsse schon in der ersten Sitzung des neugewählten Parlaments. Der Wortlaut des Grundgesetzes ist sprachlichen Überlegungen geschuldet, er bezieht sich auf den politischen Regelfall. Problematischer ist ein Hauptausschuss dagegen mit Blick auf die ausdrückliche Normierung von „Pflichtausschüssen“ im Grundgesetz, Art. 45, 45a und 45c GG. Die vier Ausschüsse – für Angelegenheiten der Europäischen Union, auswärtige Angelegenheiten, Verteidigung sowie Petitionen – müssen eingesetzt werden, und zwar isoliert voneinander. Dennoch wird die institutionelle Bestandsgarantie der Pflichtausschüsse durch die Einsetzung eines Hauptausschusses nicht angetastet, da eine Frist zur Einsetzung nicht existiert und die andauernde Regierungsbildung eine kurzzeitig verzögerte Einsetzung rechtfertigt. Dem Hauptausschuss der 18. Wahlperiode oblagen jedoch die Aufgaben aller Fachausschüsse: Dies konfligiert mit der vom Verfassungswortlaut vorgesehenen kompetenziellen Bestandsgarantie, also der Aufgabentrennung der Pflichtausschüsse. Verfassungswidrig ist die übergangsweise Einsetzung eines Hauptausschusses aber nicht. Aus Telos und Genese der Art. 45, 45a und 45c GG geht hervor, dass ein nur vorübergehend tagender Hauptausschuss den grundgesetzlichen Vor20 21

BVerfGE 84, 304 (324). Siehe 4. Kapitel.

A. Zusammenfassung

355

schriften nicht im Wege steht. So liegt der verfassungsrechtlichen Verankerung der Pflichtausschüsse weitaus weniger die Überlegung einer klaren Kompetenzabgrenzung zugrunde als die Stärkung des Bundestages in Angelegenheiten der Europäischen Union, die parlamentarische Kontrolle in Fragen des Auswärtigen und der Verteidigung sowie die Verbesserung des Petitionsverfahrens. Die verfassungsrechtlichen Bedenken gegenüber einer Entleerung der Bestandsgarantie der Art. 45, 45a und 45c GG schlagen nicht durch, wenn ein Hauptausschuss kurzzeitig bis zur Regierungsbildung und Einsetzung der Pflichtausschüsse ihre Funktionen übernimmt. Die Verfassung weist den Pflichtausschüssen aber darüber hinaus mit Ausnahme des Ausschusses für auswärtige Angelegenheiten Sonderbefugnisse zu, deren Wahrnehmung zu einer Rechtsbetroffenheit Dritter führen kann. Die Sonderbefugnisse des Europaausschusses (Art. 45 Satz 2 und 3 GG) und des Petitionsausschusses (Art. 45c Abs. 1 GG) kann ein Hauptausschuss zeitweise übernehmen, nicht aber die des Verteidigungsausschusses als Untersuchungsausschuss (Art. 45a Abs. 2 Satz 1 GG) mit seinen strafprozessualen Befugnissen gegenüber Privaten. Hier muss der Parlamentsbeschluss verfassungskonform ausgelegt werden; ein Hauptausschuss besitzt kein Untersuchungsrecht in Verteidigungssachen. Neben den ausdrücklichen Bestimmungen zu den Pflichtausschüssen setzt das Grundgesetz dem Bundestag in seiner Selbstorganisation Grenzen, indem es zum Schutz von parlamentarischen Minderheiten und Opposition verpflichtet. Der Hauptausschuss ist zwar keine unmittelbare parlamentarische Reaktion auf eine großkoalitionäre Regierungsbildung. Die Mehrheitsverhältnisse einer qualifizierten Großen Koalition werden jedoch in den Hauptausschuss projiziert. Formal war die Opposition im Hauptausschuss der 18. Wahlperiode zwar überrepräsentiert, dennoch marginalisierte der Hauptausschuss die oppositionelle Parlamentsminderheit auf zehn Sitze. Nur jeweils fünf Abgeordnete der späteren Oppositionsfraktionen waren im Hauptausschuss vertreten. Die übliche sachliche und personelle Arbeitsaufteilung in Ausschüssen und Fraktion wird für die mandatsschwachen Oppositionsfraktionen in einem Hauptausschuss erschwert. Die ohnehin verminderten Wirkungsmöglichkeiten der oppositionellen Minderheit werden im Hauptausschuss weiter vertieft. Eine Funktionsgefährdung der Opposition folgt aus der Einsetzung eines Hauptausschusses aber nicht. Vielmehr stellt sich im Rahmen einer verfassungsrechtlichen Untersuchung eines Hauptausschusses daher die Frage nach der Gleichheit der Abgeordneten gemäß Art. 38 Abs. 1 GG insgesamt. Ungleichbehandlungen von Abgeordneten sind rechtfertigungsbedürftig, für sie braucht es einen besonderen Grund. Zwar wird der sogenannte Grundsatz der Spiegelbildlichkeit von Plenum und Ausschüssen als Emanation der Mandatsgleichheit durch den Hauptausschuss weder formell noch materiell verletzt. Ein Großteil der Mandatsträger war während der Tagungszeit des Hauptausschusses der 18. Wahlperiode jedoch gar nicht an der Ausschussarbeit beteiligt. Eine ausdrückliche Bestimmung, die einen Hauptausschuss normiert, kennt das Grundgesetz nicht. Als Rechtsgrundlage für dessen Einsetzung dient Art. 40 Abs. 1 Satz 2 GG. Seine Rechtfertigung findet der Hauptausschuss in der Aufrechterhaltung der Funktionsfähigkeit des parlamentarischen Betriebes bis zur Regierungsbildung und Konstituierung der Fachausschüsse,

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6. Kap.: Fazit

denn er hat den Zweck, die Erledigung der Aufgaben des Bundestages in Zeiten der Regierungsfindung zu vereinfachen. In einem Ausschuss lassen sich die Beschlüsse des Plenums sachgerecht und vorzugsweise vorbereiten. Die konkreten Tätigkeiten des Hauptausschusses der 18. Wahlperiode bestätigen, dass Gesetzgebungs- sowie Kontrolltätigkeit auch in Zeiten einer geschäftsführenden Bundesregierung notwendig werden können. Den Abgeordneten, die nicht an der Arbeit im Hauptausschuss beteiligt waren, blieb zumindest die Einflussnahmemöglichkeit durch ihre Anwesenheits- und Antragsrechte im Ausschuss sowie ihre vollständigen Rechte im Plenum. Im Übrigen konnten sie über „ihre“ entsandten Fraktionskollegen Einfluss auf die Arbeit im Hauptausschuss gewinnen. Die Einsetzung eines vorübergehend tagenden Hauptausschusses ist von Verfassungs wegen gerechtfertigt.22 Die Gemeinsamkeit der dargestellten Verfassungsfragen liegt im Konflikt verfassungsrechtlicher Grunddeterminanten – im Wesentlichen zwischen der Abgeordnetengleichheit und dem Bedürfnis einer Stärkung der parlamentarischen Opposition in Zeiten qualifizierter Großer Koalitionen – und der parlamentarischen Suche nach einer ausgleichenden und zweckmäßigen Lösung im Sinne eines weiten Selbstorganisationsrechts. Besonders fällt dabei ins Auge, dass Mandatsgleichheit und Minderheitenschutz unauflösbar ineinander verwoben sind, Mandatsgleichheit und Oppositionsschutz jedoch in einem Konfliktverhältnis stehen. Im Rahmen von Redezeit und Oppositionszuschlag wird diese verfassungsimmanente Spannungslage besonders deutlich: Einerseits ist eine nicht streng-proportionale Redezeitenverteilung bzw. ein Oppositionszuschlag mit Blick auf den formalen Gleichheitssatz bereits problematisch. Andererseits sind eine Verlängerung der Redezeit von Oppositionsfraktionen und eine Anhebung des Oppositionszuschlages in Zeiten besonders mandatsstarker Großer Koalitionen rechtfertigungsfähig.

B. Politische Handlungsalternativen im Parlament der qualifizierten Großen Koalition Zentrale Aufgabe für das Parlamentsrecht ist es, die Entscheidungsfindung im Parlament zu regeln und gleichzeitig offen zu sein für neue politische Entwicklungen.23 Ungeachtet der gewonnenen rechtsdogmatischen Erkenntnisse, soll eine kurze rechtspolitische Bewertung der untersuchten Verfassungsfragen in einer parlamentsrechtlichen Arbeit wie dieser nicht fehlen.

22 23

Siehe 5. Kapitel. Vgl. dazu Morlok/Schliesky/Wiefelspütz, in: dies., Parlamentsrecht, Vorwort S. 7.

B. Politische Handlungsalternativen im Parlament

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I. Minderheitenrechte Die Meinungen zum Umgang mit dem Phänomen einer qualifizierten Großen Koalition und einer besonders mandatsschwachen Opposition gehen weit auseinander. Die Vorschrift des § 126a GO-BT a.F. zum Schutz parlamentarischer Minderheiten war nicht gelungen. Rechtssicherheit wurde nicht erreicht.24 Eine Aporie entsteht dadurch keineswegs. Es können andere Vorkehrungen25 getroffen werden, um die Wirkungsmöglichkeiten der parlamentarischen Opposition in Zeiten einer qualifizierten Großen Koalition zu bewahren:26 Verfassungsänderungen im Zuge besonderer politischer Mehrheitsverhältnisse stellen dabei die weitgehendste Überlegung dar. Gesetzliche oder geschäftsordnungsrechtliche27 Regelungen sind nicht in der Lage, verfassungsrechtliche Vorgaben zu umgehen. In den Fällen, in denen Minderheitenquoren in Gesetzen und in der Geschäftsordnung geregelt sind, entfalten solche Nachjustierungen aber rechtliche Wirkung.28 Zuletzt kann – wie in der 5. Wahlperiode29 oder auch in einigen Bundesländern geschehen30 – zugunsten 24 Dies ist aber notwendig, so auch Cancik, ZParl. 48 (2017), 516 (520): „Man sollte sich nun nicht damit beruhigen, dass qualifiziert große Koalitionen ein Ausnahmefall sind, denn auch ein solcher bedarf ausreichender rechtlicher Verfasstheit, wenn es um das Zentrum des parlamentarischen Regierens geht.“ 25 Dies., ZParl. 48 (2017), 516 (525). 26 Die gegenteiligen Ansichten werden insbesondere von den Prozessbevollmächtigten im Organstreitverfahren der Fraktion DIE LINKE gegen den Deutschen Bundestag vertreten, vgl. insgesamt Schneider/Schwarz, Parlamentarische Opposition zwischen Effektivität und Egalität. 27 Darunter fällt auch eine von Lammert vorgeschlagene Regelung durch Parlamentsbeschluss, Meiritz, Lammert-Papier räumt Opposition mehr Rechte ein, 16. 1. 2014, http://www. spiegel.de/politik/deutschland/bundestagspraesident-norbert-lammert-und-oppositionsrechte-a943893.html, zuletzt geprüft am 26. 4. 2018. Ein Plenarbeschluss würde zwar den temporären Charakter der Regelung unterstreichen, gleichzeitig aber eine konstante Abweichung von der Geschäftsordnung bedeuten. Überdies wurde von der Möglichkeit des Plenarbeschlusses auf Wunsch der parlamentarischen Opposition abgesehen, da von einem solchen weniger politische Strahlkraft ausgeht als von einer Geschäftsordnungsbestimmung. Plenarbeschluss und formelle Geschäftsordnung sind gleichrangig, die Schwachstellen einer solchen Lösung auf Geschäftsordnungsebene sind identisch: Ein Plenarbeschluss stünde letztlich vor den gleichen Problemen wie die Vorschrift des § 126a GO-BT a.F. 28 Dies gilt nur nach der hier vertretenen Auffassung einer Gleichrangigkeit von Gesetz und Geschäftsordnung in den seltenen Fällen einer Normkollision, dazu 2. Kapitel F. I. 6. c). 29 Vgl. zu den Sorgen um die Opposition von 1966 bis 1969 v. Krockow, Bonns Sündenfall, Die Zeit vom 16. 12. 1966, S. 3, der die Große Koalition in einer Elegie als demokratiefremden und systemgefährdenden Sündenfall bezeichnet. Siehe auch Kiesinger, in: BT-Plenarprotokoll 5/80 vom 13. Dezember 1966, S. 3657 (A); vgl. auch die vorgetragene Sorge bei Arndt, Neue Sammlung 8 (1968), 1 (8); in diesem Kontext allgemein zu damaligen Bestrebungen, die Geschäftsordnung zu ändern: Thaysen/Schindler, ZParl. 1 (1969), 20 – 27; Giesing, DÖV 1970, 124 – 125; Scheuner, FS Eschenburg, S. 143 – 160; Achterberg, Parlamentsrecht, S. 63. Zum Thema „parlamentarischer Minderheitenschutz in der Geschäftsordnung“ gab es ferner außerhalb der Tagesordnung im Geschäftsordnungsausschuss eine kurze Beratung; siehe die Äußerungen in der zehnten Sitzung des Ausschusses für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung (Geschäftsordnungsangelegenheiten) vom 16. Dezember 1967, in: Ausschussprotokoll, PA-DBT 3101 5. Wahlperiode, Protokoll 10, S. 4 ff. Die FDP scheiterte da-

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6. Kap.: Fazit

von politischen Absichtserklärungen gänzlich auf rechtliche Nachjustierungen verzichtet werden. Im Ergebnis ist die Einrichtung von – rechtlich verbindlichen – Fraktionsrechten im Grundgesetz, in Gesetzen und der Geschäftsordnung wünschenswert.31 Fraktionen agieren anders als die Opposition als politische Einheit. Ungeachtet der Absage des Bundesverfassungsgerichts an Oppositionsrechte insgesamt,32 führte eine Rechtszuweisung an die Opposition zur Folgefrage, wie diese denn überhaupt definiert sei. Bisher war mindestens eine Fraktion in der Opposition vertreten. Eine einfache Absenkung der Minderheitenquoren würde die Problematik lediglich verschieben.33 In der 5. Wahlperiode hätte die FDP-Opposition nicht einmal ein mals mit dem Versuch, die verfassungsrechtlichen Minderheitenquoren zum Einberufungsrecht und zum Enqueterecht geschäftsordnungsrechtlich abzusenken, vgl. dazu Ritzel/Bücker/ Schreiner/Winkelmann, HdbPP, 22. EL Juni 2005, Erl. f) zu § 126, S. 3. Vertreter der damaligen großkoalitionären Regierungsfraktionen verwiesen darauf, dass sich die Zusammensetzung des Bundestages verändere und zeitbedingte Änderungen später nicht ebenso leicht wieder rückgängig zu machen seien; Stefan Dittrich (CSU) in der zehnten Sitzung des Ausschusses für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung (Geschäftsordnungsangelegenheiten) vom 16. Dezember 1967, in: Ausschussprotokoll, PA-DBT 3101 5. Wahlperiode, Protokoll 10, S. 4. Das Zahlenverhältnis zwischen Regierungsparteien und Opposition in einer Großen Koalition sei vielmehr eine Anomalie, Hans Dichgans (CDU) in der zehnten Sitzung des Ausschusses für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung (Geschäftsordnungsangelegenheiten) vom 16. Dezember 1967, in: Ausschussprotokoll, PA-DBT 3101 5. Wahlperiode, Protokoll 10, S. 5. Der Ausschussvorsitzende sicherte der damaligen FDP-Opposition insofern Zusammenarbeit zu, dass berechtigten Anliegen der Opposition von Seiten seiner Fraktion Rechnung getragen werde, Bauer in der zehnten Sitzung des Ausschusses für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung (Geschäftsordnungsangelegenheiten) vom 12. Dezember 1967, in: Ausschussprotokoll, PA-DBT 3101 5. Wahlperiode, Protokoll 10, S. 4 f. 30 Vgl. den Passus zum Schutze der Opposition in der rot-schwarzen Koalitionsvereinbarung in der 16. Wahlperiode der Bremischen Bürgerschaft von 2003, SPD und CDU in Bremen, Vereinbarung zur Zusammenarbeit in einer Regierungskoalition für die 16. Wahlperiode der Bremischen Bürgerschaft, 30. 6. 2003, http://www.spd-land-bremen.de/Binaries/Binary2111/up loadsmediakoav-spd-cdu-20.pdf, S. 115, zuletzt geprüft am 26. 4. 2018. In der 16. Wahlperiode des Landtages Schleswig-Holstein gab es ebenfalls eine ausführlichere Erklärung der schwarzroten Bündnispartner im Koalitionsvertrag von 2005, CDU und SPD in Schleswig-Holstein, In Verantwortung für Schleswig-Holstein: Arbeit, Bildung, Zukunft, 16. 4. 2005, http://www.rain erwiegard.de/download/Koalitionsvertrag-CDU-SPD.pdf, S. 58, zuletzt geprüft am 26. 4. 2018. 31 Vgl. Heinig, Opposition tut not, 21. 10. 2013, http://verfassungsblog.de/opposition-tutnot/, zuletzt geprüft am 26. 4. 2018. A.A. Rossi, JZ 2016, 1169 (1170 f.). Siehe ausführlich 2. Kapitel B. II. 5. a). 32 Siehe dazu schon 2. Kapitel D. II. 33 Dafür plädierend Christoph Degenhart in NOZ, Gespräch mit dem Leipziger Staatsrechtler Christoph Degenhart, 1. 10. 2013, http://www.presseportal.de/pm/58964/2567115, zuletzt geprüft am 26. 4. 2018; auch Morlok bei Kosfeld, Wirksame Kontrolle ist nötig, Das Parlament vom 14. 10. 2013, S. 22. Insgesamt zur Kontroverse einer Grundgesetzänderung, dafür Depenbrock, Bewährungsprobe, Das Parlament vom 28. 10. 2013, S. 2, dagegen Müller, Respektlos, Das Parlament vom 28. 10. 2013, S. 2. In manchen Bundesländern sind die Hürden für die Ausübung von Minderheitenrechten geringer. Für die Einsetzung eines Untersuchungsausschusses genügt in den meisten Bundesländern bereits eine Antragsminderheit von

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Zehntelquorum erreicht. Um Obstruktionen zu vermeiden, können Minderheitenrechte von der Beteiligung zweier Fraktionen abhängig gemacht werden (wie z.B. stellenweise im ESM-Finanzierungsgesetz und Stabilisierungsmechanismusgesetz). Dies kann – wie in Baden-Württemberg geschehen – zu Rechtsunklarheiten führen.34 Dort spaltete sich zwischenzeitlich ein Teil der AfD-Fraktion zu einer eigenen Fraktion ab,35 zusammen beantragten sie die Einsetzung eines Untersuchungsausschusses.36 Aufgrund der beschriebenen Regelung im baden-württembergischen Untersuchungsausschussgesetz lag eine Einsetzungspflicht nach dem Wortlaut der Vorschrift vor, § 2 Abs. 3 Satz 1 UAG Baden-Württemberg. Bei der Verankerung solcher Rechte wäre dementsprechend eine klarstellende Regelung wünschenswert (siehe § 2 Abs. 3 Satz 1 UAG Baden-Württemberg n.F.). In der Gestaltung von Fraktionsrechten liegt aber insgesamt eine Stellschraube37, den Grundsatz funktionaler Opposition mit Inhalt zu füllen. Dies soll durchaus als Beitrag zu der von Cancik angeregten Debatte38 um das zu lösende Problem von wirkungsschwacher Opposition aufgefasst werden.39 Fraktionsrechte können katalysierend für die Wirkungskraft von parlamentarischer Opposition sein und ihren Aktionsraum erweitern. Wer nun die individuelle Oppositionsmöglichkeit des einzelnen Abgeordneten als zukunftsweisende Lösung für eine Reaktivierung politischen Wettbewerbs ansieht, verliert dagegen die Realität aus den Augen.40 Eine „Re-Individualisierung des Parlamentsrechts“41 mag verheißungsvoll klingen, sie passt aber nicht in die Losung der Zeit. Fraktionen sind nicht nur „aus der Parlamentsautonomie hervorgegangene einem Fünftel der Abgeordneten. Vgl. die Nachweise bei Rixecker, FS Wendt, S. 1273; Morlok, in: Dreier, GG, Bd. 2, Art. 44 Rn. 7, Fn. 32. 34 Vgl. zur rechtlichen Fragestellung Hölscheidt, Das Recht der Parlamentsfraktionen, S. 48, 406 f.; Wissenschaftliche Dienste des Deutschen Bundestages, Zulässigkeit einer Fraktionsspaltung. Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 174/16 vom 11. 7. 2016. In Bezug auf das Verfahren vor dem baden-württembergischen Verfassungsgerichtshof VerfGH Baden-Württemberg, Urteil vom 13. Dezember 2017 – 1 GR 29/17 –, juris Rn. 73. 35 Auch in Mecklenburg-Vorpommern gibt es mit der BMV-Fraktion seit dem 25. September 2017 eine neue Fraktion neben der AfD-Fraktion. 36 Vgl. dazu nur Soldt, Antrag der AfD abgelehnt, FAZ vom 29. 9. 2016, S. 4; FAZ, Die Maske der AfD, FAZ vom 29. 9. 2016, S. 8. 37 A.A. Rossi, JZ 2016, 1169 (1170 f.); wie hier eher kritisch gegenüber dieser Position Cancik, ZParl. 48 (2017), 516 (528 Fn. 53). 38 Dies., ZParl. 48 (2017), 516 (526 f.). 39 Insgesamt weisen die Diskussionen um die Wirkungsweisen parlamentarischer Opposition und die Reichweite verfassungsrechtlichen Minderheitenschutzes viele Parallelen auf. Die Ausführungen zum Kern parlamentarischen Minderheitenschutz sind dementsprechend auch für die Wirkungsweise von Opposition von Bedeutung, siehe dazu nochmals 2. Kapitel B. II. 6. c). Werden Minderheitenrechte als Ausprägung des Oppositionsgrundsatzes verstanden, kann im Kern parlamentarischen Minderheitenschutzes auch eine Antwort auf die von Cancik gestellte Frage nach dem konkreten Inhalt parlamentarischer Opposition liegen; dies., ZParl. 48 (2017), 516 (520). 40 Das erkennt ebenfalls an Volkmann, ZParl. 48 (2017), 473 (483). 41 Ingold, Das Recht der Oppositionen, S. 432.

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6. Kap.: Fazit

Formen der Selbstorganisation“42 und Ergebnis der Freiheit der Abgeordneten, – das Bundesverfassungsgericht wird nicht müde dies zu betonen43 – sie sind notwendige Einrichtungen des Verfassungslebens und maßgebliche Faktoren der parlamentarischen Willensbildung. Darüber hinaus stehen die Fraktionen für politische Grundausrichtungen, sie bieten dem Wahlbürger bei einem Parlament mit mindestens 598 Abgeordneten die entscheidende Orientierungshilfe. Joachim Linck bescheinigte den Fraktionsrechten schon früh die Geeignetheit, eher als jedes andere Quorum der Forderung nach einem effizienten herrschafts- und funktionsfähigen Parlament zu entsprechen.44 Dies ist auch heute noch so. Mag das Bundesverfassungsgericht die Stellung des einzelnen Abgeordneten auch akzentuieren,45 es spricht sich keineswegs gegen Opposition durch Fraktionen aus. Sie sind es, die im Bundestag das politische Geschehen dominieren. Das ist trotz der hervorgehobenen Stellung des einzelnen Abgeordneten im Grundgesetz und auch in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ein rechtskonformer wie logischer Gang der Dinge. Quorenrechte sollen nicht abgeschafft, sondern separat um Fraktionsrechte ergänzt werden, um interfraktionelle Wirkungschancen nicht einzuschränken und der Gefahr verkürzter Abgeordnetenmöglichkeiten entgegenzuwirken.46 Die Schaffung von Fraktionsrechten auf den verschiedenen Regelungsebenen verspricht Erfolg. Im Übrigen besteht mit den vorhandenen Abgeordneten- und Fraktionsrechten ein schlagkräftiges Instrumentarium für die Parlamentsopposition, wenn es gezielt und angemessen eingesetzt wird.

II. Redezeiten In der Bundesrepublik existiert eine Vielzahl verschiedener Redezeitmodelle.47 Die Landesparlamente legen unterschiedliche Schwerpunkte. Manche Landesparlamente kennen Redezeitvereinbarungen, die streng nach dem Proporzprinzip verfahren48 oder zumindest ähnlich wie die des Bundestages einer proportionalen Be-

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Rossi, JZ 2016, 1169 (1170). BVerfGE 70, 324 (350 f.); 80, 188 (219); nicht zuletzt auch in BVerfGE 142, 25 (61); auch schon BVerfGE 10, 4 (14); 43, 142 (147). 44 Linck, DÖV 1975, 689 (692). 45 BVerfGE 142, 25 (60 ff.); vgl. zudem Volkmann, ZParl. 48 (2017), 473 (482), der das Gericht so interpretiert, dass es den einzelnen Abgeordneten in den Mittelpunkt der Oppositionsarbeit insgesamt stellt. 46 A.A. Rossi, JZ 2016, 1169 (1170); nicht ganz so weitgehend Cancik, ZParl. 48 (2017), 516 (528). 47 Vgl. dazu auch Wissenschaftliche Dienste des Deutschen Bundestages, Parlamentarische Beratungsfülle und öffentliche Debatte. Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 227/13 vom 5. 2. 2014, S. 9 f. 48 Siehe § 71 Abs. 1 GO-LT Niedersachsen, § 62 Abs. 2 GO-LT Sachsen-Anhalt. 43

B. Politische Handlungsalternativen im Parlament

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trachtung anhand der Fraktionsstärke mehr Gewicht einräumen.49 In anderen Landesparlamenten gibt es rein paritätische Fraktionsredezeiten unabhängig von der Fraktionsstärke.50 Viele von ihnen kombinieren – ähnlich wie der Bundestag – Proporz- und Paritätselemente.51 Darin liegt im Ergebnis auch der Schlüssel, um in Phasen einer qualifizierten Großen Koalition alle für eine parlamentarische Debatte relevanten Determinanten zu berücksichtigen. Eine reine Proportionalisierung von Redezeiten führt zwar theoretisch dazu, dass den Abgeordneten die gleiche Chance zu reden zukommt. Je mehr die Fraktionsstärke zur Berechnungsgrundlage von Redezeiten wird, desto größer ist aber die Gefahr einer Mediatisierung der Abgeordneten durch ihre Fraktionen. Gleichzeitig wäre eine Aufteilung der Redezeit auf 598 Abgeordnete weder umsetzbar noch erstrebenswert, da erstens ein Großteil des Gesagten wiederholt würde und zweitens auch nicht jeder Abgeordnete zu jedem Thema sprechen könnte und wollte. Die Nachteile des Proportionalitätsprinzips treten in Zeiten qualifizierter Großer Koalitionen offen zutage. Die parlamentarische Auseinandersetzung gerät in eine Schieflage, die Opposition kann der Koalition nur wenig entgegensetzen. Das paritätische Verteilungssystem wird dem Dualismus von Regierung und der sie tragenden Regierungsmehrheit einerseits sowie Opposition andererseits nur dann gerechter, wenn die gleiche Fraktionsanzahl auf Seiten von Regierungsmehrheit und Opposition steht. Außerdem orientiert sich das Paritätsprinzip nur an den Fraktionen und gar nicht mehr an den Abgeordneten.52 Die Schwächen von Proporz und Parität müssen im Ergebnis zu einem flexiblen Kombinationsmodell der beiden Verteilungssysteme führen. Auch der Einfluss des Bundestagspräsidenten auf die parlamentarische Debatte bleibt wichtig. Seiner Redeleitung kann eine ausgewogene Debatte zu verdanken sein.53 Ungeachtet dessen ist eine Redezeitaufteilung wie in der 18. Wahlperiode angesichts der personellen Dominanz der Regierungsseite noch immer unzureichend. Eine Demokratie braucht Rede und Gegenrede, die Aneinanderreihung von Vorträgen aus Reihen der Koalition schadet dem Parlament als Zentrum der politischen Auseinandersetzung. Eine Redezeit für die Opposition von mindestens 40 % ist verfassungspolitisch wünschenswert, sofern die Opposition auch in Phasen qualifizierter Großer Koalitionen wie bisher zumindest Fraktionsstärke erreicht. Die eigene Erfahrung in der parlamentarischen Opposition, die po49 Siehe § 84 Abs. 1 i.V.m. Anlage 6 GO-LT Mecklenburg-Vorpommern, § 33 Abs. 1 GO-LT Nordrhein-Westfalen, § 44 Abs. 1 i.V.m. Anlage 4 GO-LT Saarland, § 78 Abs. 1 GO-LT Sachsen-Anhalt. 50 Vgl. die neue Regelung in §83a GO-LT Baden-Württemberg; im Übrigen § 109 Abs. 1 i.V.m. Anlage 1 GO-LT Bayern, § 64 GO-Abghs. Berlin, § 45 GO-Bürg. Bremen, § 72 Abs. 1 i.V.m. Anlage 1 GO-LT Hessen, § 56 Abs. 2 GO-LT Schleswig-Holstein. 51 Siehe vor allem § 28 Abs. 1 i.V.m. Anlage 1 GO-LT Brandenburg, § 42 Abs. 1 i.V.m. Anlage 2 GO-Bürg. Hamburg, § 29 Abs. 1 GO-LT Thüringen. 52 Demmler, Der Abgeordnete im Parlament der Fraktionen, S. 480. 53 Siehe dazu wiederum die Debatte um den Euro-Rettungsschirm, BT-Plenarprotokoll 17/ 130 vom 29. September 2011, S. 15226 (A) und 15230 (A) f.

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6. Kap.: Fazit

litische Reziprozität, schien für eine derartige Anpassung der Redezeiten in der 18. Wahlperiode nicht ausgeprägt genug gewesen zu sein. Eine „Durchnormierung“ der Redezeiten in der Geschäftsordnung nach Ländervorbild ist nicht notwendig. Von manchen Redezeitenmodellen in den Landesparlamenten gehen dennoch richtige Impulse aus. In Rheinland-Pfalz wird z.B. nach einem Paritätssystem verfahren, das aber in § 30 Abs. 1 Satz 3 GO-LT RheinlandPfalz ausdrücklich auch auf Koalitions- und Oppositionszugehörigkeit Rücksicht nimmt. In der vorherigen Fassung der Vorschrift wurde sogar der Fall berücksichtigt, in dem nur eine Fraktion die Regierung stützt oder nicht stützt.54 Ferner ist ein generelles Rederecht der Fraktionsvorsitzenden diskutabel. In § 70 Abs. 1 Satz 3 GO-LT Niedersachsen existiert dies, aber nur im Rahmen der eigenen Fraktionsredezeit.55 Eine Regelung, die neben einem paritätischen Redezeitmodell einzelnen Abgeordneten stetig drei Minuten Redezeit einräumt, gibt es in § 56 Abs. 4 Satz 5 GO-LT Schleswig-Holstein.

III. Oppositionszuschlag Ungeachtet der parlamentarischen Mehrheitsverhältnisse gibt es Stimmen in der Wissenschaft, die eine generelle Erhöhung des Oppositionszuschlages fordern. Fraktionsfinanzierung sei in erster Linie Oppositionsfinanzierung.56 Auch Andreas Linde schließt sich dieser Kritik an der Aufteilung der Finanzmittel an die Bundestagsfraktionen an. Der Oppositionsbonus sei ausbaufähig. Darüber hinaus nimmt er in seiner Arbeit aus dem Jahr 2000 bereits die Situation einer „große[n] Regierungskoalition“57 in den Blick: „Besonders schwierig ist die Frage der finanziellen Ausstattung der Oppositionsfraktionen bei der Konstellation eines übergroßen Regierungslagers – etwa einer großen Koalition – zu beantworten. Nach der Logik der begrenzten finanziellen Kompensation für den Ausgleich von Chancenungleichheiten müßte kleinen Oppositionsfraktionen ein besonders kräftiger Zuschlag gewährt werden, da die Kontrollfunktion des Parlaments faktisch einer kleinen Gruppe anvertraut ist. Allerdings ist zu vermeiden, daß die finanzielle Ausstattung im Verhältnis zur Abgeordnetenzahl derart üppig ausfällt, daß sie selbst zu einem Faktor in der Entscheidung über das parlamentarische Rollenverhältnis werden kann. Wenn sich Oppo54

§ 30 Abs. 1 Satz 1 bis 3 GO-LT Rheinland-Pfalz a.F.: „Gestaltung und Dauer der Aussprache über einen Verhandlungsgegenstand werden auf Vorschlag des Ältestenrats vom Landtag festgelegt. Dabei ist von einer gleichen Grundredezeit für alle Fraktionen auszugehen. Sofern nur eine Fraktion die Regierung trägt oder sofern nur eine Fraktion die Regierung nicht stützt, erhält diese eine zusätzliche Redezeit in Höhe des 0,5-fachen der nach den Sätzen 1 und 2 festgelegten Grundredezeit.“ 55 Siehe dazu auch LT-Drs. 10/3, S. 3. Zuvor war nur ein Rederecht des Oppositionsfraktionsführers geregelt. 56 Schneider, in: Huber/Mößle/Stock, Zur Lage der parlamentarischen Demokratie, S. 152. Vgl. auch v. Arnim, Die Partei, der Abgeordnete und das Geld, S. 156. 57 Linde, Fraktionsfinanzierung in der parlamentarischen Demokratie, S. 120.

B. Politische Handlungsalternativen im Parlament

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sitionspolitik finanziell lohnte, könnte die Bereitschaft erlahmen, selbst Regierungsverantwortung zu übernehmen.“58

Ungeachtet finanzieller Anreize für oder gegen eine Regierungsbeteiligung bedeutet jede Anhebung der Finanzmittel für nur einen Teil der Fraktionen auch eine Vertiefung der finanziellen Ungleichbehandlung. Alternativvorschläge zur Erhöhung des Oppositionszuschlages in Zeiten Großer Koalitionen – finanzielle wie nicht-finanzielle – begegnen jedoch ebenfalls Vorbehalten. Eine Erhöhung des Grundbetrages, der vor allem den mandatsschwächeren Oppositionsfraktionen nützt, ist mit Blick auf Art. 38 Abs. 1 GG der oben erläuterten Kritik ausgesetzt. Eine gleichbehandelnde finanzielle Ausstattung der Fraktionen bedeutet keinesfalls, dass alle Fraktionen unabhängig von ihrer Mitgliederzahl insgesamt den gleichen Geldbetrag erhalten müssen. Überdies profitieren auch Regierungsfraktionen vom Grundbetrag. Ziel aber ist die Stärkung der Opposition. Auch eine andere Schwerpunktsetzung der dualen innerparlamentarischen Mittelbereitstellung hin zu einer höheren Abgeordnetenentschädigung führt nicht zu einem Ausgleich faktischer Informationsdefizite der Opposition.59 Zu einer funktionalen Opposition fähig sind anders als die einzelnen Abgeordneten die Fraktionen, gegebenenfalls parlamentarische Gruppen.60 Dementsprechend sind es auch die Fraktionen und Gruppen, die für die entscheidende Aufgabe, den parlamentarischen Willensbildungs- und Entscheidungsprozess zu kanalisieren, eine angemessene finanzielle Ausstattung benötigen. Es lohnt sich durchaus, nicht-finanzielle Stellschrauben als Alternative zum Oppositionszuschlag in den Blick zu nehmen, um den strukturellen Nachteilen der Opposition gezielter entgegenzusteuern. Schon 1966 befand Günter Olzog, der Opposition sollten die gleichen Informationsmöglichkeiten erschlossen werden wie der Regierung mit ihrer Bürokratie, um sachliche Arbeit zu fördern.61 Eine „Oppositionsbehörde“ ist aber nicht zielführend. Der Aufbau eines oppositionellen Büroapparats ist weder zweckdienlich noch realisierbar.62 Die Ministerialverwaltung gehört zur Exekutive. Zwischen Opposition und Regierung kann keine Chancengleichheit herrschen, dafür sind ihre Aufgaben zu unterschiedlich.63 Die Opposition ist Teil der Legislative, ihre Möglichkeiten sind nicht mit denen der Regierung vergleichbar. Die faktischen Informationsvorteile, die die Regierungsmehrheit durch 58

Linde, Fraktionsfinanzierung in der parlamentarischen Demokratie, S. 122. Ebenso mit weiteren Nachteilen ders., Fraktionsfinanzierung in der parlamentarischen Demokratie, S. 118. 60 Siehe schon 4. Kapitel B. II. 61 Olzog, Politische Studien Zweimonatszeitschrift für Politik und Zeitgeschehen 17 (1966), 277 (286). 62 So aber Mundil, Die Opposition, S. 162. 63 A.A. Schneider, in: ders./Zeh, Parlamentsrecht und Parlamentspraxis, § 38 Rn. 26; offengelassen in BVerfGE 10, 4 (16); wie hier Poscher, AöR 122 (1997), 444 (466); Haberland, Die verfassungsrechtliche Bedeutung der Opposition nach dem Grundgesetz, S. 168 f. 59

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6. Kap.: Fazit

ihre Vernetzung erhält, kann die Opposition nicht wechselseitig einfordern – sie wären in Art und Umfang auch gar nicht identisch auszugleichen. Ein Oppositionsapparat kann nicht staatlich institutionalisiert werden, sondern muss bei den einzelnen – sich untereinander oftmals politisch unterscheidenden – Oppositionsfraktionen selbst angelegt sein. Möglich erscheint jedoch eine Veränderung der Arbeitsweise der Wissenschaftlichen Dienste, deren Aufgabe darin besteht, die Abgeordneten bei ihren Aufgaben zu unterstützen. Das Bundesverfassungsgericht hielt in Bezug auf den fraktionslosen Abgeordneten im Wüppesahl-Urteil fest, dass ihm der Bundestag durch seine Verwaltung und insbesondere durch seine Wissenschaftlichen Dienste die Leistungen anbiete, die für einen angemessenen Ausgleich der Vorteile von fraktionsangehörigen Abgeordneten notwendig seien: „Dabei ist zu berücksichtigen, daß der fraktionslose Abgeordnete auf eine Zuarbeit in größerem Maße angewiesen ist als der fraktionsangehörige. Dem fraktionslosen Abgeordneten dürfen daher, soweit in zumutbarem Rahmen begehrt, juristischer Rat oder Hilfestellung bei der Formulierung von Anträgen und Initiativen nicht versagt werden, auch wenn solche Leistungen in aller Regel von fraktionsangehörigen Abgeordneten nicht nachgefragt werden. […] Es versteht sich dabei von selbst, daß diese Dienste einem fraktionslosen Abgeordneten, der nicht auf die Unterstützung einer Fraktion zurückgreifen kann, in angemessener Frist zu leisten sind. Allerdings kann es – im Blick auf die politische Neutralität seiner Verwaltung – nicht Sache des Bundestages sein, dem fraktionslosen Abgeordneten über die Lieferung und Aufbereitung von Material hinaus – eine gewissermaßen gebrauchsfertige Ausarbeitung für die politische Auseinandersetzung zu fertigen.“64

Denkbar wäre auch eine Priorisierung der eingehenden Aufträge durch die Abgeordneten der Oppositionsfraktionen oder eine eigene Unterabteilung nur für Aufträge von Oppositionsfraktionen. Die Wissenschaftlichen Dienste des Bundestages bilden ein Gegengewicht zu dem konzentrierten Sachverstand der Ministerialbürokratie,65 weswegen Oppositionsfraktionen grundsätzlich auch mehr auf sie angewiesen sind als Regierungsfraktionen.66 Die Auftragspraxis aber spiegelt diese Theorie nicht wieder,67 gerade deswegen sind Veränderungen und Anpassungen der Wissenschaftlichen Dienste diskutabel. Die Bundestagsverwaltung könnte in ihrer behördlichen Funktion z.B. Formulierungshilfen für die Opposition erarbeiten. Da die Wissenschaftlichen Dienste des Bundestages jedoch nicht in der Lage sind, eine angemessene Informationsgewinnung und -verarbeitung für die Opposition zu leisten, ist ein deutlicher Ausbau bei Personal und Strukturen nach dem Vorbild des amerikanischen Congressional Research Service erwägenswert. 64

BVerfGE 80, 188 (231 f.). Schöler/v. Winter, in: Andersen, Der Deutsche Bundestag, S. 131, aus politikwissenschaftlicher Sicht. 66 Steffani, in: Schneider/Zeh, Parlamentsrecht und Parlamentspraxis, § 49 Rn. 50 ff.; Schindler, in: Schneider/Zeh, Parlamentsrecht und Parlamentspraxis, § 29 Rn. 91. Das gilt auch für die Fraktionsdienste, dazu ebenfalls aus politikwissenschaftlicher Sicht Ismayr, in: Andersen, Der Deutsche Bundestag, S. 17. Vgl. ferner Krüper, in: Morlok/Schliesky/Wiefelspütz, Parlamentsrecht, § 38 Rn. 12 ff. 67 Ausdrücklich Hölscheidt, DVBl. 2010, 78 (81). 65

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In Zeiten Großer Koalitionen wird vermehrt auf das Mittel der Anhörung gesetzt, die oftmals von der Opposition beantragt werden.68 Mittlerweile sind die sogenannten Hearings in den Ausschüssen eher Regel als Ausnahme.69 Als Begründung für den Anstieg der Anzahl von Sachverständigenanhörungen in der 5. Wahlperiode und der ersten Großen Koalition trägt die Politikwissenschaftlerin Suzanne Schüttemeyer vor: „Eine übermächtige Regierungsmehrheit und eine auf 49 Abgeordnete reduzierte Opposition ließen einerseits Transparenz des politischen Prozesses als immer dringlicher erscheinen; andererseits konnte sich bei solchen Verhältnissen das Parlament als eigenständige Größe gegenüber der Regierung profilieren, was zu verstärkten Forderungen nach Effizienz der parlamentarischen Arbeit führte. Ein Mittel, das beiden Zwecken diente, war das Hearing. Es schuf Möglichkeiten für die Abgeordneten, sich unabhängig von der Ministerialverwaltung zu informieren und Sachverstand anzueignen; damit waren gleichzeitig die Chancen der Regierungskontrolle – auch mehrheitsintern – verbessert. Hearings erlaubten der Opposition, sich der Öffentlichkeit als einziger parlamentarischer Gegenpol der Regierung zu präsentieren und stellten ein gewisses Maß an Durchsichtigkeit des Regierungshandelns her.“70

Die Anhörungen verfolgen den Zweck, durch die Vermittlung von Sachwissen eine rationale Aufgabenwahrnehmung zu gewährleisten.71 Der Bundestag trägt die Kosten von Auslagen für geladene Sachverständige und Auskunftspersonen, § 70 Abs. 7 GO-BT. In der Ausschussanhörung liegt durchaus ein Mittel, Sachkenntnis von außen zu generieren, mag dies auch für sich genommen nicht ausreichen. Umso richtiger erscheint es, § 70 Abs. 1 Satz 2 Halbs. 1 GO-BT auch formell zu einem Fraktionsrecht auszugestalten. Um das Anhörungsecht nicht zu einem Blockadeinstrument der Opposition „verkommen zu lassen“,72 können Einschränkungen des Anhörungsrechts vorgenommen werden. Schon jetzt sind Anhörungen nur unter bestimmten Voraussetzungen zulässig.73 Das Minderheitenrecht kann z.B. nach § 70 68 In der 5. Wahlperiode stieg die Anzahl von Hearings aufgrund der zuvor sehr geringen Anzahl (sechs) um 867 % und in der 16. Wahlperiode immerhin um 50 %. Siehe die öffentlichen Anhörungen seit 1949. 1949 – 1953: -; 1953 – 1957: 2; 1957 – 1961: 1; 1961 – 1965: 6; 1965 – 1969: 58; 1969 – 1972: 80; 1972 – 1976: 76; 1976 – 1980: 70; 1980 – 1983: 51; 1983 – 1987: 165; 1987 – 1990: 235; 1990 – 1994: 301; 1994 – 1998: 253; 1998 – 2002: 336; 2002 – 2005: 240; 2005 – 2009: 403; 2009 – 2013: 604. Die Statistik basiert auf Datenmaterial aus Schindler, Datenhandbuch zur Geschichte des Deutschen Bundestages 1949 bis 1999, S. 2121 ff.; Feldkamp, Datenhandbuch zur Geschichte des Deutschen Bundestages 1990 bis 2010, S. 944 ff. 69 Vgl. insgesamt zur geschichtlichen Entwicklung Schüttemeyer, in: Schneider/Zeh, Parlamentsrecht und Parlamentspraxis, § 42 Rn. 10. Insgesamt auch Heynckes, ZParl. 39 (2008), 459 (468 ff.). 70 Schüttemeyer, in: Schneider/Zeh, Parlamentsrecht und Parlamentspraxis, § 42 Rn. 15. 71 Voßkuhle, in: Isensee/Kirchhof, HStR, Bd. 3, § 43 Rn. 1. Vgl. auch VerfGH Sachsen, Urteil vom 27. Oktober 2016 – Vf. 134-I-15 –, juris Rn. 48. 72 Vgl. in diese Richtung die Vorwürfe des Rechtsmissbrauchs durch den Antragsgegner in VerfGH Sachsen, Urteil vom 27. Oktober 2016 – Vf. 134-I-15 –, juris Rn. 43. 73 Vgl. dazu auch Heynckes, ZParl. 39 (2008), 459 (468 ff.).

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6. Kap.: Fazit

Abs. 1 Satz 2 GO-BT verbraucht sein, wenn zu einer überwiesenen Vorlage bereits eine Anhörung stattfand.74 Trotz der aufgezeigten Lösungsansätze ist die zeitweise Anpassung des Oppositionszuschlages in Zeiten qualifizierter Großer Koalitionen begrüßenswert. Durch eine Besserfinanzierung der Oppositionsfraktionen und -gruppen können informatorische Defizite zielführend kompensiert und besondere Anforderungen an die parlamentarische Aufgabenbewältigung honoriert werden. Linde fordert, dass der Oppositionsbonus 10 % bis 20 % der gesamten Fraktionszahlungen ausmachen solle.75 Dies scheint angesichts der Wissensvorsprünge durch die Ministerialverwaltung angemessen. In der 18. Wahlperiode betrug der Oppositionszuschlag insgesamt etwa 4 % der Fraktionsmittel. Den Oppositionsfraktionen standen insgesamt etwa 30 % aller Fraktionsmittel zur Verfügung, also etwa 10 % mehr als ihnen nach ihrer Mandatsstärke zustünde. Die Auszahlung von Grundbetrag und Oppositionsbonus an die Fraktionen führt zur Abweichung von einer strikten proportionalen Verteilung der Finanzen zugunsten der mandatsschwächeren und oppositionellen Fraktionen. Dies ist zweckmäßig, weil Informationen für die parlamentarische Arbeit für alle Fraktionen gleichermaßen notwendig sind. Kleine Fraktionen sind nicht weniger auf Sachkenntnis angewiesen als große Fraktionen. Der Steigerungsbetrag führt dazu, dass die höheren Kosten für die Koordinierung einer mandatsstarken Koalition berücksichtigt werden. Der in der 18. Wahlperiode gefundene Lösungsweg einer Anhebung des Oppositionszuschlages auf zumindest 15 % pro Abgeordneten ist demgemäß zu begrüßen.76

IV. Hauptausschuss Der Bundestag wies kurz vor der konstituierenden Sitzung der 19. Wahlperiode darauf hin, dass sich Fachausschüsse erst bilden könnten, wenn die sich möglicherweise über mehrere Monate hinziehenden Koalitionsverhandlungen zwischen den Parteien abgeschlossen seien.77 Aus verfassungsrechtlicher Sicht ist dies schlicht unzutreffend, doch auch der Gang der aktuellen 19. Wahlperiode belehrte die parlamentarische Praxis eines Besseren. Erstmals seit Gründung der Bundesrepublik 74 Vgl. Roll, Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages, § 70 Rn. 4. Siehe dazu auch die Auslegungsentscheidung 10/17 des Geschäftsordnungsausschusses in der 10. Wahlperiode vom 20. Juni 1985 zu § 70 GO-BT, abgedruckt in Ritzel/Bücker/Schreiner/Winkelmann, HdbPP, 29. EL September 2013, Erl. I. 2. a) zu § 70, S. 4 f. 75 Linde, Fraktionsfinanzierung in der parlamentarischen Demokratie, S. 121. 76 Vgl. die Aussagen bei Spiegel Online, Union und SPD versprechen Opposition mehr Geld, 22. 1. 2014, http://www.spiegel.de/politik/deutschland/union-und-spd-versprechen-opposi tion-mehr-geld-a-944924.html, zuletzt geprüft am 26. 4. 2018. 77 Deutscher Bundestag, Neu gewählter Bundestag tritt am 24. Oktober erstmals zusammen, 24. 10. 2017, https://www.bundestag.de/#url=L2Rva3VtZW50ZS90ZXh0YXJjaGl2LzIw MTcva3c0My1rb25zdGl0dWllcmVuZGUtc2l0enVuZy81MjcxNDA=&mod=mod493052, zuletzt geprüft am 26. 4. 2018.

B. Politische Handlungsalternativen im Parlament

367

dauerte die Regierungsfindung derart lang, dass der Bundestag die Fachausschüsse tatsächlich vor der Wahl eines neuen Bundeskanzlers einsetzte.78 Der Bundestag hat selbstverständlich die Möglichkeit, die Ausschüsse schon in seiner ersten Sitzung einzusetzen; dass er davon keinen Gebrauch macht, ist verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden. Dennoch sieht sich der Bundestag mit der Frage konfrontiert, warum er sich den Zeitpunkt der Instandsetzung seiner eigenen Arbeitsfähigkeit indirekt von der Regierungsbildung und dem Ressortzuschnitt der Bundesministerien dirigieren lässt.79 Das deutsche Parlament wird gerade in jüngster Vergangenheit nicht selten als das mächtigste Parlament der Welt betitelt.80 Sofern die Regierung indirekt den Zuschnitt der Ausschüsse bestimmt, wird dieses Bild konterkariert. Neben der Einsetzung eines Hauptausschusses nach dem Vorbild der 18. Wahlperiode kursieren im Wesentlichen vier weitere Vorschläge zur Aufrechterhaltung der parlamentarischen Arbeitsfähigkeit während einer langandauernden Regierungsfindung: Am weitgehendsten ist die Forderung nach der Einsetzung aller Fachausschüsse des Bundestages aus der vorherigen Wahlperiode.81 Nicht ganz so weit geht die Forderung, die „bedeutendsten“ Ausschüsse einzusetzen, namentlich die vier Pflichtausschüsse, die beiden in der Geschäftsordnung verankerten Ausschüsse für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung sowie Haushalt und die Ausschüsse der Querschnittsressorts Innen, Recht und Finanzen.82 Drittens ist die exklusive Einsetzung der grundgesetzlichen Ausschüsse zu Beginn einer Wahlperiode möglich, respektive die der Pflichtausschüsse und der geschäftsordnungsrechtlichen Ausschüsse.83 Schließlich wäre auch die Einsetzung der Fachausschüsse nach dem parlamentarischen Vorgehen bis zur 18. Wahlperiode denkbar, also nach 78

Siehe dazu Tabelle 11 in 5. Kapitel B. Korte, in: BT-Plenarprotokoll 19/1 vom 24. Oktober 2017, S. 7 (D). 80 Vgl. Steinbeis, Bundestag: Das mächtigste Parlament der Welt, 31. 8. 2009, http://verfas sungsblog.de/bundestag-das-machtigste-parlament-der-welt/, zuletzt geprüft am 26. 4. 2018; siehe auch Hermann Otte Solms (FDP), in: BT-Plenarprotokoll 19/1 vom 24. Oktober 2017, S. 2 (B), der den Bundestag „eines der einflussreichsten demokratischen Parlamente der Welt“ nennt. Nur dem Kongress der Vereinigten Staaten von Amerika wird regelmäßig noch größere Macht zugesprochen. 81 Dies forderte die Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN vergeblich am 27. November 2013, BT-Drs. 18/102; siehe auch noch den von der Fraktion DIE LINKE eine Wahlperiode später eingebrachten Antrag auf BT-Drs. 19/78. 82 Die Fraktion DIE LINKE forderte dies schon am 14. November 2013, BT-Drs. 18/54. 83 Ein solches Vorgehen schlug Lammert bereits zu Anfang der 18. Wahlperiode vor und auch am Ende der Wahlperiode regte er an, die parlamentarische Arbeitsfähigkeit der Ausschüsse unabhängig von der Länge der Koalitionsverhandlungen sicherzustellen. So wurde im Zuge der Veränderung der Geschäftsordnung um die Regelung des Alterspräsidenten im Geschäftsordnungsausschuss auch eine Möglichkeit diskutiert, wie möglichst zügig und unabhängig von Koalitionsverhandlungen die Einsetzung von Ausschüssen garantiert werden kann, Bannas, Zügig an die Arbeit gehen, FAZ vom 29. 3. 2017, S. 4. Auch die Linksfraktion schloss sich dieser Forderung zu Beginn der 19. Wahlperiode an, BT-Drs. 19/9. Zugleich forderte sie, die Pflichtausschüsse und deren Einsetzung in der konstituierenden Sitzung jeder Legislaturperiode in der Geschäftsordnung zu regeln, BT-Drs. 19/6. 79

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6. Kap.: Fazit

der Wahl des Bundeskanzlers. In der Zwischenzeit würden die Vorlagen dann im Plenum debattiert. Grundsätzlich ist die parlamentarische Praxis bis zur 18. Wahlperiode nicht zu beanstanden, d.h. sofern es schon nach kurzer Zeit zu einer Regierungsbildung kommt, kann die Einsetzung der Fachausschüsse anschließend erfolgen. Eine detaillierte, ausschussersetzende Besprechung von Vorlagen im Plenum ist jedoch schwer darstellbar.84 Daher bedarf es während langandauernder Regierungsfindungen einer funktionellen Lösung, die die verfassungsrechtlichen Vorgaben achtet. Die zweckmäßigste Lösung ist die Einsetzung der vier Pflichtausschüsse, der beiden in der Geschäftsordnung geregelten Ausschüsse und eines Hauptausschusses zu Beginn der Legislaturperiode. Der Hauptausschuss übernähme dann nur noch die Aufgaben der an keiner Stelle der Rechtsordnung normierten und bis dahin nicht existenten Fachausschüsse. Den Vorsitz der Ausschüsse kann das Bundestagspräsidium vorübergehend übernehmen. Die entsandten Ausschussmitglieder können die Fraktionen nach der Regierungsbildung und der Einsetzung der weiteren regulären Ausschüsse im Zweifel in andere Ausschüsse „versetzen“. Da Petitionen nicht der Diskontinuität unterliegen und sich Angelegenheiten der Europäischen Union, des Auswärtigen und der Verteidigung aufgrund ihres internationalen Themenbezugs als besonders bedeutend erweisen, ist eine Umgestaltung der Pflichtausschüsse zu kontinuierlich tagenden Hilfsorganen des Bundestages denkbar.85 Dafür bräuchte es eine verfassungsrechtliche Regelung.86 Die personelle Diskontinuität spricht aber gegen eine derartige Angleichung an das Parlamentarische Kontrollgremium (§ 3 Abs. 3 PKGrG), das nicht mit den Charakteristika der Pflichtausschüsse vergleichbar ist. Umso wichtiger ist eine zügige Einsetzung der Pflichtausschüsse. Den Vorwurf eines fehlenden parlamentarischen Selbstbewusstseins muss sich der Bundestag aufgrund der verzögerten Ausschusseinsetzung nicht ernsthaft machen.87 An der Regierungsbildung sind maßgeblich die Partei- und Fraktionsspitzen beteiligt, insbesondere Parlamentarier. Der Bundestag wartet nicht nur auf die Re84 In diese Richtung Grosse-Brömer, in: BT-Plenarprotokoll 19/1 vom 24. Oktober 2017, S. 8 (C). 85 Zur Verstetigung des Petitionsausschusses Wissenschaftliche Dienste des Deutschen Bundestages, Verstetigung des Petitionsausschusses über das Ende der Legislaturperiode. Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 020/14 vom 10. 3. 2014. 86 Vgl. dies., Verstetigung des Petitionsausschusses über das Ende der Legislaturperiode. Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 020/14 vom 10. 3. 2014, S. 3 ff. 87 Dagegen Korte, in: BT-Plenarprotokoll 19/1 vom 24. Oktober 2017, S. 7 (C): „Wählerinnen und Wähler haben logischerweise gerade in diesen Zeiten einen Anspruch darauf, dass das Parlament arbeitet, dass wir miteinander streiten und ringen […] Ob Jamaika nun kommt oder nicht, werden wir alles sehen. Aber die Verhandlungen können doch nicht allen Ernstes dazu führen, dass wir monatelang den Bundestag in Geiselhaft nehmen, bis Sie Ihre Befindlichkeiten in Ihrer Koalition gelöst haben; das geht nicht. Lassen Sie uns als Bundestag arbeiten und streiten […] Sind wir als Abgeordnete so selbstbewusst zu sagen: ,Die innere Organisation des Bundestages hängt nicht an Koalitionsverhandlungen, egal wie sie aussehen?‘“

C. Ausblick

369

gierung, sondern auch auf das Zusammenfinden eines innerparlamentarischen Bündnisses, das die Regierung in den folgenden vier Jahren zu tragen imstande ist. Insofern wartet er vor allem auf sich selbst. Ferner dient die spiegelbildliche Ausrichtung von Ministerien und Fachausschüssen auch der parlamentarischen Gesetzgebungs- und Kontrollaufgabe. Das parlamentarische Regierungssystem des Grundgesetzes ist darauf angelegt, dass die Bundesregierung aus dem Parlament hervorgeht. Ein Hauptausschuss wird immer dann diskutiert werden, wenn eine Regierungsbildung kompliziert zu werden droht, also voraussichtlich – wie 2013 und 2017 – längere Zeit in Anspruch nehmen wird. Im aktuellen Sechs-FraktionenBundestag werden Regierungsbildungen nicht einfacher, das Parlament hat aber eine Kreationsfunktion. Die vorzeitige Einsetzung von Fachausschüssen und die damit verbundenen Vorentscheidungen werfen mehr politische Fragen auf als sie lösen; sie sind für eine zügige Wiederherstellung parlamentarischer Normalität nicht notwendig förderlich. Daher ist es während langandauernder Regierungsfindungen sinnvoll, einen Hauptausschuss einzusetzen. Dauert die Regierungsfindung jedoch derart lang wie in der 19. Wahlperiode, ist die Einsetzung der regulären Ausschüsse vor der Regierungsbildung kaum vermeidbar. Gleichzeitig aber können bereits die im Grundgesetz und der Geschäftsordnung geregelten Ausschüsse tagen. Eine verfassungsrechtliche Befristung der Regierungsbildung, die sich in manchen Landesverfassungen findet, erweist sich hingegen als nicht zweckmäßig: Nach Art. 47 Verf. Baden-Württemberg löst sich der dortige Landtag auf, wenn der Ministerpräsident nicht drei Monate nach Zusammentritt des Landtages gewählt ist.88 Angesichts der bisherigen Erfahrungen mit Regierungsbildungen auf Bundesebene erscheint eine starre Fristenregelung nach diesem Vorbild aktionistisch.89 In allen Details ausformulierte Koalitionsverträge sind nicht notwendig, die Verankerung einer grundgesetzlichen Frist zur Regierungsbildung ist es aber ebenso wenig.

C. Ausblick Die Fragestellung der Untersuchung ist und bleibt hochaktuell. Dies verspricht die Koalitionslandschaft der letzten 70 Jahre in der Bundesrepublik. Obwohl CDU, CSU und SPD bei der jüngsten Bundestagswahl historisch schwache Ergebnisse erzielten und gerade die Sozialdemokratie mit einer beschleunigten Erosion konfrontiert zu sein scheint, vereinen ihre Fraktionen noch immer eine Bundestagsmehrheit auf sich. Ob sich die politische Statik in der Bundesrepublik – das bipolare Mehrparteiensystem – tatsächlich dauerhaft verändert, bleibt abzuwarten. Weder der Niedergang der Volksparteien noch ihr Erhalt sind vorherzusehen. Sowohl die Christdemokratie als auch die Sozialdemokratie sahen sich im Laufe der Bundesrepublik immer wieder 88

Siehe auch Art. 87 Abs. 4 Verf. Saarland. Vgl. dazu eine Kontroverse, dafür ist Kurz, Drei Monate reichen, Das Parlament vom 2. 10. 2017, S. 2, dagegen Vates, Zeit kann helfen, Das Parlament vom 2. 10. 2017, S. 2. 89

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6. Kap.: Fazit

mit parteipolitischen Krisen konfrontiert. Wie vorschnell es wäre, die beiden klassischen Gegenpole im politischen System der Bundesrepublik totzusagen, macht der Ausgang der jüngsten Landtagswahl in Niedersachen im Herbst 2017 deutlich. Ein personell wie inhaltlich auf beide Spitzenkandidaten zugeschnittener Wahlkampf bescherte beiden Volksparteien Ergebnisse jenseits der 30 %, obwohl drei weitere Parteien in den niedersächsischen Landtag einzogen und DIE LINKE nur knapp scheiterte. Darüber hinaus können andere Parteien – wie z.B. in Baden-Württemberg – die Rolle als klassische großkoalitionäre Bündnispartner einnehmen. Die untersuchten Verfassungsfragen sind im Übrigen nicht von der Parteifarbe der Koalition abhängig. Große Koalitionen wird es auch in Zukunft geben, auf Bundes- wie auf Landesebene. In der 19. Wahlperiode, während der vierten Kanzlerschaft Merkels, der dritten mit den Stimmen von CDU/CSU und SPD, erfahren die untersuchten Verfassungsfragen nur vereinzelt ihre bisherige Bedeutung, da die Große Koalition nicht qualifiziert ist. Ungeachtet dessen gibt es derzeit drei großkoalitionäre Bündnisse auf Landesebene: in Baden-Württemberg, Niedersachsen und im Saarland, wobei letztere gar eine qualifizierte Große Koalition darstellt. Die aktuell erhöhte Anzahl von Fraktionen in deutschen Parlamenten ändert an dieser Perspektive im Wesentlichen nichts. Die politische Notwendigkeit großkoalitionärer Bündnisse zum Erreichen stabiler parlamentarischer Mehrheiten kann sowohl in Parlamenten mit einer geringeren als auch mit einer hohen Anzahl von Fraktionen vorliegen. Die Häufigkeit Großer Koalitionen korreliert auch mit der Entscheidung für oder gegen ein Drei-Fraktionen-Bündnis; dies veranschaulichen die unterschiedlichen Entwicklungen im Bund und in Schleswig-Holstein nach den Wahlen 2017. Eine Pluralisierung des Parteiensystems erhöht eher die Wahrscheinlichkeit für Große Koalitionen: Dies veranschaulichen sowohl die großkoalitionäre Regierungsbildung nach der Niedersachsen-Wahl 2017 im Fünf-Fraktionen-Landtag als auch die Bildung einer neuen Großen Koalition nach der Bundestagswahl 2017 im Sechs-Fraktionen-Bundestag. Die Wahrscheinlichkeit qualifizierter Großer Koalitionen sinkt jedoch in einem Parlament mit mehr als vier Fraktionen, gleichwohl zumindest auf Bundesebene90 selbst in einem Sechs-Fraktionen-Parlament qualifizierte Große Koalitionen denkbar bleiben. Ungeachtet dessen wird es auch weiterhin Parlamente mit weniger als fünf Fraktionen geben, nach der Landtagswahl in Bayern 2018 gibt es ein solches derzeit noch im Saarland91. Wie knapp die eine oder andere Partei den Einzug in das Parlament schafft oder verpasst, verdeutlichen die Ergebnisse von FDP und AfD bei der Bundestagswahl 90 Aufgrund des teilweisen Vorhandenseins von Fünftelquoren auf Landesebene, sind qualifizierte Große Koalitionen im Sechs-Fraktionen-Parlament solcher Bundesländer nahezu unmöglich. Die vier mandatsschwächeren Fraktionen dürften nicht mehr als 20 % der Mandate erreichen, brauchen in der Regel aber jeweils fünf Prozent der Stimmen, um in das Parlament einzuziehen. 91 Nach der Landtagswahl 2016 in Mecklenburg-Vorpommern bildeten sich zunächst ebenfalls nur vier Fraktionen, erst durch die Spaltung der AfD-Fraktion entstand eine fünfte Fraktion.

C. Ausblick

371

2013. Eine Prognose in Bezug auf die Parteien- und Koalitionslandschaft bleibt also spekulativ, wie im Übrigen auch die falschen Erwartungen nach der Etablierung eines Fünf-Fraktionen-Bundestages nach 2005 veranschaulichen. Der zwischenzeitliche Erfolg der Piratenpartei, das Erstarken der AfD oder der Nicht-Einzug der FDP in den 18. Deutschen Bundestag waren ebenso wenig prognostiziert worden wie es Veränderungen in der Parteien- und Fraktionslandschaft in Zukunft sein werden. Die vorliegende Arbeit leistet ihren Beitrag zum Themenkomplex der qualifizierten Großen Koalition, indem sie gerade die spezifischen parlamentarischen Handlungen in Reaktion auf eine großkoalitionäre Regierungsbildung auf ihre Verfassungsmäßigkeit hin untersucht. Die Verfassungsfragen sind dem Beispiel der 18. Wahlperiode entnommen, sie bleiben aber ebenso aktuell wie ihre Ursache.92 Nach dem Karlsruher Urteil von 2016 in Bezug auf Minderheiten- und Oppositionsrechte drängt sich die Frage unweigerlich auf, welche konkreten Rechtsfolgen sich aus dem Grundsatz effektiver Opposition ergeben.93 Der vom Bundesverfassungsgericht selbst im ersten Teil seines Urteils geweckten Erwartungshaltung an den Grundsatz „effektiver“94 Opposition folgt im zweiten Teil wenig Zählbares für die Opposition. Dies ist angesichts der Forderungen der Antragstellerin kaum verwunderlich und vor allem mit dem Wortlaut der Verfassung zu erklären. Offen bleibt aber, welche konkreten Rechtsfolgen aus dem Grundsatz der – so effektiven – Opposition folgen.95 Schon im Lissabon-Urteil nutzt das Gericht den Oppositionsgrundsatz im Subtext, um Kompetenzfragen gegenüber der Europäischen Union zugunsten der Bundesrepublik zu entscheiden.96 Mithin fand der Oppositionsgrundsatz als Auslegungsmaxime bereits vor dem Urteil von 2016 Anwendung in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts und damit eine erste inhaltliche – wenn auch weniger gewichtige – Funktion. Er dient jedoch nicht nur als Auslegungsmaßstab. Die vorliegende Arbeit brachte eine zweite – in der Praxis weitaus bedeutendere – Funktion zum Vorschein, namentlich die eines Rechtfertigungsinstruments bei Ungleichbehandlungen von Abgeordneten. So wird die im Rahmen der Minderheitenrechte und auch beim Hauptausschuss zutage tretende Schwäche des verfassungsgerichtlichen „funktionellen“ Oppositionsgrundsatzes in Form von Funktionslosigkeit zumindest in Bezug auf Redezeiten und Oppositionszuschlag relativiert, gleichwohl nicht aufgelöst. Der Wettstreit zwischen der Regierung und ihrer Regierungsmehrheit sowie der Opposition zeichnet die demokratische Kultur der Bundesrepublik aus. Daher wird auch der Umgang mit Minderheitenrechten in Zeiten qualifizierter Großer Koalitionen in Zukunft von Bedeutung sein. Eine umfassende Ausgestaltung parlamen-

92 93 94 95 96

Vgl. auch zur zukünftigen Bedeutung des Themas Uhle, ZG 33 (2018), 1. Cancik, ZParl. 48 (2017), 516 (517); Volkmann, ZParl. 48 (2017), 473 (480 f.). BVerfGE 142, 25 (55). Vgl. Volkmann, ZParl. 48 (2017), 473 (480 f.). BVerfGE 123, 267 (372); dazu anschaulich Volkmann, ZParl. 48 (2017), 473.

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6. Kap.: Fazit

tarischer Minderheitenrechte97 bleibt für die Opposition ohne Nutzen, sofern sie nicht die erforderlichen Quoren erreicht. Verminderte Wirkungsmöglichkeiten der parlamentarischen Opposition können auch abseits von qualifizierten Großen Koalitionen Bedeutung erlangen: sowohl in Parlamenten, in denen die Opposition wie in der 16. Wahlperiode statt aller nur einige der Verfassungsquoren verfehlt als auch in politisch fragmentierten Parlamenten, in denen sich die Oppositionsfraktionen auf ein gemeinsames Agieren nicht verständigen können. In diesem Sinne schien zu Beginn der 19. Wahlperiode gar die Forderung laut zu werden, den potentiellen Oppositionsfraktionen von SPD und DIE LINKE im Falle einer „Jamaika-Koalition“ gemeinsam die Beantragung einer Sitzungseinberufung nach Art. 39 Abs. 3 Satz 3 GG zu ermöglichen, da eine Zusammenarbeit mit der AfD in einer „fragmentierten Opposition“98 politisch nicht verlangt werden könne.99 Die AfD-Fraktion selbst beantragte schon in der konstituierenden Sitzung des 19. Deutschen Bundestages, die Vorschrift des § 126a GO-BT a.F. in veränderter Form100 für die 19. Wahlperiode zum „Schutz von Minderheitsrechten zur wirksamen Kontrolle der Regierung“ beizubehalten. In jedem Fall ist auch in der 19. Wahlperiode die Zusammenarbeit der Oppositionsfraktionen notwendig, um die Stimmenanzahl für das Viertel- bzw. Drittelquorum auf sich zu vereinen; für das Erreichen des Drittelquorums allein mit Stimmen der Opposition bedarf es notwendigerweise auch der Stimmen von Abgeordneten der AfD-Fraktion. Eine Debatte um Redezeit gibt es im 19. Deutschen Bundestag nicht. Bisher wird die Redezeit mit wenigen Ausnahmen starr anhand des proportionalen Berechnungsverfahrens verteilt. Die Redezeit zwischen Regierung und Regierungsmehrheit sowie Opposition ist im Hinblick auf die Mehrheitsverhältnisse annähernd gleichmäßig verteilt, da die neue nicht-qualifizierte Große Koalition zwischen CDU/CSU und SPD „nur“ 56,3 % der Mandate auf sich vereint. Ungeachtet der 19. Legislaturperiode auf Bundesebene wird die Aufteilung der Redezeit auch in Zukunft zu Streit zwischen den Fraktionen führen. In Parlamenten, in denen Koalitionen mehr als 60 % der Mandate auf sich vereinen, steht infrage, wie Konflikte zwischen Verfassungspositionen in Gestalt von Mandatsgleichheit und Rede und Gegenrede aufgelöst werden. Abseits solcher generellen Überlegungen zur Redezeit bleibt die Diskussion über eine grundlegende Reform der parlamentarischen Debatte aktuell.101 97

Siehe Kaster, in: BT-Plenarprotokoll 18/243, S. 24954 (B), der kein zweites Parlament kennen will, das Minderheitenrechte in ähnlicher Weise wie der Deutsche Bundestag schützt. 98 Den Begriff nutzt wiederum Cancik, ZParl. 48 (2017), 516 (520 f.), die anschaulich macht, dass auch in besonders fragmentierten Parlamenten „Ausfallerscheinungen“ der Opposition wahrscheinlicher werden. Sie regt richtigerweise einen interdisziplinären Dialog über das Problem an, das eben nicht nur mit Blick auf qualifizierte Große Koalitionen diskutiert werden kann. 99 Birnbaum, Minderheit ist Mist, Tagesspiegel vom 29. 9. 2017, S. 1. 100 Die AfD verlangte insbesondere die Absenkung von Quoren auf eine Abgeordnetenzahl von 65, zudem sollte schon eine Fraktion die Rechte wahrnehmen können. 101 Vgl. dazu nur Schürmann, in: Morlok/Schliesky/Wiefelspütz, Parlamentsrecht, § 20 Rn. 70 ff.; aus der Politikwissenschaft Hierlemann/Sieberer, Sichtbare Demokratie, S. 52 ff.;

C. Ausblick

373

Anstelle der Redezeiten stehen in der 19. Wahlperiode Bemühungen im Vordergrund, die Geschäftsordnung hinsichtlich ihrer Anlagen zur Fragestunde (Anlage 4) und zur Befragung der Bundesregierung (Anlage 7) zu reformieren.102 Ein neues Instrument der Opposition soll eine viermal jährlich stattfindende Befragung des Bundeskanzlers werden.103 Schließlich bleibt die Erhöhung des Oppositionszuschlages ein mögliches Mittel, sowohl zur Kompensation von strukturellen informatorischen Nachteilen der Opposition als auch zur Anerkennung besonderer Herausforderungen bei der Erledigung parlamentarischer Aufgaben durch die Opposition. Auch hier kann eine Modifizierung des Oppositionszuschlages schon in Betracht kommen, wenn Große Koalitionen nicht qualifiziert sind. Die Diskussion um Möglichkeiten, die Opposition zu stärken, auch die Frage nach alternativen Mitteln zum Oppositionszuschlag, scheint durch die vermehrten wissenschaftlichen Beiträge in jüngster Vergangenheit gerade erst angestoßen. Bereits der 19. Deutsche Bundestag setzte einen Hauptausschuss ein, der mit dem der 18. Wahlperiode nahezu identisch ist. Hier zeichnet sich eine parlamentarische Praxis ab. Grund dafür sind die politisch-komplizierteren Mehrheitsverhältnisse im Parlament und die Institutionalisierung sowie Formalisierung von Koalitionsverhandlungen und gar Sondierungsgesprächen. Eine Große Koalition ist sicherlich keine „unverzeihliche Sünde gegen den Geist der Demokratie“104. Ein schlechtes Gewissen braucht niemand haben.105 Zur Regel sollten sie dennoch nicht werden. Nach der ersten Großen Koalition vor der Bundestagswahl 1969 fragte Rolf Zundel: „Große Koalition – auf ewig?“106 Diese Frage ist nach der Bildung der vierten Großen Koalition auf Bundesebene und der dritten Großen Koalition seit 2005 aktueller denn je, das im Einleitungssatz der Arbeit ausgerufene Postulat ebenfalls.

auch die Debatte in der konstituierenden Sitzung im 19. Deutschen Bundestag, in: BT-Plenarprotokoll 19/1 vom 24. Oktober 2017, S. 4 (C) ff. 102 Siehe schon BT-Drs. 19/7 und 19/8 und die Beiträge von Schneider, in: BT-Plenarprotokoll 19/1 vom 24. Oktober 2017, S. 5 (A); Korte, in: BT-Plenarprotokoll 19/1 vom 24. Oktober 2017, S. 7 (A); Buschmann, in: BT-Plenarprotokoll 19/1 vom 24. Oktober 2017, S. 9 (D). 103 BT-Drs. 19/7, S. 2; auch BT-Drs. 19/8, S. 1. 104 Schmoeckel/Kaiser, Die vergessene Regierung, S. 13; die These vom Ende des Parlamentarismus verwirft Hildebrand, ZParl. 37 (2006), 611 (619 ff.), er spricht im Kontext der ersten Großen Koalition stattdessen von einer „Bewährung der Republik“. Vgl. auch aus der Politikwissenschaft Seemann/Bukow, in: dies., Die Große Koalition, S. 15. 105 Leisner, DÖV 2014, 880 (884). 106 Zundel, Große Koalition – auf ewig?, Die Zeit vom 17. 1. 1969, S. 4 – 5.

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Personenverzeichnis Achterberg, Norbert 92, 113, 320 Adenauer, Konrad 64 f. Alkibiades 83 Altmeier, Peter 39, 48 Anschütz, Gerhard 341 Aristoteles 83 Arnold, Karl 48 Bamberger, Ludwig 267 Barbarossa, Friedrich 84 Bauer, Hannsheinz 149, 358 Baumann, Bernd 28 Baumann, Günter 329 Becker, Max 52 Bensmann, Wolfgang Gedeon 27 Bentham, Jeremy 184, 221 Berlusconi, Silvio 28 Bernards, Josef 223, 225 Birk, Dieter 114 Böckenförde, Ernst-Wolfgang 193, 200 Böhmer, Wolfgang 38 Böhmermann, Jan 65 Böhrnsen, Jens 48 Bolingbroke, Henry St. John 94 Brandt, Willy 24, 39, 41, 47, 53, 295 Braun, Karl 225 f. Brocker, Lars 41, 68, 113 Bühler, Ottmar 51 Buschmann, Marco 317, 373 Cancik, Pascale 30, 41 f., 73, 80, 127, 359 Carstensen, Peter Harry 48 Chapeaurouge, Paul de 147, 153 f. Chemberlain, Neville 24 Churchill, Winston 24 Dahl, Robert Alan 33 Degenhart, Christoph 358 Dehler, Thomas 86, 122, 153 ff. Dichgans, Hans 358 Diederichs, Georg 48

Diepgen, Eberhard 47, 49, 53 Dimroth, Johannes 157 Dittrich, Stefan 358 Dressel, Carl-Christian 143 Edathy, Sebastian 203 Ehard, Hans 41, 47, 49 Erhard, Ludwig 25, 44, 296, 307 Ewald, Heinrich 225 Fechner, Johannes 263 Fehrenbach, Constantin 227 Filbinger, Hans 47, 49 Gamson, William 70 Gehlmann, Andreas 27 Geis, Max-Emanuel 337 Genscher, Hans-Diedrich 128, 147 Gottberg, Wilhelm v. 28 Gröber, Adolf 238 Grosse-Brömer, Michael 297, 342 f., 368 Gysi, Gregor 152, 156, 332, 337 Habsburg, Rudolf v. 84 Hadamek, Thomas 343 Haseloff, Reiner 38 Haßelmann, Britta 214, 301, 304, 334 f. Hatschek, Julius 95 Heck, Stefan 263 Hedler, Wolfgang 27 Hellwege, Hinrich 48 Hesse, Konrad 311 Höcherl, Hermann 140 Höcke, Björn 27 Hölscheidt, Sven 290 Höppner, Reinhard 53 Jaeger, Richard 152 Jellinek, Georg 96 Jones, Christopher 23

404

Personenverzeichnis

Kaisen, Wilhelm 41, 47 Kaster, Bernhard 214, 243, 372 Katz, Rudolf 150 Kelsen, Hans 86, 92, 97 Kiesinger, Kurt Georg 25, 39, 44, 46, 64 f., 159, 296, 357 Kirchheimer, Otto 37 Klein, Hans Hugo 113 Kluxen, Kurt 94, 220 Kohl, Helmut 64, 295 Köhler, Erich 27 Kopf, Hinrich Wilhelm 39, 48 Korte, Jan 301, 367 f., 373 Korte, Karl-Rudolf 37 Kraft, Hannelore 53 Kramp-Karrenbauer, Annegret 48 Kretschmann, Winfried 47 Kretschmer, Michael 38 Kroll, Gerhard 164 Kühbacher, Klaus-Dieter 112 Kunig, Philipp125 Lambrecht, Christine 79 Lammert, Norbert 26, 28 f., 79, 166 f., 174, 204, 222, 257, 310, 347 Ledebour, Georg 229 Lehr, Robert 86, 299, 345 Leibholz, Gerhard 117 f. Leiserson, Michael 70 Leusser, Claus 299 Lieberknecht, Christine 38 Liebich, Stefan 309, 312, 344 f. Linck, Joachim 339, 360 Linde, Andreas 362, 366 Lipphardt, Hans-Rudolf 73, 221 Löbe, Paul 227 f., 245 Locke, John 94 Loewenberg, Gerhard 232 Loewenstein, Karl 93 Luther, Hans 52, 58 Mahrenholz, Ernst Gottfried 193, 200, 259 f. May, Theresa 24 Mayer, Franz Christian 80 Meinel, Florian 72 Mellies, Wilhelm 152 Mende, Erich 233

80, 86, 124,

Merkel, Angela 25 f., 44 f., 64 f., 69, 71, 295, 370 Milbradt, Georg 38 Mittag, Susanne 254 Mohl, Robert v. 221, 226, 237 Möhring, Cornelia 309, 312, 344 f. Mommer, Karl 233, 246 Montesquieu, Charles de 65 Morlok, Martin 157, 316, 332, 342 f., 358 Morstein Marx, Fritz 95 Müller, Gebhard 39, 47, 157 Müller, Hermann 43 Müller, Michael 47 Ney, Hubert 46 Niclauß, Karlheinz 65 Notz, Konstantin v. 216 Ohms, Martin Johannes 172 Olzog, Günter 363 Oppermann, Thomas 27, 309, 342 Ostrowski, Otto 39 Papst Alexander III. 84 Pau, Petra 309, 312, 344 f. Perikles 83 Petzold, Harald 309, 312, 344 f. Pietzcker, Jost 134 Platzeck, Matthias 38, 47 Rasner, Will 140 Reiche, Katherina 141 Reinert, Egon 46, 48 Reuter, Ernst 39, 41 Riker, William Harrison 70 Ringstorff, Harald 48 Rousseau, Jean-Jacques 85 Rupo, Elio Di 308 Rutte, Mark 308 Schäffler, Frank 257 Schäuble, Wolfgang 26 f. Scherf, Henning 47 Schill, Ronald 239 Schmidt, Helmut 59, 65 Schmidt-Aßmann, Eberhard 125 Schneider, Carsten 216, 373 Schneider, Franz 64

Personenverzeichnis Schneider, Hans-Peter 42, 81, 162, 202 Schockenhoff, Andreas 143 Schröder, Gerhard 45, 59 Schroeder, Louise 39 Schröter, Carl 51 Schulte, Manfred 233 Schulze-Fielitz, Helmuth 70 Schuster, Simon 73, 258 ff. Schüttemeyer, Suzanne 365 Schwarz , Kyrill-Alexander 80 f., 169, 171 Schweitzer, Maria 46 Schwesig, Manuela 38 Seite, Berndt 48 Selbert, Elisabeth 86 Sellering, Erwin 38, 48 Simson, Eduard v. 95 f., 224 Sitte, Petra 169, 175, 214, 301 f., 309, 312, 314 Snowden, Edward 286 Solms, Hermann Otto 367 Starosolskyj, Volodymir 86 Steffen, Sonja 79 Steiger,Heinhard 335 Steinmeier, Frank-Walter 45 Sternberger, Dolf 37 Stock, Christian 48 Stolpe, Manfred 47 Strauß, Walter 155 Stresemann, Gustav 43 Ströbele, Hans-Christian 286 Struck, Peter 338 Suhr, Otto 41, 47, 344 Swaan, Abram de 70

405

Tackmann, Kirsten 309, 312, 344 f. Taczanowski, Wladislav v. 225 Tempel, Frank 309, 312, 344 f. Teufel, Erwin 47 Thoma, Richard 52 f. Thudichum, Friedrich v. 224 Tillich, Stanislav 38 Vogel, Bernhard 48 Vogler, Kathrin 309, 312, 344 f. Volkmann, Uwe 269 Voßkuhle, Andreas 165, 347 Waldhoff, Christian 285 Walepole, Robert 94 Walk, Emil Peter 63 Warken, Nina 202 f. Wawzyniak, Halina 309, 312, 344 f. Weber, Max 97 Wehner, Herbert 27 Weil, Stephan 48 Wessel, Helene 27 Willsch, Peter 257 Windthorst, Ludwig 223 ff. Woidke, Dietmar 47 Wowereit, Klaus 47 Wunderlich, Jörn 309, 312, 344 f. Zohlnhöfer, Reimut Zundel, Rolf 373 Zweig, Egon 325

66

Stichwortverzeichnis Abgeordnete 64, 92, 100, 241, 285, 359 f. – Finanzierung 270 f. – fraktionslose 124, 244, 285 ff. – Gleichheit 114 ff. – Mediatisierung 241, 361 Abstimmungspflicht 175 Aktuelle Stunde 169, 252 f., 265 Alleinregierung (auch Einheitsregierung) 35, 49 ff., 61, 160 f. Allparteienbündnis 36, 39 ff., 50 f., 52, 56, 261 Alterspräsident 28, 192, 367 Ältestenrat 85, 95, 109 ff., 220, 225 ff., 291, 313 f. Anhörung 128, 133, 211, 365 Auslegung 70, 163 ff. – subjektive 70 – teleologische 70 – verfassungskonforme 204, 213, 327 Ausschuss 311 ff., 336 ff. – Angelegenheiten der Europäischen Union 322 ff. – auswärtige Angelegenheiten 325 – Gemeinsamer 336 – Geschäftsordnung, Wahlprüfung und Immunität 312 – geschlossener 325 – Haushalt 316 – Petitionen 328 ff. – Pflichtausschuss 315 ff. – Sonderausschuss 298 – ständiger 298, 312 – Unterausschuss 312 – Untersuchungsausschuss 148 ff., 202 ff., 312 – Vermittlungsausschuss 66, 313 – Verteidigung 208, 325 ff. – Zwischenausschuss 300 Befragung der Bundesregierung Berliner Stunde 247 ff., 264 f.

237, 247

Bipolares Mehrparteiensystem 35 ff., 369 f. Bonner Stunde 234 Bundeskanzler 65 f. Einberufungsrecht 145 ff., 208 f. Enquete-Kommission 212, 298 Enqueterecht 148 ff., 202 ff. – Mehrheitsenquete 149 f. – Minderheitenenquete 149 f. – Splitterenquete 149 f., 171, 203 ff. Entparlamentarisierung 67, 241 Fragestunde 237, 247 Fraktion 100 ff., 358 ff. – „Abweichler“ 64, 242, 244 – Finanzierung 270 f. – Fraktionalisierung 257 – Prärogative 241 Fünf-Prozent-Hürde 53 Geschäftsordnungsautonomie Gruppe 100 f., 244, 285 ff. Hauptausschuss 295 ff. – Begriffsverwendung 297 ff. – Einsetzung 301 f. – Funktionen 296 f. – Kompetenzen 296 f. – Landesmodelle 299 ff. – Rechtsnatur 297 ff. – Sitzungszeitraum 301 f. – Tätigkeiten 303 ff. – Vorgänger 299 ff. – Zusammensetzung 302 f. Informalisierung

66 ff.

Koalition 32 f. – Ausschuss 66 f. – Grand coalition state – Große 38 ff.

62

177 ff.

Stichwortverzeichnis – Kleine 37 f. – Qualifizierte 40 ff. – Vertrag 33 Kurzintervention 262 Machtwechselchance 63 f. Mandatsgleichheit 114 ff. – Ausnahmen 122 ff. – Funktionen 120 f. – Herleitung 115 ff. – Inhalt 121 f. Mehrheitsprinzip 82 ff. – Funktionen 87 f. – Grenzen 90 f. – Inhalt 88 – Verortung 82 f. Minderheitenrechte 91 f., 103 ff. – Abweichung 113 f. – Änderung 112 f. Minderheitenschutz 91 ff. – Einklagbarkeit 131 ff. – Funktionen 97 ff. – Grenzen 135 – Inhalt 103 ff. – Kernbestand 125 ff. – Träger 100 ff. – Verortung 92 f. Minderheitsregierung 52 f. Ministerialbürokratie 279 ff. Mitgliederentscheid der SPD 317 Normenkontrolle 131 ff. – abstrakte 152 ff. – konkrete 132 Opposition 33 ff. – Bereichsopposition 63 f. – Zuschlag 271 ff. Organstreitverfahren 131 ff. Parität 235, 260 Parlament 180 – Autonomie 179 f.

407

– Brauch 191 f. – Finanzierung 270 – Funktionalität 236 ff., 336 ff. – Gewohnheitsrecht 191 f. – Kontrollgremium 318 – Rat 51 f. Parteienfinanzierung 270 Plenarvorbehalt 323 Proporz 235 Rede 216 ff. – Ordnung 218 ff. – Privilegien 238 ff. – Recht 218 – Rede und Gegenrede 245 ff. – Zeit 220 ff. Regierungsstabilität 59 ff. Selbstbefassungsrecht 326 f. Selbstorganisationsrecht 178 f. – Funktionen 186 ff. – Grenzen 194 ff. – Inhalt 190 f. – Regelungsformen 191 ff. Selbstversammlungsrecht 145 Seniorenkonvent 225 Spiegelbildlichkeitsgrundsatz 331 ff. Subsidiaritätsklage 142 ff., 209 f. Verfassungskonvent von Herrenchiemsee 344 ff. Verfassungswidriges Verfassungsrecht 171 ff. Verfassungswandel 165 f. Verhältniswahlrecht 52 f. Verhandlungsgrundsatz 245 Volkspartei 36 ff. Wahlrechtsgleichheit 116 ff. Wissenschaftliche Dienste des Deutschen Bundestages 364 Zweieinhalbparteiensystem

36