Staatlichkeit und Anarchie: (1873) [Neuaufl.] 3879562334, 3879562350

›Staatlichkeit und Anarchie‹ ist nicht nur das letzte Werk, das Bakunin geschrieben hat, sondern vor allem das erste und

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Staatlichkeit und Anarchie: (1873) [Neuaufl.]
 3879562334, 3879562350

Table of contents :
WOLFGANG ECKHARDT: Einleitung 9
Abkürzungen, abgekürzte Quellennachweise, Zeichenerklärung, Hinweise zur Umschrift 97

Staatlichkeit und Anarchie 103
Anhang A 363
Anhang B (Programm der Slawischen Sektion in Zürich) 388

Anhang
HANSJÖRG VIESEL:Vorwort zur deutschen Erstausgabe (Berlin 1972) 392
Anmerkungen 441
Textnachweise 532
Register 535

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Michael Bakunin AUSGEWÄHLTE SCHRIFTEN Herausgegeben von Wolfgang Eckhardt BAND 4

Michael Bakunin Staatlichkeit und Anarchie (1873) Einleitung Wolfgang Eckhardt

Karin Kramer Verlag Berlin

Vorliegende Ausgabe erscheint mit Unterstützung der Bakunin Arbeitsgemeinschaft Berlin. Herausgeber und Verlag danken insbesondere Jörg Asseyer, Klaus Decker, Ingeborg Eckhardt, Reinald Eckhardt, Michael Halfbrodt, Frank Hartz, Markus Henning, Thorsten Hinz, Markus Mathyl, Bas Moreel, Hans Müller-Sewing, Werner Portmann und Siegbert Wolf für ihre freundliche Unterstützung. CIP-Titelaufnahme der Deutschen Bibliothek –––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––– Bakunin, Michail A.: Ausgewählte Schriften / Michael Bakunin. [Hrsg. und eingel. von Wolfgang Eckhardt]. – Berlin : Kramer Bd. 4. Bakunin, Michail A.: Staatlichkeit und Anarchie. – Neuaufl. – 1999 –––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––– Bakunin, Michail A.: Staatlichkeit und Anarchie / Michael Bakunin. Übers. aus dem Russ. von Barbara Conrad und Ingeborg Wolf. Neuaufl. – Berlin : Kramer 1999 (Ausgewählte Schriften / Michail A. Bakunin ; Bd. 4) Einheitssacht.: Gosudarstvennost' i anarchija ISBN 3-87956-233-4 ISBN 3-87956-235-0

–––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––– 1. Auflage 1999 © Karin Kramer Verlag Berlin Postfach 440417 – 12004 Berlin-Neukölln Niemetzstraße 19 – 12055 Berlin-Neukölln Für die Übersetzung von ›Staatlichkeit und Anarchie‹: © Verlag Ullstein GmbH, Frankfurt/M. – Berlin – Wien Gesamtherstellung: GAM MEDIA, 10969 Berlin-Kreuzberg Printed in Germany ISBN 3-87956-233-4 (Paperback) ISBN 3-87956-235-0 (Hardcover)

INHALT WOLFGANG ECKHARDT: Einleitung Abkürzungen, abgekürzte Quellennachweise, Zeichenerklärung, Hinweise zur Umschrift

Staatlichkeit und Anarchie

9 97

103

Anhang A

363

Anhang B (Programm der Slawischen Sektion in Zürich)

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Anhang HANSJÖRG VIESEL: Vorwort zur deutschen Erstausgabe (Berlin 1972)

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Anmerkungen

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Textnachweise

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Register

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Titelblatt der Originalausgabe von ›Staatlichkeit und Anarchie‹

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Einleitung Bakunin und die Russische Kolonie in Zürich Bakunins späte russische Schriften – ›Staatlichkeit und Anarchie‹ sowie ›Wohin gehen und was tun?‹ – richteten sich an die russische revolutionäre Jugend, die Mitte der 1870er Jahre überall in Rußland Schulen, Universitäten und die erstarrten Lebensverhältnisse ihrer Väter hinter sich ließ, um »ins Volk zu gehen«. Den ersten Kontakt zu dieser Jugend hatte Bakunin im Sommer 1872 in Zürich, das damals zum Kristallisationspunkt jener Generation wurde. Zürich war zunächst vor allem ein Anziehungspunkt für russische Studentinnen gewesen, denen in Rußland durch ein Dekret im Zusammenhang mit dem 1863 erlassenen Universitätsstatut erneut jeder Zugang zu den Universitäten verboten worden war. Einige junge Russinnen hatten daraufhin Kontakt zu Universitäten im Ausland aufgenommen, obwohl auch im übrigen Europa (abgesehen von einigen französischen Universitäten) das Frauenstudium zu dieser Zeit noch überall untersagt war. Erst im Jahre 1867 wurde mit der 24jährigen Russin Nadežda Suslova an der Universität Zürich (erstmalig im deutschsprachigen Raum) eine Frau als vollwertige Studentin aufgenommen. Suslova war zwei Jahre zuvor als Gasthörerin nach Zürich gekommen, legte 1867, nachdem sie offiziell als Medizinstudentin immatrikuliert worden war, ihre Abschlußprüfung ab und eröffnete bald darauf zum Entsetzen der russischen Reaktionäre als erste Frau eine Arztpraxis in St. Petersburg.1 Dieses Ereignis wirkte wie ein Signal auf viele junge Russinnen, die

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vgl. Daniela Neumann: Studentinnen aus dem Russischen Reich in der Schweiz (1867-1914). Verlag Hans Rohr, Zürich 1987, S. 11, 45-46. – Das Frauenstudium an den Schweizer Hochschulen. Herausgegeben vom Schweizerischen Verband der Akademikerinnen. Rascher & Cie., Zürich, Leipzig, Stuttgart 1928, S. 20-21 und 286-287. – Meijer, S. 2325.-Christine Johanson: ›Autocratic

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ihrem Wunsch nach Bildung und Selbstbestimmung in Rußland unüberwindliche Schranken gesetzt sahen.2 Sie strebten gleich Suslova an die Zürcher Universität, so daß dort im Sommersemester 1873 hundert russische Frauen immatrikuliert waren: 77 studierten Medizin, 22 Philosophie, eine Jura.3 Aber auch die männlichen Studenten, die sich vor dem Hintergrund restriktiver Studienbedingungen, ständiger Polizeiüberwachung und politischer Verfolgung in Rußland seit den 186oer Jahren in regelmäßigen Wellen ins Ausland begaben, wählten zur Fortsetzung ihrer Studien zunehmend die Universität oder das Polytechnikum (ab 1911: Eidgenössische Technische Hochschule, ETH) in Zürich, die beide international über einen guten Ruf und schon immer über einen bedeutenden Anteil ausländischer Studenten verfügten. Insgesamt soll die, ›Russische Kolonie‹ in Zürich im Sommer 1873 mehr als 300 Personen gezählt haben.4 Kaum in Zürich angekommen, hatten es Männer wie Frauen in der Anfangsphase der Kolonie meist eilig, sich so schnell wie möglich fürs kommende Semester an der Universität einzuschreiben und sich fortan mit aller Kraft ihrer wissenschaftlichen Ausbildung zu widmen, so daß Politik in der Russischen Kolonie anfangs noch kaum eine Rolle spielte.

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Politics, Public Opinion, and Woman's Medical Education During the Reign of Alexander II, 1855-1881‹. In: Slavic Review. American Quarterly of Soviet and East European Studies, Worcester (Mass., USA), Band 38, Nr. 3, September 1979, S. 431. vgl. Wera Figner: Nacht über Rußland. Lebenserinnerungen. Malik-Verlag, Berlin 1926. S. 41. – Ähnlich das Zeugnis von Virginia Schlikoff [Virginija Šlykova]: ›Wie ich zum Studium nach Zürich kam‹. In: Das Frauenstudium an den Schweizer Hochschulen, a.a.O. (Anm. 1), S. 57. vgl. Alphons Thun: Geschichte der revolutionären Bewegungen in Russland. Verlag von Duncker & Humblot, Leipzig 1883, S. 66. – Neben den 100 Russinnen waren 1873 in Zürich nur 14 weitere Frauen immatrikuliert (vgl. Neumann, a.a.O. ❲Anm. 1❳, S. 12). Meijer, S. 23-24 und 47.

Den entscheidenden Impuls zu einer politischen Entwicklung gab erst ein Nicht-Student: Arman Ross,5 der bereits Mitte der 186oer Jahre zum Teil im Untergrund im russischen Studentenmilieu tätig gewesen war. Nach mehrmaliger Verhaftung und der Verbannung ins Gouvernement Vologda floh er im Sommer 1869 in die USA, begab sich aber bald wieder nach Europa und war unter den russischen Emigranten in der Schweiz aktiv. Im Juli 1870 machte er in Genf die Bekanntschaft Michael Bakunins, zu dessen engsten Vertrauten er fortan zählte, und ließ sich im Spätsommer desselben Jahres in Zürich nieder.6 Nach seinen eigenen Worten war er »der erste Organisator, wenn nicht der Gründer der Russischen Kolonie«. Zur Zeit seiner Ankunft »waren ausnahmslos alle von der Wissenschaft, vor allem Medizin, in Anspruch genommen. Es gab keine Organisation [unter ihnen] [...].«7 Er begann regelmäßige Treffen zu organisieren und versuchte, auf die Bildung eines politischen Bewußtseins hinzuwirken. Von besonderer Bedeutung war sein Vorschlag zur Gründung einer ›Russischen Bibliothek‹, der angenommen und mit Energie umgesetzt wurde. In erster Linie wurde hierfür politische Literatur gesammelt, vor allem auf russisch, aber auch in anderen Sprachen. Die Werke Alexander Herzens und Michael Bakunins waren gut vertreten,8 ebenso kümmerte man sich mit Erfolg um den Aufbau eines Zeitschriftenarchivs. Die zur Bibliothek gehörende Lesehalle wurde nach und nach zum sozialen Mittelpunkt der Russischen Kolonie. Die damalige Studentin Vera Figner berichtete darüber:

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eigentlich Michail Petrovič Sažin (1845-1934) (Abbildung auf S. 30), Sohn eines Kaufmanns im Gouvernement Vjatka. Ross: Vospominanija, S. 14 und 34-35. – Ross: Russkie v Cjuriche, S. 26-27. Ross: Vospominanija, S. 35. vgl. N. G. Kuljabko-Koreckij: Iz davnich let. Vospominanija lavrista. Herausgegeben von B. P. Koz'min und M. M. Konstantinov. Izdatel'stvo vsesojuznogo obščestva politkatoržan i ssylnoposelencev, Moskau 1931, S. 13.

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»Noch zur Zeit, als wir die alte Lesehalle besuchten, wurden dort öfters Geldsammlungen vorgenommen; sei es für streikende Arbeiter, für die Märtyrer der Pariser Kommune, für russische Emigranten, die spanische Revolution usw. [...] Auch hingen an den Wänden Anzeigen von Arbeiterversammlungen, von Vorträgen für Arbeiter usw. Wir besuchten solche Versammlungen, Festmahle zu Ehren der Kommune, die Sitzungen der schweizerischen Arbeitervereine und die Sektionen der Internationale. Wir begannen uns in starkem Maße für Theorie und Praxis des Sozialismus zu interessieren, zu dessen Studium besondere Zirkel ins Leben gerufen wurden.«9

Den Posten des Sekretärs der Bibliothek übernahm im März 1872 Valerian Smirnov,10 ein 22jähriger Student aus Moskau, der an den dortigen Universitätsunruhen vom Oktober 1869 beteiligt gewesen und zwei Jahre später aus Rußland geflüchtet war. Ross freundete sich mit ihm an und nahm ihn im November 1871 zu einer Kurzreise zu Bakunin nach Locarno mit.11 Außer Smirnov, mit dem es aber nach dem Besuch nicht zu einer politischen Zusammenarbeit kam, hielt Ross keinen der Zürcher Russen für geeignet, mit ihm und Bakunin in besondere Beziehungen zu treten. Ein weiterer Kontakt zur Russischen Kolonie ergab sich für Bakunin daher erst, als der Medizinstudent Vladimir Holstein mit seiner Frau Maria12 im Jahre 1872 in den Ferien vor dem Sommersemester offenbar auf eigene Initiative aus Zürich nach

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Figner: Nacht über Rußland, a.a.O. (Anm. 2), S. 51. – vgl. auch Kuljabko-Koreckij, a.a.O. (Anm. 8), S. 64. vgl. Monika Bankowski-Züllig: ›Die erste 'Russische Bibliothek in Zürich' (1870-1873), Lavristen und Bakunisten im Widerstreit‹. In: Zeitschrift für slavische Philologie, Heidelberg, Band 47, 1987, S. 145. nach Bakunins Tagebucheintragungen am 25. und 26. November 1871 (Nettlau: Russische Bewegung, S. 407). Maria Holstein (Lebensdaten unbekannt, russische Namensform: Gol'štejn), Tochter eines Kaufmanns aus Moskau, studierte von April 1872 bis Juli 1874 Medizin an der Universität Zürich. – Vladimir Holstein (um 1849-1917, russische Namensform: Gol'štejn), Sohn eines Adligen, studierte Medizin an der

Locarno kam, um Kontakt zu Bakunin aufzunehmen. Michael Bakunin war damals 57 Jahre alt und vor elf Jahren aus der sibirischen Verbannung nach Europa geflüchtet. Nach verschiedenen Reisen, die ihn unter anderem nach Großbritannien, Schweden und Italien geführt hatten, und einer mehr als einjährigen intensiven Tätigkeit in den Sektionen der Internationalen Arbeiterassoziation (Ersten Internationale) in Genf war er im November 1869 mit seiner Familie nach Locarno im Tessin gezogen. Hier mietete er für 55 Franken monatlich eine möblierte Wohnung,13 von der folgende Beschreibung durch Arman Ross erhalten ist: »Er hatte eine Wohnung mit zwei Zimmern in der zweiten Etage eines zweistöckigen, sehr kleinen Hauses. Unten wohnten die Wirtsleute. Zwischen den beiden Zimmern lag ein Korridor, der als Eßzimmer und Diele diente, da die Treppe direkt in diesen Korridor führte. Das eine Zimmer bewohnte Michel, das andere seine Frau mit den zwei kleinen Kindern. Das Ganze war sehr bescheiden, die Möblierung äußerst einfach; so standen in seinem Zimmer nur ein Bett, ein Tisch, drei bis vier Stühle und eine Truhe, in der die Wäsche lag; sein einziger schwarzer Anzug aus Tuch hing an einem Nagel; außerdem waren noch ein paar einfache Regale mit Büchern vorhanden.«14

In dieser Wohnung besuchten Bakunin nun die Holsteins – am 11. März 1872 werden sie erstmals in Bakunins Tagebuch erwähnt: »um 5 h Holstein mit seiner Frau angekommen«,15 Elf

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Universität Moskau. Wegen seiner Beteiligung an den Universitätsunruhen im Oktober 1869 wurde er für zwei Jahre vom Hochschulstudium ausgeschlossen und unter Polizeiaufsicht ins Gouvernement Grodno verbannt. Im Februar 1870 wurde er dort verhaftet, später aber gegen Kaution freigelassen. Er flüchtete vor einer drohenden Anklageerhebung im Sommer 1871 nach Zürich, wo er im Oktober 1871 sein Medizinstudium wiederaufnahm (Bio-bibliografičeskij slovar', II, Spalte 291-292). vgl. Bakunin an Nikolaj Ogarev, 23. November 1869, in Briefwechsel, S. 182. Ross: ›Pervoe znakomstvo‹, dt. in Unterhaltungen, S. 278. Nettlau: Russische Bewegung, S. 407.

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Aleksandr Oelsnitz Zamfirij Ralli Sergej Kravčinskij (Stepnjak) Sergej Kovalik

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Tage später trafen schließlich auch Holsteins Freunde Aleksandr Oelsnitz16 und Zamfirij Ralli17 ein, die sich zuvor in Arona am Lago Maggiore aufgehalten hatten. Ralli, der in Rußland mehr als zwei Jahre in Festungshaft gesessen hatte,18 berichtete in seinen Memoiren über den Besuch: »Mit einem in der Peter-Pauls-Festung zugezogenen Rheumatismus fuhr ich zusammen mit Dr. A. Oelsnitz, der damals auch emigriert war, nach Italien in die kleine italienische Stadt Arona am Südufer des Lago Maggiore. Als wir einen Monat dort waren, erhielten wir von unserem Genossen Dr. Vladimir Holstein einen Brief aus Locarno, mit dem er uns einlud, den in diesem Städtchen lebenden alten Bakunin zu besuchen. Locarno liegt am Nordufer des Lago Maggiore, deshalb brauchten wir nur an Bord eines Dampfers zu gehen, um diesen Besuch zu machen. Wir beschlossen, auf der Rückfahrt in die Schweiz Bakunin zu besuchen und dann über den Gotthard nach Zürich

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Aleksandr Oelsnitz (1849-1907, russische Namensform: El'snic) Sohn eines Adligen, studierte zusammen mit Holstein Medizin in Moskau und wurde wie dieser wegen seiner Beteiligung an den Universitätsunruhen im Oktober 1869 für zwei Jahre vom Hochschulstudium ausgeschlossen. Er wurde unter Polizeiaufsicht ins Gouvernement Jaroslavl verbannt und dort mehrmals verhaftet, aber aufgrund einer Kaution seines Vaters wieder freigelassen. Zusammen mit Holstein flüchtete er im Sommer 1871 nach Zürich und nahm dort im Oktober 1871 sein Medizinstudium wieder auf (Bio-bibliografičeskij slovar’, I, Spalte 482-483) (Abbildung von Oelsnitz in vorliegendem Band, S. 14). Zamfirij Ralli (1848-1933), Sohn eines Gutsbesitzers in Bessarabien (heute Rumänien), studierte seit 1867 Medizin in Petersburg und war an den dortigen Universitätsunruhen der Jahre 1868-1869 beteiligt. Er wurde mehrfach verhaftet und in der Peter-Pauls-Festung inhaftiert; im März 1870 wurde er gegen Kaution freigelassen und unter Polizeiaufsicht ins Gouvernement Bessarabien verbannt. Im August 1871 ins Ausland geflüchtet, freundete er sich mit Oelsnitz und Holstein an und setzte ab Oktober 1871 sein Medizinstudium an der Zürcher Universität fort (Bio-bibliografičeskij slovar’, II, Spalte 1308-1310) (Abbildung von Ralli in vorliegendem Band, S. 14). Ralli, S. 288.

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zurückzukehren [...]. Wir trafen einen Bakunin, der wie ein wahrer Einsiedler lebte; [...] da er keinerlei Mittel für seinen Lebensunterhalt hatte, lebte er von Spenden seiner nächsten Freunde; er lebte mehr als bescheiden, da er einen großen Teil seines höchst kärglichen Budgets zum Frankieren seiner umfangreichen Korrespondenz aufwandte. Wir wurden alle drei – ich, Dr. Oelsnitz und Dr. Holstein – binnen kurzem mit Bakunin vertraut [...].«19

Tatsächlich führten ihre Gespräche bald zu konkreten Abmachungen: Mit den Worten »Pakt geschlossen« vermerkte Bakunin am 27. März 1872 in seinem Tagebuch die Gründung einer politischen Gruppe mit dem Namen ›Russische Bruderschaft‹. Ihr sollte neben Bakunin, Ralli, Oelsnitz und Holstein als fünftes Mitglied Arman Ross angehören, der sich zu dieser Zeit aufgrund einer schweren Krankheit in Montpellier (Südfrankreich) aufhielt. Nach der Abreise der Zürcher Studenten20 informierte ihn Bakunin in einem Brief, daß er sich mit Holstein und seinen Freunden über die revolutionäre Arbeit verständigt habe, allerdings unter der Bedingung, daß sie ohne Vorbehalte mit ihm (Ross) zusammenarbeiten müßten. Bakunin hatte ihnen Ross denn auch wärmstens empfohlen und als praktischen Geist und Mann von großer Energie beschrieben.21 Als die drei bald darauf Ross in Zürich näher kennenlernten, fühlten sie sich jedoch von seiner überheblichen Art abgestoßen; Ross wiederum war über die plötzliche enge Bekanntschaft der drei Studenten zu Bakunin überrascht. Ihre Verbindung mit Bakunin, schrieb er, »hat mich sehr gewundert und sozusagen verblüfft, weil alle drei mir mehrfach sagten, daß sie nur Medizin studierten, daß nur diese sie interessiere und daß sie sich mit nichts anderem beschäftigen und auch nicht beschäftigen wollten, und so verhielten sie sich auch. [...] Ich muß bekennen, daß meine Begegnung mit ihnen meinerseits ziemlich kühl und zurückhaltend war und so bis zum Ende unserer Verbindung geblieben ist, d.h. fast während des ganzen Jahres konnte ich folgendes

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ebd., S. 287-288. – Auszug in Unterhaltungen, S. 294-295. am 4. April 1872 nach Bakunins Tagebucheintragungen (Nettlau: Russische Bewegung, S. 407). Ross: Russkie v Cjuriche, S. 57. – Ralli, S. 289.

Gefühl in mir nicht überwinden: Mir schien das Ganze eine unnatürliche und unmögliche Umwandlung sozusagen von nichts zu Bakunisten-Anarchisten innerhalb von zwei-drei Tagen.«22

Trotz solcher Vorbehalte innerhalb der ›Bruderschaft‹ versuchte Bakunin alle Beteiligten für die Aufnahme einer gemeinsamen Tätigkeit zu gewinnen.23 Unter anderem hatte die Gruppe bereits Pläne diskutiert, die sich auf die Internationale bezogen und zu deren Ausführung für den Sommer ein längerer Aufenthalt Bakunins in Zürich verabredet worden war. So verließ Bakunin am 30. Juni 1872 Locarno, traf unterwegs Ross, der ihn um eine Unterredung vor seiner Ankunft in Zürich gebeten hatte,24 und kam schließlich am 4. Juli gegen 14 Uhr in Zürich an, wo er von Holstein und Ralli erwartet wurde. In Zürich gab es bis dahin nur eine kleine sozialdemokratische Sektion der Internationale, die von Hermann Greulich geleitet wurde, mit dem verschiedene Zürcher Russinnen und Russen freundschaftliche Kontakte pflegten und von dem sie regelmäßig Einladungen zu den Sitzungen der Sektion erhielten, bis sie aufgrund politischer Differenzen ihre Besuche abbrachen.25 Am vierten Tag seines Aufenthaltes in Zürich, am 7.Juli 1872, gründete Bakunin nun mit seinen Freunden eine ›Slawische Sektion‹ der Internationale.26 Im darauffolgenden Monat verfaßte er das Programm der Sektion und daran anschlie-

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Ross: Russkie v Cjuriche, S. 57-58. vgl. Bakunin an Ralli und seine Freunde, 28. Mai 1872, in Briefwechsel, S. 255-258. vgl. ebd., S. 257. – Zu den angeführten Daten vgl. Bakunins Tagebucheintragungen vom 30. Juni und 4. Juli 1872 (Neue Biographie, IV, S. 124). vgl. Ross: Pervoe znakomstvo, S. 17. (dt. unübersetzt) – Ross: Russkie v Cjuriche, S. 31-32. – Hermann Greulich: Das grüne Hüsli. Erinnerungen. Herausgegeben von Gertrud Medici-Greulich. Genossenschaftsdruckerei, Zürich o.J. [1942], S. 53-55. vgl. Bakunins Tagebucheintragung vom 7. Juli 1872 (Nettlau: Russische Bewegung, S. 413)

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ßend eine Satzung (règlement), die jedoch nicht erhalten geblieben ist. In dem 14 Punkte umfassenden ›Programm der Slawischen Sektion in Zürich‹27 hieß es unter anderem: »3. Als Anhänger des revolutionären anarchistischen Programms, das unserer Meinung nach allein die Bedingungen einer wahren und vollständigen Emanzipation der Volksmassen erfüllt, und in der Überzeugung, daß die Existenz des Staates, jedes Staates darüber hinaus mit der Freiheit des Proletariats unvereinbar ist, daß sie der menschlichen Brüderlichkeit, der internationalen Brüderlichkeit der Völker entgegengesetzt ist, wollen wir die Abschaffung aller Staaten. [...] 7. Die Slawische Sektion, die für den Materialismus und Atheismus eintritt, wird alle Arten von Gottesdiensten und alle offiziellen und inoffiziellen Kirchen bekämpfen, indem sie in Wort und Tat ihren tiefen und ernsten Respekt für die Gewissensfreiheit aller und für das heilige Recht jedes einzelnen, seine Ideen zu verkünden, erklärt. Sie wird die Idee einer Gottheit in all ihren religiösen, metaphysischen, doktrinärpolitischen und juristischen Erscheinungsformen angreifen in der Überzeugung, daß diese gefährliche Idee immer noch jegliche Art von Sklaverei gerechtfertigt hat und noch rechtfertigt. [...] 10. Auch wenn sich die Slawische Sektion die Emanzipation der slawischen Völker zur besonderen Aufgabe gemacht hat, beabsichtigt sie jedoch in keiner Weise die Organisation einer eigenen slawischen Welt, die anderen Völkern feindlich oder sogar nur fremd gegenüberstehen würde. Im Gegenteil, ihr Hauptzweck wird darin bestehen, die slawischen Völker in die große menschliche Familie eintreten zu lassen, die auf der Basis der Freiheit, Gleichheit und universellen Brüderlichkeit zu begründen, die Internationale Arbeiter-Assoziation sich vorgenommen hat. [...]

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›Programme de la Section Slave à Zürich‹ – Bakunins Original-manuskript, versehen mit dem ovalen Stempel der Slawischen Sektion, wurde von Ralli aufbewahrt und später Michail Dragomanov, dem Herausgeber des Briefwechsels, zur Publikation überlassen (Briefwechsel, S. 381383). Später befand es sich in einer Bibliothek in Paris, wo Max Nettlau 1904 Gelegenheit hatte, es einzusehen (vgl. Archives, III, Einleitung, S. XIX). Es wird heute im Moskauer ›Rossijskij Centr Chranenija i Izuceniia Dokumentov Novejšej Istorii‹, fond 21, opis' 1, delo 397, aufbewahrt.

14. Da sich die Juraföderation offen zu diesen Prinzipien bekannt hat und sie aufrichtig in die Tat umsetzt, hat sich die Slawische Sektion in Zürich entschlossen, ihre Aufnahme in die Föderation zu beantragen.«28

Die Aufnahme der ›Slawischen Sektion‹ in die Juraföderation, die damals elf Sektionen der Internationale aus dem Gebiet des Schweizer Jura sowie aus Lausanne und Genf vereinigte, muß an einem der nächsten Tage vollzogen worden sein, da die Sektion bereits vier Tage nach Abfassung des Programms, am 18. August 1872, auf dem Regionalkongreß der Juraföderation in La Chaux-de-Fonds vertreten war.29 Die Sektion wird in den Folgemonaten häufiger in den Protokollen des Komitees der Juraföderation erwähnt, zum Beispiel in der Sitzung vom 19. Januar 1873: Die Sektion habe 56 Franken für ihre Abonnements des Bulletin de la Fédération jurassienne bezahlt (zu je 4 Franken),30 also für 14 Mitglieder. Ihr gehörten nach der Angabe von Ross »russische, serbische und bulgarische Studenten«31 sowie serbische und kroatische Arbeiter an. Ralli erinnerte sich später: »[...] wir fanden auch einige slawische Kesselflicker, die mit ihren Blechwaren durch die Schweiz zogen, und nahmen sogar näheren Kontakt zu ihnen auf. Es waren insgesamt 20 Leute, nicht mehr; die meisten waren junge Leute, die ziemlich gut deutsch sprachen und an der Zürcher Universität studierten [...].«32

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Briefwechsel, S. 381-383. vgl. Guillaume: L'Internationale, II, S. 316. – Auch auf die folgenden Kongresse der Juraföderation wurden Delegierte der Sektion entsandt: Ralli und Holstein vertraten sie am 15. September 1872 in St. Imier und Holstein am 27. April 1873 in Neuchâtel (Guillaume: L'Internationale, III, S. 2 und 68). Das Mandat von Holstein für den Kongreß in Neuchâtel (unterzeichnet von Ralli als Sekretär der ›Slawischen Sektion‹) ist erhalten geblieben und abgebildet in Archives, III, S. 380. Bulletin de la Fédération jurassienne de l'Association internationale des travailleurs, Sonvillier, 2. Jg., Nr. 3, 1. Februar 1873, S. 2. Ross: Russkie v Cjuriche, S. 58. Ralli, S. 299.

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Nachdem das von Bakunin auf französisch verfaßte Programm der Sektion einstimmig angenommen worden war, leitete es Ralli, der zum Sekretär der Sektion gewählt worden war, zur Veröffentlichung an James Guillaume weiter, einen Freund Bakunins in der Juraföderation und Redakteur des Bulletin de la Fédération jurassienne.33 Eine russische Übersetzung des Programms hat Bakunin im Jahr darauf dem Buch ›Staatlichkeit und Anarchie‹ als Anhang B beigegeben und in einer Fußnote dazu bemerkt: »[...] wir empfehlen allen Slawen wärmstens das Programm dieser Sektion, das wir am Ende der Einleitung veröffentlichen.«34 Dieses Programm, das einmal als »Charta des libertären Sozialismus« bezeichnet worden ist,35 war in Rußland sehr wirkungsvoll und hat offenbar zu lebhaften Debatten Anlaß gegeben. Ein Zeitgenosse schrieb darüber: »Schließlich nahm die Jugend das Programm der russischen [slawischen] Sektion der Juraföderation an, nachdem sie den Punkt über den Atheismus gestrichen hatte.«36 Nachdem Bakunin (mit verschiedenen Unterbrechungen) den ganzen Sommer in der Zürcher Russischen Kolonie zugebracht, Kontakte geknüpft, Treffen organisiert, die ›Russische Bibliothek‹ besucht und an Diskussionen teilgenommen hatte, konnte er am 11. Oktober 187237 Zürich wieder zufrieden verlassen. Etwa einen Monat nach Bakunins Abreise traf jedoch der Emigrant Petr Lavrov in Zürich ein, mit dessen Ankunft ein Fraktionierungsprozeß in der Kolonie einsetzte, der sich

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ebd. – Das Programm ist jedoch nicht im Bulletin de la Fédération jurassienne abgedruckt worden, zu den möglichen Gründen vgl. Archives, III, Einleitung, S. XIX-XX. siehe vorliegenden Band, S. 177 und S. 388-391 (Anhang B). Alexis Vencia: ›Bakounine et l'action révolutionnaire en Russie‹. In: La Rue. Revue culturelle et littéraire d'expression anarchiste, Paris, Nr. 22, 3. und 4. Quartal 1976, S. 88. Kovalik, S. 119. – vgl. auch Thun, a.a.O. (Anm. 3), S. 66. nach Bakunins Tagebucheintragungen (Nettlau: Russische Bewegung, S. 414).

bald auf die revolutionäre Bewegung in Rußland übertragen sollte. »Bakunin ist nach Locarno zurückgekehrt«, berichtete die Studentin Elizaveta Litivinova, »aber in Zürich sind die Spuren seines Aufenthaltes noch spürbar; inmitten der russischen Emigration kann man ein Wogen bemerken, als sei ein Dampfer vorbeigefahren. Die Emigranten zerfallen in zwei Parteien – Anhänger Bakunins und Gefolgsleute von L[avrov]. Beide befeinden sich heftig.«38 So wird die Auseinandersetzung mit Lavrov im folgenden zu einem zentralen Bezugspunkt in Bakunins auf Rußland bezogener Tätigkeit. Auseinandersetzung mit Lavrov Petr Lavrov39 wurde 1823 als Sohn eines reichen Gutsbesitzers im Gouvernement Pskov geboren, schlug in jungen Jahren die Militärlaufbahn ein und arbeitete seit seinem 23. Lebensjahr als Dozent für Mathematik an der Petersburger Artillerieakademie. Neben seiner Arbeit eignete er sich eine umfassende Bildung an und wandte sich langsam auch politischen Themen zu, so daß er Anfang der 1860er Jahre zu einer bekannten Figur in den radikalen Zirkeln Petersburgs wurde. Nach dem Attentatsversuch von Dmitri Karakazov auf Zar Alexander II. (April 1866) wurde Lavrov als prominenter Radikaler von der allgemeinen Verhaftungswelle erfaßt und zur Entlassung aus der Armee, Verlust aller Lehrämter und Verbannung verurteilt. Im Februar 1867 traf er im Gouvernement Vologda (500 km nördlich von Moskau) ein, wo er im folgenden Jahr mit Arman Ross, der ebenfalls hierher verbannt worden war, Bekanntschaft schloß. Nach Ross' eigenen Worten blieb Lavrov für ihn aber in diesen Jahren im Ganzen ein »typischer Liberaler« oder sogar ein »liberaler Herr« (barinom-liberalom)40, zumal er sich auch als Ver-

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Unterhaltungen, S. 301. vgl. über ihn im folgenden Philip Pomper: Peter Lavrov and the Russian Revolutionary Movement. The University of Chicago Press, Chicago, London 1972. Ross: Vospominanija, S. 50 und 30.

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bannter vor allem mit Anthropologie, Soziologie und Geschichte beschäftigte und sich mit Antrittsbesuchen bei den tonangebenden Gutsbesitzern der Umgebung in die bessere Gesellschaft zu integrieren bemühte.41 Daneben beteiligte er sich aber auch mit einer Vielzahl von Artikeln aktiv an der in den Zeitschriften ablaufenden Theoriediskussion, so etwa mit seiner 1868-1869 in der Zeitung Nedelja unter dem Pseudonym P. Mirtov veröffentlichten Artikelserie Historische Briefe,42 in denen er die gebildete Jugend aufforderte, sich ihrer privilegierten Stellung, die auf Kosten der unterdrückten Volksmassen gehe, bewußt zu werden und durch aktives Handeln diese Schuld abzutragen. Mit den ›Historischen Briefen‹ wurde Lavrov mit einem Schlag zu einem der Wortführer der radikalen Jugendbewegung. Sein Erfolg erklärt sich aus der aufklärerischen und moralischen Perspektive der ›Briefe‹, die der Jugend im andauernden Prozeß der Abwendung von den bestehenden Verhältnissen eine neue soziale Orientierung anbot, die zugleich ihr Streben nach Bildung und Wissenschaft berücksichtigte. Sein Einfluß sollte jedoch wieder zurückgehen, als mit der Entwicklung der revolutionären Bewegung im Laufe der 1870er Jahre sich immer mehr eine kämpferische Stimmung unter den Jugendlichen ausbreitete: Statt theoretischer Orientierungshilfen war dann die Erörterung praktischer Tätigkeit gefragt. Nach verschiedenen erfolglosen Versuchen, seine Rehabilitierung oder legale Ausreise zu erreichen, gelang es Lavrov schließlich, im Februar 1870 aus der Verbannung zu fliehen; nach zweiwöchiger Reise erreichte er Paris, wo er sich vorerst niederließ. Im Sommer desselben Jahres planten Bakunin und Arman Ross, eine russische Zeitschrift herauszubringen. Ross erinnerte sich später:

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ebd., S. 29. dt. Peter Lawrow: Historische Briefe. Akademischer Verlag für sociale Wissenschaften Dr. John Edelheim, Berlin, Bern 1901.

»Er [Bakunin] übernahm natürlich den ganzen redaktionellen Teil und ich die Organisation des Drucks, die Verbreitung und den Transport nach Rußland. Als Mitarbeiter nahm er seine Emigrantenfreunde, Russen und Ausländer, in die Pflicht. Ich schlug P. L. Lavrov als Philosophen vor, der gerade aus der Verbannung entflohen war und sich in Paris niedergelassen hatte. Bakunin war damit einverstanden, ihn einzuladen, aber unter der Bedingung, daß er nur Artikel philosophischen Inhalts schreiben sollte. ›Er (Lavrov) erkennt den Herrgott nicht an; mag er also gegen ihn Krieg führen!‹ Andere Dinge könne man ihn nicht behandeln lassen, Lavrov sei in sozialen und politischen Dingen mehr oder weniger ein ›Kadett‹, am Ende noch ein rechter.«43

Bakunins Distanz gegenüber Lavrov erklärt sich gleichermaßen aus persönlichen wie aus politischen Unterschieden, die im Laufe der Jahre immer deutlicher hervortraten: Lavrov betonte die Notwendigkeit einer umfassenden geistigen und moralischen Vorbereitung für politische Tätigkeit, verband die Forderung nach gesellschaftlicher Freiheit mit der Notwendigkeit allgemeiner Bildung und empfahl den Revolutionären, sich dafür einzusetzen, den Volksmassen zu mehr Kultur zu verhelfen. Mit einer diesen Zielen verpflichteten, reformorientierten Tätigkeit hoffte er, langfristig einen gesellschaftlichen Wandel vorzubereiten.44 Bakunin dagegen – von Natur aus ungeduldig und mit Leidenschaft für die Idee menschlicher Emanzipation eintretend – verlangte die sofortige Organisation der Revolte und ließ dabei weder bildungsspezifische noch irgendwelche anderen Einwände gelten. Dem Volk wissenschaftlichen Unterricht erteilen? »[...] unserem Volk [ist es] in seiner jetzigen allzu erbärmlichen Lage nicht um die Wissenschaft zu tun [...]. Um dem Volk Theorie überhaupt zugänglich machen zu können, muß man erst seine Praxis ändern, muß man vor allem radikal die ökonomischen Bedingungen seiner Existenz umwandeln [...]. Gebt dem Volk die

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Ross: ›Pervoe znakomstvo‹, dt. in Unterhaltungen, S. 274. vgl. auch unten, Anm. 64, 65 und S. 74-75.

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ganze Weite des menschlichen Lebens, und es wird Euch durch die tiefe Rationalität seines Denkens erstaunen.«45

Eine andere Kontroverse, die in der russischen revolutionären Bewegung Widerhall finden sollte,46 trennte Bakunin von Lavrov in der Staatsfrage. Lavrov betonte, daß es zwischen der idealen Zukunftsgesellschaft, »in der alle Spuren staatlichen Zwangs verschwunden sein werden«, und den Zentralstaaten der Gegenwart eine Reihe von politischen Übergangsformen und Zwischenstufen gebe, die eine in »ferner Zukunft« liegende freie Gesellschaftsform vorbereiten könnten.47 Bakunin stellte dagegen nicht nur diese oder jene Regierungsform, sondern das Prinzip Staat schlechthin in Frage, indem er darauf hinwies: »[...] kein Staat, wie demokratisch auch immer seine Formen sein mögen, [...] kann dem Volke das geben, was es braucht, nämlich die freie Organisation der eigenen Interessen von unten nach oben, ohne jede Einmischung, Bevormundung oder Nötigung von oben [...].«48

Aber nicht aufgrund der inhaltlichen Differenzen zwischen Bakunin und Lavrov ist es dann nicht mehr zu näheren Verhandlungen über das Zeitschriftenprojekt gekommen, sondern durch den Ausbruch des deutsch-französischen Krieges (im September 1870), der die Pläne aller Beteiligten über den Haufen 45

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siehe vorliegenden Band, S. 365-366, 375. – vgl. auch Bakunins Flugschrift ›Die Aufstellung der Revolutionsfrage‹ (1869): »Das Volk belehren? Das wäre dumm. Das Volk weiß selbst und besser als wir, was ihm notwendig ist. [...] Nicht belehren, sondern aufwiegeln müssen wir das Volk.« (Briefwechsel, S. 351) vgl. unten die Stellungnahme von Aksel'rod, S. 63-64. [Lavrov:] ›Vpered'! Naša programma‹. In: Vpered'! Neperiodičeskoe obozrenie, Zürich, Band 1, Abt. 1, 1873, S. 8. – An das Exekutivkomitee der ›Narodnaja Volja‹ schrieb Lavrov am 3. März 1882: »Ich war nie Anarchist, ich war immer der Meinung, daß das staatliche Element, das Element der Macht, noch für eine lange Zeit notwendig sein wird bei der Organisation der sozialrevolutionären Partei und bei der Organisation der zukünftigen Gesellschaft« (Revoljucionnoe narodničestvo, II, S. 329). siehe vorliegenden Band, S. 131.

warf.49 1 ½ Jahre später griff Lavrov als erster die Idee wieder auf, nachdem ihm aus Rußland der Vorschlag gemacht worden war, im Ausland eine russische Zeitschrift herauszugeben. Zusätzliche Unterstützung erhielt Lavrov bei diesem Vorhaben durch Sergej Podolinskij, einen ukrainischen Medizinstudenten, der Lavrov in Paris seine Hilfe anbot und sich bereit erklärte, nach Rußland und Zürich zu fahren, um die Stimmung der russischen Jugend zu diesem Projekt zu sondieren. Auf der Rückreise von Rußland immatrikulierte sich Podolinskij im Mai 1872 an der Zürcher Universität,50 propagierte Lavrovs Zeitschriftenprojekt in der Russischen Kolonie und stieß bald auf positive Resonanz. Auch Ross konnte er dafür interessieren, der die Idee einer Zeitschrift ebenfalls noch nicht aufgegeben hatte. Am 20. Juni 1872 schrieb Ross einen Brief an Lavrov mit der Bitte um nähere Informationen zu dem Projekt und um Übersendung des Programmentwurfs für die Zeitschrift, den Lavrov im März 1872 verfaßt hatte. Ross schloß seinen Brief mit der Frage: »Übrigens, was halten Sie von einer Zusammenarbeit mit Bakunin an dieser Zeitschrift? Vor dem Krieg 1870/71 waren Sie damit einverstanden, vielleicht haben Sie jetzt Ihre Meinung geändert.«51 Weitere Diskussionen zwischen Lavrov und Ross ergaben sich durch eine Reise von Ross nach Paris (Anfang November 1872) und vor allem durch die Übersiedlung Lavrovs nach Zürich (Ende November), wo er etwa einen Monat nach Bakunins Abreise eintraf. Lavrovs Motiv bei den Verhandlungen mit Ross war wohl vor allem die Aussicht auf technische Unterstützung bei der Einrichtung und dem Betrieb einer Druckerei,52 mit deren Planung die Gruppe um Ross tatsächlich schon länger

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Ross: ›Pervoe znakomstvo‹, dt. in Unterhaltungen, S. 276. vgl. die Immatrikulationslisten russischer Studentinnen und Studenten an den Zürcher Hochschulen (1864-1874) bei Meijer, S. 211. Ross an Lavrov, 20. Juni 1872, in Sapir, II, S. 55. Lavrov schrieb später (wohl im April 1873) an Bakunin: »Wenn es mir auch nicht gelungen ist, hier [in Zürich] die Unterstüt-

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beschäftigt war. Gerade in jener Zeit nahm das Projekt erstmals nähere Forman an: Semen Ursati, ein bessarabischer Freund von Ralli von der Petersburger Universität, kam als Geldgeber von 10.000 Franken zur Gründung einer russischen Druckerei in Zürich in Betracht, worüber ein Vertragsentwurf zwischen ihm und Ross, Oelsnitz, Ralli und Holstein erhalten ist,53 Ursati besuchte auch Bakunin in Locarno,54 aus unbekannten Gründen ist jedoch nichts aus diesem Unternehmen geworden. Bald nach seiner Ankunft in Zürich erschien Lavrov in Zylinder, Gehrock und Handschuhen (wie ein Professor, erinnerte sich Ross später)55 zu einem Besuch bei Ross, um die Möglichkeit einer Zusammenarbeit bei der geplanten Veröffentlichung auszuloten. Die Diskussion drehte sich zunächst um den von Lavrov verfaßten (ersten) Programmentwurf der Zeitschrift, den Ross »äußerst trocken, theoretisch und völlig weltfremd« fand.56 Lavrov habe dann zwei oder drei mal auf Reklamationen von Ross und seinen Freunden hin den Text geändert, so daß am Ende ein zweiter Programmentwurf57 entstanden war – mit dem aber ebensowenig eine Übereinstimmung zu erzielen gewesen sei. »Als er [Lavrov] erkannte, daß es schwierig ist, allein auf der Grundlage eines Programms zur einer endgültigen Einigung zu gelangen«, schreibt Ross, »machte Lavrov andere Zugeständnisse.

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zung (mit der ich in drucktechnischer Hinsicht sehr gerechnet hatte) jener Gruppe zu bekommen, die sich als solidarisch mit Ihnen ausgibt, so bin ich doch jetzt, angesichts der traurigen Vorkommnisse, die sich kürzlich ereigneten [gemeint ist die ›Sokolov-Affäre‹], darüber sehr froh.« Lavrov an Bakunin, [April 1873], in Sapir, II, S. 40. Text siehe Biographie, S. 762. am 8. und 9. November 1872 nach Bakunins Tagebucheintragungen (Nettlau: Russische Bewegung, S. 415). Nachträge, Anm. 4552. Ross: Vospominanija, S. 38. – Abdruck des ersten Programms in Sapir, II, S. 115-132. Abdruck in Sapir, II, S. 132-152.

Während eines seiner Besuche erklärte er, daß er mir die Übernahme der gesamten Technik der Zeitschrift anbiete, ihren Versand, die Verwaltung aller Adressen, Verbindungen usw. [...] Diesmal brachte mich Lavrovs Angebot ernsthaft zum Nachdenken. Die Sache war die, daß ich und alle meine Genossen, die wir Anhänger Bakunins waren, fast keine Verbindungen nach Rußland hatten. Abgetrennt von der Heimat und ihrer Gedanken- und Gefühlswelt führten wir ein eigenes Leben und hatten unsere eigenen Interessen. Im übrigen hatte Lavrov, wie er selbst sagte, gewisse Verbindungen zu einigen legal publizierenden Autoren in Rußland. Bei dem Vertrieb der eigentlichen Zeitschrift würden darüber hinaus alle Adressen und Verbindungen mit Rußland in meine Hände übergehen. Aufgrund dieser Überlegungen entschloß ich mich, daß Angebot Lavrovs anzunehmen. Hinzukam noch [sein Angebot] einer gemeinsamen Redaktion, was wiederum die Möglichkeit eröffnete, dem von Lavrov ausgearbeiteten Programm nicht strikt folgen zu müssen. [...] Um die Sache mit der Zeitschrift zu klären, reiste ich zu Bakunin, der damals in Locarno wohnte.«58

Nach Bakunins Tagebuch besuchte ihn Ross vom 9. bis 10. Dezember 1872.59 Obwohl Bakunin gegenüber der Zusammenarbeit mit Lavrov skeptisch eingestellt war, erklärte er sich schließlich doch unter folgenden, bereits zwischen Lavrov und Ross erörterten Bedingungen einverstanden: 1) Lavrov und Ross sollten gemeinsam und gleichberechtigt die Zeitschrift redigieren, mit beiderseitiger Informationspflicht und Vetorecht. 2) Ross solle als Redaktionssekretär für die Verbindungen mit Rußland und die Korrespondenz zuständig sein.60 Lavrov lehnte es jedoch auf dem entscheidenden Treffen in Zürich am 16. Dezember 1872 überraschend ab, die Redaktionsarbeit mit irgend jemandem zu teilen, so daß alle Verhandlungen abrupt endeten. Als Ross in einem Brief an Bakunin vom Scheitern der Verhandlungen berichtete, notierte Bakunin in sein Tagebuch:

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Ross: Vospominanija, S. 39-40. Nettlau: Russische Bewegung, S. 416. Oelsnitz an Aleksandr Buturlin, 21. Dezember 1872, in Sapir, II, S. 108. – Ross: Vospominanija, S. 41.

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»guter Brief von Ross – Bruch mit Lavrov«,61 Ein paar Tage später vermerkte er jedoch in seinen täglichen Notizen den Eingang eines »sehr wenig befriedigenden Briefes von Holstein & Co.«,62 in dem Bakunin offenbar doch eine Einigung mit Lavrov auf der Basis seines zweiten Programms vorgeschlagen wurde.63 Bakunin antwortete am 27. Dezember 1872 nach Zürich: »Meine Freunde, ich habe das Programm, das Ihr mir geschickt habt, erhalten und gelesen; Euren Wunsch, es anzunehmen, kann ich unmöglich erfüllen, da ich mir nicht vorstellen kann, wie wir mit einem jungen Verwaltungsbeamten und sogar mit einem Staatsanwalt und mit den übrigen Leuten, die eine Kokarde tragen [= Angestellte des Staates sind], zusammenarbeiten sollen.64 Denn das hieße doch, mit den Beamten gemeinsame Sache zu machen, die vom Volk ebenso gehaßt werden wie der Adel; au-

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Tagebucheintragung vom 19. Dezember 1872 (Nettlau: Russische Bewegung, S. 416). Tagebucheintragung vom 25. Dezember 1872 (ebd.). vgl. hierzu auch Oelsnitz an Buturlin, 21. Dezember 1872: »Wir haben noch nicht endgültig entschieden, was unsere Haltung zur Zeitschrift sein wird.« (Sapir, II, S. 109) Bakunin bezieht sich auf folgende im ersten und zweiten Programmentwurf Lavrovs nahezu gleichlautende Passage: »Was man mittels legaler Reformen tun kann, muß auch getan wer-den. Wie knapp der Boden der Legalität in Rußland wahrhaftig auch bemessen sein mag, so existiert er doch. Ein hoher oder niederer Beamter der Lokalverwaltung kann auf legalem Wege viel für die Verbesserung der materiellen Lage des Volkes und für die Unterstützung seiner geistigen Entwicklung tun. Ein Mitglied des Zemstvo [lokale Ständevertretung], ein Richter und ein Anwalt können auf dem Boden der Legalität zur Erweiterung der Selbständigkeit, der Stärkung der Rechte, sogar zur politischen Erziehung der Bauernschaft beitragen. [...] Wir selbst bemühen uns, das Erforschen dieses Bodens der Legalität für die Zukunft zu unterstützen. Indem man ihn erforscht, muß man ihn ausnutzen soweit es irgend möglich ist.« (Sapir, II, S. 143; zur entsprechenden Passage im ersten Programmentwurf siehe ebd., S. 123-124). – Auch Vera Figner äußerte sich über diese Aussage Lavrovs mit Befremden (vgl. Vera Figner: Studenčeskie gody ❲18721876❳. Knigoizdatel'stvo ›Golos Truda‹, Moskau 1924, S. 44).

ßerdem steht in dem Programm viel zu viel über die Notwendigkeit einer ernsthaften wissenschaftlichen Bildung, die für einen Revolutionär unumgänglich sei.65 Was soll denn das, wir haben doch nicht vor, im Ausland eine Universität zu eröffnen! Zweifellos wäre das eine gute Sache, aber es ist nicht unsere Sache, soll sich ihrer doch Offizier Lavrov annehmen, ich aber kümmere mich um die revolutionäre Sache, die nicht zu Doktrinären paßt. Ich habe auf die herzliche Einladung von Petr Lavrov noch nicht geantwortet, denn hätte ich geantwortet, so hätte ich ihm geschrieben, daß ich über die Elastizität seines Verstandes verwundert bin; er wäre beleidigt gewesen, und das wäre nicht gut. Deshalb schlage ich vor, wir sollten ohne ihn auskommen [...].«66

Die Zürcher »Bakunisten« und die Russische Druckerei Die Auseinandersetzungen um Lavovs Zeitschriftenprojekt brachten den Fraktionierungsprozeß innerhalb der Russischen Kolonie zum Abschluß: Der »›Bakunisten‹ getauften Gruppe«67 um Ross mit 1520 Mitgliedern standen ca. 100 »Lavristen« gegenüber,68 ein Verhältnis, das sich in der revolutionären Be-

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Im ersten und zweiten Programmentwurf des Vpered hatte Lavrov von den russischen Revolutionären verlangt: »Die erste und unabdingbare Voraussetzung [für die Arbeit im Volk] besteht in ihrer eigenen Ausbildung, in der Klärung ihres eigenen Denkens durch ernsthafte wissenschaftliche Kenntnisse [...]. Eine sorgfältige Aneignung aller juristischen, ökonomischen, geistigen, moralischen und individuellen Eigenheiten des Milieus, in dem es zu arbeiten gilt, ist für die Aktivisten in der Gesellschaft obligatorisch, wenn sie wirklich tätig sein wollen und sich nicht mit lauten Phrasen und leeren Wünschen zufrieden geben wollen.« (Sapir, II, S. 148; zur entsprechenden Passage im ersten Programmentwurf siehe ebd., S. 128-129). – vgl. auch unten, S. 74-75. Bakunin an Holstein und seine Freunde, 27. Dezember 1872, in Archives, V, S. 216-217. Ralli, S. 293. – Abgesehen von den Arbeitern und den serbischen Studenten dürfte dieser Kreis mit dem der Slawischen Sektion identisch sein. vgl. Bakunin an Ralli, 6. Februar 1873, in Biographie, S. 764.

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Nadežda Smeckaja Varvara Vachovskaja Arman Ross (Michail Sažin) Vladimir Debogorij-Mokrievič

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wegung im Rußland der kommenden Jahre genau umdrehen sollte. Neben den vier schon bekannten Männern Ross, Ralli, Holstein, Oelsnitz bestand die ›Bakunin-Gruppe‹ überwiegend aus Studentinnen, von denen einige in den nächsten Jahren zu namhaften Mitgliedern der revolutionären Bewegung in Rußland wurden. Von ihnen seien drei im folgenden kurz vorgestellt: Sof'ja Lavrova (1842-1916), (trotz der Namensgleichheit nicht mit Lavrov verwandt). Sie hatte im Juni 1870 Rußland verlassen und studierte ab Oktober desselben Jahres Medizin an der Zürcher Universität und ab 1871 Naturwissenschaften an der ETH.69 Sie gehörte zu den Gründungsmitgliedern des Bibliothekskreises und stellte ihr Zimmer für die Treffen der Gruppe zur Verfügung, »weil sie einen Samowar hatte. Sie wohnte mit ihrer 7-8 Jahre alten Tochter zusammen in einem ziemlich großen Zimmer, das uns allen problemlos Platz bot.«70

Im Jahre 1873 kehrte sie nach Rußland zurück, um »ins Volk zu gehen«. 1876 war sie an der Befreiung Peter Kropotkins aus der Haft beteiligt, lebte danach unter dem Namen Pavlova als Hebamme und Krankenschwester im Gouvernement Saratov und machte Propaganda unter den Bauern. Im Oktober 1878 wurde sie in Petersburg verhaftet, in der Peter-Pauls-Festung eingekerkert und im Juni 1880 ins Gouvernement Vjatka verbannt.71 Nadežda Smeckaja (um 1850-1905), studierte von April 1870 bis Oktober 1871 Medizin an der Zürcher Universität. Sie war im Februar 1871 die erste Frau, die als Studentin zur ETH zugelassen wurde, wo sie bis März 1872 immatrikuliert war. Sie war Zimmernachbarin von Lavrova und gehörte ebenfalls zu den Gründungsmitgliedern des Bibliothekskreises. Im Winter 1874/1875

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zu den Immatrikulationsdaten vgl. im folgenden Meijer, S. 208-217. Ross: Russkie v Cjuriche, S. 32. Bio-bibliografičeskij slovar’, II, Spalte 734-735.

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begab sie sich nach Rußland, um »ins Volk zu gehen«, wurde im April 1875 verhaftet, konnte aber ins Ausland entkommen. Unter dem Decknamen Fedorova kehrte sie im Dezember 1876 nach Rußland zurück, wo sie in Petersburg eine revolutionäre Gruppe gründete. Zuvor scheint sie mit Kropotkin eine Scheinehe geschlossen zu haben, um in Rußland sein Vermögen zur Befreiung von Ross zu benutzen, der seit 1876 in russischer Kerkerhaft war. Im November 1877 wurde sie erneut festgenommen und nach einem mißglückten Fluchtversuch ins Gouvernement Jakutsk in Ostsibirien verbannt.72 – Lavrova und Smeckaja waren nach der Schilderung von Ross Anarchistinnen, die durch ihre Intelligenz, Bildung und Energie zu den bedeutendsten Persönlichkeiten der Russischen Kolonie gehörten, die auch von Bakunin und Lavrov sehr geschätzt wurden.73 Varvara Vachovskaja (1855-?), verließ mit 17 Jahren Rußland und studierte von Oktober 1872 bis Juli 1873 Naturwissenschaften an der Zürcher Universität. Sie war Mitglied der Bibliotheksgruppe und hat als einziges weibliches Mitglied des Kreises Erinnerungen an diese Zeit hinterlassen. Über einen Abend mit Bakunin, den sie im Herbst 1872 während seines Aufenthalts in Zürich kennengelernt hatte, schrieb sie: »Er bewohnte ein großes Zimmer mit ganz schlichter Einrichtung. Bei ihm versammelten sich 15-20 junge Leute, die, in Gruppen zusammensitzend, sich ungezwungen unterhielten, stritten, sangen; ich spielte auf dem Klavier, und Michail Aleksandrovič [Bakunin] saß an einem großen Tisch, der vollgepackt war mit Papieren und Zeitungen, hatte ein Pfeifchen im Mund, hielt eine Feder in der Hand und schrieb. Von Zeit zu Zeit legte er die Feder hin, hörte den Gesprächen zu, machte seine Bemerkungen, scherzte, trat an das Klavier heran, bat einige Passagen zu wiederholen, äußerte sich über meine Musik, die seinen Beifall fand. Ungeachtet des Altersunterschieds, der geistigen Entwicklung, des Bildungsgrades und der Lebenserfahrung fühlte sich die Jugend

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Bio-bibliografičeskij slovar’, II, Spalte 1525-1527. – Archives, V, S. 567. – Abbildung von Smeckaja in vorliegendem Band, S. 30. Ross: Vospominanija, S. 67 und 83.

in der Gesellschaft von Michail Aleksandrovič sehr frei und ungezwungen, da er in keiner Weise autoritär auftrat, obwohl er sie von Zeit zu Zeit vorsichtig korrigierte, tadelte, aber all das in einer wohlmeinenden Form, sachlich und ruhig, überzeugt, daß jeder es so auffaßte, wie es gemeint war.«74

Weniger harmonisch entwickelte sich jedoch die Situation innerhalb der Russischen Kolonie insgesamt: Verschiedene Konflikte um die Bibliothek und um einen tätlichen Übergriff von Nikolaj Sokolov, einem 40jährigen Emigranten, der zu den »Bakunisten« gezählt wurde, gegenüber Smirnov, der Lavrovs Sekretär geworden war, versetzten die Russische Kolonie in hitzige Aufregung und führten zu einer strikten Trennung der »Lavristen« von den »Bakunisten«. Die Konfrontation wurde schließlich so massiv, daß sich Ross entschloß, erneut zu Bakunin zu reisen, um ihn um seine Vermittlung zu bitten. Tatsächlich begleitete Bakunin Mitte April 1873 Ross zurück nach Zürich und verhandelte mit Lavrov über die Beilegung der Streitigkeiten. Es war das erste und einzige Treffen der beiden Veteranen der russischen Emigration und hatte tatsächlich den Erfolg, daß sich die Situation im folgenden wieder etwas beruhigte. Zugleich wurden offenbar während dieses etwa einwöchigen Aufenthalts75 Bakunins in Zürich auch die schon länger bestehenden Planungen zur Gründung einer eigenen Druckerei zum Abschluß gebracht. Nach dem Scheitern der Verhandlungen mit Lavrov hatte die Gruppe um Ross zunächst die Herausgabe einer eigenen Zeitschrift diskutiert. In Anbetracht ihrer begrenzten Mittel entschieden sie sich jedoch für den Druck von Büchern, um sich langfristig nicht an bestimmte Erscheinungstermine binden zu müssen.76 Aufgrund einer Geldsammlung innerhalb der Grup-

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V. Vachovskaja (Bonč-Osmolovskaja): Žizn' revoljucionerki. Izdatel'stvo vsesojuznogo obščestva politkatoržan i ss.-poselencev, Moskau 1928, S. 9. (Abbildung von Vachovskaja in vorliegendem Band, S. 30). Am 23. April 1873 kehrte Bakunin nach Locarno zurück (Nettlau: Russische Bewegung, S. 417). Ross: Russkie v Cjuriche, S. 61.

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Restaurant und Pension ›Tannenhof‹ ehemals ›Zum Bremerschlüssel‹, wo die Zürcher »Bakunistinnen« und »Bakunisten« wohnten und ›Staatlichkeit und Anarchie‹ 1873 zum Teil gesetzt worden ist. (Historische Aufnahme vom Juli 1946, Baugeschichtliches Archiv Zürich)

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pe kamen 5100 Franken zusammen,77 womit dann im April/Mai 187378 eine Druckerei eingerichtet werden konnte. Die Gruppe mietete einen Raum an, kaufte eine gebrauchte Handpresse und bestellte kyrillische Drucklettern. Ross fertigte einen Setzkasten für kyrillische Buchstaben als Muster für einen Schweizer Schreiner an, der danach sechs weitere Setzkästen und entsprechende Regale herstellte. Vier Setzkästen und die Druckpresse wurden in dem angemieteten Raum untergebracht, die beiden übrigen Setzkästen wurden in der Pension ›Zum Bremerschlüssel‹ aufgestellt, wo die meisten Mitglieder der Gruppe wohnten und wo sich fortan schichtweise einige Studentinnen mit dem Satz beschäftigten.79 »Die Studentinnen, die Mitglieder unseres Kreises waren, haben von Anfang bis Ende von ganzem Herzen nach Kraft und Möglichkeit im ganzen Unternehmen mitgearbeitet«, erinnerte sich Ross später, der in diesem Zusammenhang folgende Namen nannte: Vachovskaja, Potockaja, Lavrova, die drei Schwestern Simonovskij [Simonovič], Smeckaja, Sudzilovskaja, Chardina, Rozenštejn und Lukanina.80

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vgl. Oelsnitz an Guillaume, [Oktober 1873], in Archives, V, S. 458. – Folgende Personen haben sich an der Druckereigründung finanziell beteiligt: Ralli (1000 Franken), Ekaterina Chardina (200 Fr.), Oelsnitz und Holstein (200 Fr.), Ottilia Oelsnitz (100 Fr.), A. Trofimova (1700 Fr.), Marija Potockaja (600 Fr.), Sof'ja Lavrova (1000 Fr.). Ferner wurden 300 Fr. aus einer Moskauer Studentenkasse beigesteuert, deren Guthaben bei Oelsnitz, Holstein und Aleksandr Buturlin verblieben war (ebd.). Hierauf bezieht sich eventuell auch eine Quittung über den Erhalt von 350 Fr., die Oelsnitz und Holstein Anfang Dezember 1872 Buturlin ausstellten (vgl. Sapir, I, S. 265). Biographie, S. 767. Ross: Russkie v Cjuriche, S. 64. – Die Pension ›Zum Bremerschlüssel‹ (siehe Abbildung auf S. 34) befand sich gegenüber der ETH an der Tannengasse 5, in den 1890er Jahren erfolgte eine Umbenennung des Grundstücks in Clausiusstrasse 1; das Gebäude wurde 1976 abgerissen. Für diese Informationen danke ich Werner Portmann (Zürich). ebd., S. 67. – Bei einer glücklicheren Entwicklung der Russischen Kolonie hätten wahrscheinlich noch weitaus mehr Per-

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Verstärkung erhielt die Gruppe noch durch zwei Freunde von Ralli, Oelsnitz und Holstein: A. Popov und den ehemaligen Artillerieoffizier V. Jakovlev.81 Popov hatte bereits in einer russischen Druckerei in Genf gearbeitet und war auf Initiative von Ralli von dort nach Zürich gekommen – er war der einzige in dem Kreis, der Erfahrung im Setzen hatte.82 Als die Druckerei mehr oder weniger vollständig eingerichtet war, erhielt die Gruppe als ersten Auftrag den Anfang eines Manuskripts von Varfolomej Zajcev, einem emigrierten Publizisten und Freund Bakunins in Locarno, unter dem Titel ›Die jetzige Lage der Literatur, der gleich gesetzt wurde: »Mit dem ersten Bogen waren wir sehr lange beschäftigt«, erinnerte sich Ross später, »(die Korrektur war einfach furchtbar, so daß wir manchmal ganze Zeilen neu setzen mußten), und als wir mit dem Setzen fast fertig waren, erhielten wir von Zajcev den Großteil des Artikels. Als wir von diesem Text Kenntnis genommen hatten, waren wir fast einstimmig der Meinung, daß das nichts für uns war, so daß wir das Setzen einstellten; ich schrieb ihm, daß er uns weiter kein Manuskript mehr schicken sollte, wobei ich ihm natürlich die Gründe erklärte, warum wir den Artikel ablehnten.«83

In den Vordergrund traten nun eigene Druckvorhaben der Gruppe: Vielleicht schon während Bakunins letztem Aufenthalt in Zürich war das Konzept für eine Buchreihe entstanden, die den Titel tragen sollte ›Veröffentlichungen der Sozialrevolutionären Partei‹ (Izdanie Social'no-Revoljucionnoj Partii), in der tatsächlich in den Jahren 1873 und 1874 drei Bände

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sonen in der Druckerei mitgearbeitet. Vera Figner erinnerte sich, daß die Spaltung in der Kolonie einen Großteil der Zürcher Russinnen und Russen vom persönlichen Kontakt mit Bakunin abgeschnitten hatte, was zur Folge gehabt habe, »daß sich Menschen, die ihren Ideen und ihrem Temperament nach Bakunisten waren, um Lavrov gruppierten statt um Bakunin [...] und nicht in der Druckerei arbeiteten, die seine Werke druckte.« (Figner: Studenčeskie gody, a.a.O. ❲Anm. 64❳, S. 49) vgl. Oelsnitz an Guillaume, a.a.O. (Anm. 77), S. 458. – Ralli, S.339. Biographie, S. +362. – Ralli, S. 292. – Ross: Russkie v Cjuriche, S. 6364. Ross: Russkie v Cjuriche, S. 64-65.

erschienen sind. Als Band 1 dieser Reihe versprach Bakunin eine große Schrift zu verfassen: ›Staatlichkeit und Anarchie‹. Für Band 2 hatte Ross die Idee, ein Buch unter dem Titel ›Die historische Entwicklung der Internationale‹ herauszubringen, um die russischen Revolutionäre mit der Internationale näher bekannt zu machen.84 Hierfür wandte sich Ross an James Guillaume mit der Bitte, eine kurze Geschichte der Internationale zu schreiben; Guillaume schlug jedoch statt dessen die Herausgabe von Sammelbänden vor, die die wichtigsten theoretischen Artikel aus den Zeitungen der Internationale in den einzelnen Ländern enthalten sollten.85 »Dieser Gedanke gefiel Bakunin sehr«, schreibt Ross, »und er beauftragte mich sofort, alle derartige Literatur zu sammeln, was ich natürlich sehr schnell erledigte, weil wir in unserer Bibliothek und auch bei mir zu Hause alle belgischen, französischen, schweizerischen usw. Zeitungen, Zeitschriften und Broschüren gesammelt hatten. All dieses Material übersandte ich ihm [Bakunin] und er stellte daraus den ersten Teil der ›Historischen Entwicklung der Internationale‹ zusammen, der in unserer Druckerei gesetzt und gedruckt wurde. Die Übersetzung der Artikel besorgten Oelsnitz, Ralli und anscheinend Lavrova und Smeckaja, meistens aber die ersten zwei.«86

Neben ins Russische übersetzten Artikeln der Jahre 1867-1870 aus den Zeitungen L'Égalité (Genf), Le Progrès (Locle) und La Liberté (Brüssel) enthält der Band unter anderem auch Bakunins Reden auf dem 2. Kongreß der Friedens- und Freiheitsliga in Bern sowie zwei Originalbeiträge,87 die mit »Redaktion« si-

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ebd., S. 61. – Der Titel ›Die historische Entwicklung der Internationale‹ schien Bakunin übrigens zu lang (Neue Biographie, Band 4, S. 180 A 180 B). Guillaume: L'Internationale, III, S. 94. Ross: Russkie v Cjuriche, S. 61. über die Anfänge des revolutionären Sozialismus in Belgien und über die ›Allianz der Sozial-Revolutionäre‹ (Archives, V, S. 161-165 und 166-174). – Ein vollständiges Inhaltsverzeichnis des Bandes ›Die historische Entwicklung der Internationale‹ ist wiedergegeben ebd., S. 433.

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gniert und offenbar von Bakunin verfaßt sind.88 Das von ihm ausgewählte Material für ›Die historische Entwicklung der Internationale‹ schickte Bakunin dann nach Zürich, wo – nachdem Zajcevs Manuskript von der Gruppe gerade abgelehnt worden war – sofort mit den Übersetzungen und dem Satz des Sammelbandes begonnen wurde.89 Anschließend, etwa im Mai 1873, begann Bakunin mit der Abfassung des Manuskripts von ›Staatlichkeit und Anarchie‹, das er »in kleinen Päckchen, wie er gerade mit dem Schreiben vorwärts kam«90 nach Zürich schickte, wo in den Folgemonaten beide Bücher – ›Staatlichkeit und Anarchie‹ und ›Die Historische Entwicklung der Internationale‹ – als Band 1 und 2 der Reihe ›Veröffentlichungen der Sozialrevolutionären Partei‹ parallel gesetzt und gedruckt wurden. In der Druckerei wurde regelmäßig 11-13 Stunden gearbeitet, gelegentlich sogar die Nacht durch. Auf der gekauften Handpresse, die von 2 Personen bedient werden mußte, konnten in 14stündiger Arbeit 1000-1200 Bögen gedruckt werden, womit Ross, Ralli, Popov und Jakovlev beschäftigt waren. Oelsnitz übernahm die Korrespondenz zur Bestellung von Druckerei-Materialien und arbeitete beim Korrekturlesen und Übersetzen mit.91 Leider gab es bei der gemeinsamen Arbeit erneut Streit zwischen Ross auf der einen und Ralli, Oelsnitz und Holstein auf der anderen Seite – die Unverträglichkeit ihrer Charaktere war ja schon zu Beginn ihrer Zusammenarbeit im Frühjahr

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Der Artikel über Belgien ist abgefaßt »d'après des notes fournies par moi« (Guillaume: L'Internationale, I,S.76;vgl. auch III,S.94). Ross: Russkie v Cjuriche, S. 65. – Nach Guillaumes Plan sollten nach dem ersten Band der ›Historischen Entwicklung der Internationale‹, der Material zur Bewegung in Belgien und der Schweiz enthält, noch weitere Bände mit der Literatur anderer Länder publiziert werden, sie sind jedoch nicht mehr erschienen. ebd. vgl. ebd., S. 66. – Biographie, S. 767. – Oelsnitz an Guillaume, a.a.O. (Anm. 77), S. 458.

1872 offenbar geworden. Folgende Charakteristik von Ross gab Vachovskaja in ihren Erinnerungen: »Leiter unserer Gruppe war Michail Petrovič Sažin [Ross], ein Mensch von starkem Willen, wachem Verstand sowie grenzenloser Energie und Nüchternheit. Er hob sich sehr markant von der Gesellschaft der Zürcher Russen ab, die größtenteils aus lärmenden, schwatzenden jungen Leuten bestand, in deren Inneren noch alles brodelte. Sažin [Ross] war ein ausgereifter Mensch, bei ihm hatten sich schon feste Überzeugungen und strenge Lebensgrundsätze herausgebildet. Er sprach sehr wenig, tat aber viel. [...] Im Frühjahr 1873 richtete die Gruppe eine Druckerei ein und begann mit dem Druck von ›Staatlichkeit und Anarchie‹ Bakunins. Sowohl die Einrichtung der Druckerei als auch den Druck leitete Sažin [Ross].«92

Weit weniger anerkennend lautete dagegen das Urteil von Ralli, der Ross einen »Jaroslavischen Getreidehändler der Revolution« nannte93 und sich beklagte: »Sobald wir beschlossen hatten, an die Arbeit zu gehen, d.h. anzufangen, einige Bücher und Broschüren sozial-revolutionären Charakters für Rußland herauszubringen, hielt es unser Genosse Ross auch schon für nötig, die Rolle des ad hoc ernannten kleinen Chefs zu übernehmen.«94 In dem Konflikt schwang bei Ralli und seinen Freunden offenbar auch das Gefühl intellektueller Überlegenheit mit; noch in seinen Erinnerungen bestand Ralli darauf: »[...] wir drei standen hinsichtlich enzyklopädischer Bildung, Wissen und Belesenheit weit über unserem Genossen [Ross]«,95 Bakunin versuchte erneut auf die Spannungen mäßigend einzuwirken und empfing Anfang Juli 1873 Oelsnitz, Ralli und Ross in Locarno, wo von den Anwesenden ein Dokument unterzeichnet wurde, das Ross förmlich zum Leiter der Druckerei machte und festhielt, daß »die Druckerei keine selbständige demokratische Einrichtung, sondern nur ein Mittel zu unserer gemeinsamen

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Vachovskaja, a.a.O. (Anm. 74), S. 10. Pis'ma, S. 502 (dt. unübersetzt). Ralli, S. 308. 95 ebd.

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Arbeit« ist.96 Diese Formulierung war natürlich nicht geeignet, die Spannungen aus der Welt zu schaffen, so daß es – angeblich nach einer Provokation durch Ross97 – Anfang August 1873 zum endgültigen Bruch kam. Ralli schlug daraufhin seinen Freunden vor, die Druckerei Ross mit Gewalt wegzunehmen und in eigener Regie weiterzuführen. Oelsnitz und Holstein gaben jedoch zu bedenken, daß die im Druck befindlichen Bücher dann nicht fertig gedruckt werden würden, da Bakunin zu Ross halten und seine Sendungen des Manuskripts von ›Staatlichkeit und Anarchie‹ sicherlich einstellen würde.98 So entschlossen sie sich, ihre Arbeit abzubrechen und Ross die Druckerei zu überlassen, dem auf diese Weise die komplette Herstellung der Bücher in der Druckerei auf die Schultern geladen wurde.99 Ein weiteres Zusammenschmelzen der Rest-Gruppe um Ross ergab sich aus einem Erlaß der zaristischen Regierung vom Juni 1873,100 der schließlich sogar zur Auflösung der Russischen

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Archives, V, 222. – Eine Reproduktion des mit dem Stempel der Slawischen Sektion versehenen Dokuments ist enthalten in: La Première Internationale. Recueil de documents. Herausgegeben von Jacques Freymond. Band 3. Librairie E. Droz, Genf 1971, S. 633. Ralli gibt an, Ross habe die Druckerei eines Tages abgeschlossen und die Schlüssel nicht herausgegeben, da er ahnte, daß ihm die Gruppe die Druckerei wegnehmen wolle (Ralli, S. 339; Biographie, S. +365). Zur Version der Gegenseite vgl. Ross: Russkie v Cjuriche, S. 66. vgl. Ralli, S. 339. – Biographie, S. +365. Aus der Gruppe traten aus: Ralli und seine spätere Frau Ekaterina Chardina; Aleksandr Oelsnitz, seine Frau Emilia und seine Schwester Ottilia; Vladimir Holstein und seine Frau Maria; Popov und Jakovlev. – Mit der Trennung hörte faktisch auch die Slawische Sektion zu bestehen auf (vgl. Rallis Darstellung in Pis'ma, S. 503, dt. unübersetzt). Veröffentlicht im Pravitel'stvennyj vestnik, St. Petersburg, Nr. 120, 21. Mai 1873. – Der Erlaß war durch die Arbeit einer russischen Regierungskommission vorbereitet worden, die sich in ihrem Abschlußbericht über den »utopischen, fast revolutionären Cha-

Kolonie insgesamt führte: Unter dem schlechten Einfluß von Emigranten, ließ die Regierung des Zaren in dem Erlaß verlauten, hätten die Studentinnen »die wissenschaftlichen Beschäftigungen verlassen und durch fruchtlose politische Agitation ersetzt. [...] Die leichtsinnige Propaganda eines Theiles unserer Zeitschriften, das falsche Verständniß der Bestimmung der Frau in der Familie und der Gesellschaft, die Hinreißung von modernen Ideen; alle diese Ursachen beeinflussen mehr oder weniger den verhältnißmäßig sehr großen Zufluß der russischen Frauen nach Zürich.«101

Da die Regierung dieser Entwicklung nicht tatenlos zusehen zu können meinte, gab sie bekannt, daß alle Studentinnen, die bis zum 1. Januar 1874 die Zürcher Hochschulen nicht verlassen hätten, mit dem Ausschluß von allen staatlichen Bildungs- und Beschäftigungsmöglichkeiten in Rußland bestraft würden – ein enormer Rückschlag für die Frauen, die überwiegend nach Rußland zurückkehren und dort eine qualifizierte Tätigkeit (als Ärztin, Hilfsschwester oder Lehrerin) »im Volk« aufnehmen wollten. Der Erlaß, erinnert sich Ross, »machte einen gewaltigen Eindruck auf unsere ganze Kolonie. Ein großer Teil verließ Zürich und ging nach Rußland zurück, ein anderer Teil ging in kleinen Gruppen nach Paris, Bern und Genf, um das Medizinstudium fortzusetzen und abzuschließen. Mit einem Wort, nach einzwei Monaten waren in Zürich kaum vier oder fünf Studentinnen übriggeblieben.«102

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rakter« der Bestrebungen der Zürcher Russinnen und Russen entsetzte, die folgendermaßen zusammengefaßt wurden: »Gleichmachung der Rechte einer Frau mit den Rechten eines Mannes, ihre Beteiligung an der Politik und sogar das Recht auf freie Liebe, das die wahre Basis der Familie zerstört und die extreme Zügellosigkeit der Sitten zum Prinzip erhebt.« (zitiert nach Johanson, a.a.O. ❲Anm. 1❳, S. 434) zitiert nach: Die Verleumdung der in Zürich studierenden russischen Frauen durch die russische Regierung. Druck der GenossenschaftsBuchdruckerei, Zürich o.J. [1873], S. 3-4 und 6. Ross: Russkie v Cjuriche, S. 66. – Die sog. Zürcher Frauenkasse, ein von den Bakunistinnen und Bakunisten eingerichteter

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Innerhalb weniger Monate änderte sich auf diese Weise die Situation grundlegend. – Von Bakunins Gruppe in Zürich waren im Herbst 1873 plötzlich nur noch Ross und die Studentin Adelaida Lukanina103 übriggeblieben. Zum Zeitpunkt des Austritts von Ralli und seinen Freunden aus der Druckerei waren von dem Sammelband ›Die historische Entwicklung der Internationale‹ nur noch 1½ - 2 Bogen zum Druck übriggeblieben. Glücklicherweise bekam Ross in diesem Augenblick Verstärkung durch Eduard Vachovskij104 und Vladimir DebogorijMokrievič,105 die die Arbeit an der Druckpresse weiterführten. Den Satz brachte Ross mit Hilfe

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Unterstützungsfond für mittellose Studentinnen, wurde daraufhin am 7. August 1873 aufgelöst und das Guthaben (490 Franken) der Arbeiterföderation von Barcelona übersandt (Ralli, S. 344-345). Ross: Russkie v Cjuriche, S. 66. – Lukanina blieb bis April 1875 als Medizinstudentin an der Zürcher Universität immatrikuliert (Meijer, S. 210), da sie nicht nach Rußland zurückkehren wollte (vgl. Franziska Tiburtius: Erinnerungen einer Achtzigjährigen. C. A. Schwetschke & Sohn Verlagsbuchhandlung, Berlin 1923, S. 130). Eduard [Egor] Vachovskij (Lebensdaten unbekannt), Bruder von Vachovskaja, befand sich seit 1872 im Ausland und kehrte noch 1873 nach Rußland zurück (Bio-bibliografičeskij slovar’, II, Spalte 177). Vladimir Debogorij-Mokrievič (1848-1926), Sohn eines Gutsbesitzers und Offiziers, seit 1866 Studium an der Universität Kiev, Mitglied einer oppositionellen Studentengruppe, Plan der Auswanderung nach Amerika, 1872 Lehre als Schuhmacher. Von April bis ca. Oktober 1873 in der Schweiz. – In seinen Memoiren schrieb er (Debogorij-Mokrievič, I, S. 29; dt. unübersetzt), er habe am Druck von ›Staatlichkeit und Anarchie‹ in Zürich mitgearbeitet, der im August oder September 1873 abgeschlossen worden sei – diese Angaben können sich jedoch nur auf den Druck des Bandes ›Die historische Entwicklung der Internationale‹ beziehen, an dem er auch nach dem Zeugnis von Ross in Wirklichkeit mitgearbeitet haben dürfte (Ross: Russkie v Cjuriche, S. 66) (Abbildung von Debogorij-Mokrievič in vorliegendem Band, S. 30).

von Studentinnen zu Ende, die noch nicht aus Zürich hatten abreisen können.106 Auf diese Weise konnte noch im August 1873 das Buch ›Die historische Entwicklung der Internationale‹ in einer Auflage von 1000 Stück107 fertiggestellt werden: Istoričeskoe Razvitie Internacionala. Čast' I. (Izdanie Social'no-Revoljucionnoj Partii, Tom' 2) [Die historische Entwicklung der Internationale. Teil I. (Veröffentlichungen der Sozial-Revolutionären Partei, Band 2)] o.O. [Zürich], 1873. [4], 375 S.

Ein paar Exemplare des Buches wurden in Zürich für 6 Franken zum Verkauf angeboten; Ralli, Oelsnitz und Holstein gingen jedoch leer aus.108 Anschließend wurde der Standort der Druckerei von Ross geräumt. ›Staatlichkeit und Anarchie‹ Als der Bruch zwischen Ross und der Gruppe um Ralli eintrat, waren von ›Staatlichkeit und Anarchie‹ erst elf Bögen gedruckt,109 also nur etwa die Hälfte des Bandes. Die Drucklegung konnte in diesem Fall nicht fortgesetzt werden, da Ross den Rest des Manuskripts noch nicht von Bakunin erhalten hatte.110 Von wann bis wann Bakunin am Manuskript von ›Staatlichkeit und Anarchie‹ genau gearbeitet hat, kann beim Fehlen aller direkten Zeugnisse wie z.B. Bakunins Tagebuch, das für 1873 nicht erhalten ist, nur aus der Darstellung von Ross erschlossen werden, nach dessen Chronologie Bakunin etwa im Mai 1873 mit der Abfassung begonnen haben muß (siehe

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Ross: Russkie v Cjuriche, S. 66-67. Neue Biographie, Band 4, S. 181. – Obras, V, Vorwort, S. 45. »Ach! Bruder«, schrieb Oelsnitz am 28. August 1873 an Ralli, »unser Sammelband (der von uns vollständig übersetzt wurde) ist erschienen, er wird in den Läden für 6 Franken verkauft und nun sind wir gezwungen, die Arbeit unserer eigenen Hände zu kaufen.« (Ralli, S. 344) S. 1-176 der Erstausgabe, in vorliegendem Band S. 103-250. – vgl. Guillaume: L'Internationale, III, S. 95. Ross: Russkie v Cjuriche, S. 66.

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oben). Der Abschluß des Manuskripts kann mit August/September 1873 datiert werden.111 In diesen etwa vier bis fünf Monaten der Niederschrift von ›Staatlichkeit und Anarchie‹ wohnte Bakunin in einem Zimmer im Erdgeschoß eines von seinem Freund Zajcev gemieteten Hauses in Locarno. »Hier arbeitete er viel,« erinnerte sich eine russische Besucherin, »saß bis morgens früh am Schreibtisch, und vom Fenster meines Zimmers sah ich oft, wie er um 3-4 Uhr nachts, tief in Gedanken versunken, die Hände auf dem Rücken verschränkt, im Garten auf- und abging.«112 Debogorij-Mokrievič, der nach dem Druck des Buches ›Die historische Entwicklung der Internationale‹ mit Ross zu Bakunin nach Locarno fuhr, schrieb über Bakunins Unterkunft: »Die linke Wand entlang stand ein langer Tisch, mit Zeitungen, Büchern und Schreibzeug überhäuft. Daneben erhoben sich einfache, fast bis an die Zimmerdecke reichende Holzregale, die mit allerlei Papieren vollgestopft waren.«113

Möglicherweise während dieses Besuchs mit Debogorij-Mokrievič bei Bakunin erhielt Ross den Rest des Manuskripts von ›Staatlichkeit und Anarchie‹, in dem Ross dann nach eigenen

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Auch Nettlau vermutete als Beginn der Abfassung des Manuskripts den Mai 1873, glaubte aber unter Hinweis auf die Behandlung aktueller Ereignisse in Spanien (vgl. vorliegenden Band, S. 284) an einen Abschluß des Hauptteils von ›Staatlichkeit und Anarchie‹ bereits Anfang Juni (!) 1873, da die späteren Entwicklungen in Spanien in Bakunins Text nicht mehr erwähnt seien (Biographie, S. 775 und +364) – eine wenig befriedigende Erklärung. Ross datierte den Abschluß des Manuskripts von ›Staatlichkeit und Anarchie‹ mit August 1873 (Ross: Vospominanija, S. 98), denkbar ist jedoch auch ein Abschluß im September 1873: »Man höre nur, was jetzt Castelar sagt, [...] den man zum Diktator gemacht hat« heißt es in Staatlichkeit und Anarchie: (siehe vorliegenden Band, S. 345) wahrscheinlich mit Bezug auf die Ernennung Castelars zum Präsidenten mit diktatorischen Vollmachten am 7. September 1873. Unterhaltungen, S. 327. Debogorij-Mokrievič, I, S. 30 (dt., S. 9).

Angaben »einige Längen und Wiederholungen« gestrichen hat.114 In Genf konnte Ross schließlich im September 1873 den Polen Basil Gilk für den Satz des Restmanuskripts engagieren,115 den Druck übernahm die Genfer Typographie Anton Trusovs.116 Nach etwa einem Monat waren die restlichen Bögen fertig gedruckt, wurden nach Zürich transportiert und mit den dort verbliebenen ersten elf Bögen vereinigt.117 Diese wurden dann von Studenten gefalzt und von einem Buchbinder eingebunden,118 so daß etwa Ende Oktober 1873 ›Staatlichkeit und Anarchie‹ endlich in einer Auflage von 1200 Exemplaren119 fertig gewesen sein muß: Gosudarstvennost' i Anarchija. Vvedenie. Čast' I. (Izdanie Social'-noRevoljucionnoj Partii, Tom' 1) [Staatlichkeit und Anarchie.

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Mitteilung von Ross an James Guillaume vom Februar 1908, in Guillaume: L'Internationale, III, S. 95. – Ross hat das Manuskript sicherlich gekürzt, um den Druck von ›Staatlichkeit und Anarchie‹ schneller abschließen zu können. Anfang Oktober 1873 hatte Gilk bereits sechs Bögen gesetzt, vgl. Holstein an Ralli, 3. Oktober 1873, in Archives, V, S. LI. – Gilk war einige Jahre zuvor Mitglied der von Bakunin mitbegründeten Genfer AllianzSektion gewesen, vgl. Biographie, S. +362. Ralli, S. 346. – Trusov war vorher Sekretär der ›Russischen Sektion‹ der Internationale in Genf gewesen, die gegen Bakunin aufgetreten war und zu den Zuträgern von Marx in seinem Konflikt mit Bakunin gehört hatte. Die Druckerei des Organs der Sektion, des Narodnoe Delo, war 1873 in Trusovs Besitz über-gegangen, da er das letzte in Genf verbliebene Mitglied der Sektion war. Ironischerweise war der erste Druckauftrag für Trusovs Unternehmen ausgerechnet die Fertigstellung von Bakunins ›Staatlichkeit und Anarchie‹ (vgl. Boris P. Koz'min: Russkaja sekcija pervogo internacionala. Izdatel'stvo akademii nauk SSSR. Moskau 1957, S. 364-365). Die Herstellung von ›Staatlichkeit und Anarchie‹ in zwei unterschiedlichen Druckereien ist auch am Schriftbild erkennbar: Auf den in Zürich gedruckten S. 1-176 wurden andere Drucktypen verwandt als im Rest des Buches, vgl. die Abbildungen auf S. 46. Ross: Russkie v Cjuriche, S. 67. Neue Biographie, Band 4, S. 181. – Obras, V, Vorwort, S. 45.

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Vergleich der Drucktypen in der Originalausgabe von ›Staatlichkeit und Anarchie‹ oben: unten:

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Ausschnittsvergrößerung von S. 176 (gedruckt in der ›Russischen Druckerei‹ in Zürich) Ausschnittsvergrößerung von S. 177 (gedruckt in der Typographie Anton Trusovs in Genf)

Einleitung. Teil I. (Veröffentlichungen der Sozial-Revolutionären Partei, Band 1)] o.O. [Zürich, Genf], 1873. [2], 308, 24 S. Nach dem Hauptteil (308 S.) folgen zwei Anhänge mit eigener Seitenzählung und in kleinerer Schrift: Anhang A (S. 1-22) und Anhang B (›Programm der Slawischen Sektion in Zürich‹, S.22-24)

Irritierend wirkt zunächst, daß das umfangreiche Buch im Untertitel nur als Einleitung bezeichnet wird, was jedoch nur davon zeugt, daß Bakunin bei der Niederschrift des Buches seine Konzeption ein paar mal geändert zu haben scheint. Zunächst wollte Bakunin wohl nur über Rußland schreiben: Ralli äußerte gegenüber dem Bakuninforscher Max Nettlau,120 Bakunin habe dabei ausführen wollen, »dass der russische Staat ein künstlicher Organismus sei, dass das russische Volk ein anarchistisches Volk sei und im Mir die Zelle der künftigen Foederation lebe!121 ... Er [Bakunin] hatte dann zu schreiben begonnen und etwas ganz anderes geschrieben, dem man desshalb auf dem Titel , ›Vvedenie‹, Einleitung, dazusetzte.«122

Auf der ersten Textseite der Originalausgabe (siehe Abbildung auf S. 102) steht jedoch folgende Überschrift: »Staatlichkeit und Anarchie. Der Kampf der zwei Parteien in der Internationalen Arbeiterassoziation. Vorwort«, was auf eine ursprüngliche Absicht Bakunins hindeuten könnte, an den Beginn des Werkes eine Denkschrift über seinen Konflikt mit Marx zu setzen. Auch der gelegentlich etwas unproportioniert wirkende Text deutet darauf hin, daß Bakunin ohne strenges Konzept (und ohne größere Vorarbeiten) sein Manuskript niedergeschrieben hat, noch dazu in nur vier-fünf Monaten und wahrscheinlich Ohne jemals Druckfahnen oder ähnliches gesehen zu haben.123 Die offene, nur lose zusammengehaltene Struktur des Buches

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Max Nettlau (1865-1944), der beste Bakunin-Kenner seiner Zeit, hat eine Vielzahl ehemaliger Freunde und Mitarbeiter Bakunins noch persönlich befragen können. Ralli besuchte er Ende 1893 in Bukarest. Zum ›Mir‹ vgl. vorliegenden Band, Anm. +64. Biographie, S. 775. 123 vgl. Archives, III, Einleitung, S. XXIII.

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steht jedoch vor allem in engstem Zusammenhang mit Bakunins zwanglosem Schreibstil und ist für seine Schriften generell charakteristisch, deren Lektüre Nettlau einmal empfahl, als »intellektuelle Reise« oder »Spaziergang mit einem brillanten libertären Gesprächspartner«124 aufzufassen: »Das ist tatsächlich genau seine Mentalität, daß er uns dadurch in die Denkergebnisse, die sich in seinem Gehirn aufgestaut haben, und die Gedankengänge, die sie hervorgebracht gaben, rückhaltlos Einblick gewähren läßt; auf diese Art und Weise hat er uns sozusagen Fotografien der Arbeit seines Gehirns erhalten, und dieses Buch [›Staatlichkeit und Anarchie‹], das letzte, das er geschrieben hat, verfügt dadurch über großen Reiz.«125

›Staatlichkeit und Anarchie‹ ist aber nicht nur das letzte Werk, das Bakunin geschrieben hat, sondern vor allem das erste und einzige Buch, das er zu Lebzeiten auch veröffentlicht hat.126 Seit seiner Flucht aus der sibirischen Verbannung (1861) hat Bakunin regelmäßig seine Ideen und Auffassungen in schriftlicher Form niedergelegt, meist in unpublizierten Manuskripten, selten in veröffentlichten Artikeln und Gelegenheitsbroschüren, am häufigsten in großen Briefen, von denen nur wenige erhalten sind. Verschiedene Anläufe, seinen Ideen in einer umfangreichen Veröffentlichung eine abschließende Form zu geben, scheiterten regelmäßig an Geldnot, Umdispositionen und auch an Bakunins eigener Nachlässigkeit in Publikationsdingen – wie auch ›Staatlichkeit und Anarchie‹ wohl nicht erschienen wäre, wenn nicht durch die Initiative von Ross die Veröffentlichung doch noch zu einem Abschluß gebracht worden wäre.

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Obras, V, Vorwort, S. 6 und 18. Obras, V, Vorwort, S. 6. Nur folgende weitere Veröffentlichungen Bakunins zu seinen Lebzeiten hatten einen Umfang von mehr als 100 Seiten: ›L'Empire knouto-germanique et la Révolution sociale. Première livraison‹ (Genf 1871. 119 S.) und ›La Théologie politique de Mazzini et l'Internationale. Première partie‹ (Neuchâtel 1871. 111 S.). – Beide Publikationen waren (wie ›Staatlichkeit und Anarchie‹) im Untertitel nur als erster Teil bezeichnet worden.

So erklärt sich, wie sich ein russischer Bekannter Bakunins erinnert, daß »nur ein geringer Teil all dessen, was er geschrieben hat, zu seinen Lebzeiten erschienen ist – das Übrige wurde in seinen Papieren in Form von Manuskripten und sogar Korrekturbögen gefunden. Dies ergab sich aus der seltsamen Art Bakunins zu schreiben, die wiederum auf seiner extremen Unordentlichkeit beruhte. Wie oft habe ich nicht versucht, ihn davon zu überzeugen, daß man so kein Werk verfassen könne. Er stimmte gutmütig zu, aber seine Natur konnte ich nicht ändern. [...] Ein andermal tauchte während des Schreibens irgendein Nebenproblem auf, er ließ das Begonnene liegen und begann diesen neuen Gedanken zu entwickeln. Gewiß war nicht alles, was nicht zu Ende geschrieben oder gedruckt wurde, umsonst; Bakunin machte intensiv von seinem Archiv Gebrauch und nutzte alles Material für seine neuen literarischen Unternehmungen.«127

So ist es vielleicht kein Wunder, daß Bakunin in nur wenigen Monaten ein Buch wie ›Staatlichkeit und Anarchie‹ schreiben konnte, dessen Inhalt seit Jahren in seinem Kopf und möglicherweise in unpublizierten Manuskripten vorhanden war und nun endlich, drei Jahre vor seinem Tod im Jahre 1876, veröffentlicht wurde. Bakunin gibt in ›Staatlichkeit und Anarchie‹ einen ausführlichen Überblick über die politischen Verhältnisse Deutschlands und Europas im 19. Jahrhundert – den Schwerpunkt bilden jedoch vier zentrale Themen, um die seine Ausführungen kreisen: 1) Die Auswirkungen der Gründung des Deutschen Reiches (Januar 1871) auf Europa, mit einem Rückblick auf die deutsche Geschichte und einer Analyse der Revolution von 1848/ 1849 in Deutschland. 2) Die Aufgaben der revolutionären Bewegung in Rußland (besonders im Anhang A). 3) Kritik des Marxismus (besonders S. 288-291 und 337-342). 4) Die Grundlagen der anarchistischen Weltanschauung Bakunins (besonders S. 277-284 und 363-364).

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Unterhaltungen, S. 260-261.

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Die letzten beiden Punkte verleihen dem Buch seine klassische Bedeutung in der Geschichte der politischen Ideen, insbesondere für die Ideengeschichte des Anarchismus. In der Auseinandersetzung mit dem Staatsprinzip in Geschichte und Gegenwart Europas sowie in scharfer Abgrenzung zu Marx umreißt Bakunin in ›Staatlichkeit und Anarchie‹ detaillierter und geschlossener als in früheren Schriften seine Vorstellung der Anarchie, die er als »Ende der Herren und jeglicher Herrschaft«128 definierte sowie als »selbständige und freiheitliche Organisation aller Einheiten oder Elemente, die die Gemeinden bilden, und [...] deren freie Föderation von unten nach oben – nicht auf Befehl irgendeiner Obrigkeit, und sei es einer gewählten, und nicht nach den Richtlinien irgendeiner gelehrten Theorie, sondern infolge einer völlig natürlichen Entwicklung von Bedürfnissen aller Art, die sich aus dem Leben selbst ergeben.«129

Neben diesen Passagen, die bleibenden Wert für die anarchistische Theoriebildung haben, enthält das Buch aber auch verschiedene kontroverse Aussagen. So finden sich etwa neben Bakunins prophetischen Warnungen vor Obrigkeitshörigkeit und Militarismus in Deutschland auch eine Reihe von Textstellen, in denen Bakunin alle Deutschen zu »Etatisten und Bürokraten«130 stempelt. Dies mag zum einen ein Reflex auf die tonangebenden deutschen Sozialisten wie Marx, Engels, Bebel und Liebknecht sein, die vehement gegen Bakunin aufgetreten waren: Ihr Sozialismus tendierte in der Staatsfrage zur Herrschaft und bestätigte in diesem Sinne Bakunins Vorurteil gegenüber den Deutschen, denen selbst als Sozialisten »das Leben einfach undenkbar [ist] ohne Regierung«.131 Zum anderen reagierte Bakunin heftig auf die Ereignisse der jüngsten Geschichte, auf die reaktionäre Politik Bismarcks, der den Ausbruch des deutsch-französischen Krieges

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im Rahmen der Diskussion des Volksideals, siehe vorliegenden Band, S. 143. siehe vorliegenden Band, S. 364. siehe vorliegenden Band, S. 145. siehe vorliegenden Band, S. 263.

arrangiert hatte, und auf die Gründung des deutschen Kaiserreiches im Januar 1871: In seine leidenschaftliche Ablehnung dieses Konzepts der ›Staatlichkeit‹ schloß Bakunin gelegentlich ohne viel Federlesens die Deutschen als Nation mit ein: In Europa, schrieb er zum Beispiel, »herrscht zur Zeit die reinste Reaktion, die im deutschen Reich, im deutschen Volk verkörpert ist, welches allein von der Leidenschaft für Eroberung und Vorherrschaft besessen ist, d.h. von der Leidenschaft für Herrschaft«.132

Dazu hatte schon Max Nettlau erklärt: »Dass aber Bakunin 1873 gegen Deutschland die Anklage erhob, das Centrum der Reaction zu sein, war vollständig begründet. Sein Versuch dies als nationale Veranlagung abzuleiten, scheint mir recht matt; dass die Macht selbst stets die Reaction mit sich bringt, mit ihr identisch ist, scheint mir eine ausreichende Begründung.«133

Als vollends absurd müssen schließlich Bakunins antijüdische Ausfälle gelten, die eigentümlicherweise häufig als Begleiterscheinung seiner antideutschen Haltung auftreten – so zum Beispiel in seiner Polemik mit Marx, der ihm als »Deutscher und Jude«134 suspekt erschien, ebenso wie Moses Hess, Adolf Hepner, Sigismund Borkheim und andere, die Marx in seiner Kampagne gegen Bakunin in der Internationale unterstützten. Tatsächlich scheint der Konflikt in der Internationale ein Impuls für Bakunins antisemitische Ressentiments gewesen zu sein, die hauptsächlich aus den Jahren 1869-1874 stammen, das heißt aus der Zeit seines Zusammenstoßes mit Marx.135 Dieser

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siehe vorliegenden Band, S. 362. Biographie, S. 773. – Bakunin sind gelegentlich selbst weitaus klarere Einsichten gelungen, vgl. zum Beispiel die bemerkenswerte Passage zur Frage Nationalität-Nationalismus in vorliegendem Band, S. 161. Michael Bakunin: Gesammelte Werke. Band 3. Verlag ›Der Syndikalist‹, Berlin 1924, S. 261. vgl. Edmund Silberner: Sozialisten zur Judenfrage. Ein Beitrag zur Geschichte des Sozialismus vom Anfang des 19. Jahrhunderts bis 1914. Colloquium Verlag, Berlin 1962, S. 270.

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sich in verschiedenen polemischen und feindseligen Äußerungen bemerkbar machende Antisemitismus ist unvereinbar mit allen anarchistischen Ideen Bakunins, für die er bekannt geworden ist. Es ist deshalb argumentiert worden, daß Bakunins antisemitische Entgleisungen von seiner politischen Argumentation getrennt gesehen werden müßten;136 andererseits stellt sich die Frage, wie ein derart leidenschaftlicher Verfechter von Freiheit und Selbstbestimmung wie Bakunin solch krude Vorurteile kultivieren konnte.137 Eine mögliche Erklärung wäre, daß Bakunin im Moment der Polemik auf tieferliegende ›Argumentationsmuster‹ zurückgegriffen hat, die noch von seinem Elternhaus und seiner Sozialisation im russischen Feudaladel herrühren – wenn es sich nicht sogar um einen antijüdischen (vermeintlich antikapitalistischen) Gemeinplatz handelt, der von einer ganzen Reihe europäischer Sozialisten des 19. Jahrhunderts, etwa Fourier, Leroux, Blanqui und auch Marx, geteilt wurde. Aufschlußreich wäre in diesem Sinne eine Untersuchung, die in Bakunins antisemitischen Ausfällen den Anteil des Zeitgeistes im 19. Jahrhundert und familiäre und sozialpsychologische Einflüsse erkennbar machen und Erklärungen dafür finden würde, wie diese für Bakunin mit anderen, kohärenteren Stellen vereinbar waren, in denen er vehement die Forderung nach »absoluter Gewissens- und Kultusfreiheit« sowie »absoluter Freiheit der religiösen Assoziationen« vertreten hat.138 Bis dahin vermittelt Bakunin in dieser Frage ein widersprüchliches Bild.

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vgl. Archives, II, Einleitung, S. XXVI vgl. Michael Bakunin: Statism and Anarchy. Herausgegeben von Marshall S. Shatz. Cambridge University Press, Cambridge, New York, Port Chester, Melbourne, Sidney 1990, Einleitung, S. XXX. – Dies sei um so unverständlicher, argumentiert Shatz weiter, als sich Bakunin von anderen Vorurteilen seiner Sozialisation vollkommen hat befreien können. Bakunin: Gesammelte Werke. Band 3, a.a.O. (Anm. 134), S. 26. – vgl. auch Punkt 7 des Programms der Slawischen Sektion (siehe vorliegenden Band, S. 18 und 390).

Zu den Aufgaben der revolutionären Bewegung in Rußland hat sich Bakunin im Hauptteil von ›Staatlichkeit und Anarchie‹ nur wenig geäußert. In einer Passage des Textes, die das Volksideal, ohne das »ein Volksaufstand völlig unmöglich ist«,139 behandelt, befindet sich jedoch eine Fußnote, in der auf den Anhang A verwiesen wird, wo Bakunin diesen Gedanken weiterführt und im Zusammenhang mit der revolutionären Bewegung in Rußland diskutiert. Hier nimmt er auch gleich gegen Lavrov Stellung: »Um Mißverständnisse zu vermeiden, halten wir es immerhin für notwendig, darauf hinzuweisen, daß das, was wir ein Ideal des Volkes nennen, nichts mit jenen politisch-sozialen Schemata, Formeln und Theorien gemein hat, die, ohne das Leben des Volkes zu berücksichtigen, von bourgeoisen Gelehrten oder Halbgelehrten in ihren Mußestunden erarbeitet und der unwissenden Volksmasse wohlwollend als unbedingte Voraussetzung für ihre zukünftige Ordnung vorgeschlagen werden.«140

Daran anschließend beginnt Bakunin seine kontroverse Auseinandersetzung mit den Ansichten Lavrovs oder, wie es bei Bakunin heißt, mit dem »Mirtovschen oder Kedrovschen Gelehrtengeschwätz«141 (Mirtov und Kedrov waren Pseudonyme Lavrovs). Ganz kurz erwähnt wird auch »das letzte, dritte Programm von Vpered, einer unperiodischen Publikation, deren baldiges Erscheinen man in Zürich erwartet.«142 Der Vpered (zu deutsch: Vorwärts) sollte das Organ Lavrovs werden, der seit dem Ende der Verhandlungen mit Ross an der Herausgabe einer eigenen Zeitschrift arbeitete. Das dritte, definitive Programm des Vpered erschien als Vorabdruck im März 1873143 und ist Bakunin sicher bei seinem letzten Besuch in Zürich (Mitte April 1873) bekannt geworden.

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siehe vorliegenden Band, S. 143. siehe vorliegenden Band, S. 363. siehe vorliegenden Band, S. 369. siehe vorliegenden Band, S. 377. vgl. Sapir, I, S. 369. – Abdruck ebd., II, S. 152-175. – Die erste Ausgabe des Vpered erschien dann im August 1873.

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Die im Anhang A enthaltene Formulierung »ins Volk gehen«, die zum Ausgangspunkt der russischen revolutionären Bewegung der 1870er Jahre wurde, hat ihre Vorgeschichte. Als erster hatte Alexander Herzen diese Idee aufgebracht, als er in seiner Zeitschrift Kolokol nach den großen Universitätsunruhen in Moskau und Petersburg im Jahre 1861 den russischen Studenten zurief: »Ins Volk! Zum Volk! – Dort ist Euer Platz, ihr aus der Wissenschaft Vertriebenen. Zeigt, daß aus Euch keine Federfuchser, sondern Krieger des russischen Volkes hervorgehen!«144 In Bakunins im Jahr darauf erschienener Schrift ›An die russischen, polnischen und alle slawischen Freunde‹ ergänzte Bakunin diesen Aufruf erstmals um ein von nun an für ihn charakteristisches Merkmal: »Aber bewahre uns Gott vor einem Fehler: Seien wir keine Doktrinäre, verfassen wir keine Konstitutionen und machen wir nicht von vornherein für das Volk Gesetze. Wir müssen bedenken, daß unser Beruf ein andrer ist: Wir sind keine Lehrer, sondern nur Wegweiser für das Volk; wir haben ihm den Weg zu ebnen, und unsre Sache ist hauptsächlich nicht theoretischer Natur, sondern praktischer.«145

Und in seiner Schrift ›Einige Worte an meine jungen Brüder in Rußland‹ schrieb Bakunin 1869: »Geht unter das Volk! Da muss Eure Laufbahn, Euer Leben und Eure Wissenschaft sein! Lernet inmitten dieser Massen, deren Hände rauh durch Arbeit, wie Ihr der Volkssache dienen müsst. Und denket daran, Brüder, dass die studierende Jugend weder Herr, noch Beschützer, noch Wohltäter, noch Diktator des Volkes sein darf, sondern einzig der Beistand seiner freiwilligen Emanzipation [...].«146

Diese Ideen zur revolutionären Tätigkeit in Rußland bringt Bakunin nun im Anhang A von ›Staatlichkeit und Anarchie‹ zu folgendem Abschluß:

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Iskander' [d.i. Alexander Herzen]: ›Ispolin' prosypaetsja!‹ In: Kolokol. Pribavočnye listy k' Poljarnoj Zvezde, London, Nr. 110, 1. November 1861, S. 917-918. Briefwechsel, S. 300 Archives, V, S. 10.

»Was kann in einer solchen Lage unser geistiges Proletariat tun, unsere russische, ehrliche, integre und bis zum Letzten opferbereite sozial-revolutionäre Jugend? Zweifellos muß sie ins Volk gehen, weil es heutzutage, vor allem in Rußland, nirgends mehr außerhalb des Volkes, außerhalb der vielen Millionen von einfachen Arbeitern noch Leben, Aufgaben oder eine Zukunft gibt. Aber wie soll man ins Volk gehen, und wozu? [...] Unser Volk braucht eindeutig Hilfe. Es befindet sich in einer so verzweifelten Lage, daß man mühelos jedes beliebige Dorf zur Revolte bringen könnte. Doch obwohl jede Revolte immer von Nutzen ist, wie erfolglos sie auch gewesen sein mag, sind solche isolierten Ausbrüche nicht ausreichend. Man muß alle Dörfer auf einmal aufrütteln. [...] Solcherart ist die Aufgabe, und, sagen wir es offen, die einzige Aufgabe der revolutionären Propaganda.«147

Einfuhr und Wirkung in Rußland Als die beiden Bücher ›Staatlichkeit und Anarchie‹ und ›Die historische Entwicklung der Internationale‹ fertig gedruckt waren, machte sich Ross an die Organisation der illegalen Einfuhr nach Rußland. Die Hälfte der Auflage beider Bände schickte Ross nach Schirwindt an der preußisch-russischen Grenze (150 km östlich von Königsberg/Kaliningrad), von wo die gesamte Lieferung mit Hilfe von jüdischen Schmugglern ohne Zwischenfälle in eine kleine Siedlung in Rußland gelangte und von dort nach Petersburg transportiert wurde. Zwei kleinere Lieferungen organisierte Ross ebenso erfolgreich nach Odessa und Rostov am Don; von einer zweiten Sendung nach Petersburg fiel jedoch ein Teil in die Hände der Polizei und ging verloren.148 Ein weiterer fehlgeschlagener Versuch der illegalen Einfuhr von ›Staatlichkeit und Anarchie‹ über Ostgalizien war von dem Revolutionär Feofan Lermontov unternommen worden, den Ross noch aus der Zeit seiner Verbannung in Vologda kannte. Auf Einladung von Ross war dieser im März 1873 in die Schweiz

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siehe vorliegenden Band, S. 382, 384, 387. Ross: Russkie v Cjuriche, S. 67.

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gekommen und hatte Bakunin in Locarno besucht.149 Lermontov war der erste mit wirklichen russischen Beziehungen, der aus Rußland kam, erklärte Ross später gegenüber Nettlau.150 Auf dem Rückweg von einer zweiten Reise nach Zürich im Herbst 1873 blieb Lermontov eine Zeitlang in Voločisk (Ostgalizien) an der österreichisch-russischen Grenze (160 km Östlich von Lemberg/L'viv), um sich über die Möglichkeiten der illegalen Schrifteneinfuhr nach Rußland zu orientieren, und fand schließlich auch einen Schmuggler, der sich verpflichtete, 2 Pud (knapp 33 kg) von ›Staatlichkeit und Anarchie‹ über die Grenze zu bringen.151 Mit dieser Nachricht begab sich Lermontov zu DebogorijMokrievič, der sich seit November 1873 wieder in Rußland aufhielt und nun seinerseits nach Voločisk fuhr, um die Bücher in Empfang zu nehmen. Da aber noch nichts geliefert worden war, gab er dem Schmuggler die Adresse seines Freundes Sudzilovskij, durch den er Bescheid geben sollte, wenn die Bücher eingetroffen wären.152 Eines Tages, erinnerte sich Debogorij-Mokrievič, »fand ich die von mir erwarteten Nachrichten vor und fuhr nach Voločisk. [...] Ich persönlich hatte diesen Schmuggler schon bedeutend früher der Zusammenarbeit mit der Polizei verdächtigt und zwar genau von dem Augenblick an, da er von mir Sudzilovskijs Adresse erhalten hatte und diese auf irgendeine Weise in die Hände der Polizei gelangt war [...]. Nun, da ich in Voločisk ankam, hatte sich mein Verdacht noch verstärkt. Ich hatte auf der österreichischen Seite ein Treffen mit ihm, in Podvoločisk, in einer alten Hütte, die unweit des Flüßchens stand, das die Grenze zwischen Rußland und Österreich markierte. Ich erinnere mich, wie

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Ross: Vospominanija, S. 27-28. – Feofan Lermontov (1847-1878) (nicht zu verwechseln mit dem Dichter Michail Lermontov) hat eventuell unter dem Decknamen Uchtomskij auch an dem Treffen Bakunins mit Lavrov (April 1873) als Bakunins Zeuge teilgenommen (Archives, V, S. 221 und 535). Nachträge, Anm. 4646. Debogorij-Mokrievič, I, S. 44-45 (dt., S. 20-22). ebd., S. 59 (dt. unübersetzt).

ich mit ihm in der Hütte saß und sprach, als an der Haustür ein Klopfen zu hören war. Aus Vorsicht ging ich ins benachbarte Zimmer und konnte von dort aus durch die Türritze sehen, wie zu meiner größten Verwunderung ein russischen Grenzpolizist eintrat und leise mit meinem Schmuggler zu sprechen begann. Nach dessen Weggang hat er dann zwar versucht mich davon zu überzeugen, daß dieser Grenzpolizist selbst in den Schmuggel verwickelt und deshalb zu ihm gekommen sei, aber diese Erklärung befriedigte mich nicht [...]. Ich kehrte, wie sich von selbst versteht, mit leeren Händen, d.h. ohne Bücher zurück und bin von da an nicht mehr wegen der Bücher an die Grenze gefahren. Somit wurde nicht ein einziges Exemplar der Bakunin-Publikationen über die südwestliche Grenze zu Österreich befördert. Ich weiß nicht, inwieweit dies mit anderen Publikationen gelang, aber wir hatten überhaupt kein Glück. An dieser Grenze war alles verdorben worden, weil wir von Anfang an Leuten in die Hände gefallen waren, die es für nützlich hielten, die ganze Sache an die Polizei zu verraten.«153

Glücklicherweise ging nur ein geringer Teil der gesamten Auflage auf diese Weise verloren, der überwiegende Teil erreichte seinen Bestimmungsort in Rußland. Daneben sollen ein paar Exemplare von ›Staatlichkeit und Anarchie‹ in Serbien vertrieben worden sein und ca. 100 Stück wurden Buchhandlungen in Berlin und Wien zum Verkauf übersandt; schließlich erhielt auch Bakunin ein paar Exemplare.154 Die ersten Adressaten der nach Rußland eingeschmuggelten Bücher waren die Petersburger Gruppen um Lermontov und Kovalik,155 die die Bücher bei den von Ross beauftragten Schmugglern auszulösen hatten. Die Mitglieder des Čajkovskij-Kreises, der damals einflußreichsten Gruppierung unter der revolutionären Jugend, boten Lermontov in diesem Zusammenhang ihre Unterstützung an. Lermontov, ein ehemaliges Mitglied dieses Kreises, wollte jedoch mit den Čajkovskij-Leu-

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ebd., S. 84-85 (dt. unübersetzt). vgl. Pis'ma, S. 503 (dt. unübersetzt). – Ross: Russkie v Cjuriche, S. 67. – Briefwechsel, S. 270. Ross: Russkie v Cjuriche, S. 67.

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ten nichts mehr zu tun haben, da er sie für Lavristen hielt. Ein Zeitgenosse erinnerte sich: »Seltsamerweise wurden wir Mitglieder des Čajkovskij-Kreises für Lavristen gehalten, obwohl der ›Vpered‹ keine große Bedeutung für uns hatte und wir Bakunins Ideen mit großem Interesse aufnahmen [...]. In Piter [Petersburg] ging die Spaltung zwischen Bakunisten und Lavristen so weit, daß einer der Bakunisten (Lermontov), der den Transport von ›[Staatlichkeit und] Anarchie‹ abwickelte und Geld brauchte für die bereits gelieferten Bücher, [...] nicht einmal direkt von uns, den Mitgliedern des Čajkovskij-Kreises, Geld annehmen wollte. Wir mußten dem Mittelsmann sagen, daß das Geld aus einer anderen Quelle stammt. [...] ›[Staatlichkeit und] Anarchie‹ wurde dann ausgelöst und ging von Hand zu Hand.«156

Lermontovs Gruppe war ursprünglich aus der Initiative zweier ehemaliger Zürcher Studentinnen, der »Bakunistinnen« Sudzilovskaja und Vachovskaja entstanden. Letztere berichtete: »[In Petersburg] wohnte ich zusammen mit Evgenija Konstantinovna Sudzilovskaja, die ebenso wie ich zu Bakunins Kreis in Zürich gehört hatte. Von dort kam auch Lermontov zu uns, der mit Sažin [Ross] und Bakunin in Beziehung getreten war; da sich uns noch weitere Personen anschlossen, bildeten wir eine Gruppe. Aus dem Ausland wurde uns Literatur zugeschickt, darunter auch ›Staatlichkeit und Anarchie‹, dessen Drucklegung schon abgeschlossen war. Wir beschäftigten uns mit der Verbreitung der Literatur und mit Kontakten zur Jugend und zu den einzelnen Gruppen. Zu Beginn des Frühjahrs [1874] hatten wir vor, ins Volk zu gehen. Der Kreis um Kovalik stand sowohl hinsichtlich der Ideen als auch wegen der Gemeinsamkeit des Bakuninschen Ursprungs [beider Kreise] in freundschaftlichen Beziehungen zu uns. Sergej Filipovic Kovalik157, eine bedeutende Gestalt innerhalb der dama-

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M. Frolenko: ›Iz dalekago prošlago (1872-1881)‹. In: O minuvšem. Istoričeskij sbornik, St. Petersburg, 1909, S. 234-286. Kovalik (1846-1926), Kind einer verarmten Adelsfamilie, 1864 Gasthörer an der Petersburger Universität, Mitglied in oppositionellen Studentenkreisen, 1869 Abschluß eines Mathematik-Studiums an der Universität Kiev. 1872 wurde er Friedensrichter im Gouvernement Černigov, 1873 begann er mit Vorbereitungen

ligen Jugend, klug, gebildet, reif, paßte voll und ganz in diese Zeit und ging sehr energisch seinen Aktivitäten nach. Ihm ging alles leicht, mit einem Lächeln, von der Hand, als geschähe es so ganz nebenbei.«158

Kovalik hatte Lermontov in Petersburg kennengelernt, als dieser aus der Schweiz zurückkehrte, und nahm ihn in seine Wohnung auf.159 Kovalik erinnerte sich später: »Seit [...] Herbst 1873 schloß ich mich ganz und gar der revolutionären Bewegung an. Anfangs hatten wir die Werke Bakunins über die Anarchie noch nicht zur Verfügung, aber ich kam unabhängig von ihm auf den Gedanken, daß der Staat letztlich einem anarchistischen Aufbau der Gesellschaft weichen müßte. In dieser Zeit traf ich Lermontov, ein früheres Mitglied der Čajkovskij-Kreises. Er wollte mich über die Anarchie aufklären, als er aber sah, daß das nicht nötig war, schlug er sogleich vor, ich solle mich ins Ausland zu Bakunin und Sažin [Ross] begeben, die sich mit dem Problem der Organisation der russischen Bewegung und der Verbreitung der Anarchie in Rußland beschäftigten. Ich hatte auch ohnedies begonnen, mich damit zu beschäftigen, deshalb stimmte ich Lermontovs Vorschlag zu und fuhr Ende 1873 zu Bakunin.«160

Im Februar 1874 kehrte Kovalik nach Rußland zurück, gründete eine einflußreiche Gruppe in Petersburg und brach zu einer Reihe von anarchistischen Propaganda- und Agitationstouren auf, die ihn unter anderem nach Moskau, Odessa, Jaroslavl und Kasan führten – insgesamt bereiste er neun Gouvernements, wo er 13 Gruppen gründete.161 Gleichzeitig sorgte er für den Vertrieb der

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für die Propaganda unter den Bauern (Bio-bibliografičeskij slovar’, II, Spalte 599-603) (Abbildung von Kovalik in vorliegendem Band, S. 14). Vachovskaja, a.a.O. (Anm. 74), S. 11-12. Kovalik, S. 61. – Lermontov wurde dann im Januar 1874 in Petersburg verhaftet. Zusammen mit Ross und Kovalik gehörte er zu den Unterzeichnern einer Proklamation von Gefangenen der Peter-Pauls-Festung vom 25. Mai 1878. Er starb auf der Fahrt nach Sibirien am 11. Dezember 1878 an Tuberkulose (Bio-bibliografičeskij slovar’, II, Spalte 766-768). Kovalik, S. 17. Thun, a.a.O. (Anm. 3), S. 86.

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bakunistischen Literatur. Von einer Agitationstour nach Charkov, etwa im März/ April 1874, berichtete Kovalik in seinen Memoiren: »[...] nebenbei, während eines Aufenthalts in Charkov, [organisierte ich] einen anderen Kreis aus jungen Charkovern, hauptsächlich Seminaristen [Studenten des theologischen Seminars]. Die Geschichte des letzteren Kreises ist dadurch interessant, daß sie ein deutliches Bild von der Stimmung der damaligen Jugend liefert. In Charkov suchte ich einen Studenten auf, der sich früher mit der Verbreitung der besten Bücher, die in den 6oer Jahren erschienen waren, beschäftigt hatte, seit ein paar Jahren aber von jeglicher Tätigkeit Abstand genommen hatte. Ich gab ihm ›Staatlichkeit und Anarchie‹ zu lesen und schon am nächsten Tag bezeichnete er sich als einen überzeugten Revolutionär.«162

Da die mit dem Vertrieb von ›Staatlichkeit und Anarchie‹ befaßten Gruppen um Lermontov und Kovalik überwiegend aus Personen bestanden, die direkten Kontakt zu Bakunin hatten – oder zur Zürcher Russischen Kolonie gehört hatten und nach dem Ende der Kolonie zur revolutionären Arbeit nach Rußland zurückgekehrt waren -, war bald allgemein bekannt, daß der Autor des anonym erschienenen Buches ›Staatlichkeit und Anarchie‹ Bakunin war. Von der Polizei wurden in diesen Jahren verschiedentlich Exemplare von ›Staatlichkeit und Anarchie‹ aufgefunden: So zum Beispiel im Jahre 1875 anläßlich einer Hausdurchsuchung bei Aleksandr Beljaevskij,163 einem 20jährigen Studenten der

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Kovalik, S. 19. – Kovalik wurde im Juli 1874 verhaftet. Nach zwei mißglückten Fluchtversuchen im März und April 1876 wurde er in der PeterPauls-Festung eingekerkert und schließlich im Januar 1878 zu 10 Jahren Zwangsarbeit (unter Anrechnung der Untersuchungshaft) verurteilt. Nach dem Ende der Strafzeit wurde er 1884 zur Ansiedlung ins Gouvernement Jakutsk über-stellt. Erst 1898 kehrte er aus der Verbannung zurück und ließ sich in Minsk nieder. Er starb am 26. April 1926 (Biobibliografičeskij slovar’, II, Spalte 599-603). Process 50-ti. Izdanie V. M. Sablina, Moskau 1906, S. 37. – Zusammen mit ›Staatlichkeit und Anarchie‹ wurde auch das Buch ›Die Anarchie nach Proudhon‹ gefunden.

Landwirtschaftsakademie von Petrovskoe. Wegen verbrecherischer Propaganda und Verbreitung verbotener Bücher wurde Beljaevskij daraufhin festgenommen und 1877 ins Gouvernement Tobolsk in Sibirien verbannt, von wo er im Sommer 1882 ins Ausland flüchtete.164 Nach Nižnij-Novgorod gelangten Exemplare des Buches durch den 23jährigen Studenten Aleksandr Livanov, der dort eine Gruppe gegründet hatte, über deren Tätigkeit es in einem Bericht der Dritten Abteilung (der zaristischen Geheimpolizei) vom Dezember 1874 hieß: »Es wurden die hergeschafften verbotenen Bücher gelesen, die Notwendigkeit erörtert, die soziale Revolution zu propagieren und dies gemeinsam zu tun.«165 Weitere Exemplare von ›Staatlichkeit und Anarchie‹ schickte ein Mitglied des Lermontov-Kreises in Petersburg, der Student am Technologischen Institut Kiriak Miloglazkin, mit der Eisenbahn nach Nižnij-Novgorod – getarnt als geodätische Instrumente.166 Im Juni 1874 schließlich wurde eine polizeiliche Untersuchung gegen den Revolutionär Aleksandr IvančinPisarev eingeleitet, dessen Gut im Gouvernement Jaroslavl zu den Zentren der revolutionären Bewegung gehörte. Die Untersuchung ergab, daß Ivančin-Pisarev auf seinem Gut eine Schule eingerichtet hatte und den Bauern, die darin lesen gelernt hatten, aus seiner revolutionären Hausbibliothek einige Bücher zu lesen gegeben hatte – darunter ›Staatlichkeit und Anarchie‹.167 Neben Kovalik und Lermontov gehörte Debogorij-Mokrievič zu den wichtigsten anarchistischen Propagandisten in der revolutionären Bewegung der 1870er Jahre. Seine Tätigkeit konzentrierte sich auf die Kiever »Kommune«, eine Art revolutionäre Wohngemeinschaft, die auch als konspirativer Treffpunkt

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Bio-bibliografičeskij slovar’, II, Spalte 103. Revoljucionnoe narodničestvo, I, S. 275. ebd. vgl. Daniel Field: ›Peasants and Propagandists in the Russian Movement to the People of 1874‹. In: The Journal of Modern History, Chicago, Band 59, Nr. 3, September 1987, S. 417-420.

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und Diskussionsforum genutzt wurde. Um die Jugendlichen auf den »Gang ins Volk« vorzubereiten, war auch eine Schusterwerkstatt eingerichtet worden, von der Debogorij-Mokrievič berichtet: »Tag für Tag erschienen morgens in unserer Werkstatt Aksel'rod und die beiden Brüder Levental, um das [Schuhmacher-] Handwerk zu erlernen. Gewöhnlich setzten wir uns gleich morgens an die Arbeit und begannen zu nähen, führten aber gleichzeitig Gespräche zu den verschiedensten Themen, von der Frauenfrage über die Kindererziehung bis zur Revolution. Meistens jedoch erörterten wir natürlich die Tätigkeit im Volk. Als Ausgangspunkt unserer Gespräche diente oft Bakunins Buch ›Staatlichkeit und Anarchie‹ und besonders der am Ende stehende Anhang A, in dem Bakunin speziell über Rußland spricht und die russische Jugend aufruft, ins Volk zu gehen und Aufstände zu organisieren. Die Notwendigkeit, ins Volk zu gehen, war mehr oder weniger allen bewußt geworden; jeder fühlte das lebendige Bedürfnis, etwas im Volke zu tun; zu dieser Tätigkeit selbst aber gab es verschiedene Ansichten und wir stritten sehr viel darüber. Wie auch immer, diese Gespräche blieben nicht fruchtlos ... was sich allerdings von unserem Stiefelnähen nicht sagen läßt.«168

Der erwähnte Aksel'rod ist tatsächlich der spätere Marxist Pavel Aksel'rod (1850-1928), der seine anarchistischen Jugendüber-

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Debogorij-Mokrievič, I, S. 65 (dt. unübersetzt). – Debogorij-Mokrievič wurde im Februar 1879 in Kiev verhaftet und im Mai zu 14 Jahren und 10 Monaten Zwangsarbeit verurteilt. Auf dem Weg nach Sibirien tauschte er seine Identität mit einem Mitgefangenen, der zur Ansiedlung im Gouvernement Irkutsk verurteilt worden war, und ließ sich unter dem Namen Pavlov im Oktober 1879 im Dorf Tel'minsk nieder. Von dort flüchtete er wenig später, lebte etwa ein Jahr in Sibirien, anschließend in Moskau im Untergrund und begab sich schließlich im Mai 1881 in die Schweiz, wo er an verschiedenen Emigrantenzeitschriften mitarbeitete. Er lebte eine Zeitlang in Frankreich, Bulgarien, England und Amerika und ließ sich 1894 endgültig in Bulgarien nieder, wo er die Arbeiten an seinen dreibändigen Memoiren abschloß. Erst 1917 konnte er wieder legal nach Rußland einreisen. Er starb am 2. November 1926 in Chirpan, Bulgarien (Bio-bibliografičeskij slovar’, II, Spalte 336-339).

zeugungen nie verleugnet hat.169 Über die Kiever Zeit liegen interessante Erinnerungen von ihm vor, die ein anschauliches Bild von der kämpferischen Stimmung unter den Jugendlichen und der Rezeption Bakunins und Lavrovs Vpered vermitteln: »Mich persönlich beeinflußten die Nachrichten, die uns [in Kiev] in Bezug auf die russische Emigration erreichten in dem Sinne, daß sie meine bewußte und entschiedene Hinwendung zu Bakunin beschleunigten. Vorbereitet wurde diese Wende durch meine Unzufriedenheit und die einiger Genossen mit der Propaganda der Zeitschrift Vpered. Schon der Programmentwurf des Vpered, der uns im Frühjahr 1873 von Čarušin170 vorgelegt worden war, erschien mir blaß und überaus gemäßigt. Und dieser Eindruck verstärkte sich noch, als wir die Zeitschrift selbst kennenlernten.171 Der Person Lavrovs gegenüber empfanden wir große Achtung. In seinem Programm aber vermißten wir die innere Folgerichtigkeit, die für uns hätte anziehend sein können. Die Propaganda nahm in diesem Programm einen abstrakten Charakter an und verlor ihre revolutionäre Brisanz. Die Forderung nach einer ernsthaften theoretischen Vorbereitung auf die Propaganda gab jedem Radikalen die Möglichkeit, ganz ruhig alle Annehmlichkeit des Lebens zu genießen – in einer Zeit, da wir das innere moralische Bedürfnis verspürten, möglichst bald alle Verbindungen zu der ›im Laster versinkenden Welt‹ abzubrechen und ›die Schiffe hinter uns zu verbrennen‹. Unklar blieb uns Lavrovs Verhältnis zum Staat: Einerseits die Abschaffung des Staates, – und zwar nicht nur des Polizeistaates, sondern jeglicher staatlicher Organisation überhaupt, – die Proklamierung des freien Bündnisses freier Kommunen [obščin]. Andererseits die Anerkennung der Notwendigkeit staatlicher Organisation als ›Übergangs‹form. Mit diesem Bekenntnis wur-

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vgl. zum Beispiel seinen Gedenkartikel zum hundertsten Geburtstag Bakunins, Paul Axelrod: ›Bakunins historische Leistung‹. In: Die Neue Zeit. Wochenschrift der Deutschen Sozialdemokratie, Stuttgart, 32. Jg., Band 2, Nr. 9, 29. Mai 1914, S. 380-383. Nikolaj Čarušin (1851-1937), Revolutionär der 1870er Jahre, Mitglied des Čajkovskij-Kreises, 1874 verhaftet. Nach neun Jahren Zwangsarbeit bis 1895 in der Verbannung. Die erste Ausgabe des Vpered erschien im August 1873 in Zürich.

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de die Abschaffung des Staates in irgendeine nebelhafte Ferne gerückt und für den gegenwärtigen Moment ergab dies eine Taktik der Anpassung, wogegen unser unbefangenes revolutionäres Gefühl (und unser einfaches politisches Denken) rebellierte. Insgesamt hatte die revolutionäre Jugend den Eindruck, daß der Lavrismus sie vom eigentlichen revolutionären Weg abbrachte, daß er durch seine ständigen Vorbehalte jene revolutionäre Sache, für die wir möglichst bald unsere ganze Kraft einsetzen wollten, in unbestimmte Ferne rückt. Bakunins Theorie entsprach eher der Stimmung der radikalen Jugend. Diese Theorie bezauberte uns durch ihre Klarheit und Geradlinigkeit, dadurch daß sie ohne irgendwelche Vorbehalte radikal an die Lösung aller Probleme ging. [...] Auf mich machte Bakunins Buch ›Staatlichkeit und Anarchie‹ einen kolossalen Eindruck.«172

Diese erfolgreiche Aufnahme von ›Staatlichkeit und Anarchie‹ in Rußland scheint nach den erhaltenen Quellen durchaus repräsentativ gewesen zu sein: Der Revolutionär Sergej Kravčinskij (Stepnjak) erklärte, ›Staatlichkeit und Anarchie‹ »wirkte sehr und seine Schriften stellten für den Leser die Revolution selbst dar«.173 Selbst Lavrov stellte fest: »[...] die Literatur der Bakunisten stieß zweifellos auf größeres Interesse und hatte mehr Erfolg bei der unruhigen Narodniki-Jugend.«174 Und Leonid Šiško, Mitglied des Čajkovskij-Kreises, schrieb: »Das hartnäckige Pochen des ›Vpered‹ auf die Notwendigkeit einer langen Vorbereitung auf die Propaganda im Volk widersprach

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P. B. Aksel'rod: Perezitoe i perecymannoe. Band 1. Izdatel'stvo Z. I. Gržebina, Berlin 1923, S. 109-114. Mitteilung von Stepnjak an Max Nettlau vom 15. Mai 1894, in Biographie, S. 775. – Abbildung von Stepnjak in vorliegendem Band, S. 14. P. L. Lavrov': Narodniki-propagandisty. 1873-78 godov. Tipografja ›Tva Andersona i Lojcjanskago‹, St. Petersburg 1907, S. 186. – Die Narodniki (Volksfreunde), die den agrarsozialistischen und revolutionären Idealen des Volkes (das heißt der ländlichen Massen und der Arbeiterschaft in den Städten) zum Durchbruch verhelfen wollten, bildeten die Hauptströmung innerhalb der russischen revolutionären Bewegung der 1870er Jahre.

dem so heißen und unaufhaltsamen Streben der damaligen Jugend nach revolutionärer Tätigkeit; deshalb wurde Bakunins Buch ›Staatlichkeit und Anarchie‹ mit großem Interesse aufgenommen, besonders im Frühling und Sommer 1874, als alle von der leidenschaftlichen Bewegung ›ins Volk‹ ergriffen wurden.«175

Dennoch bleibt festzuhalten, daß der Einfluß Bakunins in Rußland nicht der einer revolutionären Führerfigur war, die die Bewegung aus dem Ausland leitete, sondern der eines nachgefragten Impulsund Ideengebers. Bakunin hatte mit seinen Ideen den Nerv der Zeit getroffen, wobei gleichermaßen der konstruktive Charakter seines revolutionären Föderalismus wie sein Aufruf zur Revolte zum Erfolg seiner Ideen beitrug.176 Die Nachfrage nach Bakunin-Texten wurde schließlich so groß, daß neben den nach Rußland eingeführten Originalausgaben von ›Staatlichkeit und Anarchie‹ auch Teilabschriften und selbst handschriftliche Zusammenfassungen anderer Schriften Bakunins die Runde machten.177 Daneben zirkulierten in den 188oer Jahren hektographierte Ausgaben des Anhangs A sowie nach einer handschriftlichen Vorlage hektographierte Broschüren mit Auszügen aus ›Staatlichkeit und Anarchie‹ unter dem Titel, ›Über die Staatlichkeit‹.178 Im August 1884 wurde bei einer Hausdurch-

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zitiert nach ebd., S. 186-187. vgl. Pirumova: Social. doktrina, S. 283-284. – Dies bestätigt auch Ralli: »Für mich persönlich war die ›Anarchie‹ Bakunins keineswegs nur eine Theorie der Zerstörung des bestehenden militär-bürokratischen Staates; ich schätzte besonders ihre konstruktive Seite, welche eine Föderation von Gemeinden in Kreisen und von Kreisen in Bündnissen vorsah auf der Grundlage von Nationalitäten, Völkerschaften und sogar geographischen Räumen [...].« (Ralli, S. 288) zum Beispiel von der Hand M. G. Gvozdevs, der 1875 unter Petersburger Fabrikarbeitern agitierte (Pirumova: Social. doktrina, S. 252 und 296 mit Angabe der Fundstellen solcher Abschriften). O gosudarstvennosti. Bakunina. St. Petersburg 1883, 16 S. (Izdanie v[ol'noj] g[ektografii] O[bščestvennaja] p[ol'za]; Nr. 5) – O gosudarstvennosti. o.O. o.J. [1879-1884?], 15 S. (vgl. Svodnyj ka-

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suchung in Charkov sogar ein Exemplar einer komplett hektographierten Ausgabe von ›Staatlichkeit und Anarchie‹ aktenkundig, die von der Charkover Gruppe der ›Narodnaja Volja‹ herausgegeben worden war: Gosudarstvennost' i anarchija. Izd. gektografii char'k. gruppy partii ›N.V.‹, o.O. [Charkov] o.J. [1884].179

Die Begeisterung der revolutionären Jugend für den von Bakunin vermittelten Anarchismus, der »uns als letztes Wort des westeuropäischen Sozialismus erschien« (Plechanov),180 alarmierte die zaristische Regierung, die noch im Jahre 1874 eine behördliche Untersuchung über die revolutionäre Bewegung in Rußland in Auftrag gab. Deren Ergebnisse wurden Anfang des folgenden Jahres in einem Memorandum des Justizministers Graf Palen zusammengefaßt und in einer Anzahl von Exemplaren gedruckt. Hierin wird konstatiert, daß von den 54 Gouvernements des europäischen Rußlands 37 von revolutionärer Propaganda betroffen seien.181 Wegen Beteiligung an der revolutionären Bewegung seien 770 Personen verdächtig, von denen 265 bereits verhaftet wurden, 452 unter polizeilicher Überwachung stehen und 53 noch gesucht werden.182 Die Mitglieder des Čajkovskij-Kreises, hieß es ferner, »welche sich vornehmlich an die Jugend wandten und neue Anhänger unter derselben warben, predigten in Gemässheit der Theorien Bakunin's die Untauglichkeit der gesamten bestehen-

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talog russkoj nelegal'noj i zapreščennoj pečati XIX veka. Knigi i periodičeskie izdanie. Teil 1. Gosudarstvennaja biblioteka SSSR imeni V. I. Lenina, Moskau 1981, S. 32). Svodnyj katalog russkoj nelegal'noj i zapreščennoj pečati XIX veka. Knigi i periodičeskie izdanie. Teil 3. Gosudarstvennaja biblioteka SSSR imeni V. I. Lenina, Moskau 1982, S. 4. zitiert nach Pirumova: Social. doktrina, S. 286. ›Geheime Denkschrift über die nihilistischen Umtriebe (1875)‹. In: Russische Wandlungen. Neue Beiträge zur Russischen Geschichte von Nikolaus I. zu Alexander III. Verlag von Duncker & Humblot, Leipzig 1882, S. 231. 182 ebd., S. 236.

den Ordnung [...]. Bakunin (der in den Augen der Jugend zu einem ganz anderen wird, als er ist), belehrte die jungen Leute über diejenigen Mittel, mit deren Hilfe die Grundsätze des Socialismus verwirklicht, seine Einrichtungen an die Stelle derjenigen des Staats gesetzt werden können. Als solche Mittel bezeichnet er die Propaganda unter dem Volke, – die ›Kampfs- und Verschwörungs-Propaganda‹, indem er behauptet, dass das Volk den Staat und dessen Vertreter alle Zeit hasse und gehasst habe, einerlei, in welcher Form derselbe sich darstelle. Weiter sucht er nachzuweisen, dass das Volk zur Erkenntniss seiner verzweifelten Lage, seiner Befähigung zu einem offenen Aufstande und der Erspriesslichkeit einer veränderten Organisation gebracht werden müsse; vermittelst ihrer Organisation werde die Jugend (das gebildete Proletariat) mit der Volksmasse verbunden und zum Bande zwischen allen Unzufriedenen gemacht werden. – Es ist mit einem Worte die Verwirklichung der Anarchie, die als das Ideal aller Leute bezeichnet wird, welche die Wohlfahrt des Volks anstreben. So barbarisch diese Theorie sich auch ausnimmt, – es haben die Schriften Bakunin's und die Brandreden seiner Anhänger einen nachweisbaren und höchst bedenklichen Einfluss auf die Jugend gehabt. Von Niemandem widerlegt, haben diese Schriften auf die Jugend denjenigen Reiz geübt, der allem Verbotenen, wenn es nur gewissen Instinkten und Bestrebungen schmeichelt, eigenthümlich zu sein pflegt; man nahm dieselben eben als Antwort auf die Frage: ›Was ist zu thun?‹«183

Eine Abschrift des Berichtes gelangte ins Ausland und wurde Ralli und seinen Freunden zugespielt, die seit Januar 1875 in Genf die Zeitschrift Rabotnik herausgaben. Den Bericht veröffentlichten sie im Sommer desselben Jahres unter dem Titel ›Memorandum des Justizministers Graf Palen. Die Erfolge der revolutionären Propaganda in Russland‹184 das sie um ein 183 184

ebd., S. 229. Bakunin begann aus Anlaß dieses Memorandums ein Manuskript unter dem Titel ›Le socialisme révolutionnaire en Russie‹ zu verfassen, das anscheinend als Vorwort zu einer französischen Übersetzung des Memorandums veröffentlicht werden sollte und mit den Worten beginnt: »Wir haben einen sehr merkwürdigen Text vor uns, dessen Übersetzung der Leser am Ende als Anhang finden wird. Es handelt sich um ein kürzlich ver-

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Nachwort ergänzten, in dem auf die Aussagen Palens im einzelnen eingegangen wird. Den von Palen festgestellten Einfluß Bakunins versuchte der Autor des Nachworts stark zu relativieren: »Ohne den Wert Bakunins als mächtige Persönlichkeit und talentvoller Agitator im mindesten vor der Welt verkleinern zu wollen, ohne auch nur die Dienste, die er der Revolution geleistet hat, in Frage stellen zu wollen, müssen wir dennoch feststellen, daß sein Einfluß auf die russische revolutionäre Bewegung immer sehr schwach, sogar minimal war. Bakunin hat seine Kraft vor allem der revolutionären Tätigkeit in der Internationalen Arbeiter-Assoziation gewidmet; um Rußland hat er sich wenig gekümmert. Ebenso existieren seine Schriften, auf die sich Graf Palen mit Schrecken bezieht, eher in dessen blühender Einbildung als in der Wirklichkeit. Bakunin war vor allem ein Konspirator, der wenig Neigung zu literarischer Arbeit hatte; er schrieb eher selten, und wenn es dazu kam, am häufigsten auf französisch; auf russisch existieren abgesehen von ›Staatlichkeit und Anarchie‹, das vom Grafen Palen zitiert wird, und einigen Proklamationen keine anderen Schriften von ihm. [...] Bakunin war für die russische Jugend niemals der absolute Diktator, die unfehlbare Autorität, wie es Graf Palen glaubt.«185

Obwohl in dieser Stellungnahme auch der persönliche Ärger über Bakunin noch spürbar ist, von dem sich die Rabotnik-Redakteure Ralli, Holstein und Oelsnitz zwei Jahre zuvor getrennt hatten, bleibt doch der Hinweis festzuhalten, daß Bakunins Rolle eher die eines Vermittlers bestimmter Ideen als die eines Führers oder Organisators der revolutionären Bewegung

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faßtes vertrauliches Zirkular des Grafen Pahlen, des Ministers der sogenannten Justiz [...]« (Archives, V, S. 239). In diesem Manuskript und zwei erhaltenen zugehörigen Manuskriptfragmenten (ebd., S. 239-246) entfernt sich Bakunin jedoch schnell vom Ausgangsthema und diskutiert erneut den autoritären Charakter der russischen (und deutschen) Staatlichkeit, der er das antiautoritäre slawische Volksleben gegenüberstellt. zitiert nach Archives, V, S. 484. – Nettlau: »eine sehr feindliche Würdigung Bakunin's« (Biographie, S. +382). – Nach Venturi war Ralli Autor des Nachworts (Venturi, S. 506).

gewesen ist.186 Nur eine geringe Zahl von russischen Revolutionären dieser Zeit stand überhaupt in engeren persönlichen Beziehungen zu Bakunin (Ross, Lermontov, Kovalik, Debogorij-Mokrievič und andere187) – ein Großteil der übrigen Radikalen machte sich Bakunins Ideen auf ihre Art zu eigen. Dies konnte bei dem großen theoretischen Spektrum innerhalb der revolutionären Jugend auch nicht anders sein, die aufgrund einer eigenständigen Ideenentwicklung für die Rezeption von Bakunins Ideen vorbereitet waren und vor allem viel Wert auf ihre politische Eigenständigkeit legten.188 Der junge Kropotkin verlieh in

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vgl. Venturi, S. 429. – Dies war schon in Zürich so gewesen; Vera Figner berichtete: »Insgesamt gesehen gab es in Zürich wenig persönliche Einflüsse auf die Jugend. Das erscheint seltsam angesichts solcher Namen wie Bakunin und Lavrov. Trotzdem ist es so gewesen: Der Einfluß der Ideen war entscheidend. [...] Gegenüber Lavrov verhielten wir uns ehrerbietig, aber es fehlten Wärme und Herzlichkeit. Ganz anders war es mit Bakunin. Als unbeugsamen Kämpfer und Revolutionär, nicht als Denker bewahrten wir ihn in unserem Herzen. Er konnte wie kein anderer Begeisterung wecken, und man kann ganz allgemein sagen, daß wir alle [...], die die erste Nummer des ›Vpered‹ gesetzt hatten, antistaatlich im Sinne Bakunins dachten und von der Poesie der Zerstörung in seinen Flugschriften und Broschüren hingerissen waren.« (Figner: Studenčeskie gody, a.a.O. ❲Anm. 64❳, S. 48. – Auszug in Unterhaltungen, S. 412-413) Weitere russische Beziehungen ergaben sich für Bakunin unter anderem durch den Besuch von Semen Lur'e (der eine Art Gruß-adresse der Kiever Bakunisten überbrachte, vgl. Aksel'rod, a.a.O. ❲Anm. 172❳, S. 110 und 115) und von Sergej Kravčinskij (Stepnjak) (vgl. Donald L. Senese: ›Bakunin's Last Disciple: Sergei Kravchinskii‹. In: Canadian-American Slavic Studies. A Quarterly Jourhal Devoted to Russia and East Europe, Pittsburgh, Band 10, Nr. 4, Winter 1976, S. 570-576). vgl. Pirumova: Social. doktrina, S. 293. – Der in diesem Zusammenhang von manchen Historikern ausgesprochene Tadel, Bakunin habe in Rußland nur »eine revolutionäre Mentalität, aber keine Organisation schaffen können« (Venturi, S. 429) wirkt vor diesem Hintergrund recht sonderbar. James Joll antwortete dar-auf: »Diese Mentalität schien in den folgenden zwanzig Jahren,

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einer Programmschrift für den Čajkovskij-Kreis, dessen Mitglied er war, dieser Überzeugung so Ausdruck: »Während wir einige Vertreter unserer russischen Emigration und ihre Tätigkeit in der Internationale tief schätzen, beabsichtigen wir trotzdem mit keinem von ihnen in enge organisatorische Verbindung zu treten, weil wir keine Möglichkeit sehen, diese Verbindung zu einer wirklichen zu machen. Wir wollen uns hier selbständig entwickeln außerhalb aller Führerschaft ausländischer Parteien, da wir annehmen, daß die Emigration nie der genaue Ausdruck der Bedürfnisse ihres Volkes sein kann außer in den allgemeinsten Umrissen [...].«189

Und Stepnjak wies die Idee einer Leitung aus dem Ausland sogar empört von sich: »Das Durchschnittspublikum, das seine Vorstellungen von einer Verschwörung Trivialromanen entnommen hat, kann sich keine illegale Bewegung ohne einen heimlichen Diktator vorstellen, und da es niemand von denen kennt, die in Rußland arbeiten, hält es sich natürlich an den markantesten Namen – selbstverständlich unter den Emigranten. Den russischen Lesern brauche ich wohl kaum zu erklären, daß das alles Ammenmärchen sind und daß kein einziger der Emigranten Führer der russischen Bewegung war und sein kann. Al-

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in denen die Revolutionäre über neue Methoden wirkungsvoller Betätigung nachzudenken begannen, oft wichtiger als eine Organisation.« (James Joll: Die Anarchisten. Verlag Ullstein, Frankfurt/M, Berlin, 1969, S. 83) zitiert nach Max Nettlau: Der Anarchismus von Proudhon zu Kropotkin. Seine historische Entwicklung in den Jahren 1859-1880. Verlag ›Der Syndikalist‹, Fritz Kater, Berlin 1927, S. 251-252. Original vollständig in Revoljucionnoe narodničestvo, I, S. 55-118. In ähnlicher Weise äußerte sich Kropotkin in seinen Memoiren: »›Fremde Agitatoren‹ sind allenthalben eine beliebte Erklärung. Unzweifelhaft lauschte unsere Jugend auf Bakunins mächtige Stimme und übte die Agitation der Internationalen Arbeiterassoziation ihre begeisternde Wirkung auf uns aus. Aber die Bewegung ›V narod‹ – Zum Volke – hatte einen weit tieferen Ursprung: sie begann, ehe die ›fremden Agitatoren‹ zu der russischen Jugend gesprochen hatten [...].« (Peter Kropotkin: Memoiren eines Revolutionärs. Insel Verlag, Frankfurt am Main 1969, S. 362-363)

les, was die Emigration für Rußland tun kann, ist, im Ausland Literatur zu schaffen. Eine Zeitlang ist diese Aufgabe, man kann sagen, glänzend erfüllt worden.«190

Der zweite Teil von ›Staatlichkeit und Anarchie‹ Nachdem Ross den Schmuggel der Bucher über die russische Grenze erledigt hatte, kehrte er nach Zürich zurück, um die Bibliothek und die Druckerei endgültig aufzulösen, die beide nach dem Ende der Russischen Kolonie ihre Funktion verloren hatten. Den Bibliotheksbestand packte er ein und gab ihn dem Emigranten Elpidin in Genf zur Verwahrung, die Druckpresse konnte er ohne Verlust verkaufen.191 Mit den übrigen Materialien der Druckerei (den Setzkästen und kyrillischen Drucklettern) übersiedelte er noch im November 1873 nach London.192 Hier stellte Ross den dritten Band der Reihe ›Veröffentlichungen der Sozial-Revolutionären Partei‹ her: ›Die Anarchie nach Proudhon‹. Diesem Buch lag ein Manuskript von James Guillaume zugrunde, das von Zajcev ins Russische übertragen wurde.193 Zajcev schickte seine Übersetzung Ende 1873 / Anfang 1874 nach London, wo Ross mit der Hilfe von ein oder zwei polnischen Druckern sofort mit dem Satz und Druck des Buches anfing. Gegen Mai war das Buch in einer Auflage von 1000 Stück fertig:194 Anarchija po Prudonu. (Izdanie Social'no-Revoljucionnoj Partii, Tom' 3) [Die Anarchie nach Proudhon. (Veröffentlichungen der Sozial-Revolutionären Partei, Band 3)] o.O. [London], 1874. [2], III, 212, [2] S.

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Sergej Stepnjak-Krawtschinski: ›Das illegale Rußland‹. In: Nicht Narren, nicht Heilige. Erinnerungen russischer Volkstümler. Verlag Philipp Reclam jun. Leipzig 1984, S. 6. vgl. Bankowski-Züllig, a.a.O. (Anm. 10), S. 157. – Ross: Russkie v Cjuriche, S. 63 und 76. Ross: Vospominanija, S. 87. Guillaume: L'Internationale, I, S. 76 und III, S. 187. Nachträge, Anm. 4652. – Ross: Vospominanija, S. 97-98. – Neue Biographie, Band 4, S. 181. – Obras, V, Vorwort, S. 45.

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Ross wollte auch noch einen vierten Band der Reihe drucken, wahrscheinlich ein Buch Guillaumes über die Kongresse der Internationale, von dem Ross bereits den Anfang erhalten hatte. Dieser Plan mußte jedoch bald aufgegeben werden, so daß Ross sofort mit der Einfuhr der in London gedruckten Bücher nach Rußland begann.195 Im Juni 1874 kehrte Ross in die Schweiz zurück und begab sich zu Bakunin, der inzwischen in die Villa Baronata in der Nähe von Locarno umgezogen war – unter anderem wollte Ross mit Bakunin die Herausgabe des zweiten Teils von ›Staatlichkeit und Anarchie‹ absprechen.196 Das Buch war ja im Untertitel nur als Teil 1 bezeichnet worden und im Text wird vier mal auf einen zweiten Teil des Buches Bezug genommen, von dem es heißt, es solle in ihm einerseits »von der Entwicklung der Arbeiterassoziationen in Deutschland und überhaupt in Europa ausführlich berichtet werden«,197 andererseits sollte die Auseinandersetzung mit Marx und den deutschen Sozialdemokraten zu Ende geführt werden.198 In seinen Erinnerungen schrieb Ross: »Während meines Aufenthalts in der ›Baronata‹ zeigte er [Bakunin] mir einen ziemlich umfänglichen Stapel mit vollgeschriebenen Blättern [des zweiten Teils von ›Staatlichkeit und Anarchie‹], und sagte dazu, es seien noch einige Änderungen und Zusätze nötig, er werde diese Arbeit aber um jeden Preis beenden, da es zweifellos seine letzte sein werde.«199

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Ross: Vospominanija, S. 88. – Ross: Russkie v Cjuriche, S. 65. Guillaume: L'Internationale, III, S. 187. – Ross: Vospominanija, S. 88. siehe vorliegenden Band, S. 332. siehe vorliegenden Band, S. 339 und 362. Ross: Vospominanija, S. 94. – Dies widerspricht der Darstellung Guillaumes, nach der, als Ross im Juni 1874 das Manuskript des zweiten Teils von ›Staatlichkeit und Anarchie‹ in Locarno abholen wollte, Bakunin nichts geschrieben hatte, da er seit acht Monaten völlig mit der Einrichtung der ›Baronata‹ beschäftigt gewesen war (Michel Bakounine: Œuvres. Band 6. Herausgegeben von James Guillaume. P.-V. Stock, Éditeur, Paris 1913, S. 427).

Ross scheint Bakunin überhaupt ermuntert zu haben, an seinen diversen Manuskripten weiterzuarbeiten und mit der Abfassung weiterer Schriften zu beginnen, um deren Publikation sich Ross dann kümmern wollte. So erwähnte Bakunin in einem Brief an Emilio Bellerio, bei dem ein Großteil von Bakunins Manuskripten und Papieren verblieben war, ein »großes Paket«, das »meine unveröffentlichten philosophischen und politischen Schriften« enthalte und das er Ross anvertrauen wolle.200 Tatsächlich hat Ross schließlich verschiedene Manuskripte von Bakunin erhalten, die er zusammen mit den Druckereimaterialien im Jahre 1874 dem Mitglied der Juraföderation Alfred Andrié zur Aufbewahrung übergab. – Nach dem Tod ihres Mannes hat Frau Andrié diese Manuskripte jedoch fast vollständig vernichtet, indem sie sie über Jahre hinweg zum Feuermachen benutzte.201 Am 19. und 20. September 1874 vermerkte Bakunin in seinem Tagebuch die Abfassung einer weiteren Schrift über die Aufgaben der revolutionären Bewegung in Rußland, die möglicherweise ebenfalls für Ross bestimmt war, mit dem Bakunin für den 25. September ein Treffen in Neuchâtel vereinbart hatte.202 Bei dieser »brochure russe«, deren Niederschrift Bakunin vermerkte, handelte es sich möglicherweise um das Manuskript ›Wohin gehen und was tun?‹203 der einzigen erhaltenen russischen Schrift Bakunins nach der Publikation von ›Staatlichkeit

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Bakunin an Emilio Bellerio, 27. August 1874, in Guillaume: L'Internationale, III, S. 209. Bakounine: Œuvres. Band 6, a.a.O. (Anm. 199), S. 425-426. vgl. Guillaume: L'Internationale, III, S. 237. Nach Nettlau entstand das Manuskript von ›Wohin gehen und was tun?‹ im Sommer 1873 (vgl. Unser Bakunin. Illustrierte Erinnerungsblätter zum so. Todestag von Michael Bakunin. Verlag Der Syndikalist, Fritz Kater, Berlin 1926, S. 50), der russische Bakuninforscher Boris Nikolaevskijs bezeichnete dagegen als Entstehungszeit den Winter 1873/74 (B. N-skij: ›Novoe o prošlom v zarudežnoj russkoj pečati‹. In: Katorga i Ssylka. Istoriko-revoljucionnyj vestik, Moskau, Nr. 26, S. 254). Nach Bakunins Tagebucheintragungen käme der 19. und 20. Septem-

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und Anarchie‹, als dessen Fortsetzung die Schrift eventuell gedacht war. In ›Wohin gehen und was tun?‹ knüpfte Bakunin an ein Thema an, das er bereits im Anhang A von ›Staatlichkeit und Anarchie‹ diskutiert hatte: die Frage nach der Wechselbeziehung von Wissen und Revolution. Lavrov hatte in der ersten Nummer des Vpered unter genau dieser Überschrift einen weit ausholenden Artikel veröffentlicht, in dem er die russischen Revolutionäre fragte: »Wenn Ihr dem Volk keine Kenntnisse und keine Denkergebnisse bringt, die Euch zugänglich gewesen sind, aber dem Volke nicht, welchen Nutzen habt Ihr dann für das Volk? [...] erwerbt die Kraft des Wissens und bringt sie ihm! Wenn Ihr das nicht wollt, wenn Ihr unvorbereitet ins Volk geht, ohne Wissen und ohne kritisch ausgearbeitetes Denken, dann seid Ihr nicht mehr als ein Parasit der Volksrevolution«.204

Offenbar als Reaktion auf diese Äußerung Lavrovs schrieb Bakunin in ›Wohin gehen und was tun?‹ »Wie soll man ins Volk gehen? Wie soll man mit ihm zusammenkommen, wie sein Vertrauen gewinnen, was in diesem Milieu tun? Manche – wir möchten übrigens, zu unserem nicht geringen Vergnügen, feststellen, daß sich ihre Zahl bedeutend verringert – manche glauben noch, sie seien berufen, das Volk zu lehren und beabsichtigen allen Ernstes, ihre Weisheit mit ihm zu teilen und es in allen Wissenschaften zu unterrichten. Nun, laßt diesen Herren die Bücher, sie sind unverbesserlich [...] und sehen und verstehen um sich herum nichts; sie geben Zeitschriften mit dem Titel Vpered [Vorwärts] heraus und ziehen doch mit allen Kräften rückwärts [...]. Mit welchen Mitteln, wo und wann wollt Ihr unser armes, gequältes, hungriges und geschlagenes Volk in Geometrie, Trigonometrie, Algebra, Differential[rechnung], Mechanik, Astrono-

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ber 1874 in Frage (vgl. Guillaume: L'Internationale, III, S. 237), wenn es sich bei diesen Eintragungen nicht um ein anderes, heute verschollenes Manuskript handelt. [Lavrov:] ›Znanie i Revoljucija‹. In: Vpered'! Neperiodičeskoe obozrenie, Zürich, Band 1, Abt. 1, 1873, S. 245.

mie, Physik, Chemie und Physiologie unterrichten? Es genügt wohl, diese Frage zu stellen, um die Unsinnigkeit eines solchen Unternehmens zum Ausdruck zu bringen. Ist doch die Mehrheit, ja man kann sagen, selbst die besten von Euch, zumindest in revolutionärer Hinsicht, nur sehr oberflächlich mit all diesen Wissenschaften vertraut, wie wollen sie diese unterrichten? Wenn sie diese Wissenschaften aber erst bis zur Vollendung erlernen müssen, bevor sie ins Volk gehen, dann kann man mit Bestimmtheit sagen: Sie werden nicht ins Volk gehen.«205

Für Lavrov stand die Vorbereitung der Revolutionäre durch eine »äußerst ernsthafte geistige Entwicklung«206 jedoch völlig außer Frage: »Um dem Volke von Nutzen zu sein, müßt Ihr Euer Denken mit der Kraft der Kritik bewaffnen, müßt Ihr Euren Verstand mit vielseitigen und grundlegenden Kenntnissen bereichern. Ihr müßt lernen [...]. Das Volk hat diese Möglichkeiten nicht, das Volk muß deshalb die Kraft des Wissens durch Euch erhalten, Ihr habt die Pflicht, sie für das Volk zu erwerben.«207

Auch hierauf ging Bakunin in ›Wohin gehen und was tun?‹ ein: »Die Wissenschaft fordert den ganzen Menschen und ebenso fordert die revolutionäre Sache den ganzen Menschen; beide Wel205 206 207

Archives, III, S. 192, 194. [Lavrov:] ›Znanie i Revoljucija‹, a.a.O. (Anm. 204), S. 220. ebd., S. 244-245. – Lavrovs Appell ist bei der militanten russischen Jugend äußerst schlecht angekommen. Der Revolutionär Osip Aptekman schrieb in seinen Erinnerungen, daß die Jugend bei der Diskussion der Frage, ›Wissen und Revolution‹ »voll und ganz auf Bakunins Seite stand. Ich erinnere mich gut, wie sehr ein Artikel aus dem Vpered' – ich glaube aus der Nr. 2 – die Jugend kränkte, welcher dieses Thema in einem auch wirklich zu schulmeisterhaften Ton behandelte. ›Gedenkt die Redaktion des Vpered' vielleicht Vorbereitungskurse für eine revolutionäre Reifeprüfung mit Diplom einzurichten?‹ fragten wir einander verbittert.« (O. V. Aptekman': Iz' istorii revoljucionnago narodničestva ›Zemlja i Volja‹ 70-ch' godov'. ❲Po ličnym' vospominanijam'❳. Idz. A. Surat, o.O. [Rostov am Don] o.J. [um 1910], S. 52-53) (vgl. auch die Stellungnahmen von Aksel'rod und Šiško ❲in vorliegendem Band, S. 6365❳ sowie von Kropotkin in Revoljucionnoe narodničestvo, I, S. 93).

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ten, die eine theoretisch, die andere praktisch, sind gleichermaßen unermeßlich und sie können ein und denselben Menschen nicht unter sich aufteilen. Außerdem sind ihre Methoden völlig verschieden. In der Wissenschaft regiert die Kritik und der Zweifel und dort müssen sie dominieren. In der revolutionären Sache aber ist es unabdingbar, einerseits Menschen und Situationen leidenschaftslos zu analysieren und gleichzeitig nichts ohne leidenschaftlichen Willen und Glauben zu tun. Dieser Unterschied der Methoden und der sich daraus ergebenden Gewohnheiten erklärt uns, warum immer dann, wenn Gelehrte an revolutionären Bewegungen teilnahmen, diese jämmerliche Revolutionäre waren und zum Schluß zu Erzreaktionären wurden. Wir sprechen hier von echten Gelehrten, nicht aber von Scharlatanen der Wissenschaft, welche – ähnlich dem ehrenwerten Herausgeber des Vpered, der so wortreich und arbeitsam Fakten und einander fremde, größtenteils sogar sich widersprechende Gedanken, ohne einen eigenen beizusteuern, zu sammeln und zu vergleichen liebt – gleichsam sowohl für die Wissenschaft als auch für die revolutionäre Sache nutzlos sind. ›Was denn‹, wird man fragen, ›Ihr ratet unseren jungen Revolutionären, gar nichts zu lernen und sogar das, was sie wissen, zu vergessen, um sich als vollkommene Ignoranten besser dem Volk nähern zu können?‹ Nein, wir geben ihnen keineswegs diesen Rat. Wir sagen im Gegenteil: Lest und lernt in jeder freien Minute, die Euch die revolutionäre Tätigkeit läßt, der Ihr ja den größten Teil Eurer Zeit widmet; erweitert möglichst Eure Kenntnisse und entwickelt gleichzeitig Euer Denkvermögen weiter, bemüht Euch, in Euch selbst die wertvolle Fähigkeit der Trennung von Problemen und Fakten auszubilden, eine Fähigkeit, an der es nämlich dem Volke mangelt und die Ihr ihm vermitteln sollt, im Austausch für das, was Ihr vom Volk erhaltet. Seid gebildete Menschen, die ein reiches und gutes Wissen haben, aber seid keine Gelehrten.«208

Ob Bakunin das Manuskript von ›Wohin gehen und was tun?‹ Ross zur Publikation übergeben hat, ist unbekannt; durch Vermittlung von Max Nettlau wurde es erstmals im Jahre 1923 in

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Archives, III, S. 194-195. – Unter den gegenwärtigen Verhältnissen, erklärte Bakunin ferner, »kann das Volk nur schlecht, sehr schlecht leben, das weiß das Volk auch ohne jede Wissenschaft« (ebd., S. 191).

einer Zeitschrift russischer Exil-Anarchisten in Berlin veröffentlicht.209 Über die große Wirkung von ›Staatlichkeit und Anarchie‹ in Rußland konnte Ross Bakunin erstmals in einem Brief vom 19. Oktober 1874 berichten.210 Zur Situation der revolutionären Bewegung schrieb er, daß »die Theorie in's Archiv gelegt wird und man sich von allen Seiten zu unmittelbarer praktischer Tätigkeit wendet«.211 Kurz darauf begab sich Ross selbst zu einer konspirativen Reise nach Rußland, von der er nach etwa einem Monat wieder zurückkehrte. Am 18. Dezember 1874 schrieb er dann einen langen zwölfseitigen Brief an Bakunin, in dem er ankündigte, er wolle den Anhang A von ›Staatlichkeit und Anarchie‹ als Separatdruck herausbringen. Er ermunterte Bakunin auch, eine Fortsetzung von ›Staatlichkeit und Anarchie‹ oder des Anhangs A zu schreiben »oder vielleicht eine separate Broschüre über die Art der Organisation, so wie Du zu schreiben angefangen und wie Du zu mir gesprochen, als wir mit Dir in [im] Lion waren.«212

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Rabočij put'. Organ russkich anarcho-sindikalistov, Berlin, Nr. 5, Juli 1923, S. 3-7, und Nr. 6, August 1923, S. 5-8. – In einer Vorbemerkung zu dieser Veröffentlichung bemerkte die Redaktion des Rabočij put': »Wir sind unserem Genossen Max Nettlau zu Dank verpflichtet – dem bekannten Biographen und Bibliographen Bakunins – der uns das russische Originalmanuskript übersandt hat.« Ross teilte Bakunin in diesem Brief zunächst die neue Adresse von Nikolaj Ogarev mit, nach der ihn Bakunin gefragt hatte. Bakunin schrieb darauf Ogarev am 11. November 1874: »Apropos, hast Du meine letzte anonyme Broschüre ›Anarchie und Staatstum‹ gelesen? Wenn nicht, so schreibe mir und ich werde sie dir schicken.« (Briefwechsel, S. 270) Ross an Bakunin, 19. Oktober 1874, Auszüge in Nachträge, Anm. 4735. – Diese Nachrichten hatte Ross offenbar von Vladimir DebogorijMokrievič erhalten, der im Herbst 1874 kurz in der Schweiz war und von dem Ross in demselben Brief Grüße an Bakunin ausrichtete. Ross an Bakunin, 18. Dezember 1874, Auszüge und Resümee in Nachträge, Anm. 4656.

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Mit »Lion« meinte Ross offensichtlich das Hôtel du Lion in Bern, wo Bakunin nach dem Treffen in Neuchâtel (siehe oben) bis zum 5. Oktober 1874 gewohnt hatte.213 Hier waren offenbar weitere Publikationspläne (eventuell im Zusammenhang mit dem Manuskript ›Wohin gehen und was tun?‹) besprochen worden. Ein paar Monate später, Anfang 1875, erinnerte sich Ross in seinen Memoiren, »zog es mich stark nach Lugano, um Bakunin zu treffen, von dem ich in letzter Zeit nichts gehört hatte, außer daß er mit seiner Familie in Lugano wohne. Außerdem wußte ich, daß er begonnen hatte, den zweiten Teil von ›Staatlichkeit und Anarchie‹ zu schreiben. [...] Auch dies bewog mich, zu ihm zu fahren, da ich wissen wollte, wie weit sein Manuskript gediehen ist, und es unter Umständen zum Druck mitzunehmen beabsichtigte. [...] Damals wohnte ich ungefähr eine Woche in Lugano und traf mich täglich mit ihm, wobei wir immer ein paar Stunden in ein und demselben Café verbrachten. [...] Der zweite Teil von ›Staatlichkeit und Anarchie‹ war [von Bakunin] aufgegeben worden, die geschriebenen Blätter gingen entweder verloren oder er vernichtete sie; auf meine Frage nach ihnen antwortete er: Er sei nicht in der Stimmung zu schreiben und das Geschriebene tauge nicht für den Druck. In einem der folgenden Zusammentreffen versuchte ich noch einmal das Manuskript anzusprechen, aber erhielt eine entschiedene Antwort, daß er nicht in der Lage sei zu schreiben, und daß er keinerlei Wunsch dazu hätte.«214

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Guillaume: L'Internationale, III, S. 238. – vgl. Nachträge, Anm. 4656. Ross: Vospominanija, S. 94-95. – Dies widerspricht wiederum einer Mitteilung von Ross an Nettlau aus dem Jahre 1904, daß ihm Bakunin 1875 in Lugano »eine Anzahl von Blättern als Fortsetzung des Textes [von ›Staatlichkeit und Anarchie‹] gezeigt hat« (Obras, V, Vorwort, S. 48). – Im März 1876 fuhr Ross erneut nach Rußland, wurde aber auf dem Rückweg an der Grenze verhaftet und saß sechs Jahre im Kerker in Einzelhaft, davon ein Jahr in Ketten. 1881-1897 lebte er in der Verbannung in Sibirien, später in Riga und Nižnij-Novgorod, wo er sich an der Revolution von 1905 beteiligte. Seine schon länger bestehenden Planungen zur Herausgabe einer Bakunin-Werkausgabe legte er im Jahre 1912 Kropotkin in London vor, woraufhin drei Jahre

So verlieren sich die letzten Spuren einer Fortsetzung von ›Staatlichkeit und Anarchie‹. Filippo Mazzotti215 schließlich, der in den letzten 18 Monaten von Bakunins Leben in engem Kontakt zu ihm stand, erklärte später, »dass Bakunin bis in die letzte Zeit viel schrieb, sich aber nicht immer um die Manuskripte kümmerte, von denen manche von den Kindern beim Spielen zerrissen worden seien.«216 Zwei Kritiken und eine Editionsgeschichte Gleichzeitig mit den drei Bänden der Reihe ›Veröffentlichungen der Sozial-Revolutionären Partei‹ drangen die ersten Ausgaben von Lavrovs Vpered in Rußland ein. Lavrov versuchte darin, eine neutrale Position zu Bakunin zu beziehen, und trat gegenüber der anarchistischen Richtung äußerst zurückhaltend auf, da nicht nur der überwiegende Teil der revolutionären Bewegung in Rußland, sondern auch ein Großteil der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Vpered selbst eher zu der von Bakunin beeinflußten radikalen Richtung zählte.217 Auf die gegen ihn vorgebrachte Kritik ist Lavrov ebensowenig eingegangen wie auf andere Aussagen von ›Staatlichkeit und Anarchie‹.

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später in Kooperation mit Aleksandr Šapiro und Varlaam Čerkezov der erste (und einzige) Band der Bakunin-Ausgabe ›Izbrannyja sočinenija v četypech tomach‹ erschien (Tipografija Listkov' ›Chleb' i volja‹, London 1915. LVI, 338 S.). In den Jahren 1920-1922 Versuchte Ross erfolglos eine von sowjetischer Seite zu finanzierende Bakunin-Gesamtausgabe zu organisieren. Er starb am 7. Januar 1934 in Moskau. Filippo (eigentlich Serafino) Mazzotti (1843-1925), ein italienischer Arbeiter aus Bologna, der seit seiner Teilnahme am Aufstand von Bologna im August 1874 als Flüchtling im Tessin lebte, gehörte zu einem Kreis italienischer Arbeiter, die Bakunin in Lugano nahestanden (vgl. Franco Andreucci und Tommaso Detti: Il movimento operaio italiano. Dizionario biografico 1853-1943. Band 3. Editori Riuniti, Rom 1977, S. 420-421). Biographie, S. +383. vgl. Sapir, I, S. 231 und 265.

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Einer der wenigen nicht-russischen Leser des Buches in den 1870er Jahren war Karl Marx, der es konzentriert durchgearbeitet und einen Konspekt mit Auszügen und Kommentaren davon anfertigt hat. Dieser Konspekt nimmt 24 Seiten in einem 16 × 19 cm großen Manuskriptheft von Marx ein, das den Titel ›Russica II‹ trägt und Auszüge sowie Zusammenfassungen einer Reihe von russischen Autoren wie Lavrov und Nikolaj Ziber enthält; es wurde von Marx und später erneut von Engels mit »1875« datiert, möglicherweise hat Marx jedoch bereits ab April 1874 an dem Konspekt gearbeitet.218 Marx' Inhaltsangabe von ›Staatlichkeit und Anarchie‹ besteht teils aus russischsprachigen Auszügen teils aus Übersetzungen, Zusammenfassungen und Kommentaren in deutscher Sprache. Der Konspekt wurde erstmals 1926 von D. Rjazanov in russischer Übersetzung in der Zeitschrift Letopisi Marksizma publiziert, worin sich auch die Reproduktion eines Manuskriptblatts befindet;219 aus diesem ist ersichtlich, daß Marx seine russischen Exzerpte in Druckbuchstaben fertigte, nicht in Schreibschrift, zweifellos da ihm das Russische, das er seit Ende 1869 lernte,220 noch keineswegs flüssig von der Hand ging. Zunächst ist dieser Konspekt schon deswegen ein Kuriosum, da Marx in den Jahren zuvor alles daran gesetzt hatte, die persönliche und politische Integrität Bakunins nach Möglichkeit zu untergraben. Bakunins Ideen bezeichnete er dabei nicht als andere politische Auffassung, als anderes sozialistisches Konzept, sondern kurzerhand als Unsinn, »gedankenlose Schwät-

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vgl. L. A. Veličanskaja: ›K istorii sozdanija kritiko-polemičeskogo konspekta K. Marksa knigi M. Bakunina 'Gosudarstvennost' i anarchija'‹. In: Novye materialy o žizni i dejatel'nosti K. Marksa i F. Engel'sa i ob izdanii ich proizvedenij, Moskau, Band 2, 1986, S. 106108 und 126-127. D. Rjazanov [d.i. David Borisovič Goldendach] (Hrsg.): ›Karl Marks, 'Bakunin: Gosudarstvennost' i Anarchija'‹. In: Letopisi Marksizma, Moskau, Leningrad, Band 2, 1926, S. 62. vgl. Marx an Ludwig Kugelmann, 29. November 1869, in MEW, Band 32, S. 637. – Marx an Engels, 22. Januar 1870, ebd., S. 428.

zereien, ein Rosenkranz von hohlen Einfällen«221 usw. So wirft die Tatsache, daß er dann 1874/75 die Anstrengung für lohnend gehalten haben muß, ein russisches Buch dieses gedankenlosen Schwätzers mit 308 und 24 Seiten mühevoll durchzuarbeiten, zu exzerpieren und zu kommentieren, ein bezeichnendes Licht auf die Kampagne, die Marx noch kurz zuvor gegen Bakunin geführt hat.222 In dem Konspekt klagt Marx Bakunin zunächst gelegentlich an, die ökonomischen Bedingungen außer acht zu lassen (»Der Wille, nicht die ökonomischen Bedingungen, ist die Grundlage seiner sozialen Revolution«),223 während Passagen, in denen Bakunin auf wirtschaftliche Zusammenhänge eingeht, weder zitiert noch kommentiert werden.224 Andere in diesem Zusammenhang stehende Ausführungen Bakunins, wie seine prophetischen Äußerungen zur kommenden Bedeutung der Luftfahrt, werden ironisch abgefertigt. Bakunins diesbezügliche Äußerung lautete: »Es kann sein, daß sich die Luftschiffahrt eines Tages als noch bequemer in jeder Hinsicht erweisen und besonders wichtig sein wird, so daß gerade sie endgültig gleiche Entwicklungs- und Lebensbedingungen in allen Ländern schafft.«225

221 222 223 224

225

MEW, Band 16, S. 409. vgl. Obras, V, Nachtrag zum Vorwort, S. 331. MEW, Band 18, S. 633-634. zum Beispiel Bakunins Äußerungen über den Zollverein, siehe vorliegenden Band, S. 285. – Ähnlich tendenziös ist Marx bereits in seinen Konspekten der 1840er Jahre vorgegangen, über die Peter Ludz bemerkt hat, daß Marx »durch seine Exzerpier-methode soviel in die ›Exzerpte‹ erst hineingelegt hat, wie er später, indem er auf diesen Exzerpten polemisch sein System aufbaute, wieder herauslas.« (Peter Ludz: ›Zur Situation der Marxforschung in Westeuropa‹. In: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, Köln-Opladen, 10. Jg., 1958, S. 457). Vgl. ferner Maximilien Rubel: ›Les cahiers de lecture de Karl Marx‹. In: International Review of Social History, Assen, Band 2, 1957, S. 398. siehe vorliegenden Band, S. 220.

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Diesen Satz hat Marx so übersetzt und kommentiert: »›[...] Es mag sein, die Luftschiffahrt wird sich zeigen noch tauglicher in allen Beziehungen und wird besonders wichtig sein dadurch, daß sie schließlich nivelliert (уравняет) die Bedingungen der Entwicklung und des Lebens für alle Länder.‹ Dies Hauptsache bei Bak.[unin] – Nivellieren, z.B. ganz Europa auf die slowakischen Mausefallhändler.«226

Eine tendenziöse Richtung ergibt sich gelegentlich auch durch Auslassungen, so etwa bei folgendem Satz Bakunins (in der Marx vorliegenden Originalausgabe von ›Staatlichkeit und Anarchie‹ auf S. 110), der sich auf die russische Geschichte des 17. Jahrhunderts bezieht: »Die russische Knute siegte mit Hilfe des Volkes, gleichzeitig natürlich zum großen Nachteil des Volkes, das zum Zeichen echter staatlicher Dankbarkeit den Zarenknechten, den adligen Gutsbesitzern, in erbliche Sklaverei übergeben wurde.«227

Dies faßte Marx mit den Worten zusammen: »›Die russische Knute siegte dank dem Volk.‹ Dieses Geständnis S. 110.«228 Einzelne Äußerungen Bakunins hat Marx jedoch auch zum Anlaß für eine inhaltliche Selbstverständigung genommen, die tatsächlich den auseinanderstrebenden Ideengehalt von Marxismus und Anarchismus offenlegt, so zum Beispiel in der Frage der Bedeutung der ökonomischen Bedingungen für den revolutionären Prozeß: »Eine radikale soziale Revolution ist an gewisse historische Bedingungen der ökonomischen Entwicklung geknüpft; letztre sind ihre Voraussetzung. Sie ist also nur möglich, wo mit der kapitalistischen Produktion das industrielle Proletariat wenigstens eine bedeutende Stellung in der Volksmasse einnimmt. [...] Da nun alle bisherigen ökonomischen Formen, entwickelt oder unentwickelt, Knechtschaft des Arbeiters (sei es in der Form des Lohnarbeiters, Bauern etc.) einschließen, so glaubt er [Bakunin], daß in allen gleichmäßig radikale Revolution möglich.«229 226 227 228 229

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MEW, Band 18, S. 619. siehe vorliegenden Band, S. 194. MEW, Band 18, S. 614. ebd., S. 633-634.

Textpassagen, in denen er selbst namentlich genannt wird, übernahm Marx während fünf Sechsteln von ›Staatlichkeit und Anarchie‹ ohne jeden Kommentar in seinen Konspekt – erst ab S. 278 der Originalausgabe gibt Marx hierzu einen ersten eigenen Kommentar. Bakunin hatte an dieser Stelle die Staatsfrage in den Mittelpunkt der Auseinandersetzung mit Marx gestellt, indem er bezüglich einer Formulierung aus dem ›Kommunistischen Manifest‹ (»der erste Schritt in der Arbeiterrevolution [ist] die Erhebung des Proletariats zur herrschenden Klasse«)230 die Frage stellte: »Es fragt sich, wenn das Proletariat die herrschende Klasse sein wird, über wen es dann herrschen soll?«231 Vielleicht provoziert durch diese direkte Fragestellung, nahm Marx erstmals direkt Stellung: »Das meint, solange die andren Klassen, speziell die kapitalistische noch existiert, solange das Proletariat mit ihr kämpft (denn mit seiner Regierungsmacht sind seine Feinde und ist die alte Organisation der Gesellschaft noch nicht verschwunden), muß es gewaltsame Mittel anwenden, daher Regierungsmittel; ist es selbst noch Klasse, und sind die ökonomischen Bedingungen, worauf der Klassenkampf beruht und die Existenz der Klassen, noch nicht verschwunden und müssen gewaltsam aus dem Weg geräumt oder umgewandelt werden, ihr Umwandlungsprozeß gewaltsam beschleunigt werden.«232

Etwas weiter im Text kommt Bakunin noch einmal auf diese Frage zurück: »Solange es einen Staat gibt, muß es auch Herrschaft geben und folglich auch Sklaverei; ein Staat ohne offene oder verborgene Sklaverei ist undenkbar – das ist der Grund, weshalb wir Feinde des Staates sind. Was soll das heißen, das zur herrschenden Klasse erhobene Proletariat?«233

Hierzu schrieb Marx: »D.h., daß das Proletariat, statt im einzelnen gegen die ökonomisch privilegierten Klassen zu kämpfen, Stärke und Organisation

230 231 232 233

ebd., Band 4, S. 481. siehe vorliegenden Band, S. 337. MEW, Band 18, S. 630. siehe vorliegenden Band, S. 337.

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genug gewonnen hat, um allgemeine Zwangsmittel im Kampf gegen sie anzuwenden; es kann aber nur ökonomische Mittel anwenden, die seinen eignen Charakter als salariat [Lohnarbeiter], daher als Klasse aufheben; mit seinem völligen Sieg ist daher auch seine Herrschaft zu Ende, weil sein Klassencharakter [verschwunden].«234

Und Bakunins Feststellung: »Dann wird es keine Regierungen, keinen Staat geben, denn wenn es einen Staat gibt, dann gibt es auch Regierte, gibt es Sklaven«235 versuchte Marx so zu kontern: »D.h. bloß: wenn die Klassenherrschaft verschwunden, und es keinen Staat im jetzigen politischen Sinne geben [wird].«236 Bakunin hat diese Antwort etwas weiter im Text selbst vorweggenommen, indem er schrieb: »Sie [die Marxisten] sagen, daß [...] sich der Staat, der jeden politischen, d.h. staatlichen Charakter verloren haben wird, von allein in eine völlig freie Organisation ökonomischer Interessen und Gemeinden verwandeln wird. Hier ist ein offener Widerspruch. Wenn ihr Staat ein wahrer Volksstaat sein soll, weshalb sollte man ihn dann abschaffen, und wenn seine Abschaffung notwendig ist für die wahre Befreiung des Volkes, wie können sie dann wagen, ihn einen Volksstaat zu nennen?«237

Marx: »Abgesehn von dem Herumreiten auf dem Liebknechtschen Volksstaat,238 der Blödsinn ist, gegen das kommunistische Manifest etc. gewandt, heißt es nur: da das Proletariat während der Periode des Kampfs zum Umsturz der alten Gesellschaft noch auf der Basis der alten Gesellschaft agiert und daher auch noch in politischen Formen sich bewegt, die ihr mehr oder minder angehörten, hat es seine schließliche Konstitution noch nicht erreicht während dieser Kampfperiode und wendet Mittel zur Befreiung an, die nach der Befreiung wegfallen; daher schließt Herr

234 235 236 237 238

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MEW, Band 18, S. 634. siehe vorliegenden Band, S. 337. MEW, Band 18, S. 634. siehe vorliegenden Band, S. 339. Der Volksstaat, sozialdemokratische Zeitung, erschien von 1869-1876 in Leipzig unter der Redaktion Wilhelm Liebknechts.

B.[akunin], daß es lieber gar nichts tun soll ... den Tag der allgemeinen Liquidation – des jüngsten Gerichts – abwarten soll.«239

Mit dieser hilflosen Falschaussage – das »Abwarten« propagiert zu haben, ist vielleicht der bizarrste Vorwurf, der Bakunin je gemacht wurde – enden die ausführlicheren Kommentare von Marx. Selbst folgende klassische Aussage Bakunins zur ›Diktatur des Proletariats‹ und deren marxistischen Verfechtern hat Marx unkommentiert gelassen: »Sie versichern, daß allein die Diktatur, natürlich die ihre, die Freiheit des Volks schaffen kann; wir dagegen behaupten, daß eine Diktatur kein anderes Ziel haben kann, als nur das eine, sich zu verewigen, und daß sie in dem Volk, das sie erträgt, nur Sklaverei zeugen und nähren kann [...].«240

Bakunins Buch enthält wahrscheinlich die beste Kritik des Marxismus, die es bis dahin gegeben hat. Seinen Warnungen vor einer neuen herrschenden Klasse von »sozialistischen« Funktionären sind gelegentlich sogar prophetische Züge eigen, die an das sowjetische Herrschaftssystem gemahnen.241 Die Herausgeber der ›Marx-Engels-Werke‹ waren dennoch der Meinung, Marx widerlege in seinem Konspekt »glänzend« die anarchistische Kritik an der Diktatur des Proletariats242 – eine recht eigenwillige Einschätzung angesichts des Textes des Konspekts. In Wirklichkeit zeigt dieses Dokument, wie Rudi Dutschke bemerkt hat, »recht deutlich den tiefen und dauernden Einfluß Bakunins auf Marx«,243 wofür auch folgende Geschehnisse jener Zeit sprechen: Als Marx und Engels um den 10. März 1875 239 240 241 242

243

MEW, Band 18, S. 636. siehe vorliegenden Band, S. 339. siehe zum Beispiel in vorliegendem Band, S. 341-342. MEW, Band 18, Vorwort, S. XII. – In diesem Sinne hatte schon Rjazanov argumentiert: Bakunin habe »als Anarchist lediglich schlecht verstanden, worin die Bedingungen dieser Diktatur bestehen.« (Rjazanov, a.a.O. ❲Anm. 219❳, S. 61) Rudi Dutschke: Zur Literatur des revolutionären Sozialismus von K. Marx bis in die Gegenwart. sds-korrespondenz, Sondernummer, Frankfurt/M., (Oktober) 1966, S. 15.

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von dem kontroversen Programmentwurf für den Gothaer Vereinigungsparteitag von »Lassalleanern« und »Eisenachern« erfuhren,244 der für den Mai 1875 angesetzt war, schrieb Engels an August Bebel, daß »Marx und ich uns nie zu der auf dieser Grundlage errichteten neuen Partei bekennen« könnten. »Bedenken Sie« erläuterte Engels, »daß man uns im Auslande für alle und jede Äußerungen und Handlungen der deutschen Sozialdemokratischen Arbeiterpartei verantwortlich macht. So Bakunin in seiner Schrift ›Politik und Anarchie‹, wo wir einstehen müssen für jedes unüberlegte Wort, das Liebknecht seit Stiftung des ›Demokratischen Wochenblattes‹ gesagt und geschrieben.«245

2½ Wochen vor dem Vereinigungsparteitag sandte Marx schließlich seine »Kritik des Gothaer Programms an Wilhelm Bracke, damit«, wie Marx in einem Begleitbrief schrieb, »später meinerseits zu thuende Schritte von den Parteifreunden, für welche diese Mitteilung bestimmt ist, nicht missdeutet« würden. »Nach abgehaltnem Coalitions-Congress [in Gotha] werden Engels und ich nämlich eine kurze Erklärung veröffentlichen, des Inhalts, dass wir besagtem Principienprogramm durchaus fern stehn und nichts damit zu thun haben. Es ist diess unerlässlich, da man im Ausland die von Parteifeinden sorgsamst genährte Ansicht – die durchaus irrige Ansicht hegt, dass wir die Bewegung der s.[o] g.[enannten] Eisenacher Partei insgeheim von hier aus lenken. Noch in einer jüngst erschienenen russischen Schrift macht Bakunin mich z.B. nicht nur für alle Programme etc. jener Partei verantwortlich, sondern sogar für jeden Schritt den Liebknecht vom Tag seiner Kooperation mit der Volkspartei an gethan hat.«246

Beide Äußerungen können sich nur auf ›Staatlichkeit und Anarchie‹ beziehen.

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vgl. MEGA, I 25, S. 515-516. – Zur Organisation der »Lassalleaner« und »Eisenacher« vgl. in vorliegendem Band, Anm. +257 und +272. Engels an August Bebel, 18.-28. März 1875, in MEW, Band 34, S. 129. – Über Liebknecht vgl. in vorliegendem Band, Anm. +32. Marx an Wilhelm Bracke, 5. Mai 1875, in MEGA, I 25, S. 5.

Eine detaillierte Kritik an ›Staatlichkeit und Anarchie‹ durch einen russischen Zeitgenossen Bakunins stammt von Petr Tkačev (18441885), einem bekannten russischen Publizisten und Teilnehmer an der Studentenbewegung der 186oer Jahre. Er flüchtete 1873 aus der Verbannung in die Schweiz, und arbeitete dort kurz an Lavrovs Vpered mit. Zuvor hatte er noch zusammen mit Kovalik Bakunin in Locarno besucht. Kovalik erinnerte sich in seinen Memoiren: »Ich mußte über Zürich zu Bakunins Villa [Baronata] fahren, wo ich mit Sažin [Ross] und Tkačev Bekanntschaft schloß. Letzterer hatte auch vor, zu Bakunin zu fahren und so reisten wir gemeinsam. [...] Bakunin nahm Tkačev gut auf und, da er von dessen Seite keine Einwände gegen die von ihm geäußerten Gedanken vernahm, trennte er sich von ihm in der Annahme, er hätte es mit einem Mitglied der künftigen anarchistischen Organisation zu tun, er konnte nicht ahnen, daß Tkačev in seinem Nabat die anarchistische Lehre bald darauf ablehnen würde.«247

Hiermit ist Tkačevs Artikel ›Anarchie des Gedankens‹ gemeint, die er in drei Teilen 1875 und 1876 in den ersten Nummern der von ihm redigierten Zeitschrift Nabat veröffentlichte. In ihr beginnt er nach einem vehementen Plädoyer für die Freiheit der Kritik und Mut zum Dissens mit der Besprechung im Ausland erschienener russischer revolutionärer Schriften, als erstes mit ›Staatlichkeit und Anarchie‹ »Dieses Buch«, schrieb Tkačev, »wurde bekanntlich vor eineinhalb bis zwei Jahren in Rußland überaus aktiv verbreitet und hatte unbestreitbar einen gewaltigen Einfluß auf die Gedankenrichtung unserer revolutionären Jugend. Schon dies allein erfordert, daß wir ihm ganz besondere Aufmerksamkeit widmen. Außerdem muß man zugeben, daß es mit großem Talent geschrieben wurde (zumindest in einigen seiner Teile) und sich in seiner äußeren

247

Kovalik, S. 17-18. – Von einem Besuch Tkačevs bei Bakunin wußte auch Ralli vom Hörensagen. Nettlau erzählte er darüber, daß Tkačev Bakunin »sein Programm einer politischen Revolution, die sozialistische Propaganda als Kraftverbrauch ganz bei Seite lassend, vorlegte. Bakunin wollte natürlich nichts davon wissen.« (Biographie, S. +364)

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Form, der es nicht an Glanz und Scharfsinn mangelt, von allen übrigen Publikationen der russischen Druckerzeugnisse im Ausland markant abhebt.«248

Dasselbe, kritisiert Tkačev, gelte jedoch keinesfalls für seinen Inhalt, der unzusammenhängend und schlampig aufgebaut, vor allem aber unlogisch sei. Tatsächlich bemüht sich Tkačev über weite Strecken seiner »zornigen Analyse«249 um die Aufdeckung aller möglichen Widersprüche in ›Staatlichkeit und Anarchie‹, wobei seine Argumentation nicht immer frei von Spitzfindigkeiten oder Trugschlüssen ist, so wenn er erklärt, der in ›Staatlichkeit und Anarchie‹ gegebene ausführliche kritische Überblick über die politischen Verhältnisse in Europa widerspreche der Ablehnung jeder Staatspolitik, die doch von den Anarchisten immer propagiert werde. Am interessantesten dürfte die ideologische Auseinandersetzung Tkačevs mit Bakunin sein, die in dem Artikel deutlich zum Ausdruck kommt. Tkačev gehörte innerhalb der russischen revolutionären Bewegung der 1870er Jahre zu den wenigen Vertretern einer autoritären, »jakobinischen« Richtung, die davon ausging, daß die bäuerlichen Massen zu einer radikalen Umgestaltung der Verhältnisse unfähig seien. Der Fortschritt des revolutionären Prozesses müsse daher in die Hände einer disziplinierten und zentralistisch geleiteten Organisation unter einheitlichem Kommando gelegt werden, die zur Durchsetzung ihrer Ziele die Staatsmacht erobern müsse.250 Bakunin hat regelmäßig gegen solche »elitären« Vorstellungen polemisiert, die auf die allbekannte Beherrschung der Mehrheit durch eine Minderheit hinauslaufe, durch eine »sogenannte revolutionäre Diktatur«, »die angeblich die wahren Interessen des Volkes

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Petr Nikitič Tkačev: ›Anarchija Mysli‹. In: Sočinenija v dvuch tomach. Band 2. Izdatel'stvo social' no-ekonomičeskoj literatury ›Mysl'‹, Moskau 1976, S. 106. vgl. Deborah Hardy: Petr Tkachev, the Critic as Jacobin. University of Washington Press, Seattle, London 1977, S. 280. vgl. Venturi, S. 419.

besser erkennt, als das Volk selbst.«251 Während Bakunin forderte, daß das Leben des Volkes gemäß den Wünschen und Bedürfnissen des Volkes selbst reorganisiert werden müsse, erklärte Tkačev, eine revolutionäre Minderheit sei zur Erkenntnis der revolutionären Ziele viel eher befähigt. Die instinktiven Ideale des Volkes seien nämlich »unbewußt, unkontrolliert und deshalb nicht immer logisch und konsequent«. Warum also, fragte Tkačev, gibt Bakunin diesen instinktiven Idealen »den Vorzug vor dem bewußten wissenschaftlichen Denken? [...] Natürlich kann ein Vertreter der Minderheit, ein Vertreter der Intelligencija, die Leiden des Volkes nicht so stark fühlen wie das Volk selbst, aber eben deshalb versteht er sie besser, er steht ihnen objektiver gegenüber, er analysiert sie vielfältiger [...].«252

Bakunin hatte sich bereits in ›Staatlichkeit und Anarchie‹ über dieses Thema geäußert: »[...] auf diesem vermeintlichen und abstrakten Ausdruck dessen, was angeblich das ganze Volk denkt und will, wovon aber das lebendige, reale Volk auch nicht die geringste Vorstellung hat, darauf basiert in gleicher Weise die Theorie der Staatlichkeit und die Theorie der sogenannten revolutionären Diktatur. Der ganze Unterschied zwischen revolutionärer Diktatur und Staatlichkeit besteht nur in den äußeren Umständen. Faktisch bedeuten sie beide das Gleiche: die Verwaltung einer Mehrheit durch eine Minderheit im Namen der angeblichen Dummheit ersterer und der angeblichen Weisheit letzterer. «253

Andere Differenzen ergaben sich in der Frage der Organisation der revolutionären Bewegung. Bakunin hatte vorgeschlagen, alle revolutionären Kräfte »miteinander in Verbindung [zu] bringen und sie nach einem gemeinsamen Plan und zu dem einen Zweck der Befreiung des ganzen Volkes [zu] organisieren.«254 Dies widerspreche nach Tkačev nun wieder dem anar251 252 253 254

siehe vorliegenden Band, S. 131 und 282. Tkačev, a.a.O. (Anm. 248), S. 111-112. siehe vorliegenden Band, S. 282-283. siehe vorliegenden Band, S. 387. – vgl. auch Bakunins Aussagen in ›Die Aufstellung der Revolutionsfrage‹ (1869) (Briefwechsel, S. 352).

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chistischen Ausgangspunkt Bakunins: Jede revolutionäre Organisation, argumentierte Tkačev, die über eine gemeinsame Leitung verfügt, egal ob sie aus unkontrollierbaren Diktatoren oder aus Delegierten mit imperativem Mandat bestehe, »ist ihrem Wesen nach eine autoritäre und folglich anti-anarchistische Organisation. Wie wollt Ihr denn das mit Eurem Bekenntnis zur Anarchie vereinbaren? Oder meint Ihr vielleicht eine andere Organisation? Vielleicht träumt ihr von einer gemeinsamen Organisation ohne gemeinsames Zentrum, ohne gemeinsame Führung, einer Organisation, die die einzelne, selbständige, unabhängige Existenz jeder dazugehörigen Einheit zuläßt? Das wäre aber in diesem Fall keine Organisation, sondern nur eine Agglomeration, d.h. genau das, was auch gegenwärtig in der Welt der Bauern existiert und was Ihr mit dem Mittel der Organisation verändern wolltet.«255

Mit der Überzeugung, eine funktionierende Organisation könne nur autoritär strukturiert sein, sprach Tkačev eine der Grundauffassungen aller Zentralisten aus – bis hin zu Lenin, der kategorisch erklärt hat: »Keine einzige revolutionäre Bewegung kann ohne eine stabile und die Kontinuität wahrende Führerorganisation Bestand haben«.256 Durch die Einfuhr fast der gesamten Auflage von ›Staatlichkeit und Anarchie‹ nach Rußland war das Buch in Westeuropa zunächst nahezu unbekannt – außer in kurzen Auszügen, die

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Tkačev, a.a.O. (Anm. 248), S. 114. W. I. Lenin: Werke. Band 5. Dietz Verlag, Berlin 1973, S. 480. – Die Geistesverwandtschaft zwischen Tkačev und Lenin wurde auch von parteikommunistischer Seite anerkannt. 1930 schrieb der sowjetische Historiker Boris Gorev über Tkačevs Auseinandersetzung mit Bakunin: »In dieser ersten Kollision des russischen Anarchismus mit der Idee der revolutionären Diktatur (unabhängig von jenem utopischen Inhalt, den ihr Tkačev gab) lag schon der Keim des gesamten Kampfes der zwischen den Anarchisten und dem sowjetischen Staat geführt wurde und teilweise bis heute geführt wird.« (B. Gorev: Anarchizm v Rossii ❲ot Bakunina do Machno❳. Molodaja gvardija, o.O. 1930, S. 35)

1878 in der anarchistischen Zeitschrift L'Avant-Garde in französischer Übersetzung publiziert wurden,257 erschien das Buch in den nächsten 50 Jahren in keiner anderen Sprache. In Rußland selbst wurde ›Staatlichkeit und Anarchie‹ erstmals im Jahre 1907 im zweiten und letzten Band der Reihe ›Polnoe sobranie sodinenij‹ veröffentlicht,258 deren Herausgeber Bakunins Neffe A. I. Bakunin war.259 Nach der Oktoberrevolution 1917 erschien ›Staatlichkeit und Anarchie‹ im Verlag der anarchistischen Zeitung Golos Truda, die 1911 in New York als Organ der russischen anarchistischen Arbeiter im Exil gegründet worden war und ihren Sitz im Jahre 1917 nach Rußland verlegte. Während die Zeitung bereits im Mai 1918 von den bolschewistischen Machthabern unterdrückt worden war, konnte sich der Verlag ›Golos Truda‹ mit seinen Buchläden in Leningrad und Moskau noch bis 1929 halten260 und brachte in dieser Zeit unter anderem eine fünfbändige Bakunin-Ausgabe heraus, als deren erster Band 1919 ›Staatlichkeit und Anarchie‹ erschien.261

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›Le gouvernementalisme et l'anarchie (Extrait d'une traduction inédite de la brochure de Michel Bakounine)‹. In: L'Avant-Garde, La Chauxde-Fonds, Nr. 21 (10. März 1878) bis Nr. 37 (21. Oktober 1878). – Diese vor allem Frankreich betreffenden Auszüge (in vorliegendem Band S. 117-134) erschienen eventuell durch die Vermittlung Kropotkins, der oft an L'Avant-Garde mitarbeitete (vgl. Obras, V, Vorwort, S. 5). M. A. Bakunin: Polnoe sobranie sočinenij. Herausgegeben von A. I. Bakunin. Band 2. Izdanie I. Balašova o.O. [St. Petersburg] o.J. [1907]. 266 S. – Im Unterschied zu den folgenden russischen Ausgaben enthält dieser Band den Text von ›Staatlichkeit und Anarchie‹ einschließlich der Anhänge A (S. 241-264) und B (S. 264-266). vgl. Pierre Péchoux: Diffusion d'un œuvre: Bakounine. Publications dans la langue originale et en traduction. Dissertation an der Université Paris I, 1986, S. 466. vgl. Paul Avrich: The Russian Anarchists. Princeton University Press, Princeton 1967, S. 115, 185 und 244. M. A. Bakunin: Izbrannye sočinenija. Band 1: Gosudarstvennost' i anarchija. Knigoizdatel'stvo ›Golos Truda‹, Petersburg 1919. 320 S. (2. Auflage: Petersburg, Moskau, 1922. 254 S.).

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Leider fehlte in der Ausgabe von 1919 aus unbekannten Gründen der Schlußsatz von ›Staatlichkeit und Anarchie‹, in dem auf den nicht erschienenen zweiten Teil hingewiesen wird, und vor allem die Anhänge A und B, die doch dem Buch seine besondere Relevanz für die russische revolutionäre Bewegung gegeben hatte – »zum großen Bedauern des alten Ross, der das Buch 1873 gedruckt hatte und der bekümmert war, als er das Fehlen dieses wesentlichen Teils bemerkte«262 erinnerte sich Max Nettlau. Die erste Übersetzung von ›Staatlichkeit und Anarchie‹ wurde im Rahmen einer argentinischen Bakunin-Ausgabe veröffentlicht, die in den Jahren 1924-1929 in Buenos Aires erschien und von Nettlau herausgegeben wurde. Die Anregung zu dieser Ausgabe ging wahrscheinlich von dem spanischen Anarchosyndikalisten Diego Abad de Santillán aus, der schon in jungen Jahren mit seiner Familie nach Argentinien ausgewandert war und mit Nettlau seit Anfang der 1920er Jahre bekannt war. Als langjähriger Redakteur der anarchistischen Tageszeitung La Protesta in Buenos Aires sorgte Santillán für die Publikation einer Reihe von Arbeiten Nettlaus im ›Supplemento‹ der Zeitung und in ihrem Buchverlag Editorial ›La Protesta‹. Hier erschien auch die Werkausgabe Bakunins unter dem Titel ›Obras completas‹, für die Santillán die Übersetzung von Texten aus dem Französischen übernahm.263 Der Text von ›Staatlichkeit und Anarchie‹, der 1929 im fünften und letzten Band der Ausgabe erschien,264 mußte jedoch vor der Publikation zwei Über-

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Obras, V, Vorwort, S. 30. – Der Anhang B (Programm der Slawischen Sektion in Zürich) wurde separat im dritten Band der ›Izbrannye sočinenija‹ veröffentlicht (Knigoizdatel'stvo ›Golos Truda‹, Petersburg, Moskau 1920, S. 70-72). vgl. Max Nettlau: ›Biographische und bibliographische Daten‹. In: International Review of Social History, Assen, Band 14, 1969, S. 468-469. – Manfred Burazerovic: Max Nettlau. Der lange Weg zur Freiheit. OPPO-Verlag, Berlin 1996, S. 49. Miguel Bakunin: Obras completas. Volumen V: Estatismo y anarquía. Editorial ›La Protesta‹, Buenos Aires 1929.

setzungen durchlaufen: Zuerst aus dem Russischen ins Französische (durch den russischen Anarchosyndikalisten Aleksandr Šapiro) und schließlich vom Französischen ins Spanische (durch Santillán). Diese Ausgabe von ›Staatlichkeit und Anarchie‹ wurde zehn Jahre später in Spanien neugedruckt, als der anarchistische Verlag ›Tierra y Libertad‹ während des Spanischen Bürgerkrieges die Herausgabe der Werke Bakunins unter dem Titel ›Obras‹ wiederaufnahm.265 Die Textgrundlage für die spanischsprachigen Ausgaben bildete leider die unvollständige russische Edition von 1919,266 in der die beiden Anhänge fehlten. Doch auch in dieser Form wurde ›Staatlichkeit und Anarchie‹ nun erstmals einem größeren Kreis von Interessierten in Westeuropa bekannt – so zum Beispiel dem kritischen Marxisten Karl Korsch, der 1945 ›Staatlichkeit und Anarchie‹ auf der Grundlage des in den ›Obras‹ publizierten Textes ins Englische zu übersetzen und glossiert herauszugeben beabsichtigte.267 1951 übersetzte Korsch das Marxsche Konspekt von ›Staatlichkeit und Anarchie‹ ins Englische und schrieb in diesem Zusammenhang an Roman Rosdolsky: »Darüber hinaus scheint mir auch eine vollständige englische (und deutsche) Ausgabe von Bakunins Buch nicht nur für die Marxologie im engeren Sinne interessant, sondern auch politisch höchst aktuell. Je mehr ich mich damit beschäftige, desto mehr scheint es mir, daß B.[akunin] die meisten Entwicklungen, die bei den heutigen Revolutionen auftreten, viel klarer vorausgesehen hat als M[arx]. Sein Buch gehört insofern direkt zu den Voraussetzungen einer Theorie der modernen Revolution. – Es wäre

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Wieder bildete ›Staatlichkeit und Anarchie‹ den fünften Band der Ausgabe (Obras, V). vgl. Neue Biographie, IV, S. 282. – Die (vollständige) russische Ausgabe von 1907 kannte Nettlau nicht (vgl. Obras, V, Vorwort, S. 5 – Archives, III, Einleitung, S. XXV). vgl. Michael Buckmiller: ›Zeittafel zu Karl Korsch – Leben und Werk‹. In: Jahrbuch Arbeiterbewegung. Band 1: Über Karl Korsch. Herausgegeben von Claudio Pozzoli. Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main 1973, S. 106, und Viesel in vorliegendem Band, S. 436.

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natürlich besser, wenn man [für eine Übersetzung] wenigstens von Bakunins Buch noch die Originalfassung (1874)268 auftreiben könnte. Ich will mich weiter darum bemühen [...].«269

Eine entscheidende Verbesserung der Verfügbarkeit von ›Staatlichkeit und Anarchie‹ ergab sich erst mit dem Erscheinen der von Arthur Lehning herausgegebenen ›Archives Bakounine‹, in deren drittem Band (1967) eine französische Übersetzung von ›Staatlichkeit und Anarchie‹ und vor allem der Text der russischen Originalausgabe von 1873 erstmals wieder veröffentlicht wurde. Eine deutsche Übersetzung von ›Staatlichkeit und Anarchie‹ erschien erstmals im Jahre 1972 – nahezu gleichzeitig in zwei verschiedenen Ausgaben: im Karin Kramer Verlag und ein paar Monate später bei Ullstein.270 An den Ursprung der Kramer-Ausgabe von 1972 erinnerten sich Hansjörg Viesel und Bernd Kramer folgendermaßen: »Im Jahr 1968 nahmen wir [...] an einer Diskussionsrunde im Rahmen einer SDS-Gruppe ›Rätekommunismus‹ an einer Aufarbeitung der Marschen Beschäftigung mit ›Staatlichkeit und Anarchie‹ teil (MEW 18).«271 »Nach dieser Marx'schen Attacke stand fest, sowohl aus Sympathie als auch aus ›Gerechtigkeit‹ mußte Bakunins Werk ins Deutsche übersetzt werden. Hansjörg Viesel übersetzte, der Karin Kramer Verlag brachte das Buch heraus. Ins Impressum schrieben wir vollmundig: ›Deutsche Erstübersetzung von Alexandra Petrow‹. Jetzt, nach gut 28 Jahren, kann ich es beichten: Hansjörg übersetzte Staatlichkeit und Anar-

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richtig: 1873. Karl Korsch an Roman Rosdolsky, 1. Juni 1951. – Ich danke Michael Buckmiller für die Überlassung einer Abschrift dieses Briefes, der in Band 9 der von ihm herausgegebenen Korsch Gesamtausgabe veröffentlicht werden wird. Michael Bakunin: Staatlichkeit und Anarchie. Vorwort Hansjörg Viesel. Karin Kramer Verlag, Berlin 1972. – Michail Bakunin: Staatlichkeit und Anarchie und andere Schriften. Herausgegeben und eingeleitet von Horst Stuke. Verlag Ullstein, Frankfurt/M, Berlin, Wien 1972. Briefliche Mitteilung von Hansjörg Viesel, 8. Mai 1995.

chie aus dem Französischen.272 – Dieser ›unwissenschaftliche‹ Trick hat uns nie gestört: ›Alexandra Petrow‹, hört sich gut an und konnte den Eindruck erwecken: aus dem Russischen. Außerdem war uns das Politische wichtiger als eine wirklich authentische Übersetzung.«273

In dieser Hinsicht war die Ullstein-Ausgabe im Vorteil: Sie enthielt eine Übersetzung von ›Staatlichkeit und Anarchie‹ auf der Grundlage des russischen Originaltextes. Gleichzeitig wurde aber der Wert der Ullstein-Ausgabe durch das kenntnislose und tendenziöse Vorgehen des nach eigenen Worten »unter Zeitmangel leidenden«274 Herausgebers Horst Stuke stark verringert, dessen Bemühungen insgesamt als gescheitert gelten müssen.275 Auf diese Weise fehlte beiden deutschen Ausgaben von 1972 etwas Entscheidendes: Die erste Kramer-Ausgabe enthielt eine unbefriedigende Übersetzung, verfügte aber über ein interessantes Vorwort von Hansjörg Viesel und informative Anmerkungen, die aus dem dritten Band der Archives Bakounine übernommen wurden – der Ullstein-Verlag hatte dagegen eine gute Übersetzung, aber einen miserablen Herausgeber. Beiden Ausgaben fehlten zudem wichtige Informationen zum historischen Hintergrund des Textes, wie zurecht kritisiert worden ist.276

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Auf der Grundlage der französischen Übersetzung von ›Staatlichkeit und Anarchie‹ (Archives, III, S. 203-380) wurde also ins Deutsche weiterübersetzt. Bernd Kramer: ›Was lange gärt, wird endlich gar – oder Die Vorgeschichte, deren Nachspiel wir noch nicht kennen‹. In: Bakunin – ? Ein Denkmal! Kunst – Anarchismus. Herausgegeben von der Neuen Gesellschaft für Bildende Kunst e.V. Karin Kramer Verlag, Berlin 1996, S. 1112. Bakunin: Staatlichkeit und Anarchie und andere Schriften, a.a.O. (Anm. 270), Vorwort, S. VI. vgl. Wolfgang Eckhardt: Michail A. Bakunin (1814-1876). Bibliographie der Primär- und Sekundärliteratur in deutscher Sprache. Libertad Verlag, Berlin, Köln 1994, Einleitung, S. 17-22. vgl. Brigitte Buckmiller: [Bakunin-Rezension]. In: Jahrbuch Arbeiterbewegung. Band 1, a.a.O. (Anm. 267), S. 361-364.

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Für die vorliegende Neuausgabe von ›Staatlichkeit und Anarchie‹ konnte erstmals die Ullstein-Übersetzung des Textes mit einem detaillierten Kommentar (ausgehend von den 209 Anmerkungen aus dem dritten Band der Archives Bakounine) kombiniert werden. Das Vorwort von Hansjörg Viesel aus der deutschen Erstausgabe von 1972 ist im Anhang wiedergegeben. Berlin, im Februar 1998

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Wolfgang Eckhardt

Abkürzungen, abgekürzte Quellennachweise, Zeichenerklärung, Hinweise zur Umschrift Archives

Bio-bibliografičeskij slovar'

Biographie

Briefwechsel

Archives Bakounine. Herausgegeben von Arthur Lehning. E. J. Brill, Leiden 19611981. Band 1: Michel Bakounine et l'Italie (1871-1872). Teil 1: La polémique avec Mazzini. Teil 2: La Première Internationale en Italie et le conflit avec Marx. Band 2: Michel Bakounine et les conflits dans l'Internationale (1872). Band 3: Gosudarstvennost' i Anarchija. Étatisme et Anarchie (1873). Band 4: Michel Bakounine et ses relations avec Sergej Nečaev (1870-1872). Band 5: Michel Bakounine et ses relations slaves (1870-1875). Band 6: Michel Bakounine sur la guerre franco-allemande et la révolution social en France (1870-1871). Band 7: L'Empire knouto-germanique et la révolution sociale (1870-1871). Dejateli revoljucionnogo dviženija v Rossi. Bio-bibliografičeskij slovar' ot predšestvennikov dekabristov do padenija carizma. Band 1, 2, 3 und 5 in 10 Teilen. Vsesojuznoe obščestvo politčeskich katoržan i ssylnoposelencev, Moskau 1927-1934. Max Nettlau: The Life of Michael Bakounine. Michael Bakunin. Eine Bioraphie. Privately printed (reproduced by the Autocopyist) by the author, London 18961900. Michail Bakunins Sozial-politischer Briefwechsel mit Alexander Iw. Herzen und

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Ogarjow. Herausgegeben von Michail Dragomanow. Verlag der I. G. Cotta'schen Buchhandlung Nachfolger, Stuttgart 1895 (russische Ausgabe: Pis'ma). Debogorij-Mokrievič Vladimir Debogorij-Mokrievič: Vospominanija. 3 Bände. Imprimerie Jean Allemane, Paris 1894-1898 (dt. gekürzt: W. DebogoryMokriewitsch: Erinnerungen eines Nihilisten. Verlag von Robert Lutz, Stuttgart 1905). dt. deutschsprachige Ausgabe/Übersetzung Guillaume: James Guillaume: L'Internationale. L'Internationale Documents et Souvenirs. 4 Bände. Société nouvelle de librairie et d'édition (Band 1-2) und P.-V. Stock, Éditeur (Band 3-4), Paris 1905-1910. Jacoby Johann Jacoby: Gesammelte Schriften und Reden. 2 Bände. Verlag von Otto Meißner, Hamburg 1872. Kovalik S. F. Kovalik: Revoljucionnoe dviženie semidesjatych godov i process 193-ch. Izdatel'stvo vsesojuznogo obščestva politkatoržan i ssylno-poselencev, Moskau 1928. MEGA Karl Marx, Friedrich Engels: Gesamtausgabe (MEGA). Abteilung I: Werke, Artikel, Entwürfe. Abteilung II: ›Das Kapital‹ und Vorarbeiten. Abteilung III: Briefwechsel. Abteilung IV: Exzerpte, Notizen, Marginalien. Dietz Verlag, Berlin 1975 ff. Meijer J. M. Meijer: Knowledge and Revolution. The Russian Colony in Zuerich (18701873). A Contribution to the Study of Russian Populism. Van Gorcum & Comp., Assen 1955.

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MEW

Müller

Nachträge

Nettlau: Russische Bewegung

Neue Biographie

Obras

Pirumova: Social. Doktrina Pis'ma

Ralli

Revoljucionnoe narodničestvo

Karl Marx, Friedrich Engels: Werke. 39 Bände + 2 Ergänzungsbände. Dietz Verlag, Berlin 1957-1968. Wilhelm Müller: Geschichte der Neuesten Zeit 1816-1866, mit besonderer Berücksichtigung Deutschlands. Verlag von Paul Neff, Stuttgart 1867. Max Nettlau: Nachträge [zur Biographie]. Anmerkungen 4110-4770. Unveröffentlichtes Manuskript im IISG (Amsterdam), 4 Bände, geschrieben 1903-1905. Max Nettlau: ›Bakunin und die russische revolutionäre Bewegung in den Jahren 18681873‹. In: Archiv für die Geschichte des Sozialismus und der Arbeiterbewegung. Herausgegeben von Carl Grünberg, Leipzig, Band 5, 1915, S. 357-422. Max Nettlau: Michael Bakunin. Eine Biographie. [Vollständig umgearbeitete Version der Biographie]. Unveröffentlichtes Manuskript im IISG (Amsterdam), 4 Bände, geschrieben 1924-1926. Miguel Bakunin: Obras. Herausgegeben von Max Nettlau. 6 Bände. Editorial Tierra y Libertad, Barcelona 1938-1939. Natal'ja M. Pirumova: Social naja doktrina M. A. Bakunina. Nauka, Moskau 1990. Pis'ma M. A. Bakunina k' A. I. Gercenu i N. P. Ogarevu. Herausgegeben von M. P. Dragomanov. Ukrainskaja tipografija, Zürich 1896 (dt.: Briefwechsel). Z. Ralli: ›Iz moich vospominanij o M. A. Bakunine‹. In: O minuvšem. Istoričeskij sbornik, St. Petersburg, 1909, S. 287-352. Revoljucionnoe narodničestvo 70-x godov XIX veka. Band 1: 1870-1875. Herausgege99

ben von B. S. Itenberg. Izdatel'stvo ›nauka‹, Moskau 1964. Band 2:1876-1882. Herausgegeben von S. S. Volk. Izdatel'stvo ›nauka‹, Moskau, Leningrad 1965. Ross: Pervoe M. P. Sažin (Arman Ross): ›Pervoe znaznakomstvo komstvo s M. A. Bakuninym‹. In: Katorga i ssylka. Istoriko-revoljucionnyj vestik, Moskau, Nr. 5 (26), 1926, S. 9-19 (dt. gekürzt in Unterhaltungen, S. 266-280). Ross: Russkie M. P. Sažin [Arman Ross]: ›Russkie v Cjuv Cjuriche riche (1870-1873 gg.)‹. In: Katorga i ssylka. Istoriko-revoljucionnyj vestik, Moskau, Nr. 10 (95), 1932, S. 25-78. Ross: Vospominanija M. P. Sažin (Arman Ross): Vospominanija 1860-1880-x g.g. Vsesojuznoe obščestvo politčeskich katoržan i ssylno-poselencev, Moskau 1925. Sapir ›Vpered!‹ 1873-1877. From the Archives of Valerian Nikolaevich Smirnov. Herausgegeben von Boris Sapir. 2 Bände. D. Reidel Publishing Company, Dordrecht 1970. Schriften Michael Bakunin: Ausgewählte Schriften. Herausgegeben von Wolfgang Eckhardt. Karin Kramer Verlag, Berlin 1995 ff. Band 1: Gott und der Staat. Band 2: ›Barrikadenwetter‹ und ›Revolutionshimmel‹. Artikel in der ›Dresdner Zeitung‹. Band 3: Russische Zustände. Unterhaltungen Unterhaltungen mit Bakunin. Herausgegeben von Arthur Lehning. Franz Greno, Nördlingen 1987. Venturi Franco Venturi: Roots of Revolution. A History of the Populist and Socialist Movements in Nineteenth-Cemtury Russia. The University of Chicago Press, Chicago, London 1983. 100

[ ]

Alle Angaben in eckigen Klammern sind Ergänzungen des Herausgebers.

Anmerkungen: ...5 ...+5

Anmerkung des Autors des jeweiligen Textes (als Fußnote auf derselben Seite). Anmerkung des Herausgebers (am Ende des Bandes ab S. 441), (vgl. Textnachweise). –––––

Hinweise zur Umschrift russischer Eigennamen und Begriffe: c ck č s š šč v y z ž

wird gesprochen als

z wie in Wanze zk wie in Fatzke tsch wie in Peitsche scharfes s wie in Bus scharfes sch wie in Busch schtsch wie in Chruschtschow w wie in Lava flüchtiges ü wie in Zyste weiches s wie in Rose weiches sch wie in Regie

Die Übersetzung von ›Staatlichkeit und Anarchie‹ hält sich so nah wie möglich an den Wortlaut der russischen Originalausgabe einschließlich deren Eigenheiten in Satzbau, Groß- und Kleinschreibung und Stilistik (vgl. die Textnachweise in vorliegendem Band, S. 532).

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Erste Textseite der Originalausgabe von ›Staatlichkeit und Anarchie‹

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Staatlichkeit und Anarchie

Staatlichkeit und Anarchie Der Kampf der zwei Parteien in der Internationalen Arbeiterassoziation Vorwort+1* Die vor kaum neun Jahren gegründete Internationale arbeiterassoziation+2 hat bereits einen solchen Einfluß auf die praktische Entwicklung der ökonomischen, sozialen und politischen Fragen in ganz Europa gewonnen, daß in Zukunft kein Publizist und kein Staatsmann umhin kann, sie mit ernster Aufmerksamkeit und nicht selten wohl auch mit einer gewissen Unruhe zu beobachten. Die offizielle, die offiziöse, und ganz allgemein die bourgeoise Welt, die Welt der Glücklichen, welche die einfachen Arbeiter ausbeuten, beobachtet die Assoziation mit der inneren Unruhe, welche man beim Nahen einer noch unbekannten, unbestimmten, aber schon sehr bedrohlichen Gefahr empfindet, fürchtet sie wie ein Ungeheuer, das unweigerlich die ganze gesellschaftliche und staatlich -wirtschaftliche Ordnung verschlingen wird, wenn man nicht seinen raschen Erfolgen mit einer Reihe von energischen Maßnahmen, die in allen Ländern Europas gleichzeitig ergriffen werden müssen, ein Ende bereitet. Seit dem Ende des letzten Krieges,+3 der die historische Vorherrschaft Frankreichs als Staat in Europa gebrochen und

*

Mit + gekennzeichnete hochgestellte Ziffern verweisen auf die Anmerkungen am Ende des Bandes (S. 441-531), ohne + gekennzeichnete auf Anmerkungen Bakunins am Fuß einer Seite.

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durch die noch verhaßtere und verhängnisvollere Vorherrschaft eines staatlichen Pangermanismus ersetzt hat, sind bekanntlich Maßnahmen gegen die Internationale zum Lieblingsthema bei Regierungsgesprächen geworden. Ein ganz natürliches Phänomen. Da Staaten ihrem Wesen nach einander feindlich und letztlich unversöhnlich gegenüberstehen, konnten und können sie für eine Gemeinsamkeit keine andere Basis finden als die einmütige Unterjochung der Volksmassen, obwohl diese doch allgemein Grundlage und Zweck ihrer Existenz sind. Fürst Bismarck+4 war natürlich Hauptanstifter und Förderer dieser neuen Heiligen Allianz+5 und wird es auch bleiben. Aber nicht er trat als erster mit seinen Vorschlägen auf. Den zweifelhaften Ruhm einer solchen Initiative überließ er der gedemütigten Regierung des gerade erst von ihm zerschlagenen französischen Staates. Als Außenminister der pseudonationalen Regierung war Jules Favre+6 ein ständiger Verräter der Republik, dagegen ein treuer Freund und Verteidiger der Jesuiten; er glaubte an Gott, doch verachtete er die Menschen und wurde seinerseits von allen aufrichtigen Verfechtern der Sache des Volkes verachtet. Dieser berüchtigte Redner, der allenfalls noch Herrn Gambetta+7 im Ruhm nachsteht, Prototyp eines Advokaten zu sein, hat mit Vergnügen die Rolle eines boshaften Verleumders und Denunzianten übernommen. Unter den Mitgliedern der sogenannten Regierung der »Nationalen Verteidigung« war er ohne Zweifel einer von denjenigen, die am meisten zur Entwaffnung der nationalen Verteidigung und zur eindeutig verräterischen Übergabe von Paris an den anmaßenden, unverschämten und unerbittlichen Sieger beigetragen haben. Fürst Bismarck hat ihn beschimpft und vor der ganzen Welt lächerlich gemacht. Jules Favre aber schien stolz auf diese doppelte Schmach, seine eigene und die des von ihm verratenen, vielleicht sogar verkauften Frankreich; gleichzeitig war er von dem Wunsch beseelt, dem großen Kanzler des siegreichen deutschen Reiches zu gefallen, der ihm doch diese Schmach angetan hatte; dazu kam noch sein tief empfundener Haß auf das Proletariat im allge-

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meinen und die Pariser Arbeiterschaft im besonderen, weshalb er mit einem förmlichen Angriff gegen die Internationale auftrat.+8 Deren Mitglieder standen in Frankreich an der Spitze der Arbeitermassen und versuchten, das Volk gegen die deutschen Eindringlinge, wie auch gegen die eigenen Ausbeuter, die Regierenden und Verräter aufzuwiegeln. Wahrhaftig ein abscheuliches Verbrechen, für das das offizielle oder bourgeoise Frankreich das Volk mit exemplarischer Strenge bestrafen mußte! So konnte es geschehen, daß das erste Wort der französischen Regierung am Tage nach der entsetzlichen und beschämenden Niederlage ein Wort infamster Reaktion war. Wer hätte nicht dieses denkwürdige Rundschreiben von Jules Favre gelesen, in dem grobe Lüge und noch gröbere Ignoranz nur noch von der ohnmächtigen Wut des abtrünnigen Republikaners übertroffen werden? Es ist der Verzweiflungsschrei nicht eines Einzelnen, sondern der gesamten bourgeoisen Zivilisation, die alles auf der Welt erschöpft hat, die endgültig zusammengebrochen und damit zum Tode verurteilt ist. Da sie das Nahen ihres unvermeidlichen Endes spürt, hängt sie sich mit der Wut der Verzweiflung an alles, um nur ja ihr unheilvolles Dasein zu verlängern, und ruft dabei alle Idole der Vergangenheit zu Hilfe, die sie einst selbst gestürzt hat – Gott, die Kirche, den Papst, das patriarchalische Prinzip, und vor allem als sicherstes Heilmittel den Schutz der Polizei und die Militärdiktatur, und sei es auch die preußische, wenn sie nur die »rechtschaffenen Leute« vor der entsetzlichen Gefahr einer sozialen Revolution beschützen. Das Rundschreiben Jules Favres fand ein Echo, und wo würde man denken – in Spanien! Sagasta, jener kurz amtierende Minister in der kurzen Regierungszeit König Amadeus' von Spanien, wollte seinerseits dem Fürsten Bismarck gefällig sein und sich einen unsterblichen Namen machen. Auch er wiegelte zum Kreuzzug gegen die Internationale auf, doch begnügte er sich nicht mit ohnmächtigen und nutzlosen Maßnahmen, die nur ein äußerst kränkendes Gelächter beim spanischen Proletariat

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hervorgerufen hätten, sondern verfaßte ebenfalls ein phrasenreiches diplomatisches Rundschreiben; allerdings brachte ihm das – sicherlich mit Zustimmung des Fürsten Bismarck und seines Adjunkten Jules Favre – einen wohlverdienten Rüffel von der vorsichtigeren und weniger freien Regierung Großbritanniens ein;+9 einige Monate später scheiterte auch er. Es scheint übrigens, daß das Rundschreiben Sagastas, obgleich es im Namen Spaniens spricht, in Italien konzipiert, wenn nicht gar verfaßt worden ist, und zwar unter der direkten Anleitung des recht routinierten Königs Viktor Emanuel [II.], der der glückliche Vater des unglücklichen Amadeus' war. In Italien wurde die Kampagne gegen die Internationale von drei verschiedenen Seiten vorangetrieben: Zunächst hat der Papst persönlich die Internationale gebannt, wie zu erwarten war.+10 Er tat dies auf äußerst originelle Weise, indem er nämlich in ein und demselben Bannfluch die Mitglieder der Internationale mit den Freimaurern, den Jakobinern, den Rationalisten, Deisten und liberalen Katholiken vermengte. Nach der Definition des HI. Vaters gehört nämlich jeder dieser verruchten Assoziation an, der sich nicht blind seinen von Gott inspirierten Ausführungen unterwirft. So definierte auch ein preußischer General vor 26 Jahren den Kommunismus: »Wißt Ihr«, sagte er zu seinen Soldaten, »was ein Kommunist ist? Das ist einer, der dem erhabenen Denken und Wollen Seiner Majestät des Königs zuwiderhandelt und -denkt.« Doch nicht allein der römisch-katholische Papst tat die Internationale Arbeiterassoziation in den Bann. Der berühmte Revolutionär Giuseppe Mazzini,+11 in Rußland bekannter als italienischer Patriot, Verschwörer und Agitator, denn als deistischer Metaphysiker und Gründer einer neuen Kirche in Italien, selbst Mazzini also hielt es 1871, am Tag nach der Niederlage der Pariser Kommune+12 – genau zu der Zeit, als die brutalen Vollstrecker der brutalen Versailler Dekrete die entwaffneten Kommunarden zu Tausenden füsilierten – für angebracht und notwendig, dem römisch-katholischen Anathema und den Verfolgungen durch den Polizeistaat noch seinen ei-

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genen Fluch hinzuzufügen, der zwar patriotisch und revolutionär zu sein vorgab, in Wirklichkeit aber ein völlig bourgeoiser und dazu noch theologischer Fluch war. Mazzini hoffte, seine Worte würden genügen, in Italien alle Sympathien für die Pariser Kommune zu zerschlagen und die gerade gegründeten Sektionen der Internationale im Keim zu ersticken. Das Gegenteil geschah: Nichts hat mehr dazu beigetragen, diese Sympathien zu stärken und die internationalen Sektionen zu vergrößern, als sein lautstarker und feierlicher Fluch.+13 Auch die italienische Regierung, die doch dem Papst und mehr noch Mazzini feindlich gesinnt war, ruhte nicht. Anfangs noch verstand sie nicht die Gefahr, welche ihr von der Internationale drohte, die sich nicht nur in den Städten, sondern sogar in den Dörfern Italiens sehr schnell ausbreitete, sondern glaubte vielmehr, die neue Assoziation werde nur dem Fortschreiten der bürgerlich-republikanischen Propaganda Mazzinis entgegenwirken; in dieser Beziehung täuschte man sich bei der italienischen Regierung auch nicht, gelangte jedoch sehr bald zu der Überzeugung, daß die Propagierung der Prinzipien der sozialen Revolution bei einer leidenschaftlichen Bevölkerung, die die Regierung selbst in tiefstes Elend und äußerste Bedrängnis gestürzt hatte, für diese Regierung wesentlich gefährlicher war als Mazzinis Agitation und all seine politischen Unternehmungen. Der Tod des großen italienischen Patrioten+14 kurz nach seinem wütenden Auftreten gegen die Pariser Kommune und die Internationale beruhigte die italienische Regierung, was die Partei Mazzinis anbelangt, vollkommen, denn ihres Kopfes beraubt, stellte sie künftighin nicht mehr die geringste Gefahr für die Regierung dar. So hat auch bereits ein sichtbarer Verfallsprozeß dieser Partei begonnen, und da sie den Grundsätzen, Zielen und ihrer Zusammensetzung nach eine rein bürgerliche Partei ist, zeigt sie die eindeutigen Symptome des Kräfteverfalls, der heute alles erfaßt, was die Bourgeoisie unternimmt. Ganz anders die Propaganda und Organisation der Internationale in Italien. Sie wendet sich direkt und ausschließlich

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an die Kreise der einfachen Arbeiter, die in Italien wie in allen Ländern Europas das Leben, die Kraft und die Zukunft der modernen Gesellschaft in sich tragen. Aus der Bourgeoisie schließen sich diesen Kreisen nur die Wenigen an, die die derzeitige politische, ökonomische und soziale Ordnung von Herzen hassen und der Klasse, aus der sie hervorgegangen sind, den Rücken gekehrt haben, um sich ganz der Sache des Volkes zu widmen. Solche Leute sind nicht sehr zahlreich, dafür aber sehr wertvoll, allerdings nur dann, wenn sie aus Haß gegen das allgemeine Herrschaftsstreben der Bourgeoisie die letzten Reste persönlichen Ehrgeizes in sich ausgemerzt haben; in diesem Fall, ich wiederhole, sind sie wirklich wertvoll. Das Volk gibt ihnen Leben, elementare Kraft und ein Betätigungsfeld; dafür bringen sie ihm Sachkenntnis sowie Abstraktions- und Analysierungsvermögen mit und die Fähigkeit, sich zu organisieren und zu verbünden, und schaffen somit jene bewußte kämpferische Kraft, ohne die ein Sieg undenkbar ist. In Italien wie in Rußland fand sich eine ziemlich große Anzahl solcher jungen Leute, und zwar unvergleichlich viel mehr als in irgendeinem anderen Land. Viel wichtiger ist aber, daß es in Italien ein zahlreiches Proletariat gibt, das zwar von Natur aus keineswegs dumm ist, jedoch zum großen Teil aus Analphabeten und überhaupt aus armen Leuten besteht. Es setzt sich zusammen aus zwei bis drei Millionen städtischen und Fabrikarbeitern, kleinen Handwerkern und ungefähr zwanzig Millionen besitzlosen Bauern. Wie schon oben erwähnt, ist diese riesige Menschenmasse unter dem liberalen Zepter ihres Königs, des Befreiers und Einigers von Italien, durch die bedrückende und räuberische Administration der oberen Klassen in eine so verzweifelte Lage gebracht worden, daß es sogar die Verfechter und die interessierten Vertreter der derzeitigen Verwaltung allmählich zugeben; sie beginnen im Parlament und in den offiziellen Organen zu äußern, daß man unmöglich diesen Weg weitergehen könne, vielmehr unbedingt etwas für das Volk tun müsse, wenn man eine alles zerstörende Volkserhebung vermeiden wolle.

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Ja, vielleicht ist die soziale Revolution nirgends so nah wie in Italien, nirgends, selbst Spanien nicht ausgenommen, obwohl es in Spanien offiziell schon eine Revolution gibt,+15 während in Italien scheinbar alles ruhig ist. In Italien wartet das ganze Volk auf den sozialen Umsturz und strebt ihm täglich bewußt entgegen. Man kann sich vorstellen, wie uneingeschränkt, wie aufrichtig und leidenschaftlich das Programm der Internationale vom italienischen Proletariat gebilligt wurde und von nun an angenommen wird. Anders als in vielen Ländern Europas gibt es in Italien noch keine besondere durch hohe Löhne privilegierte Arbeiterschicht, wo man sogar mit einem gewissen Maß an literarischer Bildung prahlt und so sehr von den Prinzipien und Bestrebungen und der Eitelkeit der Bourgeoisie durchdrungen ist, daß sich diese Arbeiter von den Bourgeois nur durch ihre Stellung, nicht aber durch ihre Gesinnung unterscheiden. Solche Arbeiter gibt es viele, vor allem in Deutschland und in der Schweiz, in Italien dagegen so wenige, daß sie sich spurlos und ohne Einfluß in der Masse verlieren. In Italien überwiegt jenes bettelarme Proletariat, von dem Marx und Engels, und mit ihnen die ganze Schule der deutschen Sozialdemokraten mit tiefster Verachtung als vom Lumpenproletariat sprechen, und das ganz zu Unrecht, denn in ihm, und nur in ihm, nicht in jener oben bezeichneten verbürgerlichten Schicht der Arbeitermasse, ist der ganze Geist und die ganze Kraft der zukünftigen sozialen Revolution. Darüber werden wir weiter unten ausführlicher sprechen. Wir beschränken uns jetzt darauf, den Schluß zu ziehen: daß nämlich die Propaganda und Organisation der Internationalen Arbeiterassoziation in Italien, wo das bettelarme Proletariat eindeutig überwiegt, den äußerst leidenschaftlichen Charakter einer Sache des Volkes haben, weshalb sie auch über die Städte hinaus sofort die Landbevölkerung erfaßt haben. Die italienische Regierung ist sich inzwischen natürlich über die Gefahr, die diese Bewegung darstellt, vollkommen im klaren und versucht, wenn auch vergeblich, sie mit allen Kräften zu unterdrücken. Sie gibt keine tönenden, phrasenreichen Rund-

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schreiben heraus, sondern handelt geräuschlos, ohne Erklärungen, ohne Geschrei, wie es einer Polizeimacht gebührt. Ohne Rücksicht auf das Gesetz schließt sie nacheinander sämtliche Arbeitervereine, mit Ausnahme derer, denen Fürsten, Minister, Präfekten, Honoratioren und sonstige hohe Würdenträger als Ehrenmitglieder angehören. Alle anderen Arbeitervereine verfolgt sie erbarmungslos, bemächtigt sich ihrer Papiere und Gelder und sperrt ihre Mitglieder monatelang ohne Verurteilung, sogar ohne Gerichtsverfahren, in ihren schmutzigen Gefängnissen ein.+16 Es besteht kein Zweifel, daß sich die italienische Regierung dabei nicht nur von ihrer eigenen Weisheit, sondern auch von den Ratschlägen und Direktiven des großen deutschen Kanzlers leiten läßt, genauso, wie sie seinerzeit gehorsam den Befehlen Napoleons III.+17 gefolgt ist. Der italienische Staat befindet sich in der seltsamen Lage, daß er nach Einwohnerzahl und Staatsgebiet eigentlich zu den Großmächten gezählt werden müßte. Doch ist er so heruntergewirtschaftet, in seiner Verwaltung so korrupt und trotz aller Bemühungen so überaus undiszipliniert, dazu wird er von der Masse des Volkes und dem Kleinbürgertum so verachtet, daß er nach seiner tatsächlichen Stärke kaum als zweitrangige Macht angesehen werden kann. Daher ist für den italienischen Staat ein Beschützer unentbehrlich; d.h. ein Gebieter außerhalb Italiens, und jeder wird es nur natürlich finden, daß nach dem Sturz Napoleons III. Fürst Bismarck den Platz eines unentbehrlichen Verbündeten dieser Monarchie eingenommen hat, die durch die piemontesische Intrige auf dem von Mazzini und Garibaldi mit ihren patriotischen Aktivitäten vorbereiteten Boden geschaffen worden war.+18 Im übrigen spürt man jetzt die Hand des großen Kanzlers des pangermanischen Reiches in ganz Europa, England höchstens ausgenommen, das jedoch diese Machtentfaltung nicht ohne Beunruhigung beobachtet, oder auch Spanien, das vor dem reaktionären Einfluß Deutschlands, zumindest fürs erste durch seine Revolution, wie auch seine geographische Lage si-

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cher ist. Der Einfluß des neuen Reiches erklärt sich durch seinen verblüffenden Sieg über Frankreich; zugegebenermaßen nimmt es heute durch seine Lage, durch die beachtlichen Mittel, die es erbeutet hat, und durch seine innere Organisation unbestritten den ersten Platz unter den europäischen Großmächten ein und kann jede einzelne von ihnen seine Überlegenheit fühlen lassen. An seinem notwendigerweise reaktionären Einfluß kann es keinen Zweifel geben. Das heutige Deutschland, das durch die geniale und patriotische Betrügerei1 des Fürsten Bismarck geeint wurde, stützt sich einerseits auf die mustergültige Organisation und Disziplin seiner Armee, die bereit ist, auf jeden Wink seines König-Kaisers im Inneren des Landes wie auch außerhalb jedem den Hals umzudrehen und alle nur möglichen und vorstellbaren Verbrechen zu begehen; andererseits stützt es sich auf einen treuergebenen Patriotismus, auf eine grenzenlose nationale und dazu noch althergebrachte Ehrsucht und auf einen ebenso grenzenlosen Gehorsam und Autoritätskult – alles, was heutzutage den deutschen Adel, das deutsche Bürgertum, die deutsche Bürokratie, die deutsche Kirche und die ganze Zunft der deutschen Gelehrten auszeichnet und unter ihrem gemeinsamen Einfluß nicht selten, o weh! – das deutsche Volk selbst. Dieses Deutschland also, das auf die despotisch-konstitutionelle Macht seines Alleinherrschers stolz ist, verkörpert in seiner Gesamtheit einen der beiden Pole der derzeitigen gesellschaftlich-politischen Bewegung, nämlich den der Staatlichkeit, des Staates, der Reaktion. Deutschland ist ein Staat par excellence, wie Frankreich es unter Ludwig XIV. und Napoleon I. war und wie Preußen es bis heute immer gewesen ist. Mit dem endgültigen Aufbau des preußischen Staates durch Friedrich II.+19 entstand die Frage, wer wen verschlingen würde, Deutschland Preußen oder Preußen Deutschland. Wie sich zeigte, hat Preußen Deutschland verschluckt. Das bedeutet, solange Deutschland als Staat be-

1

In der Politik wie in der Hochfinanz gilt Betrügerei als Tugend.

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steht, gleichgültig ob in irgendwelchen pseudo-liberalen, konstitutionellen, demokratischen oder sogar sozialdemokratischen Formen, wird es notwendigerweise ein Repräsentant ersten Ranges und ständiger Quell aller nur möglichen Despotismen in Europa sein. Mit dem Aufkommen des modernen Staates Mitte des 16. Jahrhunderts ist Deutschland einschließlich der deutschen Teile Österreichs immer Hauptzentrum aller reaktionären Bewegungen in Europa gewesen, auch zu der Zeit, als der große gekrönte Freidenker Friedrich II. seinen Briefwechsel mit Voltaire führte.+20 Der weise Staatsmann, Schüler Machiavellis und Lehrer Bismarcks, schimpfte über alles: über Gott und die Menschen, seine philosophischen Brieffreunde natürlich nicht ausgenommen, und glaubte nur an seine »Staatsraison«, wobei er sich aber wie eh und je auf die »göttliche Kraft der großen Bataillone« (Gott ist immer mit den stärksten Bataillonen, wie er sagte), auf die Wirtschaft und auf eine möglichst perfekte Organisation der inneren Verwaltung stützte, die natürlich eine mechanische und despotische war. In der Tat besteht darin nach seiner wie auch unserer Meinung das eigentliche Wesen des Staates. Alles übrige sind lediglich unschuldige Verzierungen zur Schonung der zarten Gefühle derjenigen, die der harten Wahrheit nicht ins Angesicht sehen können. Friedrich II. hat die Staatsmaschinerie, die sein Vater und sein Großvater aufgebaut und zu der seine Vorfahren den Grundstein gelegt hatten, perfektioniert und vollendet; in den Händen seines würdigen Nachfolgers, Fürst Bismarck, ist diese Maschine zum Instrument der Eroberung, möglicherweise der Borussogermanisierung Europas geworden. Wie schon gesagt, ist Deutschland seit der Reformation immer wieder Ursprung aller reaktionären Bewegungen in Europa gewesen; von der Mitte des 16. Jahrhunderts bis 1815 hat die Initiative zu diesen Bewegungen bei Österreich gelegen. 1815 bis 1866 teilten sich Österreich und Preußen darin, wobei ersteres jedoch überwog, solange es vom alten Fürsten Metternich+21 regiert wurde, also bis 1848. 1815 trat dieser Heiligen

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Allianz rein deutscher Reaktion, wesentlich mehr als wohlwollender Beobachter denn als aktiv Beteiligter, unsere tataro-deutsche, allrussisch-kaiserliche Knute bei. Vom natürlichen Wunsch beseelt, sich der schweren Verantwortung für die von der Heiligen Allianz begangenen Abscheulichkeiten zu entziehen, versuchen die Deutschen, sich und alle anderen davon zu überzeugen, daß Rußland deren Anstifter gewesen sei. Aber es ist nicht an uns, das kaiserliche Rußland zu verteidigen, denn eben wegen unserer großen Liebe zum russischen Volk, dem wir uneingeschränkte Freiheit und allseitiges Gedeihen leidenschaftlich wünschen, hassen wir dieses niederträchtige allrussische Reich, wie kein Deutscher es hassen kann. Im Gegensatz zu den deutschen Sozialdemokraten, deren Programm als erstes Ziel die Gründung eines pangermanischen Staates vorsieht, wollen die russischen sozialen Revolutionäre vor allem unseren Staat völlig zerstören; denn sie sind davon überzeugt, daß unser Volk, solange eine wie auch immer geartete Staatlichkeit auf ihm lastet, zum elenden Sklaven wird. Nicht also, um die Politik des Petersburger Kabinetts zu verteidigen, sondern um der Wahrheit willen, welche immer und überall nützlich ist, antworten wir den Deutschen Folgendes: In der Tat hat sich das kaiserliche Rußland in Gestalt zweier seiner gekrönten Häupter, Alexanders I. und Nikolaus', scheinbar sehr aktiv in die inneren Angelegenheiten Europas eingemischt: Alexander manövrierte überall herum, machte viel Wirbel und Lärm, Nikolaus runzelte die Stirn und grollte. Doch dabei blieb es dann auch. Sie taten nichts, nicht etwa, weil sie nicht gewollt hätten, sondern weil sie nicht konnten, weil es ihnen ihre Freunde, die österreichischen und preußischen Deutschen nicht erlaubten; lediglich die ehrenvolle Rolle eines Schreckgespenstes wurde ihnen zugeteilt, während Österreich und Preußen allein handelten, sowie schließlich unter Leitung und mit Erlaubnis beider – die französischen Bourbonen (gegen Spanien). Nur einmal, 1849, hat sich das allrussische Reich außerhalb seiner Grenzen betätigt,+22 und auch das nur zur Rettung des

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österreichischen Kaiserreichs, das durch den Aufstand Ungarns in Schwierigkeiten geraten war. Im Verlaufe dieses Jahrhunderts hat Rußland zweimal eine polnische Revolution niedergeschlagen, beide Male mit Hilfe Preußens, das ebensosehr daran interessiert war, Polen in Knechtschaft zu halten. Ich spreche natürlich vom kaiserlichen Rußland. Das Rußland des Volkes ist undenkbar ohne ein freies und unabhängiges Polen. Daß sich das russische Reich seinem Wesen nach in Europa keinen anderen als nur den unheilvollsten, jeder Freiheit zuwiderlaufenden Einfluß wünschen kann, daß jeder neue Fall von Grausamkeit durch einen Staat, vom Triumph der Unterdrückung, jede neue Gelegenheit, einen Volksaufstand im Blut zu ertränken, in welchem Land auch immer, bei ihm auf wärmste Sympathie stößt, wer könnte daran zweifeln? Doch nicht darum geht es hier. Die Frage ist die, wie groß sein tatsächlicher Einfluß ist und ob es seinem Geist, seiner Macht und seinem Reichtum nach eine so gewichtige Stellung in Europa einnimmt, daß seine Stimme ausschlaggebend sein könnte. Man braucht sich nur mit der Geschichte der vergangenen sechzig Jahre und mit dem eigentlichen Wesen unseres tataro-deutschen Reiches vertraut zu machen, um zu einer negativen Antwort zu kommen. Rußland ist bei weitem nicht die starke Macht, als die es sich in der eitlen Vorstellung unserer Bierpatrioten oder in der kindlichen Vorstellung westlicher und südöstlicher Panslawisten und auch der servilen Liberalen Europas gerne darstellt, die aus Senilität und Angst den Kopf verloren haben und bereit sind, sich jeder Militärdiktatur, der eigenen oder einer fremden, zu beugen, wenn sie nur vor der entsetzlichen Gefahr beschützt werden, die ihnen von seiten ihres Proletariats droht. Wer die gegenwärtige Situation des Petersburger Imperiums nüchtern betrachtet und sich weder durch Hoffnung noch Angst beeinflussen läßt, der weiß, daß dieses Imperium im Westen und gegen den Westen aus eigener Initiative niemals etwas unternommen hat noch unternehmen kann, es sei denn, es werde durch irgendeine westliche Großmacht dazu aufgerufen, aber auch dann nur im engsten Bündnis mit ihr.

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Seine ganze Politik hat von jeher nur darin bestanden, sich in irgendeiner Weise fremden Unternehmungen anzuschließen; seit jener räuberischen Teilung Polens,+23 die bekanntlich von Friedrich II. erdacht worden ist, der Katharina II.+24 vorgeschlagen hatte, in gleicher Weise auch Schweden zu teilen, ist immer wieder Preußen eben die westliche Macht gewesen, die dem allrussischen Reich diesen Dienst erwiesen hat. In bezug auf die revolutionäre Bewegung in Europa spielte Rußland für die preußischen Staatsmänner die Rolle eines Schreckgespenstes, oft genug auch eines Paravents, hinter dem sie ihre eigenen offensiven und reaktionären Unternehmungen geschickt verbargen. Nach der überraschenden Reihe von Siegen der preußisch-deutschen Truppen in Frankreich und nach dem endgültigen Niedergang der französischen Vormachtstellung in Europa und ihrer Ablösung durch die pangermanische Hegemonie wurde dieser Paravent überflüssig; das neue Reich, das die geheimsten Wunschträume des deutschen Patriotismus verwirklicht hatte, zeigte jetzt sein wahres Gesicht im Glanze seiner expansiven Macht und seiner systematisch reaktionären Initiativen. Ja, Berlin ist heute eindeutig Haupt und Zentrum aller lebendigen und tätigen Reaktion in Europa geworden, und Fürst Bismarck ihr Hauptanführer und erster Minister. Ich sage, der lebendigen und tätigen Reaktion, nicht der überlebten. Die abgelebte Reaktion, die allmählich in Vergessenheit gerät, – vor allem die Reaktion römischkatholischer Prägung – geht nur noch als drohender, aber kraftloser Schatten in Rom, Versailles und teilweise in Wien und Brüssel um; eine andere, die Petersburger Knutenreaktion, ist zwar kein Schatten, hat aber dennoch weder Sinn noch Zukunft und treibt weiterhin nur ihren Unfug im allrussischen Reich. Doch die lebendige, schlaue, wirklich starke Reaktion konzentriert sich künftig in Berlin und verbreitet sich über alle europäischen Länder, geht also vom neuen deutschen Reich aus, das von dem staatsmännischen, und schon allein deswegen im höchsten Maße volksfeindlichen Genie des Fürsten Bismarck regiert wird.

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Diese Reaktion ist nichts anderes als die endgültige Verwirklichung der volksfeindlichen Idee des modernen Staates, dessen einziges Ziel in der organisierten, größtmöglichen Ausbeutung der Arbeit des Volkes zugunsten des in wenigen Händen konzentrierten Kapitals besteht: Und das bedeutet nichts anderes als den Triumph der jüdischen Herrschaft, der Hochfinanz, unter dem mächtigen Schutz von Finanz-, Verwaltungs- und Polizeigewalt, welche sich in erster Linie auf das Militär stützt, ihrem Wesen nach also despotisch ist, auch wenn sie sich gleichzeitig hinter dem parlamentarischen Spiel eines Scheinkonstitutionalismus verbirgt. Für die heutige Kapitalbildung und Bankspekulation bedarf es zu ihrer weiteren und vollständigen Entfaltung jener gewaltigen Zentralisation durch den Staat, wodurch es überhaupt erst möglich wird, die Millionen und Abermillionen des einfachen arbeitenden Volkes ihrer Ausbeutung zu unterwerfen. Daher ist die durchgehend föderative Organisation von unten nach oben der Arbeiterassoziationen, Gruppen, Gemeinden, Bezirke und schließlich Provinzen und Nationen – diese einzige Voraussetzung für eine wahre und nicht fiktive Freiheit – mit der Kapitalbildung und Bankspekulation ihrem Wesen nach ebenso unvereinbar wie die wirtschaftliche Autonomie. Kapitalbildung und Bankspekulation kommen aber glänzend mit der sogenannten repräsentativen Demokratie aus; denn diese moderne Staatsform, die auf der Pseudo-Herrschaft eines Pseudo-Volkswillens basiert, welcher angeblich durch sogenannte Volksvertreter in Pseudo-Volksversammlungen zum Ausdruck gebracht wird, vereinigt in sich die beiden Voraussetzungen, die Kapitalbildung und Bankspekulation zur Erlangung ihrer Ziele benötigen, nämlich staatliche Zentralisation und die Tatsache, daß der Herrschaftsanspruch des Volkes einer intellektuellen Minderheit unterworfen wird, die das Volk unter dem Vorwand, es zu vertreten, regiert und unweigerlich ausbeutet. Wenn wir über das sozial-politische Programm der Marxisten, der Anhänger Lassalles und überhaupt der deutschen Sozialdemokraten sprechen, werden wir noch Gelegenheit haben,

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dieses Faktum näher zu betrachten und zu erläutern. Doch jetzt wollen wir die Aufmerksamkeit auf einen anderen Aspekt dieser Frage lenken. jede Ausbeutung der Arbeit des Volkes ist bitter für das Volk, ganz gleich, mit welchen politischen Formen von Pseudovolksherrschaft und Pseudovolksfreiheit sie auch verbrämt sei. Kein Volk wird sich ihr gern unterwerfen, auch wenn es von Natur aus noch so fügsam ist oder noch so gewohnt, der Gewalt zu gehorchen; deshalb ist ein ständiger Zwang, also Polizeiaufsicht und Militärgewalt, unumgänglich. Der moderne Staat ist seinem Wesen und seiner Zielsetzung nach notwendig ein Militärstaat, und der Militärstaat wird mit derselben Notwendigkeit zu einem aggressiven Staat; wenn er nicht selbst angreift, so wird er angegriffen, und das aus dem einfachen Grunde, weil überall dort, wo Gewalt ist, sie zwangsläufig auch sichtbar und wirksam werden muß. Daraus folgt wiederum, daß der moderne Staat groß und stark sein muß; das ist die notwendige Voraussetzung für seine Selbsterhaltung. Und in der Tat, so wie Kapitalbildung und Bankspekulation, welche sogar letzten Endes eben diese Kapitalbildung verschlingt, aus Furcht vor dem Bankrott ihr Betätigungsfeld ständig auf Kosten der weniger großen Spekulation und Kapitalbildung ausweiten müssen, indem sie sie schlucken und danach streben müssen, universal und weltumfassend zu werden – ebenso ist der moderne, zwangsläufig militärische Staat unbeirrbar in seinem Streben, weltumfassend zu werden; doch könnte es in jedem Fall nur einen einzigen solchen, natürlich nicht realisierbaren, Universalstaat geben; zwei solcher Staaten nebeneinander sind entschieden unmöglich. Die Vormachtstellung eines Staates ist nur eine bescheidene, im Rahmen des Möglichen bleibende Ausprägung dieses seines unrealisierbaren Strebens; und Voraussetzung jeder Hegemonie ist eine relative Schwäche und Unterordnung wenigstens aller Nachbarstaaten. So war die Hegemonie Frankreichs durch die Schwäche Spaniens, Italiens und Deutschlands bedingt; seither können die französischen Staatsmänner – allen

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voran natürlich Thiers+25 – Napoleon III. nicht verzeihen, daß er den Zusammenschluß und die Einheit Italiens und Deutschlands zuließ. Frankreich hat den Platz geräumt, den jetzt der deutsche Staat – unserer Meinung nach zur Zeit der einzig wirkliche Staat in Europa – eingenommen hat. Dem französischen Volk steht zweifellos noch eine große Rolle in der Geschichte bevor, aber Frankreichs Karriere als Staat ist beendet. Nun werden aber alle, die den Charakter der Franzosen auch nur ein wenig kennen, mit uns sagen, daß es für Frankreich, das so lange eine Macht ersten Ranges sein konnte, entschieden unmöglich ist, ein zweitrangiger oder auch nur mit anderen gleichrangiger Staat zu sein. Als Staat und solange es von Staatsmännern, ganz gleich, ob von Thiers oder Gambetta oder sogar den Herzögen von Orléans, regiert wird, wird es sich nie mit seiner Erniedrigung aussöhnen, vielmehr einen neuen Krieg vorbereiten und nach Revanche und der verlorenen Vormachtstellung streben. Ob es das erreichen wird? Gewiß nicht. Dafür gibt es viele Gründe; nennen wir die beiden wichtigsten. Die letzten Ereignisse haben bewiesen, daß es einen Patriotismus, jene höchste staatliche Tugend, jene Seele staatlicher Macht, in Frankreich nicht mehr gibt. In den oberen Schichten äußert er sich höchstens noch als nationale Eitelkeit; aber auch diese Eitelkeit ist bereits so schwach, so an der Wurzel beschnitten vom bourgeoisen Zwang und der Angewohnheit, alle idealen Interessen den realen zu opfern, daß sie während des letzten Krieges nicht einmal mehr so wie früher die Händler, Geschäftsleute, Börsenspekulanten, Offiziere, Generäle, Bürokraten, Kapitalisten, Besitzenden und die von Jesuiten erzogenen Adligen in selbstlose Helden und Patrioten verwandeln konnte, und sei es auch nur vorübergehend. Alle hatten Angst, dachten nur noch an Verrat und an die Rettung ihres Besitzes, alle profitierten vom Unglück Frankreichs, nur um gegen es zu intrigieren; alle bemühten sich in unverschämtester Weise, einander in der Gunst des unerbittlichen und anmaßenden Siegers auszustechen, der jetzt

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die Geschicke Frankreichs in Händen hielt, alle propagierten einhellig und um jeden Preis Unterwerfung und Gehorsam und erflehten den Frieden ... Heute sind alle diese korrumpierten Schwätzer wieder zu Patrioten geworden und überbieten sich im Prahlen; aber dieses lächerliche und ekelhafte Gekreisch der billigen Helden vermag nicht das Zeugnis ihrer gestrigen Niedertracht zu übertönen. Ungleich wichtiger ist, daß selbst bei der französischen Landbevölkerung keine Spur von Patriotismus vorhanden war. Ja, anders als erwartet, hat der französische Bauer, seit er zu Besitz gekommen ist, aufgehört, Patriot zu sein. Zur Zeit von Jeanne d'Arc+26 hat er allein Frankreich auf seinen Schultern getragen. 1792 und in den folgenden Jahren hat er es gegen das ganze verbündete Europa verteidigt. Aber damals war das etwas anderes: Durch den billigen Erwerb von Kirchen- und Adelsgütern gehörte ihm jetzt das Land, das er einst als Leibeigener bebaut hatte; und er fürchtete mit Recht, daß im Falle einer Niederlage die adligen Emigranten dem deutschen Heer auf dem Fuße folgen und ihm den gerade erworbenen Besitz wieder abnehmen würden; jetzt hatte er diese Angst nicht mehr und verhielt sich bei der schändlichen Niederlage seines geliebten Vaterlandes völlig gleichgültig. Mit Ausnahme vom Elsaß und von Lothringen, wo sich seltsamerweise unleugbare Anzeichen von Patriotismus zeigten, gleichsam den Deutschen zum Spott, die in ihnen unbedingt rein deutsche Provinzen sehen wollen, jagten die Bauern in ganz Mittelfrankreich die französischen und ausländischen Freiwilligen, welche zur Rettung Frankreichs zu den Waffen gegriffen hatten, und verweigerten ihnen alles, ja gingen so weit, sie den Preußen auszuliefern, während sie die Deutschen mit aller Gastfreundschaft aufnahmen. Man kann mit vollem Recht sagen, daß sich Patriotismus nur im städtischen Proletariat erhalten hat. In Paris, wie auch in allen anderen Städten und Provinzen Frankreichs, wünschte und forderte allein das Proletariat die Erhebung der Massen und Krieg bis zum letzten. Merkwürdi-

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gerweise zog es sich gerade damit den Haß der besitzenden Klasse zu, als ob es beleidigend wäre, daß die »jüngeren Brüder« (ein Ausdruck Gambettas) mehr patriotische Tugend und Ergebenheit an den Tag legten als die älteren. Im übrigen hatten die besitzenden Klassen teilweise recht. Das, was das städtische Proletariat bewegte, war kein reiner Patriotismus im herkömmlichen und engeren Sinn dieses Wortes. Natürlich ist wirklicher Patriotismus ein sehr ehrenwertes Gefühl, zugleich aber eng, exklusiv, menschenfeindlich und sehr oft einfach grausam. Konsequenter Patriot ist nur, wer sein Vaterland und alles, was dazu gehört, leidenschaftlich liebt, dagegen alles, was fremd ist, mit nicht geringerer Leidenschaft haßt, ohne irgendwelche Zugeständnisse zu machen, wie unsere Slawophilen.+27 Im französischen städtischen Proletariat ist aber von einem solchen Haß nicht die geringste Spur geblieben. Im Gegenteil, es entwickelte in den letzten Jahrzehnten, man kann sagen seit 1848 und sogar schon wesentlich vorher, unter dem Einfluß der sozialistischen Propaganda ein geradezu brüderliches Verhältnis zu den Proletariern aller Länder, daneben eine vollkommene Gleichgültigkeit gegenüber der sogenannten Größe und dem Ruhm Frankreichs. Die französischen Arbeiter waren Gegner des Krieges, den Napoleon III. angezettelt hatte. So verkündeten sie am Vorabend dieses Krieges in einem von den Pariser Mitgliedern der Internationale unterzeichneten Manifest ihr aufrichtiges brüderliches Verhältnis zu den Arbeitern Deutschlands:+28 Als die Deutschen in Frankreich eindrangen, griffen sie [die französischen Arbeiter] zu den Waffen nicht gegen das deutsche Volk, sondern gegen den deutschen militärischen Despotismus. Dieser Krieg begann genau sechs Jahre nach der Gründung der Internationalen Arbeiterassoziation und nur vier Jahre nach ihrem ersten Genfer Kongreß. Schon in dieser kurzen Zeit vermochte die Propaganda der Internationale nicht nur im französischen Proletariat, sondern auch in der Arbeiterschaft vieler anderer, vor allem romanischer Länder, eine ganze Welt von völlig neuen und außerordentlich weitreichenden Vorstellun-

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gen, Ansichten und Gefühlen zu wecken; sie rief damit eine allgemeine internationale Begeisterung hervor, welche fast alle Vorurteile und die Engstirnigkeit patriotischer oder partikularistischer Leidenschaften hinwegschwemmte. Diese neue Weltanschauung wurde bereits 1868 auf einer Volksversammlung feierlich verkündet – und wo würde man vermuten, in welchem Land? – in Österreich, in Wien, als Antwort auf eine ganze Reihe von politischen und patriotischen Angeboten, die die Herren Bürger-Demokraten Süddeutschlands und Österreichs gemeinsam den Wiener Arbeitern gemacht hatten, um sie zur feierlichen Anerkennung und Proklamation eines pangermanischen, einigen und unteilbaren Vaterlandes zu bewegen. Zu ihrem Entsetzen vernahmen sie folgende Antwort: »Was erzählt ihr uns da vom deutschen Vaterland? Wir Arbeiter sind von euch ausgebeutet, ewig betrogen und unterdrückt, und alle Arbeiter, welchem Land sie auch angehören mögen, die ausgebeuteten und unterdrückten Proletarier der ganzen Welt – das sind unsere Brüder; die Bourgeois dagegen, die Unterdrücker, die Herrschenden, Vormünder und Ausbeuter – das sind unsere Feinde. Das internationale Lager der Arbeiter – das allein ist unser Vaterland; die internationale Welt der Ausbeuter, das ist für uns ein fremdes und feindliches Land.«+29 Und als Beweis für die Aufrichtigkeit ihrer Worte schickten die Wiener Arbeiter auf der Stelle ein Glückwunschtelegramm »An die Pariser Brüder, die Pioniere der universalen Befreiung der Arbeiter«.+30 Diese Antwort der Wiener Arbeiter, die ohne jegliche politischen Erwägungen spontan aus der Tiefe des Volksinstinkts gekommen war, machte seinerzeit viel Lärm in Deutschland, schockierte alle Bürger-Demokraten einschließlich des ehrenwerten Dr. Johann Jacoby,+31 Veteran und Führer dieser Partei, und beleidigte nicht nur ihre patriotischen Gefühle, sondern auch den Staatsglauben der Schule von Lassalle und Marx. Vermutlich auf den Rat des letzteren hin begab sich Liebknecht,+32 der zur Zeit als einer der Führer der Sozialdemokraten Deutsch-

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lands gilt, damals aber selbst noch Mitglied der bürgerlich-demokratischen Partei (der ehemaligen Volkspartei) war, sofort von Leipzig nach Wien, um mit den Wiener Arbeitern zu verhandeln,+33 deren »politische Taktlosigkeit« diesen Skandal heraufbeschworen hatte. Und das muß man ihm zugestehen, er war dabei so erfolgreich, daß einige Monate später, nämlich im August 1868, auf dem Kongreß der deutschen Arbeiter in Nürnberg alle Vertreter des österreichischen Proletariats das engstirnige patriotische Programm der sozialdemokratischen Partei ohne jeden Widerspruch unterschrieben.+34 Das aber zeigte nur den tiefgreifenden Unterschied, der zwischen der politischen Richtung der mehr oder weniger gelehrten bourgeoisen Anführer dieser Partei und dem eigentlich revolutionären Instinkt des deutschen oder wenigstens des österreichischen Proletariats bestand. In der Tat hatte sich dieser Volksinstinkt, der durch die Propaganda einer mehr politischen als sozial-revolutionären Partei unterdrückt und ständig von seinem wahren Ziel abgelenkt wurde, seit 1868 in Deutschland und Österreich kaum weiterentwickelt und auch nicht vermocht, ins Volksbewußtsein einzudringen, wohingegen er sich in den romanischen Ländern, in Belgien, Spanien, Italien und vor allem in Frankreich, frei von diesem Joch und dieser systematischen Unterminierung, gewaltig und völlig unbehindert entfaltete und sich tatsächlich beim Proletariat der Städte und Fabriken zu einem revolutionären Bewußtsein verfestigt.2

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Zweifellos wirken sich die Bemühungen der englischen Arbeiter, die nur auf die eigene Befreiung oder die Verbesserung ihres eigenen Schicksals bedacht sind, unmittelbar auch zum Nutzen der gesamten Menschheit aus; aber darüber sind sich die Engländer nicht im klaren, noch liegt es in ihrer Absicht; die Franzosen dagegen sind sich dessen bewußt und bemühen sich darum, was unserer Meinung nach einen gewaltigen Unterschied zugunsten der Franzosen bedeutet und all ihren revolutionären Bewegungen einen wahrhaft universalen Sinn und Charakter verleiht.

Wie schon gesagt, hat sich dieses unter den englischen Arbeitern noch so wenig verbreitete Bewußtsein vom universalen Charakter der sozialen Revolution und der Solidarität des Proletariats aller Länder beim französischen Proletariat schon seit langem gebildet, wo man bereits in den neunziger Jahren erkannt hatte, daß man mit dem Kampf für Gleichheit und Freiheit im eigenen Land zugleich die ganze Menschheit befreit. Diesen großen Worten – Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit des ganzen Menschengeschlechts – die heute oft als bloße Schlagworte benutzt werden, damals aber aufrichtig und tief empfunden wurden, begegnet man in allen revolutionären Liedern jener Zeit. Sie lagen dem neuen sozialen Glauben und dem sozial-revolutionären Enthusiasmus der französischen Arbeiter zugrunde, waren sozusagen Teil ihrer Natur und bestimmten, sogar unbewußt und unbeabsichtigt, die Richtung ihrer Gedanken, ihre Bestrebungen und Unternehmungen. Jeder französische Arbeiter ist zutiefst davon überzeugt, daß er, wenn er Revolution macht, sie nicht nur für sich, sondern für die ganze Welt macht, ja viel eher für die Welt als für sich selbst. Vergebens haben sich politische Positivisten und radikale Republikaner vom Schlage eines Gambetta schon immer bemüht, das französische Proletariat von dieser kosmopolitischen Tendenz abzubringen und es davon zu überzeugen, daß es darauf bedacht sein müsse, seine eigenen, ausschließlich nationalen Angelegenheiten zu ordnen, welche mit der patriotischen Idee von Größe, Ruhm und politischer Überlegenheit des französischen Staates verbunden seien. Sie versuchten, das französische Proletariat davon zu überzeugen, daß es sich seine eigene Freiheit, sein eigenes Wohlergehen innerhalb dieses Staates sichern müsse, ehe es von der Befreiung der ganzen Menschheit der ganzen Welt träume. Diese ihre Bemühungen sind scheinbar äußerst vernünftig, aber nutzlos – die Natur kann man nicht ändern, und dieser Traum war dem französischen Proletariat zur Natur geworden und vertrieb ihm die letzten Spuren von Staatspatriotismus aus Herz und Sinn.

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Die Ereignisse von 1870-71 haben das deutlich bewiesen. In allen Städten Frankreichs forderte nämlich das Proletariat die allgemeine Bewaffnung und Erhebung der Massen gegen die Deutschen; und es besteht kein Zweifel, daß es sein Ziel erreicht hätte, wenn es nicht von zwei Seiten her paralysiert worden wäre: einmal durch die schmähliche Angst und den allgemeinen Verrat der Mehrheit der bourgeoisen Klasse, die sich tausendmal lieber den Preußen unterwarf, als daß sie dem Proletariat Waffen in die Hand gegeben hätte; zum anderen durch die systematisch reaktionären Gegenmaßnahmen der »Regierung der nationalen Verteidigung« in Paris und in der Provinz, und der nicht weniger volksfeindlichen Opposition des Diktators und Patrioten Gambetta. Doch als die französischen Arbeiter, soweit ihnen das unter diesen Umständen möglich war, gegen die deutschen Eroberer zu den Waffen griffen, waren sie der festen Überzeugung, ebenso für Freiheit und Rechte des deutschen Proletariats zu kämpfen wie für die eigenen. Sie kümmerten sich nicht um Größe oder Ehre des französischen Staates, sondern um den Sieg des Proletariats über das verhaßte Militär, das in den Händen der Bourgeoisie allein dazu diente, sie zu unterjochen. Sie haßten die deutschen Truppen, nicht weil es Deutsche, sondern weil es Truppen waren. Die Truppen, die Thiers gegen die Pariser Kommune eingesetzt hatte, waren rein französisch; doch begingen sie in wenigen Tagen mehr Greueltaten und Verbrechen als die deutschen Truppen während des ganzen Krieges. Künftig sind für das Proletariat alle Truppen, die eigenen wie die fremden, gleichermaßen Feinde, und die französischen Arbeiter wissen das; deshalb war auch ihre Erhebung keine patriotische Erhebung. Der Aufstand der Pariser Kommune, den die Pariser Arbeiter angesichts der deutschen Truppen, die Paris noch eingeschlossen hatten, gegen die Versailler Nationalversammlung und gegen den Retter des Vaterlands, Thiers, gemacht haben, zeigt und erklärt vollkommen diese einzige Leidenschaft, die heute das französische Proletariat bewegt, für das es von nun an kei-

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ne anderen Anliegen, Ziele oder Kriege geben kann als sozial-revolutionäre. Das erklärt andererseits die hysterische Wut, die die Versailler Regenten und Repräsentanten packte, und die unerhörten Grausamkeiten, die auf ihr unmittelbares Betreiben hin und mit ihrem Segen an den besiegten Kommunarden verübt wurden. In der Tat hatten die Pariser Arbeiter vom Standpunkt eines Staatspatriotismus aus gesehen ein abscheuliches Verbrechen begangen: Angesichts der deutschen Truppen, die Paris noch umschlossen und gerade erst das Vaterland zerschlagen, seine nationale Macht und Größe zunichte gemacht und den Nationalstolz im Innersten getroffen hatten, verkündeten sie von wilder, kosmopolitischer, sozial-revolutionärer Leidenschaft gepackt die endgültige Zerstörung des französischen Staates und die Aufhebung der mit der Autonomie der französischen Kommunen unvereinbaren staatlichen Einheit Frankreichs.+35 Die Deutschen hatten nur Grenzen und Macht ihres politischen Vaterlandes beschnitten, sie aber wollten es völlig vernichten und hatten, um dieses verräterische Ziel offen darzulegen, die Vendôme-Säule, jenes mächtige Zeugnis des vergangenen französischen Ruhmes, umgeworfen!+36 Gibt es ein Verbrechen, das sich mit dieser vom politisch-patriotischen Standpunkt ungeheuerlichen Freveltat messen könnte! Und man bedenke, daß das Pariser Proletariat sie nicht etwa zufällig unter dem Einfluß irgendwelcher Demagogen begangen hatte, noch in einem jener Augenblicke von wahnsinniger Raserei, wie es sie häufig in der Geschichte eines jeden Volkes, und besonders des französischen, gibt. Nein, diesmal handelten die Pariser Arbeiter kalt und bewußt. Natürlich war diese faktische Ablehnung eines Staatspatriotismus Ausdruck einer starken Volksleidenschaft, doch nicht einer vorübergehenden, sondern einer tiefen, man könnte sagen wohlüberlegten Leidenschaft, die bereits zum Volksbewußtsein geworden war, einer Leidenschaft, die sich plötzlich vor der entsetzten Welt auftat, wie ein bodenloser Abgrund, bereit, die ganze derzeitige gesellschaftliche Ordnung mit all ihren Institutionen,

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Annehmlichkeiten, Privilegien und mit der gesamten Zivilisation zu verschlingen ... Hier zeigte sich mit ebenso erschreckender wie unbezweifelbarer Klarheit, daß künftig zwischen dem wilden und hungrigen Proletariat, das von sozial-revolutionären Leidenschaften beseelt und unbeirrbar in seinem Streben ist, auf der Grundlage der Prinzipien menschlicher Wahrheit, Gerechtigkeit, Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit eine neue Welt aufzubauen – auf Prinzipien also, die in einer wohlgeordneten Gesellschaft höchstens als harmloses Thema für rhetorische Übungen geduldet werden – , und der übersättigten und gebildeten Welt der privilegierten Klassen, die mit der Kraft der Verzweiflung eine staatliche, juristische, metaphysische, theologische und militärisch-polizeistaatliche Ordnung als letzte Festung verteidigten, mit der man heutzutage noch das teure Privileg wirtschaftlicher Ausbeutung halten kann, – daß also zwischen diesen beiden Welten, dem einfachen arbeitenden Volk und der gebildeten Gesellschaft, die bekanntlich alle nur denkbaren Vorzüge, wie Schönheit und Tugend, in sich vereint, keinerlei Kompromiß möglich ist. Krieg auf Leben und Tod! Und das nicht nur in Frankreich, sondern in ganz Europa, und dieser Krieg kann nur mit dem entscheidenden Sieg der einen und der totalen Niederlage der anderen Seite enden. Entweder muß die bürgerlich gebildete Welt die entfesselten Kräfte des Volkes bezwingen und unterwerfen, um dann mit Bajonetten, Peitsche und Knüppel, die natürlich von irgendeinem Gott gesegnet und von der Wissenschaft für vernünftig erklärt werden, wie früher die Masse der einfachen Arbeiter zur Arbeit zu zwingen, was unmittelbar zur völligen Wiederherstellung des Staates in seiner aufrichtigsten, heute allein noch möglichen Form führt, nämlich der Militärdiktatur oder dem Cäsarentum; oder aber die Arbeitermassen werfen endgültig das verhaßte jahrhundertealte Joch ab und zerstören von Grund auf die bourgeoise Ausbeutung und die darauf begründete bourgeoise Zivilisation – das wäre der Tri-

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umph der sozialen Revolution und die Vernichtung all dessen, was sich Staat nennt. So sind einerseits der Staat, andererseits die soziale Revolution die beiden Pole, deren Antagonismus heute das Wesen der gesellschaftlichen Zustände in ganz Europa ausmacht, in Frankreich offenkundiger als in irgendeinem anderen Land. Die Welt des Staates, also die ganze Bourgeoisie, selbstverständlich mit dem verbürgerlichten Adel, hat in Versailles ihr Zentrum, ihre letzte Zuflucht und ihren letzten Hort gefunden. Die soziale Revolution, die in Paris eine entsetzliche Niederlage erlitten hat, deshalb aber keineswegs vernichtet, ja nicht einmal besiegt ist und heute wie immer das gesamte Proletariat der Städte und Fabriken umfaßt, gewinnt zumindest im Süden Frankreichs durch ihre unermüdliche Propaganda, die dort in großem Maßstab durchgeführt und verbreitet wird, allmählich auch die Landbevölkerung. Dieser Antagonismus zweier unvereinbarer Welten ist der zweite Grund dafür, daß es für Frankreich völlig ausgeschlossen ist, je wieder die Vormachtstellung eines Staates erster Ordnung zu gewinnen. Zweifellos würden alle privilegierten Schichten der französischen Gesellschaft ihrem Vaterland seine glänzende und eindrucksvolle Stellung gerne wiedergeben; doch sind sie gleichzeitig in einem solchen Maße von Geldgier, von Gewinnsucht um jeden Preis und von antipatriotischem Egoismus besessen, daß sie zur Verwirklichung ihrer patriotischen Ziele zwar bereit sind, Besitz, Leben und Freiheit des Proletariats zu opfern, aber niemals auch nur auf eines ihrer vorteilhaften Privilegien verzichten würden, ja sich eher dem Joch der Fremdherrschaft unterwerfen, als auf ihren Besitz verzichten oder einer sozialen und rechtlichen Gleichheit zustimmen würden. Was heute vor unseren Augen geschieht, bestätigt das vollkommen. Als die Regierung Thiers der Versailler Versammlung offiziell den Abschluß eines endgültigen Vertrages mit dem Berliner Kabinett mitteilte, nach dem die deutschen Truppen die noch besetzten französischen Provinzen im September verlassen sollten,+37 ließ die Mehrheit der Versammlung, die die Koalition der

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privilegierten Klassen Frankreichs repräsentiert, den Kopf hängen; die französischen Staatspapiere, die deren Interessen noch wirkungsvoller, lebendiger repräsentieren, fielen, wie nach einer Staatskatastrophe... Es zeigte sich, daß die verhaßte, gewaltsame und für Frankreich schmachvolle Anwesenheit des siegreichen deutschen Heeres für die privilegierten französischen Patrioten, die Repräsentanten bourgeoisen Heldentums und bourgeoiser Zivilisation, Trost, Stütze und Rettung war, während sein bevorstehender Abzug für sie einem Todesurteil gleichkam. So sucht also der eigenartige Patriotismus der französischen Bourgeoisie sein Heil in der schimpflichen Unterwerfung des Vaterlandes. Wer daran immer noch zweifeln sollte, dem brauchen wir nur eine beliebige französische konservative Zeitung zu zeigen. Es ist bekannt, in welchem Maße sich die reaktionäre Partei in all ihren Schattierungen, den Bonapartisten, Legitimisten und Orleanisten,+38 über die Wahl Barodets+39 zum Abgeordneten in Paris entsetzt, erregt und empört hat. Aber wer ist dieser Barodet? Eine der zahlreichen Marionetten in der Partei Gambettas, ein Konservativer nach Stellung, Instinkt und Neigung, nur unter dem Deckmantel von demokratischen und republikanischen Phrasen, die heutzutage für die Durchführung äußerst reaktionärer Maßnahmen nicht nur nicht mehr hinderlich, sondern im Gegenteil sogar äußerst nützlich sind, kurzum ein Mensch, den nichts auch nur jemals mit der Revolution verbunden hätte und der 1870 und 1871 einer der eifrigsten Verfechter der bürgerlichen Ordnung in Lyon war. Heute findet er es wie viele andere bürgerliche Patrioten vorteilhaft, sich unter dem keineswegs revolutionären Banner Gambettas zu betätigen. Deshalb wählte ihn Paris, dem Präsidenten der Republik, Thiers, und der monarchistischen Pseudo-Nationalversammlung, die in Versailles regierte, zum Trotz. Und die Wahl einer so unbedeutenden Person genügte, um die gesamte konservative Partei in Aufregung zu versetzen! Und man bedenke, welches ihr Hauptargument ist: – die Deutschen! Wenn man nur eine beliebige Zeitung öffnet, so wird man sehen, wie die Konservativen dem französischen Proletariat mit

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dem gerechten Zorn des Fürsten Bismarck und seines Kaisers drohen – was für ein Patriotismus! Ja, sie rufen einfach die Deutschen zu Hilfe gegen die drohende soziale Revolution in Frankreich. In ihrer törichten Angst haben sie sogar den unschuldigen Barodet für einen revolutionären Sozialisten gehalten. Eine solche Stimmung in der französischen Bourgeoisie läßt nur wenig Hoffnung, daß Staatsmacht und Vorrangstellung Frankreichs durch den Patriotismus der privilegierten Klassen wiederhergestellt werden. Auch der Patriotismus des französischen Proletariats berechtigt nicht zu großen Hoffnungen. Denn heute haben sich die Grenzen seines Vaterlandes so erweitert, daß sie das Proletariat der ganzen Welt umfassen, im Gegensatz zur ganzen Bourgeoisie, natürlich auch der französischen. Die Erklärungen der Pariser Kommune sind in dieser Hinsicht eindeutig; und die Sympathien für die spanische Revolution, welche jetzt so offen von den französischen Arbeitern geäußert werden, vor allem in Südfrankreich, wo das Proletariat offen ein brüderliches Bündnis mit dem spanischen Proletariat anstrebt, ja sogar mit ihm eine nationale Föderation bilden will,+40 die auf freier Arbeit und kollektivem Besitz ohne Ansehen der nationalen Unterschiede und der Staatsgrenzen basiert, – diese Sympathien und Bestrebungen also beweisen, daß für das französische Proletariat, wie auch für die privilegierten Klassen die Zeit des Staatspatriotismus im Grunde vorbei ist. Wie sollte man aber bei einem solchen Mangel an Patriotismus in allen Schichten der französischen Gesellschaft und bei dem offenen und unversöhnlichen Kampf, der inzwischen unter ihnen herrscht, einen starken Staat wiederherstellen? Hier ist alles staatsmännische Geschick des hochbetagten Präsidenten der Republik umsonst, und alle schrecklichen Opfer, die er auf dem Altar des politischen Vaterlandes gebracht hat, wie z.B. das unmenschliche Massaker unter den vielen Tausenden von Pariser Kommunarden mit Frauen und Kindern und die nicht weniger unmenschliche Deportation von weiteren Tausenden

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nach Neu-Kaledonien, werden sich zweifellos als vergeblich erweisen. Umsonst sind die Anstrengungen Thiers, den Kredit, die innere Ruhe, die alte Ordnung und die militärische Stärke Frankreichs wiederherzustellen. Das durch den Antagonismus von Proletariat und Bourgeoisie bis in seine Grundfesten erschütterte Staatsgebäude kracht in allen Fugen, wird immer rissiger und droht jeden Augenblick einzustürzen. Wie könnte wohl ein so alter und unheilbar kranker Staat gegen den jungen und bisher noch gesunden deutschen Staat ankommen. Ich wiederhole, von nun an hat Frankreich seine Rolle als Großmacht ausgespielt. Die Zeit seiner politischen Macht ist ebenso unwiederbringlich vergangen wie die Zeit seines literarischen Klassizismus, des monarchistischen wie des republikanischen. Die alten Fundamente dieses Staates sind alle verfault, und vergeblich versucht Thiers seine konservative Republik, d.h. den alten monarchistischen Staat, unter einem erneuerten pseudo-republikanischen Firmenschild auf ihnen aufzubauen. Aber ebenso vergeblich verspricht Gambetta, Chef der heutigen radikalen Partei und offensichtlicher Nachfolger Thiers', einen neuen, und wie er behauptet, republikanischen und demokratischen Staat auf angeblich neuen Fundamenten zu errichten, vergeblich, weil diese Fundamente weder existieren noch existieren können. Heutzutage kann ein ernstzunehmender starker Staat nur ein einziges zuverlässiges Fundament haben – eine militärische und bürokratische Zentralisation. Zwischen einer Monarchie und einer Republik, und sei es der demokratischsten, gibt es nur einen einzigen wesentlichen Unterschied: In der ersteren wird das Volk im Namen des Monarchen von der Beamtenschaft, zum großen Nutzen der privilegierten, besitzenden Klassen, aber auch für ihre eigenen Taschen, unterdrückt und ausgeraubt; in der Republik wird das Volk von derselben Seite, zum Nutzen derselben Taschen und Klassen, unterdrückt und ausgeraubt, jetzt nur im Namen eines Volkswillens. In der Republik ist es das Scheinvolk, das legale Volk, das Volk, das an-

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geblich durch den Staat repräsentiert wird, welches das lebendige und reale Volk unterdrückt und unterdrücken wird. Aber für das Volk wird es keineswegs leichter, wenn der Stock, mit dem man es schlägt, Stock des Volkes genannt wird. Die soziale Frage, die Begeisterung für die soziale Revolution, hat nunmehr das französische Proletariat erfaßt. Man muß diese Begeisterung entweder befriedigen oder zähmen und unterdrücken; befriedigt kann sie aber nur dann werden, wenn der staatliche Zwang, jenes letzte Bollwerk bürgerlicher Interessen, zusammenbricht. Das heißt, kein Staat, wie demokratisch auch immer seine Formen sein mögen, und sei es die röteste politische Republik – was mit Volksrepublik ja nur im Sinne jener unter dem Namen Volksvertretung bekannten Lüge bezeichnet werden kann – kein Staat also kann dem Volke das geben, was es braucht, nämlich die freie Organisation der eigenen Interessen von unten nach oben, ohne jede Einmischung, Bevormundung oder Nötigung von oben, weil jeglicher Staat, selbst der republikanischste und demokratischste, und sogar der PseudoVolksstaat, wie ihn Marx geplant hat, letzten Endes nichts anderes darstellt als die Beherrschung der Massen von oben nach unten durch eine intellektuelle und eben dadurch privilegierte Minderheit, die angeblich die wahren Interessen des Volkes besser erkennt als das Volk selbst. So ist es also für die besitzenden und herrschenden Klassen entschieden unmöglich, den Leidenschaften und Bestrebungen des Volkes gerecht zu werden; deshalb bleibt nur ein Mittel – staatlicher Zwang, mit einem Wort, der Staat, weil Staat gleichbedeutend ist mit Zwang, Herrschaft durch Zwang, wenn möglich getarnt, notfalls aber auch ohne Umschweife und offen. Nun ist aber Gambetta ein ebensolcher Vertreter der bourgeoisen Interessen wie Thiers selbst; er will genauso einen starken Staat und die unbedingte Herrschaft der Mittelklasse, vielleicht noch im Verein mit der verbürgerlichten Schicht der Arbeiter, die in Frankreich einen ganz unbedeutenden Teil des gesamten Proletariats ausmacht. Der ganze Unterschied zwischen ihm und Thiers besteht darin, daß letzterer, ganz in den

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Vorurteilen seiner Zeit befangen, Stütze und Rettung ausschließlich bei der äußerst reichen Bourgeoisie sucht und mit Mißtrauen auf die zehn- oder gar hunderttausende von neuen Anwärtern auf die Regierung aus dem Kleinbürgertum und aus der obenerwähnten zur Bourgeoisie strebenden Arbeiterklasse schaut; demgegenüber geht es Gambetta, der von den oberen Klassen, die bisher ausschließlich Frankreich beherrscht haben, abgelehnt wird, darum, die Begründung seiner politischen Macht, seiner republikanisch-demokratischen Diktatur auf eben die gewaltige und rein bourgeoise Mehrheit zu stützen, die bisher von den Vorteilen und Ehren der Staatsführung ausgeschlossen blieb. Übrigens ist er, wie wir glauben zurecht, davon überzeugt, daß sich, sobald es ihm gelungen ist, mit Hilfe dieser Mehrheit zur Macht zu gelangen, die reichen Klassen, die Bankiers, Großgrundbesitzer, Kaufleute und Industriellen, mit einem Wort, alle bedeutenden Spekulanten, die sich mehr als andere an der Arbeit des Volkes bereichern, selbst ihm zuwenden werden, ihn ihrerseits anerkennen und sich um ihn als Freund und Verbündeten bemühen werden, was er ihnen natürlich nicht versagen wird, weil er als echter Staatsmann zu gut weiß, daß kein Staat, vor allem kein starker Staat, ohne derartige Freunde und Verbündete auskommt. Das bedeutet, daß Gambettas Staat für das Volk ebenso drückend und verheerend sein wird wie alle vorausgegangenen, die zwar offener, aber keineswegs gewaltsamer verfahren sind; und eben weil er sich in weiterreichende demokratische Formen hüllt, wird er der gierigen, reichen Minderheit eine ungestörte und unbeschränkte Ausbeutung der Arbeit des Volkes in stärkerem und wesentlich zuverlässigerem Ausmaß garantieren. Als Staatsmann der neuesten Schule fürchtet Gambetta weder weitestreichende demokratische Formen noch das allgemeine Wahlrecht. Er weiß besser als jeder andere, wie wenig Garantien sie für das Volk enthalten, wie viele dagegen für die es ausbeutenden Personen und Klassen; er weiß, daß der Des-

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potismus der Regierung nie so schrecklich und so stark ist, wie wenn er sich auf die Pseudo-Vertretung eines Pseudo-Volkswillens stützt. Wenn sich also das französische Proletariat von den Versprechungen des ehrgeizigen Advokaten verführen ließe und wenn es Gambetta gelingen sollte, dieses unruhige Proletariat auf das Prokrustesbett+41 seiner demokratischen Republik zu zwingen, dann könnte er zweifellos den französischen Staat in all seiner früheren Größe und Vormachtstellung wiederherstellen. Die Sache ist nur die, daß ihm dieser Versuch nicht gelingen kann. Es gibt jetzt auf der ganzen Welt keine Kraft, kein politisches oder religiöses Mittel, das so beschaffen wäre, daß es im Proletariat irgendeines Landes, vor allem aber im französischen, das Streben nach wirtschaftlicher Emanzipation und nach sozialer Gleichheit unterdrücken könnte. Was auch immer Gambetta tut, ob er mit Bajonetten droht oder mit Worten schmeichelt, nie wird er mit der eisernen Kraft, die in diesem Streben beschlossen ist, fertig werden, und niemals wird es ihm gelingen, so wie früher die Masse der freien Arbeiter vor die prunkvolle Staatskarosse zu spannen. Mit keinen Blüten der Rhetorik wird es ihm gelingen, den Abgrund, der die Bourgeoisie unüberbrückbar vom Proletariat trennt, zuzuschütten und einzuebnen, dem verzweifelten Kampf zwischen ihnen ein Ende zu machen. Dieser Kampf wird den Einsatz aller staatlichen Mittel und Kräfte erfordern, so daß dem französischen Staat weder Mittel noch Kräfte bleiben, nach außen seine Vormachtstellung unter den europäischen Staaten zu halten. Wie sollte er sich da mit dem Reiche Bismarcks messen! Was auch immer die Patrioten des französischen Staats sagen und wie sie prahlen mögen, Frankreich als Staat ist künftig ein bescheidener, sehr zweitrangiger Platz zugewiesen; ja mehr noch, es muß sich jetzt der Oberaufsicht, dem freundschaftlich-bevormundenden Einfluß des deutschen Reichs fügen, so wie sich vor 1870 der italienische Staat der Politik Frankreichs unterworfen hat.

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Für die französischen Spekulanten, die auf dem Weltmarkt reichlich Trost finden, ist die Lage wohl recht vorteilhaft, aber unter dem Gesichtspunkt nationaler Eitelkeit, von der doch die Patrioten des französischen Staates so erfüllt sind, alles andere als beneidenswert. Bis 1870 hatte man noch glauben können, diese Eitelkeit sei so groß, daß sie sogar die engstirnigsten und hartnäckigsten Verfechter bürgerlicher Privilegien in die Soziale Revolution zu stürzen vermöge, um nur Frankreich die Schmach zu ersparen, von den Deutschen besiegt und unterworfen zu werden. Aber nach 1870 wird das bereits niemand mehr von ihnen erwarten; jeder weiß, daß sie eher jeglicher Schmach zustimmen, und sei es die Unterwerfung unter den Schutz der Deutschen, als daß sie auf ihre einträgliche Herrschaft über das eigene Proletariat verzichten würden. Es ist wohl klar, daß der französische Staat niemals mehr in seiner früheren Macht wiedererstehen wird. Heißt das aber auch, daß man so einfach behaupten kann, Frankreichs universale und progressive Rolle sei beendet? Keineswegs; es bedeutet nur, daß Frankreich, das als Staat seine Größe unwiderruflich verloren hat, nunmehr neue Größe in der Sozialen Revolution suchen muß. Aber wenn nicht Frankreich, welcher andere Staat in Europa könnte dann mit dem neuen deutschen Reich wetteifern? Sicherlich nicht Großbritannien. Erstens einmal ist England im Grunde genommen niemals ein Staat im strengen und modernen Sinne dieses Wortes gewesen, nämlich im Sinne einer militärischen, polizeilichen und bürokratischen Zentralisation. England repräsentiert eher eine Föderation der privilegierten Interessen, eine autonome Gesellschaft, in welcher zunächst die Bodenaristokratie herrschte, heute aber im Verband mit ihr die Geldaristokratie, eine Gesellschaft, in der aber ebenso wie in Frankreich, wenn auch in etwas anderen Formen, das Proletariat eindeutig und bedrohlich nach wirtschaftlicher und politischer Gleichstellung strebt. Sicherlich ist der Einfluß Englands auf die politischen Angelegenheiten Kontinentaleuropas immer groß gewesen, doch

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beruhte er immer wesentlich mehr auf seinem Reichtum als auf der Organisation seiner militärischen Stärke. Heutzutage hat er sich, wie allgemein bekannt, beachtlich verringert. Noch vor dreißig Jahren hätte England nicht so ruhig die Annexion der rheinischen Departements durch Deutschland, noch den Aufbau der russischen Vormacht am Schwarzen Meer oder den Einmarsch der Russen in Chiva+42 hingenommen. Seine so systematische Nachgiebigkeit ist ein Beweis für seine unzweifelhafte und dazu noch ständig wachsende politische Schwäche. Hauptursache dieser Schwäche ist auch hier der Antagonismus von einfacher Arbeiterschaft und ausbeuterischer, politisch herrschender Bourgeoisie. In England ist die Soziale Revolution wesentlich näher als man denkt, und sie wird auch nirgends so schrecklich sein wie eben dort, weil sie in keinem anderen Land auf einen so verzweifelten und gut organisierten Widerstand stoßen wird. Von Spanien und Italien braucht man schon gar nicht zu reden. Niemals werden sie bedrohliche oder nur starke Staaten werden, nicht etwa, weil es ihnen dazu an materiellen Mitteln fehlte, sondern weil in beiden die Gesinnung des Volkes sie unbeirrbar auf ein völlig anderes Ziel lenkt. Spanien, das durch den katholischen Fanatismus und Despotismus Karls V. und Philipps II. von seinem normalen Weg abgekommen ist und das sich plötzlich im XVI. und XVII. Jahrhundert nicht an der Arbeit des Volkes, sondern am amerikanischen Silber und Gold bereichert hatte, versuchte, den wenig beneidenswerten Ruhm auf seine Schultern zu laden, durch Gewalt eine universale Monarchie zu errichten. Dafür mußte es teuer bezahlen. Denn die Epoche seiner Macht ist zugleich der Anfang seines geistigen, moralischen und materiellen Verfalls. Nach einer kurzen, ungewöhnlich großen Anspannung aller Kräfte, die es für ganz Europa zum Gegenstand des Schreckens und Hasses machte und sogar für einen Augenblick, aber nur für einen einzigen Augenblick, die fortschrittliche Entwicklung der europäischen Gesellschaft aufhalten konnte, hatte es sich plötzlich gleichsam übernommen und verfiel in völlige

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Abstumpfung, Schwäche und Apathie, in der es, durch die ungeheuerliche und idiotische Regierung der Bourbonen endgültig in Schande gebracht, solange verharrte, bis Napoleon I. es mit seinem räuberischen Einfall in spanisches Gebiet+43 aus seinem zweihundertjährigen Schlaf weckte. Es zeigte sich, daß Spanien noch nicht gestorben war. Es rettete sich vor dem Joch der Fremdherrschaft durch einen Volksaufstand und bewies damit, daß die unwissenden und unbewaffneten Volksmassen in der Lage sind, den besten Truppen der Welt Widerstand zu leisten, wenn sie nur von einer starken und einmütigen Leidenschaft beseelt sind. Es bewies sogar noch mehr, nämlich, daß für die Erhaltung der Freiheit, Kraft und Leidenschaft des Volkes die Unwissenheit sogar der bürgerlichen Zivilisation vorzuziehen ist. Vergeblich prahlen die Deutschen und vergleichen ihre nationale Erhebung von 1812 und 1813,+44 die noch längst keine Volkserhebung war, mit der spanischen. Schutzlos lehnten sich die Spanier gegen die ungeheure Macht eines bislang unbesiegten Eroberers auf; die Deutschen dagegen erhoben sich gegen Napoleon erst nach seiner totalen Niederlage, die man ihm in Rußland beigebracht hatte. Davor gab es kein einziges Beispiel, daß irgendein deutsches Dorf oder eine deutsche Stadt gewagt hätte, auch nur den geringsten Widerstand gegen die siegreichen französischen Truppen zu leisten. Die Deutschen sind so an Gehorsam, diese erste Staatstugend, gewöhnt, daß der Wille des Siegers für sie heilig war, sobald er faktisch den der eigenen Staatsgewalt abgelöst hatte. Selbst die preußischen Generäle wiederholten, während sie eine Festung nach der anderen, ihre stärksten Positionen, ihre Städte übergaben, die denkwürdigen und schon sprichwörtlich gewordenen Worte des damaligen Berliner Kommandanten: »Jetzt ist Ruhe die erste Bürgerpflicht.«+45 Nur allein Tirol bildete damals eine Ausnahme. In Tirol stieß Napoleon tatsächlich auf den Widerstand des Volkes.+46 Aber Tirol ist, wie bekannt, der rückständigste und ungebildetste Teil Deutschlands, und sein Beispiel fand in keinem anderen Gebiet des gebildeten Deutschland Nachahmer.

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Eine Volkserhebung, die naturgemäß spontan, chaotisch und unerbittlich ist, erfordert immer große Aufwendungen und Opfer an eigenem und fremdem Gut. Volksmassen sind immer zu solchen Opfern bereit; sie bilden deshalb eine rohe, ungebändigte Kraft, vollbringen wahre Heldentaten und verwirklichen scheinbar unerreichbare Ziele, weil sie nur wenig oder überhaupt kein Eigentum besitzen, also nicht verdorben sind. Wenn zur Verteidigung oder für den Sieg notwendig, schrecken sie auch nicht vor der Vernichtung ihrer eigenen Dörfer und Städte zurück, und da das Eigentum größtenteils fremdes ist, zeigt sich bei ihnen nicht selten eine regelrechte Zerstörungswut. Diese destruktive Leidenschaft reicht zwar als Grundlage einer revolutionären Tat bei weitem nicht aus, aber ohne sie ist eine Revolution undenkbar, unmöglich, denn es kann keine Revolution geben ohne weitreichende, leidenschaftliche Zerstörung, ohne rettende und fruchtbringende Zerstörung, weil nämlich aus ihr und nur durch sie neue Welten entstehen. Eine solche Zerstörung ist mit dem bourgeoisen Bewußtsein, mit der bourgeoisen Zivilisation, unvereinbar, da diese Zivilisation ganz auf der fanatischen Vergötterung des Eigentums beruht. Der Bürger oder Bourgeois wird eher Leben, Freiheit und Ehre opfern, als daß er auf sein Eigentum verzichtete. Ein Anschlag auf sein Eigentum oder dessen Zerstörung zu welchem Zweck auch immer – ja schon der bloße Gedanke daran – erscheint ihm als Sakrileg. Daher wird er niemals der Vernichtung seiner Städte und Häuser zustimmen, selbst wenn die Verteidigung des Landes dies erfordert, und daher hat sich auch die französische Bourgeoisie 1870 und das deutsche Bürgertum bis 1813 den glücklichen Eroberern so leicht ergeben. Wir haben gesehen, daß der bloße Besitz von Eigentum genügte, um das französische Bauerntum zu korrumpieren und in ihm den letzten Funken von Patriotismus auszulöschen. Um also ein letztes Wort über die sogenannte nationale Erhebung Deutschlands gegen Napoleon zu sagen, wiederholen wir erstens, daß sie erst dann erfolgte, als seine besiegten Truppen aus Rußland geflohen waren und die preußischen und an-

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deren deutschen Korps, die noch kurz vorher einen Teil der napoleonischen Armee gebildet hatten, auf die russische Seite übergelaufen waren; zweitens, daß es sogar auch damals in Deutschland nicht eigentlich eine allgemeine Volkserhebung gegeben hat, daß die Städte und Dörfer nach wie vor ruhig blieben und sich nur Freikorps junger Leute bildeten, größtenteils Studenten, die sogleich in den Verband des regulären Heeres eingereiht wurden, was der Methode und dem Geist von Volkserhebungen absolut widerspricht. Mit einem Wort, in Deutschland schritten die jungen Staatsbürger oder genauer, die treuen Untertanen, die von den flammenden Reden ihrer Philosophen mitgerissen und von den Liedern ihrer Dichter begeistert waren, zur Verteidigung und griffen für die Wiederherstellung des deutschen Staates zu den Waffen, denn gerade in dieser Zeit tauchte in Deutschland der Gedanke eines pangermanischen Staates auf. Unterdessen erhob sich das ganze spanische Volk, um sich gegenüber einem unverschämten und mächtigen Räuber der vaterländischen Freiheit und der nationalen Unabhängigkeit zu behaupten. Seither hat Spanien nicht geruht, sondern sich 60 Jahre lang abgeplagt, neue Formen für ein neues Leben zu finden. Was hat das arme Land nicht alles durchgemacht! Von der zweimal wiederhergestellten absoluten Monarchie zur konstitutionellen der Königin Isabella, von Espartero zu Narváez, von Narváez zu Prim und von letzterem zu König Amadeus, Sagasta und Zorilla.+47 Es wollte anscheinend alle nur möglichen Varianten einer konstitutionellen Monarchie ausprobieren, und alle erwiesen sich für Spanien als gleichermaßen eng, verheerend und unmöglich. Als ebenso unmöglich erweist sich heute auch die konservative Republik, d.h. die Herrschaft der Spekulanten, der Reichen und Bankiers unter republikanischen Formen. Und bald wird sich das Gleiche auch bei einer kleinbürgerlichen politischen Föderation in der Art der schweizerischen zeigen. Der Dämon des revolutionären Sozialismus hat von Spanien endgültig Besitz ergriffen. Die Bauern Andalusiens und Estremaduras haben, ohne jemanden zu fragen und ohne auf

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Instruktionen von irgend jemandem zu warten, angefangen, die Ländereien von ehemaligen Grundbesitzern an sich zu reißen. Katalonien mit Barcelona an der Spitze verkündet laut seine Unabhängigkeit und Autonomie. Das Volk von Madrid ruft die föderative Republik aus und lehnt es ab, die Revolution künftigen Erlassen der konstituierenden Versammlung zu unterwerfen. In den nördlichen Provinzen, die sich angeblich in der Gewalt der karlistischen Reaktion befinden,+48 vollzieht sich offen die Soziale Revolution: Man proklamiert die Fueros, die Autonomie der Distrikte und Gemeinden, verbrennt alle Gerichts- und Zivilakten; das Heer verbrüdert sich in ganz Spanien mit dem Volk und verjagt seine Offiziere. Der allgemeine, öffentliche und private Bankrott – die erste Bedingung für eine sozial-ökonomische Revolution – hat begonnen. Mit einem Wort, Zerstörung und endgültiger Verfall; und all das stürzt von allein zusammen, zerschlagen oder von innen verfault. Es gibt kein Finanzwesen, keine Armee, kein Gericht, keine Polizei mehr, keine Staatsgewalt und auch keinen Staat; was bleibt, ist das kraftvolle, frische Volk, das heute von der einen sozialrevolutionären Leidenschaft besessen ist. Unter der gemeinsamen Leitung der Internationale und der Allianz der Sozial-Revolutionäre+49 sammelt und organisiert es seine Kräfte und bereitet sich darauf vor, auf den Trümmern des zerfallenden Staates und der bourgeoisen Welt die eigene Welt des befreiten Arbeiter-Menschen zu gründen. Italien ist der Sozialen Revolution ebenso nahe wie Spanien. Trotz aller Bemühungen konstitutioneller Monarchisten und sogar trotz der heldenhaften, aber vergeblichen Anstrengungen der beiden großen Führer Mazzini und Garibaldi hat auch hier die Idee der Staatlichkeit keine Wurzeln gefaßt und wird dies auch nie tun, da sie dem heutigen Geist und dem ganzen gegenwärtigen instinktiven Verlangen sowie den materiellen Erfordernissen des zahllosen ländlichen und städtischen Proletariats widerspricht. Ebenso wie in Spanien hat sich auch in Italien, das schon lange und vor allem unwiederbringlich die zentralistischen oder

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monarchistischen Traditionen des alten Rom eingebüßt hatte – Traditionen, die sich in den Werken Dantes und Machiavellis und in der neuesten politischen Literatur erhalten haben, aber keineswegs in der lebendigen Erinnerung des Volkes -, nur die Tradition der absoluten Autonomie lebendig erhalten, und zwar nicht die der Provinzen, sondern die der Gemeinden. Fügt man diesem einzigen politischen Begriff, den es eigentlich im Volk gibt, die historisch-ethnographische Verschiedenartigkeit der Landschaften hinzu, in denen so verschiedene Dialekte gesprochen werden, daß die Leute aus der einen Gegend die aus einer andern nur mit Mühe und manchmal überhaupt nicht verstehen, dann wird deutlich, wie weit Italien von der Verwirklichung des neuesten politischen Ideals staatlicher Einheit entfernt ist. Aber das bedeutet keineswegs, daß Italien in einzelne Gemeinden zerfiele. Es gibt im Gegenteil trotz aller Unterschiede in den Mundarten, Sitten und Bräuchen einen gemein-italienischen Charakter und Typ, wonach man sofort den Italiener von einem Menschen anderer Rasse, sogar einer südlichen, unterscheiden kann. Andererseits vereinen echte Gemeinsamkeit materieller Interessen und eine erstaunliche Übereinstimmung der sittlichen und geistigen Bestrebungen alle italienischen Landschaften untereinander aufs engste und schweißen sie zusammen. Es ist aber bemerkenswert, daß all diese Interessen, wie auch diese Bestrebungen, gerade gegen eine gewaltsame politische Einheit gerichtet sind und sich im Gegenteil ganz der Errichtung einer sozialen Einheit zuwenden. Somit kann man sagen und durch unzählige Fakten aus dem gegenwärtigen Leben Italiens beweisen, daß seine gewaltsam herbeigeführte politische oder staatliche Einheit zu einem Zerfall in Einzelgemeinden geführt hat und daß infolgedessen die Zerstörung des modernen italienischen Staates unbedingt den freiwilligen Zusammenschluß seiner Gemeinden zur Folge haben wird. Natürlich gilt dies alles eigentlich nur für die Volksmassen, weil in den höheren Schichten der italienischen Bourgeoisie, genau wie auch in anderen Ländern, mit der staatlichen Ein-

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heit die soziale Einheit der Klasse der privilegierten Ausbeuter der Arbeit des Volkes entstand und sich jetzt immer weiter entwickelt und ausdehnt. Diese Klasse wird jetzt in Italien mit dem Sammelbegriff Consorteria bezeichnet. Die Consorteria umfaßt die gesamte amtliche Welt des Bürokratischen und des Militärischen, des Polizeilichen und des Gerichtlichen, die ganze Welt der Besitzenden, Industriellen, Kaufleute und Bankiers, die Gesamtheit der amtlichen und halbamtlichen Advokaten und Literaten und auch das gesamte Parlament, dessen Rechte gegenwärtig alle Vorteile der Regierung genießt und dessen Linke danach strebt, eben diese Regierung an sich zu reißen. So gibt es in Italien wie überall eine geschlossene und unteilbare politische Welt der Räuber, die das Land im Namen des Staates aussaugen und es zu dessen größerem Nutzen in äußerste Armut und Verzweiflung stürzen. Aber auch das entsetzliche Elend, selbst wenn es viele Millionen Proletarier ergreift, ist noch keine ausreichende Gewähr für eine Revolution. Der Mensch besitzt von Natur aus eine erstaunliche Geduld, die einen manchmal wahrhaftig zur Verzweiflung bringen kann, und erträgt weiß der Teufel was nicht alles, wenn er zur Armut, die ihn zu unerhörten Entbehrungen und zu langsamem Hungertod verdammt, obendrein auch noch mit Stumpfsinn, völliger Unkenntnis seiner Rechte und mit jener unerschütterlichen Gleichgültigkeit und jenem Gehorsam bedacht ist, wodurch sich unter allen Völkern die Inder und die Deutschen besonders auszeichnen. Ein solcher Mensch wird niemals aufbegehren; er wird sterben, aber nicht rebellieren. Aber wenn man ihn erst zur Verzweiflung gebracht hat, dann wird es schon eher möglich, daß er sich empört. Verzweiflung ist ein heftiges, leidenschaftliches Gefühl. Sie reißt den Menschen aus seinem dumpfen, lethargischen Leiden und setzt ein mehr oder weniger klares Bewußtsein von der Möglichkeit einer besseren Lage voraus, von der er nur noch nicht hoffen kann, daß er sie erreicht.

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Schließlich kann niemand lange in Verzweiflung verharren; schnell treibt sie den Menschen entweder in den Tod oder zur Tat. Aber zu welcher Tat? Natürlich zur Befreiung und zum Kampf um bessere Lebensbedingungen. Selbst ein Deutscher hört in Verzweiflung auf zu räsonieren; nur sind viele, sehr viele Kränkungen, Unterdrückungen, Leiden und Übel aller Art notwendig, um ihn zur Verzweiflung zu bringen. Aber auch Armut und Verzweiflung sind zu wenig, um die Soziale Revolution hervorzurufen. Sie können private oder höchstens lokale Revolten auslösen, aber sie reichen nicht aus zur Erhebung ganzer Volksmassen. Dazu bedarf es außerdem noch eines Volksideals, das sich immer historisch aus der Tiefe des Volksinstinktes herausbildet, eines Instinktes, der sich durch eine Kette von Ereignissen sowie schweren und bitteren Erfahrungen formt, erweitert und erhellt, notwendig ist ferner eine allgemeine Vorstellung vom eigenen Recht und ein tiefer, leidenschaftlicher, man kann sagen, religiöser Glaube an dieses Recht. Wenn sich ein solches Ideal und ein solcher Glaube im Volk findet, dazu noch Armut, die es zur Verzweiflung treibt, dann ist die Soziale Revolution unabwendbar und nahe und keine Macht der Welt kann sie verhindern. Eben in dieser Lage befindet sich das italienische Volk. Sein Elend und seine vielfältigen Leiden sind entsetzlich und stehen nur wenig hinter dem Elend und den Leiden des russischen Volkes zurück. Gleichzeitig aber und viel stärker als bei uns hat sich beim italienischen Volk ein leidenschaftliches revolutionäres Bewußtsein entwickelt, das mit jedem Tag klarer und stärker zutage tritt. Das italienische Proletariat – von Natur aus intelligent und leidenschaftlich – beginnt endlich zu begreifen, was es für die vollständige und allgemeine Befreiung braucht und wünschen muß. In dieser Beziehung hat ihm die Propaganda der Internationale, die erst in den letzten beiden Jahren energisch und in großem Maßstab durchgeführt wurde, einen ungeheuren Dienst erwiesen. Sie nämlich gab ihm, oder genauer, erweckte in ihm dieses Ideal, das in groben Zügen von seinem innersten Instinkt vorgezeichnet war und ohne

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das, wie schon gesagt, ein Volksaufstand völlig unmöglich ist,3 wie groß auch immer die Leiden des Volkes sein mögen; sie zeigte ihm das Ziel, das es verwirklichen muß, und wies ihm zugleich Wege und Mittel, die Volksmacht zu organisieren. Dieses Ideal stellt sich dem Volk natürlich in erster Linie als das Ende aller Not dar, das Ende des Elends und die volle Befriedigung aller materiellen Bedürfnisse durch kollektive Arbeit, die für alle obligatorisch und für alle gleich ist; ferner als das Ende der Herren und jeglicher Herrschaft und als freiheitliche Ordnung für das Leben des Volkes, die entsprechend seinen Bedürfnissen nicht von oben nach unten wie im Staat, sondern von unten nach oben durch das Volk selbst, ohne alle Regierungen und Parlamente geschaffen wird; es stellt sich als das freie Bündnis aller Land- und Fabrikarbeitergenossenschaften, der Gemeinden, Provinzen und Völker dar und schließlich, in ferner Zukunft, als die Verbrüderung aller Menschen, eine Verbrüderung, die über den Trümmern aller Staaten triumphiert. Es ist bemerkenswert, daß in Italien wie in Spanien das staatskommunistische Programm von Marx überhaupt keinen Erfolg hatte, sondern daß dagegen das Programm der berüchtigten Allianz oder des Bundes der Sozial-Revolutionäre weithin und begeistert aufgenommen wurde,+50 das jeder Herrschaft, jeder Bevormundung durch die Regierung, jeder Obrigkeit und Autorität den erbitterten Kampf ansagte. Unter diesen Bedingungen kann sich das Volk befreien und sein Leben auf der größtmöglichen Freiheit aller und jedes einzelnen begründen, ohne daß es die Freiheit anderer Völker in irgendeiner Weise mehr bedrohen könnte. Daher ist weder von spanischer noch von italienischer Seite eine Eroberungspolitik zu erwarten, vielmehr kann man mit der baldigen Sozialen Revolution rechnen. Kleine Staaten wie die Schweiz, Belgien, Holland, Dänemark und Schweden werden aus eben diesen Gründen, aber haupt-

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Siehe Anhang (A) am Ende der Einleitung.

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sächlich wegen ihrer geringen politischen Bedeutung, für niemanden bedrohlich, sondern haben im Gegenteil Grund genug, Eroberungen durch das neue deutsche Reich zu befürchten. Bleiben noch Österreich, Rußland und Preußen-Deutschland. Österreich zu erwähnen, bedeutet das nicht, von einem unheilbar Kranken zu sprechen, der sich mit schnellen Schritten dem Tode nähert? Dieses durch dynastische Verbindungen und Waffengewalt geschaffene Imperium, das überdies aus vier unterschiedlichen und einander wenig liebenden Rassen besteht, unter Vorherrschaft der Deutschen, die von den drei anderen einmütig gehaßt werden und ihrer Zahl nach kaum ein Viertel der Gesamtbevölkerung ausmachen, – dieses Imperium also, das zur Hälfte aus Slawen besteht, die die Autonomie fordern und sich in letzter Zeit in zwei Staaten gespalten haben, den madjaro-slawischen und den deutsch-slawischen, konnte sich nur halten, solange in ihm militärisch-polizeilicher Despotismus herrschte. Im Verlauf der letzten 25 Jahre hat es drei Todesstöße erlitten. Die erste Niederlage wurde ihm durch die Revolution von 1848 beigebracht, die dem alten System und der Regierung des Fürsten Metternich ein Ende setzte. Seither erhält es seine altersschwache Existenz mit heroischen Anstrengungen und verschiedenartigsten Stärkungsmitteln. Im Jahre 1849, nach der Rettung durch den Zaren Nikolaus, begann es unter der Leitung des arroganten Oligarchen, Fürst Schwarzenberg,+51 und des slawophilisierenden Jesuiten, Graf Thun,+52 Redaktor des Konkordats, sein Heil in der hoffnungslosesten klerikalen und politischen Reaktion zu suchen und in der Einführung einer vollständigen und unerbittlichen Zentralisierung in all seinen Provinzen, allen nationalen Unterschieden zum Trotz. Aber die zweite Niederlage, die ihm durch Napoleon III. 1859 zugefügt wurde,+53 bewies, daß eine militärisch-bürokratische Zentralisierung es nicht retten kann. Seither begeisterte es sich für den Liberalismus. Aus Sachsen berief es den ungeschickten und glücklosen Rivalen des Fürsten (damals noch Grafen) Bismarck, Baron Beust,+54 und machte sich verzweifelt daran, seine Völker zu befreien, aber es

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wollte gleichzeitig mit der Befreiung auch seine staatliche Einheit retten, d.h. eine einfach unlösbare Aufgabe lösen. Man mußte zu ein und derselben Zeit die vier Hauptrassen des Reiches zufriedenstellen, nämlich die Slawen, Deutschen, Madjaren und Wallachen,4 die sich nicht nur ihrer Natur, ihrer Sprache wie auch ihrem Charakter und Bildungsgrad nach außerordentlich unterscheiden, sondern einander sogar meistens feindlich gesinnt sind und deshalb nur durch den Zwang der Regierung in Staatsbanden gehalten werden können. Man mußte die Deutschen zufriedenstellen, deren Mehrheit nach einer liberal-demokratischen Konstitution strebt, aber gleichzeitig hartnäckig und laut fordert, daß ihnen das alte Recht auf staatliche Vormachtstellung in der österreichischen Monarchie vorbehalten bleibe, ungeachtet dessen, daß sie zusammen mit den Juden nur ein Viertel der Gesamtbevölkerung ausmachen. Ist dies nicht ein neuer Beweis für die Wahrheit, die wir unermüdlich verteidigen, in der Überzeugung, daß die schnellste Lösung aller sozialen Probleme davon abhängt, daß sie allgemein verstanden wird, die Wahrheit nämlich, daß der Staat, und zwar jeder Staat, und sei er auch in die liberalsten und demokratischsten Formen gehüllt, notwendigerweise auf Vormachtstellung, auf Herrschaft, auf Zwang, d.h. auf Despotismus – wenn Sie wollen, auf verstecktem, aber dann um so gefährlicherem – begründet ist. Die Deutschen, Etatisten und Bürokraten, man könnte sagen von Natur aus, stützen ihre Ansprüche auf ihr historisches Recht, nämlich einerseits auf ein Eroberungs- und Gewohnheitsrecht und andererseits auf die Scheinüberlegenheit ihrer

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Auf 36 Millionen Einwohner verteilen sich diese Rassen wie folgt: ca. 16 500 000 Slawen (5 Millionen Polen und Ruthenen, 7 250 000 andere Nordslawen: Tschechen, Mähren, Slowaken und 4 250 000 Südslawen), ca. 5 500 000 Madjaren, 2 900 000 Rumänen, 600 000 Italiener, 9 000 000 Deutsche und Juden und ca. 1500 000 Angehörige anderer Rassen.+55

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Kultur. Am Ende dieses Vorworts werden wir Gelegenheit haben aufzuzeigen, wie weit sich ihre Ansprüche erstrecken. Jetzt wollen wir uns auf die österreichischen Deutschen beschränken, obgleich es sehr schwer ist, ihre Ansprüche von den allgemein-deutschen zu trennen. Die österreichischen Deutschen haben in den letzten Jahren schweren Herzens begriffen, daß sie wenigstens vorläufig auf die Vorherrschaft über die Madjaren verzichten müssen, denen sie schließlich das Recht auf eine selbständige Existenz zugestanden haben. Von allen Rassen, die das österreichische Reich bevölkern, sind die Madjaren nach den Deutschen das staatsbewußteste Volk: Trotz grausamster Verfolgungen und strengster Maßnahmen, durch die sich die österreichische Regierung im Verlauf von neun Jahren, von 1850 bis 1859, bemüht hat, ihren Starrsinn zu brechen, haben sie nicht nur nicht auf ihre nationale Eigenständigkeit verzichtet, sondern immer wieder ein – ihrer Meinung nach ebenso historisches – Recht auf die staatliche Vorherrschaft über alle anderen Rassen, die zusammen mit ihnen das ungarische Königreich bevölkern, behauptet, obwohl sie selbst nicht viel mehr als ein Drittel des gesamten Königreiches ausmachen.5 So zerfiel das unglückliche österreichische Imperium in zwei Staaten fast gleicher Stärke, die nur unter einer Krone vereinigt sind: in den cisleithanischen+57 oder slawisch-deutschen Staat mit 20 500 000 Einwohnern (darunter 7 200 000 Deutsche und Juden, 11 500 000 Slawen und ca. 1 800 000 Italiener und Vertreter anderer Rassen) und in den transleithanischen, ungarischen oder madjaro-slawisch-rumänisch-deutschen Staat. Bemerkenswert ist, daß keiner dieser beiden Staaten, nicht einmal seiner inneren Zusammensetzung nach, irgendeine Gewähr weder für gegenwärtige, noch für künftige Macht bietet.

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Das ungarische Königreich zählt 5 500 000 Madjaren, 5 000 000 Slawen, 2 700 000 Rumänen, 1 800 000 Juden und Deutsche und ca. 500 000 Angehörige anderer Rassen, insgesamt 15 500 000 Einwohner.+56

Im ungarischen Königreich hat sich der Kampf der Rassen untereinander, dieses Grundübel der Österreichischen Monarchie, trotz der liberalen Konstitution und der unbezweifelbaren Geschicklichkeit der madjarischen Regierungen nicht im geringsten beruhigt. Die Mehrheit der Bevölkerung, die den Madjaren unterworfen ist, liebt sie nicht und wird niemals freiwillig bereit sein, ihr Joch zu tragen. Folglich herrscht zwischen diesem Teil der Bevölkerung und den Madjaren ein unaufhörlicher Kampf, wobei die Slawen sich auf die türkischen Slawen stützen und die Rumänen auf das Brudervolk in der Walachei, der Moldau, in Bessarabien und der Bukowina. Die Madjaren, die nur ein Drittel der Bevölkerung ausmachen, müssen notgedrungen Unterstützung und Schutz in Wien suchen; und das kaiserliche Wien, das die gewaltsame madjarische Abtrennung nicht verwinden kann, nährt wie alle altersschwach gewordenen und verfallenden dynastischen Regierungen die heimliche Hoffnung auf die wunderbare Wiederherstellung der verlorenen Macht; es freut sich außerordentlich über diesen inneren Zwist, der es dem ungarischen Königreich nicht erlaubt, sich zu konsolidieren, und schürt heimlich die slawischen und rumänischen Emotionen gegen die Madjaren. Die madjarische Regierung und ihre Politiker wissen das, und als Vergeltung unterhalten sie ihrerseits geheime Beziehungen zu Fürst Bismarck, der einen Krieg gegen das dem Untergang geweihte österreichische Kaiserreich als unvermeidlich voraussieht und mit den Madjaren zu spielen beginnt. Der cisleithanische oder deutsch-slawische Staat befindet sich in einer keineswegs besseren Lage. Dort stellen nicht viel mehr als sieben Millionen Deutsche, einschließlich der Juden, den Anspruch, elfeinhalb Millionen Slawen zu regieren. Natürlich ein seltsamer Anspruch. Man kann sagen, daß seit den ältesten Zeiten die historische Aufgabe der Deutschen war, slawisches Land zu erobern und die Slawen auszurotten, zu unterwerfen oder zu zivilisieren, d.h. sie zu germanisieren oder zu verbürgerlichen. Daraus entstand ein tiefer historischer Haß zwischen diesen beiden Volksstämmen, der von beiden Seiten jeweils durch die besondere Lage bedingt ist.

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Die Slawen hassen die Deutschen, wie alle eroberten, aber nicht ausgesöhnten und in ihrem Herzen nicht unterworfenen Völker ihre Sieger hassen. Die Deutschen hassen die Slawen, wie Herren gewöhnlich ihre Sklaven hassen; sie hassen sie für ihren Haß, den sie, die Deutschen, doch von den Slawen verdient haben; sie hassen die Slawen um jener unfreiwilligen und ständigen Angst willen, die die Slawen mit ihren unauslöschlichen Gedanken an Befreiung und ihrer Hoffnung darauf in ihnen erregen. Wie alle Eroberer fremden Landes und Unterdrücker eines fremden Volkes hassen die Deutschen die Slawen völlig ungerechterweise und verachten sie. Weshalb sie sie hassen, haben wir schon gesagt; und weil die Slawen nicht zu Deutschen werden konnten noch wollten, deshalb verachten sie sie. Es ist bemerkenswert, daß die Preußen- Deutschen den österreichischen Deutschen deshalb die ernstesten und bittersten Vorwürfe machen und die österreichische Regierung beinahe des Verrats bezichtigen, weil sie die Slawen nicht germanisieren konnten. Das stellt nach ihrer Meinung und in der Tat das größte Verbrechen gegen die gesamtdeutschen patriotischen Interessen, gegen den Pangermanismus, dar. Diesem so verhaßten Pangermanismus, der sie bedroht, oder – genauer gesagt – schon jetzt von allen Seiten verfolgt und nur noch nicht ganz vernichtet hat, stellten die österreichischen Slawen mit Ausnahme der Polen einen anderen, ebenso widerlichen Unsinn entgegen, ein Leitbild, das nicht weniger freiheitswidrig und völkervernichtend ist – nämlich den Panslawismus.6

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Wir sind ebenso erklärte Feinde des Panslawismus wie des Pangermanismus und beabsichtigen, dieser unserer Meinung nach außerordentlich wichtigen Frage in einer unserer nächsten Schriften+58 ein besonderes Kapitel zu widmen; jetzt wollen wir nur sagen, daß wir es für die heilige und vordringliche Pflicht der russischen revolutionären Jugend halten, mit allen Kräften und allen nur möglichen Mitteln der panslawistischen Propaganda entgegenzuwirken, die in Rußland und vor allem in den

Wir behaupten nicht, daß alle österreichischen Slawen, ganz abgesehen von den Polen, dieses ebenso abstoßende wie gefährliche Ideal verehrt hätten, dem übrigens auch unter den türkischen Slawen außerordentlich wenig Sympathien entgegengebracht werden trotz aller Umtriebe der unaufhörlich unter ihnen umherschleichenden russischen Agenten. Aber nichtsdestoweniger trifft zu, daß die Hoffnung auf Befreiung und auf einen Befreier aus Petersburg unter den österreichischen Slawen ziemlich stark verbreitet ist. Ein schrecklicher und, wir fügen hinzu, völlig berechtigter Haß machte sie so kopflos, daß sie ihr Heil von unserer allrussischen Zarenknute zu erwarten begannen und dabei alle Not vergessen hatten (oder gar nicht davon wußten), welche Litauen, Polen und Kleinrußland, ja sogar das großrussische Volk unter dem Moskauer und Petersburger Despotismus erleiden. Man darf sich nicht darüber wundern, daß sich solche absurden Erwartungen bei der Masse der Slawen entwickeln konnten. Sie kennen die Geschichte nicht, sie kennen auch die innere Lage Rußlands nicht; sie haben nur gehört, daß sich den Deutschen zum Spott und zum Trotz, ein so mächtiges, gewaltiges und angeblich rein slawisches Imperium gebildet hatte, daß die verhaßten Deutschen vor ihm zittern. Wenn die Deut-

slawischen Ländern von Regierungsagenten in amtlichem Auftrag und Slawophilisierenden aus eigenem Antrieb oder von offiziellen russischen Agenten getrieben wird. Diese Agenten bemühen sich, die unglücklichen Slawen davon zu überzeugen, daß der Petersburger slawische Zar, durchdrungen von glühender väterlicher Liebe zu den slawischen Brüdern, mit dem niederträchtigen, dem Volk verhaßten und verderblichen all-russischen Imperium, welches Kleinrußland und Polen unterdrückt und letzteres sogar zum Teil an die Deutschen verkauft hat, die slawischen Länder vom deutschen Joch befreien kann und will; und das tun sie zu eben der Zeit, da das Petersburger Kabinett ganz Böhmen und Mähren offen an den Fürsten Bismarck verrät und verkauft als Belohnung für die versprochene Hilfe im Osten.

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schen zittern, müssen sich die Slawen freuen; wo die Deutschen hassen, sollten die Slawen lieben. All das ist sehr natürlich. Aber es ist seltsam, traurig und unverzeihlich, daß bei der gebildeten Klasse in den österreichisch-slawischen Ländern eine ganze Partei entstand mit erfahrenen, intelligenten und sachkundigen Leuten an der Spitze, die offen den Panslawismus predigen oder wenigstens, nach Meinung der einen, die Befreiung der slawischen Völker durch das mächtige Eingreifen des russischen Imperiums, nach Meinung der anderen – sogar die Bildung eines slawischen Großreiches unter dem Zepter des russischen Zaren. Es ist bemerkenswert, in welchem Maße es dieser verfluchten deutschen, ihrem Wesen nach bourgeoisen und also staatlichen Zivilisation gelungen ist, sogar slawischen Patrioten in die Seele zu dringen. Sie wurden in eine germanisierte bourgeoise Gesellschaft hineingeboren, lernten auf deutschen Schulen und Universitäten, haben sich angewöhnt, deutsch zu denken, zu fühlen und zu wollen, und wären perfekte Deutsche geworden, wenn das Ziel, das sie verfolgen, nicht antideutsch wäre: Mit deutschen Mitteln und Wegen glauben sie, die Slawen vom deutschen Joch befreien zu können. Da sie wegen ihrer deutschen Erziehung keine andere Methode zur Befreiung kennen als die, slawische Staaten oder einen einzigen mächtigen slawischen Staat zu bilden, setzen sie sich ein absolut deutsches Ziel, denn der moderne zentralisierte, bürokratische und polizeilich-militärische Staat, z.B. in der Art des neuen deutschen oder allrussischen Imperiums, ist eine rein deutsche Schöpfung; in Rußland war ihm früher das tatarische Element beigemischt, aber an tatarischer Liebenswürdigkeit soll es jetzt auch in Deutschland wahrhaftig nicht fehlen. Ihrer Natur und ihrem Wesen nach sind die Slawen ganz und gar keine politische, d.h. keine staatsbewußte Rasse. Vergeblich erinnern die Tschechen an ihr Großmährisches Reich+59 und die Serben an das Reich Dušans.+60 All das sind entweder ephemere Erscheinungen oder alte Fabeln. Richtig ist, daß kein einziges slawisches Volk selbst einen Staat gegründet hat.

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Die polnische Adelsrepublik entstand unter doppeltem, nämlich germanischem und lateinischem Einfluß nach der vollständigen Niederlage des bäuerlichen Volkes (den chlopy) und nachdem man es dem Joch der Schlachtat+61 sklavisch unterworfen hatte, die nach dem Zeugnis und nach Meinung vieler polnischer Historiker und Schriftsteller (u.a. Mickiewicz+62) nicht einmal slawischer Herkunft war. Das böhmische oder tschechische Königreich war rein auf deutsche Art und nach deutschem Vorbild und unter dem unmittelbaren Einfluß der Deutschen geschaffen worden, weshalb Böhmen so früh ein organisches Glied, ein nicht abzutrennender Teil des deutschen Reiches wurde. Und die Geschichte der Entstehung des allrussischen Imperiums kennen alle; hieran waren sowohl die tatarische Knute, als auch der Segen von Byzanz und die bürokratisch-militärische und polizeiliche Aufklärung von Deutschland beteiligt. Das arme großrussische Volk und später auch die ihm angeschlossenen anderen Völker Kleinrußlands, Litauens und Polens hatten an seiner Gründung nur mit gebeugtem Rücken teil. Es besteht also kein Zweifel, daß die Slawen niemals selbst, aus eigener Initiative, einen Staat geschaffen haben, und zwar deshalb nicht geschaffen, weil sie niemals ein Eroberervolk gewesen sind. Nur Eroberervölker gründen Staaten, und zwar unbedingt zum eigenen Vorteil und den unterworfenen Völkern zum Schaden. Die Slawen waren vor allem ein friedliebendes Bauernvolk. Militärischer Geist, der die germanischen Völker beseelte, war ihnen fremd; eben deshalb waren ihnen auch jene etatistischen Bestrebungen fremd, die sich bei den Germanen schon frühzeitig gezeigt haben. Die Slawen lebten einzeln und unabhängig in ihren Gemeinden, die nach patriarchalischer Sitte von den Ältesten – übrigens nach dem Wahlprinzip – verwaltet wurden, und nutzten alle in gleicher Weise das Gemeindeland, hatten und kannten also auch keinen Adel, ja noch nicht einmal eine Priesterkaste; sie waren untereinander alle gleich und verwirklichten somit, freilich noch auf patriarchalische und

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folglich unvollkommenste Art und Weise, die Idee der Brüderlichkeit unter den Menschen. Es gab noch keine politischen dauerhaften Beziehungen zwischen den Gemeinden. Wenn aber eine allgemeine Gefahr drohte, z.B. der Einfall eines fremden Volkes, dann schlossen sie vorübergehend ein Verteidigungsbündnis; kaum war aber die Gefahr vorbei, so war auch dieser Schatten einer politischen Vereinigung wieder verschwunden. Also gab es keinen slawischen Staat und konnte es auch keinen geben. Dafür bestand aber ein gemeinschaftliches, brüderliches Band zwischen allen slawischen Völkern, die ja im höchsten Maße gastfreundlich sind. Es ist natürlich, daß die Slawen sich bei einer solchen Organisation gegenüber Einfällen und Eroberungen kriegerischer Völker als wehrlos erwiesen, besonders gegenüber den Germanen, die danach strebten, ihre Herrschaft überall auszubreiten ... Die Slawen wurden zum Teil ausgerottet, größtenteils aber von den Türken, Tataren und Madjaren und vor allem von den Deutschen unterjocht. In der zweiten Hälfte des X. Jahrhunderts beginnt die qualvolle Geschichte ihrer Knechtschaft, aber nicht nur die qualvolle, sondern auch die heroische Geschichte. In dem jahrhundertelangen, ununterbrochenen und zähen Kampf gegen die Eroberer haben sie viel Blut für die Freiheit ihres Landes vergossen. Schon im XI. Jahrhundert stoßen wir auf zwei Ereignisse: den allgemeinen Aufstand der slawischen Heiden, die zwischen Oder, Elbe und Ostsee wohnten, gegen die deutschen Ritter und Geistlichen und den ebenso berühmten Aufstand der großpolnischen Bauern gegen die Herrschaft der Schlachta. Danach, bis zum XV. Jahrhundert, wurde ein unmerklicher, aber unaufhörlicher Kleinkrieg der Westslawen gegen die Deutschen, der Südslawen gegen die Türken und der Nordostslawen gegen die Tataren geführt. Im XV. Jahrhundert begegnen wir der großen und diesmal erfolgreichen, ebenfalls allein vom Volk getragenen Revolution der tschechischen Hussiten.+63 Wir lassen ihre religiösen Grundsätze beiseite, die jedoch, nebenbei gesagt, dem Prinzip

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der Brüderlichkeit unter den Menschen und der nationalen Freiheit viel näher waren als den katholischen und den diesen folgenden protestantischen Grundsätzen, und wollen die Aufmerksamkeit auf den rein sozialen und antistaatlichen Charakter dieser Revolution lenken. Dies war eine Rebellion der slawischen Obščina+64 gegen den deutschen Staat. Im XVII. Jahrhundert erlitten die Hussiten durch den mehrfachen Verrat des halb germanisierten Prager Kleinbürgertums eine endgültige Niederlage. Fast die Hälfte der tschechischen Bevölkerung wurde vernichtet und die Ländereien an die Kolonisten aus Deutschland abgegeben.+65 Die Deutschen und mit ihnen die Jesuiten triumphierten, und nach dieser blutigen Niederlage verharrte die westslawische Welt gut zwei Jahrhunderte lang reglos und stumm unter dem Joch der katholischen Kirche und des triumphierenden Deutschtums. Zur gleichen Zeit fristeten die Südslawen ein Sklavendasein unter der Vorherrschaft des madjarischen Volkes beziehungsweise unter dem Joch der Türken. Aber dafür flackerte im Nordosten ein slawischer Aufstand im Namen eben dieser Prinzipien der Volksgemeinde auf. Ganz abgesehen vom verzweifelten Kampf Großnovgorods, Pleskaus und anderer Provinzen gegen die Moskauer Zaren im XVI. Jahrhundert, abgesehen auch von der verbündeten Landwehr des großrussischen Zemstvo gegen den polnischen König, die Jesuiten, die Moskauer Bojaren und überhaupt gegen die Vorherrschaft Moskaus Anfang des XVII. Jahrhunderts, sei an den berühmten Aufstand der kleinrussischen und der litauischen Bevölkerung gegen die polnische Schlachta erinnert und an den unmittelbar darauffolgenden noch entscheidenderen Aufstand der Wolgabauern unter Stepan Razin und schließlich an den nicht weniger berühmten Aufstand Pugačevs vor 100 Jahren.+66 Und in all diesen reinen Volksbewegungen, Volkserhebungen und Volksaufständen finden wir den gleichen Haß auf den Staat, das gleiche Streben, eine freie bäuerliche Dorfgemeinschaft zu schaffen. Das XIX. Jahrhundert schließlich kann für das slawische Volk als das Jahrhundert des allgemeinen Erwachens bezeichnet wer-

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den. Von Polen gibt es nichts zu sagen. Es hat nie geschlafen, denn seit man ihm seine Freiheit geraubt hat, freilich nicht eine des Volkes, sondern die der Schlachta und des Staates, seit seiner Teilung unter die drei räuberischen Großmächte, hat es nicht aufgehört zu kämpfen, und was auch immer die Murav'evs+67 und Bismarcks tun mögen, es wird rebellieren, so lange bis es sich zur Freiheit durchrebelliert hat. Zu Polens Unglück sind die Parteien, die es lenken, bis jetzt noch überwiegend von der Schlachta beeinflußt; sie brachten es nicht fertig, auf ihr Staatsprogramm zu verzichten, und anstatt die Befreiung und Erneuerung ihrer Heimat in der sozialen Revolution zu suchen, suchen sie sie – den alten Traditionen gehorchend – bald im Schutz irgendeines Napoleon, bald im Bund mit Jesuiten und österreichischen Feudalherren. Aber in unserem Jahrhundert erwachten auch die West- und Südslawen. Allen deutschen politischen, polizeilichen und zivilisatorischen Anstrengungen zum Trotz erwachte Böhmen nach dreihundertjährigem Schlaf wieder als rein slawisches Land und wurde zum natürlichen Mittelpunkt der ganzen westslawischen Bewegung. Mittelpunkt der südslawischen Bewegung wurde das türkische Serbien. Mit dieser Wiedergeburt der slawischen Völker stellt sich eine außerordentlich wichtige und, man kann sagen, schicksalhafte Frage. Wie soll diese slawische Wiedergeburt vor sich gehen? Auf dem alten Weg der staatlichen Vorrangstellung oder durch die tatsächliche Befreiung aller Völker, wenigstens der europäischen, eine Befreiung nämlich des gesamten europäischen Proletariats von jeglichem Joch und vor allem vom staatlichen? Sollen und können die Slawen dem fremden und vor allem dem ihnen am meisten verhaßten deutschen Joch dadurch entgehen, daß sie sich der deutschen Methode der Eroberung und Annexion bedienen, der Methode, die besiegten Volksmassen zu einer verhaßten, früher deutschen, jetzt slawischen Untertänigkeit zu zwingen, oder können sie sich nur auf dem Wege eines solidarischen Aufstands des gesamten europäischen Proletariats in der Sozialen Revolution retten? 154

Die ganze Zukunft der Slawen hängt davon ab, welchen der beiden Wege sie wählen werden. Für welchen sollen sie sich aber entscheiden? Diese Frage stellen, bedeutet nach unserer Überzeugung sie lösen. Entgegen dem weisen Ausspruch des Königs Salomon wiederholt sich das Alte nie. Der moderne Staat, der erst die alte Idee der Herrschaft vollkommen verwirklicht hat, ebenso wie das Christentum die letzte Form des theologischen Glaubens oder der religiösen Knechtschaft verwirklicht, – der bürokratische, militärisch-polizeiliche und zentralistische Staat, der aus der Notwendigkeit seines inneren Wesens danach strebt, alles, was um ihn herum existiert, lebt, sich bewegt und atmet, an sich zu reißen, zu unterwerfen und zu ersticken, -- dieser Staat, der seinen letzten Ausdruck im pangermanischen Reich gefunden hat, liegt jetzt in den letzten Zügen. Seine Tage sind gezählt, und von seinem Fall erwarten alle Völker ihre endgültige Befreiung. Ist es den Slawen wirklich beschieden, die den Menschen und Völkern verhaßte und schon jetzt von der Geschichte verurteilte Lösung zu wiederholen? Und wozu? Ehre bringt es wahrhaftig nicht ein, ist, im Gegenteil, ein Verbrechen, eine Schmach, ein Fluch der Zeitgenossen und der Nachkommen. Oder erschien es den Slawen beneidenswert, daß sich die Deutschen den Haß aller übrigen Völker Europas erworben hatten? Oder gefällt ihnen die Rolle des Weltenlenkers? Hol der Teufel alle Slawen mit ihrer ganzen militärischen Zukunft, wenn sie nach den langen Jahren der Knechtschaft, der Qual und des Schweigens der Menschheit neue Ketten bringen sollten! Und welchen Nutzen haben die Slawen? Welchen Nutzen können die slawischen Volksmassen aus der Bildung eines großen slawischen Staats ziehen? In solchen Staaten liegt unzweifelhaft ein Vorteil, aber nur nicht für die vielen Millionen des Proletariats, sondern für eine privilegierte klerikale, adlige, bourgeoise oder womöglich auch intellektuelle Minderheit, d.h. eine solche, die sich im Namen ihrer patentierten Gelehrsamkeit und ihrer scheinbaren geistigen Überlegenheit für berufen

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hält, die Massen zu lenken. Einen Vorteil gibt es nur für einige tausend Unterdrücker, Henker und Ausbeuter des Proletariats. Für das Proletariat selbst, für die Masse der einfachen Arbeiter, sind die Ketten um so schwerer und die Gefängnisse um so enger, je größer der Staat ist. Wir haben oben gesagt und bewiesen, daß eine Gemeinschaft kein Staat sein und bleiben kann, wenn sie sich nicht in einen Erobererstaat verwandelt. Dieselbe Konkurrenz, die auf wirtschaftlichem Gebiet die kleineren und sogar mittleren Kapitalien, Industrieunternehmen, Besitzungen und Handelshäuser vernichtet und verschlingt zugunsten riesiger Kapitalien, Fabriken, Güter und Handelshäuser, die vernichtet und verschlingt auch kleine und mittlere Staaten zugunsten von Imperien. Von nun an muß jeder Staat unbedingt ein Erobererstaat sein, wenn er wirklich, selbständig und unabhängig bestehen will und nicht nur auf dem Papier existieren und von der Gnade seiner Nachbarn abhängen will, so lange es denen gefällt, seine Existenz zu dulden. Aber ein Erobererstaat sein bedeutet, gezwungen sein, viele Millionen eines andern Volkes in gewaltsamer Unterordnung zu halten. Dafür ist der Aufbau einer riesigen Militärmacht unerläßlich. Und wo Militärmacht triumphiert, da leb wohl, Freiheit! und vor allem Freiheit und Wohlstand des arbeitenden Volkes. Daraus folgt, daß die Gründung eines großen slawischen Staates nichts anderes ist als weitgehende Versklavung des slawischen Volkes. »Aber einen einzigen großen slawischen Staat – das wollen wir nicht«, werden uns die slawischen Etatisten antworten, »wir wünschen uns nur die Bildung einiger rein slawischer Staaten mittlerer Größe als unerläßliche Gewähr für die Unabhängigkeit der slawischen Völker.« Aber diese Meinung widerspricht der Logik und den historischen Fakten, den Sachzwängen; jetzt kann kein Staat mittlerer Größe selbständig existieren. Also wird es entweder keinen slawischen Staat geben oder einen riesigen, alles verschlingenden panslawischen Sanktpetersburger Knutenstaat.

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Kann ein slawischer Staat gegen die ungeheure Macht des neuen pangermanischen Imperiums kämpfen, wenn er nicht selbst genauso gewaltig und mächtig ist? Man darf niemals mit der gemeinsamen Aktion vieler einzelner, nur durch Interessen verbundener Staaten rechnen: erstens, weil eine Vereinigung ungleichartiger Organisationen und Kräfte immer schwächer ist, selbst wenn sie den Kräften der Gegner zahlenmäßig gleich oder sogar überlegen ist, weil diese letzteren homogen und dadurch, daß sie nur einem einzigen Willen gehorchen, straffer und einfacher organisiert sind; zweitens, weil man niemals mit dem einmütigen Zusammenwirken vieler Mächte rechnen darf, selbst dann nicht, wenn ihre eigenen Interessen ein solches Bündnis verlangen. Staatsoberhäupter sind genau wie auch die einfachen Sterblichen meistens mit Blindheit geschlagen, die sie daran hindert, über die Interessen und Leidenschaften hinaus auch nur für einen Augenblick die wesentlichen Erfordernisse ihrer eigenen Lage zu sehen. 1863 lag es im unmittelbaren Interesse Frankreichs, Englands, Schwedens und sogar Österreichs, für Polen und gegen Rußland einzutreten, aber niemand tat es. 1864 schrieb ein noch unmittelbareres Interesse England, Frankreich, besonders Schweden und sogar Rußland vor, für Dänemark einzutreten, das von einer preußisch-österreichischen, ja im Grunde genommen von einer preußisch-deutschen Eroberung bedroht war, und wieder tat es niemand. Schließlich hätten 1870 England, Rußland und Österreich, ganz zu schweigen von den kleinen nordischen Staaten, in ihrem offensichtlichen Interesse der siegreichen Invasion preußisch-deutscher Truppen in Frankreich – bis Paris und fast bis ganz in den Süden – Einhalt gebieten müssen; aber auch diesmal mischte sich niemand ein, und erst als die neue, alles bedrohende deutsche Macht entstanden war, begriffen die Mächte, daß sie hätten eingreifen müssen, aber da war es schon zu spät.+68 Man darf also nicht auf die Vernunft der Regierungen in den Nachbarländern bauen; auf seine eigenen Kräfte muß man bauen, und diese Kräfte müssen wenigstens denen des Gegners

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entsprechen. Folglich wird kein einziger slawischer Staat für sich genommen in der Lage sein, sich dem Ansturm des pangermanischen Reiches zu widersetzen. Könnte man aber nicht der pangermanischen Zentralisation eine panslawische Föderation gegenüberstellen, d.h. einen Bund selbständiger slawischer Staaten in der Art des nordamerikanischen oder schweizerischen? Auch diese Frage müssen wir negativ beantworten. Damit irgendein Bund entstehen kann, ist es erstens unerläßlich, daß das allrussische Reich zusammenbricht und in viele einzelne, voneinander unabhängige und nur föderativ miteinander verbundene Staaten zerfällt, weil es einfach undenkbar ist, die Unabhängigkeit und Freiheit kleinerer oder sogar mittlerer slawischer Staaten in einem solchen föderativen Bund zu wahren, so lange das Reich so groß ist. Angenommen sogar, das Petersburger Reich zerfällt in eine mehr oder weniger große Anzahl von freien Staaten und Polen, Böhmen, Serbien, Bulgarien usw., die ihrerseits als selbständige Staaten organisiert sind, bilden mit diesen neuen russischen Staaten eine große slawische Föderation – auch in diesem Fall, behaupten wir, wird diese Föderation nicht in der Lage sein, gegen die pangermanische Zentralisation anzukämpfen, und zwar aus dem einfachen Grunde, weil die militärisch-staatliche Macht immer auf der Seite der Zentralisation ist. Eine Föderation von Staaten kann bis zu einem gewissen Grad bourgeoise Freiheit garantieren, kann aber keine staatlich-militärische Macht schaffen, eben weil sie eine Föderation ist; staatliche Macht erfordert notwendig Zentralisierung. Man wird uns auf das Beispiel der Schweiz und der Vereinigten Staaten hinweisen. Aber die Schweiz strebt gegenwärtig gerade wegen der Vergrößerung ihrer militärischen und staatlichen Kräfte offen nach Zentralisierung,+69 und die Föderation war bis jetzt in Nordamerika nur deshalb möglich, weil es auf dem amerikanischen Kontinent in der Nachbarschaft der großen Republik keinen einzigen mächtigen zentralisierten Staat in der Art Rußlands, Deutschlands oder Frankreichs gibt.

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Um also auf staatlichem oder politischem Gebiet dem triumphierenden Pangermanismus entgegenzuwirken, bleibt nur ein Mittel: einen panslawischen Staat zu schaffen. Das Mittel ist aber in allen anderen Beziehungen außerordentlich ungünstig für die Slawen, weil es notwendigerweise eine gesamtslawische Knechtschaft unter allrussischer Knute nach sich zieht. Aber ist dieses Mittel wenigstens richtig im Hinblick auf sein Ziel, nämlich den Sturz der deutschen Macht und die Unterwerfung der Deutschen unter das panslawische, d.h. das kaiserliche Petersburger Joch? Nein, nicht nur nicht richtig, sondern sogar sicher unzureichend. Gewiß gibt es in Europa nur 50 ½ Millionen Deutsche (natürlich einschließlich der 9 Millionen österreichischen Deutschen). Aber angenommen, der Traum der deutschen Patrioten erfüllte sich endgültig, und zum deutschen Reich kämen noch der gesamte flämische Teil Belgiens, Holland, die deutsche Schweiz, ganz Dänemark und sogar Schweden mit Norwegen hinzu, was insgesamt eine Bevölkerung von etwas mehr als 15 Millionen ausmachte, was dann? Selbst dann gäbe es in Europa höchstens 66 Millionen Deutsche und ungefähr 90 Millionen Slawen. Also sind die Slawen zahlenmäßig stärker als die Deutschen, und obwohl die slawische Bevölkerung Europas der deutschen zahlenmäßig um fast ein Drittel überlegen ist, behaupten wir dennoch, daß sich der panslawische Staat niemals an Macht und tatsächlicher staatlich-militärischer Stärke mit dem pangermanischen Imperium messen kann. Warum nicht? Weil im deutschen Blut, im deutschen Instinkt, in der deutschen Tradition eine Leidenschaft für staatliche Ordnung und staatliche Disziplin liegt; den Slawen dagegen fehlt es nicht nur an dieser Leidenschaft; sie sind vielmehr von ganz entgegengesetzten Leidenschaften erfüllt; um die Slawen zu disziplinieren, muß man sie unter dem Knüppel halten, während jeder Deutsche den Knüppel küßt, freiwillig und aus Überzeugung, Seine Freiheit besteht gerade darin, daß er gedrillt ist und sich gern vor jeglicher Obrigkeit verbeugt. Zudem sind die Deutschen ein ernsthaftes und arbeitsames Volk; sie sind gelehrt, sparsam, ordnungsliebend, genau

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und berechnend, was sie nicht daran hindert, sich, wenn nötig, d.h. wenn es die Obrigkeit will, hervorragend zu schlagen. Sie haben das in den letzten Kriegen bewiesen. Überdies ist ihre militärische und administrative Organisation im höchsten Grad perfektioniert, in einem Grad, den kein anderes Volk je erreichen wird. Ist es somit vorstellbar, daß die Slawen mit ihnen auf dem Feld der Staatlichkeit wetteifern können! Die Deutschen suchen ihr Leben und ihre Freiheit im Staat; für die Slawen dagegen ist der Staat ein Sarg. Die Slawen müssen ihre Befreiung außerhalb des Staates suchen, nicht nur im Kampf gegen den deutschen Staat, sondern im allgemeinen Volksaufstand gegen jeglichen Staat, in der Sozialen Revolution. Die Slawen können sich befreien, können den ihnen verhaßten deutschen Staat zerstören, aber nicht in dem nutzlosen Bestreben, die Deutschen ihrer Vorherrschaft zu unterwerfen, sie zu Sklaven ihres slawischen Staates zu machen, sondern nur, indem sie sie auf den Ruinen aller jetzt bestehenden Staaten zur allgemeinen Freiheit und zur allgemeinen Brüderlichkeit unter den Menschen aufrufen. Aber Staaten stürzen nicht von selbst ein; stürzen kann sie nur die Revolution aller Völker und Stämme, die internationale Soziale Revolution. Die Kräfte des Volkes für eine solche Revolution zu organisieren – das ist die einzige Aufgabe derer, denen die Befreiung der Slawen von langjährigem Joch wirklich am Herzen liegt. Als fortschrittliche Leute müssen sie begreifen, daß eben das, was in der Vergangenheit die Schwäche der Slawen ausmachte, nämlich ihre Unfähigkeit, einen Staat zu bilden, heutzutage ihre Stärke ist, ihnen ein Anrecht auf die Zukunft und all ihren echten Volksbewegungen Sinn gibt. Trotz der ungeheuren Entwicklung der modernen Staaten, ja als Folge dieser endgültigen Entwicklung, die übrigens vollkommen logisch und mit unbedingter Notwendigkeit gerade das Prinzip der Staatlichkeit ad absurdum geführt hat, wurde klar, daß die Tage des Staates und der Staatlichkeit gezählt sind, und daß sich die Zeiten für eine völlige Befreiung der Arbeitermassen nähern: die Zeiten ihrer freien gesellschaftlichen Organisation von unten nach oben,

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ohne jede Einmischung einer Regierung; einer Organisation, die auf freien wirtschaftlichen Bündnissen unter den Völkern, ungeachtet aller alten Staatsgrenzen und aller nationalen Unterschiede auf der einen Grundlage beruht, und zwar der Grundlage produktiver, ganz vermenschlichter und bei aller Vielfalt völlig solidarischer Arbeit. Die fortschrittlichen Slawen müssen schließlich auch begreifen, daß die Zeit vorbei ist, in der man unschuldig mit der slawischen Philologie spielte, und daß es nichts Unsinnigeres und zugleich Schädlicheres, nichts Verderblicheres für das Volk gibt, als das Pseudoprinzip der Nationalität als Ideal aller Bestrebungen des Volkes aufzustellen. Die Nationalität ist kein allgemein menschliches Prinzip, sondern eine historische, lokale Tatsache, die wie alle wirklichen und harmlosen Tatsachen unbezweifelbar ein Anrecht auf allgemeine Anerkennung hat. Jedes Volk oder sogar jedes ganz kleine Volk hat seinen Charakter, seine besondere Art zu existieren, zu sprechen, zu fühlen, zu denken und zu handeln; und dieser Charakter, diese Art, die gerade das Wesen der Nationalität ausmachen, ergeben sich aus dem gesamten historischen Leben und aus allen Lebensbedingungen des Volkes. Jedes Volk ist genau wie jedes Individuum nolens volens das, was es ist, und hat das unbestreitbare Recht, es selbst zu sein. Darin besteht das ganze sogenannte nationale Recht. Wenn aber ein Volk oder ein Individuum nur auf eine Art und nicht anders existieren kann, so folgt daraus noch nicht, daß das Volk oder das Individuum das Recht oder gar einen Nutzen davon hätte, Nationalität beziehungsweise Individualität als besondere Prinzipien hinzustellen, und daß sie sich damit ewig herumschlagen müßten. Im Gegenteil, je weniger sie an sich selbst denken, und je mehr sie von allgemeinmenschlicher Substanz durchdrungen sind, um so mehr belebt sich die Nationalität des einen und die Individualität des anderen und um so mehr bekommen beide Sinn. Das gilt auch für die Slawen. Sie werden so lange äußerst arm und unbedeutend bleiben, wie sie fortfahren, sich um ihr

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enges egoistisches und zugleich abstraktes Slawentum zu kümmern, das nebensächlich ist und damit der Sache der gesamten Menschheit im Wege steht, und sie werden sich nur dann als Slawen ihren rechtmäßigen Platz in der Geschichte und in der freien Bruderschaft der Völker erobern, wenn sie zusammen mit den anderen von einem universalen Interesse durchdrungen sind. Zu allen Zeiten der Geschichte hat es ein allgemeinmenschliches Interesse gegeben, das alle anderen mehr privaten und ausschließlich nationalen Interessen überwiegt; und vor allem diejenigen Völker werden zu historischen Völkern, die sich berufen fühlen, d.h. genügend Einsicht, Enthusiasmus und Kraft haben, um sich ihm ausschließlich zu widmen. Es waren unterschiedliche Interessen, die auf diese Weise zu den verschiedenen Epochen der Geschichte vorgeherrscht haben. So gab es, um nicht zu weit zu gehen, ein nicht so sehr menschliches als vielmehr göttliches Interesse, das eben deshalb der Freiheit und dem Wohlergehen der Völker im Wege stand, nämlich das dominierende und äußerst aggressive Interesse des katholischen Glaubens und der katholischen Kirche; und diejenigen Völker, die sich ihm damals am bereitwilligsten ergaben, nämlich die Deutschen, Franzosen, Spanier und zum Teil die Polen, wurden gerade dadurch tonangebend, jeder in seiner Sphäre. Es folgt eine andere Periode geistiger Wiedergeburt und religiösen Aufruhrs. Mit der Renaissance und ihrem allgemeinmenschlichen Interesse rückten vor allem die Italiener auf den ersten Platz; dann folgten die Franzosen und in größerem Abstand die Engländer, Holländer und Deutschen. Aber der religiöse Aufstand, der schon früher Südfrankreich in Unruhe versetzt hatte, brachte im XV. Jahrhundert unsere slawischen Hussiten ins Rampenlicht. Nach hundertjährigem heroischen Kampf wurden die Hussiten niedergeworfen, ebenso wie vor ihnen die französischen Albigenser.+70 Dann brachte die Reformation Leben in die Völker Deutschlands, Frankreichs, Englands, Hollands, der Schweiz und Skandinaviens. In Deutschland verlor sie sehr bald den Charakter einer Rebellion, die ja

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deutschem Temperament fremd ist, und nahm die Gestalt einer friedlichen Staatsreform an, die unverzüglich dem wahrsten, systematischsten und weisesten Staatsdespotismus als Grundlage diente. In Frankreich wurde sie nach langen und blutigen Kämpfen, die nicht wenig zur Entwicklung des freien Denkens in diesem Land beitrugen, vom siegreichen Katholizismus niedergeschlagen. Dagegen schuf die Reformation in Holland, in England und danach auch in den Vereinigten Staaten von Amerika eine neue Zivilisation, die ihrem Wesen nach antistaatlich, jedoch bürgerlich-ökonomisch und liberal war. So erzeugte die religiöse Bewegung der Reformation, die im XVI. Jahrhundert fast ganz Europa erfaßt hatte, in der zivilisierten Welt zwei Haupttendenzen: die ökonomisch- und liberal-bourgeoise, hauptsächlich mit England und später mit England und Amerika an der Spitze, und die despotisch-staatliche, ihrem Wesen nach zwar auch bourgeoise und protestantische Richtung, allerdings mit einem Element katholischen Adels vermischt und im übrigen völlig dem Staat unterworfen. Hauptvertreter dieser Richtung waren Frankreich und Deutschland – anfangs das österreichische, dann das preußische. Die Große Revolution, durch die das Ende des XVIII. Jahrhunderts gekennzeichnet wird, rückte Frankreich wieder an die allererste Stelle. Sie schuf ein neues, allgemein menschliches Interesse, das Ideal der völligen Freiheit des Menschen, allerdings auf ausschließlich politischem Terrain; dieses Ideal trug einen unlösbaren Widerspruch in sich und war deshalb nicht zu verwirklichen. Politische Freiheit ohne wirtschaftliche Gleichheit und überhaupt politische Freiheit, d.h. Freiheit im Staate, ist eine Lüge. So brachte auch die Französische Revolution zwei Hauptströmungen hervor, die einander zuwiderlaufen, sich ewig bekämpfen und doch untrennbar sind, besser gesagt, sich notwendigerweise bei der Verfolgung ein und desselben Zieles begegnen – nämlich der systematischen Ausbeutung des einfachen Arbeiterproletariats zugunsten einer besitzenden, zah-

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lenmäßig allmählich abnehmenden, zugleich aber immer reicher werdenden Minderheit. Auf dieser Ausbeutung der Arbeit des Volkes möchte die eine Partei eine demokratische Republik aufbauen, die andere, etwas konsequentere, trachtet danach, auf ihr einen monarchischen, d.h. offenen Staatsdespotismus zu gründen, einen zentralistischen, bürokratischen Polizeistaat, eine Militärdiktatur, die sich nur notdürftig hinter unschuldigen konstitutionellen Formen verbirgt. Die erste dieser beiden Parteien unter der Führung von Gambetta versucht jetzt, die Macht in Frankreich an sich zu reißen. Die zweite, unter Führung von Fürst Bismarck, hat sich die Herrschaft in Preußen-Deutschland schon völlig angeeignet. Es ist schwer zu sagen, welche der beiden Strömungen nützlicher für das Volk ist, oder genauer gesagt, welche der beiden das geringere Übel für das Volk, für die Masse der einfachen Arbeiter, für das Proletariat darstellt. Beide trachten mit gleich hartnäckiger Leidenschaft danach, einen starken Staat zu gründen oder zu festigen, d.h. das Proletariat völlig zu versklaven. Gegen diese volksunterdrückenden, staatlichen, republikanischen und neomonarchistischen Strömungen, die von der großen bürgerlichen Revolution von 1789 und 1793 hervorgebracht wurden, hat sich aus dem Innersten des Proletariats, anfangs des französischen und österreichischen und dann auch der andern Länder Europas, schließlich eine ganz neue Strömung herausgebildet, die direkt auf die Zerstörung jeglicher Ausbeutung und jeglicher politischen oder juristischen Unterdrückung sowie Unterdrückung durch Regierung und Verwaltung abzielt, d.h. auf die Zerstörung aller Klassen durch die wirtschaftliche Gleichmachung aller Verhältnisse und die Zerstörung ihrer letzten Stütze, des STAATES. Das ist das Programm der Sozialen Revolution. So gibt es gegenwärtig für alle Länder der zivilisierten Welt nur eine universale Frage, ein weltweites Interesse: die völlige und endgültige Befreiung des Proletariats von wirtschaftlicher

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Ausbeutung und staatlichem Joch. Es ist offensichtlich, daß dieses Problem ohne entsetzliche, blutige Kämpfe nicht gelöst werden kann und daß die gegenwärtige Lage, ja die Bedeutung jeden Volkes von Richtung, Charakter und Ausmaß seiner Anteilnahme an diesen Kämpfen abhängen wird. Ist es infolgedessen nicht klar, daß die Slawen ihr Recht und ihren Platz in der Geschichte und im brüderlichen Bündnis der Völker nur durch die Soziale Revolution finden und erobern können? Aber die Soziale Revolution kann nicht eine Einzelrevolution eines einzigen Volkes sein; sie ist ihrem Wesen nach eine internationale Revolution, d.h. die Slawen, die ihre Freiheit suchen, müssen um dieser ihrer Freiheit willen ihre Bemühungen und die Organisation ihrer nationalen Kräfte mit den Bemühungen und der Organisation der nationalen Kräfte aller anderen Länder verbinden. Das slawische Proletariat muß massenhaft der Internationalen Arbeiterassoziation beitreten. Wir hatten schon Gelegenheit, an die großartige Demonstration internationaler Brüderlichkeit 1868 durch die Wiener Arbeiter zu erinnern, die sich trotz aller Überredungskünste von österreichischen und schwäbischen Patrioten weigerten, die pangermanische Fahne hochzuhalten, und entschieden erklärten, daß die Arbeiter der ganzen Welt ihre Brüder seien und sie kein anderes Lager anerkennten als das internationale solidarische Proletariat aller Länder. Sie haben zugleich ganz richtig argumentiert, daß gerade sie als österreichische Arbeiter keinerlei nationale Flagge hissen dürften, da das österreichische Proletariat aus den verschiedensten Völkern bestehe: aus Madjaren, Italienern, Rumänen und vor allem Slawen und Deutschen, und daß sie deshalb die praktische Lösung ihrer Probleme außerhalb des sogenannten Nationalstaates suchen müßten. Noch einige Schritte weiter in dieser Richtung und die österreichischen Arbeiter würden begreifen, daß innerhalb eines Staates keine Befreiung des Proletariats möglich ist und daß die erste Bedingung für eine Befreiung die Zerstörung des Staa-

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tes ist. Aber eine solche Zerstörung ist nur bei einträchtiger Zusammenarbeit des Proletariats aller Länder möglich, die zunächst auf wirtschaftlichem Gebiet zu organisieren gerade Aufgabe der Internationalen Arbeiterassoziation ist. Wenn sie dies begriffen hätten, dann würden die deutschen Arbeiter in Österreich zu Initiatoren nicht nur ihrer eigenen Befreiung, sondern zugleich auch der Befreiung aller nichtdeutschen Volksmassen im österreichischen Kaiserreich, natürlich einschließlich aller Slawen, die man als erste überreden sollte, mit ihnen ein Bündnis einzugehen, dessen Ziel die Zerstörung des Staates wäre, d.h. des Gefängnisses des Volkes, und die Gründung einer neuen internationalen Arbeiterwelt auf der Grundlage völliger Gleichheit und Freiheit. Aber die österreichischen Arbeiter haben diese notwendigen ersten Schritte nicht getan und deshalb nicht getan, weil sie beim ersten Schritt durch die deutsch-patriotische Propaganda Liebknechts und anderer Sozialdemokraten zurückgehalten wurden, die wohl mit ihm im Juli 1868 nach Wien gekommen waren. Ihr Ziel war gerade, den sicheren sozialen Instinkt der österreichischen Arbeiter vom Weg der internationalen Revolution abzubringen und ihn auf die politische Agitation zugunsten der Gründung eines einzigen, von ihnen Volksstaat genannten Staates, eines pangermanischen natürlich, zu lenken – mit einem Wort, die Verwirklichung des patriotischen Ideals des Fürsten Bismarck, lediglich auf sozialdemokratischem Boden und durch sogenannte legale Volksagitation. Diesen Weg dürfen nicht nur die Slawen, sondern auch die deutschen Arbeiter aus dem einfachen Grund nicht gehen, weil ein Staat – und möge er sich zehnmal Volksstaat nennen und mit den demokratischsten Formen zieren – für das Proletariat notwendigerweise zum Gefängnis wird. Für die Slawen ist es noch unmöglicher, in diese Richtung zu gehen, denn das würde bedeuten, daß sie sich gern dem deutschen Joch unterwerfen, und das ist jedem Slawen in der Seele zuwider. Infolgedessen werden wir es nicht nur unterlassen, unsere slawischen Brüder zu überreden, in die Reihen der sozialdemokratischen

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Partei der deutschen Arbeiter einzutreten, an deren Spitze vor allem in einer Art Duumvirat – ausgestattet mit diktatorischen Vollmachten – Marx und Engels stehen und hinter ihnen oder unter ihnen Bebel,+71 Liebknecht und einige jüdische Literaten, sondern wir müssen im Gegenteil alle Anstrengungen darauf verwenden, das slawische Proletariat von dem selbstmörderischen Bündnis mit dieser Partei abzubringen, die keineswegs eine Volkspartei ist, sondern ihrer Richtung, dem Ziel und den Mitteln nach eine rein bourgeoise und dazu noch ausschließlich deutsche, d.h. für die Slawen tödliche Partei. Je energischer aber das slawische Proletariat um seiner Rettung willen nicht nur ein Bündnis, sondern auch eine Annäherung an diese Partei ablehnen muß – womit wir nicht die Arbeiter in der Partei, sondern die Organisation der Partei und hauptsächlich ihre immer und überall bourgeoise Führung meinen – desto enger muß es sich um eben dieser Rettung willen an die Internationale Arbeiterassoziation annähern und sich mit ihr verbünden. Keineswegs darf die deutsche sozialdemokratische Partei mit der Internationale verwechselt werden. Das politisch-patriotische Programm der ersteren hat nicht nur fast nichts mit dem Programm der letzteren gemein, es steht sogar völlig im Widerspruch dazu. Zwar haben die Marxisten auf dem betrügerischen Haager Kongreß versucht, ihr Programm der ganzen Internationale aufzudrängen. Aber dieser Versuch rief bei Italien, Spanien, einem Teil der Schweiz, Frankreich, Belgien, Holland, England und sogar teilweise den Nordstaaten Amerikas einen so ungeheuren Protest hervor, daß der ganzen Welt klar wurde, daß das deutsche Programm+72 außer den Deutschen selbst niemand will. Ja, wenn auch das deutsche Proletariat nicht nur seine eigenen Interessen, die von den Interessen des Proletariats aller anderen Länder nicht zu trennen sind, sondern auch die unheilvolle Richtung dieses ihm aufgedrängten, aber keineswegs von ihm geschaffenen Programms besser verstanden hat, dann wird ohne Zweifel die Zeit kommen, daß es sich von diesem Programm lossagt und mit ihm von seinen bourgeoisen Vertretern, den Führern [fjurery].

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Das slawische Proletariat muß also, um sich selbst vom schweren Joch zu befreien, massenhaft der Internationale beitreten, muß Fabrik-, Handwerker- und landwirtschaftliche Sektionen gründen und sie in lokalen Föderationen vereinigen, und wenn es sich als notwendig erweist, dann meinetwegen auch in einer allgemein slawischen Föderation. Auf der Basis der Internationale, die alle und jeden von einem als Staat organisierten Vaterland befreit, sollen und können sich die slawischen Arbeiter ohne die geringste Gefahr für ihre Unabhängigkeit brüderlich mit deutschen Arbeitern treffen, mit denen ein Bündnis auf einer anderen Basis für sie entschieden unmöglich ist. Dies ist der einzige Weg für die Befreiung der Slawen. Aber der Weg den heutzutage die überwältigende Mehrheit der west- und südslawischen Jugend unter Führung ihrer ehrwürdigen und mehr oder weniger verdienten Patrioten geht, führt in die genau entgegengesetzte, ausschließlich staatliche Richtung und ist für die Volksmassen verhängnisvoll. Nehmen wir zum Beispiel das türkische Serbien, und zwar das serbische Fürstentum – und dazu noch Montenegro – als einziges Gebiet außerhalb Rußlands, wo das slawische Element eine mehr oder weniger selbständige politische Existenz erlangt hat. Das serbische Volk hat viel Blut vergossen, um sich vom türkischen Joch zu befreien; doch kaum hatte es sich von den Türken befreit, als man es vor einen neuen, diesmal eigenen Staat mit der Bezeichnung Fürstentum Serbien spannte, dessen Joch in Wirklichkeit fast schwerer war als das türkische. Kaum hatte dieser Teil des serbischen Landes Aussehen, Struktur, Gesetze und Institutionen eines mehr oder weniger regulären Staates erhalten, als alles Lebendige und Kraftvolle im Volk, das den heroischen Kampf gegen die Türken hervorgerufen und über sie den endgültigen Sieg errungen hatte, plötzlich zu erstarren schien. Das zwar unwissende und außerordentlich arme, aber energische, leidenschaftliche und von Natur aus freiheitsliebende Volk verwandelte sich plötzlich in eine stum-

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me und gleichsam unbewegliche Herde, die dem Raub und dem Despotismus der Bürokratie zum Opfer gebracht wurde. Im türkischen Serbien gibt es keinen Adel, keine bedeutenderen Großgrundbesitzer, keine Industriellen und keine sehr reichen Kaufleute – dafür hat sich eine neue bürokratische Aristokratie von jungen Leuten gebildet, die größtenteils auf Staatskosten in Odessa, Moskau, Petersburg, Wien, Deutschland, der Schweiz und Paris ausgebildet wurden. Solange sie jung und noch nicht durch den Staatsdienst korrumpiert sind, zeichnen sich diese jungen Leute meistens durch ihren glühenden Patriotismus, ihre Liebe zum Volk, ihren ziemlich aufrichtigen Liberalismus und in letzter Zeit sogar durch ihren Demokratismus und Sozialismus aus. Aber kaum haben sie den Dienst angetreten, so fordern eherne Logik der Position und Sachzwänge, die charakteristisch sind für gewisse hierarchische und politisch günstige Beziehungen, das Ihre, und die jungen Patrioten werden von Kopf bis Fuß Beamte, wobei sie womöglich weiterhin Patrioten und Liberale bleiben. Aber man weiß ja, was das ist, ein liberaler Beamter; er ist unvergleichlich schlimmer als ein einfacher und offener Knüppel-Beamter. Zudem erweisen sich die Erfordernisse einer gewissen Position immer stärker als Gefühle, Pläne und gute Absichten. Nach Hause zurückgekehrt, müssen die jungen Serben, die ihre Ausbildung im Ausland erhalten haben, dieser ihrer Ausbildung nach, vor allem aber wegen ihrer Verpflichtungen gegenüber der Regierung, auf deren Kosten die meisten im Ausland unterhalten worden sind, und weil es für sie völlig unmöglich ist, andere Mittel für ihre Existenz ausfindig zu machen, Beamte werden, Mitglieder der einzigen Aristokratie, die es im Lande gibt, nämlich der Klasse der Bürokraten. Wenn sie erst einmal in diese Klasse eingetreten sind, werden sie nolens volens zu Feinden des Volkes. Besonders zu Anfang möchten sie gern, und dies ist durchaus glaubwürdig, ihr Volk befreien oder wenigstens seine Lage verbessern; statt dessen müssen sie es unterdrücken und ausplündern. Es genügt, zwei, drei Jahre in einer solchen Position zu verbringen, um sich anzupassen und

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sich schließlich mit Hilfe irgendeiner liberalen oder sogar demokratisch-doktrinären Lüge damit abzufinden, und an solchen Lügen ist unsere Zeit reich. Haben sie sich erst einmal mit der harten Notwendigkeit abgefunden, gegen die zu rebellieren sie nicht imstande sind, dann werden sie zu den allbekannten Gaunern, die für das Volk um so gefährlicher sind, je liberaler und demokratischer ihre öffentlichen Erklärungen klingen. Dann gewinnen die geschickteren und schlaueren unter ihnen in der Miniatur-Regierung des Miniatur-Fürstentums den dominierenden Einfluß und beginnen, kaum haben sie ihn erlangt, sich nach allen Seiten zu verkaufen: zu Hause an den regierenden Fürsten oder irgendeinen Thronprätendenten (wird ein Fürst gestürzt und durch einen anderen ersetzt, so heißt dieser Akt im serbischen Fürstentum Revolution) oder statt dessen und manchmal sogar gleichzeitig an die Regierungen der großen Schutzmächte: Rußland, Österreich, die Türkei, jetzt auch Deutschland, das im Osten wie überall die Stelle Frankreichs eingenommen hat, und sogar häufig an alle zusammen. Man kann sich vorstellen, wie leicht und freiheitlich es sich für das Volk in einem solchen Staat leben läßt, darf dabei aber nicht vergessen, daß das serbische Fürstentum ein konstitutioneller Staat ist, in dem alle Gesetze von einer vom Volk gewählten Skupschtina+73 zusammengebraut werden. Andere Serben trösten sich mit dem Gedanken, daß diese Lage ihrem Wesen nach vorübergehend und gegenwärtig ein notwendiges Übel ist, daß sie sich aber unbedingt ändern wird, wenn erst das kleine Fürstentum seine Grenzen erweitert und alle serbischen, manche sagen sogar alle südslawischen Gebiete, in seinen Verband aufgenommen hat und so das Reich Dušans in seiner ganzen Größe wiederherstellt. Dann, sagen sie, bricht für das Volk eine Zeit vollkommener Freiheit und ungebundenen Lebens an. Ja, es gibt unter den Serben Leute, die bis jetzt naiv genug waren, daran zu glauben.

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Ja, sie bilden sich ein, daß dieser Staat, wenn er seine Grenzen erweitert und die Zahl seiner Staatsangehörigen verdoppelt, verdreifacht und verzehnfacht, eher zu einem Volksstaat wird, und daß seine Institutionen, alle Bedingungen für seine Existenz sowie die Maßnahmen seiner Regierung den Volksinteressen und allen Volksempfindungen weniger zuwiderlaufen. Aber worauf gründet sich eine solche Hoffnung oder eine solche Vermutung? Auf eine Theorie? Aber theoretisch scheint doch wohl klar zu sein: je größer ein Staat, desto komplizierter sein Organismus und desto fremder ist er dem Volk, und eben deshalb stehen seine Interessen zu denen der Volksmassen in um so größerem Gegensatz; je größer also ein Staat ist, desto schwerer lastet sein Joch auf den Volksmassen, desto unmöglicher wird es für das Volk, ihn zu kontrollieren, und desto weiter ist die Verwaltung durch den Staat von der Selbstverwaltung durch das Volk entfernt. Oder gründen sich ihre Erwartungen auf die praktische Erfahrung anderer Länder? Als Antwort genügt es, auf Rußland, auf Österreich, auf das vergrößerte Preußen, auf Frankreich, England und Italien und sogar auf die Vereinigten Staaten von Amerika hinzuweisen, wo in allen Dingen eine besondere, völlig bourgeoise Klasse sogenannter Politiker oder politischer Geschäftemacher den Ton angibt und die Masse des einfachen Volkes fast genauso eingeengt und bedrückt lebt wie in monarchischen Staaten. Es gibt wohl auch vielgebildete Serben, die gar einwenden, daß es hier überhaupt nicht um die Volksmassen geht, die ihre Bestimmung darin haben, mit ihrer materiellen schweren Arbeit die Blüte der vaterländischen Zivilisation, als eigentliche Vertreterin des Landes, zu ernähren, zu kleiden und überhaupt zu erhalten, sondern lediglich um die gebildeten, mehr oder weniger besitzenden und privilegierten Klassen. Das ist es ja eben, daß diese sogenannten gebildeten Klassen – Adel, Bourgeoisie – die einst tatsächlich geblüht und an der Spitze einer in ganz Europa lebendigen und progressiven Zivilisation gestanden haben, heutzutage vor Verfettung

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und Feigheit abgestumpft und gemein geworden sind und daß sie, wenn überhaupt noch irgend etwas, die menschliche Natur in ihren übelsten und gemeinsten Eigenschaften darstellen. Wir sehen, daß diese Klassen sogar in einem so hoch kultivierten Land wie Frankreich unfähig waren, die Unabhängigkeit ihres Vaterlandes gegen die Deutschen zu verteidigen. Wir haben schon immer gesehen, daß diese Klassen in Deutschland selbst nur zu untertänigem Lakaientum fähig sind. Und schließlich stellen wir fest, daß im türkischen Serbien solche Klassen überhaupt nicht existieren; dort gibt es nur die Klasse der Bürokraten. Also wird der serbische Staat das Volk allein dafür unterdrücken, daß die serbischen Beamten üppiger leben können. Die anderen, die die jetzige Struktur des serbischen Fürstentums von ganzem Herzen hassen, ertragen es aber immerhin, weil sie es als notwendiges Mittel oder Instrument für die Befreiung der Slawen ansehen, die noch dem türkischen oder sogar österreichischen Joch unterworfen sind. In einem bestimmten Augenblick, so sagen sie, kann das Fürstentum zur Grundlage und zum Ausgangspunkt eines gemeinsamen slawischen Aufstandes werden. Dies ist noch einer jener unheilvollen Irrtümer, die man zum eigenen Wohl der Slawen unbedingt zerstören muß. Sie sind verführt vom Beispiel des piemontesischen Königtums, das angeblich ganz Italien befreit und geeint hat. Italien hat sich selbst befreit durch eine Reihe von unzähligen heroischen Opfern, die es im Verlauf von 50 Jahren unaufhörlich gebracht hat. Es verdankt seine politische Unabhängigkeit vor allem den vierzigjährigen ununterbrochenen und unaufhaltsamen Bemühungen seines großen Bürgers, Giuseppe Mazzini, dem es gelungen ist, die italienische Jugend, man könnte sagen, zu erwecken und dann in der gefährlichen, aber heldenmütigen Sache der patriotischen Konspiration zu erziehen. Ja, dank der zwanzigjährigen Arbeit Mazzinis fand sich 1848, als das aufständische Volk die ganze europäische Welt wieder zur Feier der Revolution aufrief, in allen Städten Italiens vom äu-

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Bersten Süden bis zum äußersten Norden ein Häuflein mutiger junger Leute, die die Fahne des Aufstandes gehißt hatten. Die gesamte italienische Bourgeoisie folgte ihnen. Im lombardisch-venetianischen Königreich, das sich damals noch unter österreichischer Herrschaft befand, erhob sich das ganze Volk. Und ohne irgendwelche militärische Hilfe verjagte das Volk selbst die österreichischen Regimenter aus Mailand und Venetien. Was aber tat das königliche Piemont? Was tat König Karl Albert,+74 der Vater Viktor Emanuels [II.], eben der, der schon als Kronprinz (1821) seine Kameraden in der Verschwörung zur Befreiung Italiens den österreichischen und piemontesischen Henkern ausgeliefert hatte? Die erste Tat des piemontesischen Königs 1848 war, daß er die Revolution in ganz Italien durch Versprechungen, Ränke und Intrigen lähmte. Er wollte gern Italien in seine Hand bringen, aber er haßte die Revolution ebenso, wie er sie fürchtete. Er hat wirklich die Revolution, die Kraft und die Bewegung des Volkes in Italien gelähmt; danach war es für die österreichischen Truppen nicht schwer, mit seinen Truppen fertig zu werden. Sein Sohn, Viktor Emanuel, wird Befreier und Einiger der Länder Italiens genannt. Damit wird er schändlich verleumdet! Wenn schon jemand Befreier Italiens genannt werden soll, dann eher Louis Napoleon, der Kaiser der Franzosen. Aber Italien hat sich selbst befreit und sich vor allem selbst geeint, trotz Viktor Emanuel und gegen den Willen Napoleons III. 1860, als Garibaldi seine berühmte Landung in Sizilien unternahm und gerade Genua verlassen hatte, warnte Graf Cavour, Viktor Emanuels Minister, die neapolitanische Regierung vor dem ihr drohenden Angriff. Aber nachdem Garibaldi sowohl Sizilien als auch das gesamte neapolitanische Königreich befreit hatte, nahm Viktor Emanuel von ihm natürlich sowohl das eine als auch das andere, und das sogar ohne besondere Dankbarkeit. Und was hat er in seiner Regierung im Laufe von dreißig Jahren aus diesem unglücklichen Italien gemacht? Er hat es

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ruiniert, einfach ausgeplündert und läßt es jetzt, von allen gehaßt, durch seinen Despotismus fast den verjagten Bourbonen nachtrauern. So befreien Könige und Staaten ihre Landsleute, und für niemanden wäre es so nützlich wie gerade für die Serben, die neueste Geschichte Italiens in ihren faktischen Einzelheiten zu studieren. Als eines der Mittel, die patriotische Erregung ihrer Jugend zu besänftigen, gibt die serbische Regierung in regelmäßigen Abständen das Versprechen ab, der Türkei im kommenden Frühjahr den Krieg zu erklären, manchmal auch im Herbst, nach Beendigung der Feldarbeit; und die jungen Leute glauben es, werden unruhig und bereiten sich jeden Sommer und jeden Winter vor, wonach sich immer irgendein unvorhergesehenes Hindernis, irgendeine Note von einer der Schutzmächte, der versprochenen Kriegserklärung in den Weg stellt; der Krieg wird um ein halbes Jahr oder um ein Jahr verschoben, und auf diese Weise vergeht das ganze Leben der serbischen Patrioten in quälender vergeblicher Erwartung, die niemals erfüllt wird. Das serbische Fürstentum ist nicht nur nicht in der Lage, die südslawischen, also serbischen und anderen Völker zu befreien; im Gegenteil, mit seinen Ränken und Intrigen trennt und schwächt es sie sogar. Die Bulgaren z.B. sind bereit, die Serben als Brüder anzuerkennen; aber vom serbischen Reich Dušans wollen sie nichts hören, ebenso die Kroaten, die Montenegriner und die bosnischen Serben. Für all diese Länder bleibt nur eine Rettung, nur ein Weg zur Vereinigung – die Soziale Revolution, aber keinesfalls ein von staatswegen geführter Krieg, der nur zu dem Einen führen kann: zur Unterwerfung all dieser Länder durch Rußland oder Österreich oder zur Aufteilung unter diesen beiden Mächten, was wenigstens zu Anfang am wahrscheinlichsten ist. Dem tschechischen Böhmen ist es bisher, Gott sei Dank, noch nicht gelungen, die Krone und Macht Wenzels+75 in ihrem alten Glanze wiederherzustellen; die Zentralregierung in

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Wien behandelt Böhmen wie eine einfache Provinz, die noch nicht einmal die Privilegien Galiziens genießt. Indessen gibt es in Böhmen ebensoviele politische Parteien wie in jedem beliebigen slawischen Staat. Ja, dieser verfluchte deutsche Geist der Politisiererei und des Etatismus hat die Bildung der tschechischen Jugend so durchdrungen, daß sie ernsthaft Gefahr läuft, am Ende das Verständnis für ihr Volk zu verlieren. Das tschechische Bauernvolk verkörpert einen der großartigsten slawischen Typen. In ihm fließt hussitisches Blut, das heiße Blut der Taboriten, lebt die Erinnerung an Žižka;+76 und das, was nach unserer eigenen Erfahrung und unseren Erinnerungen von 1848 einen der beneidenswertesten Vorzüge der studierenden tschechischen Jugend ausmacht, das ist ihr herzliches und aufrichtig brüderliches Verhältnis zu diesem Volk. Der tschechische städtische Proletarier steht an Energie und glühender Hingabe dem Bauern nicht nach; auch er hat das im Jahre 1848 bewiesen. Proletariat und Bauerntum lieben die studierende Jugend bis jetzt und glauben an sie. Doch dürfen sich die jungen tschechischen Patrioten nicht allzusehr auf diesen Glauben verlassen. Er muß unweigerlich schwächer werden und zuletzt ganz verschwinden, es sei denn, sie entwickeln genügend Gerechtigkeitssinn, Gefühl für Gleichheit und Freiheit und echte Liebe zum Volk, um mit ihm zusammen zu gehen. Das tschechische Volk – und wir verstehen unter dem Wort Volk immer in erster Linie das Proletariat – also das slawische Proletariat in Böhmen strebt naturgemäß und unbeirrbar dorthin, wohin heutzutage das Proletariat aller Länder strebt: zur wirtschaftlichen Befreiung, zur Sozialen Revolution. Es müßte schon ein von der Natur ungewöhnlich benachteiligtes und von der Geschichte geschlagenes oder, offen gesagt, ein außerordentlich dummes und totes Volk sein, wenn ihm diese Bestrebungen fremd blieben, die die einzige wesentliche Frage von weltweiter Bedeutung in unserer Zeit darstellen. Ein solches Kompliment wird die tschechische Jugend ihrem Volk nicht machen wollen, und selbst wenn sie es wollte, würde das

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Volk es nicht rechtfertigen. Zudem haben wir einen unwiderlegbaren Beweis für das lebhafte Interesse des westslawischen Proletariats an der sozialen Frage. In allen österreichischen Städten, in denen sich slawische und deutsche Bevölkerung vermischen, nehmen die slawischen Arbeiter den energischsten Anteil an allen gemeinsamen Erklärungen des Proletariats. Aber in diesen Städten gibt es fast keine anderen Arbeiterassoziationen außer denjenigen, die das Programm der Sozialdemokraten Deutschlands anerkennen, so daß faktisch die slawischen Arbeiter, von ihrem sozial-revolutionären Instinkt mitgerissen, sich für eine Partei anwerben lassen, deren unmittelbares und laut verkündetes Ziel die Gründung eines pangermanischen Staates ist, d.h. eines riesigen deutschen Gefängnisses. Diese Tatsache ist sehr traurig, aber ebenso natürlich. Den slawischen Arbeitern steht die Wahl zwischen zwei Möglichkeiten offen: Entweder begeistern sie sich für das Beispiel der deutschen Arbeiter, ihrer Brüder nach sozialer Lage, nach gemeinsamem Schicksal, nach Hunger, Not und allen Bedrängnissen, und treten in die Partei ein, die ihnen einen Staat, einen deutschen zwar, dafür aber einen wirklichen Volksstaat verspricht, mit allen möglichen wirtschaftlichen Vergünstigungen, zum Nachteil der Kapitalisten und Besitzenden und zum Nutzen des Proletariats; oder aber sie begeistern sich für die Propaganda ihrer ehrwürdigen und berühmten Führer und ihrer hitzigen, aber noch recht unerfahrenen Jugend und treten in die Partei ein, in deren Reihen und an deren Spitze sie ihren täglichen Ausbeutern und Unterdrückern, den Bourgeois, Fabrikanten, Kaufleuten, Geldspekulanten, Jesuitenpriestern und den Feudalherren über riesige ererbte oder erworbene Güter, begegnen. Übrigens verspricht ihnen diese Partei mit weit größerer Konsequenz als die erstere ein nationales Gefängnis, d.h. einen slawischen Staat, die Wiedereinsetzung der Wenzelskrone in all ihrem alten Glanz, gerade so, als ob es den tschechischen Arbeitern von diesem Glanz leichter würde! Wenn es für die slawischen Arbeiter wirklich keinen anderen Ausweg außer diesen beiden gäbe, dann würden selbst wir

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ihnen offen gestanden raten, den ersten zu wählen. Dort teilen sie wenigstens Irrweg und gemeinsames Schicksal mit ihren Arbeitsund Leidensgenossen, ganz gleich, ob es sich dabei um Deutsche oder Nichtdeutsche handelt; hier aber zwingt man sie, ihre unmittelbaren Henker, ihre Blutsauger, Brüder zu nennen, und nötigt sie, sich selbst die schwersten Ketten im Namen einer allslawischen Befreiung anzulegen. Dort täuschen sie sich, hier verrät man sie. Aber es gibt einen dritten, direkten und rettenden Ausweg: die Bildung und föderative Organisation von Fabrik- und Landarbeiterassoziationen auf der Grundlage des Programms der Internationale; selbstverständlich nicht desjenigen Programms, das unter dem Namen der Internationale von der fast ausschließlich patriotischen und politischen Partei der Sozialdemokraten Deutschlands verbreitet wird, sondern desjenigen, das heute von allen freien Föderationen der Internationalen Arbeiterassoziation anerkannt wird, nämlich von italienischen, spanischen, jurassischen, französischen, belgischen, englischen und teilweise amerikanischen Arbeitern;+77 nicht akzeptiert wird es eigentlich nur von den Deutschen.7 Wir sind davon überzeugt, daß dies für die Tschechen, so wie auch für alle anderen slawischen Völker, die ihre völlige Befreiung von jeglichem Joch suchen, sei es deutsch oder nicht-deutsch, der einzige Ausweg ist; sonst bleibt nur Betrug: für die ehrlosen und ehrgeizigen Parteiführer Ehrungen und Gewinn für die eigene Tasche, für die Masse der einfachen Arbeiter Sklaverei. Die Frage, die jetzt der tschechischen und überhaupt jeder slawischen gebildeten Jugend gestellt wird, ist sehr klar: Will sie ihr Volk ausbeuten, sich an seiner Arbeit bereichern und auf seinen Schultern einen gemeinen Ehrgeiz befriedigen? Dann

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In Zürich hat sich eine slawische Sektion gebildet, die sich der Juraföderation angeschlossen hat;+78 wir empfehlen allen Slawen wärmstens das Programm dieser Sektion, das wir am Ende der Einleitung veröffentlichen (siehe Anhang B).

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wird sie mit den alten slawophilisierenden Parteien gehen, mit den Palackýs, den Riegers, den Brauners und Co.+79 Wir wollen noch rasch hinzufügen, daß unter den jungen Anhängern dieser Führer viele Verblendete und Betrogene sind, die für sich selbst eigentlich nichts erwerben, aber in den Händen geschickter Leute als Köder für das Volk dienen. Jedenfalls eine durchaus nicht beneidenswerte Rolle. Diejenigen, die aufrichtig und ernsthaft die volle Emanzipation der Volksmassen wollen, die werden mit uns den Weg der Sozialen Revolution gehen, denn es gibt keinen anderen Weg für die Eroberung der Freiheit des Volkes. Bisher hat aber in allen westslawischen Ländern die alte Politik, ein Etatismus von äußerster Engstirnigkeit vorgeherrscht, hat man ganz einfach eine deutsche Komödie, nur übersetzt ins Tschechische, aufgeführt, ja sogar nicht nur eine Komödie, sondern ganze zwei: eine tschechische und eine polnische. Wer kennt nicht die klägliche Geschichte von abwechselnden Bündnissen und Zerwürfnissen unter den Staatsmännern Böhmens und Galiziens, die Reihe von lächerlichen Vorstellungen im österreichischen Reichstag, die tschechische und galizische Abgeordnete, bald zusammen, bald getrennt, gegeben haben? All dem liegt die jesuitisch-feudalistische Intrige zugrunde. Und mit solchen armseligen, ja gemeinen Mitteln glauben diese Herren, ihre Mitbürger zu befreien! Seltsame Staatsmänner sind das, und wie sehr wird sich wohl Fürst Bismarck, ihr naher Nachbar, amüsieren, wenn er zuschaut, wie sie Staat spielen! Einmal jedoch entschloß sich das tschechische Staatstriumvirat Palacký, Rieger und Brauner zu einer mutigen Demonstration, und zwar nach der Schlappe, die sie in Wien erlitten hatten, als sie wieder einmal, wie schon so oft, von ihren galizischen Verbündeten verraten worden waren. Anläßlich der slawischen ethnographischen Ausstellung, die 1867 bewußt in Moskau eröffnet worden war, machten sie sich selbst auf – und schleppten noch eine große Anzahl Westund Südslawen mit sich -, um dem weißen Zaren, dem Henker des polnisch-slawischen Volkes, ihre Verehrung zu bezeugen.+80 In Warschau

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wurden sie von russischen Generälen, russischen Beamten und ihren Damen empfangen, und während die gesamte polnische Bevölkerung in Grabesstille verharrte, küßten und umarmten diese freiheitsliebenden Slawen die russischen Brudermörder in der polnischen Hauptstadt, tranken mit ihnen auf die slawische Brüderschaft und schrien hurra. Jeder weiß, welche Reden sie dann in Moskau und Petersburg gehalten haben. Mit einem Wort, eine schmählichere Verbeugung vor der rohen und unerbittlichen Gewalt und einen schlimmeren Verrat an der Brüderlichkeit der Slawen, an der Wahrheit und an der Freiheit hat man bei ehrwürdigen Liberalen, Demokraten und Volksfreunden nie erlebt – und diese Herren kehrten seelenruhig mit ihrem gesamten hohen Rat nach Prag zurück, und niemand sagte ihnen, daß sie nicht nur eine Gemeinheit, sondern sogar eine Dummheit begangen haben. Ja, eine völlig nutzlose Dummheit, die ihnen nicht im geringsten diente und ihre Sache in Wien nicht verbesserte. Jetzt ist es klar geworden; die Wenzelskrone mit ihrer alten Unabhängigkeit haben sie nicht wieder einsetzen können, und sie mußten erleben, daß die neue Parlamentsreform ihnen auch den letzten politischen Boden entzog, auf dem sie ihr Staatsspiel hätten spielen können. Nach der Niederlage in Italien gezwungen, dem ungarischen Königreich ein gewisses Maß an Freiheit zu geben, dachte man in der österreichischen Regierung lange darüber nach, wie man den cisleithanischen Staat organisieren sollte. Nach dem eigenen Instinkt und den Forderungen der deutschen Liberalen und Demokraten tendierte man zur Zentralisation; aber die Slawen, besonders die Böhmen und Galizier, die sich auf die feudal-klerikale Partei stützten, forderten laut ein föderatives System. Dieses Schwanken hat bis jetzt angedauert. Schließlich entschloß sich die Regierung zum Schrecken der Slawen und zur größten Freude der deutschen Liberalen und Demokraten, allen Ländern, die zum cisleithanischen Staat gehören, wieder die alten Mützen der deutschen Bürokratie aufzusetzen.

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Es muß jedoch bemerkt werden, daß das österreichische Kaiserreich davon nicht stärker wurde. Es hat den echten Mittelpunkt verloren. Alle Deutschen und Juden im Reich suchen seither ihr Zentrum in Berlin. Gleichzeitig schaut ein Teil der Slawen nach Rußland; die anderen, die von einem sichereren Instinkt geleitet werden, suchen Rettung in der Gründung einer Volksföderation. Von Wien erwartet niemand mehr irgend etwas. Ist es nicht klar, daß es mit dem österreichischen Kaiserreich eigentlich zu Ende ist und daß, wenn es noch eine Art Existenz bewahrt, es dies nur der berechnenden Langmut Rußlands und Preußens verdankt, die vorläufig zögern und noch nicht zu seiner Teilung schreiten wollen, weil beide insgeheim hoffen, gegebenenfalls den Löwenanteil an sich reißen zu können. Folglich ist klar, daß Österreich sich nicht mit dem neuen preußisch-deutschen Reich messen kann. Wir wollen sehen, ob Rußland dazu in der Lage ist. Stimmt es nicht, lieber Leser, daß Rußland in jeder Beziehung unerhörte Fortschritte gemacht hat, seit der heute so segensreich herrschende Kaiser Alexander II. den Thron bestiegen hat? In der Tat, wenn wir die Fortschritte messen wollen, die es in den letzten zwanzig Jahren gemacht hat, und dann den Abstand, den es in jeder Beziehung damals, z.B. 1856, von Europa hatte, mit dem jetzigen vergleichen, dann ist der Erfolg verblüffend. Zwar ist Rußland nicht zu hoch gestiegen, aber dafür ist das offizielle und offiziöse, das bürokratische und bourgeoise Westeuropa beträchtlich gesunken, so daß sich der Abstand entschieden verringert hat. Welcher Deutsche oder Franzose wird es wagen, z.B. von russischen Barbaren oder russischen Henkern zu sprechen nach den Greueln, die die Deutschen in Frankreich 1870 und die französischen Truppen im heimatlichen Paris 1871 verübt haben? Welcher Franzose wird es wagen, von der Gemeinheit und Bestechlichkeit russischer Beamter und Staatsmänner zu sprechen nach all dem Schmutz, der ans Tageslicht kam und die Welt der Bürokratie und Politik in

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Frankreich fast überschwemmt hätte. Nein, für die russischen Schurken, Diebe und Henker gibt es angesichts der Franzosen und Deutschen wahrhaftig keinen Grund mehr zu erröten. In moralischer Hinsicht hat sich im ganzen offiziellen und offiziösen Europa Bestialität oder zumindest erstaunlich unmenschliches Verhalten eingebürgert. Eine andere Sache ist es mit der politischen Macht, obgleich sich unsere Bierpatrioten auch hier, wenigstens im Vergleich zum französischen Staat, brüsten können, daß Rußland in politischer Hinsicht zweifellos selbständiger und höher dasteht als Frankreich. Um Rußlands Gunst wirbt selbst Bismarck, und um Bismarcks Gunst wirbt das besiegte Frankreich. Die ganze Frage ist die, in welchem Verhältnis die Macht des allrussischen Reiches zur Macht des pangermanischen Reiches steht, das wenigstens auf dem europäischen Kontinent zweifellos die Vorrangstellung hat. Bei uns Russen weiß auch der letzte, was das ist, unser liebenswürdiges allrussisches Reich, wenn man es von innen betrachtet. Für eine kleine Anzahl von Leuten, etwa für einige tausend, an ihrer Spitze der Kaiser mit seinem ganzen augustäischen Hause und seinem ganzen vornehmen Gefolge, ist es die unerschöpfliche Quelle aller Güter, außer den geistigen und den menschlich-sittlichen; für eine breitere, wenn auch immer noch begrenzte Minderheit von etwa zehntausend Leuten, nämlich für die hohen Militärs, die bürgerlichen und geistlichen Beamten, die reichen Grundbesitzer, Kaufleute, Kapitalisten und Parasiten, ist es der gutmütige, wohltätige und nachsichtige Beschützer des legalen und äußerst lukrativen Diebstahls; für die viel breitere Masse der kleinen Angestellten, die immer noch im Vergleich zur Masse des Volkes verschwindend klein ist, ist es der knauserige Ernährer und für die zahllosen Millionen von einfachen Arbeitern die böse Stiefmutter, der gnadenlose Plünderer und Peiniger, der sie ins Grab treibt. So war Rußland vor der Bauernreform,+81 so ist es bis heute geblieben, und so wird es immer sein. Es besteht keinerlei Notwendigkeit, den Russen dies zu beweisen. Welcher erwach-

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sene Russe wüßte das nicht, kann das nicht wissen? Die russische gebildete Gesellschaft zerfällt in drei Kategorien: diejenigen, die es wissen, aber meinen, daß es für sie zu ungünstig sei, diese Wahrheit einzugestehen, die für sie ebenso unbestreitbar gilt wie für alle anderen; diejenigen, die sie aus Furcht nicht eingestehen, nicht von ihr sprechen, und schließlich diejenigen, deren Tapferkeit nur gerade so weit reicht, daß sie wenigstens wagen, diese Wahrheit auszusprechen. Außerdem gibt es noch eine vierte, leider viel zu kleine Kategorie von Leuten, die sich ernsthaft der Sache des Volkes widmen und sich nicht mit leerem Gerede zufriedengeben. Es gibt wohl noch eine fünfte und gar nicht einmal kleine Kategorie von Leuten, die nichts sehen und nichts denken. Nun, mit denen läßt sich nicht einmal reden. Jeder auch nur ein wenig denkende und gewissenhafte Russe sollte verstehen, daß unser Imperium sein Verhältnis zum Volk nicht ändern kann. Durch seine bloße Existenz ist es dazu verurteilt, ihm Verderber und Blutsauger zu sein. Das Volk haßt das Imperium instinktiv, das es unweigerlich knechtet, da seine ganze Existenz und Macht auf der Not des Volkes begründet ist. Zur Aufrechterhaltung der inneren Ordnung, zur Wahrung der aufgezwungenen Einheit und zur Aufrechterhaltung der äußeren Macht – noch nicht einmal für Eroberungen, sondern nur zum Selbstschutz – braucht es ein riesiges Heer, und mit dem Heer braucht es eine Polizei, braucht es eine ungeheure Bürokratie, einen Staatsklerus ... mit einem Wort, einen offiziellen Apparat von gewaltigen Ausmaßen, dessen Erhaltung notwendigerweise schwer auf dem Volk lastet, ganz zu schweigen von seinen Räubereien. Man muß schon ein Esel, ein Ignorant, ein Verrückter sein, wenn man glaubt, daß irgendeine Konstitution, sogar die liberalste und demokratischste, dieses Verhältnis des Staates zum Volk zum Bessern ändern könnte; es verschlechtern, es noch beschwerlicher und verheerender machen, vielleicht – obgleich auch das schwer ist, denn das Übel hat die äußerste Grenze erreicht; aber das Volk befreien, seine Lage verbessern, das ist

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einfach Unsinn! Solange überhaupt ein Reich existiert, wird es unser Volk zerfleischen. Es kann nur eine nützliche Verfassung für das Volk geben, nämlich die Zerstörung des Reiches. Also werden wir nicht von seinem inneren Zustand sprechen, da wir überzeugt sind, daß er schlechter nicht sein kann; aber wir wollen sehen, ob das Imperium wirklich jenes äußere Ziel erreicht, das seiner Existenz zwar keinen menschlichen, aber einen politischen Sinn gibt. Ist es ihm gelungen, um den Preis ungeheurer und zahlloser Opfer des Volkes, noch dazu unfreiwilliger und daher um so grausamerer Opfer, wenigstens eine Militärmacht zu schaffen, die sich mit derjenigen z.B. des neuen deutschen Reiches messen könnte? Darin besteht eigentlich gegenwärtig das ganze politische Problem Rußlands; an inneren Problemen bleibt jetzt, wie wir wissen, nur eines – die Frage der Sozialen Revolution. Aber wir wollen jetzt beim äußeren Problem bleiben und fragen, ob Rußland fähig ist, gegen Deutschland zu kämpfen. Die gegenseitigen Liebenswürdigkeiten, Schwüre, Küsse und Tränen, die jetzt zwischen den beiden kaiserlichen Höfen reichlich ausgetauscht werden, zwischen dem Onkel in Berlin und dem Neffen in Petersburg, bedeuten nichts. Es ist bekannt, daß das in der Politik keinen Heller wert ist. Die von uns berührte Frage wird mit unvermeidlicher Notwendigkeit durch die neue Lage Deutschlands gestellt, das über Nacht zu einem riesigen und allmächtigen Staat herangewachsen ist. Aber die ganze Geschichte bezeugt und die rationalste Logik bekräftigt, daß zwei gleich starke Staaten nebeneinander nicht existieren können, daß dies ihrem Wesen widerspricht, das stets und notwendig in Herrschaft besteht und sich darin ausdrückt; aber Vorherrschaft duldet keine Kräftegleichheit. Eine Macht muß unbedingt gebrochen werden, muß sich der anderen unterwerfen. Ja, das ist jetzt eine existentielle Notwendigkeit für Deutschland. Nach langer, langer politischer Demütigung wurde es plötzlich zur größten Macht auf dem europäischen Kontinent. Kann da Deutschland dulden, daß neben ihm, sozusagen direkt vor seiner Nase, ein von ihm völlig unabhängiger, von ihm

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noch nicht besiegter Staat besteht, der es wagt, sich mit ihm zu messen wie mit einem gleichrangigen! Und erst was für ein Staat, der russische und also meistgehaßte! Wir glauben, daß es wenige Russen gibt, die nicht wüßten, wie sehr die Deutschen, alle Deutschen, vor allem die deutschen Bourgeois, und unter ihrem Einfluß – o weh! – selbst das deutsche Volk, Rußland hassen. Sie haben immer die Franzosen gehaßt, aber dieser Haß ist nichts im Vergleich zu dem, den sie gegen Rußland hegen. Er ist eine der stärksten nationalen Leidenschaften der Deutschen. Wie ist diese allgemeine nationale Leidenschaft entstanden? Ihr Ursprung ist ganz ehrenwert. Es war der ungleich humanere, wenn auch deutsche Protest der Zivilisation gegen unsere tatarische Barbarei. Später, und zwar in den zwanziger Jahren, nahm sie den Charakter des Protests eines sehr viel bestimmteren politischen Liberalismus gegen einen politischen Despotismus an. Es ist bekannt, daß sich die Deutschen in den zwanziger Jahren ernsthaft Liberale nannten und an ihren Liberalismus glaubten. Sie haßten Rußland als Vertreter des Despotismus. Hätten sie allerdings gerecht sein können und wollen, dann hätten sie diesen Haß wenigstens zu gleichen Teilen unter Rußland, Preußen und Österreich aufteilen müssen. Aber das hätte ihrem Patriotismus widersprochen, und deshalb schoben sie Rußland die ganze Verantwortung für die Politik der Heiligen Allianz zu. Anfang der dreißiger Jahre weckte die polnische Revolution in ganz Deutschland lebhafteste Sympathien, und ihre blutige Niederwerfung verstärkte die Entrüstung der deutschen Liberalen gegen Rußland. All das war ganz natürlich und legitim, wenn auch hier die Gerechtigkeit verlangt hätte, daß wenigstens ein Teil dieser Entrüstung auf Preußen gefallen wäre, das offensichtlich Rußland bei der abscheulichen Aktion, die Polen zu unterwerfen, geholfen hat; und es hat durchaus nicht aus Großmut geholfen, sondern deshalb, weil sein eigenes Interesse dies erforderte, da die Befreiung des polnischen Königreichs und Litauens unbedingt den Aufstand des gesamten preu-

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ßischen Polen zur Folge gehabt und die eben entstandene Macht der preußischen Monarchie im Keim erstickt hätte. Aber in der zweiten Hälfte der dreißiger Jahre entstand ein weiterer Grund für die Deutschen, Rußland zu hassen, der diesem Haß einen völlig neuen, nicht mehr liberalen, sondern politisch-nationalen Charakter gegeben hatte: Es erhob sich die slawische Frage, und bald bildete sich unter den österreichischen und türkischen Slawen eine ganze Partei, die auf russische Hilfe zu hoffen begann. Schon in den zwanziger Jahren hatte die geheime Gesellschaft der Demokraten, und zwar der südliche Zweig dieser Gesellschaft unter Führung von Pestel', Murav'ev-Apostol und Bestužew-Rjumin,+82 den ersten Gedanken an eine freie allslawische Föderation gefaßt. Kaiser Nikolaus griff diesen Gedanken auf, änderte ihn aber auf seine Weise ab. Die allslawische freie Föderation verwandelte sich in seiner Vorstellung in einen einzigen panslawischen autokratischen Staat, selbstverständlich unter seinem eisernen Zepter. Anfang der dreißiger und vierziger Jahre begaben sich russische Agenten aus Petersburg und Moskau in slawische Länder, die einen offiziell, die anderen freiwillig und ohne Bezahlung. Letztere gehören der Moskauer keineswegs geheimen Gesellschaft der Slawophilen an. Unter den West- und Südslawen entstand eine panslawistische Propaganda. Es erschienen viele Broschüren. Diese Broschüren waren teils auf deutsch geschrieben, teils wurden sie ins Deutsche übersetzt und versetzten das pangermanische Publikum allen Ernstes in Schrecken. Unter den Deutschen erhob sich großes Geschrei. Die Vorstellung, daß Böhmen, das alte kaiserliche Land, das bis ins Herz Deutschlands reicht, sich losreißen und ein unabhängiges slawisches Land oder, was Gott verhüten möge, eine russische Provinz werden könnte, raubte ihnen Appetit und Schlaf, und seither hagelte es Verwünschungen auf Rußland, und der Haß der Deutschen auf die Russen ist seit dieser Zeit ständig angewachsen. Inzwischen hat er gewaltige Ausmaße angenommen. Die Russen schätzen ihrerseits die Deutschen auch nicht sehr; ist es bei so belasteten Beziehungen möglich,

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daß zwei benachbarte Reiche wie das allrussische und das pangermanische lange Frieden halten können? Indessen gibt es immer noch genügend Beweggründe, Frieden untereinander zu wahren. Der erste Grund ist Polen. Es gab drei habgierige Mächte, die wie die Räuber Polen untereinander aufgeteilt hatten: Österreich, Preußen und Rußland. Aber schon beim Zeitpunkt der Teilung und jedesmal danach, wenn sich die polnische Frage erneut erhob, war und blieb Österreich am wenigsten interessiert. Bekanntlich hat der österreichische Hof ganz am Anfang sogar gegen die Teilung protestiert, und nur auf beharrliches Drängen Friedrichs Il. und Katharinas Il. erklärte sich Kaiserin Maria Theresia+83 bereit, den ihr zugefallenen Anteil zu nehmen. Aus diesem Anlaß vergoß sie sogar löbliche Tränen, die in die Geschichte eingingen, aber den Anteil nahm sie trotzdem. Wie hätte sie ihn auch nicht annehmen sollen? Dafür war sie ja auch gekrönt, um zusammenraffen zu können. Den Monarchen sind keine Gesetze geschrieben, und ihr Appetit kennt keine Grenzen. In seinen Aufzeichnungen bemerkt Friedrich II., daß die österreichische Regierung, nachdem sie einmal beschlossen hatte, sich an der gemeinschaftlichen Ausplünderung Polens zu beteiligen, sich auf der Suche nach einem nicht existierenden Fluß beeilte, mit ihren Truppen viel mehr Land zu besetzen als nach Vertrag notwendig war. Trotzdem ist es bemerkenswert, daß Österreich beim Plündern betete und weinte, während Rußland und Preußen ihr räuberisches Werk spottend und lachend vollbrachten. Bekanntlich führten Katharina II. und Friedrich II. zur gleichen Zeit einen außerordentlich geistreichen und philanthropischen Briefwechsel mit französischen Philosophen. Noch bemerkenswerter ist, daß danach, sogar bis in unsere Zeit, jedesmal wenn das unglückliche Polen einen verzweifelten Versuch unternahm, sich zu befreien und zu rekonstituieren, der russische und der preußische Hof sich zornbebend und wutschnaubend offen oder insgeheim beeilten, mit vereinten Kräften den Aufstand niederzuwerfen, während Österreich, gleichsam unfreiwilliger

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und mitgerissener Komplize, nicht nur nicht in Aufregung geriet und sich ihren Maßnahmen nicht anschloß, sondern im Gegenteil schon bei den ersten Anzeichen eines neuen polnischen Aufstandes seine Bereitschaft zu bekunden schien, den Polen zu helfen und bis zu einem gewissen Grade auch tatsächlich half. So war es 1831 und noch deutlicher 1862, als Bismarck offen die Rolle eines russischen Gendarmen übernahm. Österreich dagegen gestattete den Polen, selbstverständlich insgeheim, Waffen nach Polen zu befördern. Wie soll man dieses unterschiedliche Verhalten erklären? Etwa mit dem Edelmut, der Menschenliebe und dem Gerechtigkeitssinn Österreichs? Nein, ganz einfach mit seinen Interessen. Nicht umsonst hat Maria Theresia geweint. Sie fühlte, daß sie, wenn sie mit den anderen einen Anschlag auf die politische Existenz Polens machte, dem österreichischen Reich das Grab schaufelte. Was konnte für Österreich vorteilhafter sein als die Nachbarschaft dieses zwar nicht sehr fähigen, aber streng konservativen und keinesfalls aggressiven Adelsstaates an seiner Nordostgrenze; durch ihn wurde es nicht nur von seinem unangenehmen Nachbarn Rußland befreit, sondern auch von Preußen getrennt; Polen diente Österreich als wertvoller Schutz vor beiden Eroberermächten. Es bedurfte aller gewohnten Dummheit und vor allem der Bestechlichkeit der Minister Maria Theresias und später der hochmütigen Engstirnigkeit und der böswillig-reaktionären Starrköpfigkeit des alten Metternich, der übrigens wie bekannt auch vom Petersburger und Berliner Hof Pension bezog, ja man mußte schon von der Geschichte dem Untergang geweiht sein, um das nicht zu begreifen. Das allrussische Imperium und das preußische Königreich sahen sehr wohl ihren jeweiligen Vorteil. Die erste Teilung Polens verschaffte die Bedeutung einer europäischen Großmacht; die zweite eröffnete den Weg zur heute unbestreitbaren Vorherrschaft. Sie warfen dem von Natur aus gefräßigen österreichischen Kaiserreich ein blutiges Stück des zerrissenen Polen hin und verdammten es gleichzeitig dazu, später ihrem ebenso

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unersättlichen Appetit geopfert zu werden. Solange sie diesen Appetit nicht befriedigt haben, solange sie die österreichischen Besitzungen nicht unter sich geteilt haben, so lange sind sie auch gezwungen, Verbündete und Freunde zu bleiben, obgleich sie einander von ganzem Herzen hassen. Es wäre nicht verwunderlich, wenn sie gerade bei der Teilung Österreichs in Streit gerieten, aber bis dahin kann nichts auf der Welt sie entzweien. Es bringt ihnen keinen Gewinn, sich zu streiten. Das neue preußisch-deutsche Reich hat gegenwärtig in Europa und auf der ganzen Welt keinen einzigen Verbündeten außer Rußland und vielleicht noch neben Rußland die Vereinigten Staaten von Amerika. Alle fürchten und hassen es, alle werden sich über seinen Sturz freuen, weil es alle unterdrückt, alle ausplündert. Indessen muß es noch viele Eroberungen machen, um den Plan und die Idee eines pangermanischen Reiches ganz zu verwirklichen. Es muß den Franzosen ganz Lothringen wegnehmen und nicht nur einen Teil davon; es muß Belgien, Holland, die Schweiz, Dänemark und die ganze skandinavische Halbinsel erobern; es muß sich auch unsere baltischen Provinzen aneignen, um allein die Ostsee zu beherrschen. Kurzum, mit Ausnahme des ungarischen Königreiches, das es den Madjaren, und Galiziens, das es zusammen mit der österreichischen Bukowina Rußland überlassen wird, wird es diesem Sachzwang gehorchen und unweigerlich die Eroberung ganz Österreichs bis einschließlich Triest und natürlich auch Böhmen anstreben, das ihr das Petersburger Kabinett nicht einmal in Gedanken streitig machen wird. Wir sind überzeugt und wissen bestimmt, daß schon seit langem zwischen dem Petersburger und dem deutschen Hof geheime Verhandlungen über mehr oder weniger detaillierte Fragen bei der Teilung des österreichischen Kaiserreichs geführt werden; und wie es immer bei freundschaftlichen Beziehungen zwischen zwei Großmächten zu sein pflegt, versuchen sie dabei natürlich ständig, sich gegenseitig übers Ohr zu hauen. Wie groß auch die Macht des preußisch-deutschen Reiches sein mag, so ist doch immerhin klar, daß es allein nicht stark

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genug ist, um solche riesigen Unternehmungen gegen den Willen ganz Europas durchzuführen. Daher ist das Bündnis mit Rußland eine zwingende Notwendigkeit und wird das noch lange bleiben. Besteht eine solche Notwendigkeit auch für Rußland? Stellen wir zunächst fest, daß unser Reich, mehr als alle anderen, vor allem nur ein Militärstaat+84 ist, denn für den Aufbau einer möglichst starken Militärmacht hat es vom ersten Tag seines Bestehens an alles geopfert, was Leben und Gedeihen eines Volkes ausmacht. Aber als Militärstaat will es nur ein Ziel erreichen, hat es nur ein Anliegen, das seiner Existenz Sinn gibt – die Eroberung. Ohne dieses Ziel wäre ein solches Reich einfach absurd. Also Eroberungen nach allen Seiten und um jeden Preis, das ist das normale Leben unseres Reiches. Die Frage ist jetzt, nach welcher Seite hin sich diese expansive Macht ausdehnen soll und will. Zwei Wege stehen ihr offen: der eine nach Westen, der andere nach Osten. Der westliche ist direkt gegen Deutschland gerichtet. Das ist der panslawistische Weg und zugleich der eines Bündnisses mit Frankreich gegen die vereinten Kräfte des preußischen Deutschland und des österreichischen Reiches, wobei wahrscheinlich England und die Vereinigten Staaten neutral bleiben. Der zweite Weg führt direkt nach Indien, Persien und Konstantinopel. Dabei wird sich Rußland Österreich, England und mit ihnen wahrscheinlich auch Frankreich zu Feinden machen und als Verbündete das preußische Deutschland und die Vereinigten Staaten gewinnen. Welchen dieser beiden Wege wird unser kriegerisches Reich wählen? Der Thronfolger soll ein leidenschaftlicher Panslawist, Deutschenhasser und erklärter Freund der Franzosen sein und für den ersten Weg eintreten; dafür aber der jetzt so segensreich herrschende Kaiser – Freund der Deutschen und liebender Neffe seines Onkels – für den zweiten. Jedoch handelt es sich nicht darum, wohin die Gefühle des einen oder des anderen tendieren; die Frage ist vielmehr die, wohin das Reich

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mit Aussicht auf Erfolg gehen kann, ohne daß es Gefahr läuft, zu zerbrechen. Kann es den ersten Weg einschlagen? Gewiß findet es hier das Bündnis mit Frankreich, ein Bündnis, das jetzt bei weitem nicht mehr jene Vorteile, jene materielle und moralische Kraft bietet, die es noch vor drei oder vier Jahren versprach. Die nationale Einheit Frankreichs ist unwiederbringlich zerstört. In den Grenzen des angeblich einen Frankreich existieren jetzt drei oder vier verschiedene und einander entschieden feindlich gesinnte Frankreichs: das aristokratisch-klerikale Frankreich, das aus dem Adel, dem Großbürgertum und den Pfaffen besteht, das rein bourgeoise Frankreich, das das mittlere und das Kleinbürgertum umfaßt, das Arbeiter-Frankreich, das das gesamte städtische und Fabrikproletariat einschließt, und schließlich das bäuerliche Frankreich. Mit Ausnahme der beiden letzteren, die sich einigen können und z.B. im Süden Frankreichs schon dabei sind, es zu tun, ist jede Aussicht auf Einmütigkeit unter den Klassen, ganz gleich in welchem Punkt, geschwunden, sogar wenn es gilt, das Vaterland zu schützen. Wir haben das dieser Tage gesehen. Die Deutschen standen noch in Frankreich und hielten Belfort besetzt in Erwartung der letzten Milliarde. Es blieben noch etwa drei bis vier Wochen bis zu ihrem Abzug aus dem Lande. Nein, die Mehrheit der Versailler Kammer, die aus schon fast krankhaft reaktionären Legitimisten, Orleanisten und Bonapartisten 38 bestand, wollte diese Frist nicht abwarten, stürzte Thiers und setzte an seine Stelle Marschall MacMahon,+85 der die moralische Ordnung in Frankreich mit der Gewalt der Bajonette wiederherzustellen versprach ... Frankreich als Staat hat aufgehört, ein Land voller Leben, Geist und großmütiger Regungen zu sein. Es ist gleichsam plötzlich entartet und übertrifft mit seinem Schmutz, seiner Gemeinheit, Bestechlichkeit, Bestialität, seinem Verrat, seiner Niedertracht und seiner hoffnungslosen und überwältigenden Dummheit alle anderen Länder. Über allem herrscht grenzenlose Unwissenheit. Es liefert sich dem Papst, den Pfaffen, der Inquisition, den Jesuiten, der himmlischen Gottesmut-

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ter und dem heiligen Laurentius aus. Es sucht allen Ernstes in der katholischen Kirche seine Wiedergeburt, in der Verteidigung der katholischen Interessen seine Bestimmung. Religiöse Prozessionen durchziehen das Land und ersticken mit ihren feierlichen Litaneien den Protest und die Klagen des bezwungenen Proletariats. Abgeordnete, Minister, Präfekten, Generäle, Professoren und Richter paradieren dabei mit der Kerze in der Hand, ohne zu erröten und ohne den geringsten Glauben im Herzen, sondern nur deshalb, »weil der Glaube für das Volk notwendig ist«. Übrigens gibt es eine ganze Menge gläubiger adliger Ultramontanen und Legitimisten, von Jesuiten erzogen, die lautstark fordern, daß sich Frankreich feierlich Christus und seiner unbefleckten Mutter weihe. Und zu eben der Zeit, wo der Reichtum des Volkes oder, genauer gesagt, die Arbeit des Volkes, die allen Reichtum hervorbringt, den Börsenspekulanten, Geschäftemachern, Besitzenden und Kapitalisten zur Plünderung übergeben ist, zu eben der Zeit, wo alle Staatsmänner, Minister, Abgeordneten, Beamten jeder Art – die zivilen und die militärischen – und Advokaten, vor allem jedoch all diese scheinheiligen Jesuiten in gewissenlosester Weise ihre Taschen füllen, liefert sich ganz Frankreich tatsächlich der Führung der Pfaffen aus. Die Priester haben das ganze Bildungswesen, die Universitäten, Gymnasien und Volksschulen in die Hand genommen; sie sind wieder Beichtväter und geistliche Führer der tapferen französischen Truppen geworden, die bald endgültig die Fähigkeit verlieren, gegen äußere Feinde zu kämpfen, dafür aber ein um so gefährlicherer Feind für das eigene Volk werden. Das ist die gegenwärtige Lage des französischen Staates! Er hat in kürzester Zeit das Österreich Schwarzenbergs (nach 1849) übertrumpft, aber wir wissen, womit dieses Österreich geendet hat: mit einer Niederlage in Italien+86, einer Niederlage in Böhmen+87 und dem allgemeinen Zusammenbruch. Allerdings ist Frankreich reich trotz der jüngsten Zerstörungen, reicher zweifellos als Deutschland, das in industrieller und kommerzieller Beziehung wenig Nutzen aus den von

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Frankreich gezahlten fünf Milliarden gezogen hat. Dieser Reichtum hat es dem französischen Volk ermöglicht, in sehr kurzer Zeit alle äußeren Zeichen eines mächtigen und geregelten Staatswesens wiederherzustellen. Aber man braucht nicht einmal tief einzudringen, es genügt, die trügerisch glänzende Oberfläche nur ein wenig anzuheben, um sich zu überzeugen, daß innen alles verfault ist, verfault deshalb, weil in diesem ganzen immer noch gewaltigen Staatskörper nicht einmal der Funke einer lebendigen Seele geblieben ist. Der Staat Frankreich geht unwiderruflich seinem Ende entgegen, und grausam täuscht sich, wer sich auf ein Bündnis mit ihm verläßt. Außer Ohnmacht und Furcht wird er dort nichts finden; Frankreich ist dem Papst, Christus, der Gottesmutter, der göttlichen Weisheit und der menschlichen Dummheit geweiht. Es ist den Dieben und Pfaffen zum Opfer gebracht worden, und wenn in ihm noch militärische Stärke verbleibt, so wird diese ganz beim Bezwingen und Niederwerfen des eigenen Proletariats verbraucht. Welchen Nutzen aber könnte ein Bündnis mit Frankreich bringen? Aber es gibt einen außerordentlich wichtigen Grund, der es unserer Regierung – sei es mit Alexander II. oder Alexander III. an der Spitze – niemals erlauben wird, den Weg westlicher oder panslawistischer Eroberung zu verfolgen. Das ist der Weg der Revolution, und zwar in dem Sinne, als er direkt zum Aufstand vor allem der slawischen Völker gegen ihre legitimen österreichischen und preußischdeutschen Herrscher führt. Er war Kaiser Nikolaus vom Fürsten Paskevič+88 vorgeschlagen worden. Nikolaus' Lage war gefährlich; er hatte zwei Großmächte, England und Frankreich, gegen sich.+89 Das dankbare Österreich drohte ihm. Nur das von ihm gedemütigte Preußen blieb treu, aber auch dieses gab dem Druck der drei Staaten nach, begann zu schwanken und machte ihm zusammen mit der österreichischen Regierung eindringliche Vorhaltungen. Nikolaus, der seinen ganzen Ruhm hauptsächlich darin sah, sich durch Unbeugsamkeit hervorzutun, mußte entweder nachge-

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ben oder sterben. Nachgeben war eine Schande, und sterben wollte er natürlich auch nicht. Und in dieser kritischen Minute wurde ihm der Vorschlag gemacht, das Banner des Panslawismus zu hissen, ja mehr noch, seiner Kaiserkrone die phrygische Mütze+90 aufzusetzen und nicht nur Slawen, sondern auch Madjaren, Rumänen und Italiener8 zur Revolte aufzurufen. Kaiser Nikolaus wurde nachdenklich, aber man muß ihm Gerechtigkeit widerfahren lassen; er schwankte nicht lange; er hat begriffen, daß seine langjährige durch reinsten Despotismus gekennzeichnete Laufbahn nicht revolutionär enden durfte. Er zog es vor zu sterben. Er hatte recht. Man konnte sich nicht im Inland mit seinem Despotismus brüsten und außerhalb seines Staates Revolution machen. Besonders unmöglich war das für Kaiser Nikolaus, da er beim ersten Schritt, den er auf diesem Weg getan hätte, Polen von Angesicht zu Angesicht gegenübergestanden hätte. War es denn möglich, die slawischen und anderen Völker zum Aufstand aufzurufen und Polen weiterhin zu unterdrücken! Aber was sollte man mit Polen tun? Es befreien? Man muß doch zugeben, daß für den Bestand eines allrussischen Staatswesens die Befreiung Polens entschieden unmöglich gewesen wäre, ganz zu schweigen davon, wie das allen Empfindungen Kaiser Nikolaus' widersprochen hätte. Jahrhundertelang hatte es einen Kampf zwischen zwei Staatsformen gegeben. Die Frage war nur, wer siegen würde, der Wille der Schlachta oder die Zarenknute. Vom Volk selbst war weder im einen noch im anderen Lager die Rede; bei beiden aber war es in gleicher Weise Sklave, Arbeitstier, Ernährer und stummer Sockel für den Staat. Am Anfang schien es, daß die Polen siegen würden. Auf ihrer Seite waren Bildung, Kriegskunst und Tapferkeit, und da ihre Truppen größtenteils der niederen Schlachta entstammten, kämpften sie als freie Menschen, die Russen hin-

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Wir haben von Mazzini selbst gehört, daß ihn zu dieser Zeit offiziöse russische Agenten in London um eine Zusammenkunft gebeten und ihm Angebote gemacht haben.+91

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gegen als Sklaven. Alle Chancen schienen auf ihrer Seite zu sein. Und tatsächlich gingen sie lange Zeit aus jedem Krieg als Sieger hervor, verwüsteten die russischen Provinzen, unterwarfen sogar einmal Moskau und setzten ihren Königssohn auf den Zarenthron.+92 Die Macht, die sie aus Moskau vertrieben hat, war nicht die des Zaren und auch nicht die der Bojaren, sondern die des Volkes. Solange die Volksmassen nicht in den Kampf eingriffen, waren die Polen erfolgreich. Aber sobald das Volk selbst als handelnder Akteur die Bühne betrat, einmal 1612 und das zweitemal beim allgemeinen Aufstand der kleinrussischen und litauischen Bauern unter Führung von Bogdan Chmel'nickij,+93 ließ sie das Glück ganz im Stich. Seither begann der freie Schlachta-Staat dahinzusiechen und zu verfallen, bis er endgültig unterging. Die russische Knute siegte mit Hilfe des Volkes, gleichzeitig natürlich zum großen Nachteil des Volkes, das zum Zeichen echter staatlicher Dankbarkeit den Zarenknechten, den adligen Gutsbesitzern, in erbliche Sklaverei übergeben wurde. Der jetzt regierende Kaiser Alexander II. hat, wie man so sagt, die Bauern befreit. Wir wissen, was das für eine Befreiung war. Indessen entstand gerade auf den Ruinen des polnischen Schlachta-Staates das allrussische Knutenimperium. Nimmt man ihm dieses Fundament, diese Provinzen, die bis 1772 zum polnischen Staat gehörten, dann wird das allrussische Reich verschwinden. Es wird verschwinden, weil sich mit dem Verlust dieser reichsten, fruchtbarsten und am dichtesten besiedelten Provinzen sein ohnehin nicht großer Reichtum und seine Stärke um die Hälfte verringern werden. Diesem Verlust wird der Verlust der baltischen Gebiete unverzüglich folgen, und angenommen, der wieder im Aufbau begriffene polnische Staat würde nicht nur auf dem Papier, sondern tatsächlich wiederhergestellt und begänne ein neues mächtiges Leben, dann würde das Reich sehr bald ganz Kleinrußland verlieren, das entweder eine polnische Provinz oder ein selbständiger Staat würde, und mit Klein-

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rußland auch seine Schwarzmeergrenze. Es würde an allen Seiten von Europa abgeschnitten und nach Asien zurückgedrängt. Andere meinen, daß das Reich wenigstens Litauen an Polen zurückgeben könnte. Nein, es kann nicht, aus eben diesen Gründen. Das vereinigte Litauen+94 und Polen würde dem polnischen Staatspatriotismus unbedingt, und man kann sagen zwangsläufig, als breite Ausgangsbasis für die Eroberung der baltischen Provinzen und der Ukraine dienen. Es genügt schon, nur das polnische Königreich zu befreien. Warschau würde sich sofort mit Wilna, Grodno, Minsk und vielleicht mit Kiew einigen, ganz zu schweigen von Podolien und Wolhynien. Was also tun? Die Polen sind ein so ruheloses Volk, daß man ihnen auch kein einziges freies Plätzchen lassen kann; sofort beginnen sie, sich zu verschwören und geheime Beziehungen zu allen verlorenen Provinzen aufzunehmen mit dem Ziel, den polnischen Staat wiederherzustellen. 1841 z.B. blieb ihnen nur die freie Stadt Krakau, und Krakau wurde zum Zentrum der allpolnischen revolutionären Tätigkeit. Ist es nicht klar, daß ein solches Reich nur unter der Bedingung weiter existieren kann, daß es Polen nach der Methode Murav'evs unterdrückt? Wir sagen das Reich und nicht das russische Volk, das unserer Überzeugung nach mit dem Reich nichts gemein hat und dessen Interessen und auch alle instinktiven Bestrebungen den Interessen und bewußten Bestrebungen des Reiches absolut entgegengesetzt sind. Sobald das Reich zusammenbricht und die Völker Großrußlands, Kleinrußlands, Weißrußlands und andere ihre Freiheit wiedererlangen, werden die ehrgeizigen Pläne der polnischen Staatspatrioten für sie nicht mehr schrecklich sein; tödlich können sie nur für das Reich sein. Das ist der Grund, weshalb kein allrussischer Kaiser, wenn er nur bei Verstand ist und ihn keine eiserne Notwendigkeit zwingt, jemals damit einverstanden sein kann, auch nur dem kleinsten Teil Polens die Freiheit zu geben. Und wenn er nicht einmal die Polen befreit hat, kann er dann die Slawen zum Aufstand aufrufen?

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Die Gründe, die ihn daran gehindert haben, das panslawistische Rebellionsbanner zu hissen, bestehen heute noch genauso, nur mit dem Unterschied, daß dieser Weg damals mehr Nutzen versprach als heute. Damals konnte man noch mit dem Aufstand der Madjaren und der Italiener rechnen, auf denen das verhaßte Joch Österreichs lastete. Jetzt würde Italien ohne Zweifel neutral bleiben, da Österreich – bloß um Italien loszuwerden – ihm wahrscheinlich ohne jeglichen Streit die wenigen Reste italienischen Landes zurückgeben würde, die es noch in seinem Besitz hält. Was die Madjaren angeht, so kann man wahrscheinlich sagen, daß sie mit der ganzen Leidenschaft, die ihnen durch ihr eigenes Herrschaftsverhältnis zu den Slawen suggeriert wird, die Partei der Deutschen gegen die Russen ergreifen würden. Also könnte der russische Kaiser, wenn er einen panslawischen Krieg gegen Deutschland auslöste, allein mit der mehr oder weniger aktiven Unterstützung der Slawen rechnen und auch hier nur der österreichischen Slawen, denn wenn es ihm einfiele, auch die türkischen aufzuwiegeln, dann würde er sich einen neuen Feind machen, nämlich England, diesen eifersüchtigen Verfechter eines selbständigen ottomanischen Staates. In Österreich gibt es etwa 17 Millionen Slawen; zieht man die 5 Millionen Einwohner Galiziens ab, wo die mehr oder weniger sympathisierenden Ruthenen von den feindlichen Polen paralysiert würden, so bleiben noch 12 Millionen, mit deren Aufstand der russische Kaiser vielleicht rechnen könnte. Ausgenommen sind natürlich noch diejenigen, die vom österreichischen Heer angeworben wurden und die nach den Gepflogenheiten eines jeden Heeres gegen jeden kämpfen, gegen den die Obrigkeit es befiehlt. Hinzu kommt noch, daß diese 12 Millionen nicht einmal auf einem oder mehreren Punkten konzentriert, sondern über das ganze österreichische Reich verstreut sind, daß sie verschiedene Mundarten sprechen und mit der deutschen, madjarischen, rumänischen und nicht zuletzt der italienischen Bevölkerung vermischt sind. Das ist sehr viel, wenn es gilt, die

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österreichische Regierung und überhaupt die Deutschen in ständiger Unruhe zu halten, aber viel zu wenig, um den russischen Truppen eine ernstzunehmende Unterstützung gegen die vereinten Kräfte Preußen-Deutschlands und Österreichs zu verschaffen. O weh! Die russische Regierung weiß das und hat es immer sehr gut begriffen; deshalb hat sie nie beabsichtigt und wird dies auch künftig nicht tun, einen panslawischen Krieg gegen Österreich zu führen, der sich zwangsläufig in einen Krieg gegen ganz Deutschland verwandeln würde. Aber wenn unsere Regierung keine solche Absicht hat, warum treibt sie dann auf dem österreichischen Territorium durch ihre Agenten regelrechte panslawistische Propaganda? Aus einem sehr einfachen Grund, aus eben dem, den wir gerade nannten, weil es nämlich für die russische Regierung sehr angenehm und nützlich ist, eine solche Vielzahl glühender und zugleich blinder, um nicht zu sagen dummer Anhänger in allen österreichischen Provinzen zu haben. Das lähmt, behindert und beunruhigt die österreichische Regierung und verstärkt den Einfluß Rußlands nicht nur auf Österreich, sondern auch auf ganz Deutschland. Das kaiserliche Rußland wiegelt die österreichischen Slawen gegen die Madjaren und Deutschen auf, wobei es sehr gut weiß, daß es sie letzten Endes gerade diesen Madjaren und Deutschen ausliefern wird. Ein gemeines Spiel, bei einem Staat aber durchaus üblich. Das allrussische Reich würde also im Falle eines panslawischen Krieges gegen die Deutschen wenig Verbündete und tatkräftige Unterstützung im Westen finden. Sehen wir uns jetzt an, gegen wen es kämpfen muß. Erstens gegen alle preußischen und österreichischen Deutschen, zweitens gegen die Madjaren und drittens gegen die Polen. Lassen wir die Polen und selbst die Madjaren außer acht und fragen wir, ob das kaiserliche Rußland fähig ist, einen Angriffskrieg gegen die vereinten Kräfte des ganzen preußischen und österreichischen Deutschland oder auch nur gegen Preußen-Deutschland allein zu führen. Wir sagen Angriffskrieg, weil hier vorausgesetzt wird, daß Rußland sich angeblich zur Befreiung

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der österreichischen Slawen, in Wirklichkeit aber zu deren Unterwerfung, in diesen Krieg stürzt. Vor allen Dingen besteht kein Zweifel, daß ein Angriffskrieg in Rußland nie zu einem nationalen Krieg wird. Das ist fast eine allgemeine Regel; Völker nehmen selten lebhaften Anteil an Kriegen, die von ihren Regierungen außerhalb der Landesgrenzen geführt werden. Solche Kriege pflegen meistens ausschließlich politischer Natur zu sein, wenn nicht ein religiöses oder revolutionäres Interesse hinzukommt. Das waren für die Deutschen, Franzosen, Holländer, Engländer und sogar Schweden im XVI. Jahrhundert die Kriege zwischen den Reformierten und den Katholiken. Das waren für Frankreich am Ende des XVIII. Jahrhunderts die Revolutionskriege. Doch in der neuesten Geschichte kennen wir nur zwei Beispiele dafür, daß die Volksmassen mit wirklicher Sympathie zu den politischen Kriegen standen, die ihre Regierungen zur Erweiterung der Staatsgrenzen oder aus irgendwelchen anderen ausschließlich staatlichen Interessen vom Zaun gebrochen hatten. Das erste Beispiel lieferte das französische Volk unter Napoleon I. Aber es ist noch nicht beweiskräftig genug, denn die kaiserlichen Truppen waren die unmittelbaren Nachfolger und das gleichsam natürliche Ergebnis der Revolutionstruppen, so daß das französische Volk sie sogar nach dem Sturz Napoleons weiterhin als Erscheinungsform desselben revolutionären Interesses betrachtete. Viel beweiskräftiger ist das zweite Beispiel, nämlich die glühende Begeisterung, die das ganze deutsche Volk bei dem sinnlosen großen Krieg erfaßte, den der neu gegründete preußisch-deutsche Staat gegen das zweite französische Kaiserreich geführt hat. Ja, in dieser bedeutsamen, kaum zu Ende gegangenen Epoche war das ganze deutsche Volk, waren alle Schichten der deutschen Gesellschaft, höchstens vielleicht mit Ausnahme eines kleinen Häufchens von Arbeitern, ausschließlich von politischem Interesse durchdrungen, dem Interesse, einen pangermanischen Staat zu gründen und seine Grenzen zu erweitern. Und noch heute dominiert dieses Interesse im Geist und im

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Herzen aller Deutschen ohne Unterschied des Standes; das ist es auch, was gegenwärtig die besondere Stärke Deutschlands ausmacht. Jedem, der Rußland ein wenig kennt und versteht, muß klar sein, daß in Rußland kein von unserer Regierung geführter Angriffskrieg zu einem nationalen Krieg wird. Erstens, weil unserem Volk nicht nur jedes Staatsinteresse fremd, sondern sogar instinktiv zuwider ist. Der Staat – das ist ein Gefängnis. Welche Notwendigkeit bestünde für ein Volk, sein Gefängnis zu befestigen? Zweitens gibt es zwischen der Regierung und dem Volk keinerlei Verbindung, nicht ein einziges lebendiges Band, das sie in irgendeiner Sache auch nur für einen Moment verknüpfen könnte; es gibt weder die Fähigkeit noch die Möglichkeit zum gegenseitigen Verständnis. Was für die Regierung weiß ist, ist für das Volk schwarz, und was umgekehrt dem Volk sehr weiß erscheint, was ihm Leben und Freiheit bedeutet, das ist für die Regierung der Tod. Vielleicht fragt man mit Puškin: »Meint ihr, des Zaren Wort wird ungehört verklingen?«+95 Ja, ungehört, wenn es vom Volk verlangt, was dem Volk widerstrebt. Soll er dem Volk nur einmal einen Wink geben und ihm zurufen: Fesselt und tötet die Gutsbesitzer, Beamten und Kaufleute, nehmt ihren Besitz und teilt ihn untereinander auf – augenblicklich würde sich das ganze russische Volk erheben, und am anderen Tage wäre nicht einmal mehr eine Spur von Kaufleuten, Beamten und Gutsbesitzern auf russischem Boden zurückgeblieben. Aber solange er dem Volk befiehlt, Steuern zu zahlen, dem Staat Soldaten zu geben und für den Profit der Gutsbesitzer und Kaufleute zu arbeiten, wird sich das Volk widerwillig wie jetzt dem drohenden Knüppel unterwerfen, doch sobald es kann, wird es den Gehorsam verweigern. Wo ist also hier der magische und wundertätige Einfluß des Zarenwortes? Was kann der Zar dem Volk schon sagen, um dessen Herz zu erregen oder seine Phantasie zu beflügeln? Als Kaiser Nikolaus 1828 der Pforte+96 den Krieg erklärte mit dem Vorwand, daß unsere griechischen und slawischen Glaubensgenossen in der Türkei verfolgt würden, versuchte er mit seinem Manifest,

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das er in den Kirchen verlesen ließ, im Volk religiösen Fanatismus zu entfachen. Der Versuch mißglückte völlig. Wenn irgendwo bei uns erschreckende und eigensinnige Religiosität existiert, dann vielleicht nur bei den Raskolniki, die den Staat weniger als alle anderen anerkennen, ja nicht einmal den Kaiser. In der orthodoxen Staatskirche herrscht totes, routinemäßiges Zeremoniell neben tiefster Gleichgültigkeit.+97 Am Anfang des Krimkrieges, als England und Frankreich den Krieg erklärten, versuchte Nikolaus noch einmal, den religiösen Fanatismus im Volk zu wecken und das ebenso erfolglos. Erinnern wir uns daran, was während dieses Krieges im Volk gesagt wurde: »Der Franzose fordert, daß man uns die Freiheit gibt.« – Es gibt eine Landwehr, aber alle wissen, wie sie gebildet wurde: zum größten Teil auf Befehl des Zaren und auf Anordnung der Obrigkeit. Das war auch eine Rekrutenzeit, nur von etwas anderer Art und befristet. An vielen Orten versprach man den Bauern, daß sie nach Beendigung des Krieges freigelassen würden. Das also ist das Interesse am Staat bei unserer Bauernschaft! Bei den Kaufleuten und beim Adel äußerte sich der Patriotismus auf besonders originelle Weise: durch geistlose Reden, lautstarke Ergebenheitserklärungen und vor allem durch Bankette und Saufgelage. Als die einen Geld geben und die anderen höchstpersönlich an der Spitze ihrer Mužiks in den Krieg ziehen mußten, erwiesen sich die Freiwilligen als sehr wenig zahlreich. Jeder versuchte, einen Ersatzmann für sich zu finden. Die Landwehr machte viel Lärm, brachte aber nicht den geringsten Nutzen. Nun war der Krimkrieg noch nicht einmal ein Angriffskrieg, sondern ein Verteidigungskrieg, d.h. er hätte zu einem nationalen werden können und müssen. Warum aber geschah das nicht? Deshalb, weil unsere oberen Klassen verfault, niederträchtig und gemein sind und das Volk der natürliche Feind des Staates ist. Und dieses Volk hofft man, für die slawische Frage zu mobilisieren! Unter unseren Slawophilen gibt es einige ehrliche Leute, die im Ernst daran glauben, daß das russische Volk vor

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Ungeduld danach brennt, den »slawischen Brüdern« zu Hilfe zu eilen, von deren Existenz es nicht einmal weiß. Man würde es in größtes Erstaunen versetzen, sagte man ihm, daß es selbst ein slawisches Volk ist. Duchinskijt+98 und seine polnischen und französischen Anhänger leugnen natürlich, daß slawisches Blut in den Adern der Großrussen fließt, und versündigen sich damit gegen die historische und ethnographische Wahrheit. Aber Duchinskij, der unser Volk so wenig kennt, wird wahrscheinlich gar nicht den Verdacht hegen, daß sich dieses Volk nicht im geringsten um seine slawische Herkunft schert. Wie sollte sich auch dieses gequälte, hungernde und angeblich vom slawischen, in Wirklichkeit aber vom tatarisch-deutschen Reich geknechtete Volk dafür interessieren? Wir dürfen die Slawen nicht betrügen. Wer ihnen von einer wie auch immer gearteten Beteiligung des russischen Volkes an der slawischen Frage spricht, der täuscht sich entweder selbst entsetzlich oder er lügt gewissenlos, d.h. er lügt zu einem unsauberen Zweck. Wenn wir russischen sozialistischen Revolutionäre das slawische Proletariat und die slawische Jugend zur gemeinsamen Sache aufrufen, dann bieten wir ihnen als gemeinsamen Boden für die Sache keineswegs unsere mehr oder weniger slawische Herkunft an. Wir können nur einen Boden anerkennen: die Soziale Revolution, ohne die wir weder für ihre Völker noch für unser Volk Rettung sehen. Wir meinen, daß sich die Slawen aufgrund vieler Gemeinsamkeiten im Charakter, im historischen Schicksal, in den vergangenen und gegenwärtigen Bestrebungen aller slawischen Völker und auch aufgrund ihrer gleichen Haltung gegenüber dem Staatsanspruch des deutschen Volkes gerade auf diesem Boden brüderlich vereinigen können, und zwar nicht, um einen gemeinsamen Staat zu gründen, sondern um alle Staaten zu zerstören, und nicht, um untereinander eine abgeschlossene Welt zu bilden, sondern um gemeinsam die internationale Bühne zu betreten und dabei notwendigerweise mit dem Abschluß eines engen Bündnisses mit den romanischen Völkern zu beginnen, die heute genauso wie die Slawen von der Eroberungspolitik der Deutschen bedroht sind.

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Doch auch dieses Bündnis gegen die Deutschen darf nur so lange währen, bis die Deutschen aus eigener Erfahrung gelernt haben, mit welch zahlreichen Übeln die Existenz eines Staates, sogar eines scheinbaren Volksstaates, für das Volk selbst verbunden ist, bis sie das Staatsjoch abgeworfen und für immer ihrer unglücklichen Leidenschaft für staatliche Vorrangstellung entsagt haben. Dann und nur dann werden sich die drei Hauptvölker in Europa, die Romanen, die Slawen und die Germanen, zu einem freien brüderlichen Bündnis zusammenschließen. Doch bis dahin bleibt das Bündnis zwischen den slawischen und den romanischen Völkern gegen die alle in gleicher Weise bedrohende deutsche Aggression eine bittere Notwendigkeit. Seltsame Bestimmung des deutschen Volkes! Dadurch, daß es allgemein Angst und Haß gegen sich weckt, vereint es die Völker. So hat es die Slawen vereint; denn zweifellos hat der Haß gegen die Deutschen, der tief im Herzen aller slawischen Völker verwurzelt ist, weit mehr zum Erfolg der panslawistischen Propaganda beigetragen als alle Belehrungen und Intrigen der Moskauer und Petersburger Agenten. Nun wird wahrscheinlich der gleiche Haß die Slawen zu einem Bündnis mit den Romanen verlocken. In diesem Sinne ist auch das russische Volk durchaus ein slawisches. Die Deutschen mag es nicht. Aber man darf sich nicht täuschen: Seine Abneigung reicht nicht so weit, daß es aus eigenem Antrieb gegen sie zu Felde ziehen würde. Sie wird erst dann zutage treten, wenn die Deutschen selbst nach Rußland kommen und hier zu wirtschaften gedenken. Wer aber mit irgendeiner Beteiligung unseres Volkes an einer Offensive gegen Deutschland rechnet, der täuscht sich sehr. Hieraus folgt, daß unsere Regierung, wenn sie eines Tages irgendeine Aktion plant, sie diese ohne jegliche Hilfe des Volkes durchführen muß, allein mit ihren staatlichen, finanziellen und militärischen Mitteln. Aber reichen diese Mittel aus, um gegen Deutschland zu kämpfen, ja mehr noch, um mit Erfolg einen Angriffskrieg gegen es zu führen?

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Man muß schon ein völliger Ignorant oder ein blinder Bierpatriot sein, wenn man leugnen wollte, daß alle unsere militärischen Mittel und unsere berüchtigte, angeblich zahllose Armee nichts sind im Vergleich zu den tatsächlichen Mitteln und der Armee der Deutschen. Der russische Soldat ist zweifellos tapfer, aber auch die deutschen Soldaten sind keine Feiglinge; das haben sie nacheinander in drei Feldzügen bewiesen. Hinzu kommt, daß die deutschen Truppen, falls sie von den Russen angegriffen würden, bei sich zu Hause kämpfen – unterstützt von einer patriotischen und diesmal tatsächlich allgemeinen Erhebung bestimmt aller Klassen und der ganzen Bevölkerung Deutschlands, unterstützt auch von ihrem eigenen patriotischen Fanatismus -, während die russischen Soldaten sich ohne Sinn und Verstand und nur auf Befehl schlagen. Was den Vergleich russischer Offiziere mit deutschen angeht, so geben wir vom rein menschlichen Standpunkt aus unserem Offizierstyp den Vorzug, nicht weil es unserer ist, sondern auf der Grundlage strengster Gerechtigkeit. Trotz aller Bemühungen unseres Kriegsministers Miljutin+99 ist die große Masse unserer Offiziere so geblieben wie früher – grob, unwissend und fast in jeder Beziehung völlig gedankenlos. Exerzieren, Gelage, Kartenspiel, Zecherei und, wenn es etwas zu erbeuten gibt, – gerade bei den höheren Dienstgraden, angefangen vom Kompanie-, Schwadrons- oder Bataillonschef – regelrechter, beinahe legalisierter Diebstahl: Das sind bis heute die täglichen Zugeständnisse an das Leben eines russischen Offiziers. Eine äußerst leere und rohe Welt, auch wenn man französisch spricht. Aber in dieser Welt kann man inmitten gröbster und schlimmster Unordnung ein menschliches Herz finden, die Fähigkeit, Menschliches instinktiv zu lieben und zu verstehen, sowie unter günstigen Umständen und bei gutem Einfluß die Fähigkeit, ein ganz bewußter Freund des Volkes zu werden. In der Welt des deutschen Offiziers gibt es nichts außer der Form, dem militärischen Reglement und der abstoßenden, besonders Offizieren eigenen Arroganz, die aus zwei Elemen-

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ten besteht: aus lakaienhaftem Gehorsam gegenüber allem, was hierarchisch höher steht, und aus unverschämter Verachtung für alles, was seiner Meinung nach im Rang niederer steht, zunächst für das Volk und dann für alles, was keine Uniform trägt mit Ausnahme lediglich der obersten Zivilbeamten und des Adels. Vor seinem Herrn, sei es ein Herzog, König oder heute der deutsche Kaiser, ist der deutsche Offizier Sklave aus Überzeugung, aus Leidenschaft. Auf seinen Wink hin ist er bereit, immer und überall die schlimmsten Verbrechen zu begehen und Dutzende, ja Hunderte nicht nur fremder, sondern auch eigener Städte und Dörfer mit Feuer und Schwert auszurotten. Für das Volk empfindet er nicht nur Verachtung, sondern sogar Haß, weil er ständig seine Revolte oder seine Bereitschaft zu revoltieren vermutet, womit er ihm allerdings zuviel Ehre antut. Übrigens, nicht er allein vermutet dies; heutzutage tun das alle privilegierten Klassen: Den deutschen Offizier und überhaupt jeden Offizier einer regulären Armee kann man den privilegierten Wachhund der privilegierten Klassen nennen. Die ganze Welt der Ausbeuter in Deutschland und außerhalb Deutschlands schaut auf das Volk mit Furcht und Mißtrauen, die leider nicht immer gerechtfertigt sind, die aber nichtsdestoweniger ohne Zweifel beweisen, daß sich in den Volksmassen bereits diejenige bewußte Kraft zu erheben beginnt, die diese Welt vernichten wird. Und wie bei einem guten Wachhund sträuben sich beim deutschen Offizier die Haare beim bloßen Gedanken an die Volksmassen. Seine Vorstellungen von den Rechten und Pflichten des Volkes sind äußerst patriarchalisch. Seiner Meinung nach muß das Volk arbeiten, damit die Herren etwas zum Anziehen und zum Essen haben, es muß der Obrigkeit blind gehorchen, muß Staatssteuern zahlen und kommunalen Verpflichtungen nachkommen, muß selbst Militärdienst leisten, dem Offizier die Stiefel putzen und das Pferd vorführen; wenn er befiehlt und den Säbel schwingt, muß es den ersten besten erschießen, erstechen oder erschlagen und auf Befehl für Kai-

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ser und Vaterland in den Tod gehen. Wenn der einfache Mann nach Ablauf seines aktiven Wehrdienstes verwundet und verstümmelt ist, muß er von Almosen leben. Kehrt er heil und unversehrt zurück, muß er zur Reserve gehen, dort bis zu seinem Tode dienen und dabei immer der Obrigkeit gehorchen, sich jedem Vorgesetzten beugen und bereit sein, auf Verlangen zu sterben. Jede Erscheinung im Volk, die diesem Ideal widerspricht, kann den deutschen Offizier zur Raserei bringen. Man kann sich leicht vorstellen, wie er die Revolutionäre hassen muß. Unter dieser allgemeinen Bezeichnung versteht er alle Demokraten und sogar die Liberalen, mit einem Wort, jeden, der sich in welchem Maße und welcher Form auch immer erkühnt, etwas zu tun, zu wollen und zu denken, was dem heiligen Denken und Willen Seiner kaiserlichen Majestät, des Herrschers aller Deutschen, zuwiderläuft. Man kann sich vorstellen, mit welchem besonderen Haß der deutsche Offizier zu den revolutionären Sozialisten oder vielleicht sogar zu den Sozialdemokraten seines Vaterlandes stehen muß. Ihre bloße Erwähnung bringt ihn zur Raserei, und er hält es für unanständig, anders als wutschnaubend von ihnen zu sprechen. Wehe denen, die in seine Hände geraten, und leider sind in letzter Zeit in Deutschland viele Sozialdemokraten den Offizieren zwischen die Finger geraten. Da diese nicht das Recht haben, sie zu zerfleischen oder unverzüglich zu erschießen und auch nicht wagen, handgreiflich zu werden, versuchen sie, ihre rasende, gemeine Wut in beleidigendsten Maßnahmen, Schikanen, Gesten und Worten auszutoben. Wenn man es ihnen aber erlaubte, wenn die Obrigkeit es anordnete, dann würden sie mit dem gleichen wütenden Eifer und vor allem mit dem gleichen Offiziersstolz die Rolle des Folterknechts und Henkers übernehmen. Man schaue sich nur diese zivilisierte Bestie, diesen Lakaien aus Überzeugung und Henker aus Berufung an. Ist er jung, so sieht man mit Erstaunen anstelle eines Ungetüms einen blonden Jüngling wie Milch und Blut, mit leichtem Flaum auf der

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Oberlippe, bescheiden, still und sogar schüchtern, aber stolz – die Arroganz schimmert durch – und unbedingt sentimental. Er kennt Schiller und Goethe auswendig, und die ganze humanistische Literatur des großen vergangenen Jahrhunderts ist durch seinen Kopf gegangen, ohne darin auch nur einen einzigen menschlichen Gedanken oder in seinem Herzen das geringste menschliche Gefühl zurückgelassen zu haben. Den Deutschen, vorwiegend den deutschen Beamten und Offizieren, war es überlassen, eine anscheinend unlösbare Aufgabe zu lösen: Bildung mit Barbarei und Gelehrsamkeit mit Lakaientum zu vereinen. Das macht sie in gesellschaftlicher Hinsicht abstoßend und gleichzeitig äußerst lächerlich, macht sie zu systematischen und unerbittlichen Verbrechern gegenüber den Volksmassen, dafür aber zu wertvollen Menschen im Staatsdienst. Die deutschen Bürger wissen das und patriotisch ertragen sie in diesem Wissen von ihnen alle möglichen Kränkungen, weil sie in ihnen ihre eigene Natur erkennen und vor allem deshalb, weil sie diese kaiserlich privilegierten Hunde ihres Volkes, von denen sie so oft aus Langeweile gebissen werden, als sicherstes Bollwerk des pangermanischen Staates ansehen. Für eine reguläre Armee kann man sich wirklich nichts Besseres vorstellen als den deutschen Offizier. Ein Mensch, der in sich Gelehrsamkeit mit Schurkerei verbindet und Schurkerei mit Tapferkeit, strenge Pflichterfüllung mit der Fähigkeit zu Eigeninitiative, Korrektheit mit Bestialität, und Bestialität mit einer eigentümlichen Rechtschaffenheit, eine gewisse einseitige, ja schwächliche Überspanntheit mit seltener Unterwürfigkeit unter den Willen der Obrigkeit, ein Mensch, der immer bereit ist, Dutzende, Hunderte und Tausende von Menschen auf das geringste Zeichen seiner Vorgesetzten abzuschlachten oder kurz und klein zu schlagen, der still, bescheiden, friedfertig und gehorsam ist, vor den Vorgesetzten stets stramm steht, der zu den Soldaten hochmütig, kühl herablassend und wenn nötig auch grausam ist, ein Mensch, dessen ganzes Leben sich mit zwei Worten ausdrücken läßt: gehorchen und komman-

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dieren, ein solcher Mensch ist für die Armee und für den Staat unersetzlich. Was den Drill der Soldaten angeht, so ist das eines der wichtigsten Dinge bei der Organisation eines guten Heeres; in der deutschen Armee brachte man ihn zu systematischer, tief durchdachter sowie praktisch erprobter und realisierter Perfektion. Das aller Disziplin zugrunde liegende Hauptprinzip besteht aus dem folgenden Aphorismus, den wir vor nicht allzu langer Zeit von vielen preußischen, sächsischen, bayerischen und anderen deutschen Offizieren immer wieder gehört haben, die seit dem Frankreichfeldzug in ganzen Scharen durch die Schweiz spazieren, wahrscheinlich um das Gelände zu studieren und Pläne anzufertigen, was immer nützlich ist. Das ist der folgende Aphorismus: »Will man die Seele eines Soldaten beherrschen, muß man zuerst seinen Leib beherrschen.« Aber wie kann man das? Durch ununterbrochenes Exerzieren. Man soll nicht glauben, daß die deutschen Offiziere die Ausbildung im Marschieren verachten, nicht im geringsten; sie sehen darin eines der besten Mittel, dem Soldaten die Knochen zu brechen und ihn dann ganz zu beherrschen. Dann gibt es noch Waffenübungen, Waffenpflege sowie das Putzen und Flicken der Uniformen. Der Soldat muß von morgens bis abends beschäftigt sein und ständig bei jedem Schritt das strenge, kalte, hypnotisierende Auge seiner Vorgesetzten auf sich fühlen. Im Winter, wenn mehr Zeit bleibt, jagt man die Soldaten in die Schule und bringt sie dort im Lesen, Schreiben und Rechnen weiter, vor allem aber läßt man sie die Dienstvorschrift auswendig lernen, die voller Vergötterung für den Kaiser und Fürsorge für das Volk ist: Vor dem Kaiser ist das Gewehr zu präsentieren und auf das Volk zu schießen. Das ist die Quintessenz der moralisch-politischen Ausbildung der Soldaten. Wenn der Soldat erst drei, vier, ja fünf Jahre in dieser traurigen Umgebung verbracht hat, kann er nur als Krüppel wieder daraus hervorgehen, Dasselbe gilt auch für Offiziere, wenn auch in anderer Form, Den Soldaten will man zu einem willenlosen

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Prügel machen; der Offizier jedoch muß willentlich Prügel sein, aus Überzeugung, aus Gesinnung, aus Interesse, aus Leidenschaft. Seine Welt ist die Gesellschaft der Offiziere; von ihr entfernt er sich keinen Schritt weit, und das ganze, vom oben beschriebenen Geist durchdrungene Offizierskorps paßt auf jeden auf. Wehe dem Unglücklichen, der sich aus Unerfahrenheit oder irgendeinem menschlichen Gefühl heraus erlaubt, seine Freunde in anderen Kreisen zu suchen. Sind diese Kreise politisch harmlos, dann wird man ihn bloß auslachen. Haben sie aber eine politische Richtung, die mit der allgemeinen Richtung der Offiziere nicht übereinstimmt, etwa eine liberale, demokratische oder gar sozialrevolutionäre, dann ist der Unglückliche verloren. Jeder Kamerad wird ihm dann zum Denunzianten. Überhaupt ist es der Führungsspitze lieber, wenn die Offiziere mehr unter sich sind, und sie bemüht sich, ihnen wie den Soldaten möglichst wenig Freizeit zu lassen. Die Ausbildung der Soldaten und ihre fortwährende Beaufsichtigung verschlingen schon drei Viertel des Tages; das verbleibende Viertel muß der Vervollkommnung in den Kriegswissenschaften gewidmet werden. Ehe sich der Offizier zum Majorsrang hochdienen kann, muß er einige Prüfungen abgelegt haben; außerdem gibt man ihm Terminarbeiten zu verschiedenen Fragen, und nach diesen Arbeiten wird bestimmt, ob er sich zur Beförderung eignet. Wie wir sehen, ist die Welt des Militärs in Deutschland, übrigens genau wie auch in Frankreich, vollkommen in sich geschlossen, und diese Abgeschlossenheit ist die sichere Garantie dafür, daß diese Welt zum Feind des Volkes wird. Aber die deutsche militärische Welt hat vor der französischen und auch vor allem anderen Militär in Europa einen Riesenvorteil: Die deutschen Offiziere übertreffen alle Offiziere auf der Welt an gründlichem, umfassendem Wissen, an theoretischer und praktischer Kenntnis des Militärwesens, an glühender und durchaus pedantischer Hingabe an das Kriegshandwerk, an Pünktlichkeit, Genauigkeit, Ausdauer, unermüdlicher Geduld und auch an verhältnismäßiger Ehrenhaftigkeit.

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Wegen all dieser Eigenschaften existiert die Organisation und Ausrüstung der deutschen Truppen wirklich und nicht nur auf dem Papier, wie in Frankreich unter Napoleon III, und wie das bei uns gang und gäbe ist. Zudem ist dank all diesen deutschen Vorzügen die administrative, die zivile und besonders die militärische Kontrolle so organisiert, daß fortgesetzter Betrug unmöglich ist. Bei uns dagegen wäscht von unten nach oben und von oben nach unten eine Hand die andere, so daß es fast unmöglich ist, die Wahrheit zu finden. Man muß all das berücksichtigen, wenn man sich fragt, ob die russische Armee bei einem Angriffskrieg gegen Deutschland auf Erfolg hoffen kann. Man wird sagen, daß Rußland ein Millionenheer aufstellen kann. Ein gut organisiertes und ausgerüstetes Heer wird wohl keine Million erreichen; nehmen wir jedoch an, es wäre eine Million. Die Hälfte muß sich über die riesige Fläche des Reiches verteilen, um die Ordnung unter dem glücklichen Volk aufrechtzuerhalten, das ehe man sich's versieht vor lauter Überfluß in Raserei geraten könnte. Wieviele Truppen brauchte man schon allein für die Ukraine, Litauen und Polen! Es wäre viel, sehr viel, wenn man eine fünfhunderttausend Mann starke Armee gegen Deutschland ausschicken könnte. Eine solche Armee hat Rußland noch nie aufgestellt. Doch in Deutschland stößt man tatsächlich auf ein Millionenheer; nach Organisation, Drill, Wissen, Geist und Ausrüstung ist es das erste der Welt. Und hinter ihm wird in einer riesigen Landwehr das ganze deutsche Volk stehen, das sich womöglich, ja sogar wahrscheinlich, nicht einmal gegen die Franzosen erhoben hätte, wenn im letzten Krieg nicht der preußische Fritz, sondern Napoleon III. gesiegt hätte, das aber – wir wiederholen es noch einmal – gegen eine russische Invasion wie ein Mann aufstehen wird. Man wird sagen, daß Rußland, d.h. das allrussische Reich, im Notfall noch eine weitere Million aufstellen kann; warum auch nicht, aber nur auf dem Papier. Man braucht dazu nur per Ukas eine neue Aushebung von soundsoviel tausend Rekruten anzuordnen, und schon ist die Million da. Doch wie

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sollte man sie einziehen und wer wird sie einziehen? Eure Reservegeneräle, Generaladjutanten, Flügeladjutanten und Kommandeure von Reserve- und Garnisonsbataillonen, die nur auf dem Papier existieren, Eure Gouverneure und Beamten – mein Gott, wieviele Zehntausende, ja Hunderttausende lassen sie vorher verhungern, ehe sie sie eingezogen haben. Und wo soll man schließlich eine ausreichende Anzahl von Offizieren für die Organisation eines neuen Millionenheeres hernehmen und womit das Heer ausrüsten? Mit Stöcken? Euer Geld reicht ja nicht einmal aus für die ordnungsgemäße Ausrüstung von nur einer Million, und Ihr droht damit, eine weitere Million zu bewaffnen. Kein einziger Bankier wird Kredit geben, und selbst wenn er das täte, braucht man Jahre zur Ausrüstung von einer Million. Vergleichen wir Rußlands Armut und Hilflosigkeit mit deutschem Reichtum und deutscher Macht. Deutschland erhielt von Frankreich fünf Milliarden; nehmen wir an, daß drei Milliarden zur Deckung verschiedener Kosten abgingen, nämlich zur Belohnung von Fürsten, Staatsmännern, Generälen, Obersten und Offizieren – wohlgemerkt, nicht Soldaten – und auch für verschiedene Reisen im In- und Ausland. Dann bleiben noch zwei Milliarden, die Deutschland ausschließlich für die Rüstung aufgewandt hat, zum Bau neuer oder zur Verstärkung zahlreicher alter Befestigungsanlagen, zur Bestellung neuer Kanonen, Gewehre usw. Ja, ganz Deutschland hat sich jetzt in ein drohendes Arsenal verwandelt, das nach allen Seiten seine Stacheln zeigt. Und Ihr, die Ihr nur recht und schlecht ausgebildet und ausgerüstet seid, wollt es besiegen! Beim ersten Schritt, kaum seid Ihr mit einem Fuß auf deutschem Gebiet, wird man Euch schon schrecklich aufs Haupt schlagen, und Euer ganzer Angriffskrieg verkehrt sich sofort in einen Verteidigungskrieg; die deutschen Truppen überschreiten die Grenzen des allrussischen Reiches. Aber werden sie dann nicht wenigstens eine allgemeine Erhebung des russischen Volkes gegen sich auslösen? Ja, wenn die Deutschen in russisches Gebiet einfallen und z.B. direkt

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auf Moskau marschieren. Wenn sie aber diese Dummheit nicht begehen und in den Norden ziehen, nach Petersburg, durch die baltischen Provinzen, so werden sie dort nicht nur im Kleinbürgertum, unter den protestantischen Pastoren und den Juden, sondern auch unter den unzufriedenen Baronen und ihren Kindern, den Studenten, und mit ihrer Hilfe bei unseren zahllosen baltischen Generälen, Offizieren sowie hohen und niederen Beamten, von denen Petersburg voll ist und die über ganz Rußland verstreut sind, viele, viele Freunde finden: Ja nicht nur das, sie werden auch noch Polen und Kleinrußland gegen das russische Reich aufwiegeln. Tatsächlich war von allen Feinden, die Polen vom Tag seiner Teilung an unterdrückt haben, Preußen am aufdringlichsten, systematischsten und daher gefährlichsten. Rußland handelte wie ein Barbar, mit roher Gewalt; es hat alle massakriert, gehängt, gequält, zu Tausenden nach Sibirien verschickt und hat es trotz der Methoden Murav'evs bis heute nicht vermocht, den ihm zugefallenen Teil Polens zu russifizieren; auch Österreich hat keineswegs Galizien germanisiert, es hat sich gar nicht darum bemüht. Preußen nimmt als echter Vertreter deutschen Geistes und der großen deutschen Sache, nämlich der gewaltsamen, künstlichen Germanisierung nicht-deutscher Länder, zur Zeit – koste es was es wolle – die Germanisierung der Danziger Region und des Herzogtums Posen in Angriff, ganz zu schweigen von der Region Königsberg, die ihm schon viel früher zugefallen ist. Es wäre viel zu langwierig, von den Mitteln zu sprechen, die es angewandt hat, um dieses Ziel zu erreichen; dabei nahm die großangelegte Kolonisierung polnischen Gebietes durch deutsche Bauern breiten Raum ein. Die völlige Befreiung der Bauern, 1807, verbunden mit dem Recht, Land freizukaufen, und mit allen möglichen Erleichterungen für diesen Freikauf, hat ebensoviel dazu beigetragen, die preußische Regierung selbst bei den polnischen Bauern populär zu machen. Später wurden Landschulen gegründet, in denen und durch die die deutsche Sprache eingeführt wurde. Infolge solcher Maßnah-

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men zeigte sich schon im Jahre 1848, daß über ein Drittel des Herzogtums Posen völlig germanisiert war. Von den Städten schon gar nicht zu reden. Von den Anfängen der polnischen Geschichte an hat man hier deutsch gesprochen wegen der großen Anzahl deutscher Bürger, Handwerker und vor allem Juden, die hier unbegrenzt Gastfreundschaft gefunden haben. Bekanntlich sind die meisten Städte in diesem Teil Polens seit frühesten Zeiten nach dem sogenannten Magdeburger Recht+100 verwaltet worden. So hat Preußen sein Ziel in Friedenszeiten erreicht. Natürlich ist es vor den einschneidendsten und barbarischsten Maßnahmen nicht zurückgeschreckt, als der polnische Patriotismus eine Volksbewegung hervorrief bzw. hervorzurufen versuchte. Wir hatten schon Gelegenheit zu bemerken, daß Preußen bei der Niederwerfung polnischer Aufstände nicht nur innerhalb seiner eigenen Grenzen, sondern auch im Königreich Polen nicht müde wurde, der russischen Regierung seine unwandelbare Treue und eifrigste Hilfsbereitschaft zu zeigen. Die preußischen Gendarmen, was sagen wir, die preußischen vornehmen Offiziere aller Waffengattungen, von der Garde und von der Armee, machten mit besonderer Leidenschaft Jagd auf die Polen, die sich auf preußischem Gebiet versteckt hatten, fingen sie und lieferten sie schadenfroh an die russischen Gendarmen aus, oft indem sie die Hoffnung äußerten, daß man sie in Rußland hängen würde. In dieser Beziehung konnte der Henker Murav'ev des Lobes für Fürst Bismarck nicht voll genug sein. Ehe Fürst Bismarck Minister geworden war, hat Preußen ständig das gleiche getan, aber verschämt, stillschweigend, und wenn es möglich war, distanzierte es sich von seinen eigenen Handlungen. Fürst Bismarck warf als erster die Maske ab. Er hat sich nicht nur laut dazu bekannt, sondern sich zynisch im preußischen Parlament und vor der europäischen Diplomatie damit gebrüstet, daß die preußische Regierung ihren ganzen Einfluß auf die russische Regierung geltend gemacht habe, um sie zu überreden, Polen endgültig abzuwürgen, ohne vor bluti-

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gen Maßnahmen zurückzuschrecken, und daß Preußen Rußland in dieser Hinsicht immer aktive Hilfe leisten werde. Schließlich hat Fürst Bismarck erst kürzlich im Parlament unverblümt den festen Entschluß der Regierung mitgeteilt, die Reste polnischer Nationalität in den polnischen Provinzen auszumerzen, die sich jetzt preußisch-deutscher Verwaltung erfreuen. Wie wir im vorhergehenden schon festgestellt haben, haben die Polen Posens ebenso wie die Galiziens ihre polnisch-nationale Sache leider enger denn je mit der Vorrangstellung päpstlicher Autorität verknüpft. Zu ihren Anwälten wurden Jesuiten, Ultramontane, Mönchsorden und Bischöfe. Ein solches Bündnis und eine solche Freundschaft wird den Polen schlecht bekommen, so wie es ihnen im XVII. Jahrhundert schlecht bekommen ist. Aber das ist nicht unsere Sache, sondern die der Polen. Wir haben an all das nur erinnert, um zu zeigen, daß die Polen keinen gefährlicheren und bösartigeren Feind als Fürst Bismarck haben. Anscheinend hat er es sich zur Lebensaufgabe gemacht, sie von der Erdoberfläche auszuradieren. Trotzdem wird ihn das nicht daran hindern, die Polen zum Aufstand gegen Rußland aufzurufen, wenn die Interessen Deutschlands dies erfordern. Und obwohl die Polen ihn und Preußen, um nicht zu sagen ganz Deutschland hassen, was sie sich nicht eingestehen möchten, obgleich sie im Grunde ihres Herzens den gleichen historischen Haß wie alle anderen slawischen Völker gegen die Deutschen hegen und obwohl sie die ihnen von preußischen Deutschen zugefügten tödlichen Beleidigungen nicht vergessen können, werden sich die Polen zweifellos auf Bismarcks Ruf hin erheben. In Deutschland und in Preußen selbst gibt es schon seit langem eine starke und ernstzunehmende politische Partei, sogar drei Parteien: eine liberal-progressive, eine rein demokratische und eine sozial-demokratische,+101 die zusammen die unbestreitbare Mehrheit im preußischen und in den anderen deutschen Parlamenten ausmachen, eine noch entscheidendere Mehrheit aber in der Gesellschaft besitzen. Diese Parteien,

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die einen Krieg Deutschlands gegen Rußland voraussehen, ihn zum Teil sogar wünschen und gleichsam herbeirufen, haben begriffen, daß ein Aufstand und die Wiederherstellung Polens in gewissen Grenzen die notwendige Voraussetzung dieses Krieges sein werden. Natürlich werden weder Fürst Bismarck noch eine dieser Parteien jemals bereit sein, Polen alle Provinzen zurückzugeben, die Preußen ihm entrissen hat. Um nichts in der Welt geben sie Danzig oder auch nur das kleinste Stückchen Westpreußens zurück, ganz zu schweigen von Königsberg. Sogar vom Herzogtum Posen werden sie sich einen beachtlichen Teil abtrennen, der anscheinend schon völlig germanisiert ist, und den Polen überhaupt von dem ganzen Teil ihres Landes, der Preußen zugefallen ist, nur sehr wenig übriglassen. Stattdessen werden sie ihnen ganz Galizien mit Lemberg und Krakau übergeben, weil das alles jetzt zu Österreich gehört, und noch viel lieber soviel Land bis weit ins Innere Rußlands, wie die Polen zu besetzen und zu halten vermögen. Gleichzeitig wird man ihnen die notwendigen Gelder anbieten, natürlich in Form von polnischen Anleihen mit deutscher Bürgschaft, ferner Waffen und militärische Hilfe. Wer kann daran zweifeln, daß die Polen nicht nur einverstanden sind, sondern mit Freuden den deutschen Vorschlag aufgreifen werden; ihre Lage ist so verzweifelt, daß sie auch einen hundertmal schlechteren Vorschlag annehmen würden. Ein ganzes Jahrhundert ist seit der polnischen Teilung vergangen, und im Verlauf dieser hundert Jahre verging fast kein Jahr, in dem nicht das Märtyrerblut polnischer Patrioten geflossen wäre. Hundert Jahre ununterbrochener Kämpfe, verzweifelter Aufstände! Gibt es ein anderes Volk, das sich eines ähnlichen Heldenmutes rühmen könnte? Was haben die Polen nicht alles versucht? Es gab Konspirationen der Schlachta, Verschwörungen des Bürgertums, bewaffnete Banden, Volksaufstände und schließlich alle Kniffe der Diplomatie und sogar die Hilfe der Kirche. Alles haben sie durchprobiert, an alles haben sie sich geklammert, und alles

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ließ sie im Stich, alles verriet sie. Wie konnten sie da ablehnen, wenn selbst Deutschland, ihr gefährlichster Feind, ihnen zu den bekannten Bedingungen seine Hilfe anbot? Vielleicht finden sich Slawophile, die sie dafür des Verrats bezichtigen. Des Verrats woran? An der slawischen Gemeinschaft, an der slawischen Sache? Und wie äußert sich diese Gemeinschaft, worin besteht diese Sache? Ist sie nicht durch die Reise Palackýs und Riegers nach Moskau zur panslawischen Ausstellung und zur Verehrung des Zaren zutage getreten? Wodurch und wann, mit welcher Tat haben die Slawen als Slawen ihre brüderliche Sympathie den Polen gegenüber zum Ausdruck gebracht? Doch nicht etwa dadurch, daß eben diese Herren Palacký und Rieger und ihre ganze zahlreiche west- und südslawische Suite in Warschau die russischen Generäle umarmten, die sich kaum das polnische Blut abgewaschen hatten, und auf die slawische Brüderschaft sowie die Gesundheit des Henker-Zaren tranken. Die Polen sind Märtyrer und Helden; sie haben eine ruhmreiche Vergangenheit. Die Slawen sind noch Kinder, und ihre ganze Bedeutung liegt in der Zukunft. Die slawische Welt, die slawische Frage, das ist keine Tatsache, sondern eine Hoffnung, eine Hoffnung, die sich nur durch die Soziale Revolution verwirklichen kann. Aber zu dieser Revolution zeigten die Polen, und damit meinen wir natürlich die Patrioten, die größtenteils der gebildeten Schicht und vorwiegend dem Adel angehören, bis jetzt sehr wenig Neigung. Was kann es also Gemeinsames geben zwischen einer slawischen Welt, die noch nicht existiert, und der Welt der polnischen Patrioten, die sich mehr oder weniger überlebt hat? Tatsächlich beschäftigen sich die Polen im allgemeinen nicht im geringsten mit dieser Frage, mit Ausnahme von ganz wenigen Personen, die die slawische Frage im polnischen Geist und auf polnischer Basis zu begründen versuchen. Ihnen sind die Madjaren viel eher verständlich und näher, mit denen sie einige Ähnlichkeiten und viele gemeinsame historische Erinnerungen haben; von den Süd- und Westslawen trennt sie vor allem

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und wohl am entscheidendsten die Sympathie dieser Völker zu Rußland, d.h. zu demjenigen Feind, den sie selbst am meisten hassen. Früher spaltete sich in Polen und in der polnischen Emigration wie in allen anderen Ländern die politische Welt in viele Parteien auf. Es gab eine aristokratische, eine klerikale und eine konstitutionell-monarchistische Partei, eine Partei der Militärdiktatur, der gemäßigten Republikaner, der Anhänger der Vereinigten Staaten, eine Partei der roten Republikaner nach französischem Vorbild, schließlich sogar die nicht sehr zahlreiche Partei der Sozialdemokraten, ganz zu schweigen von den mystisch-sektiererischen oder genauer gesagt den kirchlichen Parteien. Im Grunde genommen brauchte man jedoch nur ein wenig tiefer in jede von ihnen einzudringen, um sich zu überzeugen, daß sie alle die gleiche Basis hatten: das leidenschaftliche Streben aller nach Wiederherstellung des polnischen Staates in den Grenzen von 1772.+102 Abgesehen von den Widersprüchen, die aus dem Kampf der Parteiführer untereinander herrührten, bestand der Hauptunterschied zwischen ihnen darin, daß jede Partei davon überzeugt war, daß dieses gemeinsame Ziel, nämlich die Wiederherstellung des alten Polen, einzig und allein auf dem von ihr empfohlenen Weg erreicht werden könne. Bis 1850 war wohl die überwältigende Mehrheit der polnischen Emigranten revolutionär, eben weil die Mehrheit überzeugt war, daß aus dem Triumph der Revolution in Europa unbedingt die Wiederherstellung eines unabhängigen Polen resultieren werde. Man kann außerdem sagen, daß es im Jahre 1848 in ganz Europa keine einzige Bewegung gab, an der nicht Polen – oft sogar führend – beteiligt gewesen wären. Dabei fällt uns ein, wie ein Sachse sein Erstaunen darüber zum Ausdruck brachte: Überall wo Unordnung herrscht, sind bestimmt Polen! 1850 brach dieser Glaube an die Revolution als Folge der allgemeinen Niederlage zusammen, der napoleonische Stern stieg auf, und die Mehrheit der polnischen Emigranten, die

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überwältigende Mehrheit, wurde zu berüchtigten und schrecklichen Bonapartisten. Mein Gott, was erwarteten und erhofften sie sich nicht alles von der Hilfe Napoleons III.! Sogar sein offensichtlicher schändlicher Verrat in den Jahren 1862/63+103 konnte ihnen diesen Glauben nicht nehmen. Erst in Sedan ging er verloren. Nach dieser Katastrophe gab es nur noch eine Zuflucht für die Hoffnung der Polen, nämlich bei den Jesuiten und Ultramontanen. Die österreichischen und die meisten polnischen Patrioten stürzten sich auf Galizien, stürzten sich dorthin aus Verzweiflung. Aber man stelle sich vor, daß Bismarck, ihr erklärter Feind, gezwungen durch die Lage Deutschlands, sie zum Aufstand gegen Rußland aufrufen würde, ihnen die baldige Erfüllung ihrer Hoffnung aufzeigen, nein, ihnen Geld, Waffen und militärische Hilfe geben würde. Wäre es möglich, daß sie darauf verzichteten? Allerdings würde man als Gegenleistung für diese Hilfe von ihnen den formalen Verzicht auf den größten Teil der alten polnischen Gebiete verlangen, die sich jetzt im Besitz Preußens befinden. Das wird für die Polen sehr bitter sein, aber schließlich werden sie sich durch die Umstände gezwungen und angesichts eines sicheren Triumphes über Rußland mit dem Gedanken trösten, daß man ihnen das Ihre wieder zurückgeben wird, wenn nur erst Polen wiederhergestellt ist, und so werden sie ohne Zweifel alles in Aufruhr versetzen. Von ihrem Standpunkt aus haben sie tausendmal recht. Sicher wäre ein mit Hilfe deutscher Truppen wiederhergestelltes Polen unter dem Schutz des Fürsten Bismarck etwas seltsam. Aber besser ein seltsames Polen als gar keines; und später schließlich, so denken sicher die Polen, wird es möglich sein, sich vom Schutz des Fürsten Bismarck zu befreien. Mit einem Wort, die Polen werden allem zustimmen, und Polen wird sich wieder erheben, Litauen wird sich wieder erheben und etwas später auch Kleinrußland. Allerdings sind die polnischen Patrioten schlechte Sozialisten und befassen sich zu Hause nicht mit revolutionär-sozialistischer Propaganda;

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und selbst wenn sie es wollten, würde es ihr Gönner, Fürst Bismarck, nicht erlauben: Es ist zu nahe an Deutschland; am Ende könnte eine solche Propaganda auch in das preußische Polen eindringen. Aber was man in Polen nicht machen darf, das kann man in Rußland und gegen Rußland tun. Sowohl für die Deutschen als auch für die Polen wird es außerordentlich nützlich sein, in Rußland eine Bauernrevolte wachzurufen, was wahrhaftig nicht schwierig sein dürfte. Man bedenke, wieviele Polen und Deutsche jetzt in Rußland verstreut leben. Die meisten, wenn nicht alle, werden zu natürlichen Verbündeten Bismarcks und der Polen. Man stelle sich folgende Situation vor: Unsere Truppen fliehen, aufs Haupt geschlagen, ihnen auf den Fersen folgen im Norden die Deutschen nach Petersburg, im Westen und Süden die Polen nach Smolensk und Kleinrußland – und zur gleichen Zeit bricht, durch Propaganda von innen und außen verursacht, in Rußland und Kleinrußland ein siegreicher allgemeiner Bauernaufstand aus. Deshalb kann man wahrscheinlich sagen, daß keine Regierung und kein russischer Zar, wenn er nicht den Verstand verloren hat, die panslawische Fahne hissen und je gegen Deutschland in den Krieg ziehen wird. Nachdem das neue, große deutsche Reich endgültig zuerst Österreich und dann Frankreich besiegt hat, wird es nicht nur diese beiden Staaten unwiderruflich auf die Stufe zweitrangiger und von ihm abhängiger Mächte herabwürdigen, sondern später auch unser allrussisches Reich, das es für immer von Europa abgeschnitten hat. Wir sprechen natürlich vom Reich und nicht vom russischen Volk, das wenn nötig überall einen Weg finden oder sich ihn bahnen wird. Aber für das allrussische Reich sind die Pforten Europas von nun an geschlossen. Die Schlüssel zu diesen Pforten verwahrt Fürst Bismarck, der sie um nichts auf der Welt dem Fürsten Gorčakov+104 aushändigen würde. Aber wenn dem russischen Reich die Tore im Nordwesten für immer verschlossen sind, bleiben ihm dann nicht vielleicht die im Süden und Südosten um so sicherer und weiter geöffnet: Buchara, Persien und

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Afghanistan bis hin nach Indien und schließlich als letztes Ziel aller Pläne und Bemühungen Konstantinopel? Schon seit langem diskutieren russische Politiker, eifrige Verfechter der Größe und des Ruhmes unseres geliebten Reiches, die Frage, ob es nicht besser wäre, die Hauptstadt und damit das Zentrum aller Kräfte und des gesamten Lebens im Reich vom Norden in den Süden zu verlegen, von der rauhen Ostsee an die ewig blühenden Ufer des Schwarzen Meeres und des Mittelmeeres, mit einem Wort, von Petersburg nach Konstantinopel. Es gibt allerdings Patrioten, die so unersättlich sind, daß sie Petersburg und die Vorherrschaft an der Ostsee halten und zugleich Konstantinopel beherrschen möchten. Aber dieser Wunsch ist so wenig erfüllbar, daß selbst sie trotz ihres Glaubens an die Allmacht des allrussischen Reiches allmählich die Hoffnung auf seine Erfüllung aufgeben. Zudem mußte ihnen im vergangenen Jahr+105 ein Ereignis die Augen öffnen: der Anschluß Holsteins, Schleswigs und Hannovers an das preußische Königreich, das sich dadurch unvermittelt in eine Seemacht des Nordens verwandelte. Es ist ein allbekanntes Axiom, daß kein Staat zu den Großmächten gehören kann, wenn er nicht einen größeren Zugang zum Meer hat, der ihm die direkte Verbindung mit der ganzen Welt sichert und es ihm erlaubt, am materiellen ebenso wie auch am öffentlichen und politisch-moralischen Leben der Welt unmittelbar teilzunehmen. Diese Tatsache ist so offensichtlich, daß sie keines Beweises bedarf. Nehmen wir den stärksten, kultiviertesten und glücklichsten Staat – soweit im Staat allgemeines Glück möglich ist – und stellen wir uns vor, daß irgendwelche Umstände ihn von der übrigen Welt trennten. Man kann sicher sein, daß im Verlauf von etwa fünfzig Jahren, also zwei Generationen, alles in ihm zum Stillstand kommt: die Stärke nimmt ab, die Bildung beginnt an Dummheit zu grenzen, und das Glück schließlich strömt den Geruch von Limburger Käse aus. Sehen wir uns China an, das anscheinend weise, gelehrt und wahrscheinlich sogar auf seine Art glücklich war. Weshalb wur-

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de es so apathisch, daß die geringsten Anstrengungen europäischer Seemächte ausreichten, um es ihrem Geist und, wenn nicht ihrer Herrschaft, dann wenigstens ihrem Willen unterzuordnen? Deshalb, weil es jahrhundertelang im Stillstand verharrte; und es verharrte darin deshalb, weil es im Verlauf dieser Jahrhunderte zum Teil wegen seiner inneren Einrichtungen und zum Teil, weil sich das Weltgeschehen so fern von ihm abspielte, mit diesem Weltgeschehen so lange nicht in Berührung kommen konnte. Viele verschiedene Voraussetzungen sind erforderlich, damit ein im Staat eingeschlossenes Volk am Leben der Welt teilhaben kann; hierzu gehören natürliche Intelligenz und angeborene Energie, Bildung, die Fähigkeit zu produktiver Arbeit sowie weitestgehende innere Freiheit, die ja doch für die Massen im Staate unerreichbar ist. Aber zu diesen Voraussetzungen gehören unbedingt auch Seeschiffahrt und Seehandel, da der Seetransport mit seinen verhältnismäßig niederen Kosten, seiner Geschwindigkeit sowie seiner Freiheit – im Sinne, daß das Meer niemandem gehört – alle anderen bekannteren Verkehrsmittel einschließlich der Eisenbahn übertrifft. Es kann sein, daß sich die Luftschiffahrt eines Tages als noch bequemer in jeder Hinsicht erweisen und besonders wichtig sein wird, so daß gerade sie endgültig gleiche Entwicklungs- und Lebensbedingungen in allen Ländern schafft. Bis jetzt kann man aber von ihr noch nicht als von einem ernstzunehmenden Verkehrsmittel sprechen, und die Seeschiffahrt bleibt weiterhin das wichtigste Mittel für den Fortschritt der Völker. Es wird die Zeit kommen, da es keine Staaten mehr gibt – auf ihre Zerstörung sind alle Anstrengungen der sozialrevolutionären Partei in Europa gerichtet -, eine Zeit, da sich auf den Trümmern der politischen Staaten das völlig freiheitliche und von unten nach oben organisierte, unabhängige brüderliche Bündnis der unabhängigen Produktivassoziationen, Gemeinden und regionalen Föderationen erheben wird, die unterschiedslos, da freiheitlich, Menschen aller Sprachen und Nationen umfassen. Dann wird der Zugang zum Meer allen in

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gleicher Weise offenstehen, den Küstenbewohnern direkt, den fern vom Meer Lebenden durch Eisenbahnen, die von jeder staatlichen Vormundschaft, von Steuern, Zöllen, Beschränkungen, Schikanen, Verboten, Genehmigungen und anderen Maßnahmen völlig frei sind. Aber auch dann haben die Küstenbewohner zahlreiche natürliche Vorteile, und zwar nicht nur materielle, sondern auch geistigmoralische. Der direkte Kontakt mit dem Weltmarkt und überhaupt mit dem Weltgeschehen ist äußerst fördernd, und wie man auch die Verhältnisse egalisieren mag, die Bewohner des Landesinneren, die dieser Vorteile beraubt sind, werden trotzdem träger und langsamer leben und sich entwickeln als die Küstenbewohner. Eben deshalb wird die Luftfahrt so wichtig sein. Die Atmosphäre ist ein Ozean, der alles durchdringt, seine Küsten sind überall, so daß in bezug auf ihn alle Menschen, sogar diejenigen in den entlegendsten Gegenden, ohne Ausnahme Küstenbewohner sind. Solange aber die Seeschiffahrt noch nicht durch die Luftschiffahrt abgelöst wurde, werden die Küstenbewohner in jeder Beziehung an der Spitze bleiben und eine Art Aristokratie der Menschheit bilden. Die ganze Geschichte und vor allem ein großer Teil des Fortschritts in der Geschichte wurde von Küstenvölkern gemacht. Begründer aller Zivilisation waren die Griechen – ja bitte, hier kann man sagen, daß ganz Griechenland nichts anderes als eine einzige Küste ist. Das alte Rom wurde erst dann zu einem mächtigen universalen Staat, als es eine Seemacht wurde. Und wem verdanken wir in der neuesten Geschichte die Wiedererweckung der politischen Freiheit, des gesellschaftlichen Lebens, des Handels, der Künste, der Wissenschaft und der Freiheit des Denkens, mit einem Wort, die Wiedergeburt der Menschheit? Italien, das wie Griechenland fast eine einzige Küste ist. Und wer übernahm nach Italien den ersten Platz im Weltgeschehen? Holland, England, Frankreich und schließlich Amerika. Schauen wir uns dagegen Deutschland an, Warum ist es trotz zahlreicher unbezweifelbarer Qualitäten seiner Stämme,

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z.B. trotz des außerordentlichen Fleißes, der Fähigkeit zum Denken und zur Wissenschaft, des ästhetischen Gefühls, das große Künstler, Maler und Dichter hervorgebracht hat, sowie des tiefsinnigen Transzendentalismus, der nicht weniger große Philosophen hervorgebracht hat – warum, so fragen wir, ist Deutschland so weit hinter Frankreich und England in allen anderen Beziehungen außer einer einzigen zurückgeblieben, in der es alle übertraf, nämlich in der Entwicklung bürokratischer, polizeilicher und militärischer staatlicher Ordnung? Warum steht es im Handel immer noch hinter Holland und in der Industrie hinter Belgien zurück? Man wird sagen, weil es in Deutschland niemals Freiheit, Freiheitsliebe oder ein Bedürfnis nach Freiheit gegeben hat. Das stimmt nur zum Teil, ist aber nicht der einzige Grund. Ein anderer ebenso wichtiger Grund ist, daß es keine größere Küste besitzt. Noch im XIII. Jahrhundert, gerade zur Zeit des Aufkommens der Hanse, litt Deutschland wenigstens im Westen nicht unter dem Mangel an Küstengebieten. Zu ihm gehörten noch Holland und Belgien, und gerade in diesem Jahrhundert schien der deutsche Handel eine beachtliche Entwicklung zu versprechen. Aber schon im XIV. Jahrhundert begannen die von ihrem Unternehmungsgeist, ihrem Wagemut und ihrer Freiheitsliebe mitgerissenen niederländischen Städte, sich offen von Deutschland zu lösen und fernzuhalten. Im XVI. Jahrhundert wurde diese Trennung endgültig vollzogen, und das große Reich, der ungefüge Nachfolger des römischen Reiches, erwies sich als fast reiner Binnenstaat. Es blieb ihm nur ein schmales Fensterchen zum Meer zwischen Holland und Dänemark, was zum freien Atmen eines so riesigen Landes bei weitem nicht ausreichte. Infolgedessen verfiel auch Deutschland in eine Verschlafenheit, die dem chinesischen Stillstand außerordentlich ähnlich ist. Seither hat sich das führende politische Leben in Deutschland im Sinne einer Bildung eines neuen starken Staates auf das kleine Kurfürstentum Brandenburg konzentriert. Und in der Tat haben die brandenburgischen Kurfürsten durch ihre

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ständigen Bemühungen, die Ostseeküste in Besitz zu nehmen, Deutschland einen beachtlichen Dienst erwiesen; sie schufen gewissermaßen die Voraussetzungen für seine heutige Größe. Zuerst bemächtigten sie sich Königsbergs, und später, bei der ersten polnischen Teilung, nahmen sie Danzig,+106 Doch all das genügte nicht, man mußte Kiel und überhaupt ganz Schleswig und Holstein beherrschen. Diese neuen Eroberungen machte Preußen unter dem Beifall von ganz Deutschland. Wir alle waren Zeugen, mit welcher Leidenschaft die Deutschen wirklich aller einzelnen staatlichen Vaterländer im Norden, Süden, Westen, Osten und im Zentrum von 1848 an die Entwicklung der schleswig-holsteinischen Frage+107 verfolgt haben. Und diejenigen irrten sich gründlich, die sich diese Leidenschaft als Mitgefühl mit den eigenen Brüdern, mit den Deutschen, die unter dem dänischen Despotismus gleichsam erstickten, erklärt haben. Hier handelte es sich um ein ganz anderes Interesse, um ein Interesse am Staat, am Pangermanismus, um ein Interesse an der Eroberung von Seegrenzen und Seewegen und an der Gründung einer mächtigen deutschen Flotte. Die Frage der deutschen Flotte erhob sich schon 1840 oder 41, und wir erinnern uns, mit welcher Begeisterung in ganz Deutschland das Gedicht Herweghs ›Die deutsche Flotte‹ aufgenommen wurde.+108 Die Deutschen, wir wiederholen es noch einmal, sind ein im höchsten Maße staatsbewußtes Volk, und dieses Staatsbewußtsein beherrscht in ihnen alle anderen Leidenschaften und unterdrückt in ihnen vollkommen den Instinkt für Freiheit. Aber es macht auch gerade jetzt ihre besondere Größe aus; es dient als unwandelbare und direkte Grundlage für alle ehrgeizigen Pläne des Berliner Herrschers und wird dies noch einige Zeit tun. Auch Fürst Bismarck dient es als Stütze. Die Deutschen sind ein gebildetes Volk und wissen, daß es ohne leicht überwindliche Seegrenzen keinen großen Staat gibt und geben kann. Das ist auch der Grund, weshalb sie allen historischen, ethnographischen und geographischen Tatsachen

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zum Trotz noch jetzt behaupten, daß Triest eine deutsche Stadt war, ist und sein wird und daß die ganze Donau ein deutscher Fluß ist. Sie sind auf das Meer versessen. Und wenn die soziale Revolution ihnen nicht Einhalt gebietet, kann man sicher sein, daß sie, noch ehe zwanzig oder nur zehn Jahre und vielleicht sogar noch weniger vergehen – die Ereignisse folgen heutzutage so schnell aufeinander -, kann man also sicher sein, daß sie in kurzer Zeit das ganze deutsche Dänemark, das ganze deutsche Holland und das ganze deutsche Belgien erobern werden. Das alles liegt sozusagen in der natürlichen Logik ihrer politischen Situation und ihrer instinktiven Bestrebungen. Eine Etappe auf diesem Wege ist bereits abgeschlossen. Preußen, die heutige Verkörperung, der Kopf und zugleich der Arm Deutschlands, hat sich an der Ostsee und gleichzeitig an der Nordsee fest etabliert. Die Unabhängigkeit Bremens, Hamburgs, Lübecks, Mecklenburgs und Oldenburgs ist ein leerer und unschuldiger Scherz. All das zusammen mit Holstein, Schleswig und Hannover gehört jetzt zu Preußen, und das durch französisches Geld reich gewordene Preußen baut zwei starke Flotten, eine auf der Ostsee, die andere auf der Nordsee, und dank dem Schiffahrtskanal, der gerade für die Vereinigung der beiden Meere gegraben wird, werden diese beiden Flotten bald eine einzige bilden. Und man wird nicht lange warten müssen, bis diese Flotte, die schon die dänische und schwedische übertrifft, bei weitem stärker als die russische Ostseeflotte sein wird. Dann wird die russische Vorherrschaft auf der Ostsee ... in die Ostsee fallen. Lebe wohl! Riga. Lebe wohl! Reval. Lebe wohl! Finnland und lebe wohl! Petersburg mit deinem unbezwingbaren Kronstadt! All das wird den Bierpatrioten, die daran gewöhnt sind, die allrussische Macht zu überschätzen, wie eine Fieberphantasie, wie ein böses Märchen vorkommen, während es nichts anderes ist als die völlig richtige Schlußfolgerung aus den bereits bestehenden Fakten auf der Grundlage einer gerechten Beurteilung des Charakters und der Fähigkeiten der Deutschen und der Russen, ganz zu schweigen von den finanziellen Mitteln,

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der relativen Anzahl gewissenhafter, ergebener und sachkundiger Beamter aller Art und ebenso zu schweigen von der Wissenschaftlichkeit, die allen deutschen Unternehmungen vor den russischen ein entscheidendes Übergewicht gibt. Der deutsche Staatsdienst bringt unschöne und unangenehme, man kann sagen abscheuliche, dafür aber konkrete und ernstzunehmende Resultate hervor. Der russische Staatsdienst bringt ebenso unangenehme und unschöne und der Form nach nicht selten noch absurdere und zugleich nichtssagende Resultate. Nur ein Beispiel: Nehmen wir an, die deutsche und die russische Regierung hätten gleichzeitig den gleichen Betrag, sagen wir eine Million, für die Ausführung irgendeiner Sache, z.B. den Bau eines neuen Schiffes, bestimmt. Wieviel würde man glauben, wird in Deutschland entwendet? Vielleicht hunderttausend oder sagen wir zweihunderttausend, dafür fließen aber achthunderttausend direkt der Sache zu, die mit jener Genauigkeit und Sachkenntnis durchgeführt wird, durch die sich die Deutschen auszeichnen. Und in Rußland? In Rußland wird zunächst die Hälfte weggestohlen, ein Viertel geht aus Nachlässigkeit und Unwissenheit verloren, so daß man allerhöchstens noch für das restliche Viertel irgend etwas Verfaultes zusammenzimmert, das man zwar anschauen, aber nicht benutzen kann. Wie wäre die russische Flotte fähig, der deutschen standzuhalten, wie könnten die russischen Seebefestigungen, z.B. Kronstadt, die Beschießung durch die Deutschen aushalten, die nicht nur mit gußeisernen, sondern auch mit goldenen Granaten schießen können. Lebe wohl! Ostseeherrschaft und lebe wohl! alle politische Bedeutung und Macht der nördlichen Hauptstadt, die Peter+109 auf den finnischen Sümpfen errichtet hat! Wenn unser ehrwürdiger Großkanzler, Fürst Gorčakov, nicht ganz den Verstand verloren hat, dann mußte er sich das in diesen Tagen sagen, als das verbündete Preußen ungestraft und gleichsam mit unserem Einverständnis das uns ebenso verbündete Dänemark ausplünderte. Er mußte begreifen, daß von dem Tage an, an dem

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Preußen, das sich jetzt auf ganz Deutschland stützt und in einer untrennbaren Einheit mit ihm die stärkste Kontinentalmacht bildet, mit einem Wort, seit das unter preußischem Zepter geschaffene neue deutsche Reich an der Ostsee seine gegenwärtige und für alle anderen Ostseemächte so bedrohliche Stellung eingenommen hat, der Vorherrschaft des Petersburger Rußland auf diesem Meer ein Ende gesetzt und das große politische Werk Peters und damit zugleich die Macht des allrussischen Staates vernichtet ist, wenn sich als Ausgleich für den Verlust des freien Seeweges im Norden nicht ein neuer Weg im Süden auftut. Es ist klar, daß an der Ostsee nunmehr die Deutschen herrschen werden. Zwar befindet sich der Zugang noch in Händen Dänemarks. Aber wer sähe nicht, daß diesem unglücklichen kleinen Staat schon jetzt fast keine andere Wahl mehr bleibt, als sich anfangs vielleicht freiwillig zu verbünden und bald darauf von der pangermanischen staatlichen Zentralisation völlig verschlungen zu werden. Das bedeutet, daß sich die Ostsee in kürzester Zeit in ein ausschließlich deutsches Meer verwandeln wird und daß Petersburg alle politische Bedeutung verlieren muß. Fürst Gorčakov muß das gewußt haben, als er der Zerstückelung des dänischen Königreiches und der Angliederung Holsteins und Schleswigs an Preußen zustimmte. Die Ereignisse selbst führen uns zwangsläufig in folgendes Dilemma: Entweder hat er Rußland verraten, oder er hat sich für die von ihm geopferte Vorherrschaft des allrussischen Staates im Nordwesten die formelle Verpflichtung Fürst Bismarcks gesichert, Rußland bei der Erkämpfung neuer Macht im Südosten zu unterstützen. Für uns besteht kein Zweifel an der Existenz eines solchen Abkommens, der Existenz eines Schutz- und Trutzbündnisses, das fast unmittelbar nach dem Pariser Frieden oder wenigstens zur Zeit des polnischen Aufstandes 1863 zwischen Rußland und Preußen geschlossen wurde, als fast alle europäischen Mächte außer Preußen nach dem Beispiel Frankreichs und Englands lautstark und offiziell gegen die allrussische Barbarei protestier-

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ten. Für uns besteht wie gesagt kein Zweifel an einer formellen, beide Seiten in gleicher Weise verpflichtenden Übereinkunft zwischen Preußen und Rußland; nur mit einem solchen Bündnis läßt sich die ruhige, ja sorglose Sicherheit erklären, mit der Fürst Bismarck bei der Gefahr einer französischen Intervention Krieg gegen Österreich und den größten Teil Deutschlands sowie den noch entscheidenderen Krieg gegen Frankreich geführt hat. Die geringste feindliche Geste Rußlands, z.B. eine Verschiebung russischer Truppen zur preußischen Grenze hin, hätte genügt, um in dem einen und in dem anderen Krieg, besonders im letzteren, dem weiteren Vormarsch des siegreichen preußischen Heeres Einhalt zu gebieten. Erinnern wir uns, daß am Ende des letzten Krieges ganz Deutschland, vor allem der Norden, völlig frei von Truppen war, daß Österreich nur aus dem Grunde nicht zugunsten Frankreichs interveniert hat, weil Rußland erklärt hatte, es werde im Falle einer österreichischen Truppenbewegung seine Armee entsenden, und daß auch Italien und England nur deshalb nicht interveniert haben, weil Rußland es nicht wollte. Hätte es sich nicht zum entschiedenen Bundesgenossen des preußisch-deutschen Kaisers erklärt, dann hätten die Deutschen niemals Paris eingenommen. Aber Bismarck war offensichtlich sicher, daß Rußland ihn nicht verraten würde. Doch worauf beruhte eine solche Sicherheit? Tatsächlich auf der verwandtschaftlichen Bindung und der persönlichen Freundschaft der beiden Kaiser? Aber Bismarck ist zu klug und erfahren, um sich in der Politik auf Gefühle zu verlassen. Wir nehmen sogar an, daß unser Kaiser, der bekanntlich ein empfindsames Herz besitzt und außerordentlich leicht Tränen vergießt, sich von derartigen Gefühlen, die er des öfteren bei kaiserlichen Banketten zum Ausdruck brachte, hätte mitreißen lassen. Aber um ihn herum die ganze Regierung, der Hof, der Thronfolger, der angeblich die Deutschen haßt, und schließlich unser ehrwürdiger Staatspatriot, Fürst Gorčakov, sie alle, die öffentliche Meinung und der Sachzwang hätten ihn schon daran erinnert, daß Staaten von Interessen und nicht von Gefühlen geleitet werden.

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Bismarck konnte auch nicht mit der Übereinstimmung der russischen und preußischen Interessen rechnen. Eine solche Übereinstimmung gibt es nicht und kann es nicht geben; sie existiert nur in einem Punkt, nämlich in der polnischen Frage. Aber diese Frage ist schon lange gelöst, und in jeder anderen Beziehung kann nichts den Interessen des allrussischen Staates so zuwiderlaufen als die Gründung eines riesigen und mächtigen allgermanischen Reiches in nächster Nähe. Die Existenz zweier gewaltiger Reiche nebeneinander zieht einen Krieg nach sich, der nicht anders enden kann als mit der Zerstörung des einen oder des anderen. Ein solcher Krieg ist wie gesagt unvermeidlich, kann aber aufgeschoben werden, wenn beide Reiche erkennen, daß sie im Innern noch nicht genügend gefestigt sind, daß sie sich noch nicht genug vergrößert haben, um gegeneinander einen Entscheidungskrieg, einen Kampf auf Leben und Tod führen zu können. Obwohl sie einander hassen, unterstützen sie sich dann weiterhin, leisten sich gegenseitig Dienste, und dabei hofft jedes Reich, daß es die unfreiwillige Allianz besser als das andere ausnutzt und mehr Mittel und Kräfte für den künftigen unvermeidlichen Kampf sammelt. So sieht die Wechselbeziehung zwischen Rußland und Preußen-Deutschland aus. Das deutsche Reich hat sich noch längst nicht gefestigt, weder innen noch außen. Im Innern bildet es ein merkwürdiges Konglomerat vieler selbständiger mittlerer und kleinerer Staaten, die zwar zum Verschwinden verurteilt sind, vorläufig aber noch existieren und sich bemühen, die Reste ihrer offensichtlich schwindenden Selbständigkeit um jeden Preis zu retten. Von außen grollen dem neuen Reich das gedemütigte, aber noch nicht endgültig bezwungene Österreich und das besiegte und infolgedessen unversöhnliche Frankreich. Zudem hat das neudeutsche Reich seine Grenzen noch lange nicht ausreichend abgerundet. Der einem Militärstaat eigenen inneren Notwendigkeit gehorchend, sinnt es auf neue Annexionen, auf neue Kriege. Seitdem es sich die Wiederherstellung des mittelalterlichen Reiches in den ursprünglichen Grenzen zum Ziel gesetzt

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hat – und zu diesem Ziel wird es stetig durch den pangermanischen Patriotismus getrieben, der die ganze deutsche Gesellschaft erfaßt hat –, träumt es von der Angliederung ganz Osterreichs, außer Ungarn und Böhmen, aber mit Triest, der ganzen deutschen Schweiz, eines Teils von Belgien, ganz Hollands und Dänemarks, die für die Begründung seiner Seemacht unerläßlich sind. Das sind gigantische Pläne, deren Verwirklichung einen beträchtlichen Teil West- und Südeuropas gegen das deutsche Reich aufbringen wird und die daher ohne die Zustimmung Rußlands entschieden unmöglich ist. Das bedeutet für das neu-deutsche Reich, daß das russische Bündnis noch notwendig ist. Das allrussische Reich kann seinerseits auch nicht ohne das preußisch-deutsche Bündnis auskommen. Da es auf allen Neuerwerb und jede Ausdehnung nach Nordwesten verzichtet hat, muß es nach Südosten gehen. Nachdem es Preußen die Vorherrschaft über die Ostsee überlassen hat, muß es am Schwarzen Meer Eroberungen machen und seine Herrschaft errichten, sonst wird es von Europa abgeschnitten. Damit aber seine Herrschaft am Schwarzen Meer wirksam und nützlich ist, muß es Konstantinopel in seine Hand bekommen, ohne das nicht nur der Ausgang ins Mittelmeer jederzeit unterbunden werden kann, sondern auch der Zugang zum Schwarzen Meer feindlichen Flotten und Armeen immer offenstehen wird, wie das im Krimkrieg der Fall war. Das einzige Ziel, das die Eroberungspolitik unseres Staates mehr denn je anstrebt, ist also Konstantinopel. Der Verwirklichung dieses Ziels stehen die Interessen ganz Südeuropas entgegen, nicht ausgenommen natürlich die Interessen Frankreichs, Englands und auch Deutschlands, da die unbegrenzte Herrschaft Rußlands am Schwarzen Meer die ganze Donaumündung in unmittelbare Abhängigkeit von Rußland bringen würde. Trotzdem kann man nicht daran zweifeln, daß Preußen, welches gezwungen ist, sich für die Verwirklichung seiner Eroberungspläne im Westen auf ein russisches Bündnis zu stüt-

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zen, sich formell verpflichtet hat, Rußland in seiner Südostpolitik zu unterstützen; ebensowenig darf daran gezweifelt werden, daß es die erste Gelegenheit nutzen wird, sein Versprechen zu brechen. Eine solche Verletzung des Abkommens ist jetzt, am Anfang seiner Gültigkeit, noch nicht zu erwarten. Wir haben gesehen, wie eifrig das preußisch-deutsche Reich das allrussische Reich in der Frage der Aufhebung der für Rußland unbequemen Bedingungen des Pariser Friedens unterstützte, und es besteht kein Zweifel, daß es fortfährt, das russische Reich ebenso eifrig in der Chiva-Frage zu unterstützen. Außerdem ist es für die Deutschen vorteilhaft, wenn die Russen sich möglichst weit nach Osten begeben. Was aber hat die russische Regierung gezwungen, einen Feldzug gegen Chiva zu führen?+42 Schließlich kann man nicht annehmen, daß sie ihn zum Schutz der Interessen russischer Kaufleute und des russischen Handels unternommen hat. Wenn dem so wäre, so könnte man fragen, warum sie keine solchen Feldzüge im Innern Rußlands gegen sich selbst unternimmt, z.B. gegen den Moskauer Generalgouverneur und überhaupt gegen alle Gouverneure und Stadthauptleute, die bekanntlich sowohl den russischen Handel als auch die russischen Kaufleute auf unverschämteste Weise und mit allen möglichen Mitteln unterdrücken und ausplündern. Welchen Nutzen kann unser Staat wohl aus der Eroberung einer Sandwüste haben? Manche werden vielleicht antworten, daß unsere Regierung diese Kampagne unternommen hat, um Rußlands große Mission zu erfüllen, dem Osten die Zivilisation des Westens zu bringen. Aber eine solche Erklärung eignet sich vielleicht für akademische und offizielle Reden und auch für doktrinäre Bücher, Broschüren und Zeitschriften, die immer voll von erhabenem Unsinn sind und ständig das Gegenteil von dem sagen, was gemacht wird und was ist; uns kann sie nicht befriedigen. Man stelle sich die Petersburger Regierung vor, wie sie in ihren Unternehmungen und Handlungen vom Bewußtsein der zivilisatorischen Berufung Rußlands gelenkt

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wird! Einem Menschen, der nur irgendwie mit der Natur und den Eingebungen unserer Regierenden vertraut ist, genügt schon allein die Vorstellung, um sich totzulachen. Von der Erschließung neuer Handelswege nach Indien ist schon gar nicht zu reden. Handelspolitik, das ist die Politik Englands; es war nie die russische. Der russische Staat ist vor allem, ja man kann sagen ausschließlich, ein Militärstaat. In ihm ist alles dem einen Interesse unterworfen, nämlich der Größe einer alles bezwingenden Macht. Der Herrscher und der Staat, das ist das Wichtigste; alles übrige, das Volk, selbst Standesinteressen, die Blüte der Industrie, des Handels und der sogenannten Zivilisation sind nur Mittel, dieses einzige Ziel zu erreichen. Ohne eine gewisse Zivilisationsstufe, ohne Industrie und Handel kann kein Staat und besonders nicht der moderne existieren, weil der sogenannte nationale Reichtum, der nicht im entferntesten das Volk betrifft, sondern den Reichtum der privilegierten Stände, Macht ist. In Rußland wird er ganz vom Staat verschlungen, der seinerseits zum Ernährer einer riesigen Staatsklasse von Militärs, Zivilisten und Geistlichen wird. Allgemeiner, vom Staat verübter Diebstahl, staatlich sanktionierte Unterschlagung und Ausplünderung des Volkes kennzeichnen die russische Staatszivilisation am treffendsten. Deshalb ist es nicht verwunderlich, daß unter anderen und wichtigeren Gründen, die die russische Regierung zur Kampagne gegen Chiva veranlaßten, auch sogenannte Handelsgründe waren. Für die wachsende Zahl offizieller Leute, zu denen wir auch unsere Kaufmannschaft zählen, mußte ein neues Betätigungsfeld erschlossen werden; man mußte ihnen neue Gebiete zur Plünderung geben. Aber eine merkliche Steigerung von Reichtum und Macht darf man von dieser Seite für den Staat nicht erwarten. Im Gegenteil, man kann sicher sein, daß das Unternehmen in finanzieller Hinsicht weit mehr Verlust als Gewinn bringen wird. Warum ist man also nach Chiva gegangen? Etwa um die Armee zu beschäftigen? Jahrzehntelang hat der Kaukasus als Militärschule gedient. Aber jetzt ist der Kaukasus befriedet;

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deshalb mußte man eine neue Schule eröffnen. Also dachte man sich die Chiva-Kampagne aus. Eine solche Erklärung hält ebenfalls der Kritik nicht stand, nicht einmal, wenn wir annehmen, daß die russische Regierung absolut unfähig und dumm ist. Die von unseren Truppen in der Wüste von Chiva gesammelten Erfahrungen können wir keineswegs auf einen Krieg gegen den Westen anwenden; andererseits sind sie zu teuer, so daß der daraus gezogene Nutzen noch lange nicht der Höhe von Aufwand und Kosten entsprechen wird. Aber vielleicht hat sich die russische Regierung ernsthaft die Eroberung Indiens ausgedacht? Wir versündigen uns nicht durch übermäßigen Glauben an die Weisheit unserer Petersburger Regierenden, aber dennoch können wir nicht für möglich halten, daß die Regierung sich dieses absurde Ziel gesetzt hat. Indien erobern! Für wen, weshalb und mit welchen Mitteln? Dafür müßte man wenigstens ein Viertel, wenn nicht sogar die Hälfte der russischen Bevölkerung in den Osten verlagern; und warum sollte man ausgerechnet Indien erobern, das man nur erreichen kann, wenn man zuerst das zahlreiche, kriegerische Volk der Afghanen unterwirft. Afghanistan aber zu erobern, das von den Engländern ausgerüstet und teilweise sogar ausgebildet ist, wäre mindestens drei- bis viermal so schwer, wie mit Chiva fertigzuwerden. Wenn man schon zu Eroberungen übergegangen ist, warum fängt man dann nicht mit China an? China ist sehr reich und für uns in jeder Hinsicht zugänglicher als Indien, denn zwischen ihm und Rußland gibt es niemanden und nichts. Geh und nimm, wenn du kannst. Wenn man die Unordnung und die inneren Kriege nutzte, die zur chronischen Krankheit Chinas geworden sind, könnte man die Eroberung in dieses Gebiet sehr weit ausdehnen; und es scheint, daß die russische Regierung etwas von dieser Art im Schilde führt. Sie bemüht sich offenkundig, die Mongolei und die Mandschurei von China abzutrennen und eines schönen Tages werden wir vielleicht hören, daß russische Truppen an der Westgrenze Chinas in das Land eingefallen sind. Die Sache

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ist außerordentlich gefährlich und erinnert erschreckend an die berüchtigten Siege der alten Römer über die germanischen Völker, Siege, die bekanntlich mit der Plünderung und Unterwerfung des römischen Reiches durch die wilden germanischen Stämme endeten. Allein in China leben nach manchen Schätzungen vierhundert, nach anderen etwa sechshundert Millionen Menschen, denen es offensichtlich in den Grenzen des Reiches zu eng wird und die jetzt massenhaft in unaufhaltsamem Strom auswandern, die einen nach Australien, andere über den Stillen Ozean nach Kalifornien, und wieder andere können sich schließlich in Massen nach Norden und nach Nordwesten in Bewegung setzen. Und dann? Dann wird in einem Augenblick Sibirien, das ganze Gebiet, das sich vom Tatarischen Sund zum Ural und zum Kaspischen Meer erstreckt, aufhören, russisch zu sein. Man bedenke, daß es in diesem riesigen Gebiet (12 220 000 km?), das in seiner Ausdehnung mehr als zwanzigmal so groß wie Frankreich (528 600 km?) ist, bis jetzt nicht mehr als 6 Millionen Einwohner gibt, von denen nur ca. 2 600 000 Russen sind und alle übrigen Eingeborenen tatarischer oder finnischer Herkunft; die Truppenstärke ist minimal. Wird es also irgendeine Möglichkeit geben, die Invasion chinesischer Massen aufzuhalten, die nicht nur ganz Sibirien einschließlich unserer neuen Besitzungen in Zentralasien überschwemmen, sondern auch über den Ural bis zur Wolga vordringen werden? Das ist die Gefahr, die uns fast unvermeidlich von Osten her droht. Ohne Grund verachtet man die chinesischen Massen. Sie sind allein schon durch ihre gewaltige Zahl bedrohlich, denn ihre übermäßige Vermehrung macht ihre weitere Existenz innerhalb der Grenzen Chinas fast unmöglich; bedrohlich auch deshalb, weil man sie nicht nach den chinesischen Kaufleuten beurteilen darf, mit denen die europäischen Kaufleute in Shanghai, Kanton oder Maimatschin Geschäfte tätigen. Im Innern Chinas leben Massen, die weit weniger von der chinesischen Zivilisation verdorben, dafür ungleich energischer und zudem zwangsläufig kriegerisch sind: durch die unaufhör-

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lichen inneren Kämpfe, in denen Zehntausende, ja Hunderttausende zugrunde gehen, sind sie von klein auf mit Kriegsbräuchen vertraut. Es muß noch bemerkt werden, daß sie in letzter Zeit begonnen haben, sich mit der Handhabung modernster Waffen und auch mit der europäischen Disziplin vertraut zu machen, mit jener Blüte und jenem letzten offiziellen Wort der staatlichen Zivilisation Europas. Man braucht nur diese Disziplin und die Vertrautheit mit modernen Waffen und moderner Taktik mit der ursprünglichen Barbarei der chinesischen Massen in Verbindung zu bringen, mit dem Fehlen jeder Vorstellung von menschlichem Aufbegehren, jeglichen Instinkts für Freiheit, mit der Gewöhnung an sklavischsten Gehorsam – und das verbindet sich gerade jetzt unter dem Einfluß der vielen amerikanischen und europäischen Kriegsabenteurer, die China seit dem letzten französisch-englischen Feldzug in dieses Land im Jahre 1860 überschwemmt haben – ja man braucht nur die ungeheure Masse der Bevölkerung zu berücksichtigen, die gezwungen ist, sich einen Ausweg zu suchen, und man wird begreifen, wie groß die Gefahr ist, die uns von Osten her droht. Mit dieser Gefahr nun spielt unsere russische Regierung unschuldig wie ein Kind. Getrieben von dem absurden Bestreben, ihre Grenzen zu erweitern, bedenkt sie nicht, daß Rußland so wenig besiedelt, so arm und so hilflos ist, daß es bis jetzt nicht in der Lage ist und es auch nie sein wird, die neu erworbene Amur-Region zu besiedeln, in dem auf einer Fläche von 2 100 000 km? (fast viermal so groß wie Frankreich) einschließlich Heer und Flotte nur 65 000 Einwohner leben. Und bei dieser Unfähigkeit, bei dieser allgemeinen Armut des gesamten russischen Volkes, das durch väterliche Führung in jeder Beziehung in eine so verzweifelte Lage gebracht wurde, daß ihm kein anderer Ausweg und keine Rettung bleibt als nur ein alles zerstörender Aufstand, ja unter solchen Bedingungen hofft die russische Regierung, ihre Macht auf den ganzen asiatischen Osten auszudehnen. Um weiterhin auch nur die geringsten Aussichten auf Erfolg zu haben, müßte sie nicht nur Europa den Rücken kehren und

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auf jegliche Einmischung in europäische Angelegenheiten verzichten – und das ist gerade, was Fürst Bismarck jetzt will -, sie müßte unbedingt alle Streitkräfte nach Sibirien und Zentralasien verschieben und wie Tamerlan+110 mit seinem ganzen Volk an die Eroberung des Ostens gehen. Aber das Volk ist Tamerlan gefolgt, der russischen Regierung wird das russische Volk nicht folgen. Kehren wir zurück zu Indien. Wie unfähig die russische Regierung auch sein mag, sie kann doch nicht die Hoffnung hegen, es zu erobern und ihre Herrschaft dort zu errichten. England hat Indien vor allem durch seine Handelskompanien erobert, wir haben keine solchen Kompanien, und wenn sie irgendwo doch existieren, dann nur im Taschenformat und zum Schein. England führt seine großangelegte Ausbeutung Indiens oder seinen aufgezwungenen Handel mit ihm über das Meer durch, und zwar mit Hilfe einer gewaltigen Flotte von Handels- und Kriegsschiffen. Wir haben keine solchen Flotten, und anstelle des Meeres trennt uns von Indien eine endlose Wüste; das bedeutet, daß von Eroberungen in Indien nicht einmal die Rede sein kann. Aber wenn wir schon nichts erobern können, dann können wir die Herrschaft Englands in Indien doch zerstören oder wenigstens stark erschüttern, indem wir Eingeborenenaufstände gegen England hervorrufen und diese Aufstände sogar im Bedarfsfall durch militärische Intervention unterstützen. Ja, das können wir, obgleich es uns, die wir weder an Geld noch an Menschen reich sind, riesige Verluste an Menschenleben und Geld bringen wird. Aber warum sollen wir diese Verluste auf uns nehmen? Etwa nur deshalb, um uns das unschuldige Vergnügen zu bereiten, die Engländer zu schädigen, und zwar ohne Nutzen, im Gegenteil, mit einem beträchtlichen Schaden für uns? Nein, sondern weil die Engländer uns stören. Wo stören sie uns denn? – In Konstantinopel. Solange England seine Macht behält, wird es niemals und um nichts in der Welt damit einverstanden sein, daß Konstantinopel in unseren Händen wieder zur Hauptstadt wird, und zwar nicht nur eines

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allrussischen und nicht einmal eines slawischen, sondern eines Ostreiches. Das ist der Grund, weshalb die russische Regierung Krieg gegen Chiva führte und weshalb sie sich überhaupt von alters her um eine Annäherung an Indien bemüht hat. Sie sucht eine Stelle, wo sie England Schaden zufügen könnte, und da sie keine andere findet, droht sie ihm in Indien. Auf diese Weise hofft sie, die Engländer mit dem Gedanken zu versöhnen, daß Konstantinopel eine russische Stadt werden muß, hofft sie, sie zur Zustimmung zu dieser Eroberung, die mehr denn je für Rußland als Staat unerläßlich ist, zu zwingen. Seine Vorherrschaft an der Ostsee ist unwiederbringlich verloren. Weder der allrussische Staat, der durch Bajonett und Knute zusammengeschweißt ist und, angefangen vom groß-russischen Volk, von allen Volksmassen gehaßt wird, die er eingekerkert und in Ketten gelegt hat, [weder also der allrussische Staat,] der demoralisiert, desorganisiert und zerstört ist durch seine eigene despotische Willkür, seine eigene Dummheit und seine eigenen Räubereien, noch seine Streitmacht, die mehr auf dem Papier als in Wirklichkeit und nur für die Unbewaffneten existiert – und auch das nur, solange es bei uns an Entschlossenheit fehlt -, können allein gegen die schreckliche und ausgezeichnet organisierte Macht des neu entstehenden deutschen Reiches kämpfen. Das bedeutet, daß man auf die Ostsee verzichten und auf den Augenblick warten muß, in dem das ganze Ostseegebiet eine deutsche Provinz wird. Verhindern kann das nur eine Volksrevolution. Aber eine solche Revolution ist für den Staat der Tod, und nicht darin wird unsere Regierung ihr Heil suchen. Ihr bleibt keine andere Rettung als nur das Bündnis mit Deutschland, denn da sie gezwungen ist, zugunsten der Deutschen auf die Ostsee zu verzichten, muß sie jetzt am Schwarzen Meer einen neuen Boden suchen, eine neue Basis für ihre Größe oder auch nur für ihre politische Existenz, ihren Sinn; aber ohne Erlaubnis und Hilfe der Deutschen kann sie kein neues Betätigungsfeld erwerben.

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Die Deutschen haben diese Unterstützung versprochen. Ja, wir sind sicher, daß sie sich in einem formellen Abkommen zwischen Fürst Bismarck und Fürst Gorčakov verpflichtet haben, dem russischen Staat diese Unterstützung zu gewähren; aber wir sind ebenfalls sicher, daß sie das nie tun werden. Sie werden sie nicht gewähren, weil sie ihre Donaugebiete und ihren Donauhandel nicht russischer Willkür überlassen können, und auch, weil es nicht in ihrem Interesse liegen kann, das Entstehen einer neuen russischen Machtposition, eines großen panslawischen Reiches im Süden Europas, zu fördern. Für das pangermanische Reich wäre das eine Art Selbstmord. – Ja, die russischen Truppen nach Zentralasien und nach Chiva zu lenken und zu schieben unter dem Vorwand, dies sei der direkteste Weg nach Konstantinopel, das ist etwas anderes. Uns erscheint es unzweifelhaft, daß unser ehrwürdiger Staatspatriot und Diplomat, Fürst Gorčakov, und sein erhabener Gönner, der Herrscher Alexander Nikolaevič, in dieser traurigen Angelegenheit die dümmste Rolle gespielt haben und daß der berühmte deutsche Patriot und Staatsschurke, Fürst Bismarck, sie fast noch geschickter betrogen hat als den Kaiser Napoleon III. Aber die Sache ist vorbei, man kann sie nicht mehr ändern. Das neue deutsche Reich hat sich majestätisch und drohend erhoben und macht sich über seine Neider und Feinde lustig. Die schwachen Kräfte Rußlands können es nicht zu Fall bringen; das kann allein die Revolution, und solange die Revolution in Rußland oder in Europa nicht gesiegt hat, wird der deutsche Staat triumphieren und allen befehlen. Der russische Staat sowie alle kontinentalen Staaten in Europa werden von nun an nur noch mit seiner Erlaubnis und Gnade existieren. Dies ist natürlich außerordentlich kränkend für das staatspatriotische Herz eines jeden Russen, aber eine schreckliche Tatsache bleibt eine Tatsache. Die Deutschen sind mehr denn je unsere Herren geworden, und nicht umsonst haben sie alle in Rußland so begeistert und lautstark die Siege der deutschen Truppen in Frankreich gefeiert, nicht umsonst haben alle Peters-

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burger Deutschen ihren neuen pangermanischen Kaiser so triumphal empfangen. Gegenwärtig gibt es auf dem ganzen europäischen Kontinent nur einen wahrhaft souveränen Staat – Deutschland. Unter allen Kontinentalmächten --wir sprechen natürlich nur von den großen, da die kleinen und mittleren selbstverständlich am Anfang zur unbedingten Abhängigkeit verurteilt und nach kurzer Zeit dem Untergang geweiht sind – unter allen erstrangigen Staaten also erfüllt allein das deutsche Reich alle Bedingungen für völlige Unabhängigkeit, während alle anderen von ihm abhängig sind. Und das nicht nur deshalb, weil es im Laufe der letzten Jahre glänzende Siege über Dänemark, Österreich und Frankreich errungen hat, weil es von allen Waffen und Kriegsvorräten des letzteren Besitz ergriffen hat, weil es Frankreich gezwungen hat, ihm fünf Milliarden zu zahlen, weil es ihm gegenüber durch die Annexion von Elsaß und Lothringen sowohl in defensiver als auch in offensiver Hinsicht eine großartige militärische Position eingenommen hat, und auch nicht nur deshalb, weil die deutsche Armee an Truppenstärke, Ausrüstung, Disziplin, Organisation, Zuverlässigkeit und militärischen Kenntnissen nicht nur ihrer Offiziere, sondern auch ihrer Unteroffiziere und Soldaten, ganz zu schweigen von der vergleichsweise unbestreitbaren Vollkommenheit ihrer Stäbe, heutzutage alle anderen Armeen in Europa bei weitem übertrifft, nicht nur deshalb, weil die Masse der deutschen Bevölkerung lesen und schreiben kann und arbeitsam, produktiv sowie verhältnismäßig gebildet, um nicht zu sagen gelehrt ist, zudem friedlich, gehorsam der Obrigkeit und den Gesetzen, und weil die deutsche Verwaltung und Bürokratie beinahe das Ideal verwirklicht hat, was die Bürokratie und Administration aller anderen Staaten vergeblich anstrebt. All diese Vorzüge förderten und fördern natürlich den erstaunlichen Erfolg des neuen pangermanischen Staates. Doch darf man nicht darin den Hauptgrund für seine derzeitige alles niederdrückende Stärke suchen. Man kann sogar sagen, daß sie alle selbst nicht mehr sind als die Erscheinungsform einer

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allgemeinen und tieferen Ursache, die dem ganzen gesellschaftlichen Leben in Deutschland zugrunde liegt. Diese Ursache ist der Instinkt für das Gemeinwesen, der einen charakteristischen Zug des deutschen Volkes ausmacht. Dieser Instinkt zerfällt in zwei Elemente, die anscheinend gegensätzlich, aber immer untrennbar sind: in den sklavischen Instinkt des Gehorsams um jeden Preis, der fügsamen und klugen Unterwerfung unter die siegreiche Macht unter dem Vorwand des Gehorsams gegenüber der sogenannten legitimen Obrigkeit, und gleichzeitig in den Herrschaftsinstinkt der systematischen Unterwerfung alles Schwächeren, des Kommandierens, der Eroberung und der systematischen Unterdrückung. Diese beiden Instinkte haben in fast jedem Deutschen eine beachtliche Entwicklungsstufe erlangt, natürlich mit Ausnahme des Proletariats, dessen Lage die Möglichkeit der Befriedigung zumindest des zweiten Instinkts ausschließt, und beide liegen immer untrennbar und einander ergänzend und erklärend der patriotischen deutschen Gesellschaft zugrunde. Vom klassischen Gehorsam der Deutschen aller Dienstgrade und Klassen gegenüber der Obrigkeit ist die ganze Geschichte Deutschlands erfüllt, besonders die neueste, die eine ununterbrochene Reihe von Heldentaten an Unterwürfigkeit und Geduld darstellt. Im Herzen des Deutschen hat sich durch die Jahrhunderte eine wahre Vergötterung der Staatsmacht entwickelt, ein Kult, der allmählich eine bürokratische Theorie und Praxis hervorgebracht hat und der dank den Anstrengungen deutscher Gelehrter später zur Grundlage jeder politischen Wissenschaft geworden ist, die bis auf den heutigen Tag an deutschen Universitäten verbreitet wird. Von den Eroberungs- und Unterdrückungstrieben des deutschen Stammes, angefangen von den mittelalterlichen deutschen Kreuzrittern und Baronen bis zum letzten Spießbürger der heutigen Zeit, berichtet die Geschichte ebenfalls vernehmlich. Niemand hat diese Bemühungen so bitter an sich erfahren wie die slawischen Stämme. Man kann sagen, daß die ganze

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historische Mission der Deutschen, wenigstens im Norden und Osten, und natürlich nach deutschen Begriffen, gerade in der Ausrottung, Versklavung und gewaltsamen Germanisierung der slawischen Völker bestand und fast noch heute besteht. Das ist eine lange und traurige Geschichte, die die Slawen tief im Herzen bewahren und die sich ohne Zweifel auf den letzten unvermeidlichen Kampf der Slawen gegen die Deutschen auswirken wird, wenn die soziale Revolution sie nicht vorher versöhnt. Zur genauen Beurteilung der Eroberungssucht der ganzen deutschen Gesellschaft genügt es, einen flüchtigen Blick auf die Entwicklung des deutschen Patriotismus seit 1815 zu werfen. Von 1525, der Zeit der blutigen Niederwerfung des Bauernaufstandes, bis zur zweiten Hälfte des XVIII. Jahrhunderts, der Epoche seiner literarischen Renaissance, lag Deutschland in tiefem Schlaf, der nur manchmal durch Kanonenschüsse unterbrochen wurde und durch die schrecklichen Szenen und Leiden eines unerbittlichen Krieges, dessen Schauplatz und Opfer es meistens war. Dann wachte es mit Schrecken auf, schlief aber bald wieder ein, von Luthers Predigten eingelullt. Während dieser Zeit, d.h. im Verlauf von fast zweieinhalb Jahrhunderten, hat sich endgültig gerade unter dem Einfluß dieser Lehre sein Gehorsam und seine an wahres Heldentum grenzende sklavische Ergebenheit als deutscher Charakterzug herausgebildet. In dieser Zeit entwickelte sich ein System von bedingungslosem Gehorsam und Verehrung der Obrigkeit, das jedem Deutschen in Fleisch und Blut überging und sein ganzes Leben durchdrang. Gleichzeitig entwickelte sich die Wissenschaft von der Verwaltung und die pedantisch systematische, unmenschliche und unpersönliche bürokratische Praxis. Jeder deutsche Beamte wurde zum Priester des Staates, der bereit war, seinen Lieblingssohn nicht mit dem Messer, sondern mit der Kanzleifeder auf dem Altar des Staatsdienstes abzuschlachten. Gleichzeitig bot der deutsche wohlgeborene Adel, der zu nichts anderem als zu servilen Intrigen und Waffendienst fähig war, seine höfische und diplomatische Gewissenlosigkeit sowie sei-

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nen käuflichen Degen den am besten zahlenden europäischen Höfen an; und der bis zum Tod gehorsame deutsche Bürger duldete, mühte sich ab, zahlte ohne Murren hohe Steuern, lebte arm und beengt und tröstete sich mit dem Gedanken an die Unsterblichkeit der Seele. Die Macht der zahllosen Herrscher, die Deutschland unter sich aufgeteilt hatten, war unbegrenzt. Die Professoren ohrfeigten sich und denunzierten einander dann bei der Obrigkeit. Die Studentenschaft, die ihre Zeit zwischen toter Wissenschaft und Bier teilte, war ihrer durchaus würdig. Und vom einfachen Arbeitervolk sprach niemand; man dachte nicht einmal daran. So war die Lage in Deutschland noch in der zweiten Hälfte des XVIII. Jahrhunderts, als wie durch ein Wunder plötzlich aus diesem bodenlosen Abgrund an Gemeinheit und Niedertracht eine großartige Literatur auftauchte, geschaffen von Lessing und vollendet von Goethe, Schiller, Kant, Fichte und Hegel. Bekanntlich entstand diese Literatur am Anfang unter dem direkten Einfluß der großen französischen Literatur des XVII. und XVIII. Jahrhunderts, zunächst der klassischen, später der philosophischen, aber sie hat erstmals unter ihrem Begründer Lessing Charakter, Inhalt und Formen angenommen, die völlig eigenständig waren und gewissermaßen aus den Tiefen des deutschen kontemplativen Lebens emporgestiegen sind. Unserer Meinung nach stellt diese Literatur das größte und beinahe einzige Verdienst des modernen Deutschland dar. Mit ihrem kühnen und zugleich großzügigen Zugriff trieb sie den menschlichen Geist weit voran und eröffnete dem Denken neue Horizonte. Ihr Hauptvorzug besteht darin, daß sie einerseits ganz national war, zugleich aber in höchstem Maße die Idee der Humanität und allgemeinen Menschlichkeit vertrat, was übrigens das charakteristische Merkmal aller oder fast aller europäischen Literatur des XVIII. Jahrhunderts ist. Doch während sich z.B. die französische Literatur in den Werken Voltaires, J. J. Rousseaus, Diderots und anderer Enzyklopädisten+111 bemühte, alle menschlichen Fragen aus dem Gebiet der Theorie in die Praxis zu übertragen, bewahrte die

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deutsche Literatur rein und streng ihren abstrakt theoretischen und vor allem pantheistischen Charakter. Das war die Literatur des abstrakt poetischen und metaphysischen Humanismus, von dessen Höhe aus die Eingeweihten mit Verachtung auf das wirkliche Leben herabschauten, übrigens mit berechtigter Verachtung, denn das deutsche Alltagsleben war widerlich und gemein. So teilte sich das deutsche Leben zwischen zwei entgegengesetzten und einander negierenden, wenn auch ergänzenden Sphären: einer Welt hoher und großzügiger, aber völlig abstrakter Humanität und einer anderen Welt historisch ererbter, unterwürfiger Gemeinheit und Niedertracht. In dieser Spaltung wurde Deutschland von der Französischen Revolution überrascht. Bekanntlich nahm fast das ganze literarische Deutschland diese Revolution überaus positiv, ja geradezu mit echter Sympathie auf. Goethe runzelte ein wenig die Stirn und brummte, daß ihn der Lärm der unerhörten Ereignisse störe und er dadurch bei seiner wissenschaftlichen und künstlerischen Tätigkeit und bei seinen poetischen Betrachtungen den Faden verliere; aber die meisten Vertreter oder Anhänger moderner Literatur, Metaphysik und Wissenschaft begrüßten freudig die Revolution, von der sie die Verwirklichung aller Ideale erwarteten. Die Freimaurerei, die am Ende des XVIII. Jahrhunderts noch eine sehr bedeutende Rolle gespielt und die führenden Leute aller europäischen Länder durch eine unsichtbare, aber ziemlich aktive Bruderschaft vereint hat, stellte ein lebendiges Band zwischen den französischen Revolutionären und den vornehmen deutschen Schwärmern her. Als die republikanischen Truppen, nachdem sie dem Braunschweiger eine heroische Abfuhr erteilt und zu schimpflicher Flucht gezwungen hatten,+112 zum erstenmal den Rhein überschritten, wurden sie von den Deutschen als Befreier empfangen. Dieses freundschaftliche Verhältnis zwischen Deutschen und Franzosen hielt nicht lange an. Die französischen Soldaten waren natürlich, wie es sich für Franzosen gehört, sehr lie-

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benswürdig und als Republikaner aller Sympathie wert. Aber sie waren dennoch Soldaten, d.h. rücksichtslose Vertreter und Handlanger der Gewalt. Die Anwesenheit solcher Befreier wurde den Deutschen bald unangenehm, und ihre Sympathien kühlten merklich ab. Außerdem hatte die Revolution selbst danach einen sehr energischen Charakter angenommen, der sich in keiner Weise mehr mit den abstrakten Begriffen und den philiströs-kontemplativen Sitten der Deutschen vereinbaren ließ. Heine erzählt, daß sich in ganz Deutschland zuletzt nur noch der Königsberger Philosoph Kant seine Sympathie für die Französische Revolution bewahrt hatte, trotz des Septembermassakers, der Hinrichtung Ludwigs XVI. und Marie Antoinettes und trotz der Terrorherrschaft Robespierres.+113 Dann wurde die Republik zunächst durch das Direktorium, später durch das Konsulat und schließlich durch das Kaiserreich abgelöst.+114 Die republikanischen Truppen wurden zum blinden und lange siegreichen Werkzeug des gigantischen, an Wahnsinn grenzenden Ehrgeizes Napoleons, und am Ende des Jahres 1806, nach der Schlacht bei Jena, war Deutschland endgültig unterjocht.+115 Von 1807 an beginnt sein neues Leben. Wer kennt nicht die erstaunliche Geschichte von der schnellen Wiedergeburt des preußischen Königreiches und dadurch ganz Deutschlands. 1806 war die ganze von Friedrich II., seinem Vater und Großvater geschaffene Staatsmacht zerstört. Die von dem großen Feldherrn organisierte und disziplinierte Armee war vernichtet. Ganz Deutschland und ganz Preußen, mit Ausnahme des Königsberger Grenzgebietes, war von französischen Truppen besetzt und wurde in Wirklichkeit von französischen Präfekten verwaltet; die politische Existenz des preußischen Königreiches wurde nur auf Bitten Alexanders I., des allrussischen Kaisers, geschont. In dieser kritischen Situation fand sich eine Gruppe glühender preußischer oder besser deutscher Patrioten, die intelligent, mutig und entschlossen waren und die Lektion und das Beispiel der Französischen Revolution gelernt hatten. Diese

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sahen die Rettung Preußens und Deutschlands in weitreichenden liberalen Reformen. Zu anderer Zeit, z.B. vor der Schlacht von Jena oder womöglich auch nach 1815, als die bürokratisch-adlige Reaktion wieder in all ihre Rechte eintrat, hätten sie an solche Reformen nicht einmal zu denken gewagt. Die Partei des Hofes und des Militärs hätte sie zertreten, und der tugendhafte und dumme König Friedrich Wilhelm III.,+116 der nichts kannte als sein uneingeschränktes, von Gott beschlossenes Recht, hätte sie in Spandau eingesperrt, wenn sie nur gewagt hätten, sich zu mucksen. Doch 1807 war die Situation ganz anders. Die bürokratisch-militärische und aristokratische Partei war in einem solchen Maße vernichtet, bloßgestellt und gedemütigt, daß sie die Sprache verlor; und der König hatte eine Lektion bekommen, von der auch ein Dummkopf, und sei es auch nur für eine kurze Zeit, hätte klug werden können. Freiherr vom Stein wurde erster Minister und begann mit kühner Hand, die alte Ordnung zu überwinden und eine neue Organisation in Preußen aufzubauen.+117 Seine erste Handlung bestand darin, die an die Scholle gebundenen Bauern von dieser Bindung zu befreien und ihnen nicht nur das Recht, sondern tatsächlich die Möglichkeit zu geben, Land als persönliches Eigentum zu erwerben. Die zweite Handlung war die Abschaffung der Privilegien des Adels und die Gleichstellung aller Stände vor dem Gesetz im Militär- und Zivildienst. Als Drittes folgte die Einrichtung von Provinzial- und Munizipalverwaltungen auf der Grundlage des Wahlprinzips; sein Hauptwerk jedoch war die völlige Umgestaltung des Heeres, genauer, die Verwandlung des ganzen preußischen Volkes in ein Heer, das in drei Kategorien unterteilt war: aktive Armee, Landwehr und Landsturm [landver i šturmver]. Zum Abschluß des Ganzen gewährte Freiherr vom Stein an den preußischen Universitäten großzügig allem Zutritt und Zuflucht, was damals in Deutschland intelligent, rege und aktiv war; er nahm an der Berliner Universität den berühmten Fichte auf, den der Herzog von Weimar, Goethes Freund und Gönner,

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gerade aus Jena vertrieben hatte, weil er den Atheismus predigte. Fichte begann seine Vorlesungen mit einer flammenden Rede, die vor allem an die deutsche Jugend gerichtet war, aber später unter dem Titel: ›Reden an die deutsche Nation‹ veröffentlicht wurde.+118 Darin sagte er sehr gut und klar die zukünftige politische Größe Deutschlands voraus, und er sprach die stolze patriotische Überzeugung aus, daß es der deutschen Nation beschieden sei, der höchste Vertreter, ja der Führer und gleichsam die Krone der Menschheit zu sein; dieser Irrtum, in den allerdings vor den Deutschen auch andere Völker und mit größerem Recht verfallen sind, z.B. die alten Griechen, die Römer und neuerdings die Franzosen, der jedoch im Bewußtsein eines jeden Deutschen tief verankert ist, hat heutzutage in Deutschland äußerst häßliche und brutale Ausmaße angenommen. Bei Fichte hatte er wenigstens wahrhaft heroischen Charakter. Fichte äußerte ihn unter französischen Bajonetten, als Berlin von einem französischen General verwaltet wurde und auf den Straßen die Trommel der Franzosen dröhnte. Zudem atmete die Weltanschauung, mit der der idealistische Philosoph den patriotischen Stolz erfüllt hatte, tatsächlich Humanität, jene großzügige, teilweise pantheistische Humanität, die die große deutsche Literatur des XVIII. Jahrhunderts geprägt hat. Doch die deutschen Zeitgenossen erhielten zwar die ungeheuerliche Anmaßung ihres patriotischen Philosophen aufrecht, wiesen aber seine Humanität zurück. Sie verstehen sie einfach nicht und sind sogar bereit, sich darüber lustig zu machen, wie über die Ausgeburt eines abstrakten, durchaus nicht praktischen Denkens. Ihnen ist der Patriotismus eines Fürsten Bismarck oder eines Marx leichter verständlich. Jeder weiß, wie die Deutschen die völlige Niederlage Napoleons in Rußland und seinen unglückseligen Rückzug oder besser seine Flucht mit den letzten Resten der Armee ausnutzten und sich endlich selbst erhoben; sie sind natürlich außerordentlich stolz auf diesen Aufstand und das ganz zu Unrecht. Einen eigentlichen Volksaufstand hat es nie gegeben. Aber nach-

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dem Napoleon geschlagen und also weder gefährlich noch schrecklich war, wandten sich die deutschen Armeekorps, zunächst die preußischen und dann die österreichischen, die sich vorher gegen Rußland gewandt hatten, jetzt gegen Napoleon und vereinigten sich mit dem siegreichen russischen Heer, das Napoleon auf den Fersen folgte. Der rechtmäßige, aber bis dahin vom Unglück verfolgte preußische König Friedrich Wilhelm III. umarmte in Berlin mit Tränen der Rührung und Dankbarkeit seinen Befreier, den allrussischen Kaiser, und gab gleich darauf eine Proklamation heraus, in der er seine Untertanen zum legitimen Aufstand gegen den illegitimen und unverschämten Napoleon aufrief.+119 Der Stimme ihres Königs und Vaters gehorchend, erhoben sich deutsche und vorwiegend preußische Jünglinge und gründeten Legionen, die in die reguläre Armee eingegliedert wurden. Doch der preußische Geheimrat, der bekannte Spion und offizielle Denunziant, täuschte sich nicht sehr, als er in einer 1815 herausgegebenen Broschüre, die die Entrüstung aller Patrioten hervorrief, jegliche Eigeninitiative des Volkes bei der Befreiung leugnete und sagte: »Die preußischen Bürger griffen erst zu den Waffen, als ihr König es ihnen befahl. Das war nichts Heroisches, nichts Außergewöhnliches, sondern die einfache Erfüllung der Pflicht jedes Untertanen.«+120 Wie dem auch sei, Deutschland wurde vom französischen Joch befreit, und nach dem endgültigen Kriegsende nahm es sich die innere Umgestaltung unter der Oberleitung Österreichs und Preußens vor. Die erste Handlung war die Mediatisierung der vielen kleinen Besitztümer, die sich so aus unabhängigen in angesehene und mit Geld reich belohnte abhängige Staaten verwandelten (mit Hilfe einer Milliarde, die man den Franzosen genommen hatte); insgesamt blieben in Deutschland neununddreißig Staaten und Herrscher übrig. Die zweite Handlung war die Festlegung der gegenseitigen Beziehungen zwischen den Herrschern und ihren Untertanen. In der Zeit des Kampfes, als noch über allen das Schwert Napoleons hing und die großen und kleinen Fürsten der loya-

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len Unterstützung ihrer Völker bedurften, hatten sie reichlich Versprechungen gemacht. Die preußische Regierung und nach ihr alle anderen Regierungen hatten Verfassungen versprochen.+121 Als jetzt aber die Gefahr vorüber war, überzeugten sie sich von der Sinnlosigkeit einer Verfassung. Die österreichische Regierung unter Fürst Metternich gab unverblümt ihre Entscheidung bekannt, zur alten patriarchalischen Ordnung zurückzukehren. Der gute Kaiser Franz,+122 der unter den Wiener Bürgern größte Popularität genoß, brachte dies in einer Audienz direkt zum Ausdruck, die er Professoren des Laibacher Lyzeums gewährte. »Es sind jetzt neue Ideen im Schwung, die ich nie billigen kann, nie billigen werde. Halten Sie sich an das Alte, unsere Vorfahren haben sich dabei gut befunden, warum sollten wir es nicht? Ich brauche keine Gelehrten, sondern nur rechtschaffene und gehorsame Bürger. Die Jugend zu solchen zu bilden, liegt Ihnen ob. Wer mir dient, muß lehren, was ich befehle. Wer das nicht kann oder nicht will, der kann gehen, oder ich werde ihn entfernen.«+123 Kaiser Franz+124 hielt Wort. Bis 1848 herrschte in Österreich unbeschränkte Willkür. Ein sehr strenges Regierungssystem wurde eingesetzt, das es sich zur Hauptaufgabe machte, die Untertanen einzuschläfern und zu verdummen. Das Denken schlummerte und blieb selbst an der Universität regungslos. An die Stelle lebendiger Wissenschaft trat längst bekannte Routine. Es gab keine Literatur außer hausbackenen Skandalromanen und sehr schlechten Gedichten. Die Naturwissenschaften waren um fünfzig Jahre hinter dem neuesten Stand im übrigen Europa zurück. Politisches Leben gab es gar keines. Landwirtschaft, Industrie und Handel waren von einer Art chinesischer Reglosigkeit befallen. Das Volk, die Masse der einfachen Arbeiter, befand sich in völliger Versklavung. Und hätte es nicht Italien und teilweise auch Ungarn gegeben, die mit ihren aufrührerischen Unruhen den glücklichen Schlaf der treuen österreichischen Untertanen gestört haben, so hätte man dieses ganze Imperium als riesiges Totenreich ansehen können.

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Metternich bemühte sich dreiunddreißig Jahre lang, gestützt auf dieses Reich, ganz Europa in eine ebensolche Lage zu bringen. Er wurde zum Eckpfeiler, zur Seele und zum Führer der europäischen Reaktion, und seine Hauptsorge mußte natürlich die Vernichtung aller liberalen Tendenzen in Deutschland sein. Am meisten beunruhigte ihn Preußen, dieser neue, junge Staat, der erst Ende des vorigen Jahrhunderts in die Reihe der Großmächte aufgestiegen ist, und zwar dank dem Genie Friedrichs Il., dank Schlesien, das er Österreich abgenommen hatte, ferner dank der Teilung Polens, dank dem kühnen Liberalismus des Freiherrn vom Stein, Scharnhorsts+125 und anderer Mitkämpfer für eine preußische Wiedergeburt, die deshalb auch an die Spitze der allgemeinen deutschen Befreiung getreten war. Es schien, daß alle Umstände, die jüngsten Ereignisse, Prüfungen, Erfolge und Siege sowie das eigene Interesse die Regierung Preußens veranlassen mußten, den neuen Weg kühn weiterzugehen, der sich für Preußen als Glück und Rettung erwiesen hatte. Und gerade das fürchtete Fürst Metternich so sehr und mußte es fürchten. Schon seit der Zeit Friedrichs II., als das ganze übrige Deutschland die äußerste Stufe geistiger und moralischer Versklavung erreicht hatte und Opfer einer rücksichtslosen, unverschämten und zynischen Regierung geworden war, von Intrigen und Plünderungen korrupter Höfe, war in Preußen das Ideal einer geordneten, ehrlichen und möglichst gerechten Verwaltung verwirklicht. Dort gab es nur einen Despoten, allerdings einen unerbittlichen und schrecklichen – die Staatsräson oder die Logik des Staatsinteresses, der entschieden alles zum Opfer gebracht wurde und der sich jedes Recht beugen mußte. Dafür gab es dort weit weniger persönliche und ausschweifende Willkür als in allen anderen deutschen Staaten. Der preußische Untertan war Sklave des Staates, der durch die Person des Königs verkörpert wurde, aber kein Spielzeug seines Hofes, seiner Mätressen oder Günstlinge wie im übrigen Deutschland. Deshalb blickte schon damals ganz Deutschland mit besonderem Respekt auf Preußen.

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Dieser Respekt wuchs außerordentlich und verwandelte sich nach 1807 in echte Sympathie, als der fast völlig vernichtete preußische Staat sein Heil und das Heil Deutschlands in liberalen Reformen zu suchen begann und als nach einer ganzen Reihe gelungener Umgestaltungen der preußische König nicht nur sein Volk, sondern ganz Deutschland zum Aufstand gegen den französischen Eindringling aufrief; dabei versprach er, nach Beendigung des Krieges seinen Untertanen eine wahrhaft liberale Verfassung zu geben. Auch der Termin wurde bestimmt, an dem dieses Versprechen eingelöst werden sollte, nämlich am 1. September 1815. Dieses feierliche königliche Versprechen wurde am 22. Mai 1815 nach der Rückkehr Napoleons von der Insel Elba und vor der Schlacht bei Waterloo bekanntgegeben. Es war nur die Wiederholung des kollektiven Versprechens aller europäischen Herrscher, die auf dem Wiener Kongreß versammelt waren, als die Nachricht von der Landung Napoleons alle in panischen Schrecken versetzte. Es wurde als einer der wesentlichsten Punkte in die Akten des gerade gegründeten Deutschen Bundes aufgenommen. Einige der kleineren Herrscher Mittel- und Süddeutschlands hielten ihr Versprechen ziemlich ehrlich. In Norddeutschland hingegen, wo eindeutig das bürokratisch-militärische Adelselement vorherrschte, wurde die von Österreich unmittelbar und kräftig geförderte alte aristokratische Struktur beibehalten. Von 1815 bis Mai 1819 hoffte ganz Deutschland, daß Preußen im Gegensatz zu Österreich das allgemeine Streben nach liberalen Reformen unter seinen mächtigen Schutz nehmen würde. Es schien, daß alle Umstände und das offensichtliche Interesse der preußischen Regierung nach dieser Seite tendieren mußten. Ganz abgesehen von den feierlichen Versprechungen König Friedrich Wilhelms III., die im Mai 1815 bekannt gemacht wurden, mußten alle Prüfungen, die Preußen seit 1807 mitgemacht hatte, und seine wunderbare Wiederherstellung, für die es vor allem dem Liberalismus seiner Regierung verpflichtet war, diese in der gleichen Richtung festigen. Schließlich gab es eine noch wichtigere Überlegung, welche die preu-

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ßische Regierung veranlassen mußte, sich zum offenen und entschlossenen Förderer liberaler Reformen zu erklären, nämlich die historische Rivalität der jungen preußischen Monarchie mit dem alten österreichischen Reich. Wer wird an der Spitze Deutschlands stehen – Österreich oder Preußen? Das war die Frage, die sich aus den vorangegangenen Ereignissen und dem logischen Zwang ihrer jeweiligen Lage ergab. Deutschland, das sklavischen Gehorsam gewohnt war und weder frei leben konnte noch wollte, suchte sich einen mächtigen Herrn, einen obersten Gebieter, dem es sich völlig anvertrauen könnte und der es zu einem unteilbaren Staatskörper zusammenschließen und ihm einen Ehrenplatz unter den bedeutendsten Mächten Europas geben würde. Ein solcher Herr konnte entweder der österreichische Kaiser oder der preußische König sein. Beide zusammen konnten diesen Platz nicht einnehmen, ohne sich gegenseitig zu paralysieren+126 und eben dadurch Deutschland zur früheren Hilflosigkeit und Schwäche zu verurteilen. Österreich mußte Deutschland verständlicherweise in der Entwicklung zurückwerfen. Anders konnte es nicht handeln. Da es sich selbst überlebt und einen Grad an Altersschwäche erreicht hatte, in dem jede Bewegung tödlich sein kann und Regungslosigkeit die unerläßliche Bedingung für die Erhaltung der gebrechlichen Existenz ist, mußte es um seiner eigenen Rettung willen eben dieses Prinzip der Regungslosigkeit nicht nur in Deutschland, sondern in ganz Europa verteidigen. Jede Bekundung nationalen Lebens, jedes Vorwärtsstreben in irgendeiner beliebigen Ecke des europäischen Kontinents war für Österreich eine Beleidigung, eine Bedrohung. Sterbend wollte es, daß alle zusammen mit ihm sterben. Im politischen Leben, wie auch in jedem anderen, bedeutet Rückwärtsgehen oder auch nur an einem Ort Stehenbleiben den Tod. Es ist daher verständlich, daß Österreich seine letzten – in materieller Hinsicht sogar riesigen – Kräfte nutzte, um jede Bewegung in Europa im allgemeinen und in Deutschland im besonderen schonungslos und unbeirrbar zu unterdrücken.

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Gerade deshalb, weil die Politik Österreichs notwendigerweise so war, mußte diejenige Preußens völlig entgegengesetzt sein. Nach den napoleonischen Kriegen und dem Wiener Kongreß, der Preußen auf Kosten Sachsens, dem es eine ganze Provinz weggenommen hatte, beträchtlich vergrößert hat, besonders nach der schicksalhaften Schlacht bei Waterloo, die die vereinten Armeen gewonnen hatten – die preußische unter dem Befehl Blüchers und die englische unter dem Befehl Wellingtons –, und nach dem triumphalen zweiten Einmarsch preußischer Truppen in Paris nahm Preußen unter den europäischen Großmächten den fünften Platz ein. Aber hinsichtlich seiner tatsächlichen Stärke, seines staatlichen Reichtums, seiner Einwohnerzahl und sogar seiner geographischen Lage konnte es sich noch längst nicht mit ihnen vergleichen. Stettin, Danzig und Königsberg an der Ostsee reichten noch lange nicht aus, nicht nur eine Kriegsflotte, sondern sogar auch eine beachtliche Handelsmarine aufzubauen. Preußen, das unnatürlich langgezogen und von den neu erworbenen rheinischen Provinzen durch fremde Besitzungen getrennt war, wies in militärischer Hinsicht außerordentlich unpraktische Grenzen auf, die Angriffe von Süddeutschland, Hannover, Holland, Belgien und Frankreich aus sehr erleichterten und die Verteidigung wesentlich erschwerten. Schließlich erreichte die Zahl seiner Bevölkerung 1815 knapp 15 Millionen. Trotz dieser materiellen Schwäche, die unter Friedrich II. noch viel größer war, gelang es dem administrativen und militärischen Genie des großen Königs, die politische Bedeutung und die militärische Stärke Preußens zu begründen. Doch sein Werk wurde von Napoleon zunichte gemacht. Nach der Schlacht bei Jena mußte alles von neuem geschaffen werden, und wir haben gesehen, wie gebildete und intelligente Staatspatrioten es allein mit einer Reihe von äußerst kühnen und liberalen Reformen vermocht haben, Preußen nicht nur seine frühere Bedeutung und frühere Stärke wiederzugeben, sondern sie noch beträchtlich zu vergrößern. Und in der Tat haben sie sie so sehr vergrößert, daß Preußen unter den Großmächten nicht den letzten

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Platz einnehmen mußte, aber noch nicht genügend, als daß es diesen Platz lange halten könnte, wenn es sich nicht weiterhin bemüht, seine politische Bedeutung und seinen moralischen Einfluß zu vergrößern und auch seine Grenzen abzurunden und zu erweitern. Um zu solchen Ergebnissen zu gelangen, standen Preußen zwei verschiedene Wege offen. Der eine war, wenigstens dem Anschein nach, mehr volkstümlich, der andere rein staatlich und militärisch. Beim ersten Weg hätte sich Preußen kühn an die Spitze der deutschen konstitutionellen Bewegung stellen müssen. König Friedrich Wilhelm III. hätte nach dem großen Vorbild des berühmten Wilhelm von Oranien (1688) auf sein Banner schreiben müssen: »Für den protestantischen Glauben und für die Freiheit Deutschlands«+127 und sich so als offener Kämpfer gegen den österreichischen Katholizismus und Despotismus erweisen müssen. Beim zweiten Weg mußte er, nachdem er sein feierlich gegebenes königliches Wort gebrochen und alle weiteren liberalen Reformen in Preußen entschieden abgelehnt hatte, genauso offen auf die Seite der Reaktion in Deutschland treten und zugleich alle Aufmerksamkeit und alle Anstrengungen auf die Perfektionierung der inneren Verwaltung und der Truppen im Hinblick auf zukünftige mögliche Eroberungen konzentrieren. Es gab noch einen dritten Weg, der allerdings vor sehr langer Zeit, nämlich schon von den römischen Kaisern, von Augustus und seinen Nachfolgern, entdeckt worden ist, dann aber lange verloren war; erst in letzter Zeit wurde er von Napoleon III. wiederentdeckt und von seinem Schüler, Fürst Bismarck, freigeräumt und verbessert. Das ist der Weg des staatlichen, militärischen und politischen Despotismus, der mit den weitreichendsten und zugleich harmlosesten Formen der Volksvertretung maskiert und verschönt wird. Doch im Jahre 1815 war dieser Weg noch vollkommen unbekannt. Damals ahnte noch niemand diese Wahrheit, die heutzutage auch der dümmste Despot kennt, daß nämlich die sogenannten konstitutionellen Regierungsformen oder die einer

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Volksvertretung kein Hindernis für staatlichen, militärischen, politischen und finanziellen Despotismus sind, sondern seine innere Festigkeit und Stärke beträchtlich erhöhen können, indem sie ihn gleichsam legalisieren und ihm den trügerischen Anschein einer Volksregierung verleihen. Damals wußte man das nicht und konnte es nicht wissen, denn der völlige Bruch zwischen der Ausbeuterklasse und dem ausgebeuteten Proletariat war sowohl für die Bourgeoisie als auch für das Proletariat bei weitem nicht so klar wie heute. Damals glaubten alle Regierungen und sogar die Bourgeois, daß das Volk selbst hinter der Bourgeoisie stehe und daß diese sich nur zu rühren, nur ein Zeichen zu geben brauchte, damit sich das ganze Volk mit ihr zusammen gegen die Regierungen erheben würde. Jetzt ist das etwas ganz anderes. Die Bourgeoisie in allen Ländern Europas fürchtet die soziale Revolution am meisten und weiß, daß es für sie vor dieser Gefahr keine andere Rettung gibt als den Staat, und deshalb will und fordert sie immer einen möglichst starken Staat oder einfach eine Militärdiktatur. Um aber ihrer Eitelkeit zu genügen und auch um die Volksmassen leichter betrügen zu können, wünscht sie, daß diese Diktatur in die Form einer Volksvertretung gekleidet sei, die es ihr erlauben würde, die Volksmassen im Namen des Volkes selbst auszubeuten. Doch im Jahre 1815 gab es noch in keinem europäischen Staat diese Furcht oder diese raffinierte Politik. Im Gegenteil, die Bourgeoisie war überall aufrichtig und naiv liberal. Sie glaubte noch, für alle zu arbeiten, wenn sie für sich arbeitete; deshalb hatte sie keine Angst vor dem Volk. Sie schreckte nicht davor zurück, es gegen die Regierung aufzuwiegeln, und infolgedessen verhielten sich alle Regierungen, die sich so weit wie möglich auf den Adel stützten, der Bourgeoisie gegenüber wie gegenüber einer revolutionären Klasse, nämlich feindlich. Es besteht kein Zweifel, daß im Jahre 1815 wie auch viel später die bescheidenste liberale Erklärung von Seiten Preußens genügt hätte, daß es genügt hätte, wenn der preußische König seinen Untertanen auch nur den Schatten einer bürgerlichen

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Verfassung gegeben hätte, und ganz Deutschland hätte ihn als Oberhaupt anerkannt. Damals hatte sich unter den Deutschen im nichtpreußischen Deutschland jene starke Abneigung gegen Preußen noch nicht ausprägen können, die viel später und besonders 1848 auftauchte. Im Gegenteil, alle deutschen Länder blickten vertrauensvoll auf Preußen und erwarteten gerade von ihm das befreiende Wort; die Hälfte jener liberalen und auf Volksvertretung beruhenden Institutionen, mit denen die preußische Regierung in letzter Zeit – übrigens ohne jede Beeinträchtigung ihrer despotischen Gewalt – nicht nur die preußischen Deutschen, sondern auch alle nicht-preußischen außer den österreichischen so reichlich ausgestattet hat, hätte genügt, daß wenigstens das ganze nicht-österreichische Deutschland die preußische Hegemonie anerkannt hätte. Gerade davor hatte Österreich große Angst, denn das hätte genügt, um es schon damals in jene unglückliche und ausweglose Situation zu bringen, in der es sich heute befindet. Wenn es im Deutschen Bund den ersten Platz verloren hätte, hätte es von selbst aufgehört, eine deutsche Macht zu sein. Wir haben gesehen, daß die Deutschen nur ein Viertel der ganzen Bevölkerung des österreichischen Reiches ausmachen. Solange die deutschen Provinzen und auch einige slawische Provinzen Osterreichs, z.B. Böhmen, Mähren, Schlesien und die Steiermark, zusammengenommen eines der Mitglieder des Deutschen Bundes waren, konnten die österreichischen Deutschen, gestützt auf alle anderen zahlreichen Bewohner Deutschlands, in gewissem Maße das ganze Reich als deutsches betrachten. Aber wenn erst die Abtrennung des Reiches vom Deutschen Bund vollzogen worden wäre, wie das jetzt der Fall ist, dann hätte die deutsche Bevölkerung von neun Millionen – und damals noch weniger – sich als zu schwach erwiesen, ihre historische Vorherrschaft zu erhalten; den österreichischen Deutschen wäre nichts anderes übrig geblieben, als sich vom Haus Habsburg loszusagen und sich an das übrige Deutschland anzuschließen. Dahin streben jetzt die einen bewußt, die anderen unbewußt, und dieses Bestreben verurteilt das österreichische Reich zu einem sehr baldigen Ende.

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Sowie sich die preußische Hegemonie in Deutschland gefestigt hätte, wäre die österreichische Regierung auch schon gezwungen gewesen, ihre deutschen Provinzen aus dem allgemeinen Verband Deutschlands herauszunehmen; andernfalls hätte Österreich diese seine Provinzen, und damit auch sich selbst, faktisch der Oberherrschaft des preußischen Königs unterworfen; außerdem wäre in diesem Fall das österreichische Reich in zwei Teile zerfallen, in einen deutschen, der die preußische Hegemonie anerkannt hätte, und in den ganzen übrigen Teil, der sie nicht anerkannt hätte, was für das Reich ebenfalls verhängnisvoll gewesen wäre. Es gab allerdings noch ein anderes Mittel, das Fürst Schwarzenberg im Jahre 1850 erproben wollte, was ihm aber nicht gelang und nicht gelingen konnte, nämlich: als unteilbaren Staat das ganze Reich mit Ungarn, Siebenbürgen sowie allen slawischen und italienischen Provinzen völlig in den Deutschen Bund einzugliedern. Dieser Versuch konnte nicht gelingen, denn Preußen hätte dagegen verzweifelten Widerstand geleistet und mit Preußen auch ein großer Teil Deutschlands, und wie im Jahre 1850 hätten sich auch alle anderen Großmächte, besonders Rußland und Frankreich, widersetzt; schließlich hätten sich drei Viertel der österreichischen Bevölkerung, denen die Deutschen verhaßt sind, erhoben, nämlich Slawen, Madjaren, Rumänen und Italiener, denen allein der Gedanke, daß sie Deutsche werden könnten, wie eine Schande vorkommt. Preußen und ganz Deutschland wären natürlich Gegner eines solchen Versuches, dessen Verwirklichung ersteres, Preußen, vernichten und ihm den spezifisch deutschen Charakter nehmen würde; letzteres, Deutschland, würde aufhören, ein Vaterland der Deutschen zu sein und würde sich in irgendein chaotisches und gewaltsames Konglomerat aus verschiedensten Völkerschaften verwandeln. Rußland und Frankreich wären deswegen nicht einverstanden, weil Österreich, wenn es sich ganz Deutschland unterworfen hat, plötzlich zur größten Macht auf dem europäischen Kontinent werden würde. Deshalb blieb für Österreich nur eines übrig: Deutschland nicht dadurch zu erdrücken, daß es sich ihm in seiner Gesamt-

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heit anschloß, zugleich aber Preußen nicht an die Spitze des Deutschen Bundes treten zu lassen. Wenn es diese Politik verfolgte, konnte es mit der aktiven Unterstützung Frankreichs und Rußlands rechnen. Rußlands Politik bestand bis vor kurzem, d.h. bis zum Krimkrieg, gerade darin, die gegenseitige Rivalität zwischen Österreich und Preußen systematisch aufrechtzuerhalten, damit nicht eines von beiden über das andere die Oberhand gewinnen konnte, und gleichzeitig darin, bei den kleineren und mittleren Staaten Deutschlands Mißtrauen und Furcht zu erwecken und sie vor Österreich und Preußen zu schützen. Da aber Preußens Einfluß auf das übrige Deutschland hauptsächlich moralischer Natur war, weil er vor allem auf der Erwartung beruhte, daß die preußische Regierung, die erst kürzlich so viele Beweise ihrer patriotischen und aufgeklärt-liberalen Tendenz gegeben hatte, auch jetzt, getreu ihrem Versprechen, ihren Untertanen eine Verfassung geben und eben dadurch an die Spitze der fortschrittlichen Bewegung in ganz Deutschland treten wird, müßte die Hauptsorge Fürst Metternichs sein zu verhindern, daß der preußische König seinen Untertanen eine Verfassung gab, und dafür zu sorgen, daß er zusammen mit dem österreichischen Kaiser an die Spitze der reaktionären Bewegung in Deutschland treten würde. In diesem Bestreben fand er die eifrigste Unterstützung sowohl in dem von den Bourbonen regierten Frankreich als auch bei dem von Arakčeev+128 dirigierten Kaiser Alexander [I.]. Fürst Metternich fand ebenso eifrige Unterstützung auch in Preußen selbst, mit sehr wenigen Ausnahmen beim ganzen preußischen Adel, bei der höheren militärischen und zivilen Bürokratie und schließlich auch beim König selbst. König Friedrich Wilhelm III. war ein sehr guter Mensch, aber ein König, d.h., wie es sich für einen König gehört, ein Despot der Natur, der Erziehung und der Gewohnheit nach. Zudem war er ein frommer und gläubiger Sohn der evangelischen Kirche, und das erste Dogma dieser Kirche besagt, daß »alle Gewalt von Gott« kommt. Er glaubte im Ernst an seine

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göttliche Salbung, an sein Recht oder genauer an seine Pflicht, Befehle zu erteilen, und an die Verpflichtung jedes Untertanen, ohne Einwände zu gehorchen und seine Befehle auszuführen. Eine solche Gesinnung ließ sich mit dem Liberalismus nicht vereinbaren. Zwar hat er in Notzeiten des Staates seine treuen Untertanen mit den liberalsten Versprechungen nur so überhäuft. Aber dabei hat er dem Staatsinteresse gehorcht, dem sich, wie einem höheren Gesetz, sogar der Monarch selbst beugen muß. Jetzt war die Not vorbei, d.h. daß man auch das Versprechen, dessen Erfüllung dem Volk selbst Schaden zugefügt hätte, nicht zu halten brauchte. Sehr gut hat Erzbischof Eylert dies kürzlich in seiner Predigt erklärt: »Der König hat gehandelt wie ein weiser Vater. Zur Feier seines Geburtstages oder seiner Genesung hat er, gerührt von der Liebe seiner Kinder, einige Versprechungen gemacht; dann aber mit Ruhe dieselben modifiziert und seine natürliche und schützende Autorität wiederhergestellt.«+129 Der ganze Hof um ihn herum, die gesamte Generalität und die ganze höhere Bürokratie waren von diesem Geist durchdrungen. In den Zeiten der Not, die sie über Preußen gebracht hatten, waren sie verstummt; schweigend hatten sie die unvermeidlichen Reformen des Freiherrn vom Stein und seiner wichtigsten Mitstreiter ertragen. Jetzt, nachdem die Not vorbei ist, fangen sie an, mehr denn je zu intrigieren und zu lärmen. Sie waren aufrichtige Reaktionäre, nicht weniger, sondern vielleicht sogar mehr als der König selbst. Der gesamtdeutsche Patriotismus war ihnen nicht nur unverständlich, sondern von ganzem Herzen verhaßt. Die deutsche Flagge war ihnen zuwider und erschien ihnen als das Zeichen des Aufstandes. Sie kannten nur ihr teures Preußen, das sie übrigens ein zweitesmal bereitwillig ins Verderben geschickt hätten, nur um den verhaßten Liberalen keinerlei Zugeständnisse machen zu müssen. Der Gedanke, der Bourgeoisie politische Rechte irgendwelcher Art, besonders das Recht auf Kritik und Kontrolle, zuzugestehen, der Gedanke, eventuell mit ihr verglichen zu werden, versetzte sie einfach in Schrecken und erweckte in ih-

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nen unbeschreibliche Entrüstung. Sie hofften und wünschten, daß die preußischen Grenzen erweitert und abgerundet würden, aber nur durch Eroberungen. Von Anfang an war ihre Zielsetzung klar: Im Gegensatz zur liberalen Partei, die die Germanisierung Preußens anstrebte, wollten sie immer Deutschland verpreußen. Außerdem standen sie fast alle, angefangen von ihrem Anführer, dem Freund des Königs, Fürst Wittgenstein,+130 der bald erster Minister wurde, im Dienst bei Fürst Metternich. Gegen sich hatten sie eine kleine Gruppe von Leuten, Freunden und Mitstreitern des Freiherrn vom Stein, der seinen Abschied schon erhalten hatte. Dieses Häuflein von Staatspatrioten unternahm weiterhin ungeheure Anstrengungen, um den König auf dem Weg liberaler Reformen zu halten; da es aber nirgends Unterstützung fand als bei der öffentlichen Meinung, die in gleicher Weise von König, Hof, Bürokratie und Armee verachtet wurde, wurde es bald zu Fall gebracht. Das Gold Metternichs und die von sich aus reaktionäre Tendenz der höchsten deutschen Kreise erwiesen sich als weitaus stärker. Somit blieb Preußen zur Verwirklichung rein liberaler Pläne nur ein Weg: die Vervollkommnung und allmähliche Vergrößerung der administrativen und finanziellen Mittel und auch der Streitkräfte im Hinblick auf zukünftige Eroberungen in Deutschland selbst, d.h. auf die allmähliche Eroberung von ganz Deutschland. Dieser Weg entsprach übrigens völlig den Traditionen und dem ganzen Wesen der preußischen Monarchie, die militärisch, bürokratisch, polizeilich, mit einem Wort, staatlich und d.h. in all ihren äußeren und inneren Erscheinungsformen mit legalem Zwang verbunden ist. Von dieser Zeit an begann sich in den deutschen offiziellen Kreisen das Ideal des vernünftigen und aufgeklärten Despotismus herauszubilden, von dem Preußen bis 1848 geleitet wurde. Es widersprach den liberalen Bestrebungen des pangermanischen Patriotismus ebensosehr wie der despotische Obskurantismus des Fürsten Metternich. Gegen die Reaktion, die auch in der Innen- und Außenpolitik Österreichs und Preußens stark zum Ausdruck kam, er-

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hob sich ganz natürlich ein Kampf auf der Seite der liberal-patriotischen Partei, mehr oder weniger in ganz Deutschland, vorwiegend aber im Süden. Es war eine Art Duell, das sich in verschiedenen Formen und mit einem für die deutschen Liberalen fast immer gleichen und immer außerordentlich kläglichen Ausgang genau fünfundfünfzig Jahre, von 1815 bis 1870, hinzog. Man kann es in verschiedene Perioden unterteilen: 1. die Periode des Liberalismus und der Gallophobie der Teutoromantiker, von 1815 bis 1830; 2. die Periode der offenen Nachahmung des französischen Liberalismus, von 1830 bis 1840; 3. die Periode des ökonomischen Liberalismus und Radikalismus, von 1840 bis 1848; 4. die übrigens sehr kurze Periode einer entscheidenden Krise, die mit dem Tod des deutschen Liberalismus endete, von 1848 bis 1850, und schließlich 5. die Periode, welche mit dem verbissenen Kampf, ja man kann sagen, mit dem Endkampf des sterbenden Liberalismus gegen den Etatismus im preußischen Parlament begann und mit dem endgültigen Sieg der preußischen Monarchie in ganz Deutschland endete, von 1850 bis 1870. Der deutsche Liberalismus der ersten Periode von 1815 bis 1830 war keine Einzelerscheinung. Er war nur eine nationale, allerdings sehr eigenartige Spielart des gesamteuropäischen Liberalismus, der an fast allen Punkten Europas, von Madrid bis Petersburg und von Deutschland bis Griechenland, einen überaus energischen Kampf gegen die gesamte monarchistische und aristokratisch-klerikale Reaktion in Europa begonnen hatte, die mit der Rückkehr der Bourbonen auf den Thron in Frankreich, in Spanien, Neapel, Parma und Lucca, der Rückkehr des Papstes, und mit ihm der Jesuiten, nach Rom, des piemontesischen Königs nach Turin und mit der Niederlassung der Österreicher in Italien Triumphe feierte. Der wichtigste und offizielle Repräsentant dieser wahrhaft internationalen Reaktion war die Heilige Allianz (la sainte alliance), die zunächst zwischen Rußland, Preußen und Öster-

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reich geschlossen worden war, der aber später alle großen und kleinen Mächte, mit Ausnahme Englands, Roms und der Türkei entschlossen beitraten. Ihr Anfang war romantisch. Der erste Gedanke daran reifte in der mystischen Phantasie der berühmten Baronin von Krüdener,+131 die die Gunst des noch ziemlich jungen und den Frauen durchaus zugetanen Kaisers Alexanders I. genoß. Sie überzeugte ihn davon, daß er der weiße Engel sei, der vom Himmel herabgesandt war, um das unglückliche Europa aus den Krallen des schwarzen Engels, Napoleon, zu befreien, und die göttliche Ordnung auf Erden wiederherzustellen. Alexander Pavlovic glaubte gern an eine solche Berufung, aufgrund deren er Preußen und Österreich den Abschluß der Heiligen Allianz vorschlug. Nachdem die drei von Gott gesalbten Monarchen, wie es sich gehörte, die heilige Dreifaltigkeit zum Zeugen angerufen hatten, schworen sie einander unbedingte und unauflösliche Bruderschaft und verkündeten feierlich als Ziel der Allianz den Triumph des göttlichen Willens, der Moral, der Gerechtigkeit und des Friedens auf Erden. Sie versprachen, immer vereint zu handeln und einander mit Rat und Tat in jedem Kampf beizustehen, der gegen sie aus dem Geist der Finsternis, d.h. aus dem Freiheitsstreben der Völker, ausgelöst würde. In Wirklichkeit bedeutete dieses Versprechen, daß sie einen solidarischen und unerbittlichen Krieg gegen alle Erscheinungsformen des Liberalismus in Europa führen werden, indem sie die feudalistischen Einrichtungen, die von der Revolution vernichtet, aber von der Restauration wiederhergestellt worden sind, um jeden Preis bis zum letzten unterstützen. Wenn Alexander [I.] der Schönredner, der melodramatische Repräsentant der Heiligen Allianz war, dann war Fürst Metternich ihr eigentlicher Führer. Deutschland war damals wie zur Zeit der großen Revolution und wie auch jetzt Eckpfeiler der europäischen Reaktion. Dank der Heiligen Allianz wurde die Reaktion international, weshalb auch die Aufstände gegen sie internationalen Charakter annahmen. Die Zeit zwischen 1815 und 1830 war in Westeuropa die letzte heroische Periode der Bourgeoisie.

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Die gewaltsame Restauration der monarchisch-absoluten Macht und der feudalistisch-klerikalen Institutionen, die diese ehrenwerte Klasse aller Vorteile beraubte, welche sie sich während der Revolution errungen hatte, mußte sie natürlicherweise wieder in eine mehr oder weniger revolutionäre Klasse verwandeln. In Frankreich, Italien, Spanien, Belgien und Deutschland wurden bourgeoise Geheimgesellschaften gegründet mit dem Ziel, die Ordnung zu stürzen, die gerade erst den Sieg errungen hatte. In England, dem einzigen Land, in dem der Konstitutionalismus nach den Bräuchen dieses Landes tiefe und lebendige Wurzeln geschlagen hat, nahm dieser allgemeine Kampf des bourgeoisen Liberalismus gegen den wiedererstehenden Feudalismus den Charakter legaler Agitation und parlamentarischer Umwälzungen an. In Frankreich, Belgien, Italien und Spanien mußte er eine entschieden revolutionäre Richtung annehmen, die sich sogar in Rußland und Polen bemerkbar machte. In all diesen Ländern wurde jede von der Regierung entdeckte und vernichtete geheime Gesellschaft sofort durch eine andere ersetzt; und alle hatten nur ein Ziel – den Aufstand mit der Waffe in der Hand, die Organisation der Revolte. Die ganze Geschichte Frankreichs von 1815 bis 1830 war eine Reihe von Versuchen, den Thron der Bourbonen zu stürzen, und nach vielen Mißerfolgen erreichten die Franzosen schließlich 1830 ihr Ziel. Jeder kennt die Geschichte der spanischen, neapolitanischen, piemontesischen, belgischen und polnischen Revolution von 1830-31, sowie diejenige des Dekabristenaufstandes in Rußland.+132 In all diesen Ländern waren die Aufstände äußerst ernst, ob sie Erfolg hatten oder nicht; es floß viel Blut, und viele schwere Opfer wurden gebracht, mit einem Wort, der Kampf war ernst und oft sogar heroisch. Sehen wir nun, was zu dieser Zeit in Deutschland geschah. In der ganzen ersten Periode von 1815 bis 1830 gibt es nur zwei irgendwie bemerkenswerte Äußerungen des liberalen Geistes in Deutschland. Die erste war das berühmte Wartburgfest im Jahre 1817.+133 In der Nähe der Wartburg, die einst Luther als geheimer Zufluchtsort gedient hat, versammelten sich

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etwa 500 Studenten aus allen Teilen Deutschlands mit dem nationalen deutschen dreifarbigen Banner und mit ebensolchen Schulterbändern. Die geistigen Kinder des patriotischen Professors und Sängers Arndt,+134 des Verfassers der bekannten Nationalhymne ›Was ist des Deutschen Vaterland‹+135 und des ebenso patriotischen Vaters aller deutschen Gymnasiasten, Jahn,+136 der mit den vier Worten »frisch, fromm, fröhlich, frei« das Ideal der deutschen blonden, langhaarigen Jugend verkündete, die Studenten Nord- und Süddeutschlands also, hielten es für notwendig, sich zu versammeln, um lautstark vor ganz Europa und hauptsächlich vor allen Regierungen die Forderungen des deutschen Volkes zu verkünden. Worin nun bestanden ihre Forderungen und Erklärungen? Damals war in ganz Europa die konstitutionelle Monarchie Mode. Weiter hat die Phantasie der bourgeoisen Jugend nicht gereicht, weder in Frankreich, noch in Spanien oder selbst Italien und Polen. Lediglich in Rußland forderte eine Gruppe der Dekabristen, bekannt unter dem Namen Südliche Gesellschaft, unter der Führung von Pestel' und Murav'ev-Apostol die Zerstörung des russischen Reiches und die Gründung einer slawischen föderativen Republik; dabei sollte das gesamte Land dem Volk übergeben werden. Davon haben die Deutschen nie geträumt. Zerstören wollten sie nichts. Damals hatten sie dazu ebensowenig Lust wie heute, obwohl das die unbedingte und wichtigste Voraussetzung jeder ernsthaften Revolution ist. Sie dachten nicht einmal daran, auch nur die Hand in frevlerischer Rebellion gegen einen ihrer zahlreichen Landesväter zu erheben. Sie hatten nur den einen Wunsch, daß jeder dieser Landesväter ihnen wenigstens irgendeine Verfassung gibt. Außerdem wünschten sie ein alldeutsches Parlament über den lokalen Parlamenten sowie einen alldeutschen Kaiser als Repräsentant der nationalen Einheit über den lokalen Herrschern. Wie wir sehen eine zwar außerordentlich gemäßigte, dabei aber höchst absurde Forderung. Sie wollten eine föderative Monarchie und träumten zu-

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gleich von einem mächtigen deutschen Einheitsstaat – eine offensichtliche Absurdität. Man braucht jedoch das deutsche Programm nur einer genaueren Prüfung zu unterziehen, um sich davon zu überzeugen, daß seine scheinbare Absurdität von einem Mißverständnis herrührt. Dieses Mißverständnis besteht in der falschen Annahme, die Deutschen forderten mit nationaler Macht und Einheit zugleich auch Freiheit. Die Deutschen haben der Freiheit niemals bedurft. Für sie ist das Leben einfach undenkbar ohne Regierung, d.h. ohne einen obersten Willen, ein oberstes Denken und eine eiserne Hand, die sie hart anfaßt. Je stärker diese Hand ist, desto stolzer sind sie und desto fröhlicher wird für sie das Leben selbst. Nicht das Fehlen der Freiheit hat ihnen Kummer bereitet, für die sie keinerlei Verwendung hätten, sondern, daß es bei der tatsächlich bestehenden Vielfalt der kleinen Tyranneien an einer einheitlichen, unteilbaren nationalen Macht fehlte. Ihre heimliche Leidenschaft, ihr einziges Ziel ist die Gründung eines riesigen pangermanischen Staates, der gewaltsam alles verschlingt und vor dem alle anderen Völker zittern. Deshalb ist es ganz natürlich, daß die Deutschen niemals eine Volksrevolution wollten. In dieser Hinsicht erwiesen sie sich als außerordentlich konsequent. Und in der Tat kann staatliche Macht nicht das Ergebnis einer Volksrevolution sein; möglicherweise kann sie das Ergebnis eines Sieges sein, den irgendeine Klasse über einen Volksaufstand errungen hat, wie das in Frankreich der Fall war. Aber selbst in Frankreich war der starke Arm des Despoten Napoleon notwendig, um einen mächtigen Staat aufzubauen. Die deutschen Liberalen haßten den Despotismus Napoleons, aber sie waren bereit, die preußische oder österreichische Staatsmacht zu vergöttern, wenn diese nur damit einverstanden war, sich in eine pangermanische Macht zu verwandeln. Das bekannte Lied Arndts: ›Was ist des Deutschen Vaterland?‹, das bis jetzt die deutsche Nationalhymne geblieben ist, bringt dieses leidenschaftliche Streben nach der Gründung eines mächtigen Staates voll zum Ausdruck. Er fragt: »Wo ist das

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Vaterland des Deutschen? – In Preußen? – Österreich? – Nord- oder Süddeutschland? – West- oder Ostdeutschland?« Und danach antwortet er: »O nein! nein! nein! sein Vaterland muß größer sein.« Es erstreckt sich auf alles, »So weit die deutsche Zunge klingt und Gott im Himmel Lieder singt.«+137 Und da die Deutschen, eines der fruchtbarsten Völker der Welt, ihre Kolonisten überallhin aussenden und die europäischen Hauptstädte, Amerika, ja sogar Sibirien anfüllen, so folgt daraus, daß sich bald der ganze Erdball der Macht des pangermanischen Kaisers unterwerfen muß. Das war die wirkliche Bedeutung des studentischen Wartburgfestes. Sie suchten und riefen nach einem pangermanischen Herrn, der sie kurz halten würde und durch ihren leidenschaftlichen und freiwilligen Gehorsam stark genug wäre, ganz Europa zittern zu machen. Jetzt wollen wir sehen, auf welche Art sie ihre Unzufriedenheit erklärt haben. Auf dem Wartburgfest sangen sie zunächst das bekannte Lied Luthers ›Ein feste Burg ist unser Gott‹, danach ›Was ist des Deutschen Vaterland.‹ Sie riefen einigen deutschen Patrioten »vivat« und den Reaktionären einen Fluch zu und übergaben schließlich einige reaktionäre Broschüren dem Feuer. Das war alles. Bedeutsamer waren zwei andere Vorfälle, die sich 1819 ereigneten: die Ermordung des russischen Spions Kotzebue durch den Studenten Sand+138 und der Mordanschlag auf den kleinen Staatsrat des kleinen nassauischen Herzogtums, von Ibell, den der junge Apotheker Carl Loening verübt hatte.+139 Beide Taten waren völlig unsinnig, da sie keinerlei Nutzen bringen konnten. Aber wenigstens zeigte sich in ihnen aufrichtige Leidenschaft, heldenmütige Selbstaufopferung und jene Einheit von Gedanke, Wort und Tat, ohne die der revolutionäre Geist unvermeidlich der Rhetorik verfällt und zur abstoßenden Lüge wird. Außer diesen beiden Ereignissen – dem politischen Mord Sands und dem Anschlag Loenings – sind alle übrigen Erklärungen des deutschen Liberalismus nicht über eine sehr naive und zudem äußerst lächerliche Rhetorik hinausgekommen. Das war die Zeit des wilden Teutonentums. Als Kinder von Spieß-

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bürgern und selbst zukünftige Spießbürger sahen sich die deutschen Studenten als Germanen des Altertums, so wie sie Tacitus und Julius Caesar beschreiben, als kriegerische Nachkommen Arminius' und als wilde Bewohner der Urwälder. Als Folge davon hatten sie nur tiefe Verachtung nicht für ihre kleinbürgerliche Welt, wie es logisch gewesen wäre, sondern für Frankreich, die Franzosen und alles, was den Stempel französischer Zivilisation trug. Die Gallophobie wurde in Deutschland zu einer Epidemie. Die akademische Jugend fing an, sich mit altgermanischer Kleidung herauszuputzen, ganz genau wie unsere Slawophilen in den vierziger und fünfziger Jahren, und löschte ihr jugendliches Feuer mit gewaltigen Mengen von Bier; außerdem zeigten die ständigen Duelle, die gewöhnlich mit Schmissen im Gesicht endeten, ihren kriegerischen Heldenmut. Die patriotischen und pseudoliberalen Gefühle wurden im Gebrüll militärischpatriotischer Lieder, darunter der Nationalhymne ›Was ist des Deutschen Vaterland?‹ voll ausgedrückt und befriedigt. – Das prophetische Lied vom jetzt vollendeten oder sich vollendenden pangermanischen Reich nahm natürlich den ersten Platz ein. Vergleicht man diese Äußerungen mit den gleichzeitigen Äußerungen des Liberalismus in Italien, Spanien, Frankreich, Belgien, Polen, Rußland und Griechenland, so wird man zustimmen, daß es nichts Naiveres und Lächerlicheres gibt als den deutschen Liberalismus, der in seinen heftigsten Äußerungen von jenem gemeinen Gefühl des Gehorsams und der Untertänigkeit durchdrungen war, oder höflicher gesagt, von jener frommen Verehrung der Obrigkeit und der Vorgesetzten, bei deren Anblick Börne+140 in die schmerzerfüllten, allbekannten und von uns bereits zitierten Worte ausbrach: »Andere Völker sind oft Sklaven, aber wir, die Deutschen, sind immer Lakaien.«9+141

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Lakaientum ist freiwillige Sklaverei. Eine seltsame Sache! Anscheinend kann es keine schlimmere Sklaverei als die russische geben; aber niemals hat es unter den russischen Studenten ein

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Und in der Tat war der deutsche Liberalismus, von ganz, wenigen Ausnahmen abgesehen, nur eine besondere Erscheinungsform deutschen Lakaientums, einer nationalen lakaienhaften Ehrsucht. Er war nur der von der Zensur mißbilligte Ausdruck des allgemeinen Wunsches, die starke kaiserliche Hand über sich zu fühlen. Aber diese untertänige Forderung erschien den Regierungen als Rebellion und wurde als Rebellion verfolgt. Das erklärt sich durch die Rivalität Österreichs und Preußens. Beide hätten sich gern auf den abgeschafften Thron Barbarossas gesetzt,+142 aber keines konnte damit einverstanden sein, daß dieser Thron vom Rivalen eingenommen wird, weshalb sie, gleichzeitig von Rußland und Frankreich unterstützt, in diesem einen gemeinsam mit ihnen handelten, wenn auch aus völlig unterschiedlichen Überlegungen; Österreich und Preußen begannen, das allgemeine Streben aller Deutschen nach einem einheitlichen und mächtigen pangermanischen Reich als Erscheinungsform des äußersten Liberalismus zu verfolgen. Die Ermordung Kotzebues war das Signal für die heftigste Reaktion. Es begannen Sitzungen und Konferenzen der deutschen Herrscher, der deutschen Minister und auch internationale Kongresse, an denen Kaiser Alexander I.+143 und der französische Gesandte teilnahmen. Eine Reihe von Maßnahmen, die vom Deutschen Bund vorgeschrieben waren,+144 fesselten die armen deutschen liberalen Kriecher. Man verbot ihnen Turnübungen und patriotische Lieder – und ließ ihnen nur das Bier. Überall wurde die Zensur eingeführt, und was dann? Deutschland wurde plötzlich wieder ruhig, die Burschen gehorchten sogar ohne den leisesten Protest, und im Laufe von elf Jahren, von 1819 bis 1830, gab es im ganzen deutschen Land auch nicht mehr die geringste Spur irgendwelchen politischen Lebens.

so lakaienhaftes Verhältnis zu den Professoren und zur Obrigkeit gegeben, wie es noch jetzt in der ganzen deutschen Studentenschaft existiert.

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Dieses Faktum ist so erstaunlich, daß der deutsche Professor Müller, der eine ziemlich detaillierte und wahrheitsgetreue Geschichte der fünfzig Jahre von 1816-1865 geschrieben hat, alle Umstände dieser unerwarteten und wirklich wunderbaren Befriedung erzählt und ausruft: »Bedarf es noch anderer Beweise dafür, daß Deutschland kein Boden für eine Revolution ist?«+145 Die zweite Periode des deutschen Liberalismus begann 1830 und endete etwa 1840. Das ist die Periode einer fast blinden Nachahmung der Franzosen. Die Deutschen haben aufgehört, die Gallier zu verschlingen vor Haß, den sie jetzt ganz auf Rußland lenken. Der deutsche Liberalismus erwachte nach elfiährigem Schlaf nicht aus eigenem Antrieb, sondern dank den drei Julitagen+146 in Paris, was der Heiligen Allianz mit der Vertreibung seines legitimen Königs den ersten Schlag versetzt hat. Unmittelbar danach brach die Revolution in Belgien und in Polen aus. Auch Italien erwachte, da es aber von Louis-Philippe an die Österreicher verraten wurde, hat es sich einem noch schwereren Joch unterworfen. In Spanien entbrannte ein Bürgerkrieg zwischen den Anhängern von Maria-Christina und den Karlisten.+147 Unter solchen Umständen mußte selbst Deutschland erwachen. Dieses Erwachen war um so leichter, als die Julirevolution alle deutschen Regierungen, einschließlich der österreichischen und der preußischen, zu Tode erschreckte. Bis zum Amtsantritt des Fürsten Bismarck und seines König-Kaisers auf dem deutschen Thron waren alle deutschen Regierungen trotz ihrer ganzen äußeren militärischen, politischen und bourgeoisen Macht in moralischer Hinsicht außerordentlich schwach und ohne jegliches Selbstvertrauen. Diese nicht zu bezweifelnde Tatsache scheint angesichts der angeborenen Sanftmut und Untertänigkeit des deutschen Volkes sehr seltsam. Weshalb sollten sich also die Regierungen beunruhigen und fürchten? Die Regierungen fühlten und wußten, daß die Deutschen sie nicht ertragen konnten, obgleich sie ihnen gehorchten, wie es sich für gute Untertanen gebührt. Was also taten sie, um den Haß des Volkes zu ersticken, das in ei-

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nem solchen Maße dazu neigt, seine Obrigkeit zu vergöttern? Welches waren die Gründe für diesen Haß? Es gab zwei: Der erste bestand darin, daß das Adelselement in Bürokratie und Krieg [Militär] dominierte. Die Julirevolution hat die Reste der feudalen und klerikalen Vormachtstellung in Frankreich vernichtet; auch in England triumphierte nach der Julirevolution die liberal-bourgeoise Reform. Überhaupt beginnt mit dem Jahre 1830 der Triumph der Bourgeoisie in Europa, nur nicht in Deutschland. Dort herrschte bis in die letzten Jahre, d.h. bis zum Amtsantritt des Aristokraten Bismarck, die feudalistische Partei. Alle höheren und der größte Teil der niederen Regierungsstellen, wie in der Bürokratie, so auch im Heer, waren in ihren Händen. Jeder weiß, mit welcher Geringschätzung und Arroganz die deutschen Aristokraten, die Fürsten, Grafen, Freiherren und sogar die einfachen Vons den Bürger behandeln. Bekannt ist der berühmte Ausspruch des Fürsten Windischgrätz,+148 eines österreichischen Generals, der 1848 Prag und 1849 Wien bombardiert hatte: »Der Mensch fängt erst beim Baron an.«+149 Diese Dominanz des Adels war für die deutschen Bürger um so kränkender, als der Adel in jeder Beziehung, sowohl was seinen Reichtum, als auch was seine geistige Entwicklung angeht, ungleich niedriger steht als die Klasse der Bourgeoisie. Und nichtsdestoweniger kommandiert er alle und jeden. Die Bürger hatten nur das Recht, zu zahlen und zu gehorchen. Das war für sie außerordentlich unangenehm. Und trotz aller Bereitschaft, ihre legitimen Herrscher zu vergöttern, wollten sie keine Regierung dulden, die sich fast ausschließlich in Händen des Adels befand. Immerhin ist bemerkenswert, daß sie mehrfach versuchten doch nie mit Erfolg – das Adelsjoch abzuschütteln, das sogar die stürmischen Jahre von 1848 und 1849 überdauert hatte und erst jetzt allmählich systematisch durch den pommerschen Adligen, Fürst Bismarck, vernichtet wird. Den anderen und wichtigeren Grund für die Abneigung der Deutschen gegen die Regierungen haben wir schon erklärt.

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Die Regierungen waren gegen den Zusammenschluß Deutschlands zu einem starken Staat. Das bedeutet, daß sie alle bourgeoisen und politischen Instinkte der deutschen Patrioten verletz ten. Die Regierungen wußten das, mißtrauten ihren Untertanen und fürchteten sie ernsthaft, trotz ständiger Bemühungen dieser Untertanen, ihre grenzenlose Unterwürfigkeit und völlige Unschuld zu beweisen. Auf Grund dieser Mißverständnisse erschraken die Regie, rangen sehr über die Folgen der Julirevolution; sie erschraken so, daß der unschuldigste und unblutigste Straßenlärm oder Patsch, wie die Deutschen das nennen, genügte, um die Könige von Sachsen und Hannover und die Herzöge von Hessen-Darmstadt und Braunschweig zu veranlassen, ihren Untertanen eine Verfassung zu geben. Zudem rieten jetzt Preußen und Osterreich und sogar Fürst Metternich selbst, der bis dahin die Seele der Reaktion in ganz Deutschland gewesen war, dem Deutschen Bund, sich den legitimen Forderungen der treuen deutschen Untertanen nicht zu widersetzen. In den Parlamenten Süddeutschlands redeten die Führer der sogenannten liberalen Parteien sehr laut von der Wiederaufnahme der Forderung nach einem gesamtdeutschen Parlament und von der Wahl eines pangermanischen Kaisers. Alles hing vom Ausgang der polnischen Revolution ab.+150 Wenn sie siegreich gewesen wäre, dann wäre die preußische Monarchie – losgerissen von ihrer Stütze im Nordosten und gezwungen, wenn nicht mit allen, so doch wenigstens mit einem beträchtlichen Teil seiner polnischen Provinzen zu bezahlen – genötigt gewesen, einen neuen Stützpunkt in Deutschland selbst zu suchen, und da sie ihn damals noch nicht auf dem Eroberungswege gewinnen konnte, hätte sie durch liberale Reformen das Wohlwollen und die Liebe des übrigen Deutschland erwerben und kühn alle Deutschen zur kaiserlichen Fahne rufen müssen ... Mit einem Wort, schon damals hätte sich das verwirklicht, vielleicht auf andere Weise, was jetzt geschieht, und es hätte sich anfangs vielleicht in liberaleren Formen verwirklicht. Anstatt daß Preußen Deutschland ver-

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schluckt hätte, wie es sich jetzt ergeben hat, hätte es damals scheinen können, als ob Deutschland Preußen verschlingt. Aber es hätte nur einen solchen Anschein erweckt, denn in Wirklichkeit wäre doch Deutschland durch die Macht preußischer staatlicher Organisation unterjocht worden. Aber die Polen, von ganz Europa verlassen und verraten, wurden schließlich trotz ihres heldenhaften Widerstandes besiegt. Warschau fiel und mit ihm fielen alle Hoffnungen des deutschen Patriotismus. König Friedrich Wilhelm III., der seinem Schwiegersohn, Kaiser Nikolaus, so große Dienste erwiesen hat, warf, ermutigt von dessen Sieg, die Maske ab und machte stärker als vorher Jagd auf die pangermanischen Patrioten. Damals sammelten sie alle Kräfte und gaben die letzte feierliche, wenn auf nicht überzeugende, so wenigstens äußerst lautstarke Erklärung ab, die unter dem Namen Hambacher Fest im Mai 1832 in die neueste Geschichte Deutschlands einging.+151 In Hambach in der bayerischen Pfalz versammelten sich diesmal etwa dreißigtausend Menschen, Männer und Frauen. Die Männer mit dreifarbigen Schulterbändern, die Damen mit dreifarbigen Tüchern und alles natürlich unter der dreifarbigen deutschen Fahne. Bei diesem Treffen sprach man schon nicht mehr von einer Föderation der deutschen Länder und Völker, sondern von der pangermanischen Zentralisation. Einige Redner, wie z.B. Dr. Wirth,+152 benutzten sogar die Bezeichnung einer deutschen Republik, ja sogar einer europäischen föderativen Republik, der Vereinigten Staaten von Europa. Aber all das waren nur Worte, Worte des Zorns, der Erbitterung und der Verzweiflung, die in den Herzen der Deutschen durch die offenkundige Unlust oder Unfähigkeit der deutschen Herrscher erweckt wurden, ein pangermanisches Reich zu gründen, Worte, die überaus schön klangen, hinter denen aber kein Wille und keine Organisation, also auch keine Kraft war. Das Hambacher Treffen ist jedoch nicht ganz spurlos vorübergegangen. Die Kleinbauern der bayerischen Pfalz gaben sich mit Worten nicht zufrieden. Bewaffnet mit Gabeln und Sensen zogen sie los und zerstörten Schlösser, Zollämter und 270

Behörden; alle Papiere übergaben sie dem Feuer und weigerten sich, Steuern zu zahlen; sie forderten Land für sich, und auf diesem völlige Freiheit. Dieser Bauernaufstand, der seinen Anfängen nach dem allgemeinen Aufstand der deutschen Bauern im Jahre 1525 so ähnlich war,+153 versetzte nicht nur die Konservativen in großen Schrecken, sondern sogar die Liberalen und selbst die deutschen Republikaner, deren bourgeoiser Liberalismus sich in keiner Weise mit einem echten Volksaufstand vereinbaren ließ. Aber zur allgemeinen Freude wurde dieser wiederaufgenommene Versuch eines Bauernaufstandes von den bayerischen Truppen niedergeworfen. Eine weitere Folge des Hambacher Festes war der unsinnige, wenn auch äußerst mutige und von daher achtunggebietende Überfall von siebzig bewaffneten Studenten auf die Hauptwache, die das Gebäude des Deutschen Bundes in Frankfurt bewachte.+154 Unsinnig war das Unternehmen deshalb, weil der Deutsche Bund nicht in Frankfurt, sondern in Berlin oder Wien geschlagen werden mußte und weil siebzig Studenten bei weitem nicht genügten, um die Macht der Reaktion in Deutschland zu brechen. Sie hatten allerdings gehofft, daß sich nach ihnen und mit ihnen die ganze Frankfurter Bevölkerung erheben würde, und ahnten nicht, daß die Regierung einige Tage vor diesem wahnsinnigen Versuch gewarnt worden war. Die Regierung hielt es nicht für notwendig, ihm zuvorzukommen, sondern ließ ihn im Gegenteil geschehen, um danach einen guten Vorwand zu haben, die Revolutionäre und die revolutionären Bestrebungen in Deutschland endgültig zu vernichten. Und in der Tat erhob sich nach dem Frankfurter Attentat die schrecklichste Reaktion in allen Ländern Deutschlands. In Frankfurt wurde eine Zentralkommission eingesetzt, unter deren Leitung die Sonderkommissionen aller großen und kleinen Staaten handelten.+155 In der Zentralkommission saßen natürlich die österreichischen und preußischen Staatsinquisitoren. Das war ein richtiges Fest für die deutschen Beamten und für die Papierfabriken Deutschlands, denn es wurde eine ungeheure Menge Papier vollgeschrieben. In ganz Deutschland wurden

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über 1800 Menschen verhaftet, darunter viele angesehene Leute wie Professoren, Doktoren, Advokaten – mit einem Wort, die ganze Blüte des liberalen Deutschland. Viele flohen, aber viele waren bis 1840, manche sogar bis 1848 in Festungshaft. Wir haben einen beachtlichen Teil dieser verzweifelten Liberalen im März 1848 im Vorparlament und später in der Nationalversammlung gesehen. Alle ohne Ausnahme erwiesen sich als hoffnungslose Reaktionäre. Mit dem Hambacher Fest, dem Aufstand der Pfälzer Bauern, dem Frankfurter Attentat und dem ihm folgenden Mammutprozeß endete jede politische Bewegung in Deutschland, trat eine Grabesstille ein, die ohne geringste Unterbrechung bis 1848 anhielt. Dafür übertrug sich die Bewegung auf die Literatur. Wir haben bereits gesagt, daß im Gegensatz zur ersten Periode (1815-1830), der Periode des leidenschaftlichen Franzosenhasses, diese zweite Periode des deutschen Liberalismus (1830-1840) und auch die dritte (bis 1848) wenigstens hinsichtlich der belletristischen und politischen Literatur rein französisch genannt werden können. An der Spitze dieser neuen Richtung standen zwei Juden: der eine, der geniale Dichter Heine,+156 der andere, der großartige deutsche Pamphletist Börne. Beide übersiedelten sozusagen in den ersten Tagen der Juli-Revolution nach Paris, von wo aus der eine mit Gedichten, der andere mit ›Briefen aus Paris‹ anfing, den Deutschen von den französischen Theorien, den französischen Einrichtungen und vom Pariser Leben Kunde zu geben. Man kann sagen, daß sie einen Umschwung in der deutschen Literatur verursacht haben. Die Bücherläden und Leihbibliotheken waren überfüllt von Übersetzungen und sehr schlechten Nachahmungen französischer Dramen, Melodramen, Komödien, Novellen und Romanen: Die junge bourgeoise Welt begann französisch zu denken, zu fühlen und zu sprechen und sich französisch zu frisieren und zu kleiden. Übrigens wurde sie davon keineswegs liebenswürdiger, sondern nur lächerlicher.

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Aber zu eben dieser Zeit bürgerte sich in Berlin eine ernstere, gewichtigere und vor allem für den deutschen Geist ungleich charakteristischere Richtung ein. Wie so oft in der Geschichte geschah es auch bei Hegel, daß sein Tod,+157 der bald auf die Juli-Revolution folgte, die Vorherrschaft seines metaphysischen Denkens, die Herrschaft des Hegelianismus, in Berlin, in Preußen und später auch in ganz Deutschland gefestigt hat. Preußen hatte zwar, wenigstens für die erste Zeit und aus den oben erläuterten Gründen, auf den Zusammenschluß Deutschlands zu einem einzigen unteilbaren Staat auf dem Wege liberaler Reformen verzichtet, konnte und wollte jedoch nicht ganz auf die moralische und materielle Vorherrschaft über alle anderen deutschen Staaten und Länder verzichten. Im Gegenteil, es trachtete ständig danach, die geistigen und wirtschaftlichen Interessen ganz Deutschlands um sich zu gruppieren. Dazu benutzte es zwei Mittel: den Ausbau der Berliner Universität und den Zollverein. In den letzten Regierungsjahren Friedrich Wilhelms III. war der Geheimrat von Altenstein+158 Minister für Volksaufklärung, ein Staatsmann der alten liberalen Schule des Freiherrn vom Stein, Wilhelm von Humboldts u.a. Soweit es möglich war in dieser reaktionären Zeit, und gegen alle preußischen Minister, seine Kollegen, gegen Metternich, der durch systematisches Auslöschen jeglichen geistigen Lichts die Herrschaft der Reaktion in Österreich und in ganz Deutschland zu festigen hoffte, blieb Altenstein der alten liberalen Tradition treu und bemühte sich, an der Berliner Universität alle führenden Leute, alle Berühmtheiten der deutschen Wissenschaft, zu versammeln, so daß zu einer Zeit, wo die preußische Regierung zusammen mit Metternich und ermutigt von Kaiser Nikolaus den Liberalismus und die Liberalen um jeden Preis unterdrückte, Berlin zum Zentrum, zum Brennpunkt des wissenschaftlich-geistigen Lebens in Deutschland wurde. Hegel, der von der preußischen Regierung schon 1818 auf den Lehrstuhl Fichtes berufen worden war, starb Ende 1831. Aber

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er hinterließ an den Universitäten von Berlin, Königsberg und Halle eine ganze Schule junger Professoren, Herausgeber seiner Werke und eifriger Anhänger und Interpreten seiner Lehre. Dank ihrem unermüdlichen Bestreben verbreitete sich diese Lehre bald nicht nur in ganz Deutschland, sondern in vielen anderen Ländern Europas, sogar in Frankreich, wo sie völlig entstellt von Victor Cousin+159 eingeführt wurde. Sie fesselte eine große Anzahl deutscher und nichtdeutscher Geister an Berlin als die lebendige Quelle eines neuen Lichtes, um nicht zu sagen einer neuen Offenbarung. Wer nicht damals gelebt hat, der wird nie verstehen, wie stark der Zauber dieses philosophischen Systems in den dreißiger und vierziger Jahren war. Man glaubte, daß das ewig gesuchte Absolute endlich gefunden und begriffen war, und daß man es en gros und en détail in Berlin kaufen könne. Die Philosophie Hegels war in der Geschichte der Entwicklung menschlichen Denkens in der Tat ein bedeutendes Ereignis. Sie war das letzte und abschließende Wort jener pantheistischen und abstrakt-humanitären Bewegung des deutschen Geistes, die mit den Werken Lessings begonnen und ihre allseitige Entfaltung in den Werken Goethes erreicht hatte; einer Bewegung, die eine unendlich weite, reiche, hohe und gleichsam völlig rationale Welt geschaffen hat, welche dabei aber der Erde, dem Leben und der Wirklichkeit ebenso fremd war wie dem christlich-theologischen Himmel. Folglich verwandelte diese Welt als Fata Morgana, die den Himmel nicht erreichte und auch die Erde nicht berührte, sondern zwischen Himmel und Erde hing, das Leben ihrer Anhänger, ihrer reflektierenden und poetisierenden Bewohner, in eine ununterbrochene Kette von somnambulen Vorstellungen und Erkenntnissen, machte sie überall für das Leben untauglich oder, was noch schlimmer ist, verdammte sie dazu, in der wirklichen Welt völlig dem zuwiderzuhandeln, was sie im poetischen oder metaphysischen Ideal vergötterten. So erklärt sich der erstaunliche Umstand, der uns in Deutschland immer wieder verblüfft hat, daß sich nämlich die glühen-

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den Verehrer Lessings, Schillers, Goethes, Kants, Fichtes und Hegels noch heute so häufig zu ergebenen und sogar freiwilligen Vollstreckern von Maßnahmen machen lassen, die alles andere als human und liberal sind, die ihnen aber von der Regierung vorgeschrieben werden. Man kann sogar verallgemeinernd sagen, daß das Leben des Deutschen und sein Handeln in der lebendigen Wirklichkeit um so abstoßender und gemeiner ist, je erhabener seine ideale Welt ist. Letzte Vollendung dieser erhaben-idealen Welt war die Philosophie Hegels. Mit ihren metaphysischen Konstruktionen und Kategorien brachte sie sie voll zum Ausdruck und erklärte sie, zerstörte sie aber auch eben dadurch, indem sie (die Philosophie Hegels) mit eiserner Logik zur endgültigen Erkenntnis dieser idealen Welt und ihres eigenen unendlichen Ungenügens, ihrer Wirkungslosigkeit und schlicht gesagt, ihrer Leere gelangte. Die Schule Hegels teilte sich bekanntlich in zwei einander entgegengesetzte Richtungen, wobei sich natürlich noch eine dritte, mittlere Partei dazwischen herausbildete, von der es hier übrigens nichts zu sagen gibt. Die eine, nämlich die konservative Richtung, fand in der neuen Philosophie Rechtfertigung und Legitimation alles Seienden, wobei sie sich an den bekannten Ausspruch Hegels hielt: »Alles Wirkliche ist vernünftig«.+160 Sie schuf die sogenannte offizielle Philosophie der preußischen Monarchie, die schon von Hegel selbst als Ideal einer politischen Ordnung hingestellt worden war. Aber die andere Partei der sogenannten revolutionären Hegelianer erwies sich als konsequenter und ungleich kühner als Hegel selbst; sie riß seiner Lehre die konservative Maske ab und stellte sie damit in ihrer erbarmungslosen Negation bloß, die ihr wahres Wesen ausmacht. An die Spitze dieser Richtung stellte sich der berühmte Feuerbach,+161 der die logische Konsequenz nicht nur bis zur völligen Negation jeder göttlichen Welt, sondern sogar der Metaphysik selbst trieb. Weiter konnte er nicht gehen. Obwohl selbst Metaphysiker, mußte er seinen rechtmäßigen Erben, den Vertretern der materialistischen oder

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realistischen Schule Platz machen, von denen sich übrigens ein großer Teil, wie z.B. Büchner,+162 Marx und andere, auch noch nicht vom Vorherrschen metaphysisch-abstrakten Denkens freimachen kann. In den dreißiger und vierziger Jahren herrschte die Meinung, daß eine Revolution, die der Verbreitung des Hegelianismus folgt, der doch im Sinne völliger Negation entwickelt ist, ungleich radikaler, tiefer, unerbittlicher und weitreichender in ihren Zerstörungen sein wird als die Revolution von 1793. So dachte man deshalb, weil das von Hegel erarbeitete und von seinen Schülern ins Extrem weiterentwickelte philosophische Denken wirklich abgerundeter, vielseitiger und tiefer war als das Denken Voltaires und Rousseaus, die bekanntlich einen sehr direkten und längst nicht immer nützlichen Einfluß auf die Entwicklung und vor allem den Ausgang der ersten französischen Revolution hatten. So besteht z.B. kein Zweifel, daß Staatsmänner vom Schlage eines Mirabeau Bewunderer Voltaires waren, der instinktiv die Volksmassen, die dumme Menge, verachtete, und daß der fanatische Anhänger Jean-Jacques Rousseaus, Maximilien Robespierre, der Erneuerer der göttlichen und reaktionärbürgerlichen Ordnung in Frankreich war.+163 In den dreißiger und vierziger Jahren nahm man an, daß, wenn wieder die Zeit für revolutionäres Handeln anbricht, die Doktoren der Philosophie aus der Schule Hegels die mutigsten Persönlichkeiten der neunziger Jahre weit hinter sich zurücklassen und die Welt durch ihren streng logischen, unerbittlichen Revolutionsgeist in Erstaunen versetzen werden. Zu diesem Thema schrieb der Dichter Heine viele schöne Worte. So sagte er zu den Franzosen: »All Eure Revolutionen sind nichts vor unserer künftigen deutschen Revolution. Wir, die wir den Mut hatten, systematisch, wissenschaftlich die ganze göttliche Welt zu vernichten, wir werden auch nicht vor irgendwelchen Götzenbildern auf der Erde zurückschrecken, noch ruhen, ehe wir nicht auf den Trümmern von Privilegien und Macht vollkommene Gleichheit und Freiheit für die ganze Welt erobert

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haben.«+164 Mit fast den gleichen Worten verhieß Heine den Franzosen die zukünftigen Wunder einer deutschen Revolution. Und viele glaubten ihm. Aber o weh! 1848 und 1849 konnte man genügend Erfahrungen sammeln, die diesen Glauben zunichte machten. Es war nicht nur so, daß die deutschen Revolutionäre keineswegs die Helden der ersten französischen Revolution übertrafen, sie konnten sich noch nicht einmal mit den französischen Revolutionären der dreißiger Jahre messen. Was ist wohl die Ursache für dieses bedauernswerte Ungenügen? Es erklärt sich natürlich vor allem aus dem besonderen geschichtlichen Charakter der Deutschen, der sie sehr viel eher zum treu ergebenen Gehorsam bestimmt als zur Rebellion, erklärt sich aber auch aus der abstrakten Methode, mit der man die Revolution anging. Entsprechend also dieser Natur, ging man nicht vom Leben zum Denken, sondern vom Denken zum Leben. Wer aber vom abstrakten Denken ausgeht, der wird niemals das Leben einholen, denn von der Metaphysik zum Leben führt kein Weg. Sie sind durch einen Abgrund getrennt. Um diesen Abgrund zu überwinden, muß man einen Salto mortale vollführen, oder das, was Hegel selbst einen qualitativen Sprung aus der Welt der Logik in die Welt der Natur, der lebendigen Wirklichkeit nennt, und das ist bisher noch niemandem gelungen und wird wohl auch niemals gelingen. Wer mit Abstraktionen operiert, der wird in ihnen zugrunde gehen. Der lebendige, konkrete und vernünftige Weg, das ist in der Wissenschaft der Weg vom realen Faktum zum Gedanken, der dieses Faktum umfaßt, ausdrückt und damit auch erklärt; in der Welt der Praxis geht dieser Weg vom Leben der Gesellschaft aus, mit dem Ziel, eben dieses Leben möglichst vernünftig zu regeln, seinen Anweisungen, Bedingungen und Bedürfnissen und seinen mehr oder weniger leidenschaftlichen Forderungen entsprechend. Das ist der breite Weg des Volkes, der Weg zur wirklichen und vollkommenen Befreiung, jedem erreichbar und deshalb wahrhaft volkstümlich, der Weg einer anarchistischen sozialen Revolution, die ohne Anstoß von außen aus dem Volk selbst

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entsteht und alles zerstört, was das gewaltige Überströmen des Volkslebens hindern könnte, um dann aus der Tiefe des Seins eines Volkes neue Formen einer freien Gesellschaft zu schaffen. Der Weg der Herren Metaphysiker ist ein ganz anderer. Mit Metaphysikern bezeichnen wir nicht nur die Anhänger der Lehre Hegels, von denen nur noch wenige auf der Welt sind, sondern auch die Positivisten und überhaupt alle Priester der Göttin Wissenschaft heutzutage; überhaupt jeden, der sich auf dem einen oder anderen Wege und sei es mit sorgfältigster, übrigens notwendigerweise nie vollständiger Erforschung der Vergangenheit und der Gegenwart das Ideal einer sozialen Ordnung gemacht hat, in das er, ein neuer Prokrustes,+41 um jeden Preis das Leben der künftigen Generationen zwängen will; mit einem Wort: jeden, der das Denken und die Wissenschaft nicht als eines der unerläßlichen Phänomene des natürlichen und gesellschaftlichen Lebens sieht, sondern dieses arme Leben so stark einengt, daß er in ihm nur die praktische Erscheinung seines Denkens und seiner natürlich immer unvollkommenen Wissenschaft sieht. Die Metaphysiker oder Positivisten, alle diese Ritter der Wissenschaft und des Denkens, in deren Namen sie sich für berufen halten, dem Leben Regeln vorzuschreiben, sie alle sind bewußt oder unbewußt Reaktionäre. Das zu beweisen ist äußerst einfach. Ganz abgesehen von der Metaphysik überhaupt, mit der sich selbst zu Zeiten ihrer höchsten Blüte nur wenige beschäftigt haben, ist Wissenschaft im weitesten Sinn dieses Wortes, wenn sie ernsthaft ist und nur irgend diesen Namen verdient, auch heutzutage nur einer ganz unbedeutenden Minderheit zugänglich. Wieviel ernsthafte Gelehrte kommen z.B. bei uns in Rußland auf achtzig Millionen Einwohner? Leute, die von Wissenschaft reden, kann man natürlich zu Tausenden finden, aber von solchen, die mit ihr wirklich vertraut sind, findet man wohl kaum einige hundert. Wenn aber die Wissenschaft die Gesetze des Lebens vorschreiben soll, so muß eine gewaltige Mehrheit, Millionen Menschen, von hundert oder zweihun-

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dert Gelehrten regiert werden, d.h. in Wahrheit sogar von einer wesentlich kleineren Anzahl, denn nicht jede Wissenschaft ermöglicht es dem Menschen, die Gesellschaft zu regieren, sondern nur die Wissenschaft der Wissenschaften, die Krone aller Wissenschaften – die Soziologie, die bei einem erfolgreichen Gelehrten zunächst die genaue Kenntnis aller anderen Wissenschaften voraussetzt. Gibt es denn überhaupt viele solcher Gelehrten in Rußland oder in Europa? Vielleicht zwanzig oder dreißig! Und diese zwanzig oder dreißig Gelehrten sollen die ganze Welt regieren! Kann man sich denn einen abgeschmackteren und abstoßenderen Despotismus vorstellen? Zunächst einmal ist es das Wahrscheinlichste, daß sich diese dreißig Gelehrten gegenseitig zerfleischen, oder wenn sie sich einigen, so nur zum Schaden der ganzen Menschheit. Ein Gelehrter ist schon von seiner Existenz her zu jeglichem geistigen und moralischen Laster geneigt, deren hervorstechendstes die Überbewertung seines eigenen Wissens, seines Verstandes und die Verachtung aller Unwissenden ist. Laßt ihn regieren, und er wird zum unerträglichsten Tyrannen, denn Gelehrten-Stolz ist abstoßend und beleidigend und zudem beklemmender als jeder andere. Sklaven von Pedanten zu sein – was für ein Schicksal für die Menschheit! Laßt ihnen volle Freiheit, und sie werden an der Menschheit dieselben Versuche unternehmen, die sie um der Wissenschaft willen jetzt an Kaninchen, Katzen und Hunden machen. Wir werden die Gelehrten um ihrer Verdienste willen ehren, aber zur Rettung ihres Verstandes und ihrer Moral sollte man ihnen keinerlei gesellschaftliche Privilegien geben und ihnen keine anderen Rechte zugestehen als das allgemeine Recht auf die Freiheit, ihre Überzeugung, Gedanken und Kenntnisse zu verkünden. Macht darf weder ihnen noch auch sonst jemandem gegeben werden, denn wer Macht besitzt, der wird kraft des nach Meinung der Sozialisten unwandelbaren Gesetzes unweigerlich zum Unterdrücker und Ausbeuter der Gesellschaft. Aber man sagt, daß nicht immer die Wissenschaft Besitz nur einiger weniger sein wird; es kommt die Zeit, daß sie allen

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und jedem zugänglich wird. Nun, diese Zeit ist noch fern, und ehe sie anbricht, bedarf es noch vieler Umwälzungen in der Gesellschaft. Und bis dahin, wer wäre da einverstanden, sein Schicksal den Gelehrten, den Priestern der Wissenschaft in die Hand zu geben? Weshalb es dann den christlichen Priestern entreißen? Es scheint uns, daß diejenigen in einem großen Irrtum befangen sind, die glauben, daß nach einer sozialen Revolution alle gleichermaßen gelehrt sein werden. Wissenschaft als Wissenschaft wird auch dann, wie eh und je, einer der unzähligen Sonderbereiche der Gesellschaft bleiben, mit dem Unterschied, daß dieser Sonderbereich, der jetzt nur Vertretern der privilegierten Klassen zugänglich ist, in Zukunft ohne Unterschied der Klassen, die ein für allemal überflüssig werden, allen denjenigen zugänglich sein wird, die sich dazu berufen fühlen oder Lust haben, sich damit zu beschäftigen, ohne Nachteil für die allgemeine, für jeden obligatorische physische Arbeit. Gemeinbesitz wird nur eine allgemeine wissenschaftliche Bildung und vor allem die Bekanntschaft mit den wissenschaftlichen Methoden, der Gewohnheit zu denken, d.h. Fakten zu verallgemeinern und aus ihnen mehr oder weniger richtige Schlüsse zu ziehen. Aber Universalgelehrte und also auch gelehrte Soziologen wird es immer nur sehr wenige geben. Es wäre ein Jammer für die Menschheit, wenn einst das Denken zum Quell und einzigen Maßstab des Lebens würde, wenn Wissenschaft und Lehre die Gesellschaft lenkten. Das Leben müßte versiegen, und die menschliche Gesellschaft verwandelte sich in eine stumme Herde von Sklaven. Die Verwaltung des Lebens durch die Wissenschaft könnte kein anderes Ergebnis haben als die Verdummung der gesamten Menschheit. Wir revolutionären Anarchisten und Kämpfer für Bildung, Emanzipation und volle Entfaltung des gesellschaftlichen Lebens des ganzen Volkes, die wir eben deshalb Feinde des Staates und jeglicher Verstaatlichung sind, behaupten im Gegensatz zu allen Metaphysikern, Positivisten und allen gelehrten und ungelehrten Anhängern der Göttin Wissenschaft, daß das natürliche und

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gesellschaftliche Leben immer dem Denken vorausgeht, welches nur eine seiner Funktionen, nie aber sein Resultat sein wird; daß sich dieses Leben aus seiner eigenen unerschöpflichen Tiefe heraus in einer Reihe von verschiedenartigen Fakten, aber niemals abstrakten Reflexionen entfaltet und daß die letzteren, die immer vom Leben hervorgebracht werden und niemals selbst Leben hervorbringen, nur als Marksteine auf seine Richtung und auf die verschiedenen Phasen einer selbständigen und natürlichen Entwicklung hinweisen. Entsprechend dieser unserer Überzeugung haben wir weder die Absicht noch die geringste Lust, unserem oder einem fremden Volk ein beliebiges Ideal einer Gesellschaftsstruktur anzuhängen, das wir uns angelesen oder selbst ausgedacht haben, sondern wir suchen dieses Ideal im Volk selbst, in der Überzeugung, daß die Volksmassen in ihren mehr oder weniger historisch entwickelten Instinkten, in ihren täglichen Bedürfnissen und in ihren bewußten und unbewußten Bestrebungen alle Elemente ihrer zukünftigen normalen Organisation tragen; und da jegliche staatliche Macht, jede Regierung ihrem Wesen und ihrer Stellung nach außerhalb des Volkes, über ihm steht und unbedingt danach streben muß, es einer Ordnung und Zielen zu unterwerfen, die ihm fremd sind, so erklären wir uns zu Feinden jeglicher Macht einer Regierung oder eines Staates, zu Feinden staatlicher Ordnung überhaupt, und glauben, daß das Volk nur dann glücklich und frei sein kann, wenn es sich selbst sein Leben schafft in einer Organisation von unten nach oben, mit selbständigen und völlig freien Vereinigungen ohne jede offizielle Überwachung, nicht aber ohne vielfältige und gleich unabhängige Einflüsse von Personen und Parteien. Das sind die Überzeugungen der sozialen Revolutionäre, und deshalb nennt man uns Anarchisten. Wir protestieren nicht gegen diese Bezeichnung, denn wir sind in der Tat Feinde jeglicher Macht, weil wir wissen, daß Macht ebenso zersetzend auf den wirkt, der sie hat, wie auf den, der ihr gehorchen muß. Unter ihrem verderblichen Einfluß werden die einen zu ehrgeizigen und habgierigen Despoten, Ausbeutern der Gesell-

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schaft zum eigenen Vorteil oder dem ihres Standes, und die anderen zu Sklaven. Idealisten aller Art, Metaphysiker, Positivisten, Verfechter einer Vorherrschaft der Wissenschaft über das Leben, doktrinäre Revolutionäre, sie alle zusammen verteidigen mit dem gleichen Feuer, wenn auch mit verschiedenen Argumenten, die Idee des Staates und der staatlichen Macht, weil sie darin, vollkommen logisch, das ihrer Ansicht nach einzige Heil der Gesellschaft sehen. Vollkommen logisch deshalb, weil sie dann, wenn sie einmal von der unserer Ansicht nach völlig falschen These ausgehen, daß das Denken dem Leben und die abstrakte Theorie der gesellschaftlichen Praxis vorausgeht und daß deshalb die Wissenschaft der Soziologie Ausgangspunkt für gesellschaftliche Umwälzungen und Umstrukturierungen sein muß, – notwendigerweise zu dem Schluß kommen, daß deshalb, weil Denken, Theorie und Wissenschaft wenigstens heute der Besitz nur einger weniger sind, eben diese wenigen die Anführer des gesellschaftlichen Lebens sein müssen und nicht nur die Initiatoren, sondern auch die Leiter aller Volksbewegungen und daß am Tag nach der Revolution die neue gesellschaftliche Organisation nicht durch die freie Vereinigung von Volksassoziationen, Kommunen, Bezirken und Gebieten von unten nach oben entsprechend den Bedürfnissen und Instinkten des Volkes geschaffen wird, sondern allein durch die diktatorische Gewalt dieser gelehrten Minderheit, die angeblich dem Willen des ganzen Volkes Ausdruck verleiht. Auf dieser Fiktion einer Pseudovolksvertretung und auf dem wirklichen Faktum, daß die Volksmassen von einer kleinen Handvoll Privilegierter regiert werden, Gewählter oder sogar nicht Gewählter durch die Menge des Volkes, das man zu den Wahlen zusammengetrieben hat und das nie weiß, wozu und wen es wählt; auf diesem vermeintlichen und abstrakten Ausdruck dessen, was angeblich das ganze Volk denkt und will, wovon aber das lebendige, reale Volk auch nicht die geringste Vorstellung hat, darauf basiert in gleicher Weise die Theorie der Staatlichkeit und die Theorie der sogenannten revolutionären Diktatur.

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Der ganze Unterschied zwischen revolutionärer Diktatur und Staatlichkeit besteht nur in den äußeren Umständen. Faktisch bedeuten sie beide das Gleiche: die Verwaltung einer Mehrheit durch eine Minderheit im Namen der angeblichen Dummheit ersterer und der angeblichen Weisheit letzterer. Deshalb sind sie auch gleich reaktionär und haben, die eine wie die andere, als unmittelbares und notwendiges Ergebnis die Sicherung politischer und ökonomischer Privilegien für die herrschende Minderheit und die politische und wirtschaftliche Versklavung der Volksmassen. Damit wird deutlich, warum die doktrinären Revolutionäre, die den Umsturz der bestehenden Machtverhältnisse anstreben, um auf ihren Trümmern ihre eigene Diktatur zu errichten, niemals Feinde, sondern im Gegenteil immer die glühendsten Verfechter des Staates gewesen sind. Sie sind Feinde lediglich der bestehenden Macht, weil sie ihren Platz einnehmen wollen; Feinde der bestehenden politischen Institutionen, weil diese die Möglichkeit ihrer Diktatur ausschließen; sie sind gleichzeitig aber die glühendsten Verfechter staatlicher Macht, ohne deren Rückhalt eine Revolution, welche die Volksmassen wirklich befreite, dieser pseudorevolutionären Minderheit jede Hoffnung darauf nähme, daß sie den Volksmassen neue Zügel anlegen und sie mit ihren Regierungsmaßnahmen beglücken könnte. Und das ist so richtig, weil wir heutzutage, wo in ganz Europa die Reaktion triumphiert, wo alle Staaten vom bösen Geist der Selbsterhaltung und der Volksunterdrückung erfüllt sind, sich von Kopf bis Fuß mit einer dreifachen Rüstung – einer militärischen, polizeilichen und finanziellen – versehen und sich unter der obersten Führung des Fürsten Bismarck zum verzweifelten Kampf gegen die soziale Revolution vorbereiten; weil wir jetzt, wo sich doch eigentlich alle aufrichtigen Revolutionäre zusammentun sollten, um dem verzweifelten Angriff der internationalen Reaktion Widerstand zu leisten, vielmehr sehen, daß sich die doktrinären Revolutionäre unter der Führung von Marx überall auf die Seite der Staatlichkeit und zu

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den Verfechtern der Staatlichkeit gegen eine Volksrevolution stellen. In Frankreich sind sie seit 1870 für den reaktionären Staatsrepublikaner Gambetta eingetreten und gegen die revolutionäre Ligue du Midi,+165 welche doch allein nur Frankreich vor einer Versklavung durch die Deutschen und vor der noch weit gefährlicheren und heute triumphierenden Koalition der Klerikalen, Legitimisten, Orleanisten und Bonapartisten retten konnte. In Italien kokettieren sie mit Garibaldi und den Überresten der Partei Mazzinis; in Spanien haben sie offen Partei für Castelar, Pi y Margall und die Madrider Konstituante genommen;+166 schließlich in Deutschland und um Deutschland herum, in Österreich, der Schweiz, Holland und Dänemark dienen sie dem Fürsten Bismarck, in dem sie nach ihrem eigenen Geständnis eine sehr nützliche revolutionäre Kraft sehen+167 und helfen ihm bei der Sache der Pangermanisierung aller dieser Länder. Jetzt wird klar, weshalb die Herren Doktoren der Philosophie aus der Schule Hegels, ungeachtet ihres flammenden Revoluzzertums in der Welt der abstrakten Ideen, sich in Wirklichkeit 1848 und 1849 nicht als Revolutionäre, sondern größtenteils als Reaktionäre gezeigt haben und weshalb heutzutage die Mehrheit unter ihnen zu ausgesprochenen Anhängern des Fürsten Bismarck geworden ist. Aber in den zwanziger und vierziger Jahren hat ihr Pseudorevoluzzertum, das durch nichts und niemanden erprobt worden war, viel Glauben gefunden. Sie selbst glaubten daran, auch wenn sie es meist nur in Werken höchst abstrakten Charakters äußerten, so daß die preußische Regierung dem keinerlei Aufmerksamkeit widmete. Vielleicht hat diese Regierung aber bereits damals verstanden, daß man hier für sie arbeitet. Andererseits strebte diese Regierung aber unbeirrbar ihr Hauptziel an – nämlich zunächst die Grundlage für eine preußische Hegemonie in Deutschland zu schaffen und dann ganz Deutschland offen seiner unteilbaren Obergewalt zu unterwerfen auf einem Wege, der ihr selbst ungleich vorteilhafter und

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angenehmer erschien als der Weg liberaler Reformen oder gar der Förderung der deutschen Wissenschaft – nämlich auf dem Wege der Wirtschaft; dabei mußte sie auf wärmste Sympathien der ganzen reichen Handels- und Industriebourgeoisie, der ganzen Welt der jüdischen Finanziers in Deutschland stoßen, denn das Gedeihen aller dieser Gruppen verlangte unbedingt eine staatliche Zentralisation in weitestem Maße; dafür haben wir heutzutage ein neues Beispiel an der deutschen Schweiz, wo die Großen in Handel und Gewerbe und die Bankiers bereits offen ihre Sympathien für ein möglichst enges politisches Bündnis mit dem großen deutschen Markt aussprechen, nämlich mit dem pangermanischen Imperium, welches sich auf alle benachbarten kleinen Länder mit der alles erdrückenden oder verschlingenden Kraft einer Boa-Constriktor legt. Der erste Gedanke an die Gründung eines Zollvereins gebührt übrigens nicht Preußen, sondern Bayern und Württemberg, die sich bereits 1828 zu einem solchen Verein zusammengeschlossen haben. Bald aber hatte Preußen nicht nur den Gedanken, sondern führte ihn auch aus. Früher hatte es in Deutschland ebensoviele Zoll- und Abgabeverordnungen aller Art gegeben wie Staaten. Diese Situation war wirklich unerträglich und ließ den ganzen deutschen Handel und die Industrie stagnieren. So erwies sich also Preußen, das den Zollverein Deutschlands in seine mächtige Hand nahm, als wahrer Wohltäter für Deutschland. Schon 1836 gehörten unter der obersten Führung durch das Königreich Preußen beide Hessen, Bayern, Württemberg, Sachsen, Thüringen, Baden, Nassau und die freie Stadt Frankfurt zum Verein – insgesamt also mehr als 27 Millionen Menschen.+168 Blieben noch Hannover, die Herzogtümer Mecklenburg und Oldenburg, die freien Städte Hamburg, Lübeck und Bremen und schließlich das ganze österreichische Kaiserreich. Aber gerade der Ausschluß Österreichs aus dem deutschen Zollverein bildete ein existentielles Interesse für Preußen; denn dieser Ausschluß war zunächst nur wirtschaftlich, sollte aber in der Folge auch den politischen Ausschluß nach sich ziehen.

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1840 begann die dritte Periode des deutschen Liberalismus. Sie zu charakterisieren ist sehr schwer. Denn so reich sie ist an vielseitiger Entwicklung der verschiedenartigsten Strömungen, Schulen, Interessen und Gedanken, so arm ist sie an Fakten. Sie wird ganz ausgefüllt von der unausgeglichenen Persönlichkeit König Friedrich Wilhelms IV.,+169 der gerade 1840 den Thron seines Vaters bestiegen hatte, und seinen chaotischen Schriften. Mit ihm hat sich das Verhältnis Preußens zu Rußland vollkommen verändert. Im Gegensatz zu seinem Vater und seinem Bruder, dem jetzigen Kaiser Deutschlands, haßte der neue König Kaiser Nikolaus. In der Folge mußte er dafür teuer bezahlen und hat es bitter und laut bereut – doch zu Beginn seiner Regierung fürchtete er weder Tod noch Teufel. Halb Gelehrter, halb Dichter, mit einer körperlichen Schwäche behaftet und außerdem Trinker, Freund und Beschützer der wandernden Romantiker und pangermanisierenden Patrioten, war er während der letzten Lebensjahre seines Vaters die Hoffnung der deutschen Patrioten. Alle hofften, daß er eine Verfassung geben würde. Seine erste Handlung war eine völlige Amnestie. Nikolaus runzelte die Stirn, dafür applaudierte aber Deutschland und die liberalen Hoffnungen verstärkten sich. Eine Verfassung jedoch hat er nicht gegeben, schwatzte vielmehr den verschiedensten politischen und romantischen und urteutonischen Unsinn daher, daß nicht einmal mehr die Deutschen etwas verstehen konnten. Und dabei war die Sache einfach die, daß Friedrich Wilhelm IV. eitel, ruhmsüchtig, wenig ausdauernd, unruhig und dabei noch unfähig zur Tat und zum Durchhalten war, daß er einfach ein Epikuräer, ein Zecher, ein Romantiker oder Starrkopf auf dem Thron war. Zu allem Realen unfähig, hegte er jedoch an nichts irgendwelche Zweifel. Ihm schien, daß die Königsmacht, an deren mystisches Gottesgnadentum er aufrichtig glaubte, ihm das Recht und die Kraft gab, entschieden alles zu tun, was ihm gerade einfiel, gegen jede Logik und alle

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Gesetze der Natur und der Gesellschaft das Unmöglichste zu vollbringen und das völlig Unvereinbare zu verbinden. So wollte er, daß in Preußen vollkommene Freiheit herrschte, daß aber gleichzeitig die Macht des Königs unangetastet bliebe und seine Willkür durch nichts eingeschränkt. In diesem Sinne begann er zunächst, reine Provinzialverfassungen zu erlassen, und erst 1847 erließ er etwas von der Art einer allgemeinen Verfassung.+170 An all dem war aber nichts Seriöses, sondern nur das eine: daß er mit seinen ununterbrochenen, einander ergänzenden und einander widersprechenden Versuchen die ganze alte Ordnung umkehrte und allen Ernstes seine Untergebenen bis zum letzten Mann in Unruhe versetzte. Alle begannen, etwas zu erwarten. Dieses Etwas war die Revolution von 1848. Alle fühlten ihr Nahen, nicht nur in Frankreich, in Italien, sondern sogar in Deutschland; ja, gerade in Deutschland, dem es im Verlauf dieser dritten Periode von 1840 bis 1848 gelungen war, sich den aufrührerischen Geist der Franzosen anzueignen. In dieser französischen Geistesverfassung störte sie das Hegelianertum nicht im geringsten, welches sich im Gegenteil sehr gerne in französischer Sprache ausdrückte und – natürlich mit der entsprechenden Schwerfälligkeit und mit deutschem Akzent – seine abstrakt-revolutionären Thesen verbreitete. Niemals las man in Deutschland so viele französische Bücher wie zu jener Zeit. Ja, man vergaß sogar scheinbar die eigene Literatur. Dafür drang die französische, vor allem revolutionäre Literatur überallhin. Die Geschichte der Girondisten von Lamartine, die Werke von Louis Blanc und Michelet wurden ins Deutsche übersetzt,+171 zusammen mit den neuesten Romanen. Und die Deutschen begannen, sich im Traum als Heroen der großen Revolution zu sehen und die Rollen für die Zukunft untereinander aufzuteilen: wer sich als Danton oder als »der liebenswürdige Camille Desmoulins«+172 vorkam, wer als Robespierre oder als Saint-Just und wer schließlich als Marat. Fast niemand war mehr er selbst, denn dafür müßte man mit einer wahren Natur begabt sein. Die Deutschen haben alles – tiefsinnige Gedanken, er-

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habene Gefühle, nur keine Natur – oder wenn sie sie haben, dann eine Sklavennatur. Viele deutsche Literaten haben sich, dem Beispiel Heines und des damals schon verstorbenen Börne folgend, in Paris angesiedelt. An bedeutenden waren darunter Doktor Arnold Ruge,+173 der Dichter Herwegh+174 und Karl Marx. Zunächst wollten sie gemeinsam eine Zeitschrift herausgeben, zerstritten sich dann aber.+175 Die beiden letzteren waren bereits Sozialisten. Deutschland wurde erst in den vierziger Jahren mit den sozialistischen Lehren bekannt. Der Wiener Professor Stein schrieb wohl als erster ein deutsches Buch darüber.+176 Doch praktisch der erste deutsche Sozialist, oder richtiger Kommunist, war zweifellos der Schneider Weitling,+177 der 1843 aus Paris, wo er Mitglied einer geheimen Gesellschaft französischer Kommunisten war,+178 in die Schweiz kam. Er gründete viele kommunistische Vereine unter den deutschen Handwerkern in der Schweiz, wurde aber Ende 1843 von Bluntschli, dem damaligen Präsidenten des großen Rats vom Kanton Zürich und jetzigen bekannten Jurisconsultus und Rechtsprofessor in Deutschland, an Preußen ausgeliefert.+179 Hauptpropagandist des Sozialismus in Deutschland war aber, zunächst geheim, doch bald darauf öffentlich, Karl Marx. Marx hat eine viel zu wichtige Rolle in der sozialistischen Bewegung des deutschen Proletariats gespielt, als daß man an diesem bedeutenden Mann vorbeigehen könnte, ohne versucht zu haben, ihn in einigen charakteristischen Zügen zu skizzieren. Marx ist nach seiner Herkunft Jude.+180 Man kann sagen, daß er alle Vorzüge und alle Nachteile dieser begabten Rasse in sich vereint. Empfindlich und nervös bis zur Feigheit, wie einige behaupten, ist er außerordentlich ehrgeizig und eitel, streitsüchtig, unduldsam und absolut, wie Jehova, der Herrgott seiner Vorväter, und wie dieser rachsüchtig bis zum Wahnsinn. Es gibt keine Lüge, keine Verleumdung, die auszudenken und zu verbreiten er nicht fahig wäre, gegen den, der das Unglück hatte, seine Eifersucht zu wecken, oder ganz gleich, seinen Haß.

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Und er schreckt vor keiner noch so abscheulichen Intrige zurück, wenn diese Intrige ihm nur seiner – übrigens meistenteils falschen – Meinung nach zur Stärkung seiner Position, seines Einflusses und zur Ausweitung seiner Macht dienen kann. In dieser Beziehung ist er ein durchaus politischer Mensch. Das sind seine negativen Eigenschaften. Doch auch an positiven hat er sehr viele. Er ist sehr klug und umfassend gelehrt. Als Doktor der Philosophie war er schon um 1840 in Köln, man könnte sagen, Seele und Mittelpunkt der bedeutendsten Kreise führender Hegelianer, mit denen er eine oppositionelle Zeitschrift herauszugeben begann, die bald auf ministeriellen Erlaß ihr Erscheinen einstellen mußte.+181 Zu diesem Kreis gehörten auch die Brüder Bruno und Edgar Bauer,+182 Max Stirner+183 und dann in Berlin der erste Kreis deutscher Nihilisten,+184 die an zynischer Konsequenz selbst die eifrigsten Nihilisten Rußlands bei weitem übertrafen. 1843 oder 1844 siedelte Marx nach Paris über.+185 Hier traf er erstmals mit der Gesellschaft französischer und deutscher Kommunisten+186 und mit seinem jüdischen Landsmann Moses+187 Hess zusammen, der schon vor ihm gelehrter Ökonom und Sozialist war und damals beträchtlichen Einfluß auf die wissenschaftliche Entwicklung von Marx hatte.+188 Man wird wohl kaum einen Menschen finden, der so viel weiß und gelesen hat, und dabei mit so viel Verstand gelesen hat, wie Marx. Bereits damals war die ökonomische Wissenschaft ausschließlich Gegenstand seiner Beschäftigungen. Besonders gründlich las er die englischen Ökonomen, die alle anderen an objektiven Kenntnissen und praktischem, an den englischen wirtschaftlichen Verhältnissen geschultem Verstand übertrafen, sowie an strenger Kritik und gewissenhafter Kühnheit, mit der sie ihre Schlußfolgerungen zogen. Doch all dem fügte Marx noch zwei weitere Elemente hinzu: einmal eine Dialektik von äußerster Abstraktheit und Spitzfindigkeit, die er sich in der Schule Hegels angeeignet hatte und welche er nicht selten bis zur Haarspalterei betrieb, und zum anderen die kommunistische Ausgangsposition.

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Marx hat natürlich auch alle französischen Sozialisten von Saint-Simon bis einschließlich Proudhon gelesen, den er bekanntlich haßt, und zweifellos ist viel Wahres an der schonungslosen Kritik, die er an Proudhon geübt hat:+189 Proudhon nämlich ist trotz all seiner Bemühungen, sich auf den Boden der Realität zu stellen, ein Idealist und Metaphysiker geblieben,+190 Sein Ausgangspunkt ist die abstrakte Idee des Rechts; vom Recht kommt er zum ökonomischen Faktum, aber Marx hat im Gegensatz zu ihm jene unbezweifelbare Wahrheit ausgesprochen und bewiesen, jene Wahrheit, die durch die ganze vergangene und gegenwärtige Geschichte der menschlichen Gesellschaft, der Völker und Staaten gestützt wird, daß nämlich das ökonomische Faktum immer dem juristischen und politischen Recht vorausgegangen ist. Gerade in der Darstellung und dem Nachweis dieser Wahrheit besteht eines der wesentlichsten wissenschaftlichen Verdienste von Marx. Was aber am merkwürdigsten ist und was Marx natürlich niemals eingestanden hat, das ist die Tatsache, daß er in politischer Hinsicht Schüler von Louis Blanc ist.+191 Marx ist ungleich klüger und gelehrter als dieser kleine erfolglose Revolutionär und Staatsmann; doch hat es ihn als Deutschen, trotz seines beachtlichen Wuchses, zu dem winzigen Franzosen in die Lehre verschlagen. Übrigens läßt sich diese merkwürdige Tatsache ganz einfach erklären: Der französische Redekünstler, bürgerliche Politiker und eifrige Anhänger Robespierres und der gelehrte Deutsche in seiner dreifachen Eigenschaft als Hegelianer, Jude und Deutscher – sie beide sind hoffnungslose Anhänger des Staates und verkünden beide einen staatlichen Kommunismus, nur mit dem einzigen Unterschied, daß sich der eine anstelle von Argumenten mit rhetorischen Deklamationen begnügt, während der andere, wie es einem gelehrten und schwerfälligen Deutschen gebührt, dieses ihm gleich liebe Prinzip mit allen Listen hegelianischer Dialektik und allem Reichtum seines vielfältigen Wissens ausstattet. Um 1845 stand Marx an der Spitze der deutschen Kommunisten, um darauf zusammen mit Engels, seinem treuen Freund,

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der ebenso gescheit, nur weniger gelehrt, dafür aber praktischer und nicht weniger zu politischer Verleumdung, Lüge und Intrige fähig ist, die geheime Gesellschaft deutscher Kommunisten oder Staatssozialisten zu gründen.+192 Ihr Zentralkomitee, dessen Führer natürlich er und Engels waren, wurde 1846, als beide aus Paris vertrieben wurden,+193 nach Brüssel verlegt, wo es bis 1848 blieb.+194 Übrigens ist ihre Propaganda, obwohl sie sich allmählich über ganz Deutschland verbreitet hat, bis zu eben diesem Jahr geheim geblieben und kam daher nicht ans Licht. Das sozialistische Gift ist zweifellos auf den sonderbarsten Wegen nach Deutschland eingedrungen. Es ist sogar in religiösen Bewegungen zum Ausdruck gekommen. Wer hätte nicht von der ephemeren religiösen Lehre gehört, die 1844 unter dem Namen eines »neuen Katholizismus« entstanden und 1848 untergegangen ist (inzwischen ist in Deutschland eine neue Häresie gegen die römische Kirche mit der Bezeichnung »Alt-Katholizismus«+195 aufgetreten). Der neue Katholizismus ist auf folgende Weise entstanden. Wie jetzt in Frankreich, so hat sich 1844 in Deutschland die katholische Geistlichkeit einfallen lassen, den Fanatismus der katholischen Bevölkerung mit einer großen Prozession zu Ehren des ungenähten Gewandes Christi zu wecken, das angeblich in Trier aufbewahrt wurde. Ungefähr eine Million Pilger kamen anläßlich dieses Festes von allen Enden Europas zusammen, und sie trugen dieses heilige Gewand in einer feierlichen Prozession und sangen: »Heiliger Rock, bitt Gott für uns!« – Das verursachte einen ungeheuren Skandal in Deutschland und gab den deutschen Radikalen Gelegenheit, die Farce zu entlarven. 1848 haben wir zufällig in Breslau die Bierschenke gesehen,+196 in der sich bald nach dieser Prozession einige schlesische Radikale, darunter der bekannte Graf Reichenbach+197 und seine Universitätskameraden, der Gymnasiallehrer Stein und der ehemalige katholische Geistliche Johannes Ronge, zusammenfanden.+198 Nach ihrem Diktat schrieb Ronge einen offenen Brief, einen wohlformulierten Protest an den Trierer Bi-

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schof, den er einen Tetzel des XIX. Jahrhunderts nannte.+199 Damit begann die neukatholische Häresie. Sie breitete sich schnell in ganz Deutschland aus, sogar im Herzogtum Posen, und unter dem Vorwand, zum kommunistischen Tisch der Urchristen zurückzukehren, begann man offen, den Kommunismus zu verkünden. Die Regierung staunte und wußte nicht, was tun, da die Lehre trotz allem religiösen Charakter trug, und weil sich auch unter der protestantischen Bevölkerung freie Gemeinden bildeten, die, wenn auch in bescheidenerem Maße, eine politische und sozialistische Richtung erkennen ließen.+200 Die industrielle Krise 1847, die Zehntausende von Webern zum Hungertod verdammte, erregte in ganz Deutschland ein wesentlich stärkeres Interesse für soziale Fragen. Heine, dieser vielschillernde Poet, schrieb aus diesem Anlaß sein großartiges Gedicht ›Der Weber‹, welches die nahe und unbarmherzige soziale Revolution prophezeit.+201 Ja, alle in Deutschland warteten, wenn auch nicht auf eine soziale, so doch wenigstens auf eine politische Revolution, von der man das Wiedererstehen und die Erneuerung des großen deutschen Vaterlandes erhoffte, und in dieser allgemeinen Erwartung, in diesem Chor der Hoffnungen und Wünsche, führte die Stimme des Patriotismus und Etatismus. Die Deutschen kränkte jenes ironische Erstaunen, mit dem Engländer und Franzosen ihnen jegliche praktische Fähigkeit und jeden Sinn für Realität absprachen, wenn sie von den Deutschen als einem gelehrten und tiefsinnigen Volk redeten. Deshalb richteten sich all ihre Wünsche und Forderungen hauptsächlich auf ein Ziel: einen einigen und mächtigen pangermanischen Staat zu schaffen, gleichgültig in welcher Form, in einer Republik oder einer Monarchie, wenn dieser Staat nur stark genug ist, das Staunen und die Furcht all seiner Nachbarvölker zu erregen. 1848 brach mit der gesamt-europäischen Revolution die vierte Periode, die letzte Krise des deutschen Liberalismus an, eine Krise, die mit seinem endgültigen Bankrott endete.

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Seit 1525 die vereinten Kräfte des Feudalismus, der sich schon sichtbar seinem Ende näherte, und der neuen Staaten, die sich in Deutschland gerade erst zu bilden begannen, einen beklagenswerten Sieg über den gewaltigen Aufstand der Bauern errungen hatten – ein Sieg, der ganz Deutschland endgültig zu anhaltender Knechtschaft unter dem Joch einer staatlichen Bürokratie verurteilte, seit diesem Sieg also hat sich in diesem Lande nie mehr so viel Zündstoff, haben sich nie mehr so viel revolutionäre Elemente angehäuft wie am Vorabend von 1848. Die Unzufriedenheit, das Warten und Hoffen auf einen Umsturz war allgemein, außer bei den obersten Klassen der Bürokratie und des Adels; und was es in Deutschland weder nach dem Sturz Napoleons noch in den zwanziger oder dreißiger Jahren gegeben hatte, das gab es jetzt, und gerade in der Bourgeoisie, nämlich nicht nur zehn, sondern viele Hunderte von Leuten, die sich Revolutionäre nannten und auch das Recht hatten, sich mit diesem Namen zu bezeichnen, weil sie in ihrer Unzufriedenheit mit dem literarischen Leerlauf und dem rhetorischen Geschwätz wirklich bereit waren, ihr Leben für ihre Überzeugung zu geben. Wir haben viele solche Leute gekannt. Natürlich gehörten sie nicht zur Welt der reichen oder der literarisch- gebildeten Bourgeoisie. Es gab kaum einen Advokaten darunter, nur wenige Mediziner und – was bemerkenswert ist – fast keinen einzigen Studenten, mit Ausnahme der Studenten der Wiener Universität, aus der 1848 und 1849 eine recht ernstzunehmende revolutionäre Bewegung hervorgegangen war, wahrscheinlich deshalb, weil sie in wissenschaftlicher Beziehung wesentlich niedriger stand als alle anderen deutschen Universitäten (von der Prager sprechen wir nicht, weil das eine slawische Universität ist). Die große Mehrheit der studentischen Jugend in Deutschland hielt schon damals zur Reaktion, einer natürlich nicht feudalen, sondern liberal-konservativen; sie war Verfechter einer staatlichen Ordnung um jeden Preis. Man kann sich vorstellen, zu was diese Jugend jetzt geworden ist.

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Die Partei der Radikalen gliederte sich in zwei Kategorien. Beide hatten sich unter dem direkten Einfluß französischer revolutionärer Ideen gebildet. Aber es gab einen gewaltigen Unterschied zwischen beiden. Der ersten Kategorie gehörten diejenigen an, welche die Blüte der jungen gelehrten Generation in Deutschland bildeten: Doktoren verschiedenster Fakultäten, Mediziner, Advokaten und auch nicht wenige Beamte, Schriftsteller, Journalisten und Redner; alle natürlich tiefsinnige Politiker, die mit Ungeduld auf die Revolution warteten, welche ihren Talenten ein weites Betätigungsfeld eröffnen sollte. Kaum hatte die Revolution begonnen, als diese Leute auch schon an der Spitze der ganzen radikalen Partei standen und nach vielen gelehrten Manövern, mit denen sie sie nutzlos erschöpft und die letzten Reste von Energie in ihr gelähmt hatten, in völlige Bedeutungslosigkeit verfielen. Doch es gab auch eine andere Kategorie von weniger glänzenden und ehrgeizigen Leuten, die dafür aber aufrichtiger und somit ungleich ernster zu nehmen waren; das waren vor allem Kleinbürger. Es gab darunter viele Schullehrer und arme Angestellte von Handels- und Industrieunternehmen. Natürlich waren auch Advokaten und Mediziner, Professoren und Journalisten, Buchhändler und sogar Beamte, aber nur in äußerst geringer Anzahl, dabei. Das waren wirklich integre Leute und äußerst ernsthafte Revolutionäre im Sinne uneingeschränkter Hingabe und Bereitschaft, sich endgültig und ohne Phrasen der revolutionären Sache hinzugeben. Kein Zweifel, hätten sie andere Anführer gehabt, und wäre die deutsche Gesellschaft überhaupt fähig und geeignet zu einer Volksrevolution, dann hätten sie wertvollsten Nutzen gebracht. Doch waren diese Leute Revolutionäre und bereit, ehrlich der Revolution zu dienen, ohne sich deutlich Rechenschaft darüber abzugeben, was das ist, eine Revolution, und was man von ihr zu erwarten hat. Es gab bei ihnen weder kollektiven Instinkt, noch kollektives Wollen oder Denken, und konnte es auch nicht geben. Sie waren individuelle Revolutionäre ohne festen Boden unter den Füßen, und da sie keinen Leitgedan-

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ken hatten, mußten sie sich blindlings der verderbenbringenden Führung ihrer älteren, gelehrten Brüder unterwerfen, in deren Händen sie zum Instrument des bewußten oder unbewußten Betrugs an den Volksmassen wurden. Ihrem eigenen Instinkt nach wollten sie die allgemeine Befreiung, Gleichheit und Wohlergehen für alle, doch ließ man sie für den Triumph des pangermanischen Staates arbeiten. In Deutschland gab es damals wie heute ein noch sehr viel ernster zu nehmendes revolutionäres Element – nämlich das städtische Proletariat; das hat in Berlin, in Wien und in Frankfurt am Main 1848, und 1849 in Dresden, im Königreich Hannover und im Herzogtum Baden gezeigt, daß es zu einer ernsten Erhebung fähig und bereit ist, wenn es nur irgendeine vernünftige und ehrliche Führung findet. In Berlin hat sich sogar ein Element gefunden, dessen sich bisher allein Paris rühmen konnte, nämlich der Straßenjunge – Gamin, Revolutionär und Held. Zu dieser Zeit befand sich das städtische Proletariat in Deutschland – jedenfalls die große Mehrheit davon – noch fast ganz außerhalb des Einflußbereichs der Propaganda von Marx und außerhalb der Organisation seiner kommunistischen Partei.+202 Sie war vor allem in den preußischen Industriestädten am Rhein verbreitet, besonders in Köln. Zwar hatte die Partei auch Zweige in Berlin, in Breslau und schließlich in Wien, die jedoch noch sehr schwach waren. Natürlich gibt es im deutschen Proletariat genau wie im Proletariat der anderen Länder auch alle sozialistischen Bestrebungen im Keim, als instinktives Bedürfnis, das sich bei den Volksmassen in allen vergangenen Revolutionen, und zwar nicht nur in den politischen, sondern sogar auch in den religiösen mehr oder weniger entschieden gezeigt hat. Aber es besteht ein gewaltiger Unterschied zwischen solchen Phänomenen des Instinktes und den bewußten, klar definierten Forderungen nach einem sozialen Umsturz oder sozialen Reformen. Derartige Forderungen hat es in Deutschland wahrhaftig weder 1848 noch 1849 gegeben, auch wenn das bekannte von Marx und Engels verfaßte Manifest der deutschen Kommunisten bereits im März 1848 veröffentlicht worden

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ist.+203 Es ist fast spurlos am deutschen Volk vorbeigegangen. Das revolutionäre Proletariat aller Städte Deutschlands war unmittelbar der Partei der politischen Radikalen oder der extremen Demokratie unterworfen, was sie gewaltig stärkte; aber die bourgeoise Demokratie, die selbst vom bourgeois-patriotischen Programm und der völligen Unfähigkeit ihrer Führer aus dem Konzept gebracht worden war, hat das Volk betrogen. Schließlich hat es in Deutschland noch ein Element gegeben, das jetzt nicht mehr existiert, nämlich eine revolutionäre Bauernschaft, oder wenigstens eine Bauernschaft, die fähig war, revolutionär zu werden. Damals bestand noch in mehr als der Hälfte Deutschlands ein Rest des alten Leibeigenenrechts, wie es bis heute noch in den zwei Herzogtümern Mecklenburgs existiert. In Österreich war das Leibeigenenrecht noch voll in Kraft.+204 Zweifellos waren die deutschen Bauern zum Aufstand fähig und bereit. Wie 1830 in der bayerischen Pfalz, so wurden 1848 fast in ganz Deutschland die Bauern unruhig – kaum wurde bekannt, daß in Frankreich die Republik ausgerufen worden war -- und nahmen anfangs den heftigsten, lebhaftesten und tatkräftigsten Anteil an den ersten Wahlen der Deputierten in die zahlreichen Revolutionsparlamente. Damals glaubten die deutschen Bauern noch, daß Parlamente etwas für sie tun wollen und können, und schickten die unverbesserlichsten und rötesten Leute als ihre Vertreter hinein – natürlich nur sofern ein deutscher Politiker unverbesserlich und rot sein kann. Bald sahen die Bauern jedoch, daß sie von den Parlamenten keinerlei Nutzen zu erwarten hatten, und ihre Begeisterung kühlte ab; doch anfangs waren sie zu allem bereit, sogar zum allgemeinen Aufstand. Genau wie 1830 fürchteten die deutschen Liberalen und Radikalen auch 1848 diesen Aufstand am meisten; noch nicht einmal die Sozialisten aus der Schule Marx' mögen ihn. Es ist allbekannt, daß Ferdinand Lassalle,+205 der, wie er selbst gestanden hat, Schüler dieses obersten Führers der kommunistischen Partei in Deutschland war – was jedoch den Lehrer nicht gehindert hat, nach dem Tode Lassalles seine eifersüchtige und

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mißgünstige Unzufriedenheit mit dem glänzenden Schüler zu äußern, der in praktischer Hinsicht seinen Lehrer weit hinter sich gelassen hatte+206 –, allen also ist bekannt, daß Lassalle einigemale die Ansicht geäußert hat, die Niederlage des Bauernaufstandes im XVI. Jahrhundert und die darauffolgende Stärkung und Blüte des bürokratischen Staates in Deutschland seien ein wahrer Triumph für die Revolution gewesen.+207 Für die Kommunisten oder Sozialdemokraten Deutschlands ist die Bauernschaft, jede Bauernschaft – Reaktion; und der Staat, jeder Staat, sogar der Bismarcks – Revolution. Sollen sie nur denken, daß wir sie verleumden. Zum Beweis dessen, daß sie in der Tat so denken, weisen wir auf ihre Reden, Broschüren, Zeitschriftenartikel und schließlich auf ihre Briefe hin – all das wird eines Tages dem russischen Publikum zugänglich gemacht werden. Übrigens können Marxisten nicht anders denken; da sie Etatisten um jeden Preis sind, müssen sie jegliche Volksrevolution verdammen, vor allem aber eine bäuerliche, ihrer Natur nach anarchistische, die auf unmittelbare Vernichtung des Staates ausgerichtet ist. Als allesverschlingende Pangermanisten müssen sie eine bäuerliche Revolution schon allein deshalb verwerfen, weil dies die spezifische slawische Revolution ist. Und in diesem Haß auf den Bauernaufstand treffen sie sich aufs liebevollste und rührendste mit allen Schichten und Parteien der deutschen bourgeoisen Gesellschaft. Wir haben schon gesehen, wie es 1830 genügte, daß die Bauern aus der bayerischen Pfalz sich mit Sensen und Gabeln gegen die herrschaftlichen Schlösser erhoben,+253 um das revolutionäre Feuer sofort erlöschen zu lassen, das damals die süddeutschen Burschen [burši] erhitzte. 1848 wiederholte sich das Gleiche, und die Entschiedenheit, mit der damals am Anfang der Revolution die deutschen Radikalen den Versuchen eines Bauernaufstandes entgegentraten, ist wohl mit die Hauptursache für ihren kläglichen Ausgang gewesen. Sie fing mit noch nie dagewesenen Triumphen des Volkes an. Im Verlauf von ungefähr einem Monat nach den Pariser

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Februartagen [1848] sind alle staatlichen Verwaltungsinstitutionen und -kräfte von der deutschen Erdoberfläche verschwunden, und das fast ohne jede Anstrengung des Volkes. Kaum triumphierte in Paris die Volksrevolution, als auch schon die Regierenden und Regierungen in Deutschland aus Furcht und Selbstverachtung den Kopf verloren und eine nach der anderen stürzten. Es gab zwar etwas von der Art eines bewaffneten Widerstandes in Berlin und Wien, aber das war so erbärmlich, daß es sich nicht verlohnt, darüber zu reden. So hat also die Revolution in Deutschland fast ohne jedes Blutvergießen gesiegt. Alle Fesseln wurden gesprengt, alle Mauern stürzten von selbst ein. Die deutschen Revolutionäre vermochten alles. Was vermochten sie denn? Man sagt, daß die Revolution nicht nur in Deutschland, sondern auch in ganz Europa erfolglos gewesen sei. Aber in allen anderen Ländern wurde die Revolution nach langen schweren Kämpfen von fremdländischen Truppen niedergeschlagen: in Italien vom österreichischen Heer, in Ungarn von den vereinigten österreichischen und russischen Truppen; in Deutschland aber ist sie an der eigenen Unfähigkeit der Revolutionäre gescheitert. In Frankreich, so wird man vielleicht sagen, ist dasselbe passiert; nein, in Frankreich war es ganz anders. Dort hatte sich gerade zu der Zeit die schreckliche revolutionäre Frage erhoben, die mit einem Mal alle bourgeoisen Politiker, sogar die roten Revolutionäre, in die Reaktion zurückgeworfen hat. In Frankreich trafen an den denkwürdigen Junitagen+208 zum zweiten Male Bourgeoisie und Proletariat als Feinde aufeinander, zwischen denen keine Aussöhnung möglich war. Zum erstenmal waren sie schon 1834 in Lyon aufeinandergetroffen.+209 In Deutschland hatte, wie bereits bemerkt, die soziale Frage damals noch kaum begonnen, auf unterirdischen Wegen ins Bewußtsein des Proletariats vorzudringen, auch wenn man damals schon davon sprach, doch mehr theoretisch, als sei es eine eher französische als deutsche Frage. Deshalb konnte sie auch noch nicht das deutsche Proletariat von den Demokraten

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trennen, denen die Arbeiter unbedenklich zu folgen bereit waren, wenn die Demokraten sie nur in die Schlacht führen wollten. Aber gerade Straßenschlachten waren gar nicht nach dem Geschmack der Politiker der demokratischen Partei Deutschlands. Sie zogen die unblutigen und ungefährlichen Kämpfe in den Parlamenten vor, welche Baron Jellačić,+210 der kroatische Ban, Waffe der österreichisch-habsburgischen Reaktion, bildhaft als »Anstalt für rhetorische Übungen« bezeichnet hat. Parlamente und konstitutionelle Versammlungen gab es damals in Deutschland ohne Zahl. Als erste unter ihnen galt die Nationalversammlung in Frankfurt, welche eine allgemeine Verfassung für ganz Deutschland ausarbeiten sollte. Sie bestand aus ungefähr 600 Deputierten, Vertretern von ganz Deutschland, die vom Volk direkt gewählt worden waren.+211 Es gab auch Deputierte der deutschen Gebiete Österreichs; die böhmischen und mährischen Slawen lehnten es ab, ihre Deputierten zu entsenden, zum größten Erstaunen der deutschen Patrioten, die überhaupt nicht verstehen konnten und vor allem auch nicht wollten, daß Böhmen und Mähren, jedenfalls soweit sie von Slawen bewohnt sind, keineswegs deutsche Länder sind. So versammelte sich in Frankfurt aus allen Enden Deutschlands die Blüte des deutschen Patriotismus und Liberalismus, des deutschen Geistes und der deutschen Gelehrsamkeit. Alle Patrioten und Revolutionäre der zwanziger und dreißiger Jahre, die das Glück hatten, diese Zeiten zu erleben, und alle liberalen Berühmtheiten der vierziger Jahre trafen sich in diesem obersten gesamtdeutschen Parlament. Und plötzlich erwies sich zur allgemeinen Überraschung bereits in den ersten Tagen, daß zumindest drei Viertel der Deputierten, die unmittelbar aus den allgemeinen Volkswahlen hervorgegangen waren, Reaktionäre waren! Und nicht nur Reaktionäre, sondern politische Taugenichtse, die zwar sehr gelehrt, aber sonst äußerst naiv waren. Sie glaubten allen Ernstes, daß sie die Verfassung für ganz Deutschland lediglich aus ihren weisen Häuptern herauszu-

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ziehen und sie im Namen des Volkes zu verkünden brauchten, und alle deutschen Regierungen würden sich ihr sofort unterwerfen. Sie glaubten den Versprechungen und Eiden der deutschen Herrscher, als hätten sie nicht im Verlauf von mehr als dreißig Jahren, nämlich von 1815 bis 1848, deren unverschämten und systematischen Verrat an sich selbst und ihren Kollegen erfahren. Die tiefsinnigen Historiker und Juristen verstanden die einfache Wahrheit nicht, zu der sie auf jeder Seite der Geschichte Erläuterungen und Beweise hätten nachlesen können, nämlich: Wenn man irgendeine politische Macht ungefährlich machen will, wenn man sie befrieden, bezwingen will, so gibt es dazu nur ein Mittel – sie vernichten. Die Philosophen haben nicht verstanden, daß es gegen politische Macht keine anderen Garantien geben kann als die völlige Vernichtung, daß in der Politik, wo Mächte und Fakten gegeneinander kämpfen wie in einer Arena, Worte, Versprechungen und Eide nichts bedeuten, und das schon allein deshalb, weil jede politische Macht, solange sie wirklich Macht bleibt, sogar ohne und gegen den Willen der Obrigkeit und der Herrscher, die sie lenken, von Natur aus und bei Gefahr der Selbstvernichtung unbeirrbar und um jeden Preis die Verwirklichung ihrer Ziele anstreben muß. Die deutschen Regierungen waren im März 1848+212 demoralisiert, erschreckt, aber keineswegs vernichtet. Die alte staatliche, bürokratische, juristische, finanzielle, politische und militärische Organisation blieb unangetastet. Dem Drang der Zeit nachgebend ließen die Herrscher die Zügel ein wenig locker, hielten sie aber dennoch fest in Händen. Die gewaltige Mehrheit der Beamten, die gewohnt waren, mechanisch Anordnungen auszuführen, die ganze Polizei, die ganze Armee waren ihnen ergeben wie vorher, ja sogar noch mehr, weil sie bei einem Sturm des Volkes, der ihre ganze Existenz bedroht hätte, allein bei ihnen auf Rettung hoffen konnten. Schließlich wurden die Abgaben wieder mit der früheren Akkuratesse eingetrieben und gezahlt; trotz des Triumphes der Revolution überall.

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Zu Anfang der Revolution hatten allerdings einige vereinzelte Stimmen gefordert, daß die Zahlungen von Abgaben und überhaupt die Erfüllung jeglicher Abgabepflichten an Geld und Naturalien in ganz Deutschland solange eingestellt würden, bis eine neue Verfassung eingeführt und erlassen wäre. Aber gegen einen solchen Vorschlag, der im Volk selbst viel Zweifel hervorgerufen hatte, vor allem bei den Bauern, erhob sich ein einmütiger Chor der Ablehnung bei der bourgeoisen Welt, nicht nur bei den Liberalen, sondern auch bei den rötesten Revolutionären und Radikalen. Zielte er doch direkt auf einen staatlichen Bankrott, auf die Zerstörung aller staatlichen Institutionen, und das gerade zu der Zeit, wo alles mit der Gründung eines neuen, noch stärkeren, einigen und unteilbaren pangermanischen Staates beschäftigt war! Der Himmel bewahre uns! Die Zerstörung des Staates! Das wäre doch wohl Befreiung, ein Festtag für die dumme Menge der einfachen Arbeiter; für die ordentlichen Leute hingegen, für die ganze Bourgeoisie, die nur kraft Staatlichkeit existieren kann, wäre es ein Elend. Und da der Frankfurter Nationalversammlung, und mit ihr allen Radikalen Deutschlands, nicht einmal der Gedanke an eine Zerstörung der Staatsgewalt in den Sinn kommen konnte, die in den Händen der deutschen Herrscher lag, und da sie andererseits eine Volksmacht weder organisieren konnten noch wollten, die ja mit der Staatsgewalt unvereinbar ist, blieb ihnen nichts anderes übrig, als sich mit dem Glauben an die Heiligkeit der Versprechungen und Eide eben all dieser Herrscher zu trösten. Diejenigen, die von der besonderen Berufung der Wissenschaft und der Gelehrten für Organisation der Gesellschaft und Führung des Staates reden, sollte man öfters an das tragikomische Schicksal des Frankfurter Parlaments erinnern. Wenn irgendeine politische Versammlung den Namen einer Gelehrtenversammlung verdient, dann eben dieses pangermanische Parlament, in welchem die bekanntesten Professoren aller deutschen Universitäten und aller Fakultäten saßen, vor allem Juristen, politische Ökonomen und Historiker.

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Erstens einmal erwies sich diese Versammlung, wie wir schon oben erwähnt haben, in ihrer Mehrheit als entsetzlich reaktionär, und zwar in einem solchen Maße, daß, als Radowitz,+213 der Freund, ständige Korrespondent und treue Diener König Friedrich Wilhelms IV., ehemaliger preußischer Gesandter beim Deutschen Bund und im Mai 1848 Deputierter der Nationalversammlung – als Radowitz dieser Versammlung den Vorschlag machte, eine feierliche Sympathieerklärung an das österreichische Heer abzugeben, jener deutschen Armee also, die sich zum größten Teil aus Madjaren und Kroaten zusammensetzte und vom Wiener Kabinett gegen die aufrührerischen Italiener eingesetzt worden war, [daß] sich die gewaltige Mehrheit, von seiner deutsch-patriotischen Rede begeistert, erhob und den Österreichern applaudierte.+214 Damit erklärte die Versammlung feierlich, im Namen ganz Deutschlands, daß das Hauptziel der deutschen Revolution, ja man kann sagen ihr einzig ernsthaftes Ziel, keineswegs darin bestand, die Freiheit der deutschen Völker zu erkämpfen, sondern vielmehr darin, ein gewaltiges neues patriotisches Gefängnis unter dem Namen eines einigen und unteilbaren pangermanischen Imperiums für sie aufzubauen. Eine ebenso grobe Ungerechtigkeit erwies die Versammlung den Polen vom Herzogtum Posen, ebenso wie überhaupt allen Slawen. Alle diese Völker, die ja doch die Deutschen haßten, sollten vom pangermanischen Staat geschluckt werden. Das verlangte die zukünftige Macht und Größe des deutschen Vaterlandes. Die erste Frage zu inneren Angelegenheiten, die von der weisen und patriotischen Versammlung entschieden werden mußte, war, ob der gesamtdeutsche Staat eine Republik oder eine Monarchie werden sollte. Natürlich wurde die Frage zu Gunsten der Monarchie entschieden. Dafür darf man allerdings nicht die Schuld den Herren Professoren-Deputierten und Gesetzgebern geben. Natürlich strebten sie als echte und noch – dazu gelehrte Deutsche, und damit als bewußte, überzeugte Knechte, von ganzem Herzen danach, sich ihre teuren Herr-

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scher zu erhalten. Doch selbst wenn sie keinerlei derartige Bestrebungen gehabt hätten, hätten sie zu Gunsten der Monarchie entscheiden müssen, weil das nämlich mit Ausnahme von einigen wenigen hundert aufrichtigen Revolutionären, von denen wir oben gesprochen haben, die ganze deutsche Bourgeoisie so wollte. Und zum Beweis dessen wollen wir die Worte des ehrwürdigen Patriarchen der demokratischen Partei und jetzigen Sozial-Demokraten, nämlich des obenerwähnten Königsberger Patrioten, Doktor Johann Jacoby, anführen. In einer Rede, die er 1858 vor der Königsberger Wählerschaft gehalten hat, sagte er folgendes: »Jetzt, meine Herren, ich spreche dies als meine volle innige Überzeugung aus, jetzt gibt es in unserem Lande, in der ganzen demokratischen Partei nicht einen Einzigen, der eine andere als monarchische Staatsform zu wollen, geschweige zu erstreben sich nur im Traume einfallen läßt.«+215 Und er fügte dem noch weiter hinzu: »Wenn irgendeine Zeit, so hat das Jahr 1848 gelehrt, wie tief das monarchische Element in dem Herzen des Volkes Wurzel geschlagen.«+216 Die zweite Frage war die: Welche Form soll das deutsche Reich haben, eine zentralistische oder eine föderative? – Erstere wäre logisch gewesen und hätte sehr viel mehr dem Ziel entsprochen, einen einigen und unteilbaren, mächtigen deutschen Staat zu bilden. Aber um das zu verwirklichen, hätte man nicht umgehen können, allen Herren, außer einem, Macht und Thron zu nehmen und sie aus Deutschland zu vertreiben, d.h. eine Vielzahl von lokalen Revolten anzustiften und zu Ende zu führen. Das aber wäre dem deutschen Untertanengeist höchst zuwider gewesen, weshalb die Frage zugunsten einer föderativen Monarchie entschieden wurde, ganz entsprechend dem alten Ideal einer Vielzahl von mittleren und kleinen Herrschern und ebensovielen Parlamenten mit einem einzigen gesamtdeutschen Kaiser und Parlament an der Spitze. Wer aber sollte Kaiser werden? Das war die Hauptfrage. Es war klar, daß man für diesen Platz nur den österreichischen

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Kaiser oder den preußischen König bestimmen konnte. Weder Österreich noch Preußen hätten einen anderen geduldet. Die Mehrheit der Sympathien in der Versammlung stand zu Gunsten des österreichischen Kaisers. Dafür gab es viele Gründe: Erstens haben alle nichtpreußischen Deutschen schon immer Preußen gehaßt, so wie man in Italien Piemont haßt. Und König Friedrich Wilhelm IV. hatte mit seinem wunderlichen, starrsinnigen Verhalten vor der Revolution und auch danach alle Sympathien verloren, welche man ihm noch bei seiner Thronbesteigung entgegengebracht hatte. Außerdem neigte ganz Süddeutschland dem Charakter seiner größtenteils katholischen Bevölkerung und den historischen Traditionen und Sitten nach entschieden zu Österreich. Dennoch war die Wahl des österreichischen Kaisers unmöglich, denn das österreichische Kaiserreich war aufgewühlt von revolutionären Bewegungen in Italien, Ungarn, Böhmen und schließlich sogar in Wien und befand sich am Rande des Untergangs, während Preußen, ungeachtet allen Aufruhrs auf den Straßen von Berlin, Königsberg, Posen, Breslau und Köln gewappnet und bereit war. Der Wunsch der Deutschen nach einem einigen, mächtigen Reich war ungleich stärker als der nach Freiheit. Allen war klar, daß nur allein Preußen Deutschland einen ernstzunehmenden Kaiser geben konnte. Wenn also diese Herren Professoren, die doch fast die Mehrheit im Frankfurter Parlament hatten, auch nur ein Körnchen gesunden kritischen Verstandes, auch nur ein winziges bißchen Energie hatten, so hätten sie ohne zu überlegen unverzüglich ein Herz gefaßt und dem preußischen König die Kaiserkrone angetragen. Zu Beginn der Revolution hätte sie Friedrich Wilhelm IV. auch unbedingt angenommen. Doch der Berliner Aufstand und der Sieg des Volkes über die Truppen traf ihn zutiefst; er fühlte sich gedemütigt und suchte nach irgendeinem Mittel, seine königliche Ehre zu retten und wiederherzustellen. Da ihm kein anderes Mittel blieb, griff er von sich aus nach der Kaiserkrone. Bereits am 21. März [1848], also drei Tage nach seiner Niederla-

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ge in Berlin, gab er ein Manifest an die deutsche Nation heraus, wo er erklärte, daß er sich um der Rettung Deutschlands willen an die Spitze des gesamten deutschen Vaterlandes stellen werde.+217 Nachdem er dieses Manifest eigenhändig geschrieben hatte, bestieg er sein Pferd und ritt von einer militärischen Suite gefolgt mit der pangermanischen Dreifarbenfahne in der Hand im Triumph durch die Straßen von Berlin. Doch das Frankfurter Parlament verstand diesen keineswegs zarten Hinweis nicht, oder wollte ihn nicht verstehen, und anstatt den preußischen König einfach und direkt zum Kaiser zu proklamieren, wählten sie, wie das kurzsichtige und unentschlossene Leute immer tun, einen Mittelweg, der nichts entschied, sondern direkt eine Beleidigung des preußischen Königs war. Die Herren Professoren glaubten,+218 daß sie vor der Wahl eines deutschen Kaisers zuerst einmal eine gesamtdeutsche Verfassung zustande bringen und noch davor die »Grundrechte des deutschen Volkes« formulieren mußten. Mehr als ein halbes Jahr brauchten die gelehrten Gesetzgeber zur juristischen Definition dieses Rechtes. Die praktischen Angelegenheiten übergaben sie einer auf Zeit von ihnen eingesetzten Regierung, die aus einem Reichsverweser ohne Verantwortung und einem verantwortlichen Ministerium bestand. Zum Reichsverweser wählten sie wiederum nicht den preußischen König, sondern ihm zum Trotz einen österreichischen Erzherzog. Bei seiner Wahl forderte die Frankfurter Versammlung, daß das ganze Bundesheer auf ihn vereidigt würde. Dem leisteten aber nur die winzigen Heere der Kleinstaaten Folge, die preußischen dagegen und die hannoveranischen, ja sogar die österreichischen lehnten ohne Umschweife ab. Damit wurde für alle klar, daß die Macht, der Einfluß und die Bedeutung der Frankfurter Versammlung gleich null war und daß über das Schicksal Deutschlands nicht in Frankfurt, sondern in Berlin und Wien entschieden wurde, vor allem in ersterem, da letzteres viel zu sehr mit seinen eigenen, ausschließlich österreichischen und alles andere als deutschen Angelegenheiten beschäftigt war, als

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daß es noch Zeit gehabt hätte, sich mit den Angelegenheiten Deutschlands abzugeben. Was aber machte zu jener Zeit die radikale oder sogenannte revolutionäre Partei? Die Mehrheit ihrer nichtpreußischen Mitglieder befand sich im Frankfurter Parlament und bildete dort eine Minderheit. Die übrigen waren in lokalen Parlamenten genauso paralysiert, und das erstens deshalb, weil diese Parlamente ihrer geringen Bedeutung wegen natürlich notwendigerweise auch nur geringen Einfluß auf den allgemeinen Gang der deutschen Angelegenheiten hatten, und zweitens, weil sogar in Berlin, Wien und Frankfurt das Parlamentieren lächerlich und leeres Geschwätz war. Die preußische konstituierende Versammlung, die am 22. Mai 1848 in Berlin eröffnet wurde und in der fast die ganze Blüte des Radikalismus versammelt war, bewies das deutlich. Hier wurden die flammendsten, rhetorischsten und sogar revolutionärsten Reden gehalten, aber zu irgendwelchen Taten ist es nicht gekommen. Bei den ersten Sitzungen bereits verwarf man das Projekt einer Verfassung, das von der Regierung vorgeschlagen worden war, und wie die Frankfurter Versammlung brauchte man auch hier einige Monate, um das eigene Projekt zu diskutieren, wobei die Radikalen zum Staunen des ganzen Volkes ihre eigene revolutionäre Einstellung für überholt erklärten. Die ganze revolutionäre Unfähigkeit, um nicht zu sagen die unübersehbare Dummheit der deutschen Demokraten und Revolutionäre kam ans Tageslicht. Die preußischen Radikalen waren ganz vom parlamentarischen Spiel absorbiert und verloren jeden Sinn für alles Übrige. Sie glaubten allen Ernstes an die Kraft parlamentarischer Entscheidungen, und die weisesten unter ihnen glaubten, daß die Siege, die sie bei Parlamentsdebatten davontrügen, das Schicksal Preußens und Deutschlands entscheiden würden. Sie stellten sich eine unlösbare Aufgabe: die demokratische Selbstverwaltung und Rechtsgleichheit mit den Institutionen der Monarchie in Einklang zu bringen. Zum Beweis führen wir

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eine Rede an, die im Juni 1848 von einem der Hauptführer dieser Partei, Doktor Johann Jacoby, vor seiner Wählerschaft in Berlin gehalten wurde und die das ganze demokratische Programm klar darstellt: »Die Idee der Republik ist der höchste und reinste Ausdruck bürgerlicher Selbstregierung und Gleichberechtigung. Ob man aber republikanische Regierungsformen unter den in der Wirklichkeit gegebenen Bedingungen in einer bestimmten Zeit und einem bestimmten Land verwirklichen kann, das ist eine andere Frage. Nur der einmütige Wille aller Bürger kann das entscheiden. Es wäre Wahnsinn, wenn ein Einzelner wagte, die Verantwortung für eine solche Entscheidung auf sich zu nehmen. Ein Wahnsinn, ja sogar ein Verbrechen wäre es, wenn eine Partei diese Staatsform einem Volke aufzwingen wollte. Nicht erst heute, sondern bereits im März habe ich in Frankfurt im Vorparlament den Badischen Abgeordneten das Gleiche gesagt und mich bemüht, sie von einer republikanischen Erhebung abzubringen, aber o weh! vergeblich. In ganz Deutschland – mit Ausnahme von Baden – hat selbst die Revolution vor den unerschütterlichen Thronen ehrerbietig haltgemacht und damit bewiesen, daß sie keineswegs beabsichtigt, ihre Herrscher zu vertreiben, auch wenn sie ihrer Willkür Grenzen setzen kann. Wir müssen uns dem allgemeinen Willen beugen, weshalb allein die konstitutionellmonarchische Regierungsform die Basis ist, auf der wir das neue politische Gebäude errichten müssen.«+219 So ist also der Neuaufbau einer Monarchie auf demokratischen Grundlagen die schwierige, direkt unmögliche Aufgabe, welche sich die tiefsinnigen, dafür aber außerordentlich wenig revolutionären Radikalen und roten Demokraten der preußischen konstituierenden Versammlung gestellt haben, und je mehr sie sich hineinvertieften und neue konstitutionelle Ketten ausdachten, die sie nicht nur dem Willen des Volkes, sondern auch der Monarchenwillkür ihres vergötterten halbverrückten Herrschers anlegen wollten, um so mehr entfernten sie sich von wirklichen Taten.

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Wie groß auch ihre Kurzsichtigkeit in praktischen Angelegenheiten war, so ging sie dennoch nicht so weit, daß sie nicht gesehen hätten, wie die Monarchie, die in den Märztagen+212 zwar besiegt, aber keineswegs zerstört worden war, jetzt offen konspirierte und alles, was zur alten reaktionär-aristokratischen, militärischen, polizeilichen und bürokratischen Welt gehörte, um sich versammelte und nur auf den günstigen Augenblick wartete, wo sie die Demokraten vertreiben und ihre frühere uneingeschränkte Macht wiedererlangen konnte. Die gleiche Rede von Doktor Jacoby bringt den Nachweis, daß die preußischen Radikalen das sehr wohl sahen. Er sagte nämlich: »Wir wollen uns nicht täuschen, Absolutismus und Junkertum!10 sind keineswegs verschwunden noch ausgestorben, kaum halten sie es für nötig oder der Mühe wert, sich tot zu stellen. Man müßte schon blind sein, um das Bestreben der Reaktion zu übersehen ... «+220 Somit sahen also die preußischen Radikalen die ihnen drohende Gefahr recht deutlich. Was aber taten sie, um ihr vorzubeugen? Die monarchistisch-feudale Reaktion war keine Theorie, sondern eine Macht, eine schreckliche Macht, die sowohl die ganze Armee hinter sich hatte, welche vor Ungeduld brannte, die Schande der Märzniederlage mit dem Blut des Volkes von sich abzuwaschen und die bedrohte und beleidigte Königsmacht wiederherzustellen, als auch die ganze Bürokratie, den ganzen staatlichen Organismus, der über ungeheure finanzielle Mittel verfügte. Ob die Radikalen wirklich glaubten, daß sie in der Lage seien, diese drohende Macht mit neuen Gesetzen und einer Verfassung, also mit rein papierenen Mitteln, zu bannen? Ja, sie waren wohl praktisch und weise genug, um solche Hoffnungen zu hegen. Wie sollte man auch anders erklären, daß sie, anstatt eine Reihe von praktischen und konkreten Maßnahmen gegen diese über ihnen schwebende Gefahr zu ergreifen, ganze Monate mit Gerede über die neue Verfassung

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So nennt man in Preußen den Adel und die Partei des adligen Militärs. Das Wort Junker wird im Sinne von »Adliger« gebraucht.

und über neue Gesetze verbrachten, welche alle Staatsgewalt und Macht dem Parlament unterordnen sollten? Sie waren so sehr von der Wirksamkeit ihrer parlamentarischen Entscheidungen und Verordnungen überzeugt, daß sie das einzige Mittel vernachlässigten, der staatlichen Macht der Reaktion die revolutionäre Macht des Volkes entgegenzustellen, indem sie diese Macht organisierten. Der unerhört leichte Sieg der Volkserhebungen über das Heer in fast allen Hauptstädten Europas, der den Beginn der Revolution von 1848 kennzeichnete, schadete den Revolutionären nicht nur in Deutschland, sondern auch in allen anderen Ländern, weil er sie zu der törichten Überzeugung brachte, daß bereits die kleinste Volksdemonstration ausreichend sei, um jeden militärischen Widerstand zu brechen. Als Folge dieser Überzeugung dachten die preußischen, ja überhaupt die deutschen Demokraten und Revolutionäre, daß es immer von ihnen abhinge, die Regierung, wenn es sich als nötig erweisen sollte, mit einer Volksbewegung zu erschrecken, und sahen keinerlei Notwendigkeit für eine Organisation oder Lenkung der revolutionären Leidenschaften und Kräfte im Volke, von ihrer Vermehrung schon gar nicht zu sprechen. Nein, wie es sich für gute Bürger gehört, fürchteten die revolutionärsten unter ihnen vielmehr diese Leidenschaften und Kräfte und waren immer bereit, sich gegen sie auf die Seite der staatlichen Ordnung, der bourgeois-gesellschaftlichen Ordnung, zu stellen, und glaubten überhaupt, je seltener man zu dem gefährlichen Mittel eines Volksaufstandes greifen müsse, um so besser. Auf diese Weise vernachlässigten die offiziellen Revolutionäre Deutschlands und Preußens das einzige ihnen verbleibende Mittel, einen endgültigen und wirklichen Sieg über die neuerstehende Reaktion zu erringen. Es war nicht nur so, daß sie nicht an die Organisation einer Volksrevolution dachten, ganz im Gegenteil, sie bemühten sich, sie überall zu befrieden und zu beruhigen, und zerstörten damit die einzige ernstzunehmende Waffe, die sie besaßen.

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Die Junitage,+208 der Sieg des Militärdiktators und republikanischen Generals Cavaignac+221 über das Pariser Proletariat, hätten den Demokraten Deutschlands die Augen öffnen müssen. Die Junikatastrophe war nicht nur ein Unglück für die Pariser Arbeiter, sondern die erste, ja man kann sagen, die entscheidende Niederlage für die Revolution in Europa. Die Reaktionäre aller Länder verstanden die tragische und für sie so vorteilhafte Bedeutung der Junitage schneller und besser als die Revolutionäre, und vor allem als die deutschen Revolutionäre. Man mußte nur sehen, welche Begeisterung die erste Nachricht von dieser Katastrophe in allen reaktionären Zirkeln auslöste; sie wurde aufgenommen wie eine Rettungsbotschaft. Von einem vollkommen richtigen Instinkt geleitet, sahen sie in dem Triumph Cavaignacs nicht nur den Sieg der französischen Reaktion über die französische Revolution, sondern den Sieg der universalen oder internationalen Reaktion über die internationale Revolution. Die Militärs, die Stäbe aller Länder begrüßen ihn als internationale Sühne für ihre militärische Ehre. Es ist bekannt, daß die preußischen, österreichischen, sächsischen, hannoveranischen, bayerischen und anderen deutschen Truppen sofort eine Glückwunschadresse an General Cavaignac, den interimistischen Regenten der französischen Republik, sandten, natürlich mit Erlaubnis der Obrigkeit und dem Wohlwollen ihrer Herrscher. In der Tat hatte der Sieg Cavaignacs große historische Bedeutung. Mit ihm begann eine neue Epoche im internationalen Kampf der Reaktion gegen die Revolution. Der Aufstand der Pariser Arbeiter, der vier Tage, vom 23. bis zum 26. Juni, angedauert hatte, übertraf alle Volksaufstände, deren Zeuge Paris je gewesen ist, an Härte und ungezügelter Energie. Mit ihm begann eigentlich die soziale Revolution, deren erster Akt er war; zweiter Akt war der letzte noch verzweifeltere Widerstand der Pariser Kommune. Erstmals bei den Juniaufständen traf die ungebändigte Kraft des Volkes, die bereits nicht mehr für andere, sondern allein für sich kämpfte und die von niemandem angeführt, sondern

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sich aus eigenem Impuls zur Verteidigung ihrer geheiligten Interessen erhoben hatte, ohne Maske, von Angesicht zu Angesicht, auf die ungebändigte Kraft des Militärs, das zügellos, ohne Rücksicht auf die Forderungen der Zivilisation, der Menschlichkeit, des gesellschaftlichen Anstandes und der bürgerlichen Rechte, vom wilden Kampf berauscht, erbarmungslos brandschatzte, mordete und vernichtete. In allen vorangegangenen Revolutionen war das Heer im Kampf gegen das Volk sehr schnell demoralisiert, wenn es nicht nur die Volksmassen, sondern auch die ehrbaren Bürger an deren Spitze, die Jugend von Universität und Polytechnikum und schließlich die Nationalgarde, die größtenteils aus Bürgern bestand, gegen sich hatte, und ehe es noch wirklich zerschlagen war, gab es nach, zog sich zurück oder verbrüderte sich mit dem Volk. Auch in der größten Hitze des Gefechtes gab es eine Art Absprache, die von den kämpfenden Fronten beachtet wurde und nach der selbst den heftigsten Leidenschaften gewisse Grenzen gesetzt waren, gleichsam als ob beide Seiten es sich zur Bedingung gemacht hätten, mit stumpfen Waffen zu kämpfen. Weder auf der Seite des Volkes, noch auf der Seite der Truppen kam es jemandem in den Sinn, daß man ohne Befehl Häuser und Straßen zerstören oder gar Zehntausende von unbewaffneten Menschen erschlagen könnte. Allgemein wurde der Satz: »Diejenige Macht, die gedenkt, Paris zu bombardieren, macht sich gleich unmöglich«11 von der konservativen Partei ständig wiederholt, wenn sie irgendeine reaktionäre Maßnahme verteidigte und das Mißtrauen der Gegenpartei einschläfern wollte. Eine solche Einschränkung im Einsatz von militärischer Gewalt war für eine Revolution außerordentlich günstig und

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Diese Worte sagte Thiers 1840 im Abgeordnetenhaus, als er als zukünftiger Minister Louis-Philippes ein Projekt zur Befestigung von Paris einbrachte.+222 Einunddreißig Jahre danach bombardierte Thiers, als Präsident der französischen Republik, Paris, um die Kommune bezwingen zu können.

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erklärt, weshalb früher zumeist das Volk als Sieger hervorging. Und eben diesem leichten Sieg des Volkes über das Militär wollte General Cavaignac ein Ende bereiten. Als man ihn fragte, weshalb er so massiv angegriffen hätte, womit er notwendigerweise eine große Anzahl von Insurgenten vernichten mußte, antwortete er: »Ich wollte nicht, daß ein zweites Mal die Kriegsflagge durch einen Sieg des Volkes entehrt würde.« Von diesem rein militärischen, dafür aber gänzlich volksfeindlichen Gedanken geleitet, hatte er als erster die Stirn, Kanonen einzusetzen, um Häuser und ganze Straßen, die von den Insurgenten besetzt waren, zu zerstören. Schließlich ließ er trotz all seiner rührenden Proklamationen an die verirrten Brüder, denen er seine brüderlichen Arme öffnete, am zweiten, dritten und vierten Tage nach dem Sieg zu, daß die Truppen zusammen mit der aufgebrachten Nationalgarde an drei aufeinander folgenden Tagen ungefähr zehntausend Insurgenten, darunter natürlich viele Unschuldige, ohne jeden Richtspruch mordeten und füsilierten. All das wurde um eines zweifachen Zieles willen getan: Mit dem Blut der Aufständischen wurde die militärische Ehre (!) reingewaschen, gleichzeitig wurde dem Proletariat die Lust an revolutionären Umtrieben genommen, indem man ihm die notwendige Ehrfurcht vor der Überlegenheit der militärischen Stärke und Furcht vor deren Unerbittlichkeit einflößte. Dieses letztere Ziel hat Cavaignac nicht erreicht. Wir haben gesehen, daß die Lektion aus den Junitagen das Proletariat der Pariser Kommune nicht daran hindern konnte, sich seinerseits zu erheben, und wir hoffen, daß selbst die neue und unendlich grausamere Lektion für die Kommune die soziale Revolution nicht anzuhalten, ja nicht einmal aufzuhalten vermag, im Gegenteil, daß sie die Energie und Leidenschaft ihrer Verfechter verzehnfachen und damit den Tag ihres Triumphes näherbringen wird. Wenn es auch Cavaignac nicht gelungen ist, die soziale Revolution zu morden, so hat er doch ein anderes Ziel erreicht, er hat endgültig den Liberalismus und den bürgerlich-revolutio-

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mären Geist gemordet, hat die Republik gemordet und auf ihren Trümmern eine Militärdiktatur errichtet. Damit, daß er die militärische Gewalt von den Fesseln befreite, die ihr einst die bürgerliche Zivilisation angelegt hatte, und ihr ihre ganze natürliche Wildheit zurückgegeben hat, sowie das Recht, vor nichts zurückzuschrecken, sondern dieser unmenschlichen und unerbittlichen Wildheit freien Lauf zu lassen, hat er von nun an jeden bürgerlichen Widerstand unmöglich gemacht. Seit Erbarmungslosigkeit und totale Zerstörung bei militärischem Eingreifen Parole geworden sind, ist die alte, klassische, unschuldige bürgerliche Revolution mit Straßenbarrikaden zu einem kindlichen Spiel geworden. Um erfolgreich gegen militärische Gewalt kämpfen zu können, die künftig vor nichts mehr Achtung hat und zudem noch mit den schrecklichsten Vernichtungswaffen ausgerüstet und bereit ist, bei der Zerstörung nicht nur von Häusern und Straßen, sondern von ganzen Städten mit all ihren Bewohnern von ihnen Gebrauch zu machen, um also gegen eine so wilde Bestie ankämpfen zu können, muß man eine andere, nicht weniger wilde, dafür aber gerechtere Bestie haben: die organisierte Revolte des ganzen Volkes, die soziale Revolution, welche genauso erbarmungslos ist wie die militärische Reaktion und vor nichts zurückschreckt. Cavaignac, der der französischen, überhaupt der internationalen Reaktion einen so wertvollen Dienst erwiesen hat, war jedoch der aufrichtigste Republikaner. Ist es nicht erstaunlich, daß es einem Republikaner beschieden war, den ersten Grundstein zu einer Militärdiktatur in Europa zu legen und der unmittelbare Vorläufer von Napoleon III. und dem deutschen Kaiser zu sein; ebenso wie auch ein anderer Republikaner, sein berühmter Vorläufer, Robespierre, den Staatsdespotismus vorbereiten sollte, der dann durch Napoleon I. verkörpert wurde. Ist das nicht der Beweis dafür, daß die alles verschlingende und alles erstickende militärische Disziplin – das Ideal des pangermanischen Reiches – das unvermeidlich letzte Wort der bourgeoisen staatlichen Zentralisation, der bourgeoisen Republik und überhaupt der bourgeoisen Zivilisation ist.

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Wie dem auch sei, die deutschen Offiziere, der Adel, die Bürokraten, Herrscher und Herren hegten eine große Liebe zu Cavaignac, gerieten über seinen glücklichen Erfolg in Erregung, wurden sichtlich mutig und begannen, sich bereits zu einem neuen Kampf zu rüsten. Was aber taten die deutschen Demokraten? Begriffen sie, welche Gefahr ihnen drohte und daß ihnen nur zwei Mittel blieben, sie abzuwenden: die revolutionäre Leidenschaft im Volk zu erwecken und die Volkskräfte zu organisieren? Nein, sie begriffen es nicht. Im Gegenteil, sie vertieften sich scheinbar vorsätzlich in parlamentarische Debatten, wandten sich vom Volk ab und setzten es damit dem Einfluß von allen möglichen reaktionären Agenten aus. Ist es da verwunderlich, daß das Volk ihnen gegenüber gleichgültig wurde und jedes Zutrauen zu ihnen und ihrer Sache verlor? Im November [1848], als der preußische König seine Garde nach Berlin zurückholte, General Brandenburg+223 zum ersten Minister machte und mit dem erklärten Ziel der totalen Reaktion die Auflösung der konstituierenden Versammlung befahl und Preußen eine eigene, selbstverständlich vollkommen reaktionäre Verfassung schenkte, rührten sich dieselben Berliner Arbeiter nicht mehr, die sich im März+224 noch so einmütig erhoben und so tapfer geschlagen hatten, daß sie die Garde zwangen, sich aus Berlin zu entfernen, ja sie mucksten nicht einmal mehr auf und sahen gleichmütig zu, wie: »die Soldaten die Demokratie vertrieben«. Damit endete in der Tat die Tragi-Komödie der deutschen Revolution. Noch früher, nämlich im Oktober, hatte Fürst Windischgrätz in Wien die Ordnung wiederhergestellt, allerdings nicht ohne bedeutendes Blutvergießen – überhaupt zeigten sich die österreichischen Revolutionäre revolutionärer als die preußischen. Was tat damals die Nationalversammlung in Frankfurt? Ende 1848 stimmte sie endlich über die Grundrechte und die neue pangermanische Verfassung ab und trug dem preußischen König die Kaiserkrone an. Doch die Regierungen von Öster-

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reich, Preußen, Bayern, Hannover und Sachsen lehnten die Grundrechte und die neugebackene Verfassung ab, und der preußische König verweigerte die Annahme der Kaiserkrone und rief darauf seine Deputierten zurück. In ganz Deutschland triumphierte die Reaktion. Die revolutionäre Partei, die zu spät zur Besinnung gekommen war, beschloß im Frühjahr 1849, eine allgemeine Erhebung zu organisieren. Im Mai flammte die erlöschende Revolution ein letztes Mal in Sachsen, in der bayerischen Pfalz und in Baden auf.+224 Sie wurde überall von preußischen Soldaten erstickt, die nach kurzem, übrigens recht blutigen Kampf die alte Ordnung in ganz Deutschland wiederherstellten, wobei der Prinz von Preußen, der jetzige Kaiser und König Wilhelm I., der den Oberbefehl über die preußischen Truppen in Baden hatte, nicht versäumte, einige Aufrührer zu hängen.+225 Das war das klägliche Ende der einzigen und auf lange Sicht letzten deutschen Revolution. Man muß sich jetzt fragen, welches die Ursache ihres Mißerfolgs war. Abgesehen von der politischen Unerfahrenheit und praktischen Unfähigkeit, wie so oft bei Gelehrten, und abgesehen von dem fundamentalen Mangel an revolutionärem Mut, der tiefverwurzelten Abneigung der Deutschen gegen revolutionäre Maßnahmen und Aktivitäten und ihrer Leidenschaft, sich der Gewalt zu unterwerfen, abgesehen schließlich von dem großen Mangel an Instinkt, Leidenschaft und Sinn für Freiheit war die Hauptursache für den Mißerfolg das allgemeine Bestreben aller deutschen Patrioten, einen pangermanischen Staat zu schaffen. Dieses Bestreben, das aus der Tiefe der deutschen Natur kommt, macht die Deutschen vollkommen unfähig zur Revolution. Eine Gesellschaft, die einen starken Staat gründen will, will sich notwendig auch der Macht unterwerfen; die revolutionäre Gesellschaft dagegen will die Macht abwerfen. Wie könnte man diese zwei entgegengesetzten und einander ausschließenden Forderungen in Einklang bringen? Sie müssen einander notwendig paralysieren, wie das auch bei den Deutschen geschah, die 1848 weder die Freiheit noch den starken Staat erlangt,

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sondern ganz im Gegenteil eine schreckliche Niederlage erlitten haben. Diese beiden Tendenzen sind so gegensätzlich, daß man sie in der Realität niemals gleichzeitig bei ein und demselben Volk antreffen kann. Eine muß unbedingt eine Scheintendenz sein, welche die eigentliche hinter sich verbirgt, wie das auch 1848 der Fall war. Das Scheinstreben nach Freiheit war eine Selbsttäuschung, ein Betrug; das Bestreben, einen pangermanischen Staat zu gründen, dagegen war sehr ernst. Das unterliegt keinem Zweifel, wenigstens nicht in bezug auf die ganze gebildete deutsche bourgeoise Gesellschaft, einschließlich der großen Mehrheit der rötesten Demokraten und Radikalen. Man kann nur denken, vermuten oder hoffen, daß im deutschen Proletariat ein antisozialer Instinkt lebt, der es vielleicht fähig macht, um die Freiheit zu kämpfen, weil es das gleiche wirtschaftliche Joch trägt und ebenso haßt wie das Proletariat anderer Länder; und weil es weder dem deutschen noch irgendeinem anderen Proletariat möglich ist, sich von der ökonomischen Sklaverei zu befreien, ohne das jahrhundertealte Gefängnis des sogenannten Staates zu zerstören. Man kann das nur voraussetzen und vermuten, denn faktische Beweise dafür gibt es nicht, im Gegenteil, wir haben gesehen, daß nicht nur 1848, sondern auch zur Zeit die deutschen Arbeiter ihren Anführern blind gehorchen, während diese Anführer, die Organisatoren der sozialdemokratischen deutschen Arbeiterpartei, sie weder zur Freiheit noch zur internationalen Bruderschaft führen, sondern direkt unter das Joch des pangermanischen Staates. 1848 befanden sich die deutschen Radikalen, wie schon oben bemerkt, in der beklagenswerten und tragikomischen Zwangslage, gegen die staatliche Macht rebellieren zu müssen, um sie damit zu zwingen, größer und stärker zu werden. Das bedeutet nicht nur, daß sie sie nicht zerstören wollten; im Gegenteil, sie bekämpften sie, kümmerten sich aber gleichzeitig äußerst liebevoll darum, sie zu erhalten. Die ganze Aktivität war also geteilt und in sich paralysiert. Die Macht dagegen zeigte in ihrem Wirken keinen solchen Widerspruch. Unbedenklich wollte sie um jeden Preis ihre seltsamen ungebetenen und unruhi-

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gen Freunde, die Demokraten, unterdrücken. Dafür, daß auch die Radikalen nicht an Freiheit, sondern an die Gründung eines Reiches dachten, muß man nur eine Tatsache anführen. Als die Frankfurter Versammlung, in der die Demokraten bereits den Sieg errungen hatten und Friedrich Wilhelm IV. am 28. März 1849 die Kaiserkrone antrugen, d.h. als Friedrich die ganzen sogenannten revolutionären Errungenschaften oder Volksrechte vernichtet und die konstituierende Versammlung fortgejagt hatte, die doch vom Volk direkt gewählt worden war, und eine äußerst reaktionäre und verachtungswürdige Verfassung erlassen hatte, ließ er voller Wut über die ihm und der Krone zugefügten Kränkungen die ihm verhaßten Demokraten mit Polizeisoldaten verfolgen. So blind konnten sie doch gar nicht sein, daß sie von einem solchen Herrscher Freiheit verlangten! Was aber erhofften und erwarteten sie? Den Pangermanischen Staat! Auch das ihnen zu geben, war der König nicht in der Lage. Die feudale Partei, die mit ihm zusammen gesiegt hatte und erneut nach der staatlichen Macht griff, verhielt sich der Idee der Einheit gegenüber äußerst feindlich. Sie haßte den deutschen Patriotismus als etwas Rebellisches und kannte nichts als ihren preußischen Patriotismus. Das ganze Heer, alle Offiziere und alle Kadetten in den Militärschulen sangen damals mit Begeisterung das bekannte preußisch-patriotische Lied: »Ich bin ein Preuße, kennt ihr meine Farben.«+226 Friedrich [Wilhelm IV.] wollte gern Kaiser sein, aber er fürchtete die Seinen, fürchtete Österreich, Frankreich und vor allem Kaiser Nikolaus. Den polnischen Abgesandten, die im März 1848 gekommen waren, um Freiheit für das Herzogtum Posen zu fordern, gab er zur Antwort: »Ich kann Ihrer Bitte nicht zustimmen, denn das wäre gegen den Willen meines Schwagers, Kaiser Nikolaus, der ein wahrhaft großer Mann ist! Wenn er Ja sagt, heißt es auch Ja, wenn er Nein sagt – dann Nein.«+227 Der König wußte, daß Nikolaus niemals mit der Kaiserkrone einverstanden wäre, deshalb und vor allem deshalb schlug er der Frankfurter Deputation rundweg ab, sie anzunehmen.

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Unterdessen aber wurde es für ihn notwendig, etwas im Sinne der deutschen Einheit und der preußischen Hegemonie zu tun, wenn auch nur, um seine Ehre wiederherzustellen, die er mit dem Märzmanifest+219 kompromittiert hatte. Zu diesem Zwecke machte Friedrich [Wilhelm IV.] den Versuch – wobei er den Lorbeer, den die preußischen Truppen mit der Überwindung der Demokraten Deutschlands geerntet hatten, sowie die inneren Schwierigkeiten Österreichs nutzte, das mit seinen Erfolgen in Deutschland unzufrieden war -, im Mai 1849 ein Bündnis zwischen Preußen, Sachsen und Hannover zu schließen mit der Tendenz, alle diplomatischen und militärischen Angelegenheiten auf Preußen zu konzentrieren,+228 aber dieses Bündnis hielt nicht lange. Kaum hatte Österreich mit Hilfe des russischen Heeres Ungarn bezwungen (im September 1849), als Schwarzenberg unter Drohungen von Preußen verlangte, daß alles in Deutschland wieder in die alte vormärzliche Ordnung gebracht werden müsse, mit einem Wort, daß der Deutsche Bund wiederhergestellt werde, der für die Vorherrschaft Österreichs so günstig war. Sachsen und Hannover lösten sich sofort von Preußen und schlossen sich Österreich an; Bayern folgte ihrem Beispiel; und der kampfeslustige König von Württemberg erklärte allen hörbar, »wohin ihm der österreichische Kaiser mit seinem Heer zu ziehen befiehlt, dahin zieht er auch«. So geschah es, daß das unglückliche Preußen völlig verlassen dastand. Was sollte es tun? Der Forderung Österreichs zuzustimmen, schien dem ehrgeizigen, aber schwachen König unmöglich; deshalb bestimmte er seinen Freund, General Radowitz, zum ersten Minister und befahl seinen Truppen zu marschieren. Fast wäre es zu Händeln gekommen. Da aber befahl Kaiser Nikolaus den Deutschen »Halt!«, eilte nach Olmütz (im November 1850) auf die Konferenz und sprach seine Verurteilung aus. Der erniedrigte König gab nach, Österreich triumphierte,+229 und nach dreijähriger Pause wurde im früheren Bundeshaus in Frankfurt (im Mai 1851) der Deutsche Bund wiedereröffnet.

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Eine Revolution hatte es scheinbar nie gegeben. Die einzige Spur, die sie hinterlassen hatte, war die schreckliche Reaktion, die den Deutschen als Heilslehre dienen mußte: Wer nicht die Freiheit, sondern den Staat will, der darf nicht Revolution spielen. Mit der Krise von 1848 und 1849 endet recht eigentlich die Geschichte des deutschen Liberalismus. Das war der Beweis für die Deutschen, daß sie nicht nur unfähig sind, die Freiheit zu erkämpfen, sondern sie auch nicht wollen; der Beweis außerdem, daß sie ohne die Initiative der preußischen Monarchie nicht einmal in der Lage sind, ihr eigentliches und wahres Ziel zu erreichen, nicht die Kraft haben, einen einigen und mächtigen Staat zu schaffen. Die nachfolgende Reaktion unterscheidet sich von der um 1812 und 1813 dadurch, daß sich die Deutschen trotz aller Bitterkeit und Erschöpfung bei der letzteren noch den Irrtum bewahrten und bewahren konnten, daß sie die Freiheit lieben, daß sie ein freies und einiges Deutschland hätten schaffen können, wenn nicht die Macht der vereinigten Regierungen, die bei weitem ihre rebellische Kraft übertraf, sie daran gehindert hätte. Jetzt ist eine so tröstliche Selbstüberschätzung unmöglich. Während der ersten Revolutionsmonate gab es überhaupt keine Regierungsgewalt in Deutschland, die sich ihnen hätte entgegenstellen können, wenn sie irgend etwas gemacht hätten; in der Folge haben sie selbst am allermeisten zur Erneuerung einer solchen Gewalt beigetragen, d.h. daß das Nullresultat der Revolution nicht auf äußere Umstände zurückzuführen ist, sondern allein auf die eigene Unfähigkeit der deutschen Liberalen und Patrioten. Das Gefühl dieser Unfähigkeit wurde gleichsam Grundlage des politischen Lebens und bestimmend für die neue öffentliche Meinung in Deutschland. Die Deutschen haben sich offensichtlich gewandelt und sind zu praktischen Menschen geworden. Sie sagten sich von den großen abstrakten Ideen los, die die Weltbedeutung ihrer klassischen Literatur ausgemacht hatten, von Lessing bis Goethe und von Kant bis Hegel einschließlich; sie sagten sich auch vom französischen Liberalis-

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mus, Demokratismus und Republikanertum los und begannen, nunmehr die Erfüllung ihres deutschen Schicksals in der Eroberungspolitik Preußens zu suchen. Zu ihrer Ehre sei gesagt, daß diese Wandlung sich nicht auf einmal vollzogen hat. Die letzten vierundzwanzig Jahre, von 1849 bis heute, welche wir der Kürze halber in eine einzige fünfte Periode zusammengefaßt haben, sollte eigentlich in vier Perioden geteilt werden: 5. die Periode der hoffnungslosen Unterwerfung von 1849 bis 1858, d.h. bis zum Anfang der Regentschaft in Preußen; 6. die Periode von 1858 bis 1866, nämlich die des letzten Kampfes des sterbenden Liberalismus gegen den preußischen Absolutismus; 7. die Periode von 1866 bis 1870, nämlich die Kapitulation des besiegten Liberalismus; 8. die Periode von 1870 bis jetzt, der Triumph der siegreichen Sklaverei. In der fünften Periode hat die innere und äußere Erniedrigung Deutschlands ihren höchsten Grad erreicht. Im Inneren das Schweigen von Sklaven: In Süddeutschland hatte der österreichische Minister, der Nachfolger Metternichs, uneingeschränkte Befehlsgewalt; in Norddeutschland verfolgte Manteuffel,+230 der die preußische Monarchie auf der Konferenz in Olmütz (1850) aufs Äußerste erniedrigt hatte – Österreich zu Gefallen und zum noch größeren Vergnügen der preußischen Hofleute, der Partei des Adels und der Militärbürokratie – verfolgte also Manteuffel die noch verbliebenen Demokraten. Das bedeutet in bezug auf Freiheit Null [nul'] und in bezug auf die äußere Würde, das Gewicht, die Bedeutung Deutschlands als Staat noch weniger als Null. Die Schleswig-Holsteinische Frage, bei der die Deutschen aller Länder und aller Parteien außer der des Hofes, des Militärs, der Bürokratie und des Adels seit 1847 nicht aufhörten, heftigste Leidenschaften zu zeigen, wurde dank der preußischen Intervention endgültig zugunsten Dänemarks entschieden.+231 In allen anderen Fragen zog die Stimme des vereinten, richtiger des durch den Deut-

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schen Bund entzweiten Deutschland andere Mächte nicht einmal in Betracht: Preußen wurde mehr denn je zum Sklaven Rußlands. Der unglückliche Friedrich [Wilhelm IV.], der einst Nikolaus gehaßt hatte, schwor jetzt allein auf ihn. Die Hingabe an die Interessen des Petersburger Hofes ging jetzt so weit, daß sowohl der preußische Kriegsminister als auch der preußische Gesandte am englischen Hofe, ein Freund des Königs, abgelöst wurden wegen ihrer offenen Sympathie für die Westmächte. Bekannt ist die Geschichte vom »Undank« des Fürsten Schwarzenberg und Österreichs, der Nikolaus so tief getroffen und gekränkt hat. Österreich, das wegen seiner Interessen im Osten ein natürlicher Feind Rußlands war, nahm offen Partei für England und Frankreich gegen Rußland,+232 Preußen dagegen blieb treu bis zum Schluß, zum großen Unwillen ganz Deutschlands. Die sechste Periode beginnt mit der Regentschaft des jetzigen Königs, Kaiser Wilhelm I. Friedrich [Wilhelm IV.] hatte endgültig den Verstand verloren und sein Bruder, der in ganz Deutschland unter dem Namen Preußenprinz verhaßte Wilhelm, wurde 1858 Regent und im Januar 1861, nach dem Tode des älteren Bruders, König von Preußen.+233 Es ist bemerkenswert, daß auch dieser königliche Feldwebel und berüchtigte Demokraten-Henker seinen Honigmond eines volksfreundlichen Liberalismus hatte. Bei Antritt der Regentschaft hielt er eine Rede,+234 in der er seine feste Absicht aussprach, Preußen, und mit ihm ganz Deutschland, auf das gebührende Niveau zu heben und dabei die Grenzen einzuhalten, die durch einen Verfassungsakt der königlichen Gewalt gesetzt waren,12 und sich

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Diese Rücksicht mußte ihm offensichtlich um so leichter wer-den, als die oktroyierte, nämlich durch die Gnade des Königs erlassene Verfassung+235 die Königsmacht eigentlich nirgends einschränkte, ausgenommen in einem Punkt – dem Recht, neue Anleihen abzuschließen oder neue Steuern ohne Zustimmung der Volksvertretung zu erlassen; um Steuern einzuziehen, die bereits einmal die Zustimmung des Parlaments erhalten hatten, bedurfte es keines neuen parlamentarischen Votums,

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immer auf die Bestrebungen des Volkes zu stützen, wie sie durch das Parlament geäußert werden. Diesem Versprechen getreu war die erste Handlung seiner Regierung, den Minister Manteuffel zu entlassen, der einer der größten Reaktionäre war, die Preußen je regiert haben, gleichsam die Verkörperung seiner politischen Niederlage und Vernichtung. Manteuffel wurde im November 1850 erster Minister, gewissermaßen, um alle Bedingungen der Olmützer Konferenz zu unterschreiben, die für Preußen äußerst erniedrigend waren, und um Preußen und mit ihm ganz Deutschland endgültig der österreichischen Hegemonie zu unterwerfen. Das war der Wille Nikolaus, das war das leidenschaftlich kühne Bestreben des Fürsten Schwarzenberg, das waren auch die Bestrebungen und der Wille einer großen Mehrheit des preußischen Junkertums oder Adels, die von einer Verschmelzung Preußens mit Deutschland noch nicht einmal etwas hören wollten und die dem österreichischen und dem allrussischen Kaiser fast noch mehr ergeben waren als ihrem eigenen König, dem sie aus Pflicht, aber nicht aus Liebe gehorchten. Im Verlauf von ganzen acht Jahren lenkte Manteuffel Preußen in dieser Richtung und in diesem Geiste, erniedrigte es vor Österreich bei jeder beliebigen Gelegenheit und verfolgte gleichzeitig in Preußen und in ganz Deutschland

denn das Parlament hatte kein Recht, sie aufzuheben. Eben diese Neueinführung machte den ganzen deutschen Konstitutionalismus und Parlamentarismus zu einem völlig inhaltslosen Spiel. In anderen Ländern, wie England, Frankreich, Belgien, Italien, Spanien, Portugal, Schweden, Dänemark, Holland u.a. kann das Parlament, das sich das wesentliche und einzig wirksame Recht bewahrt, nämlich das, der Regierung die Gelder zu verweigern, wenn es will, jegliche Regierung unmöglich machen, weshalb es ein ziemliches Gewicht in den Verwaltungsangelegenheiten erhält. Die oktroyierte Verfassung, die dem preußischen Parlament dieses Recht nahm, gewährte ihm das Recht, das Auferlegen von neuen Steuern und den Abschluß neuer Anleihen zu verweigern. Aber wir werden gleich sehen, wie sich Wilhelm I. nur drei Jahre nach dem Versprechen, das Recht des Parlaments heilig zu halten, gezwungen sah, es zu brechen.

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unbarmherzig und schonungslos alles, was an Liberalismus oder an Volksbewegung und Recht erinnerte. Dieser verhaßte Minister wurde durch den liberalen Fürsten von Hohenzollern-Sigmaringen+236 ersetzt, der vom ersten Tag an die Absicht des Regenten erklärte, Ehre und Unabhängigkeit Preußens gegenüber Wien und außerdem den verlorenen Einfuß auf Deutschland wiederherzustellen. Es bedurfte nur einiger Worte und Schritte in dieser Richtung, um alle Deutschen in Begeisterung zu versetzen. Vergessen waren alle die erst vor kurzem geschehenen Kränkungen, Grausamkeiten und Vergehen; der Demokratenhenker, Regent und spätere König Wilhelm I., gestern noch verhaßt und verwünscht, verwandelte sich plötzlich in den Liebling, den Helden und die einzige Hoffnung. Als Bestätigung führen wir die Worte des bekannten Jacoby an, die er vor den Königsberger Wählern (n1. November 1858) gesprochen hat: »Das wahrhaft männliche, verfassungsgetreue Auftreten des Prinzregenten bei Übernahme der Regentschaft hat, wie alle Preußen, so auch uns mit Vertrauen, mit neuen Hoffnungen erfüllt. Mit ganz ungewohnter Regsamkeit sahen wir, als die Zeit der Wahlen herankam, alle Bewohner des Vaterlandes dem wichtigsten politischen Akt entgegengehen.«+237 Derselbe Jacoby schrieb 1861 folgendes: »Als der Prinzregent aus selbsteigenem Entschlusse die volle Leitung des Staates übernahm, gab man im ganzen Lande sich der Zuversicht hin, es werde Preußen fortan ungehemmt dem vorgesteckten Ziele entgegenschreiten. Man erwartete, die Männer, die der Regent in seinen Rat berief, würden vor allem bestrebt sein, die entsittlichenden Wirkungen einer zehnjährigen Mißregierung zu beseitigen: sie würden der Beamtenwillkür ein Ende machen, den Gemeingeist, das patriotische Selbstgefühl des Bürgers auf's Neue erwecken und beleben ... Ist diese Hoffnung erfüllt? Laut und vernehmbar spricht es die öffentliche Stimme des Landes aus: Preußen ist in diesen zwei Jahren seinem großen geschichtlichen Berufe um keinen Schritt nähergerückt!«+238

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Der ehrwürdige Doktor Jacoby, der letzte gläubige Vertreter des deutschen politischen Demokratismus, wird zweifelsohne bis zum Tode seinem Programm treu bleiben, das sich in den letzten Jahren bis zu den keineswegs weiten Grenzen des Programms der deutschen Sozialdemokraten ausgeweitet hat. Sein Ideal, die Bildung eines pangermanischen Staates auf der Grundlage der Freiheit für das ganze Volk – ist eine Utopie, eine Absurdität. Wir haben darüber schon gesprochen. Die große Mehrheit der deutschen Patrioten kam nach 1848 und 1849 zu der Überzeugung, daß die Begründung einer pangermanischen Macht nur über Kanonen und Bajonette erfolgen könne, weshalb Deutschland sein Heil von der Militär-Monarchie Preußen erwartete. 1858 schlug sich die ganze nationalliberale Partei auf seine Seite, wobei sie die ersten Symptome eines Wandels in der Regierungspolitik ausnutzte. Die ehemalige demokratische Partei zerfiel: Aus dem größeren Teil bildete sich eine neue Partei, die »Partei der Progressisten«+239, die übrigen nannten sich weiterhin demokratische Partei. Die Fortschrittspartei brannte von Anfang an darauf, mit der Regierung zusammenzugehen, wollte sich aber ihre Ehre retten, und bat deshalb inständig um einen anständigen Vorwand für ein solches Überlaufen und forderte, daß man zumindest äußerlich die Verfassung achte. Bis 1866 stichelte sie und kokettierte mit der Regierung, dann aber ergab sie sich ihr bedingungslos, überwältigt vom Glanz des Sieges über Dänemark und Österreich. Die demokratische Partei hat, wie wir sehen, 1870 genau dasselbe getan. Jacoby aber ist noch niemals dem allgemeinen Beispiel gefolgt. Demokratische Prinzipien sind sein Leben. Er haßt die Gewalt und glaubt nicht, daß man mit ihr einen mächtigen deutschen Staat schaffen kann; deshalb ist er ein Feind der gegenwärtigen preußischen Politik geblieben, allerdings ein einsamer und ohnmächtiger Feind. Seine Ohnmacht kommt vor allem daher, daß er, ein Etatist von Kopf bis Fuß, aufrichtig von der Freiheit träumt und zur gleichen Zeit einen einigen pangermanischen Staat wünscht.

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Der gegenwärtige deutsche Kaiser, Wilhelm I., leidet nicht unter Widersprüchen und ist ähnlich wie der unvergessene Nikolaus I. gleichsam aus einem Stück gegossen, ist mit einem Wort ein ganzer Mann, wenn auch beschränkt. Er und der nichtherrschende Graf Chambord+240 waren wohl fast die einzigen, die an seine Gott-Gesalbtheit, seine göttliche Berufung und sein göttliches Recht glauben. Als gläubiger König und Soldat stellte er, ähnlich wie Nikolaus, das Prinzip der Legitimität, d.h. das erbliche Recht auf Herrschaft, höher als alle anderen Prinzipien. Seiner Meinung und seinem Gewissen nach war dieses Recht eine ernsthafte Erschwernis bei der Einigung Deutschlands, denn man mußte ja eine ganze Reihe von legitimen Herrschern von ihren Thronen vertreiben; doch gibt es im Herrschaftskodex noch ein anderes Prinzip – das heilige Recht auf Eroberung – welches das Problem löste. Ein Herrscher wird den Pflichten eines Monarchen getreu um nichts in der Welt einen Thron einnehmen, der ihm vom aufrührerischen Volk angetragen wird und den man seinem legitimen Herrn genommen hat, derselbe Herrscher aber wird für sich das Recht in Anspruch nehmen, dieses Volk und diesen Thron zu erobern, wenn nur Gott seine Waffen gesegnet hat und es einen günstigen Vorwand für eine Kriegserklärung gibt. Dieses Prinzip und das auf ihm begründete Recht ist bis heute noch immer von allen Herrschern anerkannt worden. Wilhelm I. brauchte also dringend einen Minister, der fähig war, legitime Vorwände und Mittel zur Vergrößerung des Staates durch Kriege zu schaffen. Ein solcher Mann war Bismarck, den Wilhelm ganz richtig einschätzte und dann auch im Oktober 1862 zu seinem Minister machte. Fürst Bismarck ist heute der mächtigste Mann in ganz Europa, ein pommerscher Adliger vom reinsten Schlage mit donquijotesker Ergebenheit dem Königshause gegenüber, mit dem üblichen trocken-militärischen Äußeren und frechen, trocken-ehrerbietigen, meist aber arrogant-spöttischen Umgangsformen gegenüber bürgerlich-liberalen Politikern. Er wird nicht böse, wenn man ihn »Junker« nennt, was Adliger bedeutet,

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gewöhnlich aber antwortet er seinen Gegnern: »Seien Sie versichert, daß wir dem Junkertum Ehre machen können.«+241 Als ausgesprochen gescheiter Mensch war er vollkommen frei von den Vorurteilen des Junkertums, wie auch von allen anderen. Wir haben Bismarck einen Politiker vom Schlage Friedrichs Il. genannt: Beide glauben sie vor allem an die Stärke, dann an den Verstand, der über die Stärke verfügt und sie nicht selten verzehnfacht. Durch und durch Staatsmann glaubt er ebensowenig wie Friedrich der Große an Gott oder den Teufel, ja nicht einmal an die Menschheit oder an den Adel – alles das ist für ihn nur Mittel zum Zweck. Um seine Staatsziele zu erreichen, achtet er weder göttliche noch menschliche Gesetze. In der Politik kennt er keine Moral; Gemeinheit und Verbrechen sind nur dann unmoralisch, wenn sie nicht von Erfolg gekrönt sind. Kühler und leidenschaftsloser als Friedrich kennt er wie dieser weder Rücksicht noch Skrupel. Als Adliger, der dank der Adelspartei hochgekommen ist, unterdrückt er diese Partei systematisch zum Nutzen des Staates, ja mehr noch, schimpft über sie genauso, wie er einst über die Liberalen, Progressisten und Demokraten geschimpft hatte. Eigentlich schimpft er über alles und jeden, ausgenommen den Kaiser, ohne dessen Anordnung er nichts unternehmen oder machen kann. Oder vielleicht schimpft er insgeheim, mit seinen Freunden, wenn es solche gibt, auch auf ihn. Um die Leistungen Bismarcks wirklich zu schätzen, muß man bedenken, wer ihn umgibt.13 Der König, ein beschränkter

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Dazu eine Anekdote, die wir aus zuverlässiger und direkter Quelle haben und die Bismarck charakterisiert. Wer hätte nicht von Schurz+242 gehört, einem der rötesten deutschen Revolutionäre von 1848 und Befreier des Pseudo-Revolutionärs Kinke+243 aus der Festungshaft. Schurz, der Kinkel für einen ernsthaften Revolutionär hielt, obwohl er eigentlich in der Politik keinen Pfifferling wert ist, befreite ihn unter Gefahr für die eigene Freiheit, überwand dabei mutig und schlau große Schwierigkeiten und floh selbst nach Amerika. Als kluger, fähiger und energischer Mann – was in Amerika etwas gilt – wurde er dort bald zum

Mensch mit der Erziehung eines gottesfürchtigen Feldwebels, war umgeben von der aristokratisch-klerikalen Partei, die Bismarck geradezu feindlich gesinnt ist, so daß letzterer jede neue Maßnahme, jeden neuen Schritt unter Kämpfen durchsetzen muß. Dieser interne Kampf beansprucht mindestens die Hälfte seiner Zeit, seines Denkens und seiner Energie und hält natürlich entsetzlich auf, stört und lähmt seine Aktivität, was zum Teil gut für ihn ist, denn es gibt ihm nicht die Möglichkeit, sich mit Unternehmungen so zu übernehmen wie der berühmteste aller Eigensinnigen, Napoleon I., der nicht dümmer war als Bismarck. Die öffentliche Tätigkeit Bismarcks+245 begann 1847; er trat als Haupt der extremen Adelspartei in der Bundesversammlung auf. 1848 war er erklärter Feind des Frankfurter Parlaments und einer gesamtdeutschen Verfassung und leidenschaftlicher Verbündeter von Rußland und Österreich, d.h. der inneren und äußeren Reaktion. In diesem Sinne nahm er lebhaftesten Anteil an dem ultrareaktionären Blättchen ›Kreuzzeitung‹,+246 das in jenem Jahr gegründet worden ist und bis heute existiert. Na-

Anführer der viele Millionen starken Partei der Deutschen. Während des letzten Krieges diente er sich im Heer der Nordstaaten hoch bis zum General (bereits vorher hatte man ihn zum Senator gewählt). Nach dem Kriege schickten ihn die Vereinigten Staaten als Sonderbotschafter nach Spanien. Er benutzte das zu einem Besuch in Süddeutschland, aber nicht in Preußen, wo ihm die Todesstrafe wegen der Befreiung des P.-R. Kinkel drohte. Als Bismarck von seinem Aufenthalt in Deutschland erfuhr, lud er ihn nach Berlin ein, da er sich einen so einflußreichen Mann unter den Deutschen Amerikas geneigt machen wollte, und ließ ihm mitteilen: »Für Leute, wie Schurz, sind die Gesetze nicht geschrieben.« Als Schurz in Berlin angekommen war, gab ihm Bismarck ein Essen, zu dem er all seine Ministerkollegen einlud. Nach dem Essen, als sich alle zurückgezogen hatten und Schurz mit Bismarck für intime Verhandlungen allein blieb, sagte Bismarck zu ihm: »Sie haben meine Kollegen gesehen und gehört; mit solchen Eseln muß ich regieren und Deutschland schaffen.«+244

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türlich war er ein glühender Verteidiger der Minister Brandenburg und Manteuffel, also auch der Resolutionen von Olmütz. Seit 1851 war er Gesandter beim Deutschen Bund in Frankfurt. In dieser Zeit hat er sein Verhältnis zu Österreich grundlegend gewandelt. »Wie Schuppen fiel es mir von den Augen, als ich mir ihre Politiker genauer ansah«,+247 sagte er zu seinen Freunden. Da erst verstand er, wie feindlich Österreich Preußen gegenüberstand und wurde aus einem glühenden Verteidiger zu seinem unversöhnlichen Feind. Von diesem Moment an wurde für ihn die Vernichtung des Einflusses von Österreich auf Deutschland und sein Ausschluß aus Deutschland zum Lieblingsgedanken. Unter diesen Bedingungen traf er den Preußenprinzen Wilhelm, der nach der Konferenz in Olmütz Österreich ebenso haßte wie die Revolution. Kaum wurde Wilhelm Regent, als er sofort seine Aufmerksamkeit auf Bismarck lenkte und ihn zunächst als Gesandten nach Rußland, dann nach Frankreich schickte und ihn schließlich zu seinem ersten Minister machte. Während seiner Gesandtschaft ließ Bismarck sein Programm ausreifen. In Paris erhielt er etliche wertvolle Lektionen in Staatsgaunerei von Napoleon III. selbst, der seinem eifrigen und fähigen Zuhörer gegenüber die Seele aufschloß und einige durchsichtige Hinweise auf die Notwendigkeit einer Umgestaltung der Landkarte Europas machte, wobei er für sich die Rheingrenze und Belgien forderte und das übrige Deutschland Preußen überließ. Das Resultat dieser Unterredung ist bekannt: Der Schüler hat den Lehrer aufs Kreuz gelegt. Bei Antritt seines Ministeramts hielt Bismarck eine Rede, in der er sein Programm darlegte: »Die Grenzen Preußens sind eng und unbequem für einen erstrangigen Staat. Für die Eroberung neuer Gebiete muß die militärische Organisation unbedingt erweitert und vervollständigt werden. Man muß sich auf den bevorstehenden Kampf vorbereiten und in Erwartung dessen seine Kräfte sammeln und vermehren. Der ganze Fehler von 1848 bestand darin, daß man Deutschland mit Hilfe von Volks-Institutionen zu einem Staat einigen wollte. Große

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Staatsprobleme werden nicht mit dem Gesetz, sondern durch Gewalt gelöst – Gewalt geht immer vor Recht.«+248 Wegen dieses letzten Satzes mußte Bismarck zwischen 1862 und 1866 viel von den Liberalen Deutschlands einstecken. Seit 1866, d.h. nach dem Sieg über Österreich und vor allem nach 1870, nämlich nach der Niederlage Frankreichs, verkehrten sich all diese Vorwürfe in begeisterte Lobeshymnen. Mit der üblichen Kühnheit, mit dem ihm eigenen Zynismus und der verächtlichen Offenheit hatte Bismarck mit diesen Worten das ganze Wesen der politischen Geschichte der Völker ausgesprochen, das ganze Geheimnis staatsmännischer Weisheit. Dauerhafte Herrschaft und Triumph der Gewalt – das ist das wahre Sein; alles, was in der Sprache der Politik Recht genannt wird, ist nur die Heiligung eines durch Gewalt geschaffenen Faktums. Es ist klar, daß die Volksmassen die Freiheit, nach der sie dürsten, nicht von einem theoretischen Sieg abstrakten Rechts erwarten können; sie müssen die Freiheit mit Gewalt erobern, wozu sie ihre elementaren Kräfte außerhalb des Staates und gegen ihn organisieren müssen. Die Deutschen wollten, wie wir bereits gesagt haben, keine Freiheit, sondern einen starken Staat; Bismarck hat das verstanden und fühlte sich mit preußischer Bürokratie und militärischer Stärke in der Lage, das zu erreichen, weshalb er mutig und bestimmt auf sein Ziel losging, ohne Rücksicht auf irgendwelche Rechte oder die heftige Polemik und die Angriffe der Liberalen und Demokraten. Trotz seiner Vorgänger im Amt glaubte er, daß die einen wie auch die anderen, wenn er erst sein Ziel verwirklicht habe, seine leidenschaftlichen Verbündeten würden. Der königliche Feldwebel und der Politiker Bismarck wünschten eine Verstärkung des Heeres, wozu neue Steuern und Anleihen notwendig waren. Die Abgeordnetenkammer, von der die Bestätigung der neuen Steuern und Anleihen abhing, lehnte das stets ab, weshalb man sie einige Male auflöste. In einem anderen Lande hätte ein solcher Zusammenstoß eine politische Revolution hervorrufen können, nicht aber in Preußen, und Bismarck hatte das begriffen, deshalb nahm er sich trotz der

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Ablehnungen die notwendigen Summen überall, wo er konnte, mittels Anleihen und Steuern. Mit ihren Ablehnungen machte sich die Kammer zur Zielscheibe des Spottes, wenn nicht in Deutschland, so doch in Europa. Bismarck irrt nicht; nachdem er sein Ziel erreicht hatte, wurde er zum Idol sowohl der Liberalen als auch der Demokraten. Niemals und in keinem Lande wäre ein so rascher und so völliger Gesinnungswandel möglich, wie er sich in Deutschland in den Jahren von 1864, 1866 und 1870 vollzogen hat. Bis zum österreichisch-preußischen Kriege mit Dänemark+249 war Bismarck der unpopulärste Mann in Deutschland. Während dieses Krieges und vor allem nach seiner Beendigung zeigte er allen Rechten des Volkes und des Staates gegenüber seine tiefste Verachtung. Es ist bekannt, wie Preußen und das von ihm begeisterte törichte Österreich ohne Umschweife das sächsisch-hannoveranische Corps aus Schleswig und Holstein verjagten, das diese Provinzen auf Befehl des Deutschen Bundes besetzt hatte; wie dreist Bismarck die eroberten Provinzen mit dem von ihm betrogenen Osterreich teilte und wie er mit der Erklärung schloß, daß sie alle ausschließlich Beute Preußens seien. Man sollte annehmen, daß ein solches Verhalten starke Unzufriedenheit bei allen ehrlichen, freiheitsliebenden und gerechten Deutschen hervorgerufen hätte. Ganz im Gegenteil, gerade von diesem Moment an begann die Popularität Bismarcks zu wachsen – die Deutschen fühlten die staatspatriotische Vernunft und die starke Regierungsgewalt über sich. Der Krieg von 1866 verstärkte nur seine Bedeutung.+250 Der kurze Böhmenfeldzug, der an die Feldzüge Napoleons I. erinnerte, die Kette glänzender Siege, die Österreich in die Knie zwangen, der Triumphzug durch Deutschland, die Ausplünderung feindlicher Ortschaften, die Erklärung von Hannover, Hessen- Kassel und Frankfurt zur Kriegsbeute, die Bildung des Norddeutschen Bundes unter der Schirmherrschaft des zukünftigen Kaisers – das sind Fakten, die die Deutschen zur Begeisterung brachten. Die Anführer der preußischen Opposition, die Virchows, Schulze-Delitzschs+251 und ähnliche verstummten plötzlich und gaben 330

sich moralisch geschlagen. In der Opposition blieb nur eine ganz kleine Gruppe mit dem alten ehrwürdigen Jacoby an der Spitze, die sich der »Volkspartei« anschloß, welche sich nach 866 in Süddeutschland gebildet hatte.+252 Nach dem Vertrag, den das siegreiche Preußen mit dem vernichteten Österreich abgeschlossen hatte, war der alte Deutsche Bund vernichtet, an seiner Stelle wurde jetzt der Norddeutsche Bund unter der Führung Preußens gegründet; Österreich, Bayern, Württemberg und Baden ließ man das Recht, einen südlichen Bund zu bilden. Der österreichische Minister Graf Beust, der nach dem Krieg ernannt worden war, begriff die große Bedeutung, die die Bildung eines solchen Bundes hatte, weshalb er all seine Anstrengungen darauf konzentrierte, aber unlösbare Fragen im Inneren und ungeheure Schwierigkeiten von eben denjenigen Mächten, für die dieser Bund so wichtig gewesen wäre, hinderten ihn. Bismarck betrog sie alle: Rußland und Frankreich und die deutschen Herrscher, für die die Bildung eines Bundes wichtig gewesen wäre, der Preußen nicht bis zu seiner gegenwärtigen Machtposition hätte kommen lassen. Die zur damaligen Zeit in der süddeutschen Bourgeoisie mit dem alleinigen Ziel, gegen Bismarck zu opponieren gegründete »Volkspartei« hatte ein Programm, das im Grunde genommen mit dem Beusts identisch war: die Bildung eines süddeutschen Bundes in enger Bindung an Österreich und mit möglichst breiter Vertretung des Volkes. Zentrum der »Volkspartei« war Stuttgart. Außer dem Bündnis mit Österreich hatte sie noch viele andere Schattierungen; so kokettierte sie in Bayern mit den Ultra- Katholiken, d.h. mit den Jesuiten, wünschte ein Bündnis mit Frankreich und ein Bündnis mit der Schweiz. Diejenige Gruppe, die ein Bündnis mit der republikanischen Schweiz wünschte, war Hauptgründer der ›Liga für Frieden und Freiheit‹.+253 Überhaupt war ihr Programm naiv und voller Widersprüche. Demokratische Institutionen verbanden sich in fanatischer Weise mit monarchischen Regierungsformen; Unabhängigkeit

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der Herrscher mit pangermanischer Einheit, und die letztere mit einer gesamteuropäischen republikanischen Föderation. Mit einem Wort, fast alles sollte beim alten bleiben und alles sollte mit neuem Geist erfüllt werden und vor allem philanthropischen Charakter haben; Freiheit und Gleichheit sollten unter Bedingungen gedeihen, die sie zerstören. Ein solches Programm konnten nur die empfindsamen Bürger Süddeutschlands verfassen, welche sich zunächst durch systematisches Ignorieren und dann leidenschaftliche Ablehnung der gegenwärtigen sozialistischen Bestrebungen auszeichneten, wie der Kongreß der Friedensliga 1868 zeigte.+254 Es ist klar, die »Volkspartei« mußte sich zur sozialdemokratischen Arbeiterpartei, die in den sechziger Jahren von Ferdinand Lassalle gegründet worden war,+255 feindlich verhalten. Im zweiten Teil dieses Buches soll von der Entwicklung der Arbeiterassoziationen in Deutschland und überhaupt in Europa ausführlich berichtet werden. Jetzt sei nur bemerkt, daß gegen Ende der sechziger Jahre, nämlich 1868, die Masse der Arbeiter in Deutschland in drei Kategorien zerfiel: Die erste, zahlreichste, blieb ohne jede Organisation. Die zweite, auch recht zahlreiche, bestand aus den sogenannten »Arbeiterbildungsvereinen«+256 und schließlich die dritte, am wenigsten zahlreiche, dafür aber tatkräftigste und verständigste, bildete die Phalanx der Lassalleschen Arbeiter unter dem Namen des »deutschen allgemeinen Arbeitervereins«+257 Von der ersten Kategorie gibt es nichts zu sagen. Die zweite stellt eine Art Föderation kleiner Arbeiterassoziationen darunter der unmittelbaren Führung von Schulze-Delitzsch und ihm gleichgesinnter bourgeoiser Sozialisten. »Selbsthülfe«+258 ist ihre Losung in dem Sinne, daß man dem einfachen Arbeitervolk nachdrücklich empfiehlt, keinerlei Heil noch Hilfe von Staat und Regierung zu erwarten, sondern nur von eigener Anstrengung. Der Rat wäre vortrefflich gewesen, wenn sich ihm nicht die betrügerische Versicherung angeschlossen hätte, daß bei den gegenwärtigen Bedingungen der Gesellschaftsstruktur, nämlich solange es ein ökonomisches Monopol gibt, das die Arbeitermassen bedrückt,

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sowie einen politischen Staat, der dieses Monopol vor einem Volksaufstand bewahrt, Freiheit für das Volk der einfachen Arbeiter möglich sei. Infolge dieses Irrtums – und bei den bourgeoisen Sozialisten und Anführern dieser Partei war das ein ganz bewußter Betrug – mußten sich die ihrem Einfluß unterworfenen Arbeiter systematisch von allen politisch-sozialen Problemen und Fragen nach dem Staat, dem Eigentum usw. entfernen, und da sie davon ausgingen, daß die gegenwärtige Gesellschaftsstruktur vernünftig und rechtmäßig sei, mußten sie die Verbesserung und Erleichterung ihrer Lage in der Gründung von kooperativen Konsum-, Kredit- und Produktionsgenossenschaften suchen. Zur politischen Bildung empfahl SchulzeDelitzsch den Arbeitern das gesamte Programm der Fortschrittspartei,+259 der er selbst mit seinen Kollegen angehörte. In wirtschaftlicher Beziehung tendierte das System SchulzeDelitzschs, wie jetzt allen deutlich, unmittelbar zur Erhaltung der bourgeoisen Welt gegen die soziale Bedrohung; in politischer unterwarf man das Proletariat endgültig der Ausbeutung durch die Bourgeoisie, für die es ein dummes und folgsames Instrument bleiben sollte. Gegen einen solchen groben doppelten Betrug erhob sich Ferdinand Lassalle. Es war ihm ein leichtes, das ökonomische System Schulze-Delitzschs zu zerpflücken und die ganze Nichtigkeit des politischen Systems zu zeigen. Niemand anders als Lassalle konnte den deutschen Arbeitern so überzeugend erklären und beweisen, daß die Situation des Proletariats unter den herrschenden ökonomischen Bedingungen nicht behoben werden kann, sondern ganz im Gegenteil kraft eines unabwendbaren ökonomischen Gesetzes sich mit jedem Jahr verschlimmern müsse und das auch werde, ungeachtet aller kooperativen Versuche, die nur kurzfristigen und kaum anhaltenden Nutzen, und auch den höchstens einer kleinen Anzahl von Arbeitern, bringen werden.+260 Er zerschlug das politische Programm und bewies damit, daß diese ganze angebliche Volkspolitik nur auf die Stärkung bürgerlich-ökonomischer Privilegien ausgerichtet ist.

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Soweit sind wir mit Lassalle einverstanden. Nun aber zu dem Punkt, an dem sich unsere Meinung von der seinen und überhaupt von der aller demokratischen Sozialisten oder Kommunisten Deutschlands trennt. Im Gegensatz zu Schulze-Delitzsch, der den Arbeitern empfahl, nur aus eigener Kraft ihre Rettung zu suchen und vom Staat nichts zu fordern noch zu erwarten, bewies ihnen Lassalle zunächst, daß unter den herrschenden ökonomischen Bedingungen nicht nur ihre Befreiung unmöglich sei, sondern daß ihr Los auch nicht im geringsten erleichtert werden könne, ja, daß eine Verschlechterung nicht zu vermeiden sei; außerdem bewies er, daß an den ökonomischen Privilegien der Bourgeoisie nicht zu rütteln ist, solange es einen bourgeoisen Staat gibt – und kam damit zu folgender Schlußfolgerung: Um die wahre Freiheit zu erlangen, eine Freiheit, die auf ökonomischer Gleichheit beruht, muß das Proletariat den Staat beherrschen und die staatliche Macht gegen die Bourgeoisie zugunsten des Arbeitervolkes kehren, so wie sie jetzt gegen das Proletariat zum alleinigen Nutzen der ausbeutenden Klasse gerichtet ist. Wie aber den Staat beherrschen? – Dafür gibt es nur zwei Mittel: entweder die politische Revolution oder die legale Volksagitation für friedliche Reformen. Lassalle riet als Deutscher, als Jude, als Gelehrter und als reicher Mann zum zweiten Weg. In diesem Sinne und mit diesem Ziel bildete er die im wesentlichen politische Partei der deutschen Arbeiter, organisierte sie hierarchisch und unterwarf sie einer strengen Disziplin und seiner Diktatur, mit einem Wort, er machte das, was Marx in den letzten drei Jahren mit der Internationale machen wollte. Der Versuch von Marx ist gescheitert,+261 aber der von Lassalle hatte vollen Erfolg. Als unmittelbares und nächstes Ziel der Partei bestimmte er die friedliche Agitation im ganzen Volk, das sich das allgemeine Recht verschaffen sollte, seine staatlichen Vertreter und die Obrigkeit zu wählen. Wenn das Volk dieses Recht mit legalen Reformen erkämpft hat, so muß es nur noch seine Vertreter in das Volksparlament entsenden, welches dann mit einer Reihe von Erlassen und

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Gesetzen den bourgeoisen Staat in einen Volksstaat verwandeln wird. Erste Tat des Volksstaats wird es sein, den Produktions- und Konsumgenossenschaften der Arbeiter unbegrenzten Kredit zu gewähren, denn nur dann sind sie in der Lage, das bourgeoise Kapital zu bekämpfen und in kurzer Zeit zu besiegen und zu vereinnahmen. Wenn dann der Prozeß der Vereinnahmung abgeschlossen sein wird, dann beginnt die Periode einer radikalen Umwandlung der Gesellschaft. Das ist das Programm Lassalles wie auch der sozialdemokratischen Partei. Eigentlich ist es aber nicht von Lassalle, sondern von Marx, der es im bekannten ›Manifest der Kommunistischen Partei‹ voll zum Ausdruck gebracht hat, das er mit Engels 1848 veröffentlicht hat. Ein deutlicher Hinweis darauf findet sich auch im ersten ›Manifest der Internationalen Assoziation‹,+262 das von Marx 1864 geschrieben worden ist, und zwar in den Worten: »Politische Macht zu erobern ist daher jetzt die große Pflicht der Arbeiterklassen«, oder, wie es im Kommunistischen Manifest heißt, »der erste Schritt in der Revolution der Arbeiter muß darin bestehen, das Proletariat auf die Stufe der herrschenden Klasse zu erheben. Das Proletariat muß alle Produktionsmittel in den Händen des Staats, d.h. des Proletariats konzentrieren, das zur herrschenden Klasse erhoben worden ist.«+263 Es ist wohl klar, daß sich das Programm Lassalles in nichts von dem Programm von Marx unterscheidet, den er als seinen Lehrer angesehen hat. Mit der wahrhaft genialen Klarheit, die seine Werke auszeichnet, spricht es Lassalle in der Broschüre gegen Schulze-Delitzsch, in der seine Grundvorstellungen von der sozial-politischen Entwicklung der modernen Gesellschaft dargelegt werden, geradezu aus, daß diese Ideen und sogar die Terminologie nicht seine eigene, sondern die von Marx sei, der sie erstmals in seinem bemerkenswerten und noch unveröffentlichten Werk benutzt und entwickelt habe.+264 Um so merkwürdiger scheint der Protest von Marx, den er nach dem Tode von Lassalle in der Einführung zu seinem Werk ›Das Kapital‹ gedruckt hat.+265 Marx beklagt sich bitter dar-

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über, daß Lassalle ihn bestohlen und sich seine Ideen angeeignet habe. Ein äußerst merkwürdiger Protest bei einem Kommunisten, der das Kollektiv-Eigentum verkündet und nicht begreift, daß eine Idee, die einmal ausgesprochen ist, aufhört, Eigentum eines Einzelnen zu sein. Etwas anderes wäre es, wenn Lassalle eine oder mehrere Seiten abgeschrieben hätte – das wäre Diebstahl und der Beweis dafür, daß der Schreiber geistig unselbständig ist, unfähig, übernommene Ideen umzuformen und in eigener geistiger Arbeit, in selbständiger Form vorzubringen. So verfahren nur ehrgeizige und unehrliche Leute ohne jede geistige Fähigkeit – Raben, die sich mit Pfauenfedern schmücken. Lassalle war viel zu gescheit und selbständig, als daß er es nötig gehabt hätte, auf so klägliche Mittel zurückzugreifen, um die Aufmerksamkeit des Publikums auf sich zu lenken. Er war ehrgeizig, sehr ehrgeizig, wie es sich für einen Juden gehört, dabei aber von so glänzenden Fähigkeiten, daß er mühelos den Forderungen auch der größten Eitelkeit genügen konnte. Er war gescheit, gelehrt, reich, gewandt und sehr mutig; er besaß in höchstem Maße Dialektik, die Gabe des Wortes, und Klarheit im Erfassen und Darstellen. Im Gegensatz zu seinem Lehrer Marx, der in der Theorie, der unterirdischen Intrige und hinter den Kulissen stark ist, dafür aber im Rampenlicht der Öffentlichkeit jegliche Bedeutung und Stärke verliert, war Lassalle wie geschaffen für den offenen Kampf im praktischen Bereich. Dialektische Gewandtheit und Stärke der Logik, die durch Eigenliebe erregt und im Kampf gesteigert wurde, ersetzte bei ihm die Kraft starker Überzeugung. Auf das Proletariat übte er eine sehr starke Wirkung aus, doch war er keineswegs volkstümlich. Nach seinen ganzen Lebensumständen, Gewohnheiten und seinem Geschmack gehörte er zur höheren bourgeoisen Klasse, zur sogenannten jeunesse dorée. Natürlich rümpfte er darüber die Nase, übertraf sie an Verstand und stellte sich dank diesem Verstand an die Spitze des deutschen Proletariats. Im Verlauf von wenigen Jahren erlangte er ungeheure Popularität.

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Die ganze liberale und demokratische Bourgeoisie haßte ihn zutiefst, seine Gesinnungsgenossen, die Sozialisten, Marxisten, ja sein Lehrer Marx selbst, konzentrierten die ganze Kraft ihres mißgünstigen Neides auf ihn. Ja, sie haßten ihn ebensosehr, wie die Bourgeoisie; doch solange er lebte, wagten sie nicht, ihm ihren Haß offen zu erklären, denn er war ihnen zu stark. Wir haben schon verschiedentlich unserer tiefen Abneigung gegen die Theorie von Lassalle und Marx Ausdruck verliehen, die den Arbeitern, wenn nicht als letztes Ideal, so doch wenigstens als nächstes Hauptziel – die Gründung eines Volksstaates empfiehlt, der nach ihren Erläuterungen nichts anderes sein wird, als das »zur herrschenden Klasse erhobene Proletariat.« Es fragt sich, wenn das Proletariat die herrschende Klasse sein wird, über wen es dann herrschen soll? Das heißt doch, es bleibt noch ein anderes Proletariat, welches dieser neuen Herrschaft, diesem neuen Staat unterworfen wird. So wird z.B. sicherlich das gemeine Bauernvolk, das bekanntlich bei den Marxisten kein Wohlwollen genießt und das auf der niedrigsten Kulturstufe steht, durch das Stadt- und Industrieproletariat regiert werden; oder wenn man dieses Problem vom nationalen Standpunkt aus betrachtet, so werden aus demselben Grund etwa die Slawen in die gleiche sklavische Abhängigkeit zum siegreichen deutschen Proletariat geraten, in der sich dieses Proletariat zu seiner Bourgeoisie befindet. Solange es einen Staat gibt, muß es auch Herrschaft geben und folglich auch Sklaverei; ein Staat ohne offene oder verborgene Sklaverei ist undenkbar – das ist der Grund, weshalb wir Feinde des Staates sind. Was soll das heißen, das zur herrschenden Klasse erhobene Proletariat? Soll etwa das ganze Proletariat an der Spitze der Regierung stehen? Es gibt ungefähr vierzig Millionen Deutsche. Sollen etwa alle vierzig Millionen Regierungsmitglieder werden? Das ganze Volk wird regieren, und es wird keine Regierten geben. Dann wird es keine Regierungen, keinen Staat geben, denn wenn es einen Staat gibt, dann gibt es auch Regierte, gibt es Sklaven.

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Dies Dilemma in der Theorie der Marxisten wird einfach gelöst. Unter Volksregierung verstehen sie die Regierung des Volkes durch eine kleine Anzahl von Repräsentanten, die durch das Volk gewählt werden. Das allgemeine und gleiche Recht auf Wahl der sogenannten Volksvertreter und der Regierung des Staates für das ganze Volk – dieses letzte Wort der Marxisten wie auch der demokratischen Schule ist eine Lüge, hinter der sich der Despotismus einer herrschenden Minderheit verbirgt, und zwar eine um so gefährlichere, als sie sich als Ausdruck des sogenannten Volkswillens gibt. So kommt man also, von welchem Standpunkt auch immer man dieses Problem betrachten mag, stets zu demselben traurigen Resultat: zur Beherrschung der großen Mehrheit der Volksmasse durch eine privilegierte Minderheit. Diese Minderheit aber, so sagen die Marxisten, wird aus Arbeitern bestehen. Mit Verlaub, aus ehemaligen Arbeitern, die aber, kaum sind sie zu Volksvertretern geworden oder an die Regierung gelangt, aufhören, Arbeiter zu sein und vielmehr auf die ganze Welt der einfachen Arbeiter von der Höhe des Staats herabzusehen beginnen; und so werden sie bereits nicht mehr das Volk, sondern sich selbst repräsentieren und ihren Anspruch darauf, das Volk zu regieren. Wer das bezweifelt, der kennt die menschliche Natur nicht. Diese Auserwählten aber sind dann glühend überzeugte und dazu noch gelehrte Sozialisten. – Die Worte »gelehrter Sozialist«, »wissenschaftlicher Sozialismus«, denen man in den Werken und Reden der Anhänger von Lassalle und Marx ständig begegnet, beweisen allein schon, daß der sogenannte Volksstaat nichts anderes sein wird als die äußerst despotische Regierung der Volksmassen durch eine neue und zahlenmäßig sehr kleine Aristokratie wirklicher oder angeblicher Gelehrter. Das Volk ist nicht gelehrt, d.h. es wird vollkommen von der Sorge der Regierung befreit werden, wird gänzlich in die Herde der Regierten eingeschlossen. Eine schöne Befreiung! Diesen Widerspruch spüren die Marxisten; sie erkennen, daß eine Regierung durch Gelehrte, die das Drückendste, Hassenswerteste und Verachtungswürdigste auf der Welt ist, trotz

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aller demokratischen Formen eine wahre Diktatur sein wird, und trösten sich bei dem Gedanken, daß diese Diktatur nur befristet und kurz sein wird. Sie sagen, daß ihre einzige Sorge, ihr einziges Ziel sein wird, das Volk zu bilden und sowohl wirtschaftlich wie auch politisch auf ein solches Niveau zu heben, daß jede Regierung bald unnötig wird und sich der Staat, der jeden politischen, d.h. staatlichen Charakter verloren haben wird, von allein in eine völlig freie Organisation ökonomischer Interessen und Gemeinden verwandeln wird. Hier ist ein offener Widerspruch. Wenn ihr Staat ein wahrer Volksstaat sein soll, weshalb sollte man ihn dann abschaffen, und wenn seine Abschaffung notwendig ist für die wahre Befreiung des Volkes, wie können sie dann wagen, ihn einen Volksstaat zu nennen? Mit unserer Polemik gegen sie haben wir sie zu dem Eingeständnis gebracht, daß Freiheit oder Anarchie, d.h. die freie Organisation der Arbeitermassen von unten nach oben, das letzte Ziel der gesellschaftlichen Entwicklung ist und daß jeder Staat, einschließlich ihres Volksstaates, ein Joch ist, was bedeutet, daß er Despotismus auf der einen und Sklaverei auf der anderen Seite erzeugt. Sie behaupten, daß ein solches staatliches Joch, eine Diktatur, ein unvermeidliches und vorübergehendes Mittel zur vollständigen Befreiung des Volkes sei: Anarchie oder Freiheit ist das Ziel, Staat oder Diktatur – das Mittel.+266 So ist es also zur Befreiung der Volksmassen erst nötig, sie zu knechten. Bei diesem Widerspruch hat unsere Polemik bisher haltgemacht. Sie versichern, daß allein die Diktatur, natürlich die ihre, die Freiheit des Volkes schaffen kann; wir dagegen behaupten, daß eine Diktatur kein anderes Ziel haben kann als nur das eine, sich zu verewigen, und daß sie in dem Volk, das sie erträgt, nur Sklaverei zeugen und nähren kann; Freiheit kann nur durch Freiheit geschaffen werden, d.h. durch einen allgemeinen Volksaufstand und durch die freie Organisation der Arbeitermassen von unten nach oben. Im zweiten Teil dieses Buches wird diese Frage, um die das ganze Interesse der zeitgenössischen Geschichte kreist, noch

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detaillierter und näher behandelt werden. Jetzt möchten wir die Aufmerksamkeit der Leser auf das folgende sehr bemerkenswerte und sich unfehlbar wiederholende Faktum lenken. Während die politisch-soziale Theorie der staatsfeindlichen Sozialisten oder Anarchisten notwendig und direkt zum völligen Bruch mit allen Regierungen, allen Arten von bourgeoiser Politik führt und keinen anderen Ausweg als die soziale Revolution kennt, lenkt die entgegengesetzte Theorie, die Theorie der Staatskommunisten und der wissenschaftlichen Autorität, ihre Anhänger ebenso notwendig und unter dem Vorwand der politischen Taktik in ständige Machenschaften mit den Regierungen und den verschiedenen bourgeoisen politischen Parteien und verstrickt sich darin, d.h. drängt sie direkt in die Reaktion. Der beste Beweis dafür ist Lassalle. Wer kennte nicht seine Beziehungen und Unterhandlungen mit Bismarck.+267 Die Liberalen und Demokraten, gegen die er einen unerbittlichen und äußerst erfolgreichen Kampf geführt hat, haben das benutzt, um ihn der Käuflichkeit zu bezichtigen. Genau dasselbe, wenn auch nicht so offen, haben die persönlichen Anhänger von Marx in Deutschland untereinander getuschelt. Doch die einen wie die anderen haben gelogen. Lassalle war reich und hätte sich um nichts verkauft; er war viel zu klug, viel zu stolz, als daß er der Rolle eines selbständigen Agitators die undankbare Stellung eines Agenten der Regierung, oder was es auch immer sei, vorgezogen hätte. Wir sagten, daß Lassalle kein Mann des Volkes war, er war viel zu stutzerhaft, als daß er das Proletariat außerhalb der Meetings aufgesucht hätte, bei denen er es gewöhnlich mit seinen geistreichen und glänzenden Reden magnetisch anzog; viel zu sehr vom Reichtum und den damit verbundenen Gewohnheiten einer luxuriös-anspruchsvollen Existenz verwöhnt, als daß er an der Gesellschaft des Volkes Vergnügen gefunden hätte; viel zu sehr Jude, als daß er sich im Volke wohlgefühlt hätte, und schließlich viel zu sehr vom Bewußtsein seiner geistigen Überlegenheit erfüllt, als daß er nicht dem unwissenden einfachen Arbeitervolk

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gegenüber eine gewisse Verachtung empfunden hätte, zu dem er sich eher wie ein Arzt zum Kranken als wie ein Bruder zum Bruder verhielt. In diesen Grenzen hat er sich der Sache des Volkes ernsthaft gewidmet, wie sich ein ehrlicher Arzt der Heilung seines Patienten widmet, in dem er übrigens nicht so sehr den Menschen wie das Subjekt sieht. Wir sind zutiefst davon überzeugt, daßer so weit ehrlich und stolz war, daß er um nichts in der Welt die Sache des Volkes verraten hätte. Es ist vollkommen unnötig, mit niederträchtigen Unterstellungen Lassalles Beziehungen und Unterhandlungen mit dem preußischen Minister zu erklären. Wie schon gesagt, befand sich Lassalle in offenem Krieg mit allen Schattierungen von Liberalen und Demokraten und verachtete diese unschuldigen Redekünstler aufs äußerste, deren Hilflosigkeit und Unfähigkeit er klar erkannte; Bismarck war ihnen, wenn auch aus anderen Gründen, ebenso feindlich gesinnt – das war der erste Vorwand zur Annäherung. Doch der Hauptgrund für ihre Annäherung bestand im politisch-sozialen Programm Lassalles, in der kommunistischen von Marx geschaffenen Theorie. Hauptpunkt dieses Programms war: die (angebliche) Befreiung des Proletariats allein durch den Staat. Doch dafür war nötig, daß der Staat damit einverstanden war, Befreier des Proletariats vom Joch des bourgeoisen Kapitals zu sein. Wie sollte man dem Staat einen solchen Willen einflößen? Dafür kann es nur zwei Mittel geben. Entweder macht das Proletariat eine Revolution, um den Staat zu unterwerfen – das ist das heroische Mittel. Unserer Ansicht nach muß es diesen Staat, sowie es ihn beherrscht, als das ewige Gefängnis der Volksmassen unbedingt zerstören; nach der Theorie von Marx darf das Volk ihn nicht nur nicht zerstören, es muß ihn im Gegenteil unterstützen und stärken und sich in dieser Hinsicht seinen Wohltätern, Vormündern und Lehrern, den Anführern der kommunistischen Partei, voll zur Verfügung stellen, mit einem Wort, Marx und seinen Freunden, die die Befreiung auf ihre Art beginnen. Sie werden die Zügel der Regierung in einer starken Hand konzentrieren, weil das unwissende Volk einer sehr star-

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ken Betreuung bedarf; sie werden eine einzige Staatsbank gründen, die die ganze kommerziell-industrielle, landwirtschaftliche und sogar wissenschaftliche Produktion auf sich konzentriert, und die Masse des Volkes in zwei Armeen aufteilen: in eine industrielle und in eine landwirtschaftliche, unter dem unmittelbaren Kommando von staatlichen Ingenieuren, welche eine neue privilegierte, wissenschaftlich-politische Klasse bilden werden.+268 Man sieht, welch ein glänzendes Ziel dem Volk von der Schule der deutschen Kommunisten gesetzt wird! Doch um all diese Segnungen zu erlangen, läßt es sich nicht vermeiden, vorher einen ganz kleinen unschuldigen Schritt zu tun – die Revolution! Nun, da kann man warten, bis die Deutschen Revolution machen! Endlos über die Revolution debattieren – bitte sehr, aber sie machen ... Die Deutschen selbst glauben nicht an eine deutsche Revolution. Ein anderes Volk müßte sie wenigstens beginnen, oder irgendeine Kraft von außen müßte sie ziehen oder stoßen; von selbst können sie niemals über das Räsonieren hinauskommen. Folglich müssen sie ein anderes Mittel suchen, um den Staat zu beherrschen. Sie müssen die Sympathie derer gewinnen, die an der Spitze des Staates stehen oder stehen können. Zur Zeit Lassalles ebenso wie auch heute stand Bismarck an der Spitze des Staates. Wer könnte auch an seiner Stelle stehen? Die liberale und die demokratisch-progressistische Partei waren besiegt; es blieb nur noch die rein demokratische, die sich in der Folge die Bezeichnung »Volkspartei« zugelegt hat. Doch im Norden war sie verschwindend klein, im Süden ein wenig stärker, strebte dafür aber direkt eine Hegemonie des österreichischen Kaiserreichs an. Die letzten Ereignisse haben gezeigt, daß es in dieser exklusiv-bourgeoisen Partei an jeglicher inneren Selbständigkeit und Kraft fehlte. 1870 zerfiel sie endgültig. Lassalle war vor allem mit praktischem Instinkt und praktischem Verstand begabt, was Marx und seinen Anhängern abgeht. Wie alle Theoretiker ist auch Marx in der Praxis ein

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unverbesserlicher Träumer. Das hat er mit seiner unglückseligen Kampagne in der Internationalen Assoziation bewiesen, die er mit dem Ziel unternommen hat, seine Diktatur über die Internationale und durch die Internationale über alle revolutionären Bewegungen des Proletariats in Europa und Amerika zu erreichen. Man muß schon entweder den Verstand verloren haben oder ein ganz weltfremder Gelehrter sein, wenn man sich ein solches Ziel setzt. Marx hat in diesem Jahr eine vollständige und wohlverdiente Niederlage erlitten,+261 doch wird sie ihn wohl kaum vor seinen ehrgeizigen Träumen bewahren. Dank eben dieser Träumereien und aus dem Wunsch heraus, Verehrer und Anhänger auch unter der Bourgeoisie zu gewinnen, hat Marx das Proletariat immer wieder zu Unterhandlungen mit den bourgeoisen Radikalen gedrängt. Der Erziehung und der Natur nach ist er Jakobiner und sein Lieblingstraum – die politische Diktatur. Gambetta und Castelar – das sind seine wahren Ideale. Er strebt ihnen mit Herz und Sinnen nach, und wenn er sich in der letzten Zeit von ihnen lossagen mußte, so nur deshalb, weil sie sich nicht zu Sozialisten verstellen konnten. In diesem Verlangen nach Unterhandlungen mit der radikalen Bourgeoisie, das sich bei Marx in den letzten Jahren stärker gezeigt hat, liegt ein zweifacher Traum: Erstens wird die radikale Bourgeoisie, wenn es ihr gelingen sollte, die staatliche Macht an sich zu reißen, diese zum Nutzen des Proletariats gebrauchen wollen und auch können; und zweitens wird die radikale Partei mit der Herrschaft im Staat auch eines Tages in der Lage sein, der Reaktion standzuhalten, deren Wurzeln in ihr selbst liegen. Die bürgerlich radikale Partei wird von der Masse der einfachen Arbeiter dadurch getrennt, daß sie in ihren ökonomischen und politischen Interessen wie auch ihren Lebensgewohnheiten, ihrem Ehrgeiz, ihrer Eitelkeit und ihren Vorurteilen tief, man kann schon sagen, organisch mit der Klasse der Ausbeuter verbunden ist. Wie könnte sie also die Macht zu Gunsten dieses Volkes gebrauchen wollen, auch wenn sie mit Hilfe des

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Volkes erobert worden ist? Das wäre doch der Selbstmord einer ganzen Klasse, ein solcher Selbstmord aber ist undenkbar, Die heftigsten und rötesten Demokraten sind schon immer in einem solchen Maße bürgerlich gewesen, daß es jederzeit genügte, wenn von der Seite des Volkes sozialistische Forderungen und Instinkte auch nur annähernd ernsthaft, thesenhaft erklärt wurden, um sie sofort in die heftigste und wahnwitzigste Reaktion zu drängen. Das ist logisch notwendig, ja und sogar abgesehen von jeder Logik erweist die ganze neuere Geschichte diese Notwendigkeit. Man braucht nur an den eindeutigen Verrat der roten republikanischen Partei in den Junitagen von 1848 zu erinnern; und als sei es gleichsam mit diesem Beispiel und der darauf folgenden zwanzigjährigen bitteren Lektion durch Napoleon III. noch nicht genug, wiederholte sich in Frankreich 1870-71 noch einmal das Gleiche. Gambetta und seine Partei haben sich als äußerst heftige Gegner des revolutionären Sozialismus gezeigt. Sie haben das an Händen und Füßen gebundene Frankreich an die Reaktion verraten, die dort jetzt ihr Unwesen treibt. Ein weiteres Beispiel gibt Spanien. Die äußerst radikale politische Partei (le parti intransigente) erwies sich als heftigster Feind des internationalen Sozialismus. Jetzt erhebt sich eine weitere Frage: Ist die radikale Bourgeoisie in der Lage, einen siegreichen Umsturz ohne allgemeinen Volksaufstand zu machen? Es genügt, diese Frage zu stellen, um sie negativ zu beantworten; natürlich nicht, d.h. nicht die Bourgeoisie ist für das Volk nötig, sondern das Volk für die Bourgeoisie zur Durchführung der Revolution. Das ist überall deutlich geworden, in Rußland noch deutlicher als irgendwo sonst. Man muß nur unsere ganze räsonierende und von der Revolution träumende adlig-bourgeoise Jugend zusammennehmen, doch erstens, wie kann man sie zu einem lebendigen Ganzen mit gleichem Sinn und Ziel verbinden? Sie kann sich nur dann einigen, wenn sie sich ins Volk begibt, außerhalb des Volkes wird sie immer eine sinnlose, willenlose, geschwätzige und völlig kraftlose Menge darstellen.

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Die besten Leute aus der bourgeoisen Welt, bourgeois nach Herkunft und nicht nach Überzeugung oder Streben, können nur unter der Bedingung nützlich sein, daß sie im Volk, in der alleinigen Sache des Volkes aufgehen; wenn sie dagegen weiterhin neben dem Volk leben, dann werden sie nicht nur nutzlos, sondern entschieden schädlich für das Volk. Die radikale Partei ist eine besondere Partei; sie lebt und handelt außerhalb des Volkes. Was zeigt ihr Streben nach einem Bündnis mit dem einfachen Arbeitervolk? Nicht mehr und nicht weniger als das Bewußtsein ihrer Ohnmacht, das Bewußtsein, daß sie notwendig die Hilfe des Volkes braucht, um die Macht im Staat zu erringen – natürlich nicht zum Nutzen des Volkes, sondern zu ihrem eigenen. Wenn sie sie erst erlangt haben wird, so wird sie unweigerlich zum Feind des Volkes; indem sie zum Feind wird, verliert sie ihren Stützpunkt, die frühere Kraft des Volkes, und um die Macht zu halten, wenn auch nur befristet, ist sie gezwungen, nach neuen Kraftquellen – nun bereits gegen das Volk – im Bund und Einvernehmen mit den besiegten reaktionären Parteien zu suchen. So geht sie von Zugeständnis zu Zugeständnis, von Verrat zu Verrat und wird schließlich sich selbst und das Volk der Reaktion ausliefern. Man höre nur, was jetzt Castelar sagt, der leidenschaftliche Republikaner, den man zum Diktator gemacht hat: »Die Politik lebt von Zugeständnissen und Geschäften, deshalb habe ich die Absicht, Generäle aus der gemäßigten monarchistischen Partei an die Spitze der republikanischen Armee zu stellen.« Zu was für einem Resultat das führt, das ist natürlich jedem klar. Lassalle hat das als praktischer Mensch ausgezeichnet begriffen; außerdem hat er die ganze deutsche Bourgeoisie zutiefst verachtet, weshalb er den Arbeitern nicht raten konnte, sich mit irgendeiner bourgeoisen Partei zu verbünden. Es blieb die Revolution; doch kannte Lassalle seine Landsleute viel zu gut, als daß er von ihnen eine revolutionäre Initiative erwartet hätte. Was blieb ihm also? Nur das eine – sich mit Bismarck zu verbünden.

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Der Punkt, an dem man sich einigte, wurde durch die Theorie von Marx gegeben, nämlich: der einige, große straff-zentralisierte Staat. Lassalle wollte ihn, und Bismarck handelte bereits. Wie hätten sie nicht zusammenfinden sollen? Vom Antritt seines Ministeramts an, mehr noch, seit der Zeit des preußischen Parlaments von 1848 hat Bismarck bewiesen, daß er ein Feind der Bourgeoisie ist, ein Feind, der sie verachtet; seine gegenwärtige Tätigkeit zeigt, daß er weder Fanatiker noch Sklave der adlig-feudalen Partei ist, der er der Herkunft und der Erziehung nach angehört und der er, mit Hilfe der zerschlagenen, unterworfenen und ihm sklavisch ergebenen Partei der bourgeoisen Liberalen, Demokraten, Republikaner und sogar Sozialisten, den Hochmut austreibt und die er auf einen staatlichen Nenner zu bringen bemüht ist. Hauptziel ist bei ihm, wie auch bei Lassalle und Marx, der Staat. Deshalb erwies sich Lassalle als ungleich logischer und praktischer als Marx, welcher Bismarck als Revolutionär, natürlich auf seine Art, anerkannte+167 und der von seinem Sturz träumte, offensichtlich deshalb, weil er den ersten Platz im Staat einnimmt, der doch, nach der Meinung von Marx, ihm gebührt. Lassalle hatte offensichtlich keinen so großen Ehrgeiz, deshalb ließ er es sich nicht verdrießen, mit Bismarck Beziehungen anzuknüpfen. In völliger Übereinstimmung mit dem politischen Programm, wie es von Marx und Engels im ›Kommunistischen Manifest‹ dargelegt worden ist, forderte Lassalle von Bismarck nur das eine: den Arbeiter-Produktions-Genossenschaften staatlichen Kredit zu gewähren.+269 Außerdem aber – und das zeigt das Maß an Vertrauen, das er zu Bismarck hatte – begann er entsprechend diesem Programm unter den Arbeitern mit friedlich-legaler Agitation für die Erlangung des Wahlrechtes – ein weiterer Traum, über den wir unsere Meinung bereits geäußert haben. Der unerwartete und vorzeitige Tod Lassalles+270 ließ ihn seine Pläne nicht nur nicht zu Ende bringen, ja er konnte sie nicht einmal auch nur im geringsten entfalten. Nach dem Tode Lassalles begann sich in Deutschland in der freien Föderation der Arbeiterbildungsvereine+271 und dem von

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Lassalle gegründeten Allgemeinen Deutschen Arbeiterverein unter dem unmittelbaren Einfluß der Freunde und Anhänger von Marx eine dritte Partei zu bilden – die »sozialdemokratische Partei der deutschen Arbeiter«.+272 An ihrer Spitze standen zwei sehr begabte Männer, der eine ein halber Arbeiter, der andere Literat und direkter Schüler und Agent von Marx: Bebel und Liebknecht. Wir haben bereits von den traurigen Folgen der Reise Liebknechts nach Wien 1868 berichtet. Ergebnis dieser Reise war der Nürnberger Kongreß (im August 1868), auf dem sich die sozialdemokratische Partei endgültig formierte.+273 Es war die Absicht ihrer Gründer, die unter der unmittelbaren Leitung von Marx handelten, sie zur pangermanischen Sektion der Internationalen Arbeiter-Assoziation zu machen. Doch standen die deutschen und besonders die preußischen Gesetze einer solchen Vereinigung entgegen. Deshalb wurde es nur nebenbei erwähnt, nämlich in den folgenden Formulierungen: »Die Sozialdemokratische Partei der deutschen Arbeiter steht im Bund mit der Internationalen Assoziation, soweit es die deutschen Gesetze zulassen.«+274 Zweifellos wurde diese neue Partei in Deutschland mit der geheimen Hoffnung und dem Hintergedanken gegründet, mit ihr das ganze Programm von Marx, das durch den ersten Genfer Kongreß (1866) entfernt worden war, in die Internationale einzuführen.+275 Das Programm von Marx wurde zum Programm der sozialdemokratischen Partei. Es werden darin zunächst einige der Hauptparagraphen des Programms der Internationale wiederholt, das vom ersten Genfer Kongreß anerkannt worden ist; doch dann vollzieht sich plötzlich ein schroffer Übergang zur »Eroberung der politischen Macht«,+276 die den deutschen Arbeitern als »nächstes und unmittelbarstes Ziel« der neuen Partei empfohlen wird, worauf der folgende bemerkenswerte Satz folgts: »Die Eroberung der politischen Rechte (allgemeines Wahlrecht, Freiheit der Presse, Freiheit der Vereinsgründung und öffentlichen Versammlungen usw.) als unbedingte Vor-Bedingung für die ökonomische Befreiung der Arbeiter.«+277

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Dieser Satz hat die Bedeutung: Ehe sie mit der sozialen Revolution beginnen, sollen die Arbeiter eine politische Revolution machen oder, was der Natur der Deutschen noch eher entspricht, die politischen Rechte erobern oder, noch einfacher, durch friedliche Agitation erlangen. Da aber keine politische Bewegung, ganz gleich ob vor oder außerhalb der sozialen, etwas anderes sein kann als eine bourgeoise Bewegung, so folgt daraus, daß dieses Programm den deutschen Arbeitern empfiehlt, sich vor allem bourgeoise Interessen und Ziele zu eigen zu machen und eine politische Bewegung durchzuführen zum Nutzen der radikalen Bourgeoisie, welche dann ihrerseits aus Dankbarkeit das Volk nicht befreit, sondern es einer neuen Gewalt, neuer Ausbeutung unterwirft. Auf der Grundlage dieses Programms vollendete sich die rührende Versöhnung der deutschen und österreichischen Arbeiter mit den bourgeoisen Radikalen der »Volkspartei«. Nach Beendigung des Nürnberger Kongresses begaben sich die Delegierten, die vom Kongreß mit diesem Ziel gewählt worden waren, nach Stuttgart, wo zwischen den Vertretern der betrogenen Arbeiter und den Rädelsführern der bourgeois-radikalen Partei ein formelles Schutz- und Trutzbündnis geschlossen wurde.+278 In Folge dieses Bündnisses erschienen sie gemeinsam als Brüder auf dem zweiten Kongreß der Liga für Frieden und Freiheit, der im September in Bern+279 eröffnet wurde. Dort begab sich etwas sehr Bemerkenswertes. Wenn auch nicht alle, so haben doch zumindest viele unserer Leser von der Spaltung gehört, die sich erstmals auf diesem Kongreß zwischen den bourgeoisen Sozialisten und Demokraten und den revolutionären Sozialisten vollzog, die zur Partei der sogenannten Allianz gehörten,+280 oder ihr danach beitraten.14

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Diejenigen, welche darüber noch nicht Bescheid wissen, können die wichtigsten Informationen dazu aus dem zweiten Band unserer Veröffentlichungen erfahren, nämlich in ›Die historische Entwicklung der Internationale‹, Teil I, S. 301-365, 1873.+281

Die Frage, die den äußeren Anlaß zu diesem Bruch gab, der bereits wesentlich früher schon unvermeidlich geworden war, wurde von Mitgliedern der Allianz äußerst bestimmt und klar gestellt. Sie wollten die bourgeoisen Demokraten und Sozialisten überführen, ja sie dazu zwingen, offen nicht nur ihre Gleichgültigkeit, sondern ihr entschieden feindliches Verhältnis zu der Frage auszusprechen, die allein eine Frage des Volkes genannt werden kann – nämlich zur sozialen Frage. Deshalb schlugen sie der Liga für Frieden und Freiheit vor, als Hauptziel all ihrer Bestrebungen »die Gleichmachung der Personen« (nicht nur in politischer oder juristischer, sondern vor allem in ökonomischer Beziehung) »und Klassen« (im Sinne ihrer völligen Abschaffung) anzuerkennen.+282 Mit einem Wort, sie forderten die Liga auf, das sozial-revolutionäre Programm anzunehmen. Sie gaben ihrem Vorschlag bewußt eine äußerst gemäßigte Form, damit die Gegner, die Mehrheit der Liga, keine Möglichkeit hätten, ihre Absage als Einwand gegen eine allzu schroffe Fragestellung zu maskieren. Sie sagten deutlich: »Wir berühren jetzt noch nicht die Frage nach den Mitteln, dieses Ziel zu erreichen. Wir fragen Euch, wollt Ihr die Verwirklichung dieses Ziels? Erkennt Ihr es als rechtmäßiges und zur Zeit wesentlichstes, um nicht zu sagen einziges Ziel an? Wollt Ihr, wünscht Ihr die Verwirklichung der völligen – nicht nur der physiologischen oder ethnographischen, sondern auch sozial-ökonomischen Gleichheit unter den Menschen, gleichgültig welchem Teil der Welt, welchem Volk oder welchem Geschlecht sie angehören? Wir sind davon überzeugt, und die ganze neueste Geschichte ist ein Beweis dafür, daß Freiheit undenkbar ist und eine Lüge bleibt, solange die Menschheit in eine Minderheit von Ausbeutern und eine Mehrheit von Ausgebeuteten unterteilt ist. Wenn Ihr die Freiheit für alle wollt, dann müßt Ihr mit uns die Gleichheit aller wollen. Wollt Ihr sie, ja oder nein?«+283 Wenn die Herren bourgeoisen Demokraten und Sozialisten klüger gewesen wären, hätten sie, um ihre Ehre zu retten, ja geantwortet, doch als praktische Leute die Verwirklichung die-

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ses Ziels auf recht ferne Zeiten verschoben. Die Anhänger der Allianz fürchteten eine solche Antwort, verabredeten im voraus untereinander, in diesem Fall die Frage nach den Wegen und Mitteln zu stellen, die zum Erreichen dieses Ziels notwendig seien. Dann hätte sich zunächst die Frage nach dem kollektiven und individuellen Eigentum erhoben, nach der Vernichtung des juristischen Rechts und nach dem Staat. Für die Mehrheit des Kongresses wäre es wesentlich angenehmer gewesen, die Herausforderung auf diesem Gebiet anzunehmen als auf dem ersten. Die erste Frage war mit einer Klarheit gestellt worden, die keinerlei Ausflüchte zuließ. Die zweite Frage ist wesentlich komplizierter und gibt genügend Vorwände für eine Unmenge von Erläuterungen, so daß man mit einigem Geschick gegen einen Volkssozialismus sprechen und votieren und dennoch als Sozialist und Freund des Volkes gelten kann. In dieser Beziehung gibt uns die Schule von Marx viele Beispiele, und der deutsche Diktator ist so gastfreundlich (unter der notwendigen Voraussetzung, daß man sich ihm unterwirft), daß er unter seiner Fahne zur Zeit unzählige von Kopf bis Fuß bourgeoise Sozialisten und Demokraten birgt; selbst die Liga für Frieden und Freiheit könnte sich darunter flüchten, wenn sie nur damit einverstanden wäre, ihn als ersten Mann anzuerkennen. Wäre der bourgeoise Kongreß so vorgegangen, so wäre die Lage für die Anhänger der Allianz ungleich schwieriger geworden; zwischen der Liga und ihnen wäre derselbe Kampf ausgebrochen, der jetzt zwischen ihnen und Marx besteht. Doch die Liga erwies sich als dümmer und zugleich auch ehrlicher als die Marxisten; sie nahm den Kampf auf dem ersten ihr vorgeschlagenen Felde an und auf die Frage: »ob sie die ökonomische Freiheit wolle, ja oder nein?« – antwortete sie mit großer Mehrheit »nein«. Damit trennte sie sich endgültig vom Proletariat und verurteilte sich zu einem baldigen Tod. Sie starb und hinterließ nur zwei umherirrende und sich bitter beklagende Schatten: Amandus Goegg+284 und den Saint-Simonisten und Millionär Lemonnier.+285

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Kehren wir jetzt zu dem merkwürdigen Ereignis zurück, das auf diesem Kongreß geschah, nämlich: Die Delegierten, die aus Nürnberg und Stuttgart gekommen waren,+286 d.h. die Arbeiter, die vom Nürnberger Kongreß der neuen sozialdemokratischen Partei der deutschen Arbeiter+287 entsandt worden waren, und die bourgeoisen Schwaben der »Volkspartei« votierten mit der Mehrheit der Liga einmütig gegen die Gleichheit,+288 Es ist nichts Erstaunliches daran, daß Bourgeois so votiert haben, dafür sind sie Bourgeois. Kein Bourgeois, und sei er der röteste Revolutionär, kann ökonomische Gleichheit wollen, denn diese Gleichheit ist sein Tod. Doch wie konnten Arbeiter, Mitglieder der sozialdemokratischen Partei, gegen die Gleichheit stimmen? Ist das nicht ein Beweis dafür, daß sie das Programm, dem sie jetzt unterworfen sind, direkt auf ein Ziel hinführt, welches dem völlig entgegengesetzt ist, das ihnen von ihrer sozialen Stellung und ihrem Instinkt gewiesen wird; und dafür, daß ihr Bündnis mit den bourgeoisen Radikalen, das unter politischen Aspekten geschlossen worden ist, keineswegs auf der Vernichtung der Bourgeoisie durch das Proletariat, sondern im Gegenteil, auf der Unterwerfung des Proletariats durch die Bourgeoisie beruht. Bemerkenswert ist noch ein weiteres Faktum, daß der Brüsseler Kongreß der Internationale,+289 der seine Sitzungen wenige Tage vor dem Berner schloß, jegliche Solidarität mit dem letzteren ablehnte und daß alle Marxisten, die am Brüsseler Kongreß teilgenommen hatten, in diesem Sinne sprachen und abstimmten.+290 Auf welche Weise konnten dann andere Marxisten, die wie die ersten unter dem unmittelbaren Einfluß von Marx handelten, zu einer so rührenden Einmütigkeit mit der Mehrheit des Berner Kongresses kommen?+291 Alles das ist ein bisher ungelöstes Rätsel geblieben. Der gleiche Widerspruch zeigte sich im Verlauf des ganzen Jahres 1868 und sogar noch nach 1869 im ›Volksstaat‹, dem wichtigsten, man kann sagen offiziellen Organ der sozialdemokratischen Partei der deutschen Arbeiter, das von Bebel und Liebknecht herausgegeben wird. Manchmal waren darin recht scharfe Ar-

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tikel gegen die bourgeoise Liga abgedruckt; doch folgten ihnen unfehlbar besänftigende Erklärungen, manchmal freundschaftlicher 'Tadel. Das Organ, das eigentlich die reinen Volksinteressen vertreten sollte, beschwor die Liga gleichsam, ihre allzu heftigen Kundgebungen bourgeoiser Instinkte zu bändigen, die die Verteidiger der Liga vor den Arbeitern kompromittierte.+292 Dieses Schwanken in der Partei von Marx dauerte bis zum September 1869 an, d.h. bis zum Baseler Kongreß. Dieser Kongreß machte Epoche in der Entwicklung der Internationale. Vorher hatten die Deutschen sich nur äußerst schwach an den Kongressen der Internationale beteiligt. Hier spielten die Arbeiter Frankreichs, Belgiens, der Schweiz und z.T. Englands die Hauptrolle. Jetzt aber erschienen die Deutschen,+293 die eine Partei auf dem oben erläuterten mehr bourgeois-politischen als volkstümlich-sozialen Programm aufgebaut hatten, auf dem Baseler Kongreß wie eine gut dressierte Kompanie und stimmten unter der strengen Aufsicht eines ihrer Rädelsführer, nämlich Liebknechts, wie ein Mann ab. Ihre erste Tat war natürlich, ihr Programm einzuführen mit dem Vorschlag, die politische Frage allen anderen Fragen voranzustellen. Es gab einen heftigen Kampf, bei dem die Deutschen eine entscheidende Niederlage+294 erlitten. Der Baseler Kongreß bewahrte das Programm der Internationale unverfälscht, und verhinderte, daß die Deutschen es mit der Einführung ihrer bourgeoisen Politik verstümmelten.+295 So begann die Spaltung in der Internationale, deren Ursache die Deutschen waren und blieben. Der im wesentlichen internationalen Assoziation wagten sie vorzuschlagen, ja wollten sie fast mit Gewalt ihr eng-bourgeoises und national-politisches, ausschließlich deutsches, pangermanisches Programm aufdrängen. Sie wurden aufs Haupt geschlagen, und diese Niederlage wurde nicht wenig von solchen Leuten gefördert, die zur Allianz der SozialRevolutionäre gehörten – von Allianzisten,+296 Daher der bittere Haß der Deutschen auf die ›Allianz‹, Das Ende des Jahres 1860 und die erste Hälfte von 1870 waren von bos-

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haftem Gezänk und noch boshafterem und nicht selten gemeinen Verleumdungen der Marxisten gegen Leute der ›Allianz‹ erfüllt.+297 Aber all das verstummte bald vor der militärisch-politischen Bedrohung, die sich in Deutschland zusammenzog und über Frankreich ausbreitete. Das Ende des Krieges+3 ist bekannt: Frankreich fiel, und Deutschland, das sich in ein Kaiserreich verwandelt hatte, nahm seinen Platz ein. Wir haben soeben gesagt, daß Deutschland den Platz Frankreichs eingenommen hat. Nein, es hat einen Platz eingenommen, den kein Staat bisher gehabt hat, nicht einmal das Spanien Karls V.; nur vielleicht das Reich Napoleons I. kann sich mit ihm an Macht und Einfluß messen. Wir wissen nicht, was geschehen wäre, wenn Napoleon III. gesiegt hätte. Zweifellos wäre es schlecht, sogar sehr schlecht gewesen; aber für die ganze Welt, für die Freiheit der Völker hätte es nicht schlimmer sein können als jetzt. Ein Sieg Napoleons III. hätte für die anderen Länder die gleichen Folgen gehabt wie eine akute Krankheit, die zwar qualvoll, aber nicht langwierig ist, denn in keiner einzigen Schicht der französischen Nation gibt es in ausreichendem Maße jenes organisch-etatistische Element, welches für eine Festigung und Verewigung des Sieges notwendig ist. Die Franzosen selbst hätten ihre vorübergehende Vorherrschaft zerstört, welche vielleicht ihrer Eitelkeit geschmeichelt hätte, doch für ihr Temperament unerträglich gewesen wäre. Der Deutsche ist etwas anderes. Er ist gleichzeitig zum Sklaven und zur Herrschaft geschaffen. Der Franzose ist Soldat nach seinem Temperament, seiner Prahlerei, aber er duldet keine Disziplin. Der Deutsche unterwirft sich bereitwillig auch der unerträglichsten, kränkendsten und schwersten Disziplin; er ist sogar bereit, sie zu lieben, wenn sie nur ihn, richtiger, seinen deutschen Staat, über alle anderen Staaten und Völker stellt. Wie sollte man sonst diese verrückte Begeisterung erklären, die die ganze deutsche Nation, alle, wirklich alle Schichten der deutschen Gesellschaft ergriffen hat, als sie die Nachricht

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von einer Reihe von glänzenden Siegen erhielt, die die deutschen Truppen errungen hatten, und schließlich die von der Einnahme von Paris? Alle in Deutschland wußten sehr wohl, daß ein unmittelbares Resultat der Siege ein entschiedenes Vorherrschen des militärischen Elementes sein würde, das sich auch schon vorher durch übermäßige Unverschämtheit ausgezeichnet hatte; und daß folglich für das Leben im Inneren der Triumph der reinsten Reaktion anbrechen würde; und was geschah? Kein einziger, oder fast kein einziger Deutscher erschrak, im Gegenteil, alle verbanden sich zu einmütiger Begeisterung. Die ganze schwäbische Opposition schmolz wie Schnee vom Glanz der neuen kaiserlichen Sonne. Die Volkspartei verschwand, und die Bürger, der Adel, die Bauern, Professoren, Künstler, Literaten und Studenten sangen im Chor den pangermanischen Triumph. Alle deutschen Vereine und Zirkel im Ausland begannen, Feste zu geben, und riefen »es lebe der Kaiser!«, derselbe, der 1849+298 die Demokraten gehängt hatte. Alle Liberalen, Demokraten und Republikaner wurden zu Bismarckianern; sogar in den Vereinigten Staaten, wo man doch anscheinend die Freiheit lernen und sich an sie gewöhnen konnte, feierten die begeisterten Millionen deutscher Auswanderer den Triumph des pangermanischen Despotismus. Eine so allgemein verbreitete Tatsache kann kein vorübergehendes Phänomen sein. Sie bringt die tiefe Leidenschaft ans Tageslicht, die in der Seele eines jeden Deutschen brennt, eine Leidenschaft, die als gleichsam unzertrennliche Elemente Befehl und Gehorsam, Herrschaft und Sklaverei in sich birgt. Und die deutschen Arbeiter? Nun, die deutschen Arbeiter taten nichts, nicht eine energische Kundgebung der Sympathie, des Mitgefühls mit den Arbeitern Frankreichs. Es gab nur sehr wenige Treffen, auf denen ein paar Sätze geäußert wurden, in denen der triumphierende Nationalstolz vor Äußerungen der internationalen Solidarität gleichsam verstummte. Und über Worte ging niemand hinaus, und dabei hätte man in dem von Truppen völlig freien Deutschland damals etwas beginnen und machen können. Es ist wahr, daß die meisten Arbeiter für

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die Armee geworben worden waren, wo sie den Pflichten eines Soldaten hervorragend nachkamen, d.h. alle auf Befehl der Obrigkeit schlugen, unterdrückten, mordeten und erschossen, außerdem auch plünderten. Einige schrieben zu eben der Zeit, wo sie ihre Soldatenpflichten in dieser Weise erfüllten, Beschwerdebriefe an den ›Volksstaat‹, in denen sie mit grellen Farben das barbarische Vorgehen der deutschen Truppen in Frankreich beschrieben.+299 Es gab jedoch auch einige Beispiele stärkerer Oppositionen; so etwa die Proteste des tapferen Alten, Jacoby, für die er Festungshaft bekam;+300 die Proteste von Liebknecht und Bebel, die sich noch bis jetzt in Festungshaft befinden.+301 Aber das waren vereinzelte und sehr rare Beispiele. Wir können nicht den Artikel vergessen, der im September 1870 im ›Volksstaat‹ erschien und in dem der pangermanische Triumph offen zutage trat. Er begann mit den folgenden Worten: »Dank den Siegen, die die deutschen Truppen errungen haben, ist die historische Initiative endgültig von Frankreich auf Deutschland übergegangen; wir Deutschen usw.«+302 Mit einem Wort, man kann ohne jede Ausnahme sagen, daß bei den Deutschen bis jetzt das triumphale Gefühl eines militärischen und politischen nationalen Sieges vorherrschend war. Das ist es, worauf vor allem die Macht des pangermanischen Reichs und seines großen Kanzlers, des Fürsten Bismarck, beruht. Die Eroberung reicher Gebiete, die Unmassen von eroberten Waffen und schließlich die fünf Milliarden, die es Deutschland ermöglichten, ein gewaltiges, ausgezeichnet ausgestattetes und perfektioniertes Heer zu unterhalten; die Gründung des Reichs und seine organische Unterwerfung unter die preußische Autokratie, der Aufbau neuer Festungen und schließlich der Aufbau der Flotte – all das begünstigt natürlich in bedeutendem Maße die Stärkung der pangermanischen Macht. Seinen Hauptrückhalt hatte es aber trotz allem in der tiefen und unleugbaren Sympathie des Volkes. Wie sich einer unserer Schweizer Freunde ausdrückte: »Jetzt fühlt jeder deutsche Schneider, ob er nun in Japan, in China

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oder in Moskau lebt, die deutsche Flotte und die ganze deutsche Stärke hinter sich; dieses stolze Bewußtsein versetzt ihn in eine wahnsinnige Begeisterung: Endlich hat es der Deutsche geschafft, daß er sich wie ein Engländer oder Amerikaner auf seinen Staat stützen und voller Stolz sagen kann: ›Ich bin Deutscher‹. Allerdings sagt der Engländer oder Amerikaner, der ›ich bin Engländer‹ oder ›ich bin Amerikaner‹ sagt, mit diesen Worten: ›Ich bin ein freier Mensch‹; der Deutsche sagt: ›Ich bin ein Knecht, dafür ist aber auch mein Kaiser stärker als alle Herrscher und der deutsche Soldat, der mich unterdrückt, unterdrückt euch alle.‹« Wird sich das deutsche Volk lange damit zufrieden geben? Wer könnte das sagen? Es hat so lange nach dem gerade erst über ihn gekommenen einheitsstaatlichen Segen, dem Segen des EinheitsKnüppels gedürstet, daß man glauben sollte, es wird ihn noch lange, sehr lange genießen. Jedes Volk hat seinen Geschmack, und bei den Deutschen ist der Geschmack am starken Staatsknüppel vorherrschend. Daß man mit der staatlichen Zentralisation beginnen wird und daß sich bereits jetzt in Deutschland alle Prinzipien des Bösen, jegliches Laster, alle Ursachen des inneren Verfalls, die unweigerlich bei weitgehender politischer Zentralisation zusammenkommen, zu entfalten beginnen, daran kann niemand zweifeln. Ein Zweifel ist um so weniger möglich, als sich bereits vor aller Augen ein Prozeß moralischen und geistigen Verfalls vollzieht; man braucht nur noch die deutschen Journale zu lesen, gleichgültig ob konservativ oder gemäßigt, und man wird überall erschreckende Beschreibungen aller Laster finden, die das deutsche Publikum beherrschen, welches doch bekanntlich das ehrenwerteste in der Welt ist. Das ist das unvermeidliche Ergebnis des kapitalistischen Monopols, das immer und überall die Stärkung und Ausweitung staatlicher Zentralisation begleitet. Das privilegierte und auf wenig Hände konzentrierte Kapital ist heutzutage, man kann schon sagen, zur Seele jeden politischen Staates geworden, der bei ihm, und nur bei ihm Kredit aufnimmt und ihm

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dafür uneingeschränktes Recht auf Ausbeutung der Arbeit des Volkes einräumt. Vom Geldmonopol ist das Börsenspiel nicht zu trennen, nicht zu trennen auch, daß man der Masse des Volkes und dem kleinen oder mittleren, allmählich verarmenden Bürgertum durch Aktien-, Produktions- und Handelsgesellschaften auch den letzten Pfennig raubt. Mit der Börse und den Aktienspekulationen verfällt in den bürgerlichen Kreisen auch die alte Bürgertugend, die sich auf Sparsamkeit, Mäßigung und Arbeit gründet; es entsteht ein allgemeines Streben nach raschem Reichtum; und da das nicht anders möglich ist als mit Betrug und sogenanntem legalen oder auch illegalen und nur listenreichen Diebstahl, so muß unweigerlich die alte spießbürgerliche Ehrbarkeit und Wohlanständigkeit verschwinden. Es ist bemerkenswert, mit welcher Geschwindigkeit vor unseren Augen die vielgerühmte deutsche Ehrlichkeit verschwindet. Der deutsche ehrliche Spießbürger war unbeschreiblich beschränkt und dumm; aber ein verkommener Deutscher, das ist ein so abstoßendes Geschöpf, daß es nicht zu beschreiben ist. Beim Franzosen hüllt sich das Laster in Grazie, in leichten und anziehenden Geist; doch das deutsche Laster, das kein Maß kennt, ist unverhüllt. Es steht in seiner ganzen abstoßenden, plumpen und dummen Nacktheit offen da. Mit dieser neuen ökonomischen Richtung, die die ganze deutsche Gesellschaft beherrscht, verschwindet offensichtlich auch die ganze Würde des deutschen Denkens, der deutschen Kunst, der deutschen Wissenschaft. Die Professoren sind noch mehr als zuvor zu Lakaien geworden, und die Studenten betrinken sich noch mehr als je zuvor mit Bier zur Gesundheit und Ehre ihres Kaisers. Und die Bauern? Sie verharren in Unschlüssigkeit. Da sie im Verlauf von einigen Jahrhunderten systematisch von der liberalen Bourgeoisie ins Lager der Reaktion gedrängt und gejagt worden sind, sind sie jetzt mit überwältigender Mehrheit, vor allem in Österreich, in Mitteldeutschland und in Bayern die sicherste Stütze der Reaktion. Es muß noch viel Zeit verge-

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hen, bis sie sehen und begreifen werden, daß ein einiger pangermanischer Staat und ein Kaiser mit seinem gewaltigen Militär-, Zivilund Polizeistaat [štat] sie unterdrückt und ausraubt. Schließlich die Arbeiter. Sie sind von ihren politischen, literarisierenden und hebraisierenden Anführern aus dem Konzept gebracht worden. Ihre Lage wird wahrhaftig von Jahr zu Jahr unerträglicher, und das zeigt sich bei den schweren Unruhen, die in allen wichtigen Industriezentren Deutschlands unter den Arbeitern ausbrechen. Es vergeht fast kein Monat, keine Woche, in der sich nicht in irgendeiner deutschen Stadt ein Straßenkampf oder manchmal sogar ein Zusammenstoß mit der Polizei ereignet. Doch daraus darf man noch nicht schließen, daß eine Volksrevolution nahe bevorsteht, erstens, weil die Anführer selbst die Revolution nicht weniger hassen als jeder beliebige Bourgeois und sie fürchten, obgleich sie ständig von ihr sprechen! Wegen dieses Hasses und dieser Furcht haben sie die ganze Arbeiterbevölkerung auf den Weg der sogenannten legalen und friedlichen Agitation gelenkt, deren Ergebnis gewöhnlich zu sein pflegt, daß ein oder zwei Arbeiter oder sogar ein literarisierender Bourgeois aus der sozialdemokratischen Partei in das gesamtdeutsche Parlament gewählt wird. Das ist aber für den deutschen Staat nicht nur ungefährlich, sondern im Gegenteil als Blitzableiter, als Ventil, sogar höchst nützlich. Schließlich darf man schon allein deshalb nicht auf eine deutsche Revolution warten, weil es im Verstand, im Charakter und Temperament des Deutschen äußerst wenig revolutionäre Elemente gibt. Der Deutsche wird gegen jede Obrigkeit und sogar gegen den Kaiser seine Meinung beliebig darlegen. Er wird mit seinem Räsonieren kein Ende finden; doch gerade dieses Räsonieren wird ihn, indem es sozusagen seine geistigen und moralischen Kräfte erschöpft und ihm keine Möglichkeit läßt, seine Kräfte zusammenzuhalten, vor den Gefahren eines revolutionären Ausbruchs bewahren. Ja, und wie könnte sich auch die revolutionäre Richtung im deutschen Volk mit dem ererbten Gehorsam und dem Stre-

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ben nach Vormachtstellung verbinden, die, wie wir schon verschiedentlich wiederholt haben, die Grundzüge seines Wesens ausmachen? Ja, und welches Streben überwiegt jetzt wohl im Bewußtsein oder Instinkt eines jeden Deutschen? Das Streben, die Grenzen des deutschen Reiches nach allen Himmelsrichtungen zu erweitern. Man nehme einen Deutschen aus einer ganz beliebigen Gesellschaftsschicht und es ist viel, wenn man einen unter tausend, ja einen unter zehntausend Deutschen findet, der nicht auf das bekannte Lied Arndts antwortet: »O nein, nein, nein, das deutsche Reich muß größer sein.«+137 Jeder Deutsche glaubt, daß man mit der Bildung eines großen deutschen Reiches gerade erst begonnen habe, und um sie zu Ende zu bringen, müsse man ihm unbedingt noch Österreich (mit Ausnahme von Ungarn), Schweden, Dänemark, Holland, einen Teil von Belgien und einen Teil von Frankreich sowie die ganze Schweiz bis hin zu den Alpen hinzufügen. Das ist die Leidenschaft, die zur Zeit alles andere in ihm erstickt. Sie beherrscht jetzt auch das ganze Handeln der Sozialdemokratischen Partei. Und man glaube nicht, daß Bismarck der heftige Feind dieser Partei war, als der er sich gebärdete. Er war viel zu klug, um nicht zu sehen, daß sie ihm als Pionier diente, der den deutschen Staatsgedanken in Österreich, Schweden, Dänemark, Belgien, Holland und der Schweiz verbreitete. In der Verbreitung dieser deutschen Idee besteht gegenwärtig das Hauptbestreben von Marx, der sich, wie bereits bemerkt, darum bemüht hat, die Taten und Siege des Fürsten Bismarck in der Internationale zu seinen Gunsten zu erneuern. Bismarck hat alle Parteien in der Hand und wird sie wohl kaum Marx überlassen; er ist jetzt in einem wesentlich stärkeren Maße als der Papst oder das klerikale Frankreich das Haupt der europäischen, man kann sogar sagen, der Reaktion der ganzen Welt. Die französische Reaktion ist äußerst häßlich, lächerlich und kläglich, daher ist sie aber auch ungefährlich. Sie ist viel zu verrückt und widerspricht in allzu ungeschickter Weise allen Be-

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strebungen der modernen Gesellschaft – vom Proletariat ganz zu schweigen – selbst [allen Bestrebungen] der Bourgeoisie, ja, allen Bedingungen staatlicher Existenz, als daß sie eine wirksame Kraft werden könnte. Sie ist im Ganzen nichts anderes, als die letzte, verzweifelte Konvulsion des sterbenden französischen Staates. Ganz etwas anderes ist die pangermanische Reaktion. Sie prahlt nicht mit plumpen und dummen Widersprüchen zu den gegenwärtigen Forderungen der bourgeoisen Zivilisation, sondern verwendet vielmehr alle Energie darauf, in allen Fragen in völliger Übereinstimmung mit ihr zu handeln. In der Kunst, mit den liberalsten und sogar demokratischsten Formen ihr despotisches Handeln und Tun zu verhüllen, übertrifft sie sogar ihren Lehrer, Napoleon III. Man sieht das zum Beispiel bei der religiösen Frage. Wer hat mutig die Initiative ergriffen, um den mittelalterlichen Ansprüchen des päpstlichen Stuhls entschieden entgegenzuwirken? Deutschland, Fürst Bismarck, der die Intrigen der Jesuiten nicht fürchtete, obwohl sie überall gegen ihn intrigierten: im Volk, das sie aufstachelten, aber vor allem am Kaiserhof, wo man jeder Art von Scheinheiligkeit nur allzu geneigt ist, er fürchtete weder ihren Dolch noch ihr Gift, mit dem sie bekanntlich von alters her die Gewohnheit haben, sich ihrer gefährlichen Gegner zu entledigen. Fürst Bismarck trat so stark gegen die römisch-katholische Kirche auf,+303 daß selbst der alte gutmütige Garibaldi – der zwar ein Held auf dem Schlachtfelde, dafür aber ein äußerst schlechter Philosoph und Politiker ist und die Popen über alles haßt, so daß man sich nur als ihr Feind zu erkennen geben muß, um für den hervorragendsten und liberalsten Menschen erklärt zu werden – , [daß] selbst also Garibaldi kürzlich einen begeisterten Lobeshymnus auf den deutschen großen Kanzler veröffentlichte, worin er ihn als den Befreier Europas und der Welt pries. Der arme General hatte nicht verstanden, daß heutzutage diese Reaktion ungleich schlimmer und gefährlicher ist als die Reaktion der Kirche, die böse, aber kraftlos ist, weil sie heute völlig unmöglich ist; daß

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die staatliche Reaktion heutzutage viel gefährlicher ist, daß sie noch möglich ist, daß sie die heute letzte und einzig mögliche Form der Reaktion ist.+304 Die Mehrheit der sogenannten Liberalen und Demokraten hat das bisher noch nicht begriffen, weshalb so viele, ähnlich wie Garibaldi, auf Bismarck als auf den Vorkämpfer der Volksfreiheit schauen. Ganz genauso ist Fürst Bismarck bei der sozialen Frage vorgegangen. Hat er nicht erst vor wenigen Monaten einen regelrechten Kongreß der gelehrten Juristen und politischen Ökonomen Deutschlands einberufen, um alle Fragen, die zur Zeit die Arbeiter beschäftigen, in einer strengen und tiefsinnigen Diskussion abzuhandeln?+305 Allerdings haben diese Herren nichts entschieden, konnten auch nichts entscheiden, weil ihnen lediglich eine Frage aufgegeben worden war: wie man die Lage der Arbeiter erleichtern könne, ohne auch nur im Geringsten die bestehenden Beziehungen von Kapital zu Arbeit zu verändern, oder, was aufs Gleiche hinausläuft, wie man das Unmögliche möglich machen könne. Einleuchtend, daß sie auseinandergehen mußten, ohne etwas entschieden zu haben, aber dennoch blieb der Ruhm, daß Bismarck, im Gegensatz zu den anderen Staatsmännern in Europa, die ganze Bedeutung der sozialen Frage begreift und sich sorgfältig mit ihr beschäftigt. Schließlich hat er auch der politischen Eitelkeit der deutschen patriotischen Bourgeoisie vollkommene Genugtuung verschafft. Er hat nicht nur ein mächtiges, einiges pangermanisches Reich geschaffen, sondern ihm sogar die liberalsten und demokratischsten Regierungsformen zukommen lassen; er hat ihm ein Parlament gegeben, das auf dem allgemeinen Wahlrecht begründet ist, mit dem uneingeschränkten Recht, alle möglichen Fragen zu erörtern, und hat sich dabei nur das einzige Recht vorbehalten, allein das zu tun und in die Praxis umzusetzen, was ihm und seinem Herrn gefällt. Auf diese Weise hat er den Deutschen ein Feld für endloses Geschwätz eröffnet und sich selbst nur drei Dinge vorbehalten: die Finanzen, die Polizei und die Armee, d.h. die Essenz des wahren Staates, die ganze Stärke der Reaktion.

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Dank diesen drei winzigen Kleinigkeiten herrscht er jetzt unbeschränkt in ganz Deutschland, und durch Deutschland auf dem ganzen europäischen Kontinent. Wir haben gezeigt und wie uns scheint auch bewiesen, daß alle anderen Kontinentalstaaten entweder so schwach sind, daß es von ihnen nichts zu sagen gibt, oder sich noch nicht zu ernstzunehmenden Staaten geformt haben und das auch niemals tun werden, wie z.B. Italien, oder schließlich sich in einem Verfallsprozeß befinden, wie Österreich, die Türkei, Rußland, Spanien und Frankreich. Inmitten von diesen unausgegorenen Anfängen auf der einen Seite und den Trümmern auf der anderen erhebt sich das erhabene Gebäude des pangermanischen Staates in all seiner Macht und Herrlichkeit – die letzte Zuflucht aller Privilegien und Monopole, kurz, der bourgeoisen Zivilisation, das letzte und mächtige Bollwerk der Staatlichkeit, d.h. der Reaktion. Ja, auf dem europäischen Kontinent besteht nur ein wahrer Staat – der pangermanische; alle anderen sind nur Vizekönigreiche des großen deutschen Reiches. Dieses Reich hat durch seinen großen Kanzler der sozialen Revolution einen Krieg auf Leben und Tod erklärt. Fürst Bismarck hat im Namen von vierzig Millionen Deutschen, die hinter ihm stehen und ihm Rückhalt geben, ihr Todesurteil ausgesprochen. Auch Marx, sein Konkurrent und Neider, und mit ihm die ganzen Rädelsführer der sozialdemokratischen Partei Deutschlands, erklärten ihrerseits, gleichsam als Bestätigung Bismarcks, der sozialen Revolution einen ebenso erbitterten Krieg. All das werden wir im folgenden Teil ausführlicher darlegen. Wir sehen: Auf der einen Seite herrscht zur Zeit die reinste Reaktion, die im deutschen Reich, im deutschen Volk verkörpert ist, welches allein von der Leidenschaft für Eroberung und Vorherrschaft besessen ist, d.h. von der Leidenstaft für Herrschaft; auf der anderen erhebt die soziale Revolution ihr Haupt als alleinige Vorkämpferin der Befreiung der Völker, der Millionen von einfachen Arbeitern. Bisher hat sie ihre Kräfte nur auf Südeuropa konzentriert: auf Italien, Spanien und Frank-

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reich; aber bald werden sich unter ihrem Banner hoffentlich auch die nordwestlichen Staaten erheben: Belgien, Holland und vor allem England, und dann schließlich auch alle slawischen Völker. Auf dem pangermanischen Banner steht geschrieben: Erhaltung und Stärkung des Staats um jeden Preis; aber auf dem der Sozialrevolutionäre, auf unserem Banner, steht mit flammenden, mit blutigen Lettern: Zerstörung aller Staaten, Vernichtung der bourgeoisen Zivilisation, freie Organisation von unten nach oben durch freie Bündnisse, Organisation des von den Fesseln befreiten einfachen Arbeitervolkes, der ganzen befreiten Menschheit, und Aufbau einer neuen Welt für die ganze Menschheit. Im folgenden Teil wird gezeigt, wie sich diese beiden entgegengesetzten Prinzipien im Bewußtsein gerade des Proletariats in Europa herausgebildet haben. Anhang A Um Mißverständnisse zu vermeiden, halten wir es immerhin für notwendig, darauf hinzuweisen, daß das, was wir ein Ideal des Volkes nennen,+306 nichts mit jenen politisch-sozialen Schemata, Formeln und Theorien gemein hat, die, ohne das Leben des Volkes zu berücksichtigen, von bourgeoisen Gelehrten oder Halbgelehrten in ihren Mußestunden erarbeitet und der unwissenden Volksmasse wohlwollend als unbedingte Voraussetzung für ihre zukünftige Ordnung vorgeschlagen werden. Wir glauben nicht im geringsten an diese Theorien, und selbst die besten erscheinen uns noch als Prokrustesbett,+41 das viel zu eng bemessen ist, als daß es die ganze mächtige Weite des Volkslebens fassen könnte. Selbst die rationalste und tiefsinnigste Wissenschaft kann nicht die Formen des zukünftigen gesellschaftlichen Lebens erahnen. Sie kann nur die negativen Bedingungen definieren, die sich logisch aus der strengen Kritik an der bestehenden Gesellschaft ergeben. So ist man in der Sozial-Ökonomie mit dieser

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Kritik zur Ablehnung des erblichen Privateigentums gekommen und damit zu einer abstrakten und gleichsam negativen Konzeption vom Kollektiveigentum als notwendiger Voraussetzung der zukünftigen Gesellschaftsordnung. Dieser Weg führte schließlich zur Ablehnung selbst der Idee des Staates und der Herrschaft, d.h. zur Ablehnung einer Regierung der Gesellschaft von oben nach unten im Namen eines wie auch immer gearteten Pseudorechts, sei es theologisch oder metaphysisch, göttlich oder wissenschaftlich-rational, und folglich zur entgegengesetzten und damit negativen Position – zur Anarchie, d.h. zur selbständigen und freiheitlichen Organisation aller Einheiten oder Elemente, die die Gemeinden bilden, und zu deren freier Föderation von unten nach oben – nicht auf Befehl irgendeiner Obrigkeit, und sei es einer gewählten, und nicht nach den Richtlinien irgendeiner gelehrten Theorie, sondern infolge einer völlig natürlichen Entwicklung von Bedürfnissen aller Art, die sich aus dem Leben selbst ergeben. Deshalb ist kein Gelehrter in der Lage, das Volk zu lehren oder auch nur für sich selbst zu bestimmen, wie das Volk am Tag nach der sozialen Revolution leben wird und leben soll. Das wird sich vielmehr erstens aus der jeweiligen Situation eines Volkes und zweitens aus den Bestrebungen ergeben, die in ihm auftreten oder stärker wirken, keinesfalls aber durch Richtlinien und Erläuterungen von oben und überhaupt durch keinerlei am Vorabend der Revolution erdachte Theorien. Wir wissen, daß in Rußland jetzt eine regelrechte Strömung zur Ausbildung von sog. Volkserziehern entstanden ist. Sie versichern, daß das Volk vor allen Dingen unterwiesen werden müsse und erst, wenn es gelernt und seine Rechte und Pflichten verstanden habe, zur Revolte gebracht werden könne. Hier erhebt sich sofort die Frage, was man das Volk lehren wird. Doch nicht etwa das, was man selbst nicht weiß, nicht wissen kann und was man selbst erst beim Volk lernen muß? Innerhalb dieser Strömung oder Partei, die übrigens keineswegs neu ist, muß man zwei Kategorien unterscheiden. Zahlenmäßig am stärksten ist die Kategorie der Doktrinäre, der Scharlatane, die sich größtenteils selbst betrügen und auch

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nicht auf die geringsten Annehmlichkeiten und Vorteile verzichten wollen, welche die bestehende Gesellschaft einer privilegierten und reichen Minderheit bietet, und die sich gleichzeitig den Ruf verschaffen oder erhalten wollen, sich der Volksbefreiung wahrhaft hingegeben zu haben, ja sogar Revolutionäre zu sein – wenn das nicht mit zu großen Unannehmlichkeiten verbunden ist. Solche Herren gibt es in Rußland viel zu viele. Sie gründen Volksbanken, Verbraucher-Artels+307 und Produktionsgemeinschaften, beschäftigen sich natürlich mit der Frauenfrage und nennen sich lautstark Verfechter der Wissenschaft, Positivisten und nunmehr Marxisten. Ihr gemeinsames Charakteristikum ist, daß sie nichts zu opfern bereit sind, daß sie vor allem ihre teure Persönlichkeit hüten und pflegen und außerdem wünschen, in jeder Beziehung als fortschrittlich zu gelten. Mit Vertretern dieser Kategorie, wie zahlreich sie auch sein mögen, sind Diskussionen nutzlos. Vor der Revolution bleibt nur, sie zu entlarven und zu beschämen; während der Revolution ... nun, dann werden sie hoffentlich von selbst verschwinden. Aber es gibt noch eine andere Kategorie von jungen, ehrlichen und wirklich opferbereiten Leuten, welche sich in letzter Zeit wie verzweifelt nur deshalb auf diese Richtung stürzen, weil sie glauben, unter den gegenwärtigen Umständen keinen anderen Ausweg zu haben. Wir wollen sie nicht näher bestimmen, um nicht die Aufmerksamkeit der Polizei auf sie zu lenken; aber diejenigen unter ihnen, welche diese Zeilen lesen, werden verstehen, daß sich unsere Worte unmittelbar an sie richten. Eben sie möchten wir fragen, was sie eigentlich das Volk zu unterrichten beabsichtigen. Wollen sie etwa dem Volke rationale Wissenschaft beibringen? Soweit uns bekannt, ist das nicht ihr Ziel. Sie wissen, daß die Regierung jeden beim ersten Schritt aufhielte, der Wissenschaft in die Volksschulen tragen wollte, und außerdem, daß es unserem Volk in seiner jetzigen allzu erbärmlichen Lage nicht um die Wissenschaft zu tun ist. Um

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dem Volk Theorie überhaupt zugänglich machen zu können, muß man erst seine Praxis ändern, muß man vor allem radikal die ökonomischen Bedingungen seiner Existenz umwandeln und es aus der allgemeinen Hungersnot herausreißen. Wie können diese guten Leute die wirtschaftliche Lage des Volkes ändern? Sie haben keinerlei Macht, ja und selbst die Staatsgewalt ist, wie wir das weiter unten zeigen wollen, machtlos, die wirtschaftliche Lage des Volkes zu bessern; das einzige, was sie für das Volk tun könnte, wäre – sich abschaffen, verschwinden, da ihr Dasein unvereinbar ist mit dem Wohl des Volkes, das nur durch das Volk selbst dauerhaft geschaffen werden kann. Was aber können die Freunde des Volkes tun? Sie können es zu selbständigem Handeln bewegen, und vor allem – das versichern gerade die aufrichtigen Verfechter dieser Richtung, von der wir gerade sprechen – können sie ihm Wege und Mittel zu seiner Befreiung zeigen. Wege und Mittel kann es zweierlei geben: rein revolutionäre, die unmittelbar auf die Organisation einer allgemeinen Volkserhebung zielen; und andere, friedlichere, die auf die Befreiung des Volkes mit der systematisch langsamen, dabei aber radikalen Umformung seiner ökonomischen Lebensweise hinarbeiten. Wenn man dieser zweiten Methode aufrichtig folgen will, so schließt das natürlich aus, daß man so gemein ist, das bei den bourgeoisen Ökonomen so beliebte Sparen zu propagieren, und zwar schlicht gesagt deshalb, weil das Volk der einfachen Arbeiter im allgemeinen, besonders bei uns, wahrhaftig nichts zu sparen hat. Aber was können die guten Leute tun, um unser Volk auf diesen Weg der langsamen, aber radikalen ökonomischen Umwandlung zu bringen? Etwa auf dem Lande Lehrstühle für Soziologie schaffen? Erstens wird das alles unsere väterlich wachsame Regierung nicht gestatten; nun – und zweitens werden die Bauern nichts verstehen und die Professoren auslachen; und schließlich ist die Soziologie selbst eine zukünftige Wissenschaft; vorläufig noch ist sie ungleich reicher an ungelösten

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Fragen als an positiven Antworten, ganz abgesehen davon, daß unsere armen Bauern wahrhaftig keine Zeit haben, sich mit ihr zu beschäftigen – auf Bauern kann man nur auf dem Wege der Praxis, keinesfalls durch Theorie einwirken. Worin könnte diese Praxis bestehen? Die Praxis nämlich, die es sich zum hauptsächlichen, wenn nicht gar einzigen Ziel gemacht hat – die ganze gewaltige Masse unserer Bauernschaft auf den Weg eigenständiger ökonomischer Umwandlungen im Geiste der neuesten Soziologie zu bringen? Sie kann in nichts anderem bestehen als in der Bildung von Arbeiter-Artels und von kooperativen Vereinen, von Darlehens-, Konsum- und Produktionsgenossenschaften, vor allem von letzteren als denjenigen, die am geradlinigsten aufs Ziel gehen, nämlich auf die Befreiung der Arbeit von der Herrschaft des bourgeoisen Kapitals. Aber ist diese Befreiung bei den ökonomischen Bedingungen, die in unserer Gesellschaft herrschen, möglich? Die Wissenschaft, die sich auf Fakten und vor allem auf eine ganze Reihe von Erfahrungen stützt, die man im Laufe der letzten zwanzig Jahre in verschiedenen Ländern gemacht hat, hält sie für vollkommen unmöglich. Lassalle, zu dessen Anhängern wir übrigens keineswegs gehören, hat diese Unmöglichkeit in seinen Broschüren in ganz glänzender und äußerst volkstümlicher Weise bewiesen,+260 und darin sind sich mit ihm alle modernen, zwar bourgeoisen, aber doch seriösen Ökonomen einig, wenn sie anscheinend widerwillig die Schwäche des kooperativen Systems aufdecken, in dem sie doch, und das wohl zurecht, gleichsam den Blitzableiter sehen, der sie vor dem Gewitter der sozialen Revolution schützt. Die Internationale hat ihrerseits im Verlauf von wenigen Jahren häufig die Frage der kooperativen Genossenschaften behandelt und kam aufgrund von zahlreichen Argumenten zu folgendem Resultat, das auf dem Lausanner Kongreß (1867) formuliert und auf dem Brüsseler Kongreß (1868) bestätigt wurde.+308 Kooperation in jeder Gestalt ist zweifellos die rationale und gerechte Form der zukünftigen Produktion. Um aber ihr Ziel

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erreichen zu können – die Befreiung der arbeitenden Massen und ihre volle Entlohnung und Zufriedenstellung – ist es unerläßlich, daß Land und Kapital in jeder Hinsicht zum Kollektivbesitz gemacht werden. Solange das nicht geschieht, wird die Kooperation in den meisten Fällen von der allmächtigen Konkurrenz des Großkapitals und des Großgrundbesitzes unterdrückt werden; in den seltenen Fällen, wenn es z.B. der einen oder anderen, notwendig mehr oder weniger beschränkten Produktionsgenossenschaft gelingt, diesen Kampf auszuhalten und zu überleben, ist das Resultat dieses Erfolgs nur die Entstehung einer neuen privilegierten Klasse von kollektiven Glücklichen in der Masse des notleidenden Proletariats. So kann also bei den herrschenden Bedingungen der sozialen Ökonomie die Kooperation die Arbeitermassen nicht befreien, nichtsdestoweniger bietet sie jedoch den Vorteil, daß sie sogar in der jetzigen Zeit die Arbeiter lehrt, sich zusammenzuschließen, sich zu organisieren und ihre eigenen Angelegenheiten selbständig zu verwalten. Doch trotz dieses unbezweifelbaren Nutzens ist die kooperative Bewegung, die uns anfangs so schnell vorangetrieben hat, in letzter Zeit in Europa bedeutend zurückgegangen, und zwar aus dem äußerst einfachen Grunde, weil es die Masse der Arbeiter in der Überzeugung, daß sie heutzutage damit ihre Befreiung nicht erlangen können, nicht mehr für nötig halten, darin die Vollendung ihrer praktischen Ausbildung zu suchen; kaum aber hatten sie den Glauben verloren, daß sie dieses Ziel erreichen könnten, als sie auch schon nicht mehr auf den Weg achteten, der zu diesem Ziel führt oder vielmehr nicht führt, und für Gymnastik, und sei es auch die nützlichste, hatten sie keine Zeit. Was im Westen wahr ist, kann im Osten keine Lüge sein, und wir glauben nicht, daß die kooperative Bewegung in Rußland ernsthaftere Ausmaße annehmen könnte. Heutzutage ist in Rußland Kooperation noch weniger möglich als im Westen. Eine der Hauptbedingungen für ihren Erfolg war dort, wo sie wirklich Erfolg hatte, persönliche Initiative, Disziplin und Mut;

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Persönlichkeit ist aber etwas, was im Westen sehr viel stärker entwickelt ist, als bei uns in Rußland, wo bisher noch der Herdengeist herrscht. Doch davon abgesehen sind auch die äußeren politischen wie sozialen Bedingungen und das Bildungsniveau im Westen ungleich günstiger für die Gründung und Entwicklung von kooperativen Vereinen als in Rußland; trotz alledem ist im Westen die kooperative Bewegung zurückgegangen. Wie könnte sie also in Rußland Fuß fassen? Man sagt, daß gerade der Herdencharakter der russischen Volksbewegungen sie fördern könne. Die Elemente des Fortschritts – nämlich die ständige Vervollkommnung in der Organisation der Arbeit, der Ausführung und ihres Ergebnisses, ohne die der ohnehin schon so ungleiche Kampf gegen das konkurrierende Kapital völlig unmöglich wird – sind unvereinbar mit dem notwendig zur Routine neigenden Herdenverhalten. Kooperation kann deshalb in Rußland nur in unbedeutendstem, um nicht zu sagen winzigem Ausmaß gedeihen, und auch das nur, solange das alles erdrückende Kapital und die noch stärker drückende Regierung nichts bemerken noch spüren. Uns ist übrigens verständlich, daß die jungen Leute, die viel zu ernsthaft und ehrlich sind, als daß sie sich mit liberalen Phrasen trösten und ihren Egoismus in doktrinäres, seelenloses, sinnloses, mit einem Wort, Mirtovsches oder Kedrovsches+309 Gelehrtengeschwätz hüllen könnten, und die andererseits viel zu lebendig und leidenschaftlich sind, als daß sie die Hände in den Schoß legen und in schändlicher Passivität verharren wollten – daß sich diese jungen Leute also auf die sog. kooperative Bewegung stürzen, da sie keinen anderen Ausweg sehen. Das gibt ihnen wenigstens Mittel und Gelegenheit, Arbeitern zu begegnen, als Arbeiter in ihren Reihen zu stehen, sie kennenzulernen und sie nach Möglichkeit zu vereinigen, um wenigstens irgendein Ziel zu erreichen. All das ist ungleich tröstlicher und nützlicher, als gar nichts tun. Unter diesem Aspekt haben wir nichts gegen kooperative Versuche, meinen aber, daß die jungen Leute, die diese Versu-

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che unternehmen, sich über die Resultate, die sie erzielen können, nicht täuschen sollten. Diese Resultate können unter den Fabrikarbeitern in den großen Städten und in den Industriegebieten recht bedeutend sein. Unter der Landbevölkerung werden sie außerordentlich gering sein, sich verlieren, wie ein Sandkorn in der Wüste, wie ein Tropfen im Meer ... Ist es aber richtig, daß es jetzt in Rußland keinen anderen Ausweg, keine andere Möglichkeit als kooperative Unternehmungen gibt? Wir sind entschieden anderer Meinung. Im russischen Volk gibt es jene beiden ersten Elemente, die wir als notwendige Voraussetzung der sozialen Revolution ansehen können, in weitestem Ausmaß. Dieses Volk kann sich rühmen, nicht nur maßlos arm, sondern auch beispiellos geknechtet zu sein. Seine Leiden sind zahllos, und es erträgt sie keineswegs geduldig, sondern mit einer tiefen und wilden Verzweiflung, die sich im Laufe der Geschichte bereits zweimal in zwei schrecklichen Ausbrüchen gezeigt hat: nämlich in den Aufständen Stenka Razins und Pugačevs,+66 und die bis heute nicht aufgehört hat, sich in einer ununterbrochenen Kette von Bauernrevolten zu zeigen. Was also hindert das Volk daran, eine siegreiche Revolution zu machen? Etwa das Fehlen eines gemeinsamen Ideals, das geeignet wäre, der Volksrevolution einen Sinn, ein festumrissenes Ziel zu geben, ein Ideal, ohne das, wie wir oben schon sagten, die gleichzeitige und allumfassende Erhebung des ganzen Volkes und damit auch der Erfolg der Revolution unmöglich ist? Man kann wohl kaum behaupten, daß sich im russischen Volk bisher noch kein solches Ideal herausgebildet hat. Wenn es nämlich dieses Ideal noch nicht gäbe, wenn es sich im Bewußtsein des Volkes noch nicht gebildet hätte, nicht einmal in seinen wesentlichsten Zügen, so müßte man jegliche Hoffnung auf eine russische Revolution aufgeben; denn so ein Ideal bildet sich aus den Tiefen des Volkslebens heraus, ergibt sich unmittelbar aus den Prüfungen, die das Volk im Laufe der Geschichte erduldet hat; ergibt sich aus seinen Bestrebungen, Leiden, Protesten und Kämpfen und ist dabei gleichsam der

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bildliche und allgemeinverständliche, immer einfache Ausdruck seiner wahren Bedürfnisse und Hoffnungen. Wenn natürlich ein Volk dieses Ideal nicht selbst und aus sich selbst erarbeitet, so wird niemand in der Lage sein, es ihm zu geben. Ganz allgemein ist festzuhalten, daß man niemandem, weder einem Einzelnen, noch einer Gesellschaft, noch einem Volke etwas geben kann, das nicht schon in ihm angelegt ist, nicht nur als Keim, sondern bereits bis zu einem gewissen Grad entwickelt. Nehmen wir den Einzelnen: Wenn ein Gedanke in ihm noch nicht als lebendiger Instinkt oder als mehr oder weniger klare Vorstellung vorhanden ist, die diesem Instinkt gleichsam ersten Ausdruck verleiht, so wird man ihm diesen Gedanken um nichts in der Welt erklären und schon gar nicht beibringen können. Sehen wir einmal den mit seinem Schicksal zufriedenen Bourgeois an – besteht denn auch nur die geringste Hoffnung, daß man ihm jemals das Recht des Proletariers auf volle Entfaltung seiner Persönlichkeit und auf gleichen Anteil an allen Annehmlichkeiten und Segnungen des gesellschaftlichen Lebens erklären oder daß man ihm die Rechtmäßigkeit und heilsame Notwendigkeit einer sozialen Revolution beweisen könnte? Nein, man wird das nicht einmal versuchen, es sei denn, man hat den Verstand verloren. Und warum nicht? Weil man sich davon überzeugen wird, daß dieser Bourgeois, selbst wenn er von Natur aus gut, klug, edel, großmütig und gerechtigkeitsliebend wäre – man beachte, was für Zugeständnisse ich mache, gibt es doch nur sehr wenige solcher Bourgeois auf der Welt – ja wenn er ungewöhnlich gebildet und sogar gelehrt wäre, [daß er] selbst dann nicht verstehen und auch nicht zum Sozial-Revolutionär werden würde. Und warum nicht? Aus dem einfachen Grunde, weil das Leben nicht jenes instinktive Streben in ihm herausgebildet hat, welches unserem sozial-revolutionären Denken entspräche. Wenn aber dieses Streben in ihm vorhanden wäre, und sei es auch nur im Ansatz oder in den ungereimtesten Vorstellungen, dann könnte er mit sich gar nicht zufrieden sein, wie angenehm auch immer seine gesellschaftliche Situation für seine Sinne sein mag und wie befriedigend für seinen Ehrgeiz.

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Man nehme dagegen den ungebildetsten und dümmsten Menschen; spürt man in ihm nur wirklich Instinkte auf und ehrliche, wenn auch unbestimmte Bestrebungen im Sinne der Idee der sozialen Revolution, dann soll man nicht erschrecken, wie wild auch immer seine tatsächlichen Vorstellungen sein mögen, sondern sich ernsthaft und liebevoll mit ihm befassen und dann sehen, wie umfassend und leidenschaftlich er unsere Idee aufnehmen und sich zu eigen machen wird, oder vielmehr seine eigene Idee, denn sie ist nichts anderes als der klare, vollkommene und logische Ausdruck seines eigenen Instinkts; so hat man ihm also eigentlich nichts gegeben, nichts Neues gebracht, sondern nur das erklärt, was schon längst in ihm gelebt hat, bevor er uns begegnet ist. Und deshalb sage ich, daß niemand irgend jemandem irgend etwas geben kann. Wenn das aber für den Einzelnen zutrifft, dann um so mehr für ein ganzes Volk. Man muß schon ein Erzdummkopf oder ein unverbesserlicher Doktrinär sein, wenn man glaubt, man könne dem Volke irgend etwas geben, ihm irgendwelche materiellen Güter, einen geistigen oder moralischen Inhalt oder eine neue Wahrheit schenken und seinem Leben willkürlich eine neue Richtung geben, oder wenn man gar glaubt, man könne auf ihm wie auf einem unbeschriebenen Blatt schreiben, was man will, wie es der inzwischen verstorbene Čaadaev+310 vor sechsunddreißig Jahren behauptet hat, und zwar gerade vom russischen Volk. Unter den größten Genies hat es bisher nur wenige gegeben, die wirklich etwas für das Volk getan haben; die Genies in einem Volk sind besonders aristokratisch, und alles, was sie bisher getan haben, diente nur dazu, einer ausbeutenden Minderheit zu Bildung, Stärke und Reichtum zu verhelfen; die elenden, von allen verlassenen und unterdrückten Volksmassen dagegen mußten sich ihren ungeheuren Leidensweg zu Freiheit und Licht mit einer endlosen Reihe von dumpfen und fruchtlosen Mühen erkaufen. Die größten Genies haben der Gesellschaft keinen neuen Inhalt bringen können, denn da sie selbst durch die Gesellschaft geschaffen sind, haben sie in Fort-

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führung und Erweiterung des Werks von Jahrhunderten lediglich neue Formen für diesen Inhalt bringen können, welcher sich aus der Bewegung des gesellschaftlichen Lebens selbst unaufhörlich wiedergebiert und erweitert. Doch ich wiederhole noch einmal, daß selbst die berühmtesten Genies bisher nichts oder doch nur sehr wenig eigens für das Volk getan haben, und mit Volk meine ich die vielen Millionen des arbeitenden Proletariats. Leben, Entwicklung und Fortschritt verdankt das Volk allein sich selbst. Dieser Fortschritt vollzieht sich selbstverständlich nicht auf dem Wege des Bücherstudiums, sondern durch das natürliche Anwachsen von Erfahrung und Denken, welche von Generation zu Generation weitergegeben werden und sich notwendigerweise ausbreiten, inhaltlich vertiefen und vervollkommnen müssen, ihre Form allerdings nur außerordentlich langsam finden; der Fortschritt vollzieht sich im Laufe der Geschichte in einer endlosen Reihe von schweren und bitteren Prüfungen, die schließlich in unserer Zeit den Volksmassen, man kann sagen aller, wenigstens aller europäischen Länder zum Bewußtsein gebracht haben, daß sie von den privilegierten Klassen und von den bestehenden Staaten, überhaupt von politischen Umstürzen nichts zu erwarten haben und daß sie sich nur aus eigener Kraft durch eine soziale Revolution befreien können. Das ist es, was das allgemeine, in ihnen lebendige und wirksame Ideal bestimmt. Findet sich ein solches Ideal in den Vorstellungen des russischen Volkes? Zweifellos, und es ist nicht einmal nötig, sich allzu sehr in das historische Bewußtsein unseres Volkes zu vertiefen, um dieses Ideal in seinen Hauptzügen zu bestimmen. Der erste und wichtigste Zug ist die Überzeugung des ganzen Volkes, daß die Erde, die ganze Erde, dem Volk gehört, das sie mit seinem Schweiße tränkt und mit seiner Hände Arbeit fruchtbar macht. Ein zweiter, ebenso wichtiger Zug ist der, daß das Recht auf ihre Nutzung nicht einer einzelnen Person, sondern der ganzen Gemeinde, dem Mir+64 gebührt, der sie auf Zeit unter den einzelnen verteilt; ein dritter Zug von gleicher Wichtigkeit wie die beiden vorangehenden ist die quasi abso-

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lute Autonomie, die Selbstverwaltung der Gemeinde und infolgedessen ihr entschieden feindliches Verhältnis zum Staat. Das also sind die drei wesentlichen Züge, auf denen das Ideal des russischen Volkes beruht. Sie entsprechen ihrem Wesen nach vollkommen dem Ideal, das sich in letzter Zeit im Bewußtsein des Proletariats in den lateinischen Ländern gebildet hat, die der sozialen Revolution inzwischen viel näher stehen als die germanischen. Doch wird das Ideal des russischen Volkes von drei anderen Zügen überschattet, die seinen Charakter verzerren und seine Verwirklichung außerordentlich erschweren und verzögern; Züge, gegen die wir deshalb mit allen Kräften ankämpfen müssen; dieser Kampf ist desto eher möglich, als er schon im Volk selbst im Gange ist. Diese drei Züge sind: 1. der Patriarchalismus; 2. das Aufgehen des Einzelnen im Mir; 3. der Glaube an den Zaren. Man könnte dem als vierten Zug den christlichen Glauben hinzufügen, und zwar den offiziell-orthodoxen oder den sektiererischen; unserer Meinung nach aber hat diese Frage bei uns in Rußland bei weitem nicht dieselbe Bedeutung wie in Westeuropa, nicht nur in den katholischen, sondern sogar auch in den protestantischen Ländern. Die Sozial-Revolutionäre allerdings vernachlässigen ihn nicht, sondern nutzen jede Gelegenheit, um im Angesicht des Volkes dem Herrn Zebaoth und seinen Repräsentanten auf Erden, den Theologen, Metaphysikern, Politikern, Juristen, Polizisten und bürgerlichen Ökonomen, die tödliche Wahrheit zu sagen. Doch rücken sie die religiöse Frage nicht auf den ersten Platz, weil sie davon überzeugt sind, daß der Aberglaube des Volkes, der sich auf natürliche Weise mit seiner Unwissenheit verbindet, immerhin nicht so sehr in dieser seiner Unwissenheit als in seiner Armut wurzelt, in seinen materiellen Leiden und der in jeder Beziehung unerhörten Unterdrückung, die es Tag für Tag erdulden muß; sie sind davon überzeugt, daß religiöse Vorstellungen und Märchen, diese phantastische Neigung zum Ungereimten, ein eher praktisches als theoretisches Phänomen sind, nämlich nicht so sehr eine Sinnesverirrung, als vielmehr ein Protest des Lebens

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selbst, des Willens und der Leidenschaft gegen die unerträgliche Enge des Lebens; daß die Kirche für das Volk eine Art himmlischer Schenke darstellt, so wie die Schenke etwas von der Art einer himmlischen Kirche auf Erden hat, denn wie in der Kirche, so vergißt es auch in der Schenke wenigstens für eine Minute seinen Hunger, sein Joch und seine Erniedrigung und bemüht sich, die Erinnerung an seine tägliche Not einmal mit seinem wahnsinnigen Glauben, das andere Mal mit Wein zu beruhigen. Die eine Trunkenheit ist die andere wert. Die Sozial-Revolutionäre wissen das und sind deshalb davon überzeugt, daß man die Religiosität im Volke nur mit einer sozialen Revolution ausmerzen kann und keineswegs mit der abstrakten und doktrinären Propaganda der sogenannten Freidenker. Diese Herren Freidenker sind von Kopf bis Fuß Bourgeois, und ihren Methoden, Angewohnheiten und ihrem Leben nach sogar dann unverbesserliche Metaphysiker, wenn sie sich Positivisten nennen und für Materialisten halten. Es scheint ihnen, daß das Leben sich aus dem Denken ergibt, gleichsam die Verwirklichung des vorausgehenden Denkens sei, folglich versichern sie, daß das Denken, wohlgemerkt, ihr armseliges Denken, auch das Leben lenken müsse; sie verstehen nicht, daß das Denken, ganz im Gegenteil, sich aus dem Leben ergibt und daß man, um das Denken zu ändern, zunächst das Leben ändern muß. Gebt dem Volk die ganze Weite des menschlichen Lebens, und es wird Euch durch die tiefe Rationalität seines Denkens erstaunen. Diese eingefleischten Doktrinäre, die sich Freidenker nennen, haben noch einen weiteren Grund dafür, daß sie ihre theoretische, antireligiöse Propaganda der praktischen Tat vorausschicken. Größtenteils sind sie nämlich schlechte Revolutionäre und einfach eitle Egoisten und Feiglinge. Dazu kommt noch, daß sie ihrer Stellung nach zu den gebildeten Klassen gehören und den Komfort, den erlesenen Luxus und den eitlen geistigen Genuß außerordentlich schätzen, wovon das Leben dieser Klassen so erfüllt ist. Sie begreifen, daß die Volksrevolution, ihrem Wesen und Ziel nach grob und rücksichtslos, vor der Zerstö-

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rung der bourgeoisen Welt nicht haltmachen wird, in der es sich so gut lebt; so haben sie keineswegs die Absicht, größere Unannehmlichkeiten auf sich zu nehmen, wie sie mit dem ehrlichen Dienst an der Sache der Revolution verbunden sind, noch wollen sie Zweifel an sich bei den zwar nicht so liberalen und beherzten, aber dennoch wertvollen Beschützern aufkommen lassen, bei den Verehrern, Freunden und Genossen nach Bildung, Lebensumständen, Luxus und materiellem Komfort; nein, sie wollen ganz einfach für sich keine solche Revolution und fürchten sie, da diese Revolution sie von ihrem Piedestal herunterholen und sie plötzlich aller Vorteile ihrer gegenwärtigen Situation berauben würde. Allerdings wollen sie das nicht zugeben, vielmehr müssen sie unbedingt die bourgeoise Welt mit ihrem Radikalismus in Staunen versetzen und die revolutionäre Jugend, womöglich sogar das Volk mitreißen. Aber wie sich da verhalten? Die bürgerliche Welt in Staunen versetzen, ohne sie dabei zu erzürnen, die revolutionäre Jugend mitreißen und dabei den Abgrund einer Revolution umgehen! Dafür gibt es nur ein einziges Mittel: die ganze pseudo-revolutionäre Wut gegen den Herrgott richten. So sehr sind sie von seiner Nichtexistenz überzeugt, daß sie seinen Zorn nicht fürchten. Eine ganz andere Sache ist dagegen die Obrigkeit, jegliche Obrigkeit vom Zaren bis zum letzten Polizisten! Oder auch die reichen und wegen ihrer gesellschaftlichen Stellung mächtigen Leute, vom Bankier und jüdischen Pächter bis zum letzten Kaufmann-Kulaken und Gutsbesitzer! Deren Zorn kann sich nur allzu spürbar äußern. Aus dieser Erwägung heraus erklären die Freidenker dem Herrgott einen unerbittlichen Krieg, lehnen aufs radikalste die Religion in all ihren Erscheinungsweisen und Aspekten ab, wettern gegen die Theologie und den ganzen metaphysischen Unsinn, den ganzen Volksaberglauben, und das im Namen einer Wissenschaft, die sie natürlich in der Tasche haben und mit der sie ihre ganzen geschwätzigen Schreibereien färben – gleichzeitig aber wenden sie sich mit größter Sanftmut an alle politischen und gesellschaftlichen Mächte dieser Welt, und

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wenn sie sich gar – gezwungen durch Logik und öffentliche Meinung – gestatten, auch diese abzulehnen, so tun sie das so höflich und sanft, daß man schon ungewöhnlich schroff sein muß, wenn man sich über sie ärgern wollte; außerdem sichern sie sich auch immer eine Rückzugsmöglichkeit und äußern ihre Hoffnung auf Richtigstellung. So groß ist ihre Fähigkeit, zu hoffen und zu glauben, daß sie sogar für möglich halten, daß unser regierender Senat früher oder später zum Organ der Volksbefreiung wird. (Siehe das letzte, dritte Programm des ›Vpered‹, einer unperiodischen Publikation, deren baldiges Erscheinen man in Zürich erwartet).+311 Doch lassen wir diese Scharlatane und wenden uns unserem eigenen Problem zu. Niemals, unter keinerlei Vorwand, noch für irgendwelche Zwecke darf man das Volk betrügen. Das wäre nicht nur verbrecherisch, sondern im Hinblick auf die Erfolge der revolutionären Sache schädlich; schädlich schon allein deshalb, weil jeder Betrug seinem Wesen nach kurzsichtig, kleinlich, eng und immer allzu durchsichtig ist und auf jeden Fall aufgedeckt und enthüllt wird; für die revolutionäre Jugend wäre das die verlogenste, eigenmächtigste und bornierteste und dazu noch volksfeindlichste Richtung. Der Mensch ist nur dann stark, wenn er ganz wahrhaftig und in Übereinstimmung mit seiner innersten Überzeugung spricht und handelt. Dann wird er in jeder Situation immer wissen, was er zu sagen und zu tun hat. Vielleicht wird er fallen, doch kann er weder sich noch seiner Sache Schande bringen. Wenn wir die Befreiung des Volkes mit Lügen erreichen wollen, dann werden wir sicherlich in die Irre gehen, vom Weg abkommen und selbst das Ziel aus den Augen verlieren, und wenn wir gar noch irgendeinen Einfluß auf das Volk haben sollten, so werden wir auch das Volk vom rechten Weg abbringen, d.h. im Sinne und Interesse der Reaktion handeln. Deshalb sind wir verpflichtet, da wir zutiefst überzeugte Atheisten, Feinde jeglichen religiösen Glaubens und Materialisten sind, jedesmal, wenn wir mit dem Volk auf den Glauben zu sprechen kommen, in aller Deutlichkeit unseren Unglau-

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ben, ja mehr noch, unsere feindselige Haltung gegenüber der Religion zum Ausdruck zu bringen. Auf alle Fragen, die man uns im Volk zu diesem Thema stellen wird, müssen wir ehrlich antworten, ja wenn nötig, d.h. wenn sich ein Erfolg abzeichnet, uns sogar bemühen, ihm die Richtigkeit unserer Ansichten zu erklären und zu beweisen. Doch sollten wir selbst keine solchen Gespräche provozieren. Der Frage der Religion sollten wir nicht den ersten Platz bei unserer Propaganda im Volk einräumen. Das käme unserer tiefsten Überzeugung nach einem Verrat an der Sache des Volkes gleich. Das Volk ist weder Doktrinär noch Philosoph. Es hat weder die Muße noch ist es gewohnt, sich mit vielen Fragen gleichzeitig zu beschäftigen. Wenn es sich für eine begeistert, vergißt es alle anderen. Deshalb haben wir die unmittelbare Verpflichtung, vor ihm die Hauptfrage zu stellen, von deren Lösung seine Befreiung mehr als von allem anderen abhängt. Diese Frage aber ergibt sich aus seiner eigenen Lage, aus seinem ganzen Leben, sie ist ökonomisch-politischer Natur. Ökonomisch im Sinne einer sozialen Revolution und politisch im Sinne der Zerstörung des Staates. Das Volk mit der Frage der Religion beschäftigen bedeutet, es von seiner eigentlichen Sache ablenken, heißt, seine Sache verraten. Diese Sache besteht allein in der Verwirklichung des Volksideals mit eventuellen Verbesserungen, soweit sie schon im Volke selbst angelegt sind, in der Weise, daß man ihm die beste Richtung gibt, die am unmittelbarsten zum Ziel führt. Wir haben schon auf die drei unseligen Züge hingewiesen, die vor allem das Ideal des russischen Volkes überschatten. Dazu sei nun bemerkt, daß die zwei letzteren: das Aufgehen des Einzelnen im Mir und die Vergötterung des Zaren, genau genommen natürliche Folgen des ersten, nämlich des Patriarchalismus, sind, welches somit das größte historische Übel ist, ein Übel, das unglücklicherweise gänzlich aus dem Volk kommt und gegen das mit allen Kräften zu kämpfen wir verpflichtet sind. Es hat das ganze russische Leben verformt, hat ihm jenen Charakter starren Stumpfsinns und hoffnungsloser Verkom-

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menheit verliehen, den Charakter jener tiefverwurzelten Lüge und gierigen Heuchelei und schließlich jener sklavischen Servilität, der dieses Leben so unerträglich macht, Die Familie, die schon von ihrer rechtlich-wirtschaftlichen Basis her unmoralisch ist, wurde durch den Despotismus des Ehemanns, des Vaters und dann des älteren Bruders zur Schule triumphierender Gewalt und Rücksichtslosigkeit, tätlicher Niedertracht und Unzucht zu Hause. Übertünchtes Grab+312 – mit diesem Ausdruck wird die russische Familie ausgezeichnet definiert. Der gute Mensch aus einer solchen russischen Familie – wenn er wirklich ein guter Mensch ist, nur charakterlos, also einfach ein gutmütiges Schwein, unschuldig und unterwürfig – dieser Mensch ist ein Geschöpf, das nichts klar erkennt, nichts definitiv will, ein Geschöpf, das unterschiedslos und dadurch quasi unabsichtlich fast gleichzeitig Gutes und Böses tut. Sein Handeln wird viel weniger durch seinen Zweck als durch die Umstände, seine augenblickliche Verfassung und vor allem durch das Milieu bestimmt; gewohnt, in der Familie widerspruchslos zu gehorchen, fährt er auch in der Gesellschaft fort, zu gehorchen und sein Mäntelchen nach dem Wind zu hängen; er ist geschaffen, Sklave zu sein und zu bleiben, ein Despot wird er nie. Dazu hat er nicht die Kraft. Deshalb wird er selbst auch niemandem die Peitsche geben, aber gewiß wird er den Unglücklichen, sei er nun schuldig oder nicht, festhalten, den die Obrigkeit auspeitschen lassen will; wobei Obrigkeit für ihn in den drei wesentlichen heiligen Formen auftritt: als Vater, als Mir und als Zar. Ist er ein eigensinniger, heftiger Mensch, so wird er gleichzeitig Sklave und Despot sein; ein rücksichtsloser Despot gegenüber jedem, der niedriger als er zu stehen kommt und von seiner Willkür abhängig wird. Seine Herren sind der Mir und der Zar. Ist er selbst Familienoberhaupt, so wird er zu Hause zum uneingeschränkten Despoten, aber zum Diener des Mir und zum Sklaven des Zaren. Der Mir ist seine Welt,+313 Er ist nichts anderes als die natürliche Erweiterung seiner Familie, seiner Sippe, Deshalb herrscht

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hier dasselbe patriarchalische Prinzip, derselbe widerliche Despotismus und dieselbe gemeine Unterwürfigkeit, und folglich auch dieselbe tiefverwurzelte Ungerechtigkeit und radikale Verneinung jeglichen Rechts für den Einzelnen wie in der Familie. Die Beschlüsse des Mir, wie auch immer sie ausfallen, sind Gesetz. »Wer wagt es, gegen den Mir anzugehen!« staunt der russische Mužik. Doch wir werden sehen, daß es außer dem Zaren, seinen Beamten und Adligen, die selbst außerhalb des Mir oder genau genommen über dem Mir stehen, im russischen Volk selbst noch jemanden gibt, der es wagt, gegen den Mir anzugehen: Das ist der Räuber. Das ist der Grund, weshalb das Räubertum eine wichtige historische Erscheinung in Rußland ist – die ersten Aufständischen, die ersten Revolutionäre in Rußland, Pugačev und Stenka Razin, waren Räuber. Im Mir haben nur die Alten, die Familienoberhäupter, Stimmrecht. Die unverheirateten jungen Leute, oder sogar auch die verheirateten, solange sie noch nicht selbständig sind, müssen die Befehle ausführen und gehorchen. Aber über der Gemeinde, über allen Gemeinden steht der Zar, ihrer aller Patriarch und Stammvater, Vater von ganz Rußland. Deshalb ist seine Macht grenzenlos. Jede Obščina bildet ein in sich geschlossenes Ganzes, weshalb – und das ist eines der Hauptübel in Rußland – keine einzige Obščina irgendeine selbständige organische Verbindung zu anderen hat, ja nicht einmal das Bedürfnis danach verspürt. Sie verbünden sich miteinander nur über Väterchen-Zar, nur unter seiner obersten väterlichen Gewalt. Wir sehen darin ein großes Unglück. Es ist klar, daß diese Isoliertheit der einzelnen Obščinen das Volk schwächt und alle seine Aufstände, die zumeist lokal und unabhängig voneinander entstehen, zur unvermeidlichen Niederlage verurteilt und damit der despotischen Gewalt zum Sieg verhilft. D.h. also, eine der Hauptaufgaben der revolutionären Jugend muß sein, mit allen nur möglichen Mitteln und um jeden Preis unter den isolierten Obščinen ein lebendiges Band der Revolte herzustellen. Das ist eine schwere, aber nicht unmögliche Aufgabe, denn die Ge-

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schichte zeigt uns, daß in dunklen Zeiten, etwa zur Zeit der Wirren um die falschen Demetrier,+314 oder den Revolutionen Stenka Razins oder Pugačevs,+66 auch bei der Revolte Novgorods+315 und zu Beginn der Regierung von Zar Nikolaus, die Obščinen selbst aus eigenem Antrieb die Herstellung solcher rettender Verbindungen anstrebten. Es gibt zahllose solche Obščinen, und ihrer aller Väterchen-Zar steht allzu hoch über ihnen, nur wenig niedriger als der Herrgott, als daß er sich persönlich um alles kümmern könnte. Braucht doch selbst der Herrgott den Dienst unzähliger himmlischer Dienstränge und Kräfte, um die Welt zu lenken – die Seraphime, Cherubime, Erzengel, sechsflügeligen und einfachflügeligen Engel -, wieviel weniger kann da der Zar ohne Beamte auskommen. Er braucht eine ganze militärische, zivile, juristische und polizeiliche Administration. So steht also zwischen dem Zaren und dem Volk, zwischen dem Zaren und der Obščina ein militärischer, polizeilicher, bürokratischer und notwendigerweise streng zentralisierter Staat. So befindet sich also Väterchen-Zar, wie man ihn sich als Beschützer und Wohltäter des Volkes vorstellt, in unendlichen Höhen, fast in himmlischer Ferne, während der wahre Zar – der Knuten-Zar, der Räuber-Zar und der Verderber-Zar – nämlich der Staat, seinen Platz einnimmt. Daraus ergibt sich als natürliche Folge die seltsame Tatsache, daß unser Volk zur selben Zeit den unwirklichen Zaren seiner Vorstellung vergöttert und den tatsächlichen, im Staat verkörperten, Zaren haßt. Unser Volk haßt den Staat tief und leidenschaftlich, haßt alle seine Repräsentanten, gleichgültig, in welcher Form sie sich ihm zeigen. Noch vor kurzem war sein Haß zwischen Adligen und Beamten geteilt, und manchmal schien es sogar, daß es den Adel noch mehr haßt als die Beamten, obwohl im Grunde der Haß auf beide gleich groß ist. Aber seit der Adel, mit der Aufhebung der Leibeigenschaft, sichtbar zu verarmen und zu verfallen und sich zu seiner ursprünglichen Form eines Standes im ausschließlichen Dienst des Staates zu wandeln begonnen hat, hat das Volk ihn in seinen allgemeinen Haß auf den

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ganzen Beamtenstand eingeschlossen. Es ist wohl kaum nötig zu zeigen, wie berechtigt dieser Haß ist! Der Staat also hat die ohnedies schon durch das patriarchalische Prinzip verdorbene russische Gemeinde endgültig erdrückt und korrumpiert. Unter seinem Joch wurde selbst die Gemeindewahl zum Betrug, und die vom Volk auf Zeit gewählten Personen, die Gemeindeoberhäupter, Ältesten, Dorfpolizisten und Obmänner, wurden einerseits zum Instrument der Gewalt, andererseits zu käuflichen Dienern der reichen Bauern. Unter diesen Bedingungen mußten die letzten Überreste von Gerechtigkeit, Wahrheit und einfacher Menschenliebe aus den Gemeinden verschwinden, die dazu noch durch Steuern und Abgaben an den Staat zerstört und durch die Willkür der Obrigkeit endgültig unterdrückt wurden. Mehr als je zuvor war es das Räubertum, das dem Einzelnen als letzter Ausweg blieb; für das ganze Volk aber – der allgemeine Aufstand, die Revolution. Was kann in einer solchen Lage unser geistiges Proletariat tun, unsere russische, ehrliche, integre und bis zum Letzten opferbereite sozial-revolutionäre Jugend? Zweifellos muß sie ins Volk gehen,+316 weil es heutzutage, vor allem in Rußland, nirgends mehr außerhalb des Volkes, außerhalb der vielen Millionen von einfachen Arbeitern noch Leben, Aufgaben oder eine Zukunft gibt. Aber wie soll man ins Volk gehen und wozu? Nach dem unglücklichen Ausgang der Nečaev-Affäre+317 bestehen bei uns in dieser Beziehung zur Zeit äußerst geteilte Meinungen; aber in dem ganzen Gedankenwirrwarr zeichnen sich schon jetzt zwei wesentliche, einander entgegengesetzte Richtungen ab. Die eine ist von mehr friedliebender und vorbereitender Art; die andere, rebellische, erstrebt unmittelbar die Organisation einer Volksverteidigung. Die Verfechter der ersten Richtung glauben, daß diese Revolution zur Zeit unmöglich ist. Da sie aber der Not des Volkes nicht tatenlos zuschauen wollen, beschließen sie, ins Volk zu gehen, um diese Not brüderlich mit ihm zu teilen und es außerdem zu lehren und vorzubereiten, nicht theoretisch, son-

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dern praktisch mit ihrem lebendigen Beispiel. Die einen wollen unter die Fabrikarbeiter gehen und versuchen, indem sie unter den gleichen Bedingungen wie diese arbeiten, Gemeinschaftsgeist unter ihnen zu verbreiten. Andere wiederum wollen landwirtschaftliche Kolonien gründen, in denen sie außer der gemeinsamen Nutzung des Landes, die ja unseren Bauern wohlbekannt ist, auch noch das ihnen völlig unbekannte, aber ökonomisch notwendige Prinzip der kollektiven Bebauung des gemeinsamen Bodens einführen, das Prinzip, nach dem der Ertrag oder sein Gegenwert gleichmäßig verteilt wird, und zwar nach strengster Gerechtigkeit, nicht einer juristischen, sondern einer menschlichen Gerechtigkeit, welche von den Fähigen und Starken mehr, von den Unfähigen und Schwachen weniger Arbeit verlangt und den Lohn nicht nach dem Arbeitsmaß, sondern nach den Bedürfnissen jedes einzelnen verteilt. Sie hoffen, daß es ihnen gelingt, die Bauern durch ihr Beispiel und vor allem durch die Vorteile mitzureißen, die sie sich von der Organisation der Kollektivarbeit erhoffen; diese Hoffnung hegte auch Cabet,+318 als er nach dem Mißlingen der Revolution 1848 mit seinen Ikariern nach Amerika ging, wo er sein Neu-Ikarien gründete, das allerdings nur sehr kurze Zeit bestand;+319 dazu ist zu bemerken, daß für den Erfolg eines solchen Versuchs der amerikanische Boden immer noch günstiger ist als der russische. In Amerika herrscht völlige Freiheit, in unserem gesegneten Rußland – der Zar. Doch darauf beschränken sich die Hoffnungen unserer Wegbereiter und friedlichen Volksbelehrer keineswegs. Sie wollen ihr häusliches Leben auf der Grundlage voller Freiheit jedes einzelnen aufbauen und damit jenem niederträchtigen Patriarchalismus entgegenwirken, auf dem unsere ganze russische Knechtschaft beruht. Das bedeutet, sie wollen das Hauptübel unserer Gesellschaft mit der Wurzel ausrotten und folglich direkt zur Verbesserung des Volksideals und zur Verbreitung von praktischen Vorstellungen von Gerechtigkeit, Freiheit und Wegen zur Befreiung im Volk beitragen.

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All das ist wunderschön, außerordentlich großmütig und edel, aber wohl kaum durchführbar. Selbst wenn es irgendwo gelingt, so ist das nur ein Tropfen auf den heißen Stein, ein Tropfen, der bei weitem nicht ausreicht, unser Volk vorzubereiten, aufzurütteln und zu befreien; es bedarf vieler Mittel, vieler lebendiger Kraft, und die Ergebnisse sind verschwindend gering. Wer sich solche Pläne macht in der ehrlichen Absicht, sie zu verwirklichen, der tut das zweifellos mit geschlossenen Augen, um nicht unsere russische Wirklichkeit in all ihrer Häßlichkeit sehen zu müssen. Man kann ihm von vornherein alle schrecklichen, schweren Enttäuschungen voraussagen, die er erleben wird, sowie er sich an die Verwirklichung begibt, und bis auf eine kleine, sehr kleine Zahl von Glücksfällen werden die meisten dieser Leute kaum über diesen ersten Anfang hinauskommen, werden gar nicht die Kraft dazu haben. Sollen sie es ruhig versuchen, wenn sie keine andere Möglichkeit sehen, doch sollten sie auch wissen, daß das wenig, viel zu wenig für die Befreiung, die Errettung unseres armen Märtyrervolkes ist. Ein anderer Weg ist der kämpferische, rebellische. An ihn glauben wir, und nur von ihm erwarten wir Rettung. Unser Volk braucht eindeutig Hilfe. Es befindet sich in einer so verzweifelten Lage, daß man mühelos jedes beliebige Dorf zur Revolte bringen könnte. Doch obwohl jede Revolte immer von Nutzen ist, wie erfolglos sie auch gewesen sein mag, sind solche isolierten Ausbrüche nicht ausreichend. Man muß alle Dörfer auf einmal aufrütteln. Daß das möglich ist, beweisen uns die ungeheuren Volksbewegungen unter Stenka Razin und Pugačev. Diese Bewegungen zeigen uns nämlich, daß es im Bewußtsein unseres Volkes in der Tat ein Ideal gibt, das es zu verwirklichen sucht; und aus dem Mißerfolg dieser Bewegungen können wir schließen, daß dieses Ideal noch wesentliche Mängel hat, die einen Erfolg bisher verhindert haben. Diese Mängel haben wir bereits genannt und haben unsere Überzeugung geäußert, daß es die erste Pflicht unserer revolu-

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tionären Jugend sei, ihnen entgegenzuwirken und sie mit allen Kräften schon im Bewußtsein des Volkes zu bekämpfen; um die Möglichkeit eines solchen Kampfes zu erweisen, haben wir gezeigt, daß er schon seit langem im Volke selbst begonnen hat. Der Krieg gegen den Patriarchalismus wird heute fast in jedem Dorf und jeder Familie geführt, und Obščina und Mir sind jetzt in einem solchen Maße zum Werkzeug der dem Volk verhaßten Staatsgewalt und Beamtenwillkür geworden, daß die Revolte gegen letztere zugleich auch eine Revolte gegen den Despotismus von Obščina und Mir geworden ist. Bleibt noch der Zarenkult, von dem wir glauben, daß er im Verlauf der letzten zehn bis zwölf Jahre im Bewußtsein des Volkes bedeutend schwächer geworden ist, da man seiner überdrüssig geworden ist dank der weisen und volksfreundlichen Politik Zar Alexanders des Großmütigen. Jetzt gibt es nicht mehr den adligen Land- und Seelenbesitzer, der doch vor allen Dingen den ganzen Haß des Volkes auf sich gezogen hatte. Aber der Adlige oder Kaufmann mit Grundbesitz, der Großbauer ist geblieben, und vor allem der Beamte als Engel oder gar Erzengel des Zaren. Und der Beamte führt den Willen des Zaren aus. Wie sehr auch das Bewußtsein unseres Bauern durch den irrsinnigen historischen Glauben an den Zar getrübt ist, das wird schließlich auch er langsam begreifen. Und wie sollte er auch nicht! Schickt er doch seit zehn Jahren von allen Enden Rußlands seine Bittsteller zum Zaren und bekommt von den Lippen des Zaren selbst immer wieder nur diese eine Antwort: »Eine andere Freiheit wird es für euch nicht geben!« Nein, Euer Gnaden, der russische Bauer ist zwar unwissend, aber er ist kein Dummkopf. Und er müßte ja auch der größte Dummkopf sein, wenn er nach so vielen ins Auge springenden Tatsachen und Erfahrungen, die er am eigenen Leibe gemacht hat, nicht langsam begriffe, daß er keinen schlimmeren Feind hat als den Zaren. Ihm das zu erklären, es ihn mit allen möglichen Mitteln spüren zu lassen und dazu die ganzen bedauerlichen und tragischen Zwischenfälle zu benutzen, von denen das tägliche Leben des Volkes erfüllt ist, ihn darauf hinzuweisen,

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daß alle die Greueltaten und Räubereien von Beamten, Gutsbesitzern, Popen und Kulaken, die ihm das Leben so schwer machen, eigentlich direkt von der Zarengewalt herrühren, auf die sie sich stützen und ohne die sie unmöglich sind, kurz gesagt, dem Bauern zu zeigen, daß der ihm so verhaßte Staat der Zar selbst und nichts anderes als der Zar ist – das ist die erste und wichtigste Pflicht einer revolutionären Propaganda. Aber das ist noch nicht alles. Der Hauptmangel, der die allgemeine Volkserhebung in Rußland paralysiert und bisher unmöglich gemacht hat, ist die Isoliertheit der Obščina, die Abgeschiedenheit und Vereinzelung der lokalen Bauern-Mirs. Um jeden Preis muß diese Abgeschlossenheit überwunden werden, muß ein lebendiger Strom revolutionären Denkens, Wollens und Tuns zu diesen einzelnen Mirs geleitet werden. Man muß eine Verbindung unter den besten Bauern aller Dörfer, Bezirke und möglichst auch Gebiete, unter den Progressiven, den natürlichen Revolutionären des russischen Bauerntums herstellen und, wo es möglich ist, ein ebenso lebendiges Band zwischen den Fabrikarbeitern und der Bauernschaft knüpfen. Dieses Band kann nur ein persönliches sein. Es ist also nötig, daß die besten oder fortschrittlichsten Bauern jedes Dorfes, jedes Bezirks und jedes Gebietes, natürlich nur unter größten Vorsichtsmaßnahmen, ebensolche Bauern aller anderen Dörfer, Bezirke und Gebiete kennen. Man muß also zunächst alle Progressiven unter den Bauern, und durch sie, wenn nicht das ganze Volk, so doch wenigstens den größeren, energischeren Teil davon überzeugen, daß es für das ganze Volk, für alle Dörfer, Bezirke und Gebiete in ganz Rußland, ja auch außerhalb Rußlands, ein gemeinsames Übel und somit auch die eine gemeinsame Sache gibt. Man muß sie davon überzeugen, daß es im Volke eine ungebrochene Kraft gibt, gegen die nichts und niemand ankommen kann; und daß diese Kraft nur deshalb das Volk noch nicht befreit hat, weil sie erst dann mächtig wird, wenn sie konzentriert, gleichzeitig, überall und allgemein und für eine einzige Sache handelt, aber daß das bisher noch nicht der Fall war. Um all

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diese Kräfte zusammenzufassen, muß man unbedingt die Dörfer, Bezirke und Gebiete miteinander in Verbindung bringen und sie nach einem gemeinsamen Plan und zu dem einen Zweck der Befreiung des ganzen Volkes organisieren. Um aber in unserem Volk das Gefühl und das Bewußtsein wirklicher Einheit zu schaffen, muß eine Art gedruckte, lithographierte, handschriftlich oder gar mündlich weiterzuverbreitende Volkszeitung aufgebaut werden, welche überall, in allen Gebieten, Bezirken oder Dörfern Rußlands sofort bekanntmachen würde, ob am einen oder anderen Orte gerade eine Volks-, Bauern- oder Fabrikarbeiterrevolte ausgebrochen ist, und auch Nachricht über die wichtigsten revolutionären Bewegungen im Proletariat Westeuropas gäbe; man müßte sie aufbauen, damit unser Bauer und unser Fabrikarbeiter sich nicht allein fühlt, vielmehr die Gewißheit hätte, daß hinter ihm, unter demselben Joch, dafür aber auch von derselben Leidenschaft, demselben Willen zur Befreiung beseelt, die gewaltige Masse der einfachen Arbeiter steht, die sich auf eine weltweite Erhebung vorbereiten. Solcherart ist die Aufgabe, und, sagen wir es offen, die einzige Aufgabe der revolutionären Propaganda. Es ist nicht angebracht, schriftlich zu erläutern, auf welche Art und Weise diese Aufgabe von unserer Jugend erfüllt werden soll. Wir sagen nur das eine: Das russische Volk wird nur dann unsere gebildete Jugend als seine Jugend anerkennen, wenn sie sich mit ihm in seinem Leben, seiner Not, seinen Anliegen und seinem verzweifelten Aufstand trifft. Die Jugend muß künftighin nicht nur als Augenzeuge, sondern aktiv, in der vordersten Front, zu jedem Opfer bereit, überall und immer, an allen Unruhen und Aufständen des Volkes, den großen wie den kleinen, teilnehmen. Sie muß selbst nach einem streng durchdachten und festgelegten Plan handeln und ihre Aktionen in dieser Beziehung strengster Disziplin unterwerfen, um jene Einmütigkeit zu schaffen, ohne die ein Sieg unmöglich ist; dazu muß sie selbst lernen und das Volk lehren, nicht nur verzweifelt Widerstand zu leisten, sondern auch kühn zum Angriff überzugehen.

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Noch ein Wort zum Abschluß. Die Klasse, die wir unser geistiges Proletariat nennen und die sich bei uns bereits in einer sozialrevolutionären, nämlich schlicht gesagt, einer verzweifelten und unmöglichen Lage befindet, muß sich jetzt bewußt von der Leidenschaft zur sozial-revolutionären Sache durchdringen lassen, und wenn sie nicht schändlich und sinnlos untergehen will, so ist sie jetzt aufgerufen, die Volksrevolution vorzubereiten, d.h. zu organisieren. Es gibt keinen anderen Ausweg für sie. Natürlich könnte sie dank der Ausbildung, die sie genossen hat, sich bemühen, ein mehr oder weniger vorteilhaftes Pöstchen in den weit überfüllten und wenig gastfreundlichen Reihen derer zu ergattern, die das Volk berauben, ausbeuten und unterdrücken. Doch erstens gibt es immer weniger solcher Pöstchen, so daß sie nur für eine sehr kleine Anzahl von Leuten erreichbar sind. Für die meisten bleibt nur die Schande des Verrats, sie enden in Armut, Gemeinheit und Niedertracht. Wir jedoch wenden uns nur an diejenigen, für die Verrat undenkbar, unmöglich ist. Nachdem sie unwiederbringlich jede Verbindung mit der Welt der Ausbeuter, der Vernichter und Feinde des russischen Volkes abgebrochen haben, müssen sie nun sich selbst als das wertvolle Kapital sehen, das ausschließlich der Sache der Volksbefreiung gehört, ein Kapital, das sich nur an die Propaganda unter dem Volk verschwenden darf, auf das Wachrütteln des Volkes und auf die Organisation der allgemeinen Volkserhebung. Anhang B PROGRAMM DER SLAWISCHEN SEKTION IN ZÜRICH.+320 1. Die Slawische Sektion erkennt die allgemeinen Statuten der Internationalen Arbeiter-Assoziation, die auf dem ersten Kongreß (September 1866 in Genf)+321 angenommen worden sind,

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voll an und macht sich die Propagierung der Prinzipien des revolutionären Sozialismus und die Organisation der Streitkräfte des Volkes in den slawischen Ländern zur besonderen Aufgabe. 2. Sie wird sich mit gleicher Energie jedem Bestreben und jedem Auftreten sowohl des Panslawismus, d.h. einer Befreiung der slawischen Völker mit Hilfe des russischen Reiches, als auch des Pangermanismus widersetzen, d.h. dieser Befreiung mit Hilfe der bourgeoisen Zivilisation der Deutschen, die sich jetzt zu einem gewaltigen sogenannten Volksstaat organisieren wollen. 3. Indem wir das anarchistische revolutionäre Programm annehmen, das unserer Meinung nach allein alle Bedingungen für eine wahre und völlige Befreiung der Volksmassen enthält, und in der Überzeugung, daß die Existenz eines Staates in keinerlei Form mit der Freiheit des Proletariats zu vereinbaren ist, daß er kein internationales brüderliches Bündnis der Völker zuläßt, sind wir für die Vernichtung aller Staaten. Insbesondere für die slawischen Völker ist diese Vernichtung eine Frage auf Leben und Tod und gleichzeitig die einzige Möglichkeit, sich mit Völkern anderer Rassen, etwa der türkischen, madjarischen oder deutschen, zu versöhnen. 4. Mit dem Staat soll unwiederbringlich alles zu Grunde gehen, was juristisches Recht genannt wird, jegliche Organisation von oben nach unten durch Gesetzgeber und Regierung, d.h. die Organisation, die nie ein anderes Ziel gehabt hat, als die Arbeit des Volkes für die herrschenden Klassen zu bestimmen und zu systematisieren. 5. Die Vernichtung des Staats und des juristischen Rechts wird notwendig die Vernichtung des persönlichen Erbeigentums und der juristischen Familie, die ja auf diesem Eigentum basiert, zur Folge haben, da beide keinerlei menschliche Gerechtigkeit zulassen. 6. Allein die Vernichtung des Staats, des Eigentumsrechts und der juristischen Familie macht es möglich, das Leben des Volkes von unten nach oben auf der Basis der kollektiven Arbeit und des kollektiven Eigentums zu organisieren – beides

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ist unausbleiblich für alle möglich und verpflichtend geworden – und zwar durch die absolut freiheitliche Verbindung der Individuen in Assoziationen oder in unabhängigen Gemeinden oder, außer den Gemeinden und allen regionalen und nationalen Abgrenzungen, in großen, gleichartigen Assoziationen, die durch die Identität ihrer Interessen und ihrer sozialen Bestrebungen miteinander verknüpft sind, sowie durch die Föderation der Gemeinden in Nationen und der Nationen in der Menschheit. 7. Die Slawische Sektion, die sich zum Materialismus und Atheismus bekennt, wird alle Arten von Gottesdienst und alle offiziellen und inoffiziellen Konfessionen bekämpfen und wird, indem sie in Wort und Tat voll für die Gewissensfreiheit aller und für das heilige Recht jedes Einzelnen, seine Ideen zu verkünden, eintritt, alles daran setzen, die Idee einer Gottheit in all ihren religiösen, metaphysischen, doktrinär-politischen und juristischen Erscheinungsformen zu vernichten in der Überzeugung, daß diese gefährliche Idee immer noch jegliche Art von Sklaverei gerechtfertigt hat. 8. Sie hat größte Hochachtung vor den positiven Wissenschaften; sie fordert für das Proletariat eine für alle, ohne Unterschied des Geschlechts, gleiche wissenschaftliche Bildung, aber als Feind jeder Regierung lehnt sie mit Entrüstung eine Regierung durch die Gelehrten als äußerst anmaßend und schädlich ab. 9. Die Slawische Sektion fordert mit der Freiheit auch die Gleichheit der Rechte und Pflichten für Mann und Frau. 10. Die Slawische Sektion, die die Befreiung der slawischen Völker anstrebt, beabsichtigt dabei jedoch keineswegs die Organisation einer besonderen slawischen Welt, die aus Nationalgefühl Völkern anderer Rasse feindlich gesinnt wäre. Es wird im Gegenteil ihr Bestreben sein, die slawischen Völker in die Gesamtfamilie der Menschheit zu überführen, welche auf den Prinzipien der Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit aller Menschen zu verwirklichen, die Internationale Arbeiter-Assoziation aufgerufen hat. 11. Angesichts dieser großen Aufgabe – der Befreiung der Volksmassen von jeglicher Aufsicht und jeder Regierung -,

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welche die Internationale Assoziation auf sich genommen hat, läßt die slawische Sektion keine Möglichkeit zu, daß irgendeine Obergewalt oder Regierung in der Internationale existiere, läßt folglich keine andere Organisation als die freie Föderation selbständiger Sektionen zu.+322 12. Die Slawische Sektion erkennt keine offizielle Wahrheit oder ein entsprechendes politisches Programm an, das vom Generalrat oder dem allgemeinen Kongreß vorgeschrieben wird.+323 Sie erkennt nur die völlige Solidarität der Personen, Sektionen und Föderationen im ökonomischen Kampf der Arbeiter aller Länder gegen die Ausbeuter an. Sie wird sich besonders dafür einsetzen, die slawischen Arbeiter an allen praktischen Folgen dieses Kampfes teilhaben zu lassen. 13. Die Slawische Sektion bekennt sich mit den Sektionen aller Länder: a) zur Freiheit der philosophischen und sozialen Propaganda; b) zur Freiheit der Politik, solange sie nicht die Freiheit und das Recht der anderen Sektionen und Föderationen verletzt; zur Freiheit, sich für eine Volksrevolution zu organisieren; zur Freiheit des Bündnisses mit den Sektionen und Föderationen anderer Länder. 14. Da die Juraföderation sich offen zu diesen Prinzipien bekannt hat und da sie sie aufrichtig in die Tat umsetzt, ist die Slawische Sektion ihr beigetreten.+324

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Hansjörg Viesel Vorwort zur deutschen Erstausgabe Berlin 1972

VORWORT ANARCHISMUS UND EMANZIPATORISCHE BEWEGUNG

Ein Gespenst geht um in Deutschland – das Gespenst des Anarchismus. Alle Mächte des alten Deutschland haben sich zu einer heiligen Hetzjagd gegen dieses Gespenst verbündet. Springer und Genscher, Christdemokraten und Parteisozialisten, Marxisten-Leninisten und deutsche Polizisten. Wir brauchen mehr Staat, natürlich aus einer inneren echten Autorität heraus geboren. Springer 1972

Es wird zu weit führen, das aufzuzählen, was von der bürgerlichen Gesellschaft in den letzten Jahren unter ›Anarchismus‹ alles begriffen und angegriffen wurde. Allgemein ist jedoch nicht zu übersehen, daß den zahlreichen Zuordnungen verschiedenartigster Aktivitäten unter den plötzlich wieder ›hoffähigen‹1 Begriff Anarchismus ein gewisser Wahrheitsgehalt nicht abgesprochen werden kann: immer handelte es sich um Aktionen, die den Rahmen der bürgerlichen Legalität und Ord-

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Mit dem Abbau des rigiden Antikommunismus der 50er Jahre durch die langfristig angelegte Ostpolitik mußte auch das bisherige Feindbild umgepolt werden. Mit der Expansion des Osthandels einher ging eine formale Rehabilitierung des ›Kommunismus‹ bei gleichzeitigem Aufbau eines neuen Feindbildes: Anarchismus. Der Höhepunkt des Umpolungsprozesses scheint mit der Hetzjagd auf die ›anarchistischen Gewaltverbrecher‹ und deren publizistischer Verwertung erreicht zu sein.

nung – im weitesten Sinne – praktisch negierten und ansatzweise sprengten. Die bürgerliche Welt weiß genau, wer und was sie bedroht. Die abgestufte Verfolgungs- und Vergeltungsstrategie ihrer Gewaltinstitutionen unterscheidet korrekt. Wer für sie als Kommunist, als Sozialist gilt, wird totgeschwiegen, auf die legitimierte Spielweise abgedrängt; dort kann, unbeschadet gegenüber der bestehenden gesellschaftlichen Machtstruktur, revolutionärer Kampf in der Phrase und in historischer Exklusivität geprobt werden. Anders dagegen der ›Anarchismus‹. Wer der bürgerlichen Gesellschaft als Anarchist gilt, wird totgeschossen – in letzter Instanz. Davor läuft noch der RECHTSweg: willkürliche Festnahmen, mehrmonatige Untersuchungshaft, langjährige Terrorurteile ... Was bekämpft die bürgerliche Gesellschaft als Anarchismus? Zunächst einmal sind es nicht vorrangig diejenigen, die sich Anarchisten nennen; im Gegenteil – die Rote Armee Fraktion, als ein Hauptadressat der staatlichen Hetzjagd wird zwar seitens der ›öffentlichen‹ Gewalt unter der Rubrik Anarchismus bekämpft, obwohl sie selbst in ihren Broschüren und Verlautbarungen sich vom ›Anarchismus‹ distanziert, sich selbst zur ML-Fraktion zählt. Nun mag es belanglos sein, wofür sich die eine oder andere politische Gruppe hält bzw. wie sie sich nennt. Es gibt auch anarchistische Gruppen in der Bundesrepublik, die sich seit Jahren hindurch aufrecht zum Anarchismus bekennen, unter Firmierung ›Anarchismus‹ Zeitschriften herausgeben, ohne dadurch unter den unmittelbaren staatlichen Terror zu geraten. Der Staatsapparat bekämpft die politischen Gruppen und Fraktionen nicht danach, wofür sich diese Gruppen halten, sondern er bekämpft sie in dem Maße, wie er sie für eine tatsächliche, akute Gefahr hält, die Massenloyalität von Bevölkerungsteilen dem Staat gegenüber aufzukündigen. Denn dadurch würde die Existenzbasis des bürgerlichen Klassenstaates, das Volk vom Durchsetzen der eigenen Interessen abzuhalten, praktisch in der Aktion infrage gestellt und beispielhaft durch die Tat propagiert. Durch Hausbesetzungen, Fahrpreisaktionen, Betriebsübernahmen und aktive Streiks begin-

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nen die handelnden Menschen ihre vom politischen Staat eingeplante Reduzierung auf den bloßen ›Staatsbürger‹ aufzuheben und als Gesellschaftsmitglieder ihre eigenen Bedürfnisse und Interessen kämpferisch zu organisieren und durchzusetzen. Hier wird nun klar, was der Staat im ›Anarchismus‹ bekämpft: der staatliche Terror richtet sich besonders gegen jene Gruppen und Fraktionen, deren Kampf antistaatlich, antiautoritär, militant, d.h. praktisch antikapitalistisch ist. Er richtet sich gegen die Gruppen, die tatsächlich in ihrer Praxis einen klaren Trennungsstrich gezogen haben zwischen sich und ihrem Kampf auf der einen Seite und zwischen der heutigen konkreten kapitalistischen Gesellschaft und ihren gewalttätigen institutionellen Absicherungen. Die legendären Väter des Grundgesetzes wußten sehr wohl um die gefährdete Existenzbasis ihres politischen Staates, wenn aus ihren Reihen – formal zwar durch die Faschismuserfahrungen legitimiert – formuliert wurde: »Wir können es uns nicht leisten, auf die Massen zu vertrauen ... « (Zinn, SPD, 1948) Und so wie die bürgerliche Logik sich keine Gesellschaft ohne einen Staat vorstellen kann, so braucht sie für die Abwehr der praktischen Ansätze von Kämpfen, die versuchen, die eigenen Interessen und Bedürfnisse solidarisch durchzusetzen, einen Popanz, der ihren eigenen Ängsten, Verwirrungen, Vorurteilen und Aggressionen einen Namen gibt, aber auch Angst und Unsicherheit potenziert: den Anarchismus. Darauf zu bauen, sich durch eine Distanzierung von den Gruppen, die augenblicklich am heftigsten vom aufgeblähten Polizeiapparat verfolgt werden, staatliche Absolution für die eigene ›revolutionäre Praxis‹ zu erschleichen, sagt bestenfalls was über Ernst und Kompromißlosigkeit solcher Praxis aus bzw. verschiebt die eigene Jagd in eine nahe Zukunft.

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Revolutionäre Ungeduld und objektive Reife Wenn der Sozialismus unwahrscheinlich ist, bedarf es der um so verzweifelteren Entschlossenheit, ihn wahrzumachen. Was ihm entgegensteht, sind nicht die technischen Schwierigkeiten der Durchführung, sondern der Machtapparat der Herrschenden. Horkheimer 1933

Es hat sich eingebürgert, Stellungnahmen zu Bakunin und dem Anarchismus, den Antiautoritären und den Anarcho-Syndikalisten mit einem selbstzufriedenen Ja ... aber zu verknüpfen. Mit vordergründiger Sympathie, in der sich das schlechte Gewissen über die eigene Untätigkeit aktualisiert, wird die Redlichkeit, der Eifer und der Idealismus der Anarchisten bejaht, um dann aber sofort auf das Scheitern der anarchistischen Bewegungen zu verweisen, die halt an der ›objektiven Situation‹ zerbrachen. Im Gegensatz zum Gros der Diskutanten, die ihre Argumente gegen den Anarchismus aus dem unerschöpflichen Denunziations-Reservoir der Geschichte der Arbeiterbewegung holen (›kleinbürgerlich‹, ›objektiv reaktionär‹, ›Kehrseite des Opportunismus bzw. Revisionismus‹ ...), versucht eine solche Einschätzung – und nur diese brauchen wir ernst zu nehmen, den Anarchismus, anarchistische Praxis, ihrem eigenen Verständnis von historischem Materialismus gemäß, zu interpretieren.2

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W. Harichs ›Abrechnung mit dem alten und neuen Anarchismus‹, so der Untertitel seiner ›Kritik der revolutionären Ungeduld‹, ist eine geglückte Mischung zwischen sattsam bekannten Phrasen und Denunziationen auf der Ebene des ›linken Radikalismus‹ von Lenin und schulterklopfendem Vorbeireden an der wirklichen Problematik einer neuen Anarchismusrezeption. Es zeigt bestenfalls wie Harich, eklektisch belesen, aber keinesfalls mit der Problematik der von ihm angegriffenen antiautoritären Bewegung vertraut, einem kritisch verkleideten Leninismus das Wort redet und beruhigt (1970) die Auflösung der antiautoritären Bewegung in die ML-Zirkel ›aus der Ferner‹ kon-

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In fataler Geschichtsmetaphysik machen sich die vermeintlichen Kritiker des Anarchismus zu bloßen Apologeten eines ›objektiven Geschichtsprozesses‹, dessen faktenhuberisch aufgezeigten Ergebnissen sie die als voluntaristisch denunzierten Absichten der Anarchisten entgegensetzen. Ein so verstandener ›historischer Materialismus‹ löst sich einfach auf: Was ist, mußte auch so kommen. Wir haben's ja gleich gesagt! Eine solche historisch-materialistische Versöhnung mit der Wirklichkeit ist blind und gefühllos gegenüber den konkreten historischen Alternativen, die es zu jeder Zeit und in jeder Situation gegeben hat. Die deterministische Apologie des jeweiligen Ergebnisses des Geschichtsprozesses greift zwar auf Hegels ›Was wirklich ist, ist vernünftig‹, zurück, aber am tatsächlichen Prozess der Geschichte vorbei. Griffige Metaphern (am meisten ›revolutionäre Realpolitik‹) versuchen, den Hegelschen Weltgeist und seine Geschichtsmetaphysik zu übertünchen, um nicht selbst dem Verdikt des Idealismus oder der Spekulation anheimzufallen. Die ›revolutionäre Realpolitik‹ taucht immer dann auf, wenn die Arbeiterbewegung durch eine zur Ideologie erstarrte Theorie und durch dogmatische Führerinstanzen die reale Beziehung zu sich selbst verloren hatte. Immer wenn einer lebendigen, aktiven Bewegung klargemacht werden soll, daß sie nicht selbst ihren eigenen Inhalt bestimmt, wird sie ›historisch -materialistisch‹ aus den konkreten Kämpfen herausgedrängt. Revolutionäre Realpolitik heißt, die bürgerliche Realpolitik zu Ende zu führen. ›Auf der einen Seite eine streng-marxistische, schlichte und nüchterne, aber ins Allerkonkreteste gehende Analyse der gegebenen Lage, der Wirtschaftsstruktur und der Klassenverhältnisse. Auf der anderen Seite eine durch keinerlei theoretische Voreingenommen-

statiert. ›Sich den ML anschließen, heißt die Notwendigkeit von Organisiertheit und Disziplin erkannt haben, heißt zähe Kleinarbeit, fern von publicity, auf sich nehmen, heißt Verbindung mit der Arbeiterklasse suchen.‹ Wolfgang Harich, Zur Kritik der revolutionären Ungeduld, Zürich 1971, S. 99.

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heit, durch keinen utopistischen Wunsch verstellte Klarsicht allen neuen Tendenzen gegenüber, die sich aus dieser Lage ergeben.‹3 So läßt sich ›revolutionäre Realpolitik‹ treiben. Der Erfolg der Politik hängt lediglich noch ab von der Korrektheit der richtigen Analyse. Das Rezept einmal gefunden, den Plan propagiert, lassen sich die proletarischen Heerscharen ins vorletzte Gefecht führen. Die anarchistische Theorie und Praxis der sozialen Revolution kennt den Begriff der ›revolutionären Realpolitik‹ natürlich nicht.4 Für ihn – und damit faßt er die Meinung der ›wohlwollenden‹ Anarchismuskritiker zusammen – ist Anarchismus gleichbedeutend mit dem ›Gewissen‹ der revolutionären Bewegung. Lediglich vor der Revolution, in ihrer ›Aufschwungsperiode‹, ist der Anarchismus ›wichtiges Korrelat der revolutionären Realpolitik, gerade weil er auch die Stimmung der Massen aufnehmen kann und sich gegen Kompromisse und Absprachen wendet und die bürgerliche Verschleierungstaktik der Arbeiterparteien schonungslos entlarvt. In der Revolution selbst, während der Massenstreiks, droht er durch seinen Dogmatismus die nächsten Aufgaben zu hintertreiben, ist sein Spontaneitätsfetischismus Bewußtseinsschranke; in dieser Phase muß die proletarische Organisation durch Aktionen diesen anarchistischen Konservatismus entlarven, um die Massen für die gesellschaftlichen Aufgaben zu erziehen.‹5 Weniger umständlich bringt das Caussidière 1848 über Bakunin auf den Begriff: Welch ein Mensch! Am ersten Tag der Revolution ist er einfach ein Schatz; am zweiten Tag muß man ihn erschießen.6 Wobei wir wieder bei der historisch-materialistisch umgestülpten Versöhnung mit der Wirklichkeit angelangt

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Georg Lukács, Lenin. In: Geschichte und Klassenbewußtsein, Neuwied 1968, S. 575. So Bernd Rabehl 1968. Zum Begriff der revolutionären Realpolitik. – Versuch einer Kritik am Anarchismus Cohn-Bendits. In: Republikanische Verlagsgesellschaft 1, Stuttgart 1968. Rabehl, a.a.O., S. 41. Zit. nach Rudolf Rocker, Der Bankerott des russischen Staatskommunismus (1921), Berlin 1968, Kramer Verlag, S. 94/95.

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sind. Von der Prämisse der revolutionären Realpolitik ausgehend, gelingt es so, gleichsam als Schema, das historische Schicksal der Anarchisten auf den Begriff zu bringen, wie es ›blut- und schmutztriefend‹ in die Annalen der Geschichte der emanzipatorischen Bewegungen eingetragen ist. Vom rationalistischen Drumherum befreit, enthüllt die ›revolutionäre Realpolitik‹ den Übergang der ›Arbeiterparteien‹ durch die Verstaatlichung der Revolution und der Arbeiterbewegung ins Lager der Konterrevolution. Auf der Strecke bleiben die, die in ihren Kämpfen ihre eigene Emanzipation und die der ganzen Menschheit betreiben. Die Arbeiterbewegung produziert sich ihre eigenen Totengräber in der Form politischer Kommissare, die sich selbst als Agenten der historischen Notwendigkeit ausgeben und begreifen und sorgsam darüber wachen, daß die Befreiung der Arbeiter nicht ihr eigenes Werk sein wird. Diese Verobjektivierung der Massen zur bloßen Basis einer letztlich bürgerlichen Arbeiterpolitik enthüllt den handelnden Subjekten im Verlauf der Klassenkämpfe, daß sie in einer doppelten Frontstellung den Prozeß ihrer Emanzipation7 kämpferisch durchsetzen, aber auch langfristig absichern müssen: gegen die alten und die neuen Zaren! Wenn Marx einmal sagte, die Arbeiterklasse ist revolutionär oder sie ist nichts, dann steckte dahinter nichts vom geschichtsmetaphysischen Fatalismus, der die Aktivität, das selbstbewußte Handeln, als bloße Funktion eines erreichten Produktivkräfteniveaus denunziert. Revolutionäres Handeln ist nicht ein Han-

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Emanzipation, emanzipatorische Bewegung ist kein bürgerlich individueller Erlösungsbegriff, sondern eine historisch-gesellschaftliche Kategorie, wie sie Marx in seinen Schriften vor 1848 zur Analyse der politischen (teilweisen Emanzipation) und sozialen (totalen Emanzipation) Revolutionen verwandte. ›Erst wenn der wirklich individuelle Mensch den abstrakten Staatsbürger in sich zurücknimmt ... Gattungswesen geworden ist die gesellschaftliche Kraft nicht mehr in der Gestalt der politischen Kraft von sich trennt, erst dann ist die menschliche Emanzipation vollbracht.‹ (MEGA, I, 1, [1927], S. 599)

deln, das die ›Logik der Reife‹ produziert, die Logik der Reife ist vielmehr ein Instrument seitens der bürgerlichen Arbeiterpolitiker, jegliches Handeln, das mit dem eigenen Fahrplan zur Eroberung der politischen Macht in Konflikt gerät, zu sabotieren und zu liquidieren. Der hämische Materialismus ist voll dieser Beispiele, ohne dabei im mindesten auf die eigene Rolle und Funktion bei der Liquidierung tatsächlicher emanzipatorischer Bewegungen einzugehen. Die Geschichte der Arbeiterbewegung als die Geschichte ihrer Niederlagen zeigt überdeutlich, wie die bürgerlichen Arbeiterparteien durch den Fetisch des von außen heranzutragenden ›revolutionären Klassenbewußtseins‹ die wirklichen Momente, Ansätze und Elemente einer lebendigen, emanzipatorischen Bewegung zerstörten und zerstören mußten, wollten sie nicht ihre eigene Existenz durch die tagtägliche Praxis sich ad absurdum führen lassen. Diesen zutiefst konservativen und reaktionären Zug der revolutionären Realpolitiker hat Karl Korsch am Beispiel Lenins treffend aufgezeigt, wenn er schreibt: ›Auch Lenin hat das revolutionäre Moment des Klassenkampfes nicht in der jeder wirklichen Aktion des Proletariats von Anfang an und in allen ihren Erscheinungsformen eigentümlichen Gegensätzlichkeit gegenüber der Bourgeoisie, ihrem Staat und allen bürgerlichen Verhältnissen und in dem aus dieser Gegensätzlichkeit der realen Aktion entstehenden und durch sie bestimmten selbständigen Klassenbewußtsein des Proletariats gesehen. Er hat vielmehr den ›revolutionären‹ Charakter des Klassenkampfes als etwas betrachtet, was zu der schlichten Wirklichkeit des Klassenkampfes ›von außen‹ nachträglich hinzugetan werden könnte und sogar hinzugetan werden müßte.‹8 Die realitätsferne Arroganz der historischen und gegenwärtigen Zentralkomitees, für die die Qualität der revolutionären Kämpfe, deren emanzipatorische Inhalte lediglich aus der Übereinstimmung mit dem jeweiligen Parteiprogramm eingeschätzt

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Karl Korsch, Von der bürgerlichen Arbeiterpolitik zum proletarischen Klassenkampf. In: Politikon, Nr. 33, 1970, S. 24.

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und beurteilt werden können (also nie!), müssen so, wenn nicht sofort als aktive Liquidatoren der lebendigen, dann doch als grinsende Erbschleicher einer abflauenden spontanen Massenbewegung auftreten. Zum Teil hängt der Charakter und der Grad ihres Konflikts mit der emanzipatorischen Bewegung noch ab von der organisatorischen Struktur und quantitativen Stärke der jeweiligen Parteiorganisationen. Zeitweilige Schwächen solcher Organisationen drücken sich im Verlauf der Geschichte darin aus, daß die avantgardistischen Organisationen von den Kämpfen einfach absorbiert wurden, wie es beispielsweise das schnelle Ende des Bundes der Kommunisten in der 1848er Revolution damals zeigte oder das fassungslose Entsetzen, mit dem die KPF den Mai 1968 überwand, wo doch ein paar Tage vorher, am ›Kampftag der Arbeiterklasse‹, die Welt noch in Ordnung schien. Ihr späteres Mitwirken bei der Liquidierung macht jedoch deutlich, an welchem Punkt die bürgerlichen Arbeiterpolitiker gezwungen sind, loszuschlagen, ihr konterrevolutionäres Geschäft Arm in Arm mit der kapitalistisch-bürgerlichen Reaktion zu betreiben: dann nämlich, wenn es der politischen ›Arbeiterpartei‹ nicht mehr gelingt, die sich entfaltenden und entwickelnden Aktionen, deren Organisationen und deren Bewußtsein zu kanalisieren; wenn es ihnen nicht mehr gelingt, den ›lebendigen Inhalt der heutigen Aktion noch einmal an jene längst zu leblosen Formeln erstarrten ideologischen Formen zu binden‹ (Korsch). Daß es nicht so zu sein braucht, haben die – von den Parteidogmatikern als Spontaneitätsfetischisten herabqualifizierten Theoretiker der selbständigen Arbeiterbewegung immer wieder hervorgehoben und diskutiert. Luxemburg, Rühle, Pannekoek, Gorter sprachen von Avantgarden, von Parteien, deren Verhältnis zu den Massen halt nicht in einem hierarchischen Führungsanspruch bestehen sollte, die keine Organisationen des Proletariats, sondern vielmehr Organisationen im Proletariat sein sollten, die nicht die eigene Stärkung, sondern die der Klassen betreiben sollten. Ein ehrlicher, ein frommer Wunsch, mehr nicht. Die Schranken und die Traditionen des

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alten sozialdemokratischen Organisationsverständnisses sind zu mächtig, um einen radikalen Bruch zwischen der alten Arbeiterbewegung und einer neuen Bewegung der Arbeiter zu sehen. ›Die Tradition aller toten Geschlechter lastet wie ein Alp auf dem Gehirn der Lebenden‹ (Marx). Solange die linksradikalen Kritiker der Parteikommunisten das ›Versagen‹ der alten Organisationen mit dem Aufbau von neuen, besseren Organisationen bekämpfen und kompensieren wollten, blieben sie letztlich auch nur die Kehrseite des sozialdemokratischen Prinzips, das die Dialektik von Organisation und Aktion zu Gunsten eines mechanistischen Verhältnisses Organisation-Aktion lösen wollte. Die Geschichte der Arbeiterbewegung hat solche mechanistischen Organisationstheorien mehr als einmal gründlich praktisch widerlegt. Für wen die Geschichte der Klassenkämpfe nicht bloß ein buntes Kostüm ist, in das man problemlos hineinschlüpfen kann, dem zeigt die Geschichte, wie unter den je spezifischen historischen Bedingungen in den Kämpfen diesen adäquate Kampforganisationen entstehen, sich weiter mit den Kämpfen entfalten. Die Menschen handeln nicht, um die eine oder die andere Theorie zu verwirklichen, sondern um konkrete, sie betreffende Mißstände, die unerträglich geworden sind, zu beseitigen. So sind die sich bildenden Organisationen Organisationen der konkreten Kämpfe, sie entfalten sich im Kampf und reflektieren dessen Erfordernisse. Hervorragendes Merkmal solcher Organisationen war, daß sie zugleich Kampforganisationen waren und Momente solidarischen Zusammenlebens, wie es in der neuen, zu erkämpfenden Gesellschaft entwickelt wird, enthielten. Eben diesen Doppelcharakter der Klassenkampforganisationen haben die sozialdemokratischen und bolschewistischen Parteiorganisationen nie verwirklichen können, weil sie letzten Endes lediglich eine schlechte Kopie der zu zerschlagenden kapitalistischen Organisationsstruktur waren. Ihr Ziel heißt nicht, die kämpfende Klasse zu stärken, ihr Ziel ist die Stärkung der eigenen Organisation. Wie sich dieser Gegensatz im Verlauf der Geschichte der Arbeiterbewegung für die kämpfenden und handelnden Sub-

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jekte dieser Geschichte auswirkte, wurde und wird aus dem historischen Bewußtsein der Parteipolitiker und ihres Anhangs permanent verdrängt bzw. mit dem Mäntelchen der ›historischen Reife‹ schulterklopfend verhüllt. Oder man macht es sich noch einfacher, indem man die Historiker der antiautoritären Bewegung, beispielsweise Arschinoff, Berkman, Wollin – um nur einige zu nennen, die eine abweichende Meinung zum ›Kurzen Lehrgang‹ der Geschichte der KPDSU (B) wagen auszusprechen – einfach als bürgerliche Antikommunisten beschimpft. Ansonsten halten sich die Kritiker im Rahmen des wohlwollenden Geschwätzes von revolutionärer Ungeduld und objektiver Reife. So weiß Trotzki, der ›Henker von Kronstadt‹ und Mitliquidator zahlreicher anarchistischer und sozialrevolutionärer Genossen im Rückblick (1937) gönnerhaft zu berichten: ›In der heroischen Epoche der Revolution marschierten die Bolschewiki mit den wirklich revolutionären Anarchisten Arm in Arm. Viele von ihnen sog die Partei in ihre Reihen auf. Der Verfasser dieser Zeilen erörterte häufig mit Lenin die Frage, ob es nicht möglich sei, den Anarchisten gewisse Gebietsteile zu überlassen, damit sie im Einverständnis mit der betreffenden Bevölkerung mit ihrer Staatslosigkeit die Probe aufs Exempel machen. Doch die Bedingungen des Bürgerkriegs, der Blockade und des Hungers ließen zu wenig Raum für dergleichen Pläne. Der Kronstädter Aufstand? Aber die revolutionäre Regierung konnte selbstverständlich nicht den aufständischen Matrosen eine die Hauptstadt beschirmende Festung ›schenken‹, nur weil der reaktionären Bauern- und Soldatenmeuterei sich einige fragwürdige Anarchisten angeschlossen hatten. Die konkrete historische Analyse der Ereignisse läßt keinen heilen Fleck an den Legenden, die Unwissenheit und Sentimentalität um Kronstadt, Machno und andere Episoden der Revolution geflochten haben.‹9 Hier ist die Argumentation auf den Begriff gebracht, wie sie in analogen Fällen immer wieder zu hören ist, wenn die

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Leo Trotzki, Stalinismus und Bolschewismus (1937). Flugschrift 3, S. 10.

aktive Unterstützung sich revolutionär gerierender Organisationen bei der Liquidierung und Unterdrückung emanzipatorischer Bewegungen vertuscht werden soll. Die revolutionäre Regierung hätte ja gern, konnte aber leider nicht ... Darüberhinaus erkannten die wirklich revolutionären Anarchisten dieses Dilemma auch an, während lediglich die fragwürdigen Anarchisten (man kann sie sicherlich riechen!) das Geschäft der reaktionären Bauern- und Soldatenmeuterei betrieben. Zugleich macht die Argumentation Trotzkis auch deutlich, was – am Beispiel Rußlands 1917 bis 1921 – eine revolutionäre spontane Massenbewegung in Konfrontation mit einer straff organisierten Jakobiner-Partei erwartet, deren erklärtes Ziel die politische Machtergreifung der eigenen Organisation ist. So wurden in den ersten Monaten nach der Machtergreifung der Bolschewiki im Oktober 1917 die anarchistischen und sozialrevolutionären Bewegungen, die ständig an Einfluß gewannen, geduldet. Bis zur Machtergreifung versuchten die Bolschewiki, diese Tendenzen im Zaum zu halten, um sich ihrer dann zur Machtergreifung ›zu bedienen‹. Unmittelbar danach, als der neue Staatsapparat noch nicht aufgebaut war und die Reste des alten Staatsapparates mit ihrem Anhang noch Widerstand leisteten, benutzten die Bolschewiki die Massenbewegung der Anarchisten und Sozialrevolutionäre, um die Konterrevolution in Schach zu halten. Sobald sich die Ansätze der Stabilisierung der Diktatur der Bolschewiki über die Arbeiter abzeichnete, entledigten sich die Bolschewiki ihrer unliebsamen Bundesgenossen, die Häuser und Lokale der Anarchisten wurden überfallen.10 Das Ende war Kronstadt, die Rebellion der ›Avantgarde der Revolution gegen die Beseitigung der Räte und den Terror der bolschewistischen Machthaber‹ (Rühle), ›der erste Versuch des Volkes, sich selbst zu befreien und die soziale Revolution zu verwirklichen‹ (Wollin); ›Kronstadt zerstörte ein für allemal den Mythos vom Arbeiterstaat und brachte den Beweis, daß

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Das Massaker an den Anarchisten am 14.5.1918 beschreibt Rocker, a.a.O., S. 93.

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Diktatur der Partei und Revolution unvereinbare Gegensätze sind.‹ (Berkman) Der internationale Stalinsche Terror, zum Beispiel gegen die spanischen Revolutionäre 1936/1939, die makabre Ergänzung zur massenhaften Liquidierung der alten Bolschewiki im eigenen Land,11 die Unterdrückung der autonomen Partisanenbewegungen im Verlauf des 2. Weltkrieges läßt sich nicht rechtfertigen; Deutschland 1953, Polen, Ungarn 1956, CSSR 1968, Polen 1970 ... sind keine antikommunistischen Verschwörungen, keine reaktionären Versuche, das Rad der Geschichte zurückzudrehen; vielmehr sind sie konkrete Beispiele dafür, wie das staatskapitalistische System gezwungen wird, deutlich seinen konterrevolutionären Charakter zu enthüllen, sobald emanzipatorische, autonome Bewegungen im Konflikt zum Staatskapitalismus entstehen. Es ist einfach, gegen die gescheiterten Versuche und Ansätze autonomer Volksaufstände die zweifelsohne vorhandenen Aktivitäten der internationalen Bourgeoisie auszuspielen. Diese Methode hat Tradition, aber sonst nichts. Und wenn wir uns rückwirkend mit denen solidarisieren, die im historischen Prozeß gezeigt haben, wie man anders handelt, so nehmen wir denen ihre Legitimation, die sich mit denen identifizieren, die angeblich nicht anders handeln konnten, um sich dadurch selbst zum bloßen Agenten eines objektiven Geschichtsprozesses zu machen. Für uns reduziert sich die Geschichte nicht auf Geschehenlassen, auf eine Anpassung an deterministische Gesetzmäßigkeiten. Daß die Menschen ihre Geschichte unter vorgefundenen Bedingungen machen, ist richtig. Sie machen ihre Geschichte aber selbst und mit ihr verändern sie auch die vorgefundenen Bedingungen. ›Die Geschichte tut nichts, sie besitzt keinen ungeheuren Reichtum, sie kämpft keine Kämpfe. Es ist vielmehr der Mensch, der wirkliche lebendige Mensch,

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›Die Reinigung Kataloniens von allen trotzkistischen und anarcho-syndikalistischen Elementen hat schon begonnen. Sie wird mit derselben Energie durchgeführt wie in Rußland.‹ Prawda, 17. 12. 1936.

der das alles tut, besitzt, kämpft; es ist nicht etwa die ›Geschichte‹, die den Menschen zum Mittel braucht, um ihre – als ob sie eine aparte Person wäre – Zwecke durchzuarbeiten, sondern sie ist nichts, als die Tätigkeit des seine Zwecke verfolgenden Menschen.‹12 Hier finden wir eine klare Absage an jeglichen metaphysischen Fortschrittsglauben an die evolutionäre Dynamik der Geschichte, wie sie in vulgarisierender Verfälschung von Marx die Schar der marxistischen Epigonen à la Kautsky und Bernstein auszeichnete. Die Betonung des konkreten Menschen als des handelnden Subjekts der Geschichte richtet sich vorwegnehmend jedoch nicht nur gegen die professionellen Sachverwalter des ›friedlichen Hineinwachsens in den Sozialismus‹; getroffen soll auch jegliche fatalistische Hegelei werden, die unter der Maske der selbständigen Klassenbewegung den anonymen Weltgeist links von Kautsky und Lenin erwartet. Sowohl beim Marxismus der 2. Internationale und seiner militanten Version in der 3., aber auch bei einigen rätekommunistischen Positionen (so z.B. in bestimmten Konsequenzen Paul Mattick) verengt sich das Verständnis von Ökonomie, der sozialen Produktionsverhältnisse als geschichtsdeterminierender Basis derart mechanisch, daß die materialistische Geschichtsauffassung sich mehr in eine ›technologische Geschichtsauffassung‹ (Colletti) verwandelt. Sowohl der rechte wie auch der linke Kautskyanismus, geprägt vom Glauben an quasi naturgesetzliche permanente Fortschrittstendenzen für die gesellschaftliche Entwicklung sind ideologischer Ausdruck ihres selbstverfügten Dispenses vom revolutionären emanzipatorischen Kampf. Die einen in der Form des offenen reformistischen Verrats, die anderen in Form der Unterschätzung der eigenen praktischen Möglichkeiten.13

12 13

MEW 2, S. 98. – Heilige Familie. Als typisches Beispiel der Position des linken Kautskyanismus und einer Kritik daran s. die Diskussion in der Rätekorrespondenz 1934 über das Buch von Henryk Grossmann, Das Akkumulations- und Zusammenbruchsgesetz des kapitalistischen Systems, Neudruck 1972.

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Wenn es aber einen lebendigen Kern des Marxismus, unbeschadet der zahllosen marxistischen Fraktionen und der wildwuchernden Marxpfaffen allerorten, überhaupt gibt, dann doch nur der, daß Karl Marx die bürgerliche Gesellschaft und die kapitalistische Produktionsweise mit allen ihren Verhältnissen und Institutionen historisch, d.h. für Marx immer als veränderlich auffaßte. Die Veränderungen resultieren jedoch nirgends aus naturgeschichtlichen Gesetzmäßigkeiten, sondern nur durch Handlungen konkreter Menschen. Marx, besonders aber Engels, haben selbst einiges zur Verflachung der materialistischen Geschichtsauffassung in eine technologische Geschichtsdeutung à la Basis-Überbau-Mechanik beigetragen. Karl Korsch faßt 1931 zusammen: ›Die materialistische Geschichtsauffassung ist in der revolutionären Periode vor 1850 entstanden als ein unmittelbarer Bestandteil der subjektiven Aktion der revolutionären Klasse, die den falschen Schein und die vergängliche Erscheinung aller bestehenden gesellschaftlichen Verhältnisse fortwährend theoretisch kritisiert und praktisch umwälzt. Sie entwickelte sich in der Folgezeit immer mehr zu einer bloß abstrakten anschauenden Theorie über den durch äußere Gesetze bestimmten objektiven Ablauf der gesellschaftlichen Entwicklung.‹14 Diese abstrakt anschauende Theorie wurde und wird zur materiellen Gewalt, indem sie von den autoritären Parteikommunisten ergriffen wird, um ihre eigene Position zu stabilisieren, andere Fraktionen der Arbeiterbewegung zu diffamieren und zu liquidieren. Die Geschichte des ›Marxismus‹ innerhalb der internationalen Arbeiterbewegung ist zugleich eine Geschichte der Unterdrückung von emanzipatorischen, solidarischen und phantasievollen Tendenzen und Ansätzen dieser globalen Bewegung. Man kann getrost der späten These von Karl Korsch (1950) zustimmen, wo er Marx nur ›für einen unter vielen Vorläufern, Begründern und Weiterentwicklern der sozialistischen

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Karl Korsch, Krise des Marxismus (1931). In: Die materialistische Geschichtsauffassung, Ffm. 1971, S. 169.

Bewegung der Arbeiterklasse‹ hält und die Relevanz aller Strömungen und Richtungen des Sozialismus hervorhebt, Hier ist der Punkt angegeben, warum wir es heute für wichtig halten, Texte von Bakunin herauszugeben, Nicht in Form einer wehleidigen 'Totenbeschwörung oder einer rechthaberischen Installierung einer weiteren Autorität, sondern in der Form einer historischen retrospektiven Solidarisierung, deren Legitimität in der heutigen Praxis liegen muß. Die heutige Praxis emanzipatorischer Ansätze der Selbstbestimmung der eigenen Bedürfnisse und deren Selbstorganisation in den spezifischen gesellschaftlichen Bereichen hat neben den klassenanalytisch bestimmten Gegensätzen der bürgerlichen Gesellschaft und ihrer gewalttätigen Absicherungsinstitutionen einen weiteren Gegner im Dogmatismus und in der Ideologisierung jeglicher revolutionärer Theorie. Hier ist es die Aufgabe von linken undogmatischen Verlagen, bei keinerlei Überschätzung der ›Rolle der Theorie‹ für die praktischen Auseinandersetzungen heute, die bisher in der Geschichte der emanzipatorischen Bewegungen unterdrückten Fraktionen publizistisch zu Gehör zu bringen. Es gilt dann, historisch-kritisch zu prüfen, welchen Stand die theoretischen und praktischen Auseinandersetzungen der damaligen Fraktionen in bezug auf unsere eigenen Probleme haben und welche Ansätze, Argumente, Erfahrungen für unsere heutigen Auseinandersetzungen wichtig sind.

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Bakunin und die Grundprinzipien des Anarchismus Ich hasse den Kommunismus, weil er die Verneinung der Freiheit ist, und weil für mich die Menschlichkeit ohne Freiheit unbegreiflich ist. Ich bin kein Kommunist, weil der Kommunismus zugunsten des Staates alle Kräfte der Gesellschaft konzentriert und absorbiert, weil er unvermeidlicherweise das Eigentum in den Händen des Staates konzentriert. Ich hingegen wünsche die Aufhebung des Staates, die vollständige Ausrottung des Autoritätsprinzips und der Schutzherrschaft des Staates, der unter dem Vorgeben, die Menschen moralisch zu machen und sie zu zivilisieren, sie bis jetzt nur geknechtet, bedrückt, ausgebeutet und demoralisiert hat. Ich wünsche die Organisation der Gesellschaft und des gesellschaftlichen Eigentums von unten herauf auf dem Wege der freien Assoziation und nicht von oben herab durch irgendwelche Autorität, also wünsche ich die Abschaffung des Staates ... In diesem Sinne ... bin ich Kollektivist und keineswegs Kommunist. Bakunin15

Überblickt man Bakunins veröffentlichte Schriften unter dem Aspekt der heutigen praktischen Relevanz, so sind es vor allem folgende Punkte, die diskutiert werden müssen: bürgerliche und proletarische Revolution, Dialektik von Aktion und Organisation, Kritik am zentralistischen Staat, Kampf- und Organisationsformen der Emanzipationsbewegungen und Bakunins Verhältnis zu Marx. Dabei ist völlig klar, daß diese Punkte lediglich im Rahmen einer theoretischen Eingrenzung der Relevanz von Bakunin für uns heute sich als einzelne Punkte ›behandeln‹ lassen. Der Kämpfer Bakunin hätte sich zu Recht gegen eine Zitatologie, einen Katechismus seiner ›Leitsätze‹, kurz gegen ›Worte des Vorsitzenden Bakunin‹ gewandt. Revolution, Organisation, Kampf gegen den Staat und jeglichen Autoritarismus bilden bei Bakunin zeit seines Lebens eine kämpferische Einheit.

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Bakunin, Rede auf dem Kongreß der Friedens- und Freiheitsliga in Bern (1868). In: ders. Sozial-politischer Briefwechsel, Stuttgart 1895, S. 315.

- Bürgerliche und proletarische Revolution Die proletarische Revolution ist in Ausmaß, Inhalt, Tendenz, Kampftaktik und Ziel völlig verschieden von der bürgerlichen Revolution. Sie ist die soziale Revolution und findet ihren Abschluß mit der Aufrichtung des führerlosen, staatenlosen, herrschaftslosen Sozialismus. Rühle

Mit diesen Sätzen hat Otto Rühle 1924 – nach der endgültigen Zerschlagung der revolutionären Rätebewegung in Deutschland – das wesentliche der proletarischen Revolution im Gegensatz zur bürgerlichen hervorgehoben. Der proletarischen Revolution geht es nicht mehr um irgendwelche Variationen eines staatssozialistischen Konzeptes, auf die der alte und der neue Revisionismus sich eingeschworen haben. Die proletarische Revolution handelt im Bewußtsein, daß ohne radikale Veränderung der Arbeits- und Produktionsweise, ohne völlige Umgestaltung der unmittelbaren Lebensverhältnisse sich die alte Scheiße wiederherstellen wird, lediglich mit anderen Eliten an der Spitze. In einem Manuskript von 1866, betitelt ›Organisation‹, betont Bakunin, daß die soziale Revolution vom ganzen Volk gemacht werden muß und daß jede Revolution, ›die sich außerhalb des Volkes vollzieht und daher nicht siegen kann, ohne sich auf eine privilegierte Klasse zu stützen, indem sie deren ausschließliche Interessen vertritt, sich unvermeidlich gegen das Volk vollzieht, daß sie also eine rückschrittliche, unheilvolle, gegenrevolutionäre Bewegung wäre.‹16 Der Revolutionär muß heute (1866) begreifen, ›daß die soziale Revolution notwendigerweise eine europäische und eine Weltrevolution werden wird.‹17 An anderer Stelle spricht Bakunin von der ›universellen Revolution‹.18

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Bakunin, Organisation. In: Werke III (1924), S. 33. a.a.O., S. 34. Bakunin, Programm und Ziel der revolutionären Organisation der internationalen Brüder. In: Werke III, S. 89.

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›Wir verstehen die Revolution im Sinne der Entfesselung dessen, was man heute die bösen Leidenschaften nennt, und im Sinne der Zerstörung dessen, das in derselben Sprache, die öffentliche Ordnung heißt.‹19 Analog zur Bestimmung der Kulturrevolutionen als Garant zur Entfesselung der Masseninitiative und als Mittel gegen die Verfestigung von Institutionen und Organisationen plädiert Bakunin für die Anarchie, begriffen als totaler Ausdruck des entfesselten Volkslebens. ›Dieses neue Leben – die Volksrevolution – wird nicht zögern, sich zu organisieren, aber es wird seine revolutionäre Organisation von unten nach oben und von der Peripherie zum Zentrum hin nach dem Prinzip der Freiheit vornehmen, nicht von oben nach unten, vom Zentrum zur Peripherie hin, nach der Art jeder Autorität – denn es liegt uns wenig daran, ob diese Autorität Kirche, Monarchie, konstitutioneller Staat, Bourgeoisrepublik oder selbst revolutionäre Diktatur heiße: wir verabscheuen und verwerfen sie alle aus gleichem Grunde, als unfehlbare Quellen der Ausbeutung und des Despotismus.‹20 Bakunin will eine Volksrevolution, ›eine nicht nur für das Volk, sondern ausschließlich vom Volk gemachte Revolution‹.21 Die soziale Revolution begreift er als ›wahre Entfesselung der Massen‹22 Für die soziale Revolution, ›die ein für allemal aller Herrschaft, allen Staaten ein Ende machen will‹, lehnt Bakunin entschieden, im Gegensatz zur politischen, bürgerlichen Revolution, die Diktatur der Jakobiner, der revolutionären Partei ab,23 deren ›roten Bürokratismus‹ er als direkten Gegensatz zur Masseninitiative des Volkes sieht. ›Wir wollen weder herrschen noch der Herrschaft irgendwelcher Herren und Behörden gehorchen, unter welchem Vorwand es auch sei. Feinde

19 20 21

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a.a.O., S. 87. a.a.O., S. 88. Spanische Brieffragmente über Internationale und Alliance. In: Werke III, S. 105. a.a.O., S. 108. Bakunin an L. Nabruzzi (3. 1. 1872). In: Werke III, S. 173.

jeder Art der Beherrschung von Menschen durch Menschen sind wir eben deshalb Feinde jeder Art von Herrschaft (Staat), da wir überzeugt sind, daß jede Form von Herrschaft, in was für ein demokratisches oder republikanisches Gewand sie auch gehüllt sein möge, für die herrschende Minderheit immer ein vorteilhaftes Privilegium, für die Volksmehrheit aber ein Gefängnis sein werde.‹24 Bakunins insistieren auf der Volksrevolution, sein unbegrenztes Vertrauen in die Masseninitiative und Spontaneität des Volkes läßt sich nicht als Fixierung auf die – im Gegensatz zum europäischen Proletariat der industriell entwickelten Staaten – noch unentwickelte Form des Emanzipationskampfes des Proletariats der zurückgebliebenen Regionen Europas (Italien, Spanien, Schweiz, Belgien) begreifen. Er zieht vielmehr lediglich die Konsequenzen seiner als sozialer Revolution, als völliger Emanzipation aller begriffenen Volksrevolution, in bezug auf das revolutionäre Subjekt der Revolution. Bakunins erweiterter Proletariatsbegriff – im Gegensatz zu einem nur aufs Industrieproletariat reduzierten – umfaßt darüberhinaus die deklassierte Intelligenz, die Bauern und das Lumpenproletariat. Gerade sein Eintreten fürs Lumpenproletariat mußte die traditionelle Arbeiterbewegung, die die bürgerlichen Normen akzeptierte, ablehnen. Selbst innerhalb der anarchistischen Bewegung Deutschlands wirkte das Marsche Verdikt des Lumpenproletariats als reaktionärer ›passiver Verfaulung‹ lange nach. Erst um die Jahrhundertwende gab es zwischen deutschen Anarchisten und Lumpenproletariern Kontakte und Zusammenarbeit. ›Jeder, der Opfer ist, gehört zu uns‹ (Erich Mühsam 1911). In Staatlichkeit und Anarchie schreibt Bakunin am Beispiel Italien: ›In Italien überwiegt jenes bettelarme Proletariat, von dem Marx und Engels, und mit ihnen die ganze Schule der deutschen Sozialdemokraten mit tiefster Verachtung als vom Lumpenproletariat sprechen, und das ganz zu Unrecht,

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Bakunin, Programm der polnischen Sektion der IAA. In: Briefwechsel, a.a.O., S. 263.

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denn in ihm, und nur in ihm, nicht in jener oben bezeichneten verbürgerlichten Schicht der Arbeitermasse, ist der ganze Geist und die ganze Kraft der zukünftigen sozialen Revolution.‹ Analog zum Lumpenproletariat ist Bakunins Einschätzung der deklassierten Intelligenz und der Bauern nicht bloß ökonomistisch distanzierte Versöhnung mit der schlechten Wirklichkeit, vielmehr begreift er die klassenspezifische Lage unter dem Primat der revolutionären Praxis. Wenn Marx zum Beispiel im 18. Brumaire die Lage der Parzellenbauern infolge ihrer zersplitterten ökonomischen Existenz, ihrer fehlenden nationalen und politischen Koordination als unfähig analysiert, ihre Klasseninteressen im eigenen Namen durchzusetzen, dann ist es eben nicht Aufgabe der Revolutionäre, sich mit der schlechten Wirklichkeit abzufinden und nach einem neuen revolutionären Subjekt Ausschau zu halten, sondern Momente einzubeziehen, diese schlechte Wirklichkeit aufzuheben. So analysiert, als Gegenbeispiel, auch Bakunin die Lage der russischen Bauern der 7oer Jahre in Rußland geprägt durch ihre nationale Zersplitterung, durch die Uneinheitlichkeit ihrer Kämpfe, folgert aber daraus die notwendige Aufgabe für die Revolutionäre, diesen Zustand aktiv aufzuheben. Eine so begriffene aktivistische Geschichtsauffassung läuft nicht Gefahr, Geschichtsnotwendigkeiten zu behaupten, ohne die Aktionen der Klassen zu berücksichtigen, die für die ›Notwendigkeit‹ unerläßlich sind. Fast die gesamte marxistische Literatur über die Bauernfrage argumentiert dagegen mit dem Klischee der ›notwendig reaktionären Bauern‹, analog zum Klischee des ›notwendig reaktionären Lumpenproletariats‹. - Organisation als Kampforgan und Antizipation der neuen Gesellschaft Eines der geläufigsten Vorurteile und Statements der linken Bewegung heute, soweit sie sich als marxistisch-leninistisch begreift, läuft darauf hinaus, eine direkte Proportionalität zwischen revolutionärer und konterrevolutionärer Organisation

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zu behaupten. In zahllosen Varianten wird festgestellt, daß der zunehmend zentralistische bürgerliche Staatsapparat mit allen seinen Machtorganen geradezu eine im gleichen Maße zentralisierte, machtvolle Organisation auf Seiten derer voraussetzt, die den bürgerlichen Klassenstaat stürzen wollen; dieses zentralisierte Machtorgan der stürzenden Klasse ist die revolutionäre kommunistische Partei.25 Was sich in solchen Vorstellungen aktualisiert, ist lediglich die Verlängerung der sozialdemokratischen Version von Organisation in die heutige Wirklichkeit. Sozialdemokratisch insofern, als die Organisationskonzeption letztlich darauf beruht, daß es Aufgabe der revolutionären Partei sein muß, den Sozialismus (dessen Träger die Intellektuellen sind) und die Arbeiterbewegung (die auf sich gestellt bloß ökonomistisch bliebe) zu verschmelzen. Was bei Lukács dann zur Formel gerinnt, Organisation sei die ›Form der Vermittlung zwischen Theorie und Praxis‹, reduziert sich auf eine institutionalisierte Trennung zwischen der ›Avantgarde‹ (die alles weiß) und den ›Massen‹ als Objekt dieser Avantgarde. Das mag solange funktionieren, wie es keine revolutionären Massenkämpfe gibt. Bis dahin kann die ›revolutionäre Partei‹ sich tatsächlich für eine revolutionäre Organisation halten und ihre Aufgaben von ihrem Anspruch herleiten: als Avantgarde-Partei die Massen zu führen, ihre ›bloß‹ ökonomistischen Kämpfe

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Für viele ein Zitat: ›Wie der bürgerliche Staat in den entwickelten kapitalistischen Ländern zerschlagen werden kann, ist bisher noch nicht einmal theoretisch halbwegs gelöst. Zwei Dinge sind sicher. Um eine sozialistische Gesellschaft aufzubauen, muß die Arbeiterklasse die politische Macht übernehmen und den bürgerlichen Staat, sein Militär, seine Polizei, seine Bürokratie und seine politischen Institutionen zerschlagen. Um das zu leisten, kann die Arbeiterklasse wiederum der zentralisierten staatlichen Gewaltmacht der Bourgeoisie nicht nur eine breite Massenbewegung entgegenstellen, sondern sie braucht eine politische Organisation mit einer zentralen einheitlichen Führung und Disziplin.‹ In: Spontaneität und Massenaktion im ›Wohlfahrtsstaat‹, Ffm. 1970, S. 121/122.

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in politische zu transformieren, politisches Klassenbewußtsein in die tradeunionistisch retardierenden Proletarierköpfe hineinzutragen. Wir beurteilen (und verurteilen) Individuen und Organisationen jedoch nicht danach, wofür sie sich halten, sondern müssen versuchen, ihre jeweilige konkrete Funktion anzugeben. Hier kommen wir zur Ausgangsfrage zurück: Es ist historisch erklärbar, aber dennoch falsch zu glauben, daß die bürgerliche Klassengesellschaft und ihre institutionellen Absicherungen durch eine unter den kapitalistischen Verhältnissen aufzubauende revolutionäre zentralistische Organisation, der leninistischen Avantgarde-Partei zum Beispiel, zerschlagen werden kann. ›Unter der kapitalistischen Diktatur – dem Boden der proletarischen Revolution – hat die Arbeiterschaft keine Möglichkeit, sich revolutionäre, permanente Organisationsformen zu schaffen. Während der spontanen Erhebungen bilden sich, da sich nichts anderes bilden läßt, Aktionsausschüsse (Räte), die eben die Organisation eines jeden Kampfes darstellen und deren Schicksal von den Entwicklungen des Kampfes abhängt. Die Ausdehnung des Kampfes ist zugleich der Ausbau und die Zentralisation der Räteorganisation. Eine Niederlage kann sie zerstören, bis ein neuer Ausbruch sie wiederum hervorbringt. Die unter den Bedingungen der Illegalität notwendigerweise kleinen Arbeitergruppen können diese spontanen Organisationen höchstens beeinflussen, niemals bestimmen oder direkt leiten. Sie haben sich innerhalb der sich bildenden Räte zu betätigen, nicht neben diesen als besondere Organisation. Sie bilden tatsächlich nur das bewußte Element im zwangsmäßigen Handeln der Masse.‹26 Was hier klargemacht werden soll, ist die tatsächliche Funktion, die eine Organisierung von Revolutionären vor und im Prozeß der sozialen Revolution haben kann. Wobei soziale Revolution eben nicht das friedliche oder militante Einrücken der

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Paul Mattick, Probleme der neuen Arbeiterbewegung (1936), in: Partei und Revolution, Berlin 1971, S. 54.

Partei in die aufgegebenen Positionen der Bourgeoisie ist, also lediglich die Ersetzung einer alten Elite durch eine neue, sondern der revolutionäre Klassenkampf, der mit der völligen Niederlage der Bourgeoisie die gesamte kapitalistische Produktionsweise einschließlich ihrer Mechanismen total verändert: sowohl das Verhältnis von Mensch zu Mensch, als auch das zwischen Mensch und Technologie. Die zentrale Frage reduziert sich eben nicht nur auf das Leninsche ›Wer-wen?‹, also auf die Frage, wen die revolutionäre Klasse stürzt, sondern wie die stürzende Klasse überhaupt sich befähigt, so zu kämpfen, daß nicht der alte Dreck von vorne, nur mit ausgewechselten Eliten, wieder anfängt. Für die revolutionären Organisationen ist also entscheidend, daß sie ›das Wesentliche des Befreiungskampfes in der selbständigen Bewegung der Massen sehen. Darum erstreben sie auch nicht die Macht für ihre Partei oder Gruppe; nicht ihre Organisation soll stark werden, sondern die Klasse.‹27 Diese Bestimmung der Organisation muß sich auch in der Form ausdrücken. Es kann nicht die zentralistische, autoritäre Partei sein; hier würde die Form gegen den Inhalt, gegen die Bestimmung rebellieren. Die Organisationen des proletarischen Emanzipationskampfes sind antiautoritär, autonom; sie verbindet nicht die dogmatische Unterwerfung unter ein einheitliches Programm, Prinzipien und Führer. Es sind räteartige Organisationen, Organisationsformen des Kampfes, der Revolution und der neuen Gesellschaft. Dieser Doppelcharakter der Organisation, also Kampforgan und Antizipation der zu erkämpfenden Gesellschaft muß Inhaltsund Formbestimmung aller revolutionären Gruppen und Organisationen sein, die die Inhalte und Formen der heutigen Kämpfe nicht aus den Versteinerungen der alten Arbeiterbewegung ziehen wollen, sondern aus der Wirklichkeit der heutigen Kämpfe. Diesen Doppelcharakter der Organisation problematisierte Bakunin in seinem Verständnis der revolutionären Organi-

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Rätekorrespondenz, 8/9, 1935, S. 11.

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sation. Für ihn ist die Organisation nicht zu trennen von der Massenbewegung, von der schöpferischen Initiative des Volkes. Aufgabe der Organisation ist es, die Massenbewegung aufzugreifen, zu unterstützen. Eine solche Organisation muß als Organisation selbst das beinhalten, wofür sie kämpft. Am Beispiel der I. Internationale präzisiert Bakunin diese Konzeption: ›Da die Organisation der Internationale nicht die Schaffung neuer Staaten oder Despotismen zum Ziel hat, sondern die radikale Zerstörung aller Einzelherrschaften, so muß sie einen wesentlich verschiedenen Charakter von der Organisation des Staates haben.‹28 Und: ›Die internationale Assoziation wird ein Befreiungswerkzeug der Menschheit nur werden können, wenn sie zuerst selbst befreit sein wird und dies wird nur der Fall sein, wenn sie aufhören wird, in zwei Gruppen, die Majorität blinder Werkzeuge und die Minorität gelehrter Benutzer dieser Werkzeuge zu zerfallen und wenn sie in das nachdenkende Gewissen jedes Mitglieds der Wissenschaft, Philosophie und Politik des Sozialismus Eingang verschafft haben wird.‹29 Ähnlich heißt es im Zirkular der Juraföderation vom 12. 11. 1871, das Guillaume verfaßte und Bakunin inhaltlich voll akzeptierte. ›Die künftige Gesellschaft soll nichts anderes sein, als die allgemeine Durchführung der Organisation, die die Internationale sich gegeben haben wird. Wir müssen also Sorge tragen, diese Organisation soviel als möglich unserem Ideal zu nähern. Wie könnte eine egalitäre und freie Gesellschaft aus einer autoritären Organisation hervorgehen? Das ist unmöglich. Die Internationale, Embryo der künftigen menschlichen Gesellschaft, ist gehalten, schon von jetzt an das treue Bild unserer Grundsätze von Freiheit und Föderation zu sein und jedes der Autorität, der Diktatur zustrebende Prinzip aus ihrer Mitte herauszuwerfen.‹30 Diese konkrete Dialektik von Organisation und neuer Gesellschaft verkennt Marx völlig, wenn er denunziatorisch diesen

28 29 30

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Bakunin, Protest der Alliance. In: Werke II (1923), S. 162. a.a.O., S. 168. Das Jurazirkular vom 12. 11. 1871. In: Werke III, S. 169.

Absatz kommentiert: ›Mit anderen Worten, wie die Klöster des Mittelalters das Ebenbild des himmlischen Lebens repräsentierten, soll die Internationale das Ebenbild des neuen Jerusalems werden, dessen ›Keim‹ die Allianz in ihrem Schoße trägt. Die Pariser Föderierten hätten keine Niederlage erlitten, wenn sie begriffen hätten, daß die Kommune der ›Keim der künftigen menschlichen Gesellschaft‹ war, und sich jeder Disziplin und aller Waffen entledigt hätten, Dinge, die verschwinden müssen, sobald es keine Kriege mehr gibt.‹31 Ein besonderer Aspekt, der im Rahmen der praktischen Organisationsarbeit für Bakunin wichtig wurde, war das Problem der Konspiration. Konspiration ist für Bakunin nicht, wie es seine zahlreichen Gegner nicht müde werden, denunziatorisch zu wiederholen, eine Organisationsform, um blanquistisch als bewußteste Vorhut des Proletariats die Massen manipulativ zu putschistischen Abenteuern zu bringen. Gerade eine Untersuchung der Konzeptionen und Praxis der ›Verschwörer-Sozialisten‹ (Babeuf, Bunonarroti, Blanqui) zeigt die Gegenpositionen zu Bakunin. Während Bakunins konspirative Organisation für ihn ein sinnloser Fetisch bleibt, wenn sie nicht im Bezugsrahmen einer schöpferischen Massenbewegung operieren kann, planen die ›Dekrete-Sozialisten‹ (Müller-Lehning), mittels geheimer Verschwörung die politische Macht zu erobern, um dann mittels Dekreten des ›revolutionären Staates‹ den Sozialismus einzuführen. Für Bakunin waren die konspirativen Organisationen, die er selber mit begründete, ›Geburtshelfer‹ der Revolution,32 nie eine ›Armee der Revolution‹, weil die Armee immer das Volk sein muß, ›sondern eine Art revolutionärer Generalstab, bestehend aus ergebenen, energischen, intelligenten Personen, die vor allem aufrichtige, nicht ehrgeizige und eitle Freunde des

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32

Marx, Die angeblichen Spaltungen in der Internationale. In: MEW 18, S. 43. Bakunin, Programm und Ziel der revolutionären Organisation der internationalen Brüder. In: Werke III, S. 90.

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Volkes sind, der fähig ist, als Vermittler zwischen der revolutionären Idee und den Volksinstinkten zu dienen.‹33 Die Individuen müssen im konspirativen Kollektiv aufgelöst sein, dürfen keine Autoritäten sein. ›Die Zeit historischer und glänzender Individualitäten ist vorüber und das ist desto besser so.‹34 In einem Brief an Albert Richard konkretisiert Bakunin (1. 4. 1870) die Funktion, die er der konspirativen, selbstlosen, kollektiven Geburtshelfer-Organisation zuerkennt. Gegen Richard, der seiner Meinung nach zu sehr Anhänger der Zentralisation, des revolutionären Staates ist, stellt Bakunin seinen absoluten Gegensatz heraus; er sehe ›das Heil nur in der an allen Punkten von einer unsichtbaren kollektiven Kraft geleiteten revolutionären Anarchie, der einzigen Diktatur, die ich zugebe, weil sie allein mit der Offenheit und vollen Energie der revolutionären Bewegung vereinbar ist.‹35 Nettlau ergänzt und verdeutlicht den Begriff ›revolutionäre Anarchie‹. Bakunin meint damit, wie verschiedene frühere Stellen auch zeigen, ›die durch die zerstörenden Akte der Revolution entstandene Unordnung, in der er unsichtbare Kräfte bewußt im Sinne des von ihm entworfenen Programms, das Zerstörung und Wiederaufbau umfaßt, wirkend zu sehen wünscht, um die Volksinstinkte, die auch diesem Ziel nachstreben, denen aber das klare Bewußtsein noch fehlt, diesem Ziel zuzuführen und zu verhindern, daß Autoritäre oder die Reaktion sich der Revolution bemächtigen.‹36 Entscheidend ist das unbegrenzte Vertrauen, das Bakunin in die schöpferische Kraft der Unordnung legt, d.h. auf die Initiative, Spontaneität der Massen. Gleichsam als antizipierte Kritik an der Verlaufsgeschichte der bolschewistischen Revolution, an der etappenweisen Liquidierung der Selbsttätigkeit

33 34 35 36

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a.a.O. a.a.O., S. 96. a.a.O., S. 97. a.a.O.

und Selbstorganisation der russischen Bauern und Arbeiter durch die Errichtung der Diktatur über das Proletariat sagte Bakunin: ›Es ist notwendig, daß die Anarchie, die Erhebung aller lokalen Leidenschaften, das Erwachen des spontanen Lebens überall sehr groß sei, damit die Revolution lebendig, wirklich und mächtig ist und bleibt. Die politischen Revolutionäre, die Anhänger der ostensiblen Diktatur empfehlen nach dem ersten Sieg die Beruhigung der Leidenschaften, Ordnung, Vertrauen und Unterwerfung unter die auf revolutionärem Weg errichteten Gewalten. Auf diese Weise stellen sie den Staat wieder her. Wir im Gegenteil werden alle Leidenschaften nähren, erwecken, entfesseln und die Anarchie hervorrufen müssen, und als unsichtbare Lotsen im Volkssturm müssen wir ihn leiten nicht durch eine sichtbare Macht, sondern durch die kollektive Diktatur der Alliierten. Eine Diktatur ohne Schärpe, ohne Titel, ohne offizielles Recht, die desto mächtiger ist, weil sie keinen Anschein der Macht hat. Dies ist die einzige Diktatur, die ich zulasse. Damit sie aber handeln kann, muß sie vorhanden sein, und dazu muß man sie vorbereiten und im Voraus organisieren, denn sie wird nicht ganz von selbst entstehen, weder durch Diskussionen noch durch Auseinandersetzungen und prinzipielle Debatten, noch durch Volksversammlungen.‹37 Und an einer anderen Stelle bestimmt er die Funktion dieser ›geheimen Diktatur‹: ›Sie läßt der revolutionären Bewegung der Massen ihre volle Entwicklung und ihren sozialen Aufbau von unten nach oben durch freiwillige Föderation und die unbedingte Freiheit, aber sie wacht stets darüber, daß hierbei nie Autoritäten, Regierungen und Staaten wiedergebildet werden können und bekämpft jeden Ehrgeiz, sei er kollektiv (Koterien wie die von Marx) oder individuell, durch den natürlichen, nie offiziellen Einfluß aller Mitglieder unserer Alliance ... ‹38 Die Vorstellung von Bakunin wird hier deutlich: das sich im Verlauf seiner eigenen revolutionären Praxis stellende Pro-

37 38

a.a.O., S. 98 f. Bakunin, Spanische Brieffragmente, a.a.O., S. 103.

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blem nach dem Verhältnis von Massenbewegung und kämpferischen Gruppen sieht er ausschließlich unter dem Primat der Massenbewegung. Hierin steckt in der Tat ein moralischer Zug, der die Funktion der militanten Gruppe – neben der revolutionären Intervention – hauptsächlich auf den Schutz der Massenbewegung vor Politikanten und Parteiapparaten festlegt. Diese Moral ist jedoch nicht Produkt einer abstrakten Ethik, sondern Resultat konkreter Erfahrungen innerhalb der Arbeiterbewegung. In seiner Würdigung der Pariser Kommune 1871 präzisiert Bakunin diese Konzeption der Aufgabe und Rolle der Revolutionäre: ›Die einzelnen konnten nichts anderes tun, als dem Volksinstinkt entsprechende Ideen auszuarbeiten, klarzulegen und zu verbreiten, und ferner beständig bemüht zu sein, die natürliche Macht der Massen revolutionär zu organisieren – nicht aber hierüber hinauszugehen; alles übrige solle und könne nur durch das Volk selbst gemacht werden. Sonst gelange man zur politischen Diktatur, d.h. zur Wiederbildung des Staates, der Privilegien, Ungleichheiten und aller Unterdrückungen des Staates, und auf einem Umweg, aber logischerweise, zur Wiedereinführung der politischen, sozialen und ökonomischen Knechtschaft der Volksmassen.‹39 Diese vorweggenommene Kritik an den Staaten, die sich selbst als sozialistische begreifen und ihren Staat einen ›proletarischen Staat‹ nennen, ist eine der Hauptleistungen der Bakuninschen Kritik am Staatssozialismus innerhalb der Arbeiterbewegung. Die Geschichte hat in den Fällen bewiesen, wo die verschiedenen staatssozialistischen Fraktionen die Macht ergriffen haben (und das gilt von der Sowjetunion bis China), daß die Bildung eines proletarischen Staates, auch wenn sie im Namen der Revolution geschieht, noch immer die Reaktion erzeugt.

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Bakunin, Die Kommune von Paris und der Staatsbegriff, in: Werke II, S. 274.

- Abschaffung des Staates und Rätesystem 1. Proletarischer Staat und Marxismus Höchste Entwicklung der Staatsmacht zur Vorbereitung der Bedingungen für das Absterben der Staatsmacht – so lautet die marxistische Formel. Stalin 1930

Für Marx und die Epigonen, besonders für die Vertreter eines starken proletarischen Staates, gab es keinen Zweifel, daß die noch ›verbleibenden Staatsfunktionen‹ nach der Eroberung der politischen Macht durch einen neuen Zentralstaat wahrgenommen werden sollen. In diesem Sinne spricht Marx im 18. Brumaire davon, daß nach der Zerschlagung der bonapartistischen ›militärisch-bürokratischen Regierungsmaschinerie‹ das siegreiche Proletariat daran gehen muß und wird, einen zentralistischen Arbeiterstaat zu konstituieren. ›Die staatliche Zentralisation, deren die moderne Gesellschaft bedarf, erhebt sich nur auf den Trümmern der militärisch- bürokratischen Regierungsmaschinerie ... ‹40 Noch deutlicher formuliert Marx in der Erstfassung des Brumaire (1852): ›Die Zertrümmerung der Staatsmaschine wird die Zentralisation nicht gefährden.‹41 An diesem Punkt wird deutlich, daß Lenin und nach ihm alle Marxisten-Leninisten in der Tat zu Recht von sich beanspruchen, ›die Lehre des Marxismus vom Staat und die Aufgaben des Proletariats in der Revolution‹ (so der Untertitel von Staat und Revolution) rekonstruiert zu haben. Lenin hat in seiner umfangreichen Zitatologie ›Staat und Revolution‹ versucht, eine historische Kontinuität der Marschen Staatstheorie zu liefern, die vom Manifest 1848 ausgeht, über die Frankreichschriften (Klassenkämpfe, Brumaire) zur Kommune 1871 und den Programmkritiken an der deutschen Sozialdemokratie 1875 und 1891 (Engels) kommt.

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Karl Marx, Der 18. Brumaire, Berlin 1946, S. 110 f. Karl Marx, Der 18. Brumaire (Sammlung Insel 9), Ffm. 1965, S. 131.

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Im Manifest entwickeln Marx und Engels sehr ausführlich ihre staatssozialistische Konzeption. Sowohl in Erwartung der europäischen 1848er Revolution, als auch in deren Verlauf und in der Phase der einsetzenden Konterrevolution bleiben sie Anhänger des zentralen Staates als Mittel und Garant der proletarischen Revolution, wie sie ihn historisch rückblickend im Jakobinischen Konvent von 1793 beispielhaft vorgezeichnet fanden. Im Manifest werden ausführlich die konkreten Maßnahmen des ›Arbeiterstaates‹ beschrieben: ›Wir sahen schon oben, daß der erste Schritt der Arbeiterrevolution die Erhebung des Proletariats zur herrschenden Klasse, die Erkämpfung der Demokratie ist. Das Proletariat wird seine politische Herrschaft dazu benutzen, der Bourgeoisie nach und nach alles Kapital zu entreißen, alle Produktionsinstrumente in den Händen des Staates, d.h. des als herrschende Klasse organisierten Proletariats zu zentralisieren und die Masse der Produktionskräfte möglichst rasch zu vermehren.‹ Dann folgen eine ganze Reihe von konkreten Maßnahmen wie: ›Verwendung der Grundrente zu Staatsaufgaben ... Zentralisation des Kredits in den Händen des Staates durch eine Nationalbank mit Staatskapital und ausschließlichem Monopol ... Zentralisation des Transportwesens in den Händen des Staates ... Vermehrung der Nationalfabriken ... Errichtung industrieller Armeen.‹ Und für die Zeit ›nach der Übergangsperiode‹ heißt es dann: ›Sind im Laufe der Entwicklung die Klassenunterschiede verschwunden und ist alle Produktion in den Händen der assozierten Individuen konzentriert, so verliert die öffentliche Gewalt den politischen Charakter ... An die Stelle der alten bürgerlichen Gesellschaft mit ihren Klassen und Klassengegensätzen tritt eine Assoziation, worin die freie Entwicklung eines jeden die Bedingung für die Entwicklung aller ist.‹42 Es ist also klar zu sehen, wie für Marx und Engels sich die konkreten Aufgaben des revolutionären Proletariats für die

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Marx/Engels, Manifest der kommunistischen Partei, Berlin 1964, S. 66 f.

Übergangsperiode angeben lassen als Eroberung der politischen Macht durch das Proletariat, um dann die politische Form der bürgerlichen Jakobinerdiktatur, den zentralisierten Staatsapparat, für die Interessen und Bedürfnisse des Proletariats zu instrumentalisieren. Dieser Position bleiben Marx und Engels zeit ihres Lebens verhaftet, mit der einen Ausnahme der unmittelbaren Verarbeitung der Pariser Kommune 1871, wo Marx seine staatssozialistische Konzeption taktisch aufhebt und das tatsächliche Wesen der Kommune zugunsten seiner eigenen Zentralismusposition verschleiert. So schreibt Marx an Kugelmann (17. 4. 1871): ›Der Kampf der Arbeiterklasse mit der Kapitalistenklasse und ihrem Staat ist durch den Kampf der Pariser in eine neue Phase getreten. Wie die Sache auch unmittelbar verlaufe, ein neuer Ausgangspunkt von welthistorischer Wichtigkeit ist gewonnen.‹ Und am 12. 4. 1871: ›Wenn Du das letzte Kapitel meines 18. Brumaire nachsiehst, wirst Du finden, daß ich als nächsten Versuch der französischen Revolution ausspreche, nicht mehr wie bisher die bürokratisch-militärische Maschinerie aus einer Hand in die andere zu übertragen, sondern sie zu zerbrechen, und dies ist die Vorbedingung für jede wirkliche Volksrevolution auf dem Kontinent. Dies ist auch der Versuch unserer heroischen Pariser Parteigenossen.‹43 Wenn man jedoch im Brumaire nachsieht, findet man tatsächlich lediglich die Marsche Voraussage des Sturzes der Bonapartistischen Staatsmaschinerie bei ausdrücklicher Beibehaltung der staatlichen Zentralisation. Auch Korsch geht in ›Revolutionärer Kommune‹ und ›Grünberg-Archiv 1930‹44 soweit, Marx generell als Bewunderer und Anhänger des zentralistischen Staates zu interpretieren.45

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Marx/Engels, Ausgewählte Briefe, Berlin 1953, S. 307. Karl Korsch, Das Problem Staatseinheit-Föderalismus in der französischen Revolution. In: Grünberg-Archiv, Bd. 15, 1930; Karl Korsch, Revolutionäre Kommune. In: Die Aktion, 1929 und 1931. Vgl. auch Marx, Ansprache an den Bund, März 1850, MEW 7, S. 252: ›Wie in Frankreich 1793 ist heute in Deutschland die

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Korsch entwickelt, daß Marx für den als notwendig erklärten proletarischen Staat einen Unterschied zum bürgerlichen lediglich in seiner Zweckbestimmung, der Funktion, also im ökonomischen sozialen Wesen sieht, aber keinen Unterschied in der politischen Form, d.h., daß der proletarische Staat seiner politischen Form nach bürgerlicher Staat ist. Daraus resultiert bei Marx, dann später bei Lenin, die vorbehaltlose Bejahung der zentralistischen Staatsform und die Ablehnung des Föderalismus. Nach Korsch ist nun gerade das Problem Zentralismus-Föderalismus die politische Erscheinungsform des in allen geschichtlichen Revolutionen hervorgetretenen inneren Widerspruchs der revolutionären Entwicklung selbst: nämlich der Widerspruch zwischen dem Prozeß der revolutionären Bewegung und der jeweils fixierten Gestalt des durch die bisherige Bewegung erreichten Ergebnisses. In der gesamten marxistisch-leninistischen Staatstheorie existiert dieses Problem weder theoretisch noch praktisch. Lenin, weit entfernt, diese Problematik aufgreifen zu können, apologisiert: ›In den angeführten Betrachtungen von Marx über die Erfahrungen der Kommune findet sich auch nicht die Spur von Föderalismus.‹46 Und: ›Aus den kleinbürgerlichen Anschauungen des Anarchismus ergibt sich prinzipiell der Föderalismus. Marx ist Zentralist. Und in seinen hier zitierten Darlegungen ist nicht die geringste Abweichung vom Zentralismus enthalten.‹47 Gegen diese Position des zentralen Staates als Übergangsvehikel zur staatenlosen Gesellschaft wenden sich die Anarchisten mit aller Schärfe und setzen gegen das bloße Konzept vom ›proletarischen Staat‹ eine aus der Verlaufsgeschichte der proletarischen Revolution selbst entstammende Bewegung: die Zerschlagung des Staates und die Entfaltung einer breiten Volksbewegung und Masseninitiative. ›Die Anarchisten machen sich

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Durchführung der strengsten Zentralisation die Aufgabe der wirklich revolutionären Partei.‹ Lenin, Staat und Revolution, Berlin 1970, S. 56. a.a.O., S. 57.

die ausgesprochene Tendenz unserer Zeit zunutze, tausende verschiedene Gruppierungen zu gründen, die darauf ausgehen, für alle Aufgaben, die der Staat an sich gerissen hat, an die Stelle des Staates zu treten.‹48 Dieser Ansatz der Vergesellschaftung der Revolution als direkter Gegensatz zur Verstaatlichung der Massenbewegung und mit ihr zur Liquidierung der Revolution ist Kernpunkt der anarchistischen ›Staatstheorie‹, Bakunin hat unzählige Male darauf insistiert, daß die Abschaffung des Staates und die räteartige Organisation der Gesellschaft von unten nach oben in Form freier Assoziationen eine untrennbare Einheit bilden. Nur das Verschweigen der organisatorischen Konsequenzen der Abschaffung, der Zerstörung des Staates ermöglicht es, die Anarchisten als naive Chaotiker und Phraseure zu denunzieren.49 2. Verstaatlichung und Vergesellschaftung ... Die Abschaffung des Staates ist eine alte Phrase der deutschen Philosophie, von der wir viel Gebrauch gemacht haben, als wir noch einfältige Jünglinge waren. Engels an Cafiero, 1. 7. 1871 Selbst die radikalen und revolutionären Politiker suchen den Grund des Übels nicht im Wesen des Staates, sondern in einer bestimmten Staatsform, an deren Stelle sie eine andere Staatsform setzen wollen. Marx 1844 Aber die Esel, Bakunin und Cluseret, kamen nach Lyon und verdarben alles ... Man bemächtigte sich des Rathauses – für kurze Zeit – und erließ die verrücktesten Gesetze über Abschaffung des Staats und dergleichen Blödsinn. Marx an Beesly, 19. 10. 1870

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Kropotkin, Der moderne Staat. Zit. bei: Ein Gespräch mit Augustin Souchy, in: Anarchismus, Ffm. 1970, S. 15/16. Dabei machen es sich die Anarchismuskritiker einfach, indem sie ihre schweren Geschütze gegen den Individual-Anarchismus

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Daß der autoritäre, doktrinäre Staatssozialismus der entscheidende Differenzpunkt zwischen den autoritären und antiautoritären Kommunisten sein würde, war Bakunin sehr früh klar, und er war sich dessen bewußt, daß die prinzipielle Auseinandersetzung über diese Frage sich nicht endlos herauszögern ließe. So schreibt Bakunin am 28. 10. 1869 an Herzen: ›Es kann jedoch und wird wahrscheinlich vorkommen, daß ich mich bald in einen Kampf mit ihm (Marx) werde einlassen müssen ... einer prinzipiellen Frage halber, des Staatskommunismus.‹ Der Kern der Auseinandersetzung war folgender: Im Gegensatz zum Zwei-Phasen-Modell der Revolution der Marxisten, das die Emanzipation der Menschen auf die Zeit nach der Übergangsperiode des ›proletarischen Staates‹ verlegte, also die erfolgreich abgeschlossene politische Revolution als Voraussetzung der sozialen Revolution begriff, war für die Anarchisten klar, daß kein Staat, unter welcher politischen Form auch immer, Vehikel zur ›Erreichung des Sozialismus‹ sein könne; daß also die politische Form des Staates nicht durch den Gewaltakt einer politischen Partei, die zur Macht gelangt ist, mit dem Inhalt der Emanzipation der Unterdrückten und Ausgebeuteten ausstaffiert werden kann. Der Staat soll nicht übernommen oder erobert werden, er muß so zerschlagen werden, daß an seine Stelle die konzentrierte Gewalt des Volkes tritt, deren institutioneller Aufbau einen vom Staat grundsätzlich verschiedenen Charakter hat. ›Der Staat in jeder Form ist ein Unterdrückungsinstrument und kann nie eine Institution für die Befreiung der Massen werden; die revolutionäre Aktion der Massen ist das einzige Mittel für ihre Befreiung.‹50 Die Abschaffung des Staates bedeutet seine Rücknahme in die Gesellschaft durch die gan-

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(z.B. Stirner, Ramus) auffahren, der in der Tat lediglich eine Art Abklatsch des Liberalismus ist, wo das Individuum seine wirtschaftliche und persönliche Entwicklung vom Staat beeinträchtigt sieht und deshalb antistaatlich wird, aber ohne den Klassenkampf zu akzeptieren. Rudolf Rocker, in: Der Syndikalist, Nr. 2, 1920.

ze Gesellschaft, was nur als Bewegung von unten nach oben, als Rätebewegung praktisch durchführbar ist. Ohne die Initiative und Kontrolle von der Basis läßt sich bestenfalls eine Form des Staatssozialismus (Verstaatlichung) realisieren, der – bei Beibehaltung der Ausbeutung und Entfremdung – zwar die Arbeitsproduktivität erhöht, sonst aber alles beim alten läßt. ›Der Sozialismus kann nicht das Werk der Repräsentation der bürgerlichen Gesellschaft, des Staates sein, sondern nur die Aufgabe der Gesellschaft und ihrer wirklichen Repräsentation: des Proletariats, und muß damit auch sein eigenes Werk sein! Die Arbeiter haben sich unmittelbar und ohne bürokratische Umwege durch ihre Räte in den Besitz der Produktionsmittel zu setzen. Hierzu müssen sie den Staat nicht erobern, sondern zerbrechen, um dann ihre eigene Organisation, die Räte, zur einzigen politischen Gewalt zu erheben. Es geht nicht mehr um Verstaatlichung und Nationalisierung, sondern darum, daß die Produzenten ohne Umwege über eine staatliche Bürokratie die Verfügungsgewalt über die Produktionsmittel und Produkte erhalten.‹51 In diesem Kontext muß man den ›politischen Abstentionismus‹ der Anarchisten sehen, der lediglich Ausdruck der bedingungslosen Ablehnung der bürgerlichen Politik ist. So erklärt der Kongreß der Antiautoritären in St.- Imier im September 1872 über den Charakter der politischen Aktion: ›1. daß die Zerstörung jeder politischen Macht die erste Pflicht des Proletariats ist; 2. daß jede Organisation einer sogenannten provisorischen und revolutionären politischen Macht, um diese Zerstörung herbeizuführen, nur ein Betrug mehr sein kann und für das Proletariat ebenso gefährlich wäre, als alle heute bestehenden Regierungen; 3. daß nach Verwerfung jedes Kompromisses zur Durchführung der sozialen Revolution die Proletarier aller Länder außerhalb jeder Bourgeoispolitik die Solidarität der revolutionären Aktion einrichten müssen.‹52

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Willy Huhn, Staatskapitalismus und Sozialismus, unveröffentl. Manuskript 1932, S. 15. Resolutionen der Kongresse von St.-Imier und Bologna, September 1872, März 1873 in: Werke III, S. 255.

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Politischer Abstentionismus heißt also für die Anarchisten Kampf gegen jegliche Form von Autorität und Staat. Politik und Staat sind Synonyme für bürgerlicher Staat und bürgerliche Politik. Analog dazu interpretiert Bakunin den Satz aus dem Programm der I. Internationale, daß die Befreiung der Arbeiter ihr eigenes Werk sein müsse, als radikale Trennung zwischen Bourgeoisie und Proletariat. ›Denn die Politik ist nichts anderes als das Funktionieren, die Äußerung nach innen und außen hin der Staatstätigkeit, d.h. der Praxis, Kunst und Wissenschaft, die Massen zum Vorteil der privilegierten Klassen zu beherrschen und auszubeuten.‹53 1866 arbeitete Bakunin für eine sozialrevolutionäre Internationale, die schon vor der Gründung der I. Internationale konzipiert war, eine Art Programm aus, in der er seine Vorstellung der künftigen Gesellschaft entwickelte. Dort schreibt er: ›Die Ordnung in der Gesellschaft muß die Resultante der größtmöglichen Entwicklung aller lokalen, kollektiven und individuellen Freiheiten sein. Die politische und ökonomische Organisation des sozialen Lebens darf folglich nicht mehr wie heute von oben nach unten und vom Mittelkreis zum Umkreis ausgehen, nach dem Prinzip der Einheit und der erzwungenen Zentralisation, sondern von unten nach oben und von der Peripherie zum Zentrum nach dem Prinzip der freien Assoziation und Föderation.‹ Er fordert die ›Abschaffung des bevormundenden, überragenden, zentralistischen Staates, der ... Ursache der Verarmung, Verdummung und Versklavung der Völker ist‹.54 Dann stellt er konkrete Forderungen auf, wie Abschaffung der Staatsuniversitäten, des staatlichen Richtertums, des bürgerlichen und Strafrechts, der Staatsbanken, der zentralen Verwaltung, der Bürokratie, des stehenden Heeres und der Staatspolizei; Bakunin fordert anstelle dieses zentralistisch-bürokratischen Staates eine totale Reorganisation des Landes auf der Basis von produktiven Assoziationen und Räten

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Bakunin, Protest der Alliance, a.a.O., S. 141. Bakunin, Prinzipien und Organisation der internationalen revolutionären Gesellschaft (1866), in: Werke III, S. 10.

des Volkes. In groben Umrissen sind hier die konkreten Maßnahmen inhaltlich vorweggenommen, wie sie sich in der Kommune 1871 spezifizierten und konkretisierten. Realisieren wird sich nach Bakunin dieses Konzept in der sozialen Revolution, deren Ziel die ›radikale Auflösung des zentralistischen, bevormundenden, autoritären Staates mit allen militärischen, bürokratischen, regierenden, verwaltenden, gerichtlichen und bürgerlichen Einrichtungen ist. Es ist mit einem Wort die Rückgabe der Freiheit an Alle, Personen, Kollektivkörper, Assoziationen, Gemeinden, Provinzen, Regionen und Nationen und die gegenseitige Garantie dieser Freiheit durch die Föderation.‹55 Ein Jahr später schreibt Bakunin in einem geplanten Werk über ›Die revolutionäre Frage‹ als Ziel der Revolution: ›Die Gesellschaft so zu organisieren, daß jedes auf die Welt kommende männliche oder weibliche Wesen ungefähr gleiche Mittel zur Entwicklung seiner Fähigkeiten und ihrer Nutzbarmachung durch die Arbeit vorfindet; eine Gesellschaft zu organisieren, die jedem die Ausbeutung der Arbeit anderer unmöglich macht, die jeden am Genuß der sozialen Werte, die stets nur durch Arbeit hergestellt werden, nur im Grade seiner direkten Teilnahme an ihrer Herstellung durch seine Arbeit Anteil haben läßt.‹ Und er fügt hinzu: ›Die volle Durchführung dieses Problems wird ohne Zweifel das Werk von Jahrhunderten sein. Aber die Geschichte hat dieses Problem aufgeworfen, und wir können von nun an nicht mehr davon absehen, ohne uns selbst zur völligen Ohnmacht zu verurteilen.‹56 Wir haben oben angeführt, daß Marx und Engels seit dem Vorabend der 1848er Revolution, mit der Ausnahme der taktischen Verschleierung 1871, Anhänger des zentralistischen Staates, der Jakobinerdiktatur waren. Bakunin wertet nun die Erfahrungen von 1793 bis zu seiner Zeit (1868) als Phase des mehr und mehr siegreichen Staats-

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a.a.O., S. 29. Bakunin, Der Sozialismus (1867), in: Werke III, S. 71 f.

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despotismus, der der Welt bewiesen hat, ›daß 1793 die Girondisten gegen die Jakobiner Recht gehabt hatten.‹57 Analog zur These, die auch Marx – aber mit völlig anderen Konsequenzen – aufgestellt hatte, daß nämlich die bürgerliche Staatsmaschinerie als Siegesbeute in den bürgerlich-revolutionären Kämpfen immer mehr perfektioniert wurde, zieht Bakunin daraus nicht nur die Konsequenz, die bonapartistisch-militärische Staatsmaschinerie zu zerschlagen (wie Marx), sondern fordert die völlige Liquidierung des Staats-Zentralismus, um zur kommunistischen Gesellschaft zu kommen. Bakunin wirft den Jakobinern und Blanquisten vor, sie wollten keine radikale Revolution gegen die Verhältnisse (Dinge) machen, sondern träumen ›von einer blutigen Revolution gegen die Menschen. Diese blutige Revolution, gegründet auf die Errichtung eines mächtig zentralisierten revolutionären Staates, würde aber ... die militärische Diktatur für einen neuen Herrn zur Folge haben. Der Sieg der Jakobiner oder der Blanquisten wäre also der Tod der Revolution.‹58 Bakunin betont, daß es den antiautoritären Revolutionären gerade darum geht, die Masseninitiative und Spontaneität zu entfalten, sie nirgends zu hemmen, völlig auf sie zu vertrauen, im Gegensatz zu den Jakobinern, den autoritären Revolutionären, die ›so große Abscheu vor dem, was ihnen als Unordnung erscheint und was nur der offene und natürliche Ausdruck des Volkslebens ist‹,59 haben. An einer anderen Stelle (1870) kritisiert er die Jakobinerrevolutionäre als die künftigen ›Staatsmänner der Revolution‹. ›Sie werden natürlich die Volksmasse als Fußschemel benutzen, als Piedestal für ihren demokratischen Ehrgeiz, ihren Ruhm benutzen.‹60

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Bakunin, Briefe an La Démocratie (April 1868), in: Werke III, S. 74. Bakunin, Programm und Ziel der revolutionären Organisation der internationalen Brüder. In: Werke III, S. 87. a.a.O. Bakunin, Brief an Albert Richard (1. 4. 1870). In: Werke III, S. 99.

- Bakunin und Marx ... Marx treibt hier dieselbe eitle Wissenschaft wie vorher, er verdirbt die Arbeiter, indem er Raisonneurs aus ihnen macht, derselbe theoretische Wahnsinn und die unbefriedigte mit sich selbst unzufriedene Selbstzufriedenheit. Bakunin an Annenkow, 28. 12. 1847

Über die gegenseitigen Beziehungen zwischen Marx und Bakunin ist schon viel geschrieben worden. Franz Mehring, Otto Rühle, Fritz Brupbacher61 haben versucht, die Differenzen so zu fassen, daß den beiden Persönlichkeiten und der historischen Phase der Auseinandersetzung zwischen autoritärem und antiautoritärem Kommunismus umfassend Rechnung getragen wurde. Die Form der Auseinandersetzung, wie sie von Marx geführt wurde, wird jedoch allgemein verurteilt. Er scheute nicht vor Denunziationen, Zynismus und intellektueller Arroganz zurück, eine Form – die im weiteren Verlauf noch jeglichen Inhaltes beraubt – bei den Marschen Epigonen zu bloßer Diffamierung verkam. ›Bei all seinen Fehlern und Schwächen‹, schreibt Mehring, ›wird ihm [Bakunin] die Geschichte einen Ehrenplatz unter den Vorkämpfern des internationalen Proletariats sichern, mag dieser Platz auch immer bestritten werden, solange es Philister auf diesem Erdenball gibt, gleichviel, ob sie die polizeiliche Nachtmütze über die langen Ohren ziehen oder ihr schlotterndes Gebein unter dem Löwenfell eines Marx zu bergen suchen.‹62 In einem Brief Bakunins an die Internationalisten der Romagna vom Januar 1872 präzisiert Bakunin seine Differenzen zu Marx: ›Marx ist autoritärer und zentralistischer Kommunist. Er will, was wir wollen: den vollständigen Triumph der ökonomischen und sozialen Gleichheit, aber im Staate und

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Franz Mehring, Karl Marx. Berlin 1960. Otto Rühle, Karl Marx – Leben und Werk. Hellerau/Dresden 1928. Fritz Brupbacher, Marx und Bakunin, Berlin 1968 (Neudruck). Mehring, a.a.O., S. 508.

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durch die Staatsmacht, durch die Diktatur einer sehr starken und sozusagen despotischen provisorischen Regierung, d.h. durch die Negation der Freiheit. Sein ökonomisches Ideal ist der Staat als einziger Besitzer von Grund und Boden und jedem Kapital, das Land bebauend durch gut gezahlte und von seinen Ingenieuren geleitete landwirtschaftliche Assoziationen und mit dem Kapital alle industriellen und Handelsassoziationen kommanditierend. Wir wollen den gleichen Triumph der ökonomischen und sozialen Gleichheit durch die Abschaffung des Staates und von allem, was juridisches Recht genannt wird, und was nach unserer Ansicht die permanente Negation des menschlichen Rechts ist. Wir wollen den Wiederaufbau der Gesellschaft und die Konstituierung der Einheit der Menschheit nicht von oben nach unten, durch irgendwelche Autorität und durch sozialistische Beamte, Ingenieure und andere offizielle Gelehrte, sondern von unten nach oben, durch die freie Föderation der von dem Joch des Staates befreiten Arbeiterassoziationen aller Art.‹63 Bakunin wirft Marx eine zu mechanistische Bestimmung des Verhältnisses Ökonomie-Überbau vor. ›Der politische Zustand jedes Landes, sagt Marx, ist immer das Produkt und der treue Ausdruck seiner ökonomischen Lage; zur Änderung des ersteren braucht nur letztere geändert werden ... Er zieht die anderen Elemente der Geschichte nicht in Rechnung, so die augenscheinliche Rückwirkung der politischen, juridischen und religiösen Einrichtungen auf die ökonomische Lage ... ‹64 Weiter meint Bakunin, Marx verkenne die besondere Wirkung des Volkscharakters, des Instinkts der Empörung. Gerade die Deutschen sind in dieser Beziehung ›das resignierteste, gehorsamste Volk der Erde‹.

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Bakunin, Brief, Romagna, a.a.O., S. 188. Bakunin, Brief an Liberté (5. Okt. 1872). In: Werke III, S. 244.

STAATLICHKEIT UND ANARCHIE: ENTSTEHUNG UND REZEPTION ›Staatlichkeit und Anarchie‹ erschien 1873 in Zürich in russischer Sprache als einziges umfangreiches Buch Bakunins, das zu seinen Lebzeiten – er starb 1876 – erschien. In Anbetracht der assoziativen Darstellungsform, die dem gesamten schriftlichen Werk Bakunins anhaftet, ist der Aufbau des Buches etwas unübersichtlich, da Bakunin oft unvermittelt aufkommende Probleme in fast epischer Breite entfaltet, dann wieder plötzlich eine ganz andere Fragestellung aufgreift, um diese dann nicht minder ausführlich abzuhandeln. Überhaupt ist Bakunins schriftliches Werk nicht von der jeweiligen historischen Kampfsituation zu trennen, so daß Max Nettlau mit Recht Bakunins permanente Bereitschaft hervorhebt, ›seine literarischen Pläne den Bedürfnissen der Propaganda oder Aktionsmöglichkeiten zu opfern.‹65 So erklären sich auch die jeweiligen Anläufe zu größeren Werken, die schließlich doch alle nur Fragmente blieben. So ist auch ›Staatlichkeit und Anarchie‹ letztlich nur die erste Hälfte einer monumentalen Einleitung eines auf mehrere Bände konzipierten Werkes, das eine umfassende Darstellung der ›Weltanschauung‹ Bakunins bringen sollte.66 ›Bakunin ordnete sich eben als Schriftsteller ganz und gar den Bedürfnissen der Propaganda und Aktion unter; die Schrift trat für ihn neben Wort und Waffe, eines der drei Aktionsmittel des unermüdlichen Revolutionärs.‹67 ›Staatlichkeit und Anarchie‹ hatte sofort eine eminente politische Bedeutung in Rußland, zumal in dem – gegen Lawrows Programmatik der Aufgaben der revolutionären Intelligenz – veröffentlichten Anhang A Bakunin auf die konkreten Probleme des Verhältnis-

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Max Nettlau, Einleitung zu Bakunin, Gott und Staat. Leipzig 1919, S. 10. Vgl. Arthur Lehning, Etatisme et Anarchie, Einleitung, Leiden 1967, S. IX. Nettlau, a.a.O., S. 1.

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ses der Intelligenz zur revolutionären Massenbewegung einging und praktische Lösungen vorschlug. Die Produktionsgeschichte des Buches und die damit zusammenhängende Geschichte der russischen Studentengruppe in Zürich, die Bakunin bei der Herausgabe unterstützte, hat Arthur Lehning in seiner schon erwähnten Einleitung ausführlich dokumentiert.68 Besonders eindringlich schildert er die Kontaktaufnahme zwischen der Gruppe um Lawrow mit Bakunin und seinen Freunden, die Versuche einer inhaltlichen und praktischen Zusammenarbeit, die dann an den verschiedenen Einschätzungen der revolutionären Entwicklung in Rußland scheiterten. ›Lawrow glaubte, daß man die Revolution vor allem vorbereiten müsse, und Bakunin, daß man sie sofort organisieren müsse.‹69 Meschkat weist darauf hin, daß Lawrow mit seiner Konzeption der Notwendigkeit der intellektuellen Vorbereitung der Revolution fast keinen Erfolg im Rußland der Narodniki hatte; lediglich in Petersburg bildete sich eine Kleine Gruppe von LawrowAnhängern, die sich theoretisch schulten.70 ›Staatlichkeit und Anarchie‹, und besonders der programmatische Anhang, hatten dagegen in den 70er und 80er Jahren einen großen Einfluß auf die revolutionäre Jugend. Der damalige russische Polizeiminister Graf Pahlen beklagte sich 1875 in einem Staatsschutzbericht über die Wirksamkeit der Bakuninschen Propaganda: ›Die Schriften Bakunins und die Propaganda seiner Anhänger haben auf die Jugend einen erstaunlichen und unheilvollen Einfluß ausgeübt ... Die Jugend hat sie völlig übernommen, weil sie Antwort auf die drängende Frage geben: Was tun?‹71 – Auf die praktische Bedeutung des Werkes weisen die jeweiligen Neuauflagen in den russischen Revolutionen hin; so 1906, 1919 und letztmals 1922.

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A. Lehning, Einleitung, a.a.O., S. XII ff. a.a.O., S. XVI. Klaus Meschkat, Vorwort zu: P. L. Lavrov, Die Pariser Kommune, Berlin 1971, S. 12. A. Lehning, Einleitung, a.a.O., S. XXVI.

In den ersten Jahren der Sowjetunion wurden Schriften Bakunins offiziell beim anarchistischen Verlag ›Golos Truda‹ in Petersburg herausgegeben. Im Verlauf der 2er Jahre, die mit der NEP und Kronstadt 1921 die rigide Wendung zum autoritären Staatskommunismus endgültig machte, setzte mit der physischen Vernichtung der Anarchisten als militanter Kämpfer gegen die Verstaatlichung der Revolution auch die administrative Unterdrückung der antistaatlichen Schriften ein. Die Marsche Rezeption von ›Staatlichkeit und Anarchie‹ Im Verlauf des Jahres 1874 liest Marx zahlreiche russische Werke, u.a. auch ›Staatlichkeit und Anarchie‹, wovon er – da er im Rahmen seiner Studien über die Entwicklung Rußlands die russische Sprache gelernt hatte – ausführliche Auszüge, teils im Original und teils in eigener Zusammenfassung (in deutsch), anlegte. 1926 wurden diese kommentierenden Auszüge von Rjasanoff russisch zum ersten Mal herausgegeben.72 1935 erschienen eine französische und eine italienische Ausgabe. Die deutsche Ausgabe aus MEW 18 haben wir im Anhang dieses Bandes [1972] abgedruckt, damit dem Leser ein textkritischer Vergleich erleichtert wird.73 Bisher hat der Marsche Konspekt mehr dazu beigetragen, die Position Bakunins zu zentralen Fragestellungen der revolutionären Bewegung zu verschleiern und Wasser auf die Mühlen derer zu leiten, die eine solidarisch-kritische Auseinandersetzung mit dem Anarchismus mit Diffamierungen und Denunziationen gleichsetzen.74 Auch Marx selbst liefert in seinen Auszügen, wofür immer sie auch gemacht worden sind, mehr Beweise dafür, daß die

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Letopisi Marksisma, (Annalen des Marxismus), Bd. II, 1926, S. 60 ff. Die am Rande befindlichen Seitenzahlen in der deutschen Übersetzung von Staatlichkeit und Anarchie sind identisch mit den Seitenzahlen in Klammern beim Marschen Konspekt. Ein Beispiel für viele: ›Im Gegensatz zu dem subjektivistischen und voluntaristischen Gerede Bakunins ... formuliert Marx präzis den unmittelbaren Zusammenhang der proletarischen Re-

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Kritik des Anarchismus am autoritären Kommunismus berechtigt ist, als daß sie Ansätze einer solidarischen Auseinandersetzung erkennen lassen. Schon 1951 begründete Karl Korsch eine vollständige Herausgabe von Bakunins ›Staatlichkeit und Anarchie‹ in einem Brief an Rosdolsky: ›Je mehr ich mich damit beschäftige, desto mehr scheint es mir, daß Bakunin die meisten Entwicklungen, die bei den heutigen Revolutionen auftreten, viel klarer vorausgesehen hat als Marx. Sein Buch gehört insofern direkt zu den Voraussetzungen einer Theorie der modernen Revolution.‹75 Zentrale Kontroversen über die Entwicklungsbedingungen und Aspekte der emanzipatorischen Revolutionen, denen es im Gegensatz zur bürgerlich-jakobinischen Revolution nicht um eine letztlich massenfeindliche Auswechselung von Machteliten geht, sondern um die schrankenlose emanzipatorische Entfaltung der Initiative und Aktivität der Menschen selbst als der größten Produktivkraft, sind aus Bakunins ›Staatlichkeit und Anarchie‹ und der Marschen Rezeption des Bandes zu ersehen. Neben Problemen der Einschätzung der Rezeptionsweise von Marx76 müssen wir besonders berücksichtigen, daß Marx (aber auch Engels) bei der Diskussion der proletarischen

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volution mit bestimmten geschichtlichen Bedingungen der ökonomischen Entwicklung und des Klassenkampfes des Proletariates.‹ MEW 18, XII. Korsch an Rosdolsky, 1. 6. 1951. Nachlaß Korsch, Amsterdam I.I.S.G. So könnten Auslassungen revolutionstheoretisch relevanter Aspekte Bakunins in den Marschen Randglossen sowohl eine selbstverständliche Übereinstimmung mit dem Gesagten, als auch eine bewußte Unterdrückung, oder gar Indiz für fehlendes Problembewußtsein seitens Marx bedeuten. Da wir Marx' Akribie in bezug auf die geballte Liquidierung mißliebiger Fraktionen innerhalb der internationalen Bewegung kennen und gleichzeitig berücksichtigen müssen, daß die Marxsche Rezeption noch ganz unter dem Eindruck der Auseinandersetzungen innerhalb der I. Internationale stand, scheinen die letzten beiden Möglichkeiten zuzutreffen.

(emanzipatorischen) Revolution noch ganz auf die Verlaufsgeschichte der bürgerlichen Revolution fixiert waren. So liest sich der Marsche Konspekt in weiten Teilen als mißglückter und mißverstandener Dialog zwischen autoritärem und antiautoritärem Kommunismus. Marx wollte und konnte nicht einen Dialog suchen, der – im Hegelschen Sinne – die revolutionstheoretischen Kontroversen aufhob, vielmehr hat man den Eindruck, daß eine im arroganten Bewußtsein ihrer Position stabilisierte Autorität den Degen zum Todesstoß gegen den verhaßten Gegner präparierte. Dennoch lassen sich die zentralen Aspekte der emanzipatorischen Revolution aus dem ›Dialog‹ herausarbeiten: Das zentrale revolutionsstrategische Problem der modernen emanzipatorischen Bewegungen, Verstaatlichung der Revolution durch eine Avantgarde oder Emanzipation aller durch die Zerstörung jeglicher Staatsgewalt im Verlauf der sozialen Revolution, Staatskommunismus gegen Anarchismus (um in der alten Begrifflichkeit zu bleiben), findet im Marx-Bakunin-Dialog seinen personellen und inhaltlichen Ausdruck. Der Staatskommunismus von Marx ist keine Erfindung von Bakunin, wie es Maximilien Rubel anläßlich einer Diskussion der Marschen Rezeption von ›Staatlichkeit und Anarchie‹ behauptet.77 Rubel, der sehr wohl den Bakuninschen Staatskommunismus-Vorwurf auf die ›bolschewistische Abart des Marxismus‹ gelten läßt, verstellt sich selbst methodisch eine realistische Würdigung der Kontroverse zwischen Marx und Bakunin, wenn er, gestützt auf die Marschen Frühschriften und dessen Einschätzung der Pariser Kommune 187178 Marx einfach zum Anarchisten ernennt und eine durchgängige Identität von Kommunismus und Anarchismus bei Marx festzustellen glaubt. Gerade umgekehrt müssen wir vorgehen. Um aus der Versteinerung und Dogmatisierung heutiger Theoriebildung wegzukom-

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M. Rubel, Vorwort zu Marx-Engels, Die russische Kommune, München 1972, S. 30 f., bes. S. 33/34. ›Eine komische, aber erzwungene Travestie.‹ (Bakunin)

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men und um die Ritualisierung und geschichtsblinde, ahistorische Übernahme tradierter Organisations- und Kampfformen der heutigen linken Bewegung mit allen ihren Fraktionen zu überwinden, gilt es u.a. auch die historischen Fraktionierungen mit ihren Hauptergebnissen als Momente der heutigen Bewegung wieder fruchtbar zu machen. Dabei müssen wir bereit sein, mit allen Formen und Inhalten der bisherigen Bewegung bedenkenlos zu brechen, wenn sie sich als hemmend für die weitere Entwicklung der emanzipatorischen Bewegung erweisen. Wir wollen jedoch nicht in den Fehler verfallen, einen Götzen zu stürzen, um einen neuen zu errichten. Wir nehmen für uns in Anspruch, rücksichtslos die Sakrosanktheit der blauen Bände zu zerstören, ohne dafür die Unantastbarkeit der schwarzen Bände zu verkünden, d.h. wir stellen uns ›auf den Boden der gegenwärtigen praktischen Brauchbarkeit‹ (Korsch). Brauchbar ist für die heutige Bewegung in ihren vielfaltigen Formen die Neurezeption Bakunins und des Anarchismus – durch die vorweggenommene Kritik am Staatskapitalismus und die Bekämpfung der Staatsillusionen innerhalb der internationalen Arbeiterbewegung. Sei es in der traditionellen Form des offiziellen Sozialdemokratismus oder in der historisch auf Marx sich berufenden Form der Alt- und Neo-Bolschewiki, die den bestehenden Teufel (›bürgerlicher Klassenstaat‹) durch den neuen Belzebub (›proletarischer Staat‹) austreiben wollen mit der verschämten Ausrede eines ›Zwei-Phasen-Modells‹ bzw. einer Übergangsperiode der Revolution. Bürgerlicher und proletarischer Staat heißt Verzicht der emanzipatorischen Bewegung auf jegliche autonome, selbstbewußte Masseninitiative und kämpferisches Durchsetzen der eigenen Interessen zugunsten einer Fürsorgeinstitution. – durch die Lösung des Proletariatsbegriffs von seiner engen historischen Fixierung an das Industrieproletariat. Der Bakuninsche Proletariatsbegriff, Resultat der empirisch vorgefundenen Revolutionstendenzen und nicht Produkt

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voluntaristischer Spekulationen, erweitert den Marschen Begriff um die deklassierte Intelligenz, die bäuerlichen Massen und das Lumpenproletariat. – durch die Rolle emanzipatorischer Subjektivität in der Geschichte. Damit problematisiert Bakunin, ohne in den ihm unterstellten Blanquismus zu verfallen, die Rolle des Individuums in der Befreiungsbewegung und kommt zu einer konsequenten Kritik am traditionellen und auch am linken Kautskyanismus, der den ›großen Kladderadatsch‹ (Bebel) auf jeweils eigene Art erwartet, aber letztlich im gemeinsamen Vertrauen auf den endzeitlichen Zusammenbruch des Kapitalismus. – durch die Bestimmung der sozialen Revolution als massenhafter Bewegung von unten nach oben, die sich im Prozeß des Kampfes spezifische Organisations- und Kampfformen auf der Basis des Rätesystems bildet. Gleichzeitig entwickelt Bakunin die historischen Grenzen der politischen, bürgerlichen Revolution, die lediglich zur Ersetzung der herrschenden Clique führt, das Volk jedoch als Objekt der Politik und als Stoßkraft ihrer eigenen Machtetablierung gebraucht. Gegen die Anhänger der politischen Revolution, die ›doktrinären Revolutionäre‹ und Staatssozialisten, schreibt Bakunin in Staatlichkeit und Anarchie: ›Sie sind Feinde lediglich der bestehenden Macht, weil sie ihren Platz einnehmen wollen; Feinde der bestehenden politischen Institutionen, weil diese die Möglichkeit ihrer Diktatur ausschließen; sie sind gleichzeitig aber die glühendsten Verfechter staatlicher Macht, ohne deren Rückhalt eine Revolution, welche die Volksmassen wirklich befreite, dieser pseudorevolutionären Minderheit jede Hoffnung darauf nähme, daß sie den Volksmassen neue Zügel anlegen und sie mit ihren Regierungsmaßnahmen beglücken könnte.‹ Und: ›Auf dem pangermanischen Banner [der deutschen Sozialdemokratie zu Marx' Zeiten] steht geschrieben: Erhaltung und Stärkung des Staats um jeden Preis; aber auf dem der Sozialrevolutionäre, auf unserem Banner, steht mit flammenden, mit blutigen Lettern: Zerstörung aller Staaten, Ver-

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nichtung der bourgeoisen Zivilisation, freie Organisation von unten nach oben ... und Aufbau einer neuen Welt für die ganze Menschheit.‹ Staat und wirkliche Emanzipation des Volkes sind unvereinbar, ›das einzige, was die Staatsgewalt für das Volk tun könnte, wäre – sich abschaffen, verschwinden, da ihr Dasein unvereinbar ist mit dem Wohl des Volkes, das nur durch das Volk selbst dauerhaft geschaffen werden kann.‹ Deshalb, und dieser Gedanke taucht bei Bakunin immer wieder in seinen Schriften auf, begreifen die Massen in der sozialen Revolution die Abschaffung des Staates nicht als eine rigide Parteipflicht, sondern als ›eigene Emanzipation und als Volksfest‹. Für Bakunin ist die Revolution ebenfalls ›kein Gastmahl, kein Aufsatzschreiben, kein Bildermalen oder Deckchensticken ... , sondern ein Gewaltakt, durch den eine Klasse eine andere Klasse stürzt‹ (Mao) – aber auch ein Freudenfest. ›Die Lust der Zerstörung ist zugleich eine schaffende Lust.‹ (Bakunin 1842)

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Über die Bezeichnung »Einleitung« (auf dem Titelblatt) und »Vorwort« zu Beginn des Textes von ›Staatlichkeit und Anarchie‹ vgl. die Einleitung in vorliegendem Band, S. 47. Die Internationale Arbeiter-Assoziation (Erste Internationale) wurde auf einer Arbeiterversammlung in der Londoner St. Martin's Hall am 28. September 1864 gegründet. Gemeint ist der deutsch-französische Krieg (19. Juli 1870 (französische Kriegserklärung) bis 10. Mai 1871 ❲Frieden von Frankfurt am Main❳). Vor dem Hintergrund der Rivalität zwischen der preußischen Monarchie und dem Kaiserreich Napoleons III. bildete die Kandidatur eines Hohenzollernprinzen für den spanischen Thron den näheren Konfliktanlaß. Nachdem die süddeutschen Staaten nach der französischen Kriegserklärung sofort auf die Seite Preußens getreten waren, drangen drei deutsche Armeen in Frankreich ein. Nach schweren Kämpfen mußte die napoleonische Hauptarmee unter dem Kommando von Marschall Mac-Mahon am 2. September 1870 bei Sedan kapitulieren; mit ihr geriet Napoleon III. in Gefangenschaft. Hierauf wurde am 4. September die französische Republik ausgerufen und eine ›Regierung der Nationalen Verteidigung‹ gebildet. Nach der Eroberung Ostfrankreichs und der Belagerung von Paris (Kapitulation am 28. Januar 1871) durch deutsche Truppen nahmen Jules Favre und Adolphe Thiers (seit 13. Februar 1871 Regierungschef) Friedensverhandlungen auf und unterzeichneten am 26. Februar den Vorfrieden im deutschen Hauptquartier in Versailles, der Frankreich zur Zahlung einer »Kriegsentschädigung« von 5 Milliarden Francs und zur Abtretung von Elsaß-Lothringen zwang. Noch vor den Friedensverhandlungen mit Frankreich waren auf Initiative Bismarcks und flankiert von nationaler Kriegsbegeisterung in Deutschland Verträge zwischen Preußen und den süddeutschen Staaten zur Gründung des (zweiten) Deutschen Reiches geschlossen worden; am 18. Januar 1871 wurde der preußische König Wilhelm I. in Versailles zum deutschen Kaiser ausgerufen. Damit war im Ergebnis die französische Vormachtstellung in Europa auf das neugegründete Deutsche Reich übergegangen, dessen dominierender Faktor die preußische Militärmonarchie wurde.

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Otto Fürst von Bismarck (1815-1898), preußischer Politiker und Diplomat, ab 1862 preußischer Ministerpräsident, 1871-1890 deutscher Reichskanzler. Arrangierte den Ausbruch des deutschfranzösischen Krieges, stellte 1871 auf der Grundlage der preußischen Militärmonarchie die deutsche Reichseinheit her. Neue Heilige Allianz: Anspielung auf das als ›Heilige Allianz‹ bezeichnete und im September 1815 abgeschlossene Bündnis zwischen dem preußischen, österreichischen und russischen Monarchen, das in den folgenden Jahren zum Symbolbegriff reaktionärer Politik wurde (vgl. Bakunins Beschreibung in vorliegendem Band, S. 259-260). Jules Favre (1809-1880), französischer Rechtsanwalt und Politiker. 1848-1851 Abgeordneter der Nationalversammlung, 1870-1871 Außenminister in der ›Regierung der Nationalen Verteidigung‹ und im Kabinett Thiers, führte während des deutsch-französischen Krieges 1871 die Verhandlungen über die Kapitulation von Paris und den Friedensschluß mit dem Deutschen Reich. Léon Gambetta (1838-1882), französischer Rechtsanwalt und Politiker, gehörte als Innen-, Finanz- und Kriegsminister der ›Regierung der Nationalen Verteidigung‹ an. Im Oktober 1870 verließ er im Ballon das von den deutschen Truppen belagerte Paris und begann in Südfrankreich Volksheere aufzustellen. Nach dem Fall von Paris trat er zurück und wurde zum Führer der gemäßigten Republikaner in der französischen Nationalversammlung. Anspielung auf ein Rundschreiben des französischen Außenministers Jules Favre vom 6. Juni 1871 an die diplomatischen Vertreter Frankreichs im Ausland. Darin hieß es unter anderem: »[...] es ist das Ziel einiger gestörter, entarteter Menschen, jedes Tun und jeden individuellen Besitz zu vernichten, die Nationen unter das Joch einer Art blutgieriger Monarchie zu drücken und aus ihnen allen einen riesigen, durch den Kommunismus verarmten und abgestumpften Volksstamm zu machen. Deshalb versetzen sie die Welt in Unruhe, verführen die Unwissenden, reißen allzu viele Anhänger mit sich, die glauben, in der Verwirklichung dieser ökonomischen Ungereimtheiten mühelos Freuden und die Befriedigung ihrer verwerflichsten Begierden zu finden. Solche Perspektiven entfalten sie tatsächlich vor den Augen der einfachen Leute und wollen sie damit betrügen. ›Arbeiter dieser Welt‹, heißt es in einer Veröffentlichung vom 29. Januar 1870, ›organisiert euch, wenn ihr nicht länger unter vollständiger

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Erschöpfung und Entbehrungen aller Art leiden wollt. Mit Hilfe der Internationalen Arbeiter-Assoziation werden Ordnung, Wissenschaft und Gerechtigkeit an die Stelle von Unordnung, Kurzsichtigkeit und Willkür treten.‹ An anderer Stelle heißt es: ›Für uns ist die rote Fahne das Symbol der alles umfassenden menschlichen Liebe. Und unsere Feinde sollen sich davor hüten, daß diese Fahne nicht für sie zur Fahne des Schreckens wird.‹ Angesichts dieser Zitate ist jeder Kommentar überflüssig. Europa wird mit einem systematischen Zerstörungsplan konfrontiert, der sich gegen jede seiner Nationen richtet und gegen eben die Prinzipien, auf denen alle Zivilisationen beruhen [...].« (Journal officiel de la République française, Versailles, Nr. 159, 8. Juni 1871; vgl. zum Thema Georges Bourgin: ›La lutte du gouvernement français contre la Première Internationale. Contribution à l'histoire de l'après-Commune‹. In: International Review for Social History, Leiden, 1939, Band 4, S. 39-138) Die Antwort des Londoner Generalrates der Internationale auf Favres Rundschreiben, von Marx und Engels verfaßt sowie von John Hales als Sekretär des Generalrates unterschrieben, erschien zuerst in der Times, London, 13. Juni 1871, und wurde anschließend in einer Reihe von europäischen Zeitungen nachgedruckt (Text siehe MEGA, I 22, S. 176-177; dt. MEW, Band 17, S. 367-368). Práxedes Mateo Sagasta (1827-1903), spanischer Politiker, 18711872 Innenminister unter Amadeus I. (1845-1890, spanischer König 1870-1873, Sohn des italienischen Königs Viktor Emanuel II.) In einem Rundschreiben vom 9. Februar 1872 an die diplomatischen Vertreter Spaniens in Ausland forderte Sagasta ein enges Zusammenwirken der europäischen Regierungen gegen die Internationale. (Das an die spanischen Diplomaten in der Schweiz gerichtete Schreiben ist abgedruckt in Carole Witzig: ›Bismarck et la Commune. La réaction des monarchies conservatrices contre les mouvements républicains et socialistes ❲1870-1872❳ vue à travers les archives allemandes‹. In: International Review of Social History, Assen, Band 17, 1972, S. 219221.) Der diplomatische Vorstoß Sagastas gegen die Internationale wurde von der englischen Regierung zurückgewiesen: »Trotz ihrer revolutionären Theorien«, erklärte der englische Außenminister, »[...] ist die [Aktivität der Internationalen Arbeiter-] Assoziation darauf gerichtet, als Verbindungszentrum zwischen Arbeitern verschiedener Nationalitäten zu dienen [...], wobei

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sie ihre Tätigkeit, besonders in England, darauf beschränkt, Ratschläge bei Streiks zu geben.« Die von Sagasta geforderte Ausweisung ausländischer Mitglieder der Internationale lehnte der englische Außenminister unter Hinweis auf das Asylrecht in Großbritannien ab (vgl. Samuel Bernstein: ›Die I. Internationale und die Großmächte‹. In: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft, Berlin, 1. Jg., Heft 4, 1953, S. 608). Anspielung auf das von Papst Pius IX. im Dezember 1864 den katholischen Bischöfen übersandte Rundschreiben ›Syllabus complectens praecipuos nostrae aetatis errores‹ (Sammlung der hauptsächlichen Irrtümer unserer Zeiten) (veröffentlicht in Acta ex is decerpta quae apud sanctam sedem geruntur in compendium opportune redacta et illustrata, Rom, Band 3, 1867, S. 168-176). In zehn Abschnitten verdammte dieses Dokument achtzig Irrwege, darunter den Rationalismus, Naturalismus, Kommunismus und Liberalismus; der ›Syllabus‹ verwarf die Freiheit der Religionsausübung und des Gewissens und forderte die Kontrolle der Katholischen Kirche über alles, was sich auf Kultur, Wissenschaft und Erziehung bezog. Die reaktionären Anhänger des Papsttums rühmten das Dokument, bei den Liberalen jedoch galt es als Kriegserklärung der Kirche an die moderne Gesellschaft. Giuseppe Mazzini (1805-1872), italienischer Freiheitskämpfer, Haupt der radikalen Richtung innerhalb der italienischen Einigungsbewegung (Risorgimento). Pariser Kommune: Nach dem Aufstand der Pariser Nationalgarde gegen die Truppen der Regierung Thiers vom 18. März 1871 flüchteten die meisten Regierungsmitglieder und Beamten nach Versailles. Nach den daraufhin in Paris abgehaltenen Gemeindewahlen konstituierte sich Ende März die Kommune als Stadtparlament mit 85 Abgeordneten, die eine Reihe von sozialreformerischen Maßnahmen einleiteten. Am 2. April 1871 begannen die Angriffe der Versailler Regierungstruppen gegen die Pariser Kommune, die nach knapp zweimonatigen Kämpfen schließlich zur Kapitulation der Kommune führten. Beim Endkampf während der ›Blutigen Woche‹ (21. bis 28. Mai 1871) in den Straßen von Paris wurden etwa 20.000 bis 25.000 Menschen von den Versailler Regierungstruppen erschossen. 50.000 Personen wurden verhaftet und etwa 4.000 zur Deportation nach NeuKaledonien verurteilt. Der Aufstand der Pariser Kommune fand großen Widerhall in Italien und trug zur schnellen Entwicklung der sozialistischen

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Bewegung und der Internationale bei. Die radikale italienische Jugend, die vom Kampf der Kommune beeindruckt war, empörte sich über Mazzinis Kampagne gegen die besiegte Kommune und die verfolgte Internationale (über die von Mazzini in seiner Wochenzeitschrift La Roma del Popolo veröffentlichten Artikel siehe Archives, I 1, S. XXXVI-XLII). Als Mazzini die Internationale in seinem Artikel ›Agli operai italiani‹ (La Roma del Popolo, 13. Juli 1871) direkt angriff, schrieb Bakunin seine ›Riposta d'un Internazionale a Giuseppe Mazzini‹ (Text siehe Archives, I 1, S. 281-292), die am 16. August 1871 erschien und bedeutend dazu beitrug, daß sich die Arbeiterbewegung von der Ideologie Mazzinis entfernte und ihre Sympathien der Internationale zuwandte. »Bakunin antwortete ihm mit einer Verteidigung der Kommune«, schrieb der italienische Historiker Manacorda, »und [daraufhin] sammelten sich um diese beiden Kontrahenten die Gesellschaft und die Arbeiterkreise ganz Italiens in gegnerischen Lagern. Bakunin behielt die Oberhand, weil er die Sympathie der gesamten revolutionären Jugend gewann, und mit dieser Auseinandersetzung begann der Niedergang der Position Mazzinis innerhalb der Arbeiterbewegung.« (Gastone Manacorda: Il movimento operaio italiano attraverso i suoi congressi. Dalle origini alla formazione del Partito Socialista ❲18531892❳. Edizioni Rinascita, Rom 1953, S. 67) Mazzini starb am 10. März 1872 in Pisa. Nach der Abdankung König Amadeus' I. wurde in Spanien am 11. Februar 1873 die Republik ausgerufen. Anspielung auf die Verhaftung der Delegierten des Kongresses der italienischen Föderation der Internationale, der ursprünglich nach Mirandola einberufen worden war, dann aber nach polizeilicher Intervention vom 15. bis 16. März 1873 in Bologna tagte, Unter den verhafteten Delegierten befanden sich unter anderem Carlo Cafiero, Errico Malatesta, Celso Ceretti und Ludovici Nabruzzi. Die beiden ersten blieben 54 Tage in Untersuchungshaft und wurden am 9. Mai 1873 ohne Prozeß freigelassen. Napoleon III. (1808-1873), eigentlich Louis Napoleon Bonaparte, 1852-1870 französischer Kaiser, Neffe Napoleons I. Seit Anfang der 1850er Jahre versuchte die Regierung des Königreichs Sardinien-Piemont unter Ministerpräsident Camillo Cavour, Piemont zur Keimzelle eines vereinten Italiens zu machen. Bei dieser Politik kamen Cavour sowohl der jahrzehnte-

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lange Einsatz Mazzinis für die italienische Einigung als auch die Aktionen Garibaldis zugute: Nach Garibaldis »Zug der Tausend« (Mai bis September 1860), durch den seine Freischärlertruppe Sizilien und Kalabrien eroberte und das von Bourbonen regierte ›Königreich beider Sizilien‹ stürzte, erklärte sich dessen Bevölkerung in Abstimmungen für den Anschluß an das Königreich Sardinien-Piemont. Durch Militärbündnisse mit Napoleon Ill. und Preußen gelang dem Königreich darüber hinaus die Annexion der Lombardei (1859), Venetiens (1866) und des Kirchenstaats (1870). Die Einigung Italiens vollzog sich somit als Vergrößerung von Sardinien-Piemont und zum Hauptnutzen seines Königs Viktor Emanuel II. (1820-1878, seit 1861 mit dem Titel »König von Italien«). Friedrich Il., »der Große« (1712-1786), preußischer König seit 1740. Zur Korrespondenz Friedrichs Il. mit Voltaire, die 662 Schriftstücke aus den Jahren 1736 bis 1778 umfaßt, siehe: Briefwechsel Friedrichs des Großen mit Voltaire. Herausgegeben von Reinhold Koser und Hans Droysen. 3 Bände und ein Ergänzungsband. Verlag S. Hirzel, Leipzig 1908-1917. Klemens Wenzel Fürst von Metternich (1773-1859), österreichischer Politiker, 1809 Außenminister, 1821 Staatskanzler. Nach der Niederlage Napoleons I. (1769-1821, 1804-1815 französischer Kaiser) gelang es Metternich auf dem Wiener Kongreß zur Neuordnung Europas (1815) die Machtstellung Österreichs auszubauen und erreichte in den folgenden Jahren ein gemeinsames Vorgehen der Großmächte gegen alle Volksbewegungen, die die soziale und staatliche Ordnung verändern könnten. Als Symbolfigur reaktionärer Politik wurde er bei Ausbruch der Revolution in Wien im März 1848 gestürzt. Im Juni 1849 griffen russische Truppen in den österreichischen Feldzug gegen die ungarische Revolutionsregierung ein und zwangen die ungarische Armee im August 1849 zur Kapitulation. In den drei polnischen Teilungen (1772-1795) wurde Polen zwischen Preußen, Österreich und Rußland aufgeteilt. Katharina II., »die Große« (1729-1796), russische Zarin seit 1762. Adolphe Thiers (1797-1877), französischer Politiker und Historiker. 1836 und 1840 Ministerpräsident, 1848-1851 Abgeordneter der Nationalversammlung. 1871-1873 Präsident der Dritten Republik, leitete die Niederschlagung der Pariser Kommune. Jeanne d'Arc (um 1412-1431), französische Nationalheldin. Dem von ihr begleiteten französischen Heer gelang 1429 mit der Be-

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freiung von Orleans die entscheidende Wende im ›Hundertjährigen Krieg‹ zwischen England und Frankreich (1339-1453). Slawophile: Richtung innerhalb der russischen Intelligencija des 19. Jahrhunderts, die, im Gegensatz zu den ›Westlern‹, die Eigenständigkeit der russischen Kultur und der von Orthodoxie und Tradition geprägten bäuerlichen Lebensform betonte und eine Vereinigung der slawischen Völker unter russischer Führung propagierte. Anspielung auf das folgende Manifest der Pariser Internationale, das am 12. Juli 1870 gegen die von Tag zu Tag wachsende Kriegsgefahr veröffentlicht wurde. Tatsächlich beschloß der französische Ministerrat am 14. Juli die Mobilmachung, am 19. Juli folgte die Kriegserklärung an Preußen. »AN DIE ARBEITER ALLER LÄNDER Arbeiter, schon wieder einmal bedroht der politische Ehrgeiz unter Berufung auf das europäische Gleichgewicht und die nationale Ehre den Weltfrieden. Arbeiter, Franzosen, Deutsche, Spanier, laßt uns gemeinsam unsere Stimme erheben, um den Krieg zu verdammen. In unserer Zeit kann es für die Gesellschaften keine andere legitime Basis als die Produktion und deren gerechte Verteilung geben. Die Arbeitsteilung, die eine tägliche Steigerung des Umsatzes notwendig macht, hat zur Solidarisierung der Nationen beigetragen. Der Krieg um einer Vormachtstellung oder einer Dynastie willen kann in den Augen der Arbeiter nichts als eine kriminelle Absurdität sein. Als Antwort auf den kriegslüsternen Jubel all jener, die sich von der Kriegssteuer befreit haben oder die in dem allgemeinen Unglück eine Quelle für neue Spekulationen entdecken, protestieren wir, WIR, DIE WIR FRIEDEN, ARBEIT UND FREIHEIT WOLLEN. Wir protestieren gegen die systematische Ausrottung des Menschengeschlechts; gegen die Verschwendung des Volksvermögens, das nur zur Ertragssteigerung des Bodens und der Industrie verwendet werden darf; gegen das Blutvergießen um der Befriedigung von Eitelkeit, Eigenliebe und frustrierter oder ungestillter monarchistischer Ambitionen willen. Ja, als Menschen, als Bürger, als Arbeiter protestieren wir mit all unserer Kraft gegen den Krieg, Der Krieg ruft die rohen Instinkte und die nationalen Feindseligkeiten wach, Der Krieg ist das geheime Mittel der Regierenden, die allgemeinen Freiheitsrechte zu unterdrücken, Der Krieg bedeutet die Vernichtung des ganzen Wohlstandes unserer täglichen Arbeit,

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Ihr Brüder in Deutschland! Im Namen des Friedens, hört nicht auf die gedungenen oder unterwürfigen Stimmen, die Euch über den wahren Geist Frankreichs täuschen wollen. Verschließt Eure Ohren vor den wahnsinnigen Provokationen, denn der Krieg zwischen uns wäre ein Bruderkrieg. Bleibt ruhig, wie es sich für ein großes, starkes und mutiges Volk geziemt, ohne daß es seine Würde verliert. Unsere Divisionen werden nichts weiter als den vollständigen Triumph des Despotismus auf beiden Seiten des Rheins herbeiführen. [...] Arbeiter aller Länder, was auch immer aus unseren gemeinsamen Bemühungen werden mag, wir, Mitglieder der Internationalen ArbeiterAssoziation, für die es keine Grenzen mehr gibt, senden Euch als Beweis unserer unverbrüchlichen Solidarität die Glückwünsche und Grüße der Arbeiter Frankreichs.« (Le Réveil. Journal de la Démocratie des deux Mondes, Paris, 12. Juli 1870). Unterschrieben von 179 Mitgliedern der Internationale, darunter Tolain, Camélinat, Perrachon, Johannard, Fournaise, Murat, Pindy, Malon, Theiss. Bakunin bezieht sich auf eine Erklärung des ›Fünften Arbeitertages‹ in Wien, der am 10. Mai 1868 ein ›Manifest an das arbeitende Volk in Österreich‹ verabschiedet hatte. Darin hieß es unter anderem: »Wer das arbeitende Volk für die Aufwärmung abgethaner Nationalitäts-Sonderzustände benutzen will, der sucht es zu verhindern, seine eigene Befreiung zu vollziehen. Die Zeit der Nationalitäten-Absonderung ist vorüber, das Nationalitätsprinzip steht heute nur noch auf der Tagesordnung der Reaktionare. [...] Heute handelt es sich darum, das arbeitende, das produzirende Volk zu erlösen, indem es zur Gleichberechtigung in der Gesellschaft und im Staate emporsteigt. Der Arbeitsmarkt kennt keine Nationalitätsgrenzen, der Weltverkehr schreitet über alle Sprachgrenzen hinweg. Das überall herrschende Kapital, dessen Ausdruck und Maßstab das Geld ist, kümmert sich nicht um die vermeintliche Abstammung. In den Werkstätten arbeiten unter gleichen Bedingungen die Arbeiter der verschiedensten Nationalitäten nebeneinander und müssen sich den gleichen wirtschaftlichen Gesetzen fügen.« (Der Vorbote. Politische und sozial-ökonomische Monatsschrift. Zentral-Organ der Sektionsgruppe deutscher Sprache der Internationalen Arbeiterassociation, Genf, 3. Jg., Nr. 5, Mai 1868, S. 78) Am 10. Juli 1868 wurde in Wien ein Manifest unter dem Titel ›Die Arbeiter Wien's an die französischen und englischen Ar-

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beiter‹ verabschiedet, in dem zu einem für Anfang September 1868 geplanten »allgemeinen österreichischen Arbeiterverbrüderungsfest« eingeladen wurde. In dem Manifest hieß es unter anderem: »Vor Allem aber blicken wir vertrauensvoll auf Euch, arbeitende Männer Frankreichs. Denn Ihr habt beinahe ein volles Jahrhundert für die europäische Freiheit geblutet und Ihr habt stets von Neuem, wenn die übrigen europäischen Völker in Knechtschaft versunken waren, die Fahne des gleichen Menschenrechts aufgepflanzt. Ihr waret stets das Volk der Initiative, und indem Ihr Euere eigenen Tyrannen vertriebt, gabt Ihr das Signal für das Aufwachen der andern Völkergruppen. [...] Uns trennt von Euch nicht mehr der Nationalitätsaberglaube, nicht mehr die Sprache, nicht mehr das besondere Staatswesen: denn wir sind auf das Innigste mit Euch durch die gemeinsame Noth und durch das gemeinsame Interesse, die Noth zu heben, in Freud und Leid verbunden.« (Der Vorbote. Politische und sozial-ökonomische Monatsschrift. Zentral-Organ der Sektionsgruppe deutscher Sprache der Internationalen Arbeiterassociation, Genf, 3.Jg., Nr. 8, August 1868, S. 122) Dr. Johann Jacoby (1805-1877), Arzt in Königsberg, Schriftsteller und Politiker; seit den 184oer Jahren einer der bedeutendsten deutschen Demokraten, Mitglied der Frankfurter Nationalversammlung (1848-1849), ab 1862 Mitglied des preußischen Landtags. Von Juli 1861 bis November 1868 Mitglied der Deutschen Fortschrittspartei, ab April 1872 der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei. Bakunin lernte Jacoby aufgrund eines Empfehlungsschreibens von Georg Herwegh am 4. April 1848 in Frankfurt am Main kennen und schloß mit ihm Freundschaft (vgl. Bakunin an Pavel Annenkov, 17. April 1848, in Briefwechsel, S. 9). Noch im selben Jahr begegneten sie sich erneut in Berlin. Zwanzig Jahre später versuchte Bakunin offenbar erfolglos die Verbindung zu Jacoby wieder aufzunehmen (vgl. Bakunin an Jacoby, 9. April 1868, in: Archiv für die Geschichte des Sozialismus und der Arbeiterbewegung. Herausgegeben von Carl Grünberg, Leipzig, 1. Jg., 1911, S. 481-482). Wilhelm Liebknecht (1826-1900), deutscher Sozialist, nahm an den revolutionären Bewegungen von 1848/1849 teil. Nach London emigriert (1850-1862), freundete er sich mit Marx und Engels an. Im August 1866 war er führend an der Gründung der Sächsischen Volkspartei in Chemnitz beteiligt und gab seit 1868

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das Demokratische Wochenblatt. Organ der deutschen Volkspartei heraus. 1869 zusammen mit August Bebel Begründer der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei. Anfang August 1868 fand in Wien das ›Dritte deutsche Bundesschießen‹ statt, an dem mehr als 15.000 Schützen aus Deutschland und Österreich teilnahmen. Das Treffen war auch ein Anziehungspunkt für deutsche und österreichische Demokraten; unter anderem nahmen Wilhelm Liebknecht, Julius Frese und Karl Mayer als Vertreter der Volkspartei (vgl. Anm. +252) daran teil. Auf einer Volksversammlung am 2. August 1868, an der ca. 3000 Personen teilnahmen, darunter 1200-1300 Mitglieder des Wiener Arbeiterbildungsvereins, versuchten Frese und Mayer erfolglos, die Wiener Arbeiter für die Volkspartei und ihre »freiheitlich-patriotische Bestrebung« zur Schaffung eines deutsch-österreichischen Gesamtstaates zu gewinnen. Die Anwesenden lehnten es ab, sich der Volkspartei anzuschließen und nahmen folgende Resolution an: »Die deutsche Frage kann vielmehr nur im Sinne der Freiheit gelöst werden durch innigen Anschluß des Volkes an die Bestrebungen der europäischen Sozialdemokratie« (das heißt der Internationale) (Demokratisches Wochenblatt. Organ der deutschen Volkspartei, Leipzig, Nr. 32, 8. August 1868, Beilage; vgl. auch Nr. 33, 15. August 1868, S. 260 und 262). Nichts läßt darauf schließen, daß sich Liebknecht auf Anregung von Marx, wie Bakunin behauptet, nach Wien begeben hat; Marx kritisierte im Gegenteil Liebknechts Engagement für die Volkspartei äußerst scharf (vgl. zum Beispiel Marx an Kugelmann, 24. Juni 1868, in MEW, Band 32, S. 548). Der Nürnberger Kongreß des ›Verbandes deutscher Arbeitervereine‹ (VDAV) (vgl. Anm. +256) tagte am 5., 6. und 7. September 1868 unter dem Vorsitz von August Bebel. Die 115 Delegierten, die 13.000 Arbeiter vertraten, verabschiedeten ein Programm, in dem sie ihren »Anschluß an die Bestrebungen der Internationalen Arbeiterassoziation« erklärten und in dem es ferner hieß: »Die politische Freiheit ist die unentbehrliche Vorbedingung zur ökonomischen Befreiung der arbeitenden Klassen. Die soziale Frage ist mithin untrennbar von der politischen, ihre Lösung durch diese bedingt und nur möglich im demokratischen Staat.« (Bericht über den Fünften Vereinstag der Deutschen Arbeitervereine am 5., 6. und 7. September 1868 zu Nürnberg. 2. Auflage. Druck von C. W. Vollrath, Leipzig o.J. [1869], S. 19). Dieser Teil des Programms wurde beinahe wortwörtlich in das Programm der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei übernommen

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(vgl. Anm. +277), die jedoch erst im Jahr darauf, am 7., 8. Und 9. August 1869, in Eisenach gegründet wurde. An dem Nürnberger Kongreß nahmen zwei österreichische Vertreter, Hermann Hartung und Heinrich Oberwinder, Delegierte des »socialdemokratischen Wiener Agitationscomités« teil, waren jedoch nicht stimmberechtigt. Oberwinder gibt an, daß sie sich auf dem Kongreß für die Annahme des politischen Programms eingesetzt hätten (vgl. Der Hochverraths-Proceß gegen Oberwinder, Andr. Scheu, Most [...]. Verhandelt vor dem k. k. Landesgerichte in Wien, begonnen am 4. Juli 1870. Nach stenographischen Berichten bearbeitet und herausgegeben von Heinrich Scheu. Im Selbstverlage des Herausgebers, Wien 1870, S. 298). Unter dem Titel ›Déclaration au Peuple français‹ (Erklärung an das französische Volk) veröffentlichte die Kommune von Paris am 19. April 1871 ein Manifest, in dem unter anderem gefordert wurde: »Die absolute Autonomie aller Kommunen Frankreichs, die jeder von ihnen ihre vollen Rechte und jedem Franzosen die freie Ausübung seiner Anlagen und Fähigkeiten als Mensch, Bürger und Arbeiter sichert. Die Autonomie der Kommune findet ihre Grenze nur in dem gleichen Recht aller anderen Kommunen, auf deren auf freiwilliger Vereinbarung basierendem Zusammenschluß die Einigkeit Frankreichs beruht. [...] Unsere Feinde irren, oder aber sie täuschen das Land, wenn sie gegen Paris den Vorwurf erheben, daß es der übrigen Nation seinen Willen oder seine Vorherrschaft aufzwingen wolle und nach einer Diktatur strebe, die in der Tat ein Verbrechen gegen die Unabhängigkeit und Souveränität der anderen Kommunen wäre. Sie irren sich oder täuschen das Land, wenn sie Paris anklagen, die Zerstörung der Einheit Frankreichs zu betreiben, die ein Werk der Revolution ist, von unseren Brüdern begrüßt, die aus allen Teilen des alten Frankreichs herbeigeeilt waren zum Feste der Föderation. Die Einheit, die uns bisher das Kaiserreich, die Monarchie und der Parlamentarismus aufgezwungen hatten, war nichts als die sinnlose, willkürliche und lästige Zentralisation des Despotismus. Die politische Einheit, die Paris erstrebt, ist die freiwillige Vereinigung aller lokalen Initiativen, das spontane und freie Zusammenwirken aller persönlichen Energien zur Verwirklichung eines gemeinsamen Zieles: das Wohlergehen, die Freiheit und Sicherheit der Gesamtheit.« (zitiert nach:

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Pariser Kommune 1871. Berichte und Dokumente von Zeitgenossen. Neuer Deutscher Verlag, Berlin 1931, S. 281-282) Die Vendôme-Säule wurde von Napoleon I. zur Verherrlichung seiner Siege aus Stein und dem Metall von 1200 erbeuteten Kanonen errichtet. Am 8. vendémiaire des Jahres XII (1. Oktober 1803) erließ Napoleon ein Dekret, in dem die Errichtung einer Säule mit dem Standbild Karls des Großen in der Mitte der Place Vendôme befohlen wurde. Da das Dekret nicht umgesetzt wurde, erging im Jahre 1806 der Beschluß, auf dem freien Platz eine Statue von Napoleon als römischem Imperator aufzustellen. 1814 wurde sie bei der Rückkehr der Bourbonen entfernt und unter König Louis-Philippe durch ein Standbild Napoleons im Gehrock ersetzt; am 4. November 1863 ließ Napoleon III. sie mit einem Cäsarenstandbild des Bildhauers Dumont vertauschen. Diese Statue mit ihrer Säule, eher ein napoleonisches als ein nationales Denkmal, wurde am 16. Mai 1871 umgestürzt. Diese Maßnahme war von der Kommune in ihrer Sitzung vom 12. April auf Vorschlag von Félix Pyat beschlossen worden. In dem Beschluß wurde erklärt: »Die Kommune von Paris betrachtet die kaiserliche Säule auf der Place Vendôme als Denkmal der Barbarei, Symbol der nackten Gewalt und des falschen Ruhms, eine Bejahung des Militarismus, eine Absage an die Völkerrechte, eine unaufhörliche Verhöhnung der Sieger den Besiegten gegenüber, einen fortwährenden Anschlag auf eines der drei großen Prinzipien der französischen Republik, die Brüderlichkeit. Sie beschließt: Einziger Beschlußpunkt. – Die Säule auf der Place Vendôme soll zerstört werden.« (Procès-verbaux de la Commune de 1871. Édition critique par Georges Bourgin et Gabriel Henriot. Band 1: Mars-Avril 1871. Éditions Ernest Leroux, Paris 1924, S. 190) Die gegenrevolutionäre Nationalversammlung in Versailles ließ Säule und Statue wiederherstellen. Die im Frieden von Frankfurt (vgl. Anm. +3) vorgesehene »Kriegsentschädigung« von 5 Milliarden Francs wurde von der Regierung Thiers vorzeitig bezahlt, woraufhin die deutschen Besatzungstruppen aus den östlichen Départements Frankreichs vor der ursprünglich festgesetzten Frist abziehen mußten. Auch das im Vorfrieden von Versailles noch als »Pfand« einbehaltene Gebiet um Belfort mußte geräumt werden. Bonapartisten: Anhänger von Napoleon I. und Napoleon III. Legitimisten: Anhänger des 1830 gestürzten französischen Herrscherhauses der Bourbonen.

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Orleanisten: Anhänger des Herrscherhauses Orleans, das mit LouisPhilippe, Duc d'Orleans (1773-1850, 1830-1848 französischer König) nach der Julirevolution 1830 an die Macht kam (vgl. Anm. +146). Désiré Barodet (1823-1906), Mitglied des revolutionären Komitees, das das Rathaus von Lyon am 4. September 1870 besetzte, später Bürgermeister von Lyon vom 23. April 1872 bis 12. April 1873. Bei einer Nachwahl zur französischen Nationalversammlung vom 27. April 1873 setzte sich Barodet, der von Gambetta unterstützt wurde, sowohl gegen den bonapartistischen Kandidaten Stoffel als auch gegen den Monarchisten de Rémusat durch, der als Außenminister der Regierung angehörte. Der Wahlausgang führte zu einer Verschärfung der innenpolitischen Krise, die am 24. Mai 1873 zum Sturz der Regierung Thiers führte. Im Frühjahr 1873 gründeten die französischen Flüchtlinge Camille Camet, Paul Brousse und Charles Alerini in Barcelona ein ›Comité de propagande révolutionnaire socialiste de la France méridionale‹ (Komitee zur revolutionär-sozialistischen Propaganda in Südfrankreich) mit dem Ziel, eine aufständische Bewegung in Frankreich vorzubereiten. In dem von ihnen unterzeichneten Programm vom 4. April 1873 hieß es: »Die zum wirtschaftlichen Kampf vereinigten Arbeiter aller Länder haben auf diesem Gebiet schon mehr als einen Sieg errungen. All unsere Erfolge verdanken wir der Solidarität unter den Arbeitern. Heute ist diese Waffe aufgerufen, uns noch größere Dienste zu leisten. Sie muß auf einen anderen als den wirtschaftlichen Bereich, auf ein anderes Schlachtfeld als das der Streiks übertragen werden, nämlich auf die Revolution. Die Umstände sind günstig, denn in Spanien hat gerade eine revolutionäre Epoche begonnen. Noch heute muß zwischen den Proletariern dieses Landes und den Arbeitern Südfrankreichs eine geistige Solidarität begründet werden, damit schon morgen alles zu ihrer Verwirklichung bereit ist und alle in der Aktion vereint sind.« (Biographie, S. +359) Am 14. Februar 1873 schrieb Elisée Reclus aus Lugano an Madame Dumesnil: »Spanien stützt sich auf unseren Süden, der Frankreichs rotes Land ist, und reicht andererseits dem nicht weniger roten Algerien die Hand. Dies ist schon der Anfang der mediterranen Konföderation.« (Elisée Reclus: Correspondance. Band 2: Octobre 1870-Juillet 1889. Librairie Schleicher Frères, Paris 1911, S. 126) Prokrustes: Gestalt der griechischen Mythologie. Symbolisch:

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jemand, der Dinge gewaltsam in ein Schema preßt. In ein Prokrustesbett zwingen: etwas gewaltsam in ein Schema pressen. Das Khanat Chiva (südlich des Aralsees, heute Usbekistan und Turkmenistan) wurde 1873 während einer russischen Militärexpedition, die von General Kaufman geleitet wurde, erobert und anschließend in ein abhängiges russisches Protektorat umgewandelt. Eine ähnliche Intervention im Winter 1839/1840 war fehlgeschlagen (vgl. Schriften, III, S. 87 und 124). Im Jahre 1808 griff Napoleon I. in einen Konflikt innerhalb des spanischen Königshauses der Bourbonen ein, zwang diese zum Thronverzicht und erklärte seinen Bruder Joseph Bonaparte zum spanischen König. Daraufhin kam es ab Mai 1808 zu bewaffneten Volksaufständen in ganz Spanien, die Napoleon zum militärischen Eingreifen zwangen: Im Herbst 1808 fiel er mit einem 300.000 Soldaten zählenden Invasionsheer in Spanien ein, konnte aber den Widerstand der spanischen Aufständischen nicht gänzlich unterdrücken. Auch nach Beendigung des Kriegszuges im Januar 1809 schwelte der Konflikt weiter und band starke französische Kräfte. Gemeint ist die Erhebung Preußens gegen die französische Fremdherrschaft nach dem katastrophalen Ausgang des Rußlandfeldzugs Napoleons (1812). Vgl. vorliegenden Band, S. 245-246 und Anm. +119. Nach der Niederlage preußisch-sächsischer Truppen in der Schlacht von Jena und Auerstädt am 14. Oktober 1806 und noch vor dem Einmarsch Napoleons in Berlin am 27. Oktober ließ der Berliner Gouverneur, Friedrich Wilhelm Graf von der Schulenburg (1742-1815), folgende Bekanntmachung aushängen: »Der König hat eine Bataille verloren. Jetzt ist Ruhe die erste Bürgerpflicht. Ich fordere die Einwohner Berlins dazu auf. Der König und seine Brüder leben! Berlin, den 17. Okt. 1806. Graf v. d. Schulenburg.« Gemeint ist der unter Führung von Andreas Hofer organisierte Volkskrieg in Tirol gegen die verbündeten französischen und bayerischen Truppen (1809). Hofer wurde 1810 verraten und auf Anordnung Napoleons erschossen. Manuel Ruez Zorilla (1834-1895), spanischer Politiker und Rechtsanwalt, 1856 in die ›Cortes‹ gewählt. Er gehörte der provisorischen Regierung von 1868 an, war Präsident der ›Cortes‹ (Januar 1870) und des Staatsrates (1871). Während des dritten Karlistenkrieges (siehe auch Anm. +147), der 1872 ausbrach, gelang es den Karlisten, ihr Kampfgebiet über

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weite Teile des nördlichen Spaniens auszudehnen. Erst Anfang 1876 wurde die Erhebung von Truppen der inzwischen wiederhergestellten Monarchie unter Alfons XII. niedergeschlagen. Die ›Allianz der Sozial-Revolutionäre‹, die Bakunin hier zum ersten Mal als Hinweis auf seine Tätigkeit in Spanien erwähnt, war von ihm im September 1872 in Zürich gegründet worden. Die Statuten der Organisation hatte er vom 2. bis 5. September entworfen; sie wurden nach einer Diskussion, an der Costa, Fanelli, Nabruzzi, Malatesta, Cafiero, Alerini, Farga-Pellicer, Marselau und Morago teilnahmen, am 13. September angenommen. Die antistaatlichen, föderalistischen und kollektivistischen Ideen, die Bakunin seit 1868 in der Internationale propagierte, fanden in Italien und Spanien großen Widerhall und gingen auch in die programmatischen Erklärungen und Dokumente der Internationale in diesen Ländern ein, so in die Statuten der italienischen Föderation, die im August 1872 in Rimini gegründet wurde, sowie in die Statuten und Resolutionen, die auf den Kongressen von Bologna (März 1873), Barcelona (Juni 1870), der Konferenz von Valencia (September 1871) und auf dem Kongreß von Córdoba (Dezember 1872 bis Januar 1873) angenommen wurden. Felix Fürst zu Schwarzenberg (1800-1852), Diplomat und österreichischer Ministerpräsident von Ende 1848 bis 1852. Leo Grafvon Thun und Hohenstein (1811-1888), österreichischer Politiker, von April bis Juli 1848 ›Gubernialpräsident‹ (Gouverneur) von Böhmen, 1849-1860 Minister für Kultus und Unterricht. Er gilt als Begründer des politischen Katholizismus in Österreich, der am Abschluß des Konkordats von 1855 maßgeblichen Anteil hatte. Gemeint ist die Niederlage Österreichs im Krieg gegen das mit Napoleon III. verbündete Königreich Sardinien-Piemont. Im Frieden von Zürich (November 1859) mußte Österreich die Lombardei abtreten. Friedrich Graf von Beust (1809-1886), seit 1832 im sächsischen Staatsdienst. Als sächsischer Außen- und Kultusminister (1849) und Ministerpräsident (ab 1858) vertrat er eine antipreußische Linie und war nach dem Sieg Preußens im preußisch-österreichischen Krieg (1866) zum Rücktritt gezwungen. Im Oktober desselben Jahres wurde er nach Wien berufen und setzte als österreichischer Außenminister und Reichskanzler die Wiederherstellung der Verfassung und den Ausgleich mit Ungarn (1867) durch. Ein ähnlicher Ausgleich mit dem tschechischen Bevölkerungsteil innerhalb der HabsburgerMonarchie scheiterte

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und führte zu seinem Rücktritt im November 1871. Bakunin zitiert diese Zahlen möglicherweise nach dem Almanach de Gotha. Annuaire généalogique, diplomatique et statistique, 109. Jg., 1872, S. 485. Darin werden folgende Gesamtzahlen für die einzelnen Bevölkerungsgruppen der österreichisch-ungarischen Monarchie im Jahre 1870 genannt: 16,219 Mio. Slawen (darunter 2,38 Mio. Polen, 3,104 Mio. Ruthenen, 6,73 Mio. Tschechen, Mähren, Slowaken und 4,175 Mio. Südslawen), 5,431 Mio. Ungarn, 2,925 Mio. Rumänen, 0,53 Mio. Italiener, 9,04 Mio. Deutsche und 1,354 Mio. sonstige (darunter 1,1675 Mio. Juden). Diese sowie die im darauffolgenden Satz im Text genannten Zahlen stammen ebenfalls möglicherweise aus dem ›Almanach de Gotha‹ (ebd.). Darin werden folgende Zahlen für die beiden Reichsteile Österreich- Ungarns im Jahre 1870 genannt. Ungarischer Reichsteil: 5,413 Mio. Ungarn, 4,663 Mio. Slawen, 2,65 Mio. Rumänen, 1,81 Mio. Deutsche und 0,612 Mio. sonstige. Österreichischer Reichsteil: 7,23 Mio. Deutsche, 11,556 Mio. Slawen und 1,5656 Mio. sonstige. Cisleithanisch: diesseits der Leitha gelegen. Transleithanisch: jenseits der Leitha gelegen. Die Leitha, ein rechter Nebenfluß der Donau, bildete streckenweise die Grenze zwischen dem österreichischen und dem ungarischen Reichsteil der Österreichisch-Ungarischen Monarchie. Diese Schrift ist nicht erschienen. Das Großmährische Reich wurde im Jahre 830 durch den mährischen Fürsten Mojmir gegründet. Im Jahre 906 wurde es durch einen Kriegszug der Ungarn vernichtet. Stephan IV. Dušan Uros (um 1308-1355), seit 1331 serbischer König, eroberte Albanien und Teile Griechenlands und gliederte sie seinem ›Großserbischen Reich‹ an. 1346 ließ er sich zum »Zaren der Serben und Griechen« krönen, nach seinem Tod zerfiel jedoch das Reich. Schlachta (polnisch Szlachta): niederer Adel in Polen. Adam Mickiewicz (1798-1855), geboren in Zaosie (Litauen), polnischer Dichter. Er emigrierte 1829 nach Paris, wo er Professor für slawische Literatur am Collège de France wurde. Bakunin hatte Mickiewicz während seines Aufenthalts in Paris 1844-1847 kennengelernt (vgl. Wiktor Weintraub: ›Mickiewicz and Bakunin‹. In: The Slavonic and East European Review, London, Band 28, Nr. 70, November 1949, S. 72-83). Hussiten: Anhänger des tschechischen Kirchenreformators Jan Hus (1370-1415), dessen einflußreiche religiösen Reformideen

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von der Katholischen Kirche als Ketzerei verfolgt wurden. Trotz der Zusicherung freien Geleites durch König Sigismund wurde Hus während des Konstanzer Konzils (1415) verhaftet und als Ketzer verbrannt. Als Sigismund 1419 die böhmische Krone beanspruchte, kam es zum bewaffneten Widerstand der Hussiten, die – geführt von Jan Žižka (1360-1424) und Andreas Prokop (1380-1434) – mit ihrem Volksheer die gegen sie ausgesandten Reichs- und Kreuzzugsheere vernichtend schlugen, 1433 beendeten die Calixtiner (gemäßigte Richtung der Hussiten, vor allem tschechischer Adel und Bürgertum) die Kämpfe und stimmten einem Kompromiß zu (›Prager Kompaktakten‹), während die radikaleren Taboriten (Bauern, niederer Klerus) weiterkämpften und 1434 von Truppen der vereinigten Calixtiner und Katholiken besiegt wurden. Die ›Obščina‹ oder auch ›Mir‹ genannte russische Dorfgemeinschaft beruhte auf dem Gemeineigentum an Acker- und Wiesenland. Zu Bakunins Charakterisierung des ›Mir‹ vgl. vorliegenden Band, S. 379380 und Anm. +313. Gemeint ist der Aufstand des böhmisch-protestantischen Adels gegen die katholischen Habsburger (Prager Fenstersturz 1618), der zugleich den Beginn des Dreißigjährigen Krieges markiert. Die Aufständischen unterlagen 1620 in der Schlacht am Weißen Berge (in der Nähe von Prag), ihre Anführer wurden hingerichtet und die Hälfte des Grundbesitzes böhmischer Adliger enteignet. Die Neuvergabe der Ländereien an habsburgische Adlige setzte eine gewaltsame Katholisierung und Germanisierung Böhmens in Gang, die ca. 150.000 Menschen in die Emigration trieb. Stepan (Stenka) Razin (um 1630-1671), organisierte 1667 einen Kosackenaufstand an der Wolga und am Kaspischen Meer, der 1670 in einen allgemeinen Bauernaufstand mündete; nach der Niederschlagung des Aufstandes wurde Razin 1671 in Moskau hingerichtet. Emel'jan Pugačev (um 1742-1775), führte 1773/1774 als angeblicher Zar Peter III. einen gegen den russischen Absolutismus entstandenen Volksaufstand im Ural- und Wolgagebiet, der erst durch massiven Militäreinsatz niedergeschlagen werden konnte. Michail Nikolaevič Murav'ev (1796-1866), russischer General, Gouverneur des russisch besetzten Teils von Polen (›Generalgouvernement‹), schlug den polnischen Aufstand von 1863 nieder. Bakunin bezieht sich in diesem Absatz auf den polnischen Aufstand vom Januar 1863 gegen die russischen Besatzungstrup-

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pen, auf den Krieg Preußens und Österreichs gegen Dänemark von 1864, auf die Feldzüge zu Beginn des deutsch-französischen Krieges ab Juli 1870 und die im Januar 1871 folgende Gründung des deutschen Kaiserreiches. Gemeint ist die Ende der 186oer Jahre in der Schweiz entstandene Kampagne zugunsten einer Verfassungsrevision, die 1874 nach einer Volksabstimmung angenommen wurde und die Kompetenzen des Schweizer Bundesstaates stärkte. Albigenser: religiöse Bewegung des 12. und 13. Jahrhunderts (benannt nach ihrem Zentrum, dem südfranzösischen Albi), die von der Katholischen Kirche als Ketzerei verfolgt wurde. In den von Papst Innozenz III. veranlaßten Albigenserkriegen (1209-1229) wurden sie vollständig vernichtet. August Bebel (1840-1913), deutscher Sozialist, Drechsler in Leipzig. Als Kandidat der Sächsischen Volkspartei wurde er 1867 zum Abgeordneten in den Norddeutschen Reichstag gewählt. Im Jahre 1869 spielte er als Vorsitzender des ›Verbandes Deutscher Arbeitervereine‹ (VDAV) zusammen mit Wilhelm Liebknecht eine zentrale Rolle bei der Umwandlung dieser Organisation in die Sozialdemokratischen Arbeiterpartei. Was Bakunin das »deutsche Programm« nennt, war ein neuer Artikel, der auf Betreiben von Marx und Engels auf dem Haager Kongreß in die Statuten der Internationale aufgenommen wurde. In diesem Artikel (Nr. 7 a der Statuten) wurde erklärt, daß das Proletariat nur dann als Klasse handeln kann, »wenn es sich selbst als besondere politische Partei [...] konstituiert«, und »die Eroberung der politischen Macht zur großen Pflicht des Proletariats« wird (zitiert nach MEW, Band 18, S. 149). Der Vorschlag des von Marx und Engels dominierten Generalrats, diesen Artikel in die Statuten der Internationale aufzunehmen, wurde auf dem Haager Kongreß mit 29 gegen 5 Stimmen bei 8 Enthaltungen angenommen. Diese und andere Beschlüsse des Haager Kongresses riefen eine Protesterklärung von 14 Teilnehmern des Kongresses (›Erklärung der Minorität‹ siehe Werke, III, S. 224) sowie einen Gegenkongreß in St. Imier hervor, der die Haager Beschlüsse für null und nichtig erklärte. In der Folgezeit wurden die Haager Beschlüsse von fast allen Föderationen und Sektionen der Internationale verworfen (zum Text der Resolutionen des Kongresses von St. Imier siehe Werke, III, S. 252256; zum Text der Resolutionen der italienischen und der Juraföderation siehe ebd., S. 257-260 und 251-252; zu den Entschließungen der belgischen, spani-

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schen, englischen und holländischen Föderation siehe Archives, II, S. 374-376; zu den Erklärungen von Sektionen aus den USA und aus Frankreich siehe Guillaume: L'Internationale, III, S. 37 und 43). Durch die breite Front der Ablehnung verkehrte sich Marx' Triumph auf dem Haager Kongreß schnell in eine Niederlage: In den kommenden Jahren ging die übergroße Mehrheit der Internationale ihren Weg ohne Marx und ohne Generalrat. Dabei bleibt jedoch festzuhalten, daß von den Föderationen der Internationale nicht alle – insbesondere nicht die englische und die holländische Föderation – das Prinzip der Organisation als politische Partei und die Eroberung der Staatsmacht grundsätzlich ablehnten; sie erteilten lediglich der obligatorischen Festschreibung dieses Prinzips für alle Föderationen der Internationale eine Absage. Skupschtina: Volksvertretung im Fürstentum Serbien (Narodna skupština ❲serbisch❳: Volksversammlung). Karl Albert (1798-1849), seit 1831 König von Sardinien-Piemont. Wenzel I. (1205-1253), 1228 zum König von Böhmen gekrönt. Die aus diesem Anlaß angefertigte »Wenzelskrone« wurde zum Souveränitätssymbol des böhmischen Königreichs. Über Jan Žižka und die Hussitenkriege im 15. Jahrhunderts (siehe Anm. +63) schrieb Bakunin an anderer Stelle: »Der große, der schreckliche Žižka, dieser Held, dieser Rächer des Volkes, dessen Gedächtnis wie ein Zukunftsversprechen noch auf dem Lande Böhmens lebt, erhob sich, und an der Spitze seiner Taboriten durcheilte er ganz Böhmen, verbrannte er die Kirchen, massakrierte er die Priester und zertrat das ganze kaiserliche oder deutsche Gewürm, was damals dasselbe bedeutete, weil alle Deutschen in Böhmen Anhänger des Kaisers waren. Nach Žižka trug Prokop den Schrecken bis ins Herz Deutschlands. Selbst die Prager Bourgeois, die übrigens unendlich gemäßigter waren als die Hussiten des Landes, ließen nach altem Landesbrauch die Anhänger des Kaisers Sigismund 1419 aus den Fenstern springen, als dieser schändliche Meineidige, dieser Mörder Johann Hus und Hieronymus' von Prag, die freche und schamlose Kühnheit besaß, sich als Mitbewerber um die freie Krone Böhmens aufzustellen. Ein gutes Beispiel, das befolgt werden sollte! So müßten angesichts der allgemeinen Befreiung alle Personen behandelt werden, die sich als offizielle Autoritäten den Volksmassen unter irgendeiner Maske, unter irgendeinem Vorwand und irgendeinem Namen, möge es sein, was es wolle, aufzwingen wollen.« (Werke, I, S. 83)

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Das »heute anerkannte« Programm ist eine Anspielung auf die ein Jahr nach dem Haager Kongreß erfolge Programmrevision durch den 6. Kongreß der Internationale in Genf (September 1873). Nach dem Haager Kongreß hatten fast alle Föderationen und Sektionen der Internationale in Italien, Spanien, dem Schweizer Jura, Frankreich, Belgien, England, Holland und Amerika die Beschlüsse der Mehrheit des Haager Kongresses über die Eroberung der politischen Macht und die Organisation als politische Partei abgelehnt (vgl. Anm. +72). Die italienische Föderation hatte sich schon auf ihrem Kongreß in Rimini (August 1872) gegen diese Politik ausgesprochen und nahm auf ihrem Kongreß von Bologna (15. März 1873) eine Resolution an, in der eine »vollständige und uneingeschränkte Wiederherstellung der früheren ›Considérants‹ [Präambel der Statuten] im Programm der Internationale« gefordert wurde (Dibattimenti nel processo per cospirazione e internazionalismo innanzi alle Assisie di Firenze, raccolti dall' Avv. Alessandro Bottero. Rom 1875, S. 250). Auf dem 6. allgemeinen Kongreß der Internationale, der vom 1. bis 6. September 1873 in Genf stattfand, stimmten die Delegierten aus England, Belgien, Frankreich, Holland, Italien und dem Schweizer Jura für eine Programmrevision: Es wurde ein Artikel eingefügt, der die »vollständige Autonomie« der Föderationen und Sektionen erklärte, ferner wurde der Generalrat als Institution abgeschafft und die ›Considérants‹ der Statuten von 1866 vollständig wiederhergestellt. Im Anschluß an die ›Considérants‹ wurde folgender Text eingefügt: »Die regionalen Föderationen, die auf dem internationalen Kongreß am 1. September 1873 in Genf vertreten waren, haben auf Anregung dieser Prinzipienerklärung die allgemeinen Statuten der Internationalen Arbeiter-Assoziation revidiert und in folgender Form angenommen: Art. 1 – Die Internationale Arbeiter-Assoziation hat das Ziel, die Vereinigung der Arbeiter aller Länder zu verwirklichen, auf der Grundlage der Solidarität im Kampf gegen das Kapital, einem Kampf, der zur vollständigen Emanzipation der Arbeit führen soll. Art. 2 – Wer immer die Prinzipien der Assoziation annimmt und verteidigt, kann als Mitglied aufgenommen werden, unter Verantwortlichkeit der Sektion, die ihn aufnimmt. Art. 3 – Die Föderationen und Sektionen, welche die Assoziation bilden, bewahren ihre vollständige Autonomie, d.h. das Recht, sich nach ihrem Willen zu organisieren, ihren eigenen

Geschäfte ohne irgendeine äußere Einmischung nachzugehen und den Weg selbst zu bestimmen, den sie zu verfolgen beabsichtigen, um zur Emanzipation der Arbeit zu gelangen. Art. 4 – Ein allgemeiner Kongreß der Assoziation wird jedes Jahr am ersten Montag im September stattfinden, Art. 5 – Jede Sektion, wie groß auch immer die Zahl ihrer Mitglieder ist, hat das Recht, einen Delegierten zum allgemeinen Kongreß zu entsenden. Art. 6 – Die Aufgabe des Kongresses ist, die Bestrebungen der Arbeiter der verschiedenen Länder darzustellen und durch die Diskussion in Harmonie zu bringen. Bei der Eröffnung des Kongresses wird eine jede regionale Föderation ihren Bericht über den Gang der Assoziation während des abgelaufenen Jahres vorstellen. Man wird von der Abstimmung nur Gebrauch machen für administrative Fragen, da Prinzipienfragen nicht Gegenstand einer Abstimmung sein können. Die Entscheidungen des Kongresses werden nur von denjenigen Föderationen umgesetzt, die sie angenommen haben. Art. 7 – Auf dem allgemeinen Kongreß wird in der Weise abgestimmt, daß jede regionale Föderation eine Stimme hat. Art. 8 – Der Kongreß wird jedes Jahr eine regionale Föderation mit der Organisation des folgenden Kongresses beauftragen. Die Föderation, die diesen Auftrag erhält, wird als Föderativbüro der Assoziation dienen. Diesem Büro sollen mindestens drei Monate vor dem Kongreß, damit alle regionalen Föderationen in Kenntnis gesetzt werden können, die Anträge, welche die verschiedenen Föderationen oder Sektionen auf die Tagesordnung des Kongresses gesetzt sehen möchten, übersandt werden. Das Föderativkomitee kann außerdem als Vermittler in Fragen von Streiks, Statistik und allgemeiner Korrespondenz zwischen den Föderationen auftreten, die sich zu diesem Zweck an dasselbe wenden. Art. 9 – Der Kongreß wird selbst die Stadt bestimmen, in der der nächste Kongreß abgehalten werden soll. Die Delegierten treffen sich dann ordnungsgemäß am vereinbarten Kongreßort und zur angegebenen Zeit, ohne daß es einer förmlichen Einladung bedarf. Art. 10 – Auf Initiative einer Sektion oder Föderation kann eine Abstimmung in den regionalen Föderationen, auch im Laufe des Jahres, wenn die Ereignisse es erfordern, Ort und Zeit des allgemeinen Kongresses ändern oder einen außerordentlichen Kongreß einberufen.

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Art. 11 – Will eine neue regionale Föderation in die Assoziation eintreten, so soll sie ihre Absicht mindestens drei Monate vor dem allgemeinen Kongreß der Föderation mitteilen, die als Föderativbüro dient. Diese wird davon allen regionalen Föderationen Kenntnis geben, die zu entscheiden haben, ob sie die neue Föderation aufnehmen wollen oder nicht, und zu diesem Zweck ihren Delegierten zum allgemeinen Kongreß, der in letzter Instanz entscheidet, Anweisungen mitgeben.« (Compte rendu officiel du sixième Congres général de l'Association internationale des Travailleurs tenu à Genève du er au 6 septembre 1873. Au siège du Comité fédéral jurassien, Locle 1874, S. 116-119) Die Slawische Sektion wurde am 7. Juli 1872 in Zürich gegründet (vgl. die Einleitung in vorliegendem Band, S. 17). František Palacký (1798-1876), Franz Ladislaus von Rieger (18181903) und František Brauner (1810-1880) gehörten zu den Führern der austro-slawischen Bewegung, die die politischen und nationalen Ziele der Slawen in Anlehnung an die österreichische HabsburgerMonarchie zu verwirklichen suchte. Mit dem Namen weißer Zar bzw. weißer Khan bezeichneten die Steppenvölker in den angrenzenden Gebieten des russischen Reiches im 17. und 18. Jahrhundert den russischen Zaren. Im 19. Jahrhundert diente der Titel dazu, den Anspruch der russischen Zaren auf die Vorherrschaft in Asien auszudrücken. Der Name weißer Zar ist wahrscheinlich von der Bezeichnung des mongolischen Reiches als »Horde d'Or« (goldene oder weiße Horde) abgeleitet, die sich Rußland im 18. Jahrhundert unterwarf. Bakunin bediente sich jedenfalls des Ausdrucks »weißer Zar«, um den Abscheu der Tschechen hervorzuheben, die sich – obwohl Europäer – vor dem Zaren wie Asiaten beugten. Anläßlich der slawischen ethnographischen Ausstellung, die 1867 in Moskau abgehalten wurde, versammelten sich im Mai und Juni 1867 eine Reihe von Vertretern slawischer Länder (außer Polens) in Moskau und Petersburg und hielten verschiedene Treffen mit hohen Regierungsvertretern ab, darunter mit Außenminister Gorčakov. Gemeint ist die Aufhebung der Leibeigenschaft in Rußland aufgrund einer Verfügung von Zar Alexander II, vom 19. Februar (3. März) 1861. Pavel Ivanovid Pestel' (1793-1826), russischer Offizier und Revolutionär, Begründer und Leiter der ›Südlichen Gesellschaft‹ der Dekabristen (vgl. Anm. +132). Nach der Niederschlagung des Dekabristenaufstandes wurde er wegen Hochverrats zum

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Tode verurteilt. 1826 in der Peter-Pauls-Festung gehängt. Sergej Ivanovič Murav'ev-Apostol (1796-1826), Mitglied der ›Südlichen Gesellschaft‹ der Dekabristen. 1826 gehängt. Michail Pavlovic Bestužew-Rjumin (1803-1826), Mitglied der ›Südlichen Gesellschaft‹ der Dekabristen, nahm mit einer polnischen Geheimgesellschaft und mit der ›Assoziation der vereinigten Slawen‹ Verhandlungen auf. 1826 gehängt. Maria Theresia (1717-1780), seit 1740 Erzherzogin von Österreich, seit 1745 deutsche Kaiserin. Im russischen Original wohl irrtümlich: »nicht nur ein Militärstaat« (vgl. S. 231: »Der russische Staat ist vor allem, ja man kann sagen ausschließlich, ein Militärstaat«). Patrice Maurice Comte de Mac-Mahon (1808-1893), französischer Offizier und Politiker, seit 1859 Marschall von Frankreich, führte im deutsch-französischen Krieg das Kommando über die napoleonische Hauptarmee, die im September 1870 bei Sedan kapitulierte. 1871 Oberbefehlshaber der Versailler Regierungstruppen, die den Aufstand der Pariser Kommune niederschlugen. Nach dem Sturz von Thiers (24. Mai 1873) wurde Mac-Mahon von der monarchistischklerikalen Mehrheit der französischen Nationalversammlung zum Präsidenten gewählt. 1879 trat er zurück. Im Original irrtümlich: Spanien. – Gemeint ist die Niederlage Österreichs im Krieg mit Sardinien-Piemont (vgl. Anm. +53). Gemeint ist die Niederlage im preußisch-österreichischen Krieg 1866 (Entscheidungsschlacht bei Königgrätz in Böhmen, vgl. Anm. +250). Ivan Paskevič (1782-1856), russischer General, schlug die Aufstände der revolutionären Polen (1831) und Ungarn (1849) nieder. – Über dasselbe Thema schrieb Bakunin 1875 in dem Manuskript ›Der revolutionäre Sozialismus in Rußland‹: »[...] Kein Herrscher des Petersburger Reiches hat jemals die Wahrheit erfahren wollen. Es durfte nicht einmal darüber gesprochen werden. Zar Nikolaus wurde jedes Mal sehr zornig, wenn ein ungeschickter, aber ehrlicher Diener – eine überall, aber besonders in Rußland seltene Erscheinung – es wagte, mit vorsichtiger Hand den offiziellen Schleier zu lüften, der die grausamen Realitäten des Imperiums nur unzureichend verbarg. Er duldete nicht einmal, daß man ihm von den Betrügereien und Diebstählen berichtete, deren Opfer er selber war. Gegen Ende seiner Herrschaft, die zu lange dauerte – sowohl für Rußland als auch für ihn -, war er sozusagen mit der Illusion eins gewor-

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den, hatte er sich so vollständig mit der Lüge identifiziert, daß er, als der schreckliche Krimkrieg mit einem Schlag alle Schleier zerriß und ihn zwang, der Wahrheit ins Gesicht zu sehen, daran starb.« (Archives, V, S. 241) Gemeint ist der Krimkrieg (1853/54-1856), den Rußland gegen die mit England, Frankreich und Sardinien-Piemont verbündete Türkei führte. Die katastrophale Niederlage Rußlands offenbarte den desolaten Zustand der militärischen und zivilen Verhältnisse im Zarenreich. Zur Stellung Österreichs vgl. vorliegenden Band, S. 321 und Anm. +232 Phrygische Mütze: Kopfbedeckung der angeblich aus Phrygien stammenden Amazonen, Vorbild für die Jakobinermütze der französischen Revolutionäre. 1875 schrieb Bakunin zu diesem Thema: »855, fast schon dem Tode nahe, sah sich Zar Nikolaus, von allen Seiten von den Armeen und Flotten der Engländer und Franzosen bedrängt, von Österreich bedroht, von Preußen streng bewacht, durch die vollständige Desorganisation seiner zivilen und militärischen Kräfte – die Frucht seines Despotismus – wie durch die Macht so vieler Feinde, die sich gegen ihn verschworen hatten, zur Ohnmacht verurteilt. Er, dieser letzte Mohikaner einer von sich selbst überzeugten Monarchie, dieser fanatische Verfechter des Despotismus, hatte die Idee, Verwirrung zu stiften, indem er an die revolutionären Leidenschaften Europas appellierte. Seine Agenten durchquerten schon die slawischen Gebiete Österreichs, Ungarn, die Türkei, Griechenland, ohne Italien zu vergessen, und es scheint sogar, daß es unter ihnen welche gab, die es wagten, sich an den berühmten Mazzini zu wenden ... Aufrührerische Proklamationen, mit seinem Namen unterzeichnet und schon gedruckt, lagen bereit, um über ganz Europa verbreitet zu werden ... Alles war vorbereitet, es fehlte nur das letzte Zeichen ... aber er starb. Gezwungen, sich zwischen der Untreue einem Prinzip gegenüber, das sein ganzes Leben geleitet hatte, und dem Tod zu entscheiden, wählte er den letzteren. Er nahm Gift.« (Archives, V, S. 250-251) Bakunin hatte Mazzini während seines Aufenthalts in London in den Jahren 1862-1863 kennengelernt. Im Jahre 1610 eroberte ein polnisches Heer unter dem Hetman Zolkiewski Moskau und ließ den polnischen Prinzen Wladyslaw zum Zaren wählen. Das polnische Besatzungsheer wurde jedoch 1612 durch einen Volksaufstand wieder vertrieben. Bohdan Chmelnyckyi (Chmel'nickij) (um 1593-1657), ukraini-

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scher Kosakenhetman, leitete ab 1648 den ukrainischen Bauernaufstand gegen die polnische Herrschaft. Im Original irrtümlich: Moskau. Zitat aus Puškins Gedicht ›Klevetnikam Rossii‹ (An die Verleumder Rußlands), das im August 1831 verfaßt und noch im selben Jahr veröffentlicht wurde. Das Gedicht war ein Protest gegen die Gerüchte, die von französischen Politikern in Umlauf gesetzt worden waren, daß Frankreich den polnischen Aufstand gegen Rußland von 1830/1831 (vgl. Anm. +150) unterstütze. Der junge Bakunin drückte in einem Brief an seine Eltern vom 20. September (2. Oktober) 1831 seine lebhafte Bewunderung für Puškin aus: »Diese Verse«, schrieb der 17jährige, »sind bezaubernd, nicht wahr, liebe Eltern, voller Feuer und wahrem Patriotismus, so, wie ein Russe empfinden muß! Puškin gab ihnen zuerst den Titel: ›Verse als Antwort auf die Reden des Generals Lafayette‹, aber die Zensur hat ›An die Verleumder Rußlands‹ daraus gemacht. Dieser alte Lafayette ist ein großer Schwätzer, besessen vom Geist der Zerstörung. Nachdem er einer der Haupturheber der Revolution in den Vereinigten Staaten und der beiden Revolutionen in Frankreich gewesen ist, möchte er die Russen aufhetzen, aber die Russen sind nicht die Franzosen [...].« (A. A. Kornilov: Molodye gody Michaila Bakunina. Iz istorii russkago romantizma. Izdanie M. i S. Sabašnikovych', Moskau 1915, S. 47) Pforte: im 19. Jahrhundert Bezeichnung für das Osmanische Reich (eigentlich für den Palast des osmanischen Sultans). Raskolniki (raskol ❲russisch❳: Spaltung): die nach den liturgischen Reformen des Moskauer Patriarchen Nikon im 17. Jahrhundert von der russisch-orthodoxen Staatskirche abgespaltenen ›Altgläubigen‹. Sie lehnten die Reformen Nikons ab und führten den früheren Ritus weiter, blieben aber ansonsten der orthodoxen Religion treu. Über die orthodoxe Staatskirche schrieb Bakunin in seiner Broschüre ›Russische Zustände‹ (1849): »Im Gegensatze zu ihrer römischen Schwester ist die griechische Kirche Rußlands Dienerin des Staates; während jene in hundertjährigen Kämpfen durch innere Kraft sich die Oberherrlichkeit über die Fürsten erstritt, kam die griechische über ihr todtes Formenwesen, das die Geister in Banden schlug, nie hinaus und beharrte mit seltenen Ausnahmen in völliger Apathie.« (Schriften, III, S. 81-82) Franciszek Duchiński (Duchinskij) (1817-1893), polnischer Historiker und Ethnologe. Nach dem polnischen Aufstand von

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1830/1831 emigrierte er nach Frankreich. Er stellte eine neue Theorie der slawischen Ethnologie auf, die viele Anhänger hatte, nach der die Russen kein slawischer Volksstamm, sondern finnischer und mongolischer Abstammung seien. Über dieses Thema schrieb Bakunin 1875: »Kürzlich ist in Paris eine Schule entstanden, die, von der Annahme ausgehend, daß dieses [das russische] Volk der slawischen Rasse absolut fremd sei und rein turanisches Blut in seinen Adern fließe, zu dem Schluß gelangt, daß es die Pflicht und die Bedingung für das Heil aller Völker Europas sei, sich gegen dieses Volk zu verbünden, um es über den Ural zu jagen – eine Schlußfolgerung, die ebenso lächerlich ist, wie die Vermutung, die ihr als Ausgangspunkt dient, falsch ist. Denn selbst wenn man gelten läßt, daß der ehrenwerte polnische Pseudo-Gelehrte Herr Duchinski und Herr Henri Martin, sein Übersetzer und Schüler in der slawischen Ethnographie, recht hätten, selbst wenn man davon überzeugt wäre, daß das unglückliche Volk Groß-Rußlands in Wirklichkeit nichts sei als eine furchtbare Mischung aus tatarischen und finnischen Rassen, darf man trotzdem nicht vergessen, daß es allein im Reiche die riesige Masse von mindestens 35 Millionen Einwohnern ausmacht; daß es so eng mit diesem Land, welches es besitzt, verbunden ist, daß man es, um es daraus zu verjagen, ausrotten müßte und daß es weder einfach noch menschlich wäre, eine Nation von 35 Millionen auszurotten, selbst wenn diese Zerstörung von der Zivilisation gefordert würde – so wie sie die Herren Henri Martin und Duchinski verstehen.« (Archives, V, S. 249) +99 Dimitrij Alekseevic Graf Miljutin (1816-1912), russischer Politiker, als Kriegsminister (1861-1881) führte er eine umfassende Reorganisation der russischen Armee durch. +100 Das ›Magdeburger Recht‹ sicherte den Gemeinden weitgehende Autonomie zu. Entstanden aus einer Mischung aus sächsischem Gewohnheitsrecht und Magdeburger Lokalrechten, gewann es im Mittelalter in Mittel- und Osteuropa weite Verbreitung. Unter anderem in Brandenburg, Sachsen, Schlesien, Polen, Böhmen, Litauen und in der Ukraine wurden zahlreiche Städte nach Magdeburger Recht gegründet oder mit ihm bewidmet. +101 Bakunin bezieht sich hier auf die Sozialdemokratische Arbeiterpartei, die Deutsche Fortschrittspartei (»rein demokratische« Partei) und die Nationalliberale Partei (»liberal-progressive« Partei) (vgl. Anm. +272 und +259). +102 Das heißt vor den Polnischen Teilungen (vgl. Anm. +23).

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+103 Gemeint ist der Polnische Aufstand vom Januar 1863, der seit 1862 von polnischen Emigrantengruppen vorbereitet worden war, denen Napoleon III. seine Hilfe zugesagt hatte. Tatsächlich beschränkte sich die französische Unterstützung während des Aufstandes auf diplomatische Protestschreiben. +104 Aleksandr Michajlovic Fürst Gorčakov (1798-1883), russischer Diplomat und Politiker, 1856-1882 Außenminister, seit 1867 mit dem Titel Staatskanzler. +105 Gemeint ist das Jahr 1866 (vgl. Anm. +250). +106 Danzig kam erst bei der zweiten polnischen Teilung zu Preußen. +107 Schleswig-holsteinischen Frage: Die auf Betreiben der Eiderdänen erfolgte Annexion Schleswigs durch Dänemark im März 1848 rief in Deutschland Stürme nationaler Entrüstung hervor. Bakunin schrieb am 17. April 1848 an Pavel Annenkov: »Diese schleswig-holsteinsche Bewegung ist vollkommen reaktionär; an ihrer Spitze steht der preußische König: ›Es soll bewiesen werden, daß die Könige auch für die deutsche Herrlichkeit und die Würde der deutschen großen Nation sorgen!‹ Sonderbar! Der Deutsche erklärt Schleswig für ein deutsches Land, obgleich die Hälfte der dortigen Bevölkerung aus Dänen besteht [...].« (Briefwechsel, S. 10) +108 Anläßlich der Jahrhundertfeiern der Hanse veröffentlichte 1841 der Zürcher Verlag ›Literarisches Comptoir‹ einen Separatdruck des Gedichts ›Die deutsche Flotte‹ von Georg Herwegh (vgl. über ihn Anm. +174), das auch in seinem Buch ›Gedichte eines Lebendigen‹ veröffentlicht wurde. »Dies ist unbestritten einer der schönsten Lobgesänge«, schrieb der Herwegh-Biograph Victor Fleury, »zu denen die Dichter dieser Zeit durch den Traum von einer deutschen Marine, die unter gleicher Flagge segelt, inspiriert wurden. Man hat in diesem Gedicht ein Zugeständnis an den Pangermanismus sehen wollen [...]. Aber der ursprüngliche und schöpferische Grundgedanke dieses Gedichtes entspricht getreulich dem allgemeinen Charakter der ›Gedichte eines Lebendigen‹: Das Meer wird uns vom Herzen spülen Den letzten Rost der Tyrannei Das Meer, das Meer macht frei!« (Victor Fleury: Le poète Georges Herwegh ❲1817-1875❳. Edouard Cornély et Cie, Éditeurs, Paris 1911, S. 66-67) +109 Peter I. »der Große« (1672-1725), russischer Zar seit 1682. +110 Timur Lenk (Tamerlan) (1336-1405), mongolischer Groß-Khan. Kurz vor seinem Tod bereitete er einen Kriegszug gegen China vor.

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+111 Enzyklopädisten: Mitarbeiter der französischen ›Encyclopédie‹ (1751-1777), die das gesamte Wissen der Zeit im Geist der Aufklärung verbreiten sollte und damit den Widerstand von Kirche und Staat herausforderte. +112 Gemeint ist die zurückgeschlagene Invasion gegenrevolutionärer Truppen zu Beginn des ersten Koalitionskrieges der europäischen Mächte gegen das revolutionäre Frankreich: Entgegen allen Erwartungen traf die Invasionsarmee unter dem Befehl des Herzogs Karl Wilhelm Ferdinand von Braunschweig bei Valmy auf geordnete und hochmotivierte französische Revolutionstruppen. Nach der erfolglosen ›Kanonade von Valmy‹ (20. September 1792) zog sich die Invasionsarmee zurück und ermöglichte dadurch unter anderem die Besetzung von Mainz, Worms und Speyer durch die französischen Revolutionstruppen. Die französischen Eroberungen rechts des Rheins (darunter Frankfurt am Main) gingen jedoch im Dezember 1792 wieder verloren. +113 Septembermassaker: In einem Akt von Massenhysterie wurde im September 1792 ein Massenmord an den Insassen verschiedener Pariser Gefängnisse verübt, dem mehr als 1000 Personen zum Opfer fielen. Die auf Antrag Robespierres gegen König Ludwig XVI. verhängte Todesstrafe wurde am 21. Januar 1793 vollzogen; Königin Marie Antoinette wurde am 16. Oktober 1793 hingerichtet. Auch in der Zeit der Schreckensherrschaft des von Robespierre dominierten Wohlfahrtsausschusses (1793/1794) änderte Kant seine Einstellung zur Französischen Revolution nicht. In seinem Werk ›Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft‹ (1793) kritisierte er vielmehr die Gegner der Revolution, die aus den Exzessen der Schreckensherrschaft die Schlußfolgerung zogen, daß das Volk noch nicht für die Freiheit reif sei. Kant schrieb: »Ich gestehe, daß ich mich in den Ausdruck, dessen sich auch wohl kluge Männer bedienen, nicht wohl finden kann: Ein gewisses Volk (was in der Bearbeitung einer gesetzlichen Freiheit begriffen ist) ist zur Freiheit nicht reif; die Leibeigenen eines Gutseigenthümers sind zur Freiheit noch nicht reif; und so auch: die Menschen überhaupt sind zur Glaubensfreiheit noch nicht reif. Nach einer solchen Voraussetzung aber wird die Freiheit nie eintreten; denn man kann zu dieser nicht reifen, wenn man nicht zuvor in Freiheit gesetzt worden ist (man muß frei sein, um sich seiner Kräfte in der Freiheit zweckmäßig bedienen zu können). Die ersten Versuche wer-

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den freilich roh, gemeiniglich auch mit einem beschwerlicheren und gefährlicheren Zustande verbunden sein, als da man noch unter den Befehlen, aber auch der Vorsorge anderer stand; allein man reift für die Vernunft nie anders, als durch eigene Versuche (welche machen zu dürfen, man frei sein muß). [...] es zum Grundsatze machen, daß denen, die ihnen [den Machthabern] einmal unterworfen sind, überhaupt die Freiheit nicht tauge, und man berechtigt sei, sie jederzeit davon zu entfernen, ist ein Eingriff in die Regalien der Gottheit selbst, die den Menschen zur Freiheit schuf.« (Kant's Werke. Band 6. Druck und Verlag von Georg Reimer, Berlin 1907, S. 188) Und 1798 schrieb Kant in ›Der Streit der Facultäten‹: »Die Revolution eines geistreichen Volks, die wir in unseren Tagen haben vor sich gehen sehen, mag gelingen oder scheitern, sie mag mit Elend und Greuelthaten dermaßen angefüllt sein, daß ein wohldenkender Mensch sie, wenn er sie zum zweitenmale unternehmend glücklich auszuführen hoffen könnte, doch das Experiment auf solche Kosten zu machen nie beschließen würde, – diese Revolution, sage ich, findet doch in den Gemüthern aller Zuschauer (die nicht selbst in diesem Spiele mit verwickelt sind) eine Theilnehmung dem Wunsche nach, die nahe an Enthusiasm grenzt, und deren Äußerung selbst mit Gefahr verbunden war, die also keine andere als eine moralische Anlage im Menschengeschlecht zur Ursache haben kann.« (Kant's Werke. Band 7. Druck und Verlag von Georg Reimer, Berlin 1907, S. 85) +114 Nach dem Ende der Schreckensherrschaft des Wohlfahrtsausschusses und Robespierres Hinrichtung (28. Juli 1794) wurde eine neue französische Verfassung ausgearbeitet, die eine schwache Exekutive unter der Leitung eines fünfköpfigen ›Direktoriums‹ vorsah und im September 1795 in Kraft trat. Durch den Staatsstreich Napoleons vom 9. November 1799 wurde das ›Direktorium‹ gestürzt und durch eine Regierung aus 3 Konsuln ersetzt (Konsulatsverfassung vom Dezember 1799), deren Erster Konsul, zunächst auf 10 Jahre, Napoleon wurde. Gestützt auf Volksabstimmungen, machte er sich 1802 zum Konsul auf Lebenszeit und krönte sich 1804 selbst zum französischen Kaiser. +115 Mit der Gründung des ›Rheinbundes‹ (Juli 1806) hatte Napoleon einen Großteil der deutschen Einzelstaaten durch Einbeziehung in sein Bündnissystem von Frankreich abhängig gemacht; Preußen und Sachsen dagegen, die sich im Bündnis mit Rußland gegen Napoleon erhoben, wurden im Oktober 1806 bei Jena und Auerstädt vernichtend geschlagen. Sachsen muß-

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te daraufhin dem Rheinbund beitreten, während Preußen eine Reihe von Gebieten abzutreten hatte und bis zur Zahlung einer hohen »Kriegsentschädigung« von französischen Truppen besetzt blieb. Friedrich Wilhelm III. (1770-1840), preußischer König seit 1797. Heinrich Friedrich Karl Reichsfreiherr vom und zum Stein (17571831), deutscher Politiker, 1804 Ernennung zum preußischen Staatsminister. Im Juli 1807 begann er mit der Durchführung einer Reihe von Reformen in Preußen (Bauernbefreiung, Aufhebung der Standesgrenzen, Verwaltungsreform), wurde jedoch im November 1808 auf Veranlassung Napoleons wieder entlassen. An der Heeresreform und an den Planungen zur Gründung der Berliner Universität wirkte Stein nur in der Anfangsphase mit. Johann Gottlieb Fichte (1762-1814), deutscher Philosoph, 1794 Professor in Jena, 1799 der Gottlosigkeit beschuldigt und entlassen. 1805 wurde er Professor in Erlangen. Er wirkte bei der Gründung der Berliner Universität mit, deren erster Rektor er wurde, und hielt im von französischen Truppen besetzten Berlin 1807/1808 seine berühmten ›Reden an die deutsche Nation‹. Darin erklärte er, das deutsche Volk sei das am vollkommensten die ganze Menschheit repräsentierende »Urvolk«, das zu wirklicher Gemeinschaft erzogen werden müsse, um einer politischen Erneuerung Bahn zu brechen und einen deutschen Volksstaat als Zentrum eines Vernunftreichs der Menschheit entstehen zu lassen. Nach dem katastrophalen Ausgang des Rußlandfeldzugs Napoleons (Juni bis Dezember 1812) verbündeten sich im Vertrag von Kalisch (28. Februar 1813) Rußland und Preußen gegen das napoleonische Frankreich. Nach der Kriegserklärung Preußens an Frankreich veröffentlichte König Friedrich Wilhelm III. am 17. März 1813 ein Manifest ›An mein Volk‹, das starken Widerhall in der Bevölkerung fand: Freischaren entstanden, Geld- und Sachspenden ermöglichten die Aufstellung von Linientruppen aus Reservisten und Freiwilligen. Bakunin bezieht sich auf eine Schrift des preußischen Reaktionärs Theodor Schmalz (1760-1831), 1789 Professor in Königsberg, 1803 Direktor der Universität Halle, 1810 Rektor an der Berliner Universität. Im Jahre 1815 veröffentlichte er die Broschüre Berichtigung einer Stelle in der Bredow-Venturinischen Chronik für das Jahr 1808. Ueber politische Vereine, und ein Wort über Scharnhorsts und meine Verhältnisse zu ih-

nen. Vom Geheimrath Schmalz zu Berlin. In der Maurerschen Buchhandlung, Berlin 1815. Darin erklärte Schmalz unter anderem, daß die nationale Erhebung gegen die napoleonischen Besatzungstruppen nicht aus Begeisterung oder Eigeninitiative des Volkes entstanden sei, sondern aufgrund des Befehl des Königs: »Keine Begeisterung, überall ruhiges und desto kräftigeres Pflichtgefühl. Alles eilte zu den Waffen, und zu jeder Tätigkeit, wie man aus ganz gewöhnlicher Bürgerpflicht zum Löschen einer Feuersbrunst beim Feuerlärm eilt.« (ebd., S. 14). Mit seiner Broschüre löste Schmalz einen Proteststurm aus, provozierte eine Reihe von Gegenschriften und wurde zu einem der verhaßtesten Vertreter der preußischen Reaktionspolitik. +121 Am 22. Mai 1815, während der letzten Feldzüge gegen Napoleon, erließ der preußische König Friedrich Wilhelm III. eine Verordnung, in der die Bildung einer »Repräsentation des Volkes«, die aus den Provinzialständen hervorgehen sollte, in Aussicht gestellt wurde. Ferner wurde zum 1. September 1815 die Bildung einer Kommission angekündigt, die eine Verfassung erarbeiten sollte. Die Ausführung der Verordnung wurde jedoch verschleppt und schließlich ganz fallengelassen. Die liberalen Forderungen nach Erlaß einer Verfassung konnten sich auf die Deutsche Bundesakte (Gründungsdokument des Deutschen Bundes) stützen, die im Juni 1815 noch während des Wiener Kongresses verabschiedet worden war. In Artikel 13 der Bundesakte waren »landständische Verfassungen« vorgesehen, die in der Folge auch von verschiedenen süd- und mitteldeutschen Kleinstaaten erlassen worden sind, so etwa in Sachsen-Weimar (Mai 1816), Bayern (Mai 1818) und Baden (August 1818). In Österreich und Preußen regierten die Herrscher dagegen weiterhin als absolute Monarchen ohne Verfassung. +122 Franz I. (1768-1835), Kaiser von Österreich seit 1804, als Franz II. 1792-1806 deutscher Kaiser. +123 Bakunin zitiert wahrscheinlich nach Wilhelm Müller: Geschichte der Neuesten Zeit 1816-1866, mit besonderer Berücksichtigung Deutschlands. Verlag von Paul Neff, Stuttgart 1867. Dort wird Franz I. so zitiert: »Es sind jetzt neue Ideen im Schwung, die ich nie billigen kann, nie billigen werde. Halten Sie sich an das Alte; denn dieses ist gut, und unsere Vorfahren haben sich dabei gut befunden, warum sollten wir es nicht? Ich brauche keine Gelehrten, sondern brave Bürger. Die Jugend zu solchen zu bilden, liegt Ihnen ob. Wer mir dient, muß lehren, was ich

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befehle. Wer das nicht kann oder mir mit neuen Ideen kommt, der kann gehen, oder ich werde ihn entfernen.« (Müller, S. 4) Bei seiner Beschreibung historischer Ereignisse stützte sich Bakunin in ›Staatlichkeit und Anarchie‹ an verschiedenen Stellen auf dieses Buch des liberalen deutschen Historikers Wilhelm Müller (1820-1892), das Bakunin als »ziemlich detaillierte und wahrheitsgetreue Geschichte der fünfzig Jahre von 1816-1865« charakterisierte (siehe vorliegenden Band, S. 267). Im Original irrtümlich: Franz Joseph. Gerhard Johann David von Scharnhorst (1755-1813), preußischer General und Militärtheoretiker, seit 1808 Leiter des neugeschaffenen Kriegsministeriums, führte im Zusammenhang mit den Reformen Steins (siehe Anm. +117) die Heeresreform durch. 1813 leitete er die Vorbereitungen für die ›Befreiungskriege‹ gegen die napoleonische Fremdherrschaft. An dieser Stelle beginnt der zwölfte Druckbogen der Erstausgabe von ›Staatlichkeit und Anarchie‹. Von hier ab wurden durch Arman Ross in Bakunins Originalmanuskript »einige Längen und Wiederholungen« gestrichen, um die Drucklegung zu beschleunigen, vgl. die Einleitung in vorliegendem Band, S. 44-45. Wilhelm von Oranien (1650-1702) wurde im Juni 1688 gegen König Jakob II. nach England gerufen, der nach einer Rekatholisierung Englands und einer Zurückdrängung des parlamentarischen Einflusses strebte. Wilhelm landete im November 1688 in England und wurde nach der Flucht Jakobs II. durch das englische Parlament König. In seinem Kampf war er ›für den protestantischen Glauben und die Freiheit des Parlaments‹ eingetreten, ein Motto, das Bakunin an dieser Textstelle mit Bezug auf den preußischen König Friedrich Wilhelm III. abwandelte. Aleksej Andreevič Graf Arakčeev, (1769-1834), russischer General und Politiker, Günstling Zar Alexanders I. Bakunin zitiert wahrscheinlich aus Wilhelm Müllers Buch ›Geschichte der Neuesten Zeit 1816-1866‹ (siehe Anm. +123). Dort heißt es: »der König habe gehandelt wie ein weiser Vater, der gerührt von der anhänglichen Liebe seiner Kinder an seinem Geburts- oder Genesungstage gefällig ist und in ihre Wünsche eingeht, dann aber mit Ruhe dieselben modificirt und seine natürliche Autorität aufrecht hält« (Müller, S. 11). Wilhelm Ludwig Georg Fürst zu Sayn-Wittgenstein-Hohenstein (1770-1851), Haupt der Reaktionspartei am preußischen Hof. Seit 1812 Leiter der politischen Polizei (1814-1819 mit dem Titel Polizeiminister), 1819 Minister des königlichen Hauses.

+131 Juliane Barbara Freifrau von Krüdener (1764-1824), baltische Schriftstellerin, trat 1804 der Herrnhuter Brüdergemeinde bei und wurde zu einer einflußreichen mystisch-pietistischen Predigerin. Im Jahre 1815 traf sie in Heilbronn erstmals mit Zar Alexander I. zusammen, den sie in seinen religiösen Vorstellungen bestärkte und wahrscheinlich zur Idee der ›Heiligen Allianz‹ anregte. +132 Zur Julirevolution (1830) vgl. Anm. +146. Der Dekabristenaufstand im Dezember 1825 (dekabr' ❲russisch❳: Dezember), eine Rebellion russischer Adliger gegen den Zarismus, war von jungen Aristokraten und Gardeoffizieren vorbereitet worden, die sich seit 1816 in Geheimbünden organisiert hatten. 1821 entstanden daraus die gemäßigte ›Nördliche Gesellschaft‹, deren Ziel ein föderalistischer Staatsaufbau und eine konstitutionelle Monarchie war und die unter der Leitung von Nikita Murav'ev stand, sowie die radikalere ›Südliche Gesellschaft‹ unter der Leitung von Pavel Pestel', die eine zentralistische Republik und umfassende soziale Reformen anstrebte. Nach dem Tod des Zaren Alexander I. entschied sich die ›Nördliche Gesellschaft‹ für den bewaffneten Aufstand: Am 14. (26.) Dezember 1825 verweigerten aufständische Truppen die Eidesleistung auf den neuen Zaren Nikolaus I. und zogen auf den Senatsplatz in St. Petersburg, wo der Aufstand jedoch von loyalen Einheiten niedergeschlagen wurde (ca. 100 Tote). Auch die in der Ukraine von Mitgliedern der ›Südlichen Gesellschaft‹ angeführte Truppenrevolte wurde niedergeschlagen. Nach einem Hochverratsprozeß wurden die fünf Hauptbeschuldigten hingerichtet, die übrigen nach Sibirien deportiert. Die Überlebenden wurden 1856 amnestiert. +133 Die von Studenten der Universität Jena organisierte Versammlung vom 18. Oktober 1817 auf der Wartburg bei Eisenach war eine Kundgebung für die deutsche Einheit und gegen den Absolutismus, an der Delegierte von zwölf deutschen Universitäten teilnahmen und deren Datum mit dem dreihundertsten Jahrestag der Reformation und mit dem vierten Jahrestag der Völkerschlacht bei Leipzig zusammenfiel. +134 Ernst Moritz Arndt (1769-1860), deutscher Schriftsteller. Nach Erscheinen des ersten Teils seiner gegen die napoleonische Herrschaft in Deutschland gerichteten Aufsatzsammlung ›Geist der Zeit‹ (1806) floh er nach Schweden und lebte bis 1809 in Stockholm. 1812-1815 wirkte er in St. Petersburg als Sekretär des Freiherrn vom Stein und gewann große Popularität, indem er mit

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politischen Flugblättern, Liedern und Gedichten (am bekanntesten: ›Was ist des Deutschen Vaterland?‹, 1813) zur nationalen Erhebung gegen Napoleon aufrief. Nach Abschluß der ›Befreiungskriege‹ griff Arndt in die Diskussion um die politische Neugestaltung Deutschlands ein, wobei er mit der »wiederhergestellten Willkür« der deutschen Fürstenherrschaft scharf abrechnete. 1820 wurde er daraufhin von seinem zwei Jahre zuvor eingerichteten Lehrstuhl für Geschichte an der Universität Bonn abgesetzt – allerdings unter Fortzahlung der Hälfte seiner Bezüge – und erst 1840 wieder eingesetzt. 1848 Abgeordneter der Frankfurter Nationalversammlung. +135 In der russischen Originalausgabe von ›Staatlichkeit und Anarchie‹ steht hier und im Folgenden in deutscher Sprache: ›Wo ist das deutsche Vaterland?‹ In einem anderen Werk hat Bakunin diese »pangermanische Hymne« und andere patriotische Lieder so kommentiert: »Welches ist das Gefühl, das in ihnen herrscht? Ist es die Liebe zur Freiheit? Nein, die zur nationalen Größe und Macht: ›Wo ist des Deutschen Vaterland?‹ fragte er. – Antwort: ›So weit die deutsche Zunge klingt.‹ Die Freiheit weht nur sehr mittelmäßig aus diesen Liedern des deutschen Patriotismus. Man könnte sagen, daß sie sie nur aus Anstand erwähnen. Ihre ernsthafte und aufrichtige Begeisterung gehört der Einheit an.« (Werke, I, S. 70-71) +136 Friedrich Ludwig ›Turnvater‹ Jahn (1778-1852), Begründer der deutschen Turnbewegung. 1811 rief er die ersten Turnschulen ins Leben, die, getragen von der nationalen Bewegung, weite Verbreitung fanden. Jahn war auch an der Gründung der gegen die reaktionäre Fürstenherrschaft in Deutschland entstandenen Burschenschaften beteiligt und wurde 1819 als angeblicher geistiger Urheber von Sands Attentat (siehe Anm. +138) inhaftiert, vor Gericht gestellt und erst nach sechs Jahren Untersuchungshaft 1825 freigesprochen. Jahn stand jedoch weiter unter Polizeiaufsicht; bis 1840 war ihm jede politische Betätigung verboten. 1848 Abgeordneter der Frankfurter Nationalversammlung. +137 Bakunin spielt auf folgende Zeilen aus Arndts Gedicht ›Des Deutschen Vaterland‹ (1813) an: »Was ist des Deutschen Vaterland? Ist's Preußenland, ist's Schwabenland? Ist's, wo am Rhein die Rebe blüht? Ist's, wo am Belt die Möwe zieht? O nein! nein! nein! Sein Vaterland muß größer sein. [...]

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Was ist des Deutschen Vaterland? So nenne mir das große Land! Gewiß es ist das Österreich, An Ehren und an Siegen reich? O nein! nein! nein! Sein Vaterland muß größer sein. Was ist des Deutschen Vaterland? So nenne mir das große Land! So weit die deutsche Zunge klingt Und Gott im Himmel Lieder singt, Das soll es sein! Das, wackrer Deutscher, nenne dein! [...]« (Ernst Moritz Arndt: Gedichte. Vollständige Sammlung. Weidmannsche Buchhandlung, Berlin 1860, S. 233-234). +138 Karl Ludwig Sand (1795-1820), Theologiestudent in Jena, 1817 Teilnehmer am Wartburgfest (siehe Anm. +133), gehörte dem radikalen Flügel der Burschenschaften an. August von Kotzebue (1761-1819), deutscher Dramatiker, seit 1781 im russischen Staatsdienst, 1816 zum Staatsrat in Petersburg ernannt, 1817 zum persönlichen Berichterstatter des Zaren Alexander I., in dessen Auftrag er auch Deutschland bereiste. In den Jahren 18181819 gab er die Zeitschrift Literarisches Wochenblatt heraus, in dem er die nationale Einigungsbewegung und die liberalen Ideen der Burschenschaften verspottete. Da er weiterhin für die russische Regierung tätig war, galt er als russischer Spion und als einer der Hauptvertreter der Reaktion. Am 23. März 1819 beging Sand ein Attentat gegen ihn und tötete ihn durch einen Dolchstich ins Herz. Danach versuchte Sand auf dieselbe Art Selbstmord zu begehen. Er wurde zum Tode verurteilt und in Mannheim am 20. Mai 1820 enthauptet. Der liberale Publizist Joseph Görres schrieb: »Alle mißbilligten die Tat, alle billigten die Gründe.« Dem Attentat folgten Repressalien gegen alle liberalen Tendenzen und Festnahmen von Professoren und Studenten. +139 Am 1. Juli 1819 versuchte der junge Apotheker Carl Loening den reaktionären Staatsrat Karl von Ibell (1780-1834) aus Nassau zu ermorden. Nach dem fehlgeschlagenen Attentat beging Loening im Gefängnis Selbstmord. +140 Ludwig Börne (1786-1837), deutscher Schriftsteller und Journalist, 1818 Begründer der Zeitschrift Die Wage (1821 von der Zensur verboten), seit der Julirevolution 1830 Emigrant in Paris. In seinen radikalen ›Briefen aus Paris‹ (1832-1834, vom Bundes-

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tag in Frankfurt am Main verboten) griff er in scharfer Form die herrschenden Zustände in Deutschland an. Bakunin bezieht sich auf folgende Passage aus Börnes ›Briefen aus Paris‹ (aus dem 43. Brief, datiert 17. März 1831): »Ich habe es ja immer gesagt und, wie ich glaube, auch drucken lassen: Türken, Spanier, Juden sind der Freiheit viel näher als der Deutsche. Sie sind Sklaven, sie werden einmal ihre Ketten brechen, und dann sind sie frei. Der Deutsche aber ist Bedienter, er könnte frei sein, aber er will es nicht; man könnte ihm sagen: ›Scher' dich zum Teufel und sei ein freier Mann!‹ – er bliebe und würde sagen: ›Brot ist die Hauptsache.‹ Und will seine Treue ja einmal wanken, man braucht ihn nur starr anzusehen, und er rührt sich nicht!« (Ludwig Börne: Sämtliche Schriften. Herausgegeben von Inge und Peter Rippmann. Band 3. Joseph Melzer Verlag, Düsseldorf 1964, S. 243-244) Bakunin hatte Börnes Worte bereits in seinem Manuskript ›Écrit contre Marx‹ vom November/Dezember 1872 zitiert (vgl. Michael Bakunin: Schrift gegen Marx ❲fragmentarische Folge des ›Knutogermanischen Kaiserreichs‹❳. Verlag Die Freie Gesellschaft, Hannover 1981, S. 72). Dieser Text war jedoch zu Lebzeiten Bakunins nicht erschienen. Der abgeschaffte Thron Barbarossas: Gemeint ist der von Franz II. im August 1806 niedergelegte Titel des deutschen Kaisers. Alexander I. (1777-1825), russischer Zar seit 1801. Gemeint sind die ›Karlsbader Beschlüsse‹, auf die sich nach den Anschlägen von Sand und Loening Preußen, Österreich und andere Länder im August 1819 einigten und die im September 1819 vom Bundestag in Frankfurt am Main bestätigt wurden. Darin wurde beschlossen, Presse und Universitäten streng zu überwachen und in Mainz eine ›Zentraluntersuchungskommission gegen demagogische Umtriebe‹ (1819-1828) zu gründen. Bakunin zitiert hier aus Wilhelm Müllers Buch ›Geschichte der Neuesten Zeit 1816-1866‹ (vgl. Anm. +123), wo es im Original heißt: »Wenn es noch eines Beweises bedurft hätte, daß Deutschland kein Herd für Revolutionen sei, so konnte man sicherlich den dafür anführen, daß man dem deutschen Volke wie in Preußen so in andern Ländern gleichsam zur Strafe für die That zweier überspannter Menschen einen so unerhörten Wortbruch bieten konnte, und daß das Volk sich dies gefallen ließ« (Müller, S. 20). Müller bezog sich hierbei auf das nicht gehaltene Versprechen des preußischen Königs, eine Verfassungskommission einzuberufen, sowie auf die Attentate von Sand und

Loening (vgl. Anm. +121, +138 und +139). +146 Im Original irrtümlich: Junitage (im folgenden Absatz dann wieder richtig: »Julirevolution«). – Die französische Julirevolution am 29., 30. und 31. Juli 1830 führte zum Sturz des letzten Bourbonenkönigs Karl X. Nach einer Verfassungsrevision gelangte dann der »Bürgerkönig« Louis-Philippe auf den Thron, der seine Regierung vor allem auf das liberale Großbürgertum stützte. Die Julirevolution hatte Auswirkungen auf viele europäische Länder und stellte einen ersten Schlag gegen die von den konservativen Großmächten dominierte europäische Ordnung dar, die mit der Heiligen Allianz 1815 begründet worden war. +147 Die Einsetzung von Marie-Christine von Bourbon, Prinzessin von Neapel (1806-1878), als Königin Maria-Christina von Spanien nach dem Tode König Ferdinands VII. am 29. September 1833 wurde zum Anlaß eines siebenjährigen Bürgerkrieges, der als erster ›Karlistenkrieg‹ bekannt ist. Die Karlisten gehörten der klerikalen und absolutistischen Partei an, die besonders im Baskenland und in Navarra einflußreich war. Sie kämpften, um Don Carlos, den Bruder Ferdinands VII., auf den Thron zu setzen. Die Ansprüche von dessen Sohn und Enkel auf den spanischen Thron führten zu einem zweiten (18471849) und dritten Karlistenkrieg (1872-1876). +148 Alfred Fürst zu Windischgrätz (1787-1862), österreichischer Feldmarschall, kommandierte die österreichischen Truppen, die den Prager Pfingstaufstand (Juni 1848) und die Wiener Revolution (Oktober 1848) niederschlugen. +149 Bakunin zitiert diesen Ausspruch wahrscheinlich nach Müller, S. 230 (vgl. Anm. +123). +150 Gemeint ist der gegen die russische Herrschaft in Polen gerichtete Warschauer Novemberaufstand (1830), der erst im September 1831 von russischen Truppen niedergeschlagen wurde. +151 Das ›Hambacher Fest‹ (27. bis 30. Mai 1832) war eine republikanische Kundgebung für ein vereinigtes und demokratisches Deutschland. Es versammelten sich etwa 30.000 Personen aus Bayern, Württemberg, Frankfurt, Elsaß und aus den Großherzogtümern Baden und Nassau. Aus Sachsen und Hannover waren Delegierte gekommen, anwesend waren auch 300 Studenten aus Heidelberg, Vertreter der polnischen Nationalbewegung sowie Delegierte der Vereinigung ›Les Amis du peuple‹ aus Straßburg. Die Demonstranten sangen Spottlieder auf die Fürsten und forderten die deutsche Einigung im Rahmen eines republikanischen und föderalen Europas.

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+152 Johann Georg August Wirth (1798-1848), bayerischer Demokrat und politischer Schriftsteller. Wegen seiner Rede auf dem Hambacher Fest am 27. Mai 1832, in der er die Schaffung von »vereinigten Freistaaten Deutschlands« sowie ein »konföderiertes republikanisches Europa« forderte, wurde er verhaftet, aber im Juni 1833 von einem Geschworenengericht freigesprochen. Daraufhin wurde er vor einem Zuchtpolizeigericht angeklagt und im November 1833 wegen Beleidigung inländischer und ausländischer Behörden zu zwei Jahren Gefängnis verurteilt. Wirth flüchtete Ende 1836 vor polizeilichen Repressalien nach Frankreich, ließ sich 1847 in Karlsruhe nieder und wurde im folgenden Jahr in die Frankfurter Nationalversammlung gewählt. Er starb am 26. Juli 1848. +153 Bakunin bezieht sich hier vermutlich auf eine Passage in Wilhelm Müllers Buch ›Geschichte der Neuesten Zeit 1816-1866‹ (siehe Anm. +123), wo von hessischen Bauernunruhen im Jahre 1830 berichtet wird: »Auch das benachbarte Oberhessen wurde von dem allgemeinen Drang nach Umwälzungen ergriffen. Dort organisirte sich im September 1830 ein Bauernkrieg, der in manchen Zügen an die Jahre 1524 und 1525 erinnerte. Einige Tausend Bauern rotteten sich zusammen, wollten mit Sensen und Mistgabeln Gesetze diktiren, sprachen von Gleichheit und Freiheit, schwärmten für Aufhebung der Abgaben und Zölle, zeigten ihren Muth hauptsächlich in Verbrennung von Zollhäusern und standesherrlichen Akten und wurden nach wenigen Tagen von den Truppen des Prinzen Emil von Hessen auseinander gesprengt« (Müller, S. 133). +154 Am 3. April 1833 wurde die Besatzung der Frankfurter Hauptwache von einer Gruppe von 6o bis 7 Verschworenen (vor allem Studenten) angegriffen, um einen Schlag gegen den Bundestag einzuleiten und ein Signal zum allgemeinen Aufstand zu geben. Der Anschlag scheiterte jedoch am Eingreifen regulärer Truppen. +155 Die Schaffung einer ›Bundeszentralbehörde‹ (1833-1842) zur Untersuchung hochverräterischer Umtriebe in Frankfurt am Main wurde am 30. Juni 1833 vom Deutschen Bund beschlossen. +156 Heinrich Heine (1797-1856), deutscher Dichter und Schriftsteller, wurde mit seiner Gedichtsammlung ›Buch der Lieder‹ (1827) und seinen ›Reisebildern‹ (1826-1831) international bekannt. Seit 1831 lebte er in Paris. Unter anderem durch seine Schriften ›Französische Zustände‹ (zuerst in deutscher Sprache erschienen, 1833) und ›Zur Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland‹ (zuerst französisch, 1835) wurde er zum Vermittler zwi-

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schen Deutschland und Frankreich. 1835 wurden seine Schriften vom Bundestag in Frankfurt am Main verboten. Seine Eindrücke einer Reise von Paris nach Hamburg verarbeitete er in seinem bekannten Versepos ›Deutschland. Ein Wintermärchen‹ (1844), einer beißenden Satire auf die herrschenden Zustände in Deutschland. In Paris stand er unter anderem mit den französischen Saint-Simonisten sowie mit der deutschen Emigration in Kontakt, in deren Zeitschriften Vorwärts und Deutsch-Französische Jahrbücher Gedichte von ihm erschienen. Seit 1848 war Heine durch eine unheilbare Rückenmarkkrankheit ans Bett gefesselt. Hegel starb am 14. November 1831 in Berlin. Karl Freiherr vom Stein zum Altenstein (1770-1840), preußischer Politiker. Als Kultusminister (1817-1838) schützte er die preußischen Hochschulen vor reaktionären Übergriffen und berief Hegel im Jahre 1818 an die Berliner Universität. Victor Cousin (1792-1867), französischer Philosoph. Während einer Studienreise nach Deutschland lernte er 1818 Hegel kennen, der Cousins Besuch im Jahre 1827 in Frankreich erwiderte. In seinen Pariser Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie (1827-1828) näherte sich Cousin stark der Hegelschen Philosophie an und zog sich damit den Vorwurf zu, die Philosophie in Frankreich zu entnationalisieren. Bakunin ist in seinen Manuskripten einer Fortsetzung zu seinem Buch ›Das knutogermanische Kaiserreich‹ aus dem Jahre 1871 ausführlich auf die Philosophie Cousins eingegangen (siehe Werke, I, S. 148-172). »Was vernünftig ist, das ist wirklich; und was wirklich ist, das ist vernünftig.« (Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Sämtliche Werke. Jubiläumsausgabe in zwanzig Bänden. 4. Auflage, Band 7. Friedrich Frommann Verlag ❲Günther Holzboog❳, Stuttgart, Bad Cannstatt 1964, S. 33) Der Humanismus von Ludwig Feuerbach (1804-1872) übte auf die philosophischen Auffassungen Bakunins sowie auf die vieler Linkshegelianer einen entscheidenden Einfluß aus. Feuerbach konstatierte im Gegensatz zur Hegelschen Philosophie, daß sich alles Denken aus dem Sein ergebe. Jede Religion und Gottesvorstellung seien daher Projektionen des menschlichen Willens und Vollkommenheitsstrebens; die Theologie müsse somit in der Anthropologie als einer ›menschengerechten‹ Philosophie aufgelöst werden. Bakunin hat von Feuerbach immer mit der größten Achtung

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gesprochen. In seiner Schrift ›Die politische Theologie Mazzinis‹ (1871) nennt er ihn »den sympathischsten und menschlichsten unter den deutschen Denkern« (vgl. Archives, I 1, S. 42). Während seines Aufenthaltes in Paris im Jahre 1844 arbeitete Bakunin an einer nicht erhaltenen Studie über Feuerbach unter dem Titel ›Exposé et développement des idées de Feuerbach‹ (vgl. Bakunin an Reinhold Solger, 14. Oktober 1844. In: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas, München, Neue Folge, Band 8, 1960, S. 81-82). +162 Ludwig Büchner (1824-1899), deutscher Philosoph. Sein weit verbreitetes Werk ›Kraft und Stoff‹ (1855) gehörte zu den populärsten Werken über den Materialismus. Teilnehmer am 2. Kongreß der Internationale in Lausanne 1867. Als führendes Mitglied der Volkspartei wurde er 1868 zum 2. Kongreß der Friedens- und Freiheitsliga in Bern delegiert. +163 Zu Bakunins Kritik an Rousseau und Robespierre vgl. Schriften, I, S. 107. +164 Bakunin bezieht sich auf folgende Passage in Heines 1834 geschriebener Abhandlung ›Zur Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland‹: »Das Christenthum hat jene brutale, germanische Kampflust einigermaßen besänftigt, konnte sie jedoch nicht zerstören, und wenn einst der zähmende Talisman, das Kreuz, zerbricht, dann rasselt wieder empor die Wildheit der alten Kämpfer, die unsinnige Berserkerwuth, wovon die nordischen Dichter so viel singen und sagen. Jener Talisman ist morsch, und kommen wird der Tag, wo er kläglich zusammenbricht. Die alten steinernen Götter erheben sich dann aus dem verschollenen Schutt, und reiben sich den tausendjährigen Staub aus den Augen, und Thor mit dem Riesenhammer springt endlich empor und zerschlägt die gotischen Dome. Wenn Ihr dann das Gepolter und Geklirre hört, hütet Euch, Ihr Nachbarskinder, Ihr Franzosen, und mischt Euch nicht in die Geschäfte, die wir zu Hause in Deutschland vollbringen. Es könnte Euch schlecht bekommen. [...] Lächelt nicht über den Phantasten, der im Reiche der Erscheinungen dieselbe Revoluzion erwartet, die im Gebiete des Geistes statt gefunden. Der Gedanke geht der That voraus, wie der Blitz dem Donner. Der deutsche Donner ist freilich auch ein Deutscher und ist nicht sehr gelenkig, und kommt etwas langsam herangerollt; aber kommen wird er, und wenn Ihr es einst krachen hört, wie es noch niemals in der Weltgeschichte gekracht hat, so wißt: der deutsche Donner hat endlich sein Ziel erreicht. [...] Es wird ein Stück aufgeführt werden in Deutschland, wogegen die französische Revolution nur wie

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eine harmlose Idylle erscheinen möchte.« (Heinrich Heine: Sakularausgabe. Werke, Briefwechsel, Lebenszeugnisse. Band 8: Über Deutschland 1833-1836. Aufsätze über Kunst und Philosophie. Akademie-Verlag und Éditions du CNRS, Berlin, Paris 1972, S. 228-229) +165 Die ›Ligue du Midi‹ war von französischen Föderalisten gegründet worden. In ihr spielte Alphonse Esquiros (1814-1876), ein gemäßigter Republikaner und Sozialist, eine bedeutende Rolle. Seit 1869 war er Abgeordneter im ›Corps législatif‹ (gesetzgebende Körperschaft) und wurde von der ›Regierung der Nationalen Verteidigung‹ zum leitenden Verwaltungsbeamten in der Region Bouches-du-Rhôhne ernannt. Am 25. August 1870 brachte er im Corps législatif den Antrag ein, die Gemeinderate dazu anzuregen, sich in Verteidigungszentren »außerhalb der Verwaltung« zu organisieren; über den Vorschlag wurde jedoch nicht beraten. Im September 1870 bat die ›Ligue du Midi‹ die Regierung um eine besondere Organisation für die Verteidigung der fünfzehn Departements des Südostens Frankreichs und um Vollmacht zur Aushebung von Truppen und zur Durchführung von Requisitionen. Die Ligue du Midi‹ stand in Verbindung mit der ›Fédération révolutionnaire des Communes‹, von der der Lyoner Aufstand vom 27. und 28. September 1870 ausgegangen war. In einem Brief an Esquiros, der in Marseille am 20. Oktober 1870 geschrieben und wahrscheinlich dem Adressaten nie zugeschickt wurde, schrieb Bakunin: »[...] Nach dem Unheil, das die französischen Truppen vernichtet hat, haben Sie als einziger in diesem unglücklichen Corps législatif [...] das letzte Mittel vorgeschlagen, das übrig blieb, um Frankreich zu retten, nämlich die spontane Organisation aller Gemeinden Frankreichs, die man durch eine Erklärung im Namen des Corps législatif hätte anregen können. [...] Kurz, Sie wollten die Abschaffung oder vielmehr die Feststellung des totalen Verfalls und der Nichtexistenz des Staates verkünden. Dadurch hätten Sie Frankreich in eine revolutionäre Lage versetzt. [...] In Lyon wollten wir den Gemeinderat stürzen, weil er nicht nur reaktionär, sondern obendrein dumm und unfähig war und weil er jede wirkliche Organisation der nationalen Verteidigung in Lyon verhindert hat und weiter verhindert. Wir wollten gleichzeitig jede offizielle Gewalt umstürzen [...] und den Nationalkonvent für die Rettung Frankreichs einberufen. Mit einem Wort, wir wollten in Lyon das verwirklichen, was Sie, Bürger Esquiros, durch

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Ihre ›Ligue du Midi‹ versucht haben. Ihre Ligue hätte Südfrankreich zum Aufstand bewegt und seine Verteidigung organisiert, wenn sie nicht von diesen Schattenkönigen lahmgelegt worden wäre.« (Archives, VI, S. 215-216) +166 Emilio Castelar y Ripoll (1832-1899), spanischer Politiker und politischer Schriftsteller, seit 1869 Vertreter der gemäßigten republikanischen Opposition in den ›Cortes‹. Am 7. September 1873 wurde er zum Präsidenten mit diktatorischen Vollmachten ernannt, aber im Januar 1874 durch einen Staatsstreich gestürzt. Francisco Pi y Margall (1824-1901), spanischer Politiker und politischer Schriftsteller, Führer der föderalistischen Republikaner, übersetzte einige Werke Proudhons. Februar bis Juni 1873 Innenminister, anschließend bis Juli 1873 Präsident. Madrider Konstituante: die nach Ausrufung der Republik (Februar 1873) am 10. Mai 1873 neugewählten verfassungsgebenden ›Cortes‹. +167 Die Bemerkung, daß Bismarck für die Sache der sozialen Revolution arbeite, scheint sich in einem verschollenen Brief von Engels an Carlo Cafiero befunden zu haben. Bakunin kannte diesen Brief und hat in seinen Manuskripten von Oktober bis Dezember 1872 die Bemerkung von Engels mehrmals erwähnt (siehe z.B. Werke, III, S. 239). Diese Manuskripte blieben jedoch zu Bakunins Lebzeiten alle unveröffentlicht. Daß die ökonomische und politische Zentralisation – also das Werk von Bismarck – die Eroberung des Staates durch die Arbeiterklasse und den Übergang zum Sozialismus erleichtern würde, stand für Marx und Engels außer Frage. Engels hat diesen Gedanken in einem Brief an Marx vom 15. August 1870 so ausgedrückt: »Erstens tut B[ismarck] jetzt, wie 1866, immer ein Stück von unsrer Arbeit, in seiner Weise und ohne es zu wollen, aber er tut's doch.« (MEW, Band 33, S. 40) +168 Der Zollverein, den Preußen zwischen 1828 und 1851 stufenweise mit einer Reihe von deutschen Einzelstaaten bildete, sollte die Zollschranken zwischen den Mitgliedsstaaten beseitigen, um die ökonomische Integration und Entwicklung zu fördern. 1818 waren bereits alle Zölle innerhalb der preußischen Monarchie abgeschafft worden. Der erste Zollvertrag wurde zwischen Württemberg und Bayern abgeschlossen (1828). Es folgten zahlreiche Verträge dieser beiden Länder mit Preußen, den beiden Hessen (1833) und dem Großherzogtum Baden (1835); dann zwischen den Herzogtümern Braunschweig, Nassau und der freien Stadt Frankfurt am Main (1836); zwischen Sachsen und Thüringen

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(1841); zwischen dem Königreich Hannover und dem Großherzogtum Oldenburg (1845). 1852 gehörten dem Zollverein elf Länder an mit einer Gesamtbevölkerungszahl von 30 Millionen Menschen. In diesen Ländern galten dieselben Gesetze über Export, Import und Warenverkehr. Zusätzlich zu seinen ökonomischen Zielen diente der Zollverein der Schaffung einer politischen Einigung, wodurch Preußen einen Machtzuwachs gegenüber Österreich erreichte. Friedrich Wilhelm IV. (1795-1861), preußischer König seit 1840. Gemeint ist das königliche Patent vom 3. Februar 1847, das die Bildung eines ›Vereinigten Landtags‹ als beratende Ständevertretung vorsah. Zwei verschiedene Übersetzungen der ›Histoire des Girondins‹ von Lamartine erschienen im Jahre 1847 (Leipzig und Baden). Es gab auch mehrere deutsche Ausgaben der Werke von Louis Blanc: ›Geschichte der französischen Revolution‹ (der erste Band wurde von Ludwig Buhl und Ludwig Köppen übersetzt, Berlin 1847); ›Geschichte der zehn Jahre, 1830-1840‹ (sieben Ausgaben zwischen 1843 und 1847; die Berliner Ausgabe, 1844-1845, wurde von Ludwig Buhl übersetzt); ›Organisation der Arbeit‹ (Nordhausen 1847 und Leipzig 1848); ›Zur Geschichte der Februarrevolution 1848‹ (1850). 1846 erschienen zwei Übersetzungen von Jules Michelets ›Peuple‹, 1843 gab es eine deutsche Ausgabe der Gesamtwerke von Lamartine (übersetzt unter anderem von Georg Herwegh). Im Original deutsch. Arnold Ruge (1802-1880), deutscher Philosoph und Demokrat, zusammen mit Bruno Bauer (siehe Anm. +182) einer der bedeutendsten Vertreter des philosophischen Radikalismus in den 1840er Jahren. Er nahm an der Bewegung der Burschenschaften teil und war von 1824 bis 1830 inhaftiert. Als Philosophieprofessor an der Universität Halle (1837) gründete er 1838 das Organ der Linkshegelianer: Hallische Jahrbücher für deutsche Wissenschaft und Kunst. Herausgegeben von A. Ruge und Th. Echtermeyer (Leipzig, 1.-3. Jg., 1838-1841); sie wurden verboten und erschienen daraufhin unter dem Titel: Deutsche Jahrbücher für Wissenschaft und Kunst (3.-4. Jg., 1841-1843). 1842 lebte Bakunin eine Zeitlang in Dresden, schloß mit Ruge Freundschaft und veröffentlichte in den Deutschen Jahrbüchern (17.-21. Oktober 1842) unter dem Pseudonym Jules Elysard den Artikel ›Die Reaction in Deutschland‹. Nach dem Verbot der Deutschen Jahrbücher verließ Ruge

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Deutschland und ging nach Paris, wo er mit Marx die Deutsch-Französischen Jahrbücher herausgab (siehe Anm. +175). Im April 1848 wurde er in die Frankfurter Nationalversammlung gewählt und vertrat dort die Breslauer demokratische Partei. +174 Georg Herwegh (1817-1875), deutscher Dichter und Demokrat, flüchtete 1839 vor dem Militärdienst in die Schweiz, wo er durch die Publikation seiner kämpferischen ›Gedichte eines Lebendigen‹ (April 1841) bekannt wurde. Herwegh lernte Bakunin im Oktober 1842 in Dresden kennen und wohnte eine Zeitlang mit ihm zusammen. Im Januar 1843 reisten sie zusammen nach Zürich, später begegneten sie sich erneut zwischen 1844 und 1848 in Paris. Bakunin schrieb 1851, daß Herwegh »ein reiner und wahrhaft edler Mensch ist und eine große Seele besitzt – bei einem Deutschen eine Seltenheit -, er ist ein Sucher der Wahrheit und strebt nicht nach eigenem Gewinn und Nutzen. Ich lernte ihn kennen, wir wurden Freunde« (Beichte, S. 5). Nach der Februarrevolution 1848 wurde Herwegh Präsident der ›Pariser deutschen Legion‹, die die badischen Revolutionstruppen von Frankreich aus militärisch zu unterstützen versuchte, aber Ende April 1848 zurückgeschlagen wurde. +175 Es handelt sich um die Deutsch-Französischen Jahrbücher (Herausgegeben von Arnold Ruge und Karl Marx, 1. und 2. Lieferung. Paris [Ende Februar] 1844, 239 S.). Die Artikel stammten von Marx, Engels, Hess und Jacoby, die Gedichte von Heine und Herwegh. Als Einleitung zu dieser Zeitschrift wurde ›Ein Briefwechsel von 1843‹ zwischen Marx, Ruge, Feuerbach und Bakunin veröffentlicht. Entgegen den ursprünglichen Plänen gab es keinen französischen Beitrag. Die Herausgabe der Deutsch-Französischen Jahrbücher hatte der Verleger Otto Wigand aus Leipzig angeregt, nachdem die Deutschen Jahrbücher für Wissenschaft und Kunst im Januar 1843 ihr Erscheinen hatten einstellen müssen. Nachdem die von Marx redigierte Rheinische Zeitung ab April 1843 ebenfalls verboten worden war, erklärte sich Ruge bereit, Marx als Mitarbeiter für die neue Zeitschrift zu akzeptieren. Im Mai 1843 besuchte Marx Ruge in Dresden und einigte sich mit ihm endgultig über Ziel und Aufgabe der neuen Zeitschrift. Aus diesen Planungen ging jedoch nur eine einzige Doppelnummer der Deutsch-Französischen Jahrbücher in Paris hervor. Ideologische Differenzen und persönliche Konflikte sowie finanzielle Schwierigkeiten setzten dem Unternehmen ein Ende. Herwegh verfolgte unabhängig davon ein eigenes Zeitschriften-

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projekt, an dem sich Marx offenbar anfangs als Mitherausgeber beteiligen wollte (vgl. Marx an Ruge, 25. Januar 1843, in MEGA, III 1, S. 43). Nach dem Scheitern seiner Pläne veröffentlichte Herwegh die Artikel, die er bereits gesammelt hatte, in dem von ihm herausgegebenen Band ›Einundzwanzig Bogen aus der Schweiz‹ (Literarisches Comptoir, Zürich und Winterthur [Juli] 1843). +176 Lorenz von Stein (1815-1890), deutscher Ökonom, Jurist und Historiker. Nach Abschluß seines Universitätsstudiums begab sich Stein nach Paris (1840) und untersuchte die frühsozialistischen Theorien und Bewegungen. Gleichzeitig unterrichtete er die preußische Regierung über die Gesinnung der deutschen Arbeiter, die in Paris lebten. 1846 wurde er Professor an der Kieler Universität, 1855 an der Universität Wien. In Steins Buch ›Der Socialismus und Communismus des heutigen Frankreichs. Ein Beitrag zur Zeitgeschichte‹ (1842) fand die deutsche Öffentlichkeit zum ersten Mal eine genaue und geordnete Darstellung der zahlreichen frühsozialistischen Theorien und ihres Zusammenhangs mit dem Proletariat. Obwohl Stein mit seinem Buch auf die von Sozialismus und Kommunismus ausgehende Gefahr aufmerksam machen wollte, trug es in großem Maße dazu bei, die frühsozialistische Gedankenwelt zu verbreiten und gewann viele Linkshegelianer für den Kommunismus. In der ›Beichte‹ schrieb Bakunin über seine Eindrücke bei der Lektüre dieses Buches im November 1842: »In dieser Zeit hörte ich auch zum ersten Male etwas vom Kommunismus; es erschien nämlich das Buch Dr. Steins: ›Die Sozialisten in Frankreich‹, das auf mich fast einen ebenso großen und tief eingreifenden Eindruck machte wie früher das Buch von Dr. Strauß: ›Das Leben Jesu‹, Es eröffnete sich mir eine neue Welt, auf die ich mich mit der Gier eines Verdurstenden stürzte. Es schien mir, als hörte ich eine neue Verheißung, die Offenbarung einer neuen Religion der Erhabenheit und Würde, des Glückes und der Befreiung des ganzen Menschengeschlechtes. Ich begann die Werke der französischen Demokraten und Sozialisten zu lesen und verschlang alles, was ich mir in Dresden verschaffen konnte.« (Beichte, S, 4) +177 Wilhelm Weitling (1808-1871), Schneider aus Magdeburg, deutscher Frühkommunist, seit 18gg Emigrant. Weitling gehörte dem ,Bund der Geächteten und dem ›Bund der Gerechten‹ (siehe Anm. +192) an. Im Auftrag der Pariser Zentralbehörde des ›Bun-

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des der Gerechten‹ verfaßte er 1838 die Schrift ›Die Menschheit wie sie ist und wie sie sein sollte‹, die als Programm des ›Bundes‹ angenommen wurde. Im Mai 1841 reiste Weitling in die Schweiz, wo er eine Reihe von geheimen Zellen des ›Bundes‹ gründete und die Zeitschriften Der Hülferuf der deutschen Jugend (4 Nummern, 1841) sowie Die junge Generation (17 Nummern, 1842-1843) herausgab. Im Dezember 1842 erschien, dank der finanziellen Hilfe von dreihundert Mitgliedern von Arbeitergruppen in Lausanne, La Chaux-de-Fonds, Zürich und Genf, sein theoretisches Hauptwerk ›Garantien der Harmonie und Freiheit‹. Bakunin lernte Weitling im Mai 1843 in Zürich kennen und setzte sich in einer anonym veröffentlichten Artikelserie unter dem Titel ›Der Kommunismus‹ mit dessen Ideen auseinander (in: Schweizerischer Republikaner, Zürich, Nr. 44-47, 2.-13. Juni 1843). Bakunin schrieb über ihn in der ›Beichte‹ (1851): »Weitling gefiel mir. Er war ungebildet, aber ich fand bei ihm viel natürlichen Scharfsinn, eine rasche Auffassungsgabe, starke Energie, vor allem aber wilden Fanatismus, edlen Stolz und den Glauben an die Befreiung und Zukunft der unterdrückten Masse. [...] Ich bat ihn, mich zu besuchen; er kam ziemlich oft zu mir, setzte mir seine Theorie auseinander und erzählte mir viel von den französischen Kommunisten, vom Leben der Arbeiter überhaupt, von ihrer Mühsal, von ihren Hoffnungen und Unterhaltungen, aber auch von den eben im Entstehen begriffenen deutschen kommunistischen Gesellschaften. Seine Theorie bekämpfte ich, die Tatsachen hingegen hörte ich mit großem Interesse an [...].« (Beichte, S. 6-7) Weitling wurde in der Nacht vom 8. zum 9. Juni 1843 in Zürich verhaftet, vor Gericht gestellt und im November 1843 zu zehn Monaten Gefängnis verurteilt. Am 21. Mai 1844 wurde er an Preußen ausgeliefert. Er war sechs Wochen im Magdeburger Gefängnis inhaftiert und fuhr dann nach London, wo er am 27. August 1844 eintraf. +178 Nichts deutet darauf hin, daß Weitling einer französischen Geheimgesellschaft angehört hat, obwohl der ›Bund der Gerechten‹ (siehe Anm. +192) eng mit der im Jahre 1837 von Auguste Blanqui und Armand Barbès gegründeten Geheimvereinigung verbunden war. +179 Johann Kaspar Bluntschli (1808-1881), Schweizer Jurist, Historiker und Politiker, 1833 Professor in Zürich, 1848 in München, 1861 in Heidelberg. 1837-1848 Mitglied des Großen Rates von Zürich. Er veröffentlichte einen Teil der Schriftstücke, die bei Weitling

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beschlagnahmt worden waren, als dieser im Juni 1843 verhaftet wurde (Die Kommunisten in der Schweiz nach den bei Weitling vorgefundenen Papieren. Wörtlicher Abdruck des Kommissionalberichtes an die H. Regierung des Standes Zürich. Orell, Füßli und Comp., Zürich 1843). Die Veröffentlichung dieser Schriften sorgte für eine große Verbreitung der frühkommunistischen Ideen und gab der deutschen kommunistischen Bewegung, besonders in Paris, lebhaften Auftrieb. Bluntschli zog auch Bakunin in die Weitling-Affäre hinein: In seiner Veröffentlichung wird unter anderem ein Brief an Weitling zitiert, in dem es heißt, er möge mit Bakunin »recht genaue Verbindung und innigen Umgang schließen« (S. 64). Dadurch wurde die russische Gesandtschaft auf Bakunin aufmerksam, der daraufhin im Februar 1844 Zürich überstürzt verlassen mußte und über Brüssel im Juli 1844 nach Paris gelangte. +180 Karl Marx wurde am 5. Mai 1818 in Trier geboren. Vater und Mutter entstammten Rabbiner-Familien. Sein Großvater väterlicherseits Meier Halevi Marx war Rabbiner in Trier, sein Vater Hirschel Marx (1782-1838) war dort Rechtsanwalt. Letzterer war liberaler Gesinnung und lebte nicht mehr nach jüdischen Normen. 1816 oder 1817 trat er zum Protestantismus über und nahm den Namen Heinrich an, um seine Anwaltspraxis behalten zu können und um sich und seine Familie vor Repressalien zu schützen. Seine Kinder wurden 1824 in die evangelische Kirche aufgenommen, seine Frau im Jahre 1825. +181 Marx war 1840 nicht in Köln, sondern erst von Oktober 1842 bis März 1843. Der Linkshegelianer-Kreis, auf den Bakunin anspielt, war der ›Doktorclub‹ in Berlin, dem Marx 1837 beitrat und in dem Bruno Bauer die zentrale Figur war. Die »oppositionelle Zeitschrift«, die Marx zeitweise herausgegeben hat, war die große liberale Tageszeitung Rheinische Zeitung für Politik, Handel und Gewerbe, die vom 1. Januar 1842 bis 31. März 1843 in Köln erschien. Marx schrieb zum ersten Mal am 5. Mai 1842 für die Zeitung und wurde von Oktober 1842 bis März 1843 ihr Chefredakteur. Da die preußische Regierung über die radikale Tendenz der Zeitung beunruhigt war, die immer mehr das Blatt der Linkshegelianer und des Radikalismus geworden war, wurde die Zeitung ab April 1843 verboten. +182 Bruno Bauer (1809-1882), deutscher Religionsforscher, Philosoph und Historiker, 1834 Privatdozent für Theologie an der Universität Berlin, ab 1839 in Bonn. Im März 1842 wurde er wegen seiner scharfen Bibelkritik abgesetzt. Bauer war der füh-

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rende Theoretiker der Linkshegelianer und einer der wichtigsten Mitarbeiter von Ruges Hallischen Jahrbüchern. Durch seinen radikalen Atheismus, den er auf dem Hegelschen System dialektisch aufbaute, hatte Bauer maßgeblichen Einfluß auf die linkshegelianischen Gruppen. Sein wichtigstes religionskritisches Werk ist ›Das entdeckte Christentum. Eine Erinnerung an das achtzehnte Jahrhundert und ein Beitrag zur Krise des neunzehnten‹. Es wurde 1843 in der Schweiz gedruckt und vor seiner Verbreitung beschlagnahmt. Ernst Barnikol hat es wieder entdeckt und 1927 in seinem Buch ›Das entdeckte Christentum im Vormärz. Bruno Bauers Kampf gegen Religion und Christentum und Erstausgabe seiner Kampfschrift‹ (Eugen Diederichs, Jena 1927, S. 83-164) wiederveröffentlicht. Diese Schrift hat Bruno Bauer in einem Brief vom 8. Februar 1843 an seinen Verleger Julius Fröbel in Zürich so beschrieben: »Sie ist ganz neu und doch eine Erinnerung an das achtzehnte Jahrhundert; sie ist dazu bestimmt, die Frage der Religion zum letzten Mal zu entscheiden, also auch die jetzige Reaktion zu überraschen. [...] Ich beweise, daß die Religion die Hölle der Menschenfeindlichkeit, Gott der Profoß dieser Hölle ist.« Schon vorher, am 1. März 1842, hatte Bauer über seine Ziele an Arnold Ruge geschrieben: »Ich ruhe nicht eher, bis ich alle theologischen Fakultäten in die Luft gesprengt oder vielmehr culbutiert [Purzelbaum schlagen lassen], auf ihren gläsernen Arsch gesetzt habe« (zitiert nach Ernst Barnikol: ›Bruno Bauer, der radikalste Religionskritiker und konservativste Junghegelianer‹. In: Das Altertum, Berlin, Band 7, 1961, S. 45-46). Edgar Bauer (1820-1886), Journalist und Historiker, Bruder von Bruno Bauer. Er studierte Jura und Theologie und gehörte zu den Mitarbeitern der Deutschen Jahrbücher von Ruge. Seine erste Schrift ›Bruno Bauer und seine Gegner‹ (1842) war der Absetzung Bruno Bauers von dessen Bonner Lehrstuhl gewidmet. Edgar Bauers antiautoritäres Buch ›Der Streit der Kritik mit Kirche und Staat‹ (1843) wurde beschlagnahmt (1844 jedoch in Bern neu aufgelegt), Bauer selbst wegen »Erregung von Mißvergnügen gegen die Regierung, Beleidigung der Religionsgesellschaften und Majestätsbeleidigung« angeklagt und zu vier Jahren Gefängnis verurteilt. Nach Max Nettlau war er »der erste anarchistische Gefangene in Deutschland« (Max Nettlau: Der Vorfrühling der Anarchie. Ihre historische Entwicklung von den Anfängen bis zum Jahre 1864. Verlag ›Der Syndikalist‹, Fritz Kater, Berlin 1925, S. 178).

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+183 Max Stirner (1806-1856), Pseudonym für Johann Kaspar Schmidt. Sein Hauptwerk ›Der Einzige und sein Eigenthum‹ (Verlag von Otto Wigand, Leipzig 1845) erschien im Oktober 1844 und wirkte später grundlegend für den individualistischen Anarchismus. Nach Max Nettlau ist es zusammen mit ›Political Justice‹ von Godwin und ›L'idée générale de la Révolution au XIXe siècle‹ von Proudhon das bedeutendste Werk des anarchistischen Denkens bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts (Nettlau: Vorfrühling, a.a.O. ❲Anm. +182❳, S. 169). Bakunin ist wahrscheinlich während seines dritten Aufenthalts in Berlin (Juli bis September 1848) mit Stirner bekanntgeworden. Nach der Aussage des Zeitgenossen Adolph Streckfuss hat er Stirner imponiert, »der an ihm die ›slavische Urkraft‹, die kräftige, frische, gewaltige Natur bewunderte« (Biographie, S. 96). +184 Gemeint ist jene Gruppe von Philosophen, Schriftstellern und Publizisten des Linkshegelianismus und des philosophischen Radikalismus, die unter dem Namen ›Die Freien‹ bekannt waren und sich ab 1841 in Berlin in verschiedenen Cafés oder in den Hippelschen Weinstuben trafen. In den erhaltenen Quellen und Darstellungen werden die ›Freien‹ unterschiedlich beurteilt. Parallel zur Einschätzung durch die preußische Polizei, die die ›Freien‹ als »Zeloten« bezeichnete sowie als »Literaten, die von der Journalschriftstellerei und dem politischen Räsonnement ein Gewerbe machten«, bezeichnete der Historiker Gustav Mayer die ›Freien‹ als »mehr oder weniger Bohémiens [...] [die] ohne Rückhalt bei der Einwohnerschaft ein Kaffeehausdasein« führten (Gustav Mayer: Radikalismus, Sozialismus und bürgerliche Demokratie. Herausgegeben von Hans-Ulrich Wehler. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1969, S. 53). Dagegen erklärte der Schriftsteller Theodor Fontane, der die ›Freien‹ noch persönlich erlebt hat, in einem Brief aus dem Jahre 1896, »daß diese Hippelschen Weinkneipenleute das denkbar Bemerkenswerteste dieser Art von Menschen waren, und daß wir gegenwärtig sicherlich nichts haben, was ihnen an Bedeutung, an Vorbildlichkeit und auch an Wirksamkeit an die Seite gesetzt werden kann.« (Fontane an Friedrich Staphany, 30. Juni 1896, in Theodor Fontane: Werke, Schriften und Briefe. Abteilung IV, Band 4: Briefe 1890-1898. Herausgegeben von Otto Drude und Helmuth Nürnberger. Carl Hanser Verlag, München 1982, S. 573). Der Stirnerbiograph John-Henry Mackay meinte schließlich, daß – die französischen

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Enzyklopädisten ausgenommen – selten so viele außergewöhnliche und unabhängige Denker versammelt waren wie in diesem Kreis (John Henry Mackay: Max Stirner. Sein Leben und sein Werk. 3. Auflage. Selbstverlag, Berlin-Charlottenburg 1914, S. 81). Nach Nikolaevskij und Otto Maenchen-Helfen ist das Wort Nihilismus, das aus dieser Zeit stammt, eigens für die ›Freien‹ geprägt worden. Ivan Turgenev, von dem man im allgemeinen annimmt, daß er es erfunden hat, lernte dieses Wort in Berlin kennen, wo er mit dem Kreis um Bruno Bauer bekannt geworden war. Zwanzig Jahre später übertrug er es auf die russischen Revolutionäre (B. Nicolaevsky und O. Maenchen-Helfen: Karl Marx. Eine Biographie. Verlag J.H.W. Dietz Nachf., Hannover 1963, S. 55-56). Marx kam Mitte Oktober 1843 nach Paris. Marx schrieb selbst: »Während meines ersten Aufenthaltes in Paris [Mitte Oktober 1843 bis Anfang Februar 1845] pflegte ich persönlichen Verkehr mit den dortigen Leitern des ›Bundes‹ [der Gerechten], wie mit den Führern der meisten französischen geheimen Arbeitergesellschaften, ohne jedoch in irgend eine dieser Gesellschaften einzutreten.« (MEGA, I 18, S. 107) Im Original irrtümlich: Moritz. Moses Hess (1812-1875) traf 1841 erstmals mit Marx zusammen und gehörte zur Initiativgruppe der Rheinischen Zeitung, deren Pariser Korrespondent er wurde. Er förderte die Verbreitung des französischen Frühsozialismus bei den Linkshegelianern und war nach den Worten von Engels, »in fact, the first Communist of the party« (das heißt der Bewegung der Linkshegelianer) (MEGA, I 3, S. 509). Den ideologischen Einfluß von Hess auf Marx hat Edmund Silberner in seiner Hess-Biographie so resümiert: »Es ist keine gewagte Annahme, daß Hess, durch seine Artikel in der Rheinischen Zeitung, durch die Teilnahme an den Debatten in dem Kreise des Blattes und durch den Umgang mit Marx, diesen von der Notwendigkeit überzeugte, sich mit dem Kommunismus theoretisch zu befassen. Dieses Studium führte bekanntlich Marx nicht zu einer Kritik des Kommunismus, sondern zum Kommunismus schlechthin. So übte Hess einen schicksalhaften Einfluß auf Marx aus.« (Edmund Silberner: Moses Hess. Geschichte seines Lebens. E. J. Brill, Leiden 1966, S. 121) Pierre-Joseph Proudhon (1804-1865), französischer Sozialist, Mitbegründer des Anarchismus.

Als Reaktion auf Proudhons Schrift ›Système des contradictions économiques, ou philosophie de la misère‹ (Paris 1846, dt. System der ökonomischen Widersprüche oder Philosophie des Elends, Darmstadt 1847) veröffentlichte Marx im Sommer 1846 die Streitschrift ›Misère de la philosophie. Réponse à la philosophie de la misère de M. Proudhon‹ (Paris, Brüssel 1847). Über die Hintergründe der Polemik schreibt Johannes Hilmer: »Ganz offensichtlich versucht Marx, mit seiner Schrift Proudhons Einfluß auf die internationale demokratische und sozialistische Arbeiterbewegung zu unterminieren und die bis 1845/ 46 existierende Koexistenz zwischen Frühsozialisten, Anarchisten und Kommunisten zu sprengen, um sich selbst an die Spitze der internationalen Arbeiterbewegung zu setzen.« (Johannes Hilmer: ›Philosophie de la Misère‹: oder ›Misère de la Philosophie‹? Die Marsche Polemik im Kampf um die Führung der internationalen Arbeiterbewegung als Beginn der weltpolitischen Durchsetzung des etatistischen Sozialismus. Peter Lang, Europäischer Verlag der Wissenschaften, Frankfurt am Main, Berlin, Bern, New York, Paris, Wien 1997, S. 2; zu Marx' Methodik vgl. die zusammenfassende Auswertung auf den S. 178-179) +190 1872 schrieb Bakunin über Proudhon: »Trotz all seiner Bemühungen, die Traditionen des klassischen Individualismus abzuschütteln, blieb Proudhon nichtsdestoweniger sein ganzes Leben ein unverbesserlicher Idealist, der sich, wie ich ihm zwei Monate vor seinem Tod [Januar 1865] sagte, bald an der Bibel, bald am römischen Recht inspirierte und stets bis zur Nagelspitze Metaphysiker blieb. Sein großes Unglück war, daß er nie die Naturwissenschaften studierte und sich deren Methode aneignete. – Er hatte geniale Instinkte, die ihn den richtigen Weg manchmal sehen ließen, aber von den schlechten oder den idealistischen Gewohnheiten seines Geistes hingerissen, fiel er stets in den alten Irrtum zurück, wodurch er zu einem beständigen Widerspruch wurde – ein wuchtiges Genie, ein revolutionärer Denker, der sich immer mit den Gespenstern des Idealismus herumschlug und nie dazu gelangte, sie zu besiegen. Marx als Denker ist auf dem richtigen Weg. Er stellte den Grundsatz auf, daß alle religiösen, politischen und juridischen Entwicklungen in der Geschichte nicht Ursachen, sondern Wirkung der ökonomischen Entwicklungen sind. Dies ist ein großer und fruchtbarer Gedanke, den er nicht ganz und gar erfunden hat; er wurde von vielen andern aus der Ferne gesehen und zum Teil zum Ausdruck gebracht, aber ihm gehört schließlich

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die Ehre, ihn fest begründet und seinem ganzen ökonomischen System zugrunde gelegt zu haben. Andererseits hatte Proudhon die Freiheit viel besser als er begriffen und gefühlt. Wenn Proudhon sich nicht mit Doktrin und Metaphysik abgab, hatte er den wahren Instinkt des Revolutionärs – er betete Satan an und proklamierte die Anarchie. Es ist leicht möglich, daß Marx sich theoretisch zu einem noch rationelleren System der Freiheit erheben kann als Proudhon, aber Proudhons Instinkt fehlt ihm. [...] Daher gibt es die beiden entgegengesetzten Systeme: das anarchische System von Proudhon, das wir erweitert, entwickelt und von all seinem metaphysischen, idealistischen, doktrinären Aufsatz befreit haben, indem wir klipp und klar die Materie in der Wissenschaft und die soziale Ökonomie in der Geschichte als Grundlage aller weiteren Entwicklungen annahmen. Und das System von Marx, des Chefs der deutschen Schule der autoritären Kommunisten.« (Werke, III, S. 116-117) +191 Nach Bakunins Meinung war der französische Sozialist Louis Blanc (1811-1882) (vgl. über ihn Schriften, I, S. 144) ein Vertreter des »autoritären Kommunismus« oder »Staatssozialismus« in der von Babeuf geschaffenen Tradition. Im September 1870 schrieb Bakunin: »Die vom Staat subventionierte Arbeit, das ist das grundlegende Prinzip des autoritären Kommunismus, des politischen Staatssozialismus. Der Staat als einziger Besitzer – am Ende einer gewissen Übergangszeit, die notwendig sein wird, um die Gesellschaft ohne allzu große politische und ökonomische Erschütterungen von der heutigen Organisation der bürgerlichen Privilegien zu der zukünftigen Organisation der offiziellen Gleichheit aller übergehen zu lassen –, der Staat wird auch der einzige Kapitalist, der Bankier, der Gesellschafter, der Organisator, der Leiter der nationalen Arbeit und der Verteiler ihrer Produkte sein. So sieht das Ideal, das grundlegende Prinzip des modernen Kommunismus aus. Dieses Prinzip wurde zum ersten Mal am Ende der Großen Revolution, mit dem ganzen Aufputz der antiken Bürgertugend und der revolutionären Gewalt, die diese Zeit kennzeichneten, von Babeuf zum Ausdruck gebracht. Dreißig Jahre später wurde es von Herrn Louis Blanc in seiner winzigen Broschüre ›Organisation du Travail‹ umgeändert und im kleinen wieder aufgenommen. Dieser ehrwürdige Bürger, der weniger revolutionär und den bürgerlichen Schwächen gegenüber geduldiger als Babeuf war, hat sich in seiner Broschüre darum bemüht, die Pille zu versüßen und zu mildern, damit die Bürger sie schluc-

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ken können, ohne zu ahnen, daß sie ein für sie tödlich wirkendes Gift enthält. Die Bürger haben sich aber nicht täuschen lassen und, Höflichkeit mit roher Gewalt vergeltend, Herrn Louis Blanc aus Frankreich verbannt. Trotz alledem bleibt Herr Louis Blanc mit einer bewunderungswürdigen Standhaftigkeit als einziger seinem ökonomischen System treu und glaubt weiter, daß die Zukunft in seiner kleinen Broschüre über die Organisation der Arbeit enthalten ist. In der Zwischenzeit ist der kommunistische Gedanke in solidere Hände übergegangen.« (Archives, VI, S. 99) +192 Gemeint ist der ›Bund der Kommunisten‹, der aus dem ›Bund der Geächteten‹ und dem ›Bund der Gerechten‹ entstanden war. Der ›Bund der Geächteten‹ war 1834 von emigrierten Demokraten, Republikanern und deutschen Handwerkern in Paris als Geheimbund gegründet worden und hatte sich Ende 1836 aufgrund von Spannungen unter den Mitgliedern gespalten. 1837 entstand aus der Abspaltung der ›Bund der Gerechten‹, dessen erste Programmschrift von Weitling verfaßt wurde (›Die Menschheit wie sie ist und wie sie sein sollte‹, siehe Anm. +177). Das in London gegründete Komitee der Gerechten, das zum Zentrum des Bundes wurde, bestand aus Karl Schapper, Heinrich Bauer und Joseph Moll, parallel dazu bestand bis 1846 die Zentralbehörde des Bundes in Paris, die unter der Leitung von Hermann Ewerbeck stand. Die ersten Kontakte von Marx mit dem ›Bund der Gerechten‹ fanden im September 1844 in Paris statt. Im August 1845 nahmen Marx und Engels mit der Führungsspitze in London Verbindung auf, traten dem Bund jedoch erst Anfang 1847 bei. Am Londoner Kongreß des ›Bundes der Gerechten‹ vom Juni 1847 nahm Engels als Pariser Delegierter teil. Der Kongreß beschloß, den Bund neu zu organisieren und ihn von nun an ›Bund der Kommunisten‹ zu nennen. Auf einem zweiten Kongreß, der vom 29. November bis 8. Dezember 1847 in London stattfand, wurden neue Statuten angenommen (datiert vom 8. Dezember 1847 und unterschrieben, im Namen des Kongresses, von Karl Schapper, Präsident, und Engels, Sekretär). Der erste Artikel lautete: »Der Zweck des Bundes ist der Sturz der Bourgeoisie, die Herrschaft des Proletariats, die Aufhebung der alten, auf Klassengegensätzen beruhenden bürgerlichen Gesellschaft und die Gründung einer neuen Gesellschaft ohne Klassen und ohne Privateigentum.« (Der Bund der Kommunisten. Dokumente und Materialien. Band 1: 1836-1849. 2. Auflage. Dietz Verlag, Berlin 1983, S. 626)

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Seit dem Londoner Kongreß entwickelte sich der Bund unter dem ideologischen Einfluß von Marx und Engels. Im Auftrag der Pariser Kreisbehörde des ›Bundes der Kommunisten‹ hatte Engels einen Programmentwurf für den Londoner Kongreß verfaßt (›Grundsätze des Kommunismus‹ siehe MEW, Band 4, S. 363-380). Dieser Text wurde von Marx überarbeitet und auf dem Kongreß diskutiert. Marx und Engels wurden anschließend damit beauftragt, ein neues Programm zu verfassen. Auf diese Art entstand das ›Kommunistische Manifest‹ (vgl. Anm. +203). Marx wurde aufgrund eines Dekrets der Regierung Guizot vom 11. Januar 1845 aus Frankreich ausgewiesen. Er fuhr Anfang Februar 1845 nach Brüssel, wo er bis März 1848 lebte. Engels war von dem Dekret nicht betroffen. Im Herbst 1846 wurde der Sitz der Zentralbehörde des ›Bundes der Gerechten‹ nicht nach Brüssel (wie Bakunin schreibt), sondern nach London verlegt. Karl Schapper, Joseph Moll und Heinrich Bauer waren Mitglieder der Zentralbehörde; weder Marx noch Engels haben ihr angehört. Im Frühjahr 1846, während seines Aufenthaltes in Brüssel, gründete Marx ein ›Kommunistisches Korrespondenzkomitee‹. Im Februar oder März 1847 wurde Marx von der Zentralbehörde des ›Bundes der Gerechten‹ in London um seine Unterstützung bei der Neuausrichtung des Bundes gebeten. Erst zu diesem Zeitpunkt trat er dem ›Bund der Gerechten‹ bei und wandelte das Brüsseler ›Korrespondenzkomitee‹ in eine Abteilung des Bundes um. Als ›Altkatholiken‹ bezeichneten sich in Deutschland jene Katholiken, die die Beschlüsse des 1. Vatikanischen Konzils von 1870 (insbesondere über die Unfehlbarkeit des Papstes, Ohrenbeichte, Ablaß und Heiligenkult) ablehnten. Der erste Kongreß der ›Altkatholiken‹ fand in München im September 1871 statt. Bakunin hielt sich im Juni/Juli 1848 in Breslau auf. Eduard Graf von Reichenbach (1812-1869), schlesischer Gutsbesitzer, 1835 als Burschenschaftler zu Festungshaft verurteilt, 1848 Mitglied des Demokratischen Klubs in Breslau und der preußischen Nationalversammlung. Bakunin lernte Reichenbach im April 1848 in Frankfurt am Main kennen und schloß mit ihm Freundschaft (vgl. Bakunin an Pavel Annenkov, 17. Apri 1848, in Briefwechsel, S. 9). Noch im selben Jahr begegneten sie sich erneut in Breslau und Berlin. Julius Stein (1813-1889), Lehrer und Journalist in Breslau, 1848 Mitglied der preußischen Nationalversammlung, Autor einer Geschichte von Breslau.

Johannes Ronge (1813-1887), zunächst katholischer Priester, im Januar 1843 suspendiert. Ronge schrieb an den Trierer Erzbischof Arnoldi einen Offenen Brief, der am 13. Oktober 1844 in den Sächsischen Vaterlandsblättern (Leipzig) veröffentlicht wurde und in dem er gegen den Aberglauben und den volkstümlichen Fanatismus protestierte, die sich bei der Ausstellung des Heiligen Gewandes manifestiert hatten. Dieses Gewand sollte angeblich 1196 unter dem Altar des Doms in Trier aufgefunden worden sein. Zum ersten Mal seit 1810 wurde es vom 18. August bis 1. Oktober 1844 zur Schau gestellt. Millionen Pilger kamen und zogen daran vorbei. Ronges Offener Brief erregte großes Aufsehen; schon am 22. Oktober 1844 wurde er exkommuniziert. In einer Reihe von Streitschriften (An meine Glaubensgenossen und Mitbürger, Altenburg 1845; An die katholischen Lehrer, Altenburg 1845, u.a.) und auf einer triumphalen Propagandarundreise warb Ronge für die Gründung einer deutschen, vom Papst und der Regierung unabhängigen Kirche. Im März 1845 fand in Leipzig ein erstes Konzil des ›Deutsch-Katholizismus‹ statt; im August 1845 zählte er 170 Gemeinden mit Zehntausenden von Anhängern, darunter auch Lutheranern; 1848 existierten 259 Gemeinden mit fast 100.000 Anhängern. In der ›Beichte‹ (1851), schrieb Bakunin folgendes über diese Bewegung: »Gegen Mitte des Jahres 1845 zeigten sich für den, der die deutsche Bewegung verfolgte, die ersten schwachen Wellen auf dem politischen Ozean: in Deutschland tauchten zwei neue religiöse Sekten auf: die Lichtfreunde und die Deutsch-Katholiken. In Frankreich lachten manche über sie, während andere, und ich glaube mit Recht, in ihnen Zeichen der Zeit sahen, die den Sturm verkündeten. Die an und für sich bedeutungslosen Sekten wurden dadurch wichtig, daß sie die gegenwärtigen Begriffe und Forderungen in die religiöse, d.h. in die Sprache des Volkes übersetzten. Auf die gebildeten Klassen konnten sie keinen großen Einfluß ausüben, dafür wirkten sie auf die Phantasie der Massen, die stets mehr zum religiösen Fanatismus neigen. Zudem war der Deutsch-Katholozismus mit einem rein politischen Ziele von der demokratischen Partei in Preußisch-Schlesien erfunden und in die Welt gesetzt worden; er war aktiver als seine protestantische Schwester, die ihrerseits ehrlicher war. Unter seinen Aposteln und Propheten gab es viele schmutzige Scharlatane, aber auch viele begabte Menschen, und man kann sagen, daß der DeutschKatholizismus in der Form des angeblich von der urchristlichen Kirche übernommenen Gemein-

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schaftsmahles offen den Kommunismus predigte.« (Beichte, S. 15) +199 Johannes Tetzel (1465-1519), deutscher Dominikaner. Seine Predigten über den Ablaß führten zu dem Protest Luthers, der den Auftakt zur Reformation bildete. +200 Die freien Gemeinden der ›Lichtfreunde‹ oder ›protestantischen Freunde‹ waren aus einem 1841 von dem evangelischen Prediger Leberecht Uhlich gegründeten Verein entstanden. Unter dem Einfluß von Rationalismus und Aufklärung beriefen sich die ›Lichtfreunde‹ auf die protestantische Glaubensfreiheit und setzten sich für einen vernunft- und zeitgemäßen Protestantismus ohne Zwang und geistige Bevormundung ein. Erste Gegenmaßnahmen der evangelischen Amtskirche in Preußen und Sachsen führten zu einer Protestbewegung und ab 1845 zur Bildung von ›freien Gemeinden‹. Im Revolutionsjahr 1848 erreichte die Bewegung mit 40 freien Gemeinden ihren Höhepunkt. Uhlich und andere führende Mitglieder der ›Lichtfreunde‹ wurden in die Frankfurter Nationalversammlung gewählt, wo sie dem linken Zentrum angehörten. +201 Heinrich Heines berühmtes Gedicht ›Die Weber‹ erschien zum ersten Mal unter dem Titel ›Die armen Weber‹ im Vorwärts! Pariser Deutsche Zeitschrift, Nr. 55, 10. Juli 1844. Als Unterschrift waren nur die Initialen H. H. genannt. Eine erweiterte fünfstrophige Fassung erschien in der Lyriksammlung ›Album. Original-Poesieen von George Weerth [...] Heinrich Heine [...] und dem Herausgeber H. Püttmann‹ (Borna [Brüssel] 1847, S. 145-146) unter dem Titel ›Die Schlesischen Weber‹ und mit dem Zusatz zur Überschrift: »Vom Dichter revidirt«. Die neue fünfte Strophe lautete: »Das Schiffchen fliegt, der Webstuhl kracht, Wir weben emsig Tag und Nacht – Altdeutschland, wir weben dein Leichentuch, Wir weben hinein den dreifachen Fluch, Wir weben, wir weben!« (Heinrich Heine: Säkularausgabe. Werke, Briefwechsel, Lebenszeugnisse. Band 2: Gedichte 1827-1844 und Versepen. Akademie-Verlag und Editions du CNRS, Berlin, Paris 1979, S. 138) Der Aufstand der schlesischen Weber vom 4. bis 6. Juni 1844 stand in Zusammenhang mit der ökonomischen und sozialen Krise in Preußen. Im Laufe der spontan entstandenen Revolte, die gegen die extreme Ausbeutung seitens der Fabrikherren gerichtet war, wurden mehrere Villen und Fabriken zerstört

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sowie Dokumente und Akten verbrannt. Der Aufstand wurde von preußischem Militär blutig niedergeschlagen: Zehn Arbeiter wurden getötet; später wurden 83 Arbeiter zu schweren Haft- und Prügelstrafen verurteilt. Wahrscheinlich schrieb Heine sein Gedicht unter dem Eindruck des Artikels ›Die Weber am Riesengebirge im Juni 1844‹, der im Vorwärts einen Monat nach dem Aufstand veröffentlicht wurde und vermutlich von Karl Ludwig Bernays stammt. Darin hieß es unter anderem: »Da, im Juni 1844, zu Peterswalde und Langenbielau in Schlesien, standen eines Tags fünftausend Weber, Stöcke, Messer, Steine in den magern Händen, und lieferten einigen Bataillonen Soldaten eine wüthende Schlacht! Und sie räumten in den Palästen ihrer Fabrikfürsten auf, und vertilgten die Schuldbücher und die Creditbriefe; [...] im sonst so stillen, gemüthlichen Schlesien, ist ein Vorbote der socialen Umänderung aufgetaucht, der die Welt unaufhaltsam im erhabenen Entwicklungsmarsche der Menschheit entgegenwandelt.« (Vorwärts! Pariser Deutsche Zeitschrift, Nr. 54, 6. Juli 1844, S. 4) +202 Gemeint ist der ›Bund der Kommunisten‹ (vgl. Anm. +192). Nach der Rückkehr der meisten Bundesmitglieder nach Deutschland infolge der Märzrevolution 1848, konstituierte sich die Zentralbehörde des ›Bundes‹ zunächst in Mainz und ab etwa Mitte April 1848 in Köln. Die etwa 200 über ganz Deutschland verteilten Bundesmitglieder verloren sich in der Folge fast vollständig in den verschiedenen lokalen demokratischen Bewegungen, so daß die Tätigkeit des ›Bundes‹ im Laufe des Sommers 1848 praktisch zum Erliegen kam. Engels schrieb 1885: »Wie leicht vorherzusehn, erwies sich der Bund, gegenüber der jetzt losgebrochenen Bewegung der Volksmassen, als ein viel zu schwacher Hebel. Drei Viertel der Bundesglieder, die früher im Ausland wohnten, hatten durch Rückkehr in die Heimat ihren Wohnsitz gewechselt; ihre bisherigen Gemeinden waren damit großenteils aufgelöst, alle Fühlung mit dem Bund ging für sie verloren.« (MEW, Band 21, S. 218) Selbst in den Städten Köln, Berlin und Breslau hatte der ›Bund der Kommunisten‹ kaum festere Stützpunkte: Wilhelm Wolff schrieb in einem Brief an die Zentralbehörde des ›Bundes‹ vom 18. April 1848, daß der ›Bund‹ in Köln »in großer Zusammenhanglosigkeit« fortvegetiere, in Berlin »nur ganz lose dasteht« und in Breslau von der »Organisation nichts vorhanden« sei (MEGA, III 2, S. 422 und 425). Stephan Born schrieb am 11. Mai 1848 aus Berlin an Marx, der ›Bund‹ »ist aufgelöst, überall und

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nirgends« (ebd., S. 445). Von einer Gemeinde des ›Bundes‹ in Wien ist nichts bekannt. Bakunin hat seine Informationen über den ›Bund der Kommunisten‹ eventuell aus einem persönlichen Gespräch mit Marx bezogen. Marx war – auf dem Weg nach Wien – am 25./26. August 1848 in Berlin mit Bakunin zusammengetroffen und äußerte dabei nach Bakunins Erinnerung unter anderem, daß er »jetzt an der Spitze einer [...] gut disziplinierten geheimen kommunistischen Gesellschaft stehe« (Werke, III, S. 213). Das ›Kommunistische Manifest‹ war vom ›Bund der Kommunisten‹ in Auftrag gegeben (vgl. Anm. +192), von Marx und Engels verfaßt und im Februar 1848 in London anonym veröffentlicht worden (Manifest der Kommunistischen Partei. Gedruckt in der Office der ›Bildungs-Gesellschaft für Arbeiter‹ von J. E. Burghard, London ❲Februar❳ 1848. 23 S.). In Mecklenburg wurde die Leibeigenschaft offiziell im Jahre 1819 abgeschafft, in Österreich im Jahre 1781. Vielerorts bestanden aber alte Abgabelasten und Fronverpflichtungen unverändert fort. Ferdinand Lassalle (1825-1864), sozialistischer Politiker und Publizist. Lassalle wandte sich früh demokratischen und sozialistischen Ideen zu und beteiligte sich 1848 an der revolutionären Bewegung im Rheinland. Aufgrund seines Eintretens für Steuerverweigerung und Volksbewaffnung wurde er im November 1848 verhaftet und im Juli 1849 zu sechs Monaten Gefängnis verurteilt. Anfang der 186oer Jahre brachte ihn sein öffentliches Engagement für die Arbeiterfrage in Kontakt mit den deutschen Arbeitervereinen. Das Leipziger ›Zentralkomitee zur Berufung eines Deutschen Arbeiterkongresses‹ forderte ihn Anfang 1863 auf, einen Programmentwurf auszuarbeiten; Lassalle entwickelte daraufhin in seinem ›Offenen Antwortschreiben‹ vom März 1863 sein politisches Programm, das zur Grundlage des im Mai 1863 in Leipzig gegründeten ›Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins‹ wurde, der ersten Parteibildung der sozialistischen Arbeiterbewegung in Deutschland. Lassalle wurde zu seinem ersten Präsidenten gewählt, nachdem dieses Amt in den Statuten mit einer Reihe von weitreichenden Vollmachten ausgestattet worden war; er verstarb jedoch bereits im folgenden Jahr, am 31. August 1864. Während Lassalle im Laufe seiner kurzen und glänzenden Laufbahn mit dem ›Allgemeinen Deutschen Arbeiterverein‹ die erste sozialistische Arbeiterpartei bildete, verfügte Marx in Deutschland noch über keine Organisationen oder Anhänger, auf die er

hätte zählen können. – Zu Marx' »eifersüchtiger und mißgünstiger Unzufriedenheit« mit Lassalle siehe Anm. +265. +207 Bakunin bezieht sich auf Lassalles ›Arbeiter-Programm‹ aus dem Jahr 1862. Die Idee des Grundbesitzes, hieß es darin, sei das herrschende Prinzip des 16. Jahrhunderts gewesen: »Dies war so sehr der Fall, daß selbst die scheinbar vollständig revolutionäre Bewegung der Bauernkriege, die 1524 in Deutschland ausbrach und ganz Schwaben, Franken, den Elsaß, Westfalen und noch andere Teile Deutschlands umfaßte, innerlich noch durch und durch an diesem selben Prinzip hing, in der Tat also eine reaktionäre Bewegung war, trotz ihres revolutionären Gebarens [...] sie stand, statt auf einem neuen revolutionären Prinzip zu stehen, ohne es zu wissen, innerlich vielmehr durchaus auf dem Prinzip des Alten, des Bestehenden, auf dem Prinzip der damals gerade untergehenden Periode, und nur gerade deshalb, weil sie, während sie sich für revolutionär hielt, in der Tat reaktionär war, ging die Bauernbewegung zugrunde. [...] Wenn die Bauernkriege nur in ihrer Einbildung revolutionär waren, so war dagegen damals wirklich und wahrhaftig revolutionär der Fortschritt der Industrie, der bürgerlichen Produktion, der sich immer weiter entwickelnden Teilung der Arbeit und der hierdurch entstandene Kapitalreichtum, der sich ausschließlich in den Händen der Bourgeoisie aufhäufte, weil sie eben der Stand war, welcher sich der Produktion unterzog und deren Vorteile sich aneignete.« (Ferdinand Lassalle: Gesammelte Reden und Schriften. Herausgegeben von Eduard Bernstein. Band 2. Verlegt bei Paul Cassirer, Berlin 1919, S. 152-156) In einer Anmerkung zu dieser Textpassage widersprach der Herausgeber von Lassalles ›Gesammelten Reden und Schriften‹, Eduard Bernstein, dieser Auffassung und hob hervor, daß die totale Niederlage des Bauernerhebung eine lange Epoche der Reaktion einleitete und Deutschland in seiner Entwicklung um zwei Jahrhunderte zurückgeworfen habe. Die Gründe für Lassalles Auffassung seien nach Bernstein in seiner philosophischen Denkweise zu suchen, die mit seinem Staatskultus in Zusammenhang stehe (vgl. ebd., Band 2, S. 154-155). In einem Manuskript vom November/Dezember 1872 schrieb Bakunin unter Hinweis auf den Bauernaufstand des 16. Jahrhunderts in Deutschland: »›Das war die Reaktion!‹, sagt Lassalle und mit ihm alle Marxisten. Das war die Reaktion, sagen sie, weil die Revolution, die nur eine solche ist, wenn sie schön zivilisiert, wissenschaftlich, d.h., schön bürgerlich ist, nicht der

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ländlichen Barbarei entspringen kann.« (Bakunin: Schrift gegen Marx, a.a.O. ❲Anm. +141❳, S. 60) Die mit einer Reihe von Maßnahmen eingeleitete Schließung der Nationalwerkstätten, welche im Februar 1848 zur Versorgung von Arbeitslosen gegründet worden waren, führte vom 24. bis 26. Juni 1848 in den verarmten Pariser Stadtbezirken zu einem spontanen Volksaufstand. Bei der Niederschlagung des Aufstands durch Truppen unter dem Kommando des Kriegsministers Eugène Cavaignac wurden ca. 10.000 Menschen getötet. Gemeint ist der aus einer Streikbewegung hervorgegangene republikanische Aufstand der Lyoner Seidenweber (canuts) vom April 1834, der durch massiven Militäreinsatz niedergeschlagen wurde. Im Original Druckfehler: Islagiš. – Josip Jellačić (1801-1859), österreichischer General und Ban von Kroatien. Im Oktober 1848 schlug er mit seinen Truppen bei Schwechat in der Nähe von Wien die ungarischen Einheiten, die der Wiener Revolution zu Hilfe kommen wollten. 1849 war er am Feldzug gegen die ungarische Revolutionsregierung beteiligt. Auf Initiative süddeutscher Landtagsabgeordneter versammelten sich am 31. März 1848 eine Reihe von führenden Liberalen und Demokraten in Frankfurt am Main und konstituierte sich als ›Vorparlament‹, das am 3. April einen ›Fünfzigerausschuß‹ zur Vorbereitung von allgemeinen und gleichen Wahlen für eine deutsche Nationalversammlung berief. Die 585 gewählten Mitglieder der Nationalversammlung traten dann am 18. Mai 1848 in der Frankfurter Paulskirche zu ihrer ersten Sitzung zusammen; unter ihnen befanden sich 319 Juristen und Verwaltungsbeamte, 104 Professoren und Gelehrte, 1 Bauer, kein Arbeiter. Gemeint sind die Tage nach dem Ausbruch der Revolution in Deutschland im März 1848. Joseph Maria Freiherr von Radowitz (1797-1853), preußischer General und Politiker, seit 1823 im preußischen Staatsdienst, Vertrauter von Friedrich Wilhelm IV., 1848-1849 einer der führenden Reaktionäre in der Frankfurter Nationalversammlung. September bis November 1850 preußischer Außenminister. Am 12. August 1848 erklärte Radowitz in der Frankfurter Nationalversammlung: »Seitdem der Bericht des internationalen Ausschusses erstattet worden ist, hat sich in den Verhältnissen des italienischen Kriegs Vieles geändert. Zuerst die Siege der österreichischen Waffen, die ich im tiefsten Gefühle, daß diese ruhmgekrönte Armee auch für uns gelitten, gefochten und ge-

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siegt hat, mit höchster Freude begrüße. (Lebhafter Beifall und Händeklatschen auf der Rechten und den Centren.) Die Tage vom 23. bis 25. Juli 1848 [an denen die italienischen Truppen besiegt wurden] werden eines der glänzendsten Blätter in der deutschen Kriegsgeschichte bilden. Meine Herren! Ich freue mich darüber, nicht bloß als deutscher Soldat, sondern auch als Glied dieser deutschen Versammlung, deren vorwaltende Gesinnung ich hierin auszudrücken glaube. (Andauerndes Bravo auf der Rechten und den Centren.)« (Stenographischer Bericht über die Verhandlungen der deutschen constituirenden Nationalversammlung zu Frankfurt am Main. Herausgegeben von Franz Wigard. Band 2. Gedruckt bei Johann David Sauerländer, Frankfurt am Main 1848, S. 1566) Bakunin zitiert aus Jacobys Reden in der Königsberger Urwählerversammlung vom 10. und 11. November 1858: »Jetzt, meine Herren! – ich spreche dies als meine volle innige Überzeugung aus – jetzt giebt es in unserem Lande – in der ganzen demokratischen Partei nicht einen Einzigen, der für Preußen, wie es ist, eine andere als monarchische Staatsform zu wollen, geschweige zu erstreben sich nur im Traume einfallen läßt.« (Jacoby, II, S. 98) Jacoby, II, S. 106. Nach blutigen Straßen- und Barrikadenkämpfen am 18. März 1848, die den Beginn der Märzrevolution in Berlin markierten, befahl Friedrich Wilhelm IV. den Abzug des Militärs aus Berlin und erließ am 21. März 1848 einen Aufruf ›An mein Volk und an die deutsche Nation‹, worin er erklärte: »Deutschland ist von innerer Gährung ergriffen und kann durch äußere Gefahr von mehr als einer Seite bedroht werden. Rettung aus dieser doppelten dringenden Gefahr kann nur aus der innigsten Vereinigung der deutschen Fürsten und Völker unter Einer Leitung hervorgehen. Ich übernehme heute diese Leitung für die Tage der Gefahr. [...] Ich habe heute die alten deutschen Farben angenommen, und Mich und Mein Volk unter das ehrwürdige Banner des deutschen Reiches gestellt. Preußen geht fortan in Deutschland auf.« (zitiert nach: Dokumente zur deutschen Verfassungsgeschichte. Herausgegeben von Ernst Rudolf Huber. Band 1:1803- 1850.3. Auflage. Verlag W. Kohlhammer, Stuttgart, Berlin, Köln, Mainz 1978, S. 448) Zur Bekräftigung dieser Worte ritt Friedrich Wilhelm IV. noch am selben Tag in Begleitung seiner Minister und Generäle mit einer schwarzrotgoldenen Fahne durch Berlin. Im Original irrtümlich: verstanden nicht (vgl. Archives, III, S. 336).

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+219 Bakunin zitiert aus Jacobys Rede in der Wahlmänner-Versammlung des vierten Berliner Wahlbezirks am 5. Juni 1848: »Republikanismus ist – dem Begriffe nach – der höchste und reinste Ausdruck bürgerlicher Selbstregierung und Gleichberechtigung [...] Ob aber die republikanische Regierungsweise – unter den in der Wirklichkeit gegebenen Bedingungen, d.h. für ein bestimmtes Land, für eine bestimmte Zeit sich eigne und zweckmäßig sei, – das ist eine andere Frage. Nur der gemeinsame, einmüthige Wille der Bürger kann hier den Ausschlag geben [...]. Thöricht aber ist's, wenn der Einzelne sich ein entscheidendes Urtheil darüber anmaßt; thöricht zumal und frevelhaft zugleich ist jedes Parteibestreben, das [...] diese Staatsform einem Volke aufnöthigen will. – Nicht erst heute, meine Herren, – schon zur Zeit des Vorparlaments habe ich den badischen Deputirten gegenüber in ganz gleicher Weise gesprochen und von jeder republikanischen Schilderhebung – leider vergeblich! – abgemahnt. – Überall in Deutschland – mit alleiniger Ausnahme Badens – hat die Revolution aus freien Stücken vor den wankenden Thronen Halt gemacht, – ein Zeugniß, daß das deutsche Volk der Gewaltmacht seiner Fürsten Maß und Schranken zu setzen, sie aber keineswegs abzuschaffen geneigt ist. In politischen Dingen muß der Einzelwille sich dem Gesammtwillen fügen, – und so ist es denn die constitutionellmonarchische Regierungsform, an welcher wir fortan uns zu halten haben.« (Jacoby, II, S. 22-23) +220 Bakunin zitiert weiterhin aus Jacobys Rede vom 5. Juni 1848: »Absolutismus und Junkerthum – täuschen wir uns darüber nicht! – sind weder aus der Welt verschwunden, noch zu besserer Einsicht gekommen; kaum halten es die Feinde der Freiheit noch für nöthig, sich scheintodt zu stellen: dem Sehenden ist überall das Bestreben der Reaction in unzweideutigen Zeichen bemerkbar.« (Jacoby, II, S. 21) +221 Louis-Eugène Cavaignac (1802-1857), französischer General und Politiker, ab Mai 1848 Kriegsminister. Cavaignac wurde von der Nationalversammlung »zur Wiederherstellung der Ordnung« mit diktatorischen Vollmachten ausgestattet und leitete die Niederschlagung des Pariser Juniaufstands 1848 (vgl. Anm. +208). +222 In seiner Rede über das Projekt hatte Thiers erklärt: »Es wäre ein völlig irrealer Standpunkt zu meinen, daß Befestigungsarbeiten irgendeiner Art der Freiheit oder der Ordnung schaden könnten. Und überhaupt, es ist eine Verleumdung der Regierung, egal welcher, ihr zu unterstellen, daß sie eines Tages

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die Hauptstadt bombardieren lassen könnte, um an der Macht zu bleiben. Wie! Nachdem sie das Gewölbe des Invalidendoms und des Pantheons mit ihren Bomben durchschlagen und das Haus eurer Familie mit ihren Feuern überflutet hat, sollte sie sich euch stellen, um von euch bestätigt zu werden! Diese Regierung wäre nach ihrem Sieg hundertmal unerträglicher als zuvor!« (›Rapport sur le projet de loi tendant à ouvrir un crédit de 140 millions pour les fortifications de Paris, lu le 13 janvier 1841 à la Chambre des Députés‹ ❲Bericht über den Gesetzentwurf für die Gewährung eines Kredites über 140 Millionen für die Befestigung von Paris, vorgetragen im Abgeordnetenhaus am 13. Januar 1841❳. In: Discours parlementaires de M. Thiers. Herausgegeben von M. Calmon. Band 5. Calmann Lévy, éditeur, Paris 1879, S. 360-361). In einer Rede vom 26. Januar 1841 wiederholte Thiers: »Ich hatte gesagt, daß eine Regierung, die sich der Befestigungen bedient, um einen Aufstand niederzuschlagen, eine widersinnige Regierung wäre und das Schlachtfeld verlassen müßte.« (ebd., S. 417) Friedrich Wilhelm Graf von Brandenburg (1792-1850), Sohn des Königs Friedrich Wilhelm Il. und der Gräfin Sophie Dönhoff, preußischer General und Politiker, beendete als Ministerpräsident (November 1848 bis November 1850) die Revolution in Preußen, indem er die Berliner Nationalversammlung auflöste; unter seiner Regierung wurde auch die ›oktroyierte‹ Verfassung erlassen (vgl. Anm. +235). Gemeint sind die Aufstände im Rahmen der ›Reichsverfassungskampagne‹ die Dresdner Mairevolution (s. bis 8. Mai 1849), in der Bakunin eine einflußreiche Rolle spielte, der Aufstand in der bayerischen Pfalz (Mai-Juni 1849) und die revolutionäre Bewegung im Großherzogtum Baden, wo sich die Armee den revolutionären Kräften anschloß (Mai-Juli 1849). Wilhelm I. (1797-1888), seit 1840 ›Prinz von Preußen‹ (d.h. zum Thronfolger seines kinderlosen Bruders Friedrich Wilhelm IV. erklärt), seit 1861 preußischer König, seit 1871 deutscher Kaiser. Im Gegensatz zu seinem Bruder befürwortete Wilhelm eine gewaltsame Niederschlagung der Berliner Märzrevolution und wurde deshalb im Volksmund ›Kartätschenprinz‹ genannt. 1849 leitete er die Niederschlagung des pfälzischen und badischen Aufstandes und ließ zahlreiche Aufständische von Kriegsgerichten zum Tode verurteilen. »Ich bin ein Preuße, kennt ihr meine Farben«, erster Vers einer preußischen Hymne, die 1830 von dem Gymnasiallehrer Bern-

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hard Triersch geschrieben und 1832 vertont wurde. +227 Nach ländlichen Protestaktionen in dem zu Preußen gehörenden Großherzogtum Posen bildete sich am 20. März 1848 ein polnisches Nationalkomitee, das am Folgetag eine Delegation unter der Leitung des Gnesener Erzbischofs nach Berlin schickte. Die Delegierten wurden am 23. März von Friedrich Wilhelm IV. empfangen und übergaben eine Petition, in der »eine nationale Reorganisation« Posens gefordert wurde. Friedrich Wilhelm IV. antworte ihnen: »Reißen Sie sich los, bedenken Sie, in welch' ein unabsehbares Unglück Sie sich stürzen. Eine jede Bewegung würde die Provinz in die Hände Rußlands spielen. Ich bin den Kaiser von Rußland mit flehentlichen Bitten angegangen, damit er in keinem Falle, was auch geschehen möge, einschreite, und ich habe die Versicherung erhalten, daß er dies vor der Hand nicht thun und der Entwicklung Deutschlands keine Hindernisse in den Weg legen wolle. Auf das Wort dieses Kaisers kann ich mich fest verlassen, denn sein Entschluß ist unerschütterlich und er [ist] ein Mann von eisernem Willen, von dem edelsten und festesten Charakter, der mächtigste, weiseste, der alleinige unter den Souveränen Europa's, der seine Macht mit unerschütterlicher Kraft und Energie aufrecht zu erhalten weiß. Sein Wort ist ja, ja; nein, nein!« (zitiert nach Adolf Wolff: Berliner Revolutions-Chronik, Darstellung der Berliner Bewegungen im Jahre 1848 nach politischen, socialen und literarischen Beziehungen. Band 1. Verlag von Gustav Hempel, Berlin 1851, S. 370-371) +228 Gemeint ist das ›Dreikönigsbündnis‹ vom 26. Mai 1849 zwischen den Königen von Preußen, Sachsen und Hannover. Das Bündnis stand in Zusammenhang mit der preußischen ›Unionspolitik‹, die auf die Schaffung eines deutschen Nationalstaats unter Ausschluß Österreichs abzielte. Auf Druck von Rußland und Österreich und nach der Absage von Bayern und Württemberg, dem Bündnis beizutreten, verließen Sachsen und Hannover das ›Dreikönigsbündnis‹. +229 Am 29. November 1850 verzichtete Preußen in der ›Olmützer Punktation‹ unter russischem und österreichischem Druck auf die Fortsetzung seiner ›Unionspolitik‹ (vgl. Anm. +228) und stimmte der Wiederherstellung des Deutschen Bundes zu. +230 Otto Theodor von Manteuffel (1805-1882), preußischer Politiker. Im November 1848 wurde er Innenminister in der Regierung des Grafen Brandenburg, 1850-1858 Ministerpräsident. +231 Nach der Annexion Schleswigs durch Dänemark im März 1848

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(vgl. Anm. +107) rückten preußische Truppen im Auftrag des Deutschen Bundes in Schleswig ein und drangen bis Jütland vor. Auf englischen und russischen Druck mußte sich die preußische Armee jedoch schließlich zurückziehen (Friedensvertrag vom a. Juli 1850). Schleswig wurde Ende Juli 1850 dem Königreich Dänemark in Personalunion angegliedert, Holstein im Februar 1852. Gemeint ist die Mächtekonstellation während des Krimkrieges. Obwohl russische Truppen nur wenige Jahre zuvor Österreich im Kampf gegen die ungarische Revolutionsregierung unterstützt hatten (vgl. Anm. +22), ergriff Österreich während des Krimkrieges inoffiziell die Partei Englands und Frankreichs gegen Rußland. Prinz Wilhelm (vgl. Anm. +225) wurde aufgrund der Geisteskrankheit seines Bruders Friedrich Wilhelm IV. zuerst als dessen Stellvertreter (Oktober 1857), dann als Prinzregent (Oktober 1858) eingesetzt. Beim Tode Friedrich Wilhelms IV. am 2. Januar 1861 wurde er als Wilhelm I. preußischer König. Nach seiner Einsetzung als Prinzregent berief Wilhelm eine neue preußische Regierung und erklärte in einer ersten Ansprache an sie vom 8. November 1858, daß »von einem Bruche mit der Vergangenheit nun und nimmermehr die Rede sein soll. [...] Versprochenes muß man treu halten, ohne sich der bessernden Hand dabei zu entschlagen [...]. Wenn in allen Regierungshandlungen sich Wahrheit, Gesetzlichkeit und Konsequenz ausspricht, so ist ein Gouvernement stark, weil es ein reines Gewissen hat, und mit diesem hat man ein Recht, allem Bösen kräftig zu widerstehen.« (zitiert nach: Dokumente zur deutschen Verfassungsgeschichte. Herausgegeben von Ernst Rudolf Huber. Band 2:1851-1900. 3. Auflage. Verlag W. Kohlhammer, Stuttgart, Berlin, Köln, Mainz 1986, S. 35-36) Gemeint ist die preußische Verfassung vom 5. Dezember 1848, die ohne parlamentarische Mitwirkung vom König »oktroyiert« (dem Volk aufgezwungen) wurde. Karl Anton Fürst von Hohenzollern-Sigmaringen (1811-1885), 18481849 regierender Fürst, nach vertraglicher Abtretung seines Landes an Preußen Mitglied des preußischen Königshauses, 1858-1862 preußischer Ministerpräsident. Bakunin zitiert aus Jacobys Reden in der Königsberger Urwählerversammlung vom 10. und 11. November 1858 (Jacoby, II, S. 100-101). Bakunin zitiert aus Jacobys im Januar 1861 erschienenem Arti-

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kel ›Mahnruf an Preußens Vertreter‹: »Als im November 1858 der Prinz-Regent aus selbsteigenem Entschlusse die volle Leitung des Staats übernahm, gab man im ganzen Lande sich der Zuversicht hin: es werde Preußen fortan ungehemmt dem vorgesteckten Ziele entgegenschreiten. Man erwartete, die Männer, die der Regent in seinen Rath berief, würden vor Allem bestrebt sein, die entsittlichenden Wirkungen einer zehnjährigen Mißregierung zu beseitigen: sie würden [...] der Beamtenwillkür ein Ende machen, – den Gemeingeist, das patriotische Selbstgefühl des Bürgers auf's Neue erwecken und beleben. [...] Ist diese Hoffnung erfüllt? [...] Laut und vernehmbar spricht es die öffentliche Stimme des Landes aus: Preußen ist in diesen zwei Jahren seinem großen geschichtlichen Berufe – um keinen Schritt nähergerückt!« (Jacoby, II, S. 142-143) Im Original: партия прогрессистов (partija progressistov), gemeint ist die Deutsche Fortschrittspartei. Henri Charles de Bourbon, Duc de Bordeaux, Comte de Chambord (1820-1883), als »Heinrich V.« Thronanwärter der französischen Bourbonen, Enkel des 1830 gestürzten letzten Bourbonenkönigs Karl X., Kandidat der Legitimisten (vgl. Anm. +38) in der französischen Nationalversammlung beim Versuch der Wiederherstellung der Monarchie. Da sich die verschiedenen monarchistischen Strömungen nicht auf einen gemeinsamen Kandidaten einigen konnten, votierte die Mehrheit der Nationalversammlung in einer Abstimmung vom 29. November 1872 für die Republik. Bakunin zitiert wahrscheinlich aus Wilhelm Müllers Buch ›Geschichte der Neuesten Zeit 1816-1866‹ (siehe Anm. +123). Dort wird Bismarck so zitiert: »Seien sie versichert, wir werden unsererseits den Namen des Junkerthums noch zu Ehren und Ansehen bringen.« (Müller, S. 315) Carl Schurz (1829-1906), studierte Philosophie und Geschichte in Bonn, nahm 1848/1849 an der revolutionären Bewegung teil und flüchtete anschließend in die Schweiz. Im September 1852 emigrierte er in die Vereinigten Staaten, wo er zu einer einflußreichen politischen Figur wurde. Er nahm am Amerikanischen Bürgerkrieg teil, wurde Gesandter in Spanien, 1869-1875 Mitglied des amerikanischen Senats und 1877-1881 Innenminister.+243 Gottfried Kinkel (1815-1882), rheinischer Schriftsteller, Professor für Kunstgeschichte an der Universität Bonn und Präsident der dortigen demokratischen Vereinigung. Wegen seiner Teilnahme am pfälzisch-badischen Aufstand (1849) wurde er zu

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lebenslänglicher Festungshaft verurteilt, aber 1850 von seinem Schüler Carl Schurz befreit und flüchtete nach England. Von den Gesprächen mit Bismarck, die im Januar 1868 in Berlin stattfanden, berichtete Schurz in seinen Memoiren (vgl. Carl Schurz: Lebenserinnerungen. Band 2. Druck und Verlag von Georg Reimer, Berlin 1907, S. 488-501) sowie in Briefen aus Wiesbaden vom 3. Februar 1868 an seinen Schwager Hermann Meyer und vom 24. Februar an Gottfried Kinkel (ebd., Band 3, Berlin 1912, S. 300-305). Bismarck, geboren 1815, aus einer altmärkischen Adelsfamilie. 1832-1835 Jurastudium in Göttingen und Berlin, anschließend Beginn einer diplomatischen Karriere, 1839 Austritt aus dem Staatsdienst und Rückkehr auf die pommerschen Familiengüter. Ab Mai 1847 konservativer Abgeordneter im preußischen Landtag, 18511859 preußischer Gesandter beim Deutschen Bund in Frankfurt. 1859-1862 Gesandter in Rußland; von Juni bis September 1862 Gesandter in Frankreich. Am 23. September 1862 wurde er zum preußischen Ministerpräsidenten ernannt. Die Neue Preußische Zeitung (wegen des auf der Titelseite abgebildeten Eisernen Kreuzes auch ›Kreuzzeitung‹ genannt) wurde im Juni 1848 von Hermann Wagener in Berlin als Organ der konservativen preußischen Aristokratie gegründet. Bakunin zitiert wahrscheinlich aus Wilhelm Müllers Buch ›Geschichte der Neuesten Zeit 1816-1866‹ (siehe Anm. +123). Dort heißt es: »›Wie Schuppen fiel es mir von den Augen‹, äußerte er selbst und trat nun als offener und geheimer Gegner Österreichs auf, nachdem er bisher in junkerlicher Manier sich in Lobreden über diesen Staat ergossen hatte.« (Müller, S. 315) Eine Woche nach seiner Ernennung zum Ministerpräsidenten erklärte Bismarck am 30. September 1862 vor der Budgetkommission des preußischen Abgeordnetenhauses: »Preußen muß seine Kraft zusammenfassen und zusammenhalten auf den günstigen Augenblick, der schon einige Male verpaßt ist; Preußens Grenzen nach den Wiener Verträgen sind zu einem gesunden Staatsleben nicht günstig; nicht durch Reden und Majoritätsbeschlüsse werden die großen Fragen der Zeit entschieden – das ist der Fehler von 1848 und 1849 gewesen – sondern durch Eisen und Blut.« (Die politischen Reden des Fürsten Bismarck. Historisch-kritische Gesammtausgabe. Herausgegeben von Horst Kohl. Band 2: 1862-1865. Verlag der I. G. Cotta'schen Buchhandlung Nachfolger, Stuttgart 1892, S. 29-30; Bakunin zitiert wahrscheinlich nach Müller, S. 315-316)

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In derselben Sitzung hatte Bismarck über den Verfassungskonflikt ausgeführt: »[...] eine Verfassung werde gegeben nicht als etwas Todtes, wohl aber erst zu Belebendes; diese Praxis zu übereilen, sei nicht räthlich; dann werde die Rechtsfrage leicht zur Machtfrage.« (ebd., S. 25) Zum selben Thema äußerte in der Sitzung vom 27. Januar 1863 der Abgeordnete Graf von Schwerin unter Hinweis auf eine Ankündigung der Regierung, mit allen Mitteln die Rechte des Königs aufrecht erhalten zu wollen: »Ich zweifle daran nicht, daß dies die Absicht ist, meine Herren, aber ich glaube, man sollte auch uns zutrauen, daß wir diese Rechte zu wahren entschlossen sind, deshalb aber eben erkläre ich, daß ich den Satz, in dem die Rede des Herrn Ministerpräsidenten [Bismarck] culminirte: ›Macht geht vor Recht, sprecht Ihr, was Ihr wollt, wir haben die Macht, und also werden wir unsere Theorie durchführen‹, nicht für einen Satz halte, der die Dynastie in Preußen auf die Dauer stützen kann [...].« (ebd., S. 86) Bismarck erklärte daraufhin, »daß ein Mißverständniß meiner Worte stattgefunden hat, (Widerspruch.) welches dem Herrn Redner zu einer warmen und ihres Beifalls sicheren Erwiderung Veranlassung gegeben hat. [...] Ich erinnere mich einer solchen Äußerung in der That nicht, (Lebhafter Widerspruch.) und trotz der ungläubigen Außerung, mit der Sie meine Rectification aufnehmen, appellire ich doch an Ihr eigenes Gedächtniß und wenn es so sicher ist, wie mein eigenes, so wird es Ihnen sagen, daß ich einfach Folgendes äußerte: Ich habe zu einem Compromiß gerathen, weil in Ermangelung eines Compromisses sich Conflicte einstellen müssen, Conflicte aber zur Machtfrage werden, und daß, da das Staatsleben nicht einen Augenblick stille stehen kann, derjenige, der im Besitz der Macht sich befindet, daher genöthigt ist, sie zu brauchen. (Große Unruhe.).« (ebd., S. 87) +249 Durch ein Verfassungsdokument vom November 1863 wurde Schleswig, das bisher vom dänischen König nur in Personalunion regiert wurde (vgl. Anm. +231), vollständig ins Königreich Dänemark integriert. Auf Beschluß des Deutschen Bundes wurde daraufhin im Dezember 1863 Holstein von sächsischen und hannoveranischen Truppen besetzt. Im Januar 1864 zogen Preußen und Österreich den Konflikt an sich, schickten die sächsisch-hannoveranischen Kontingente nach Hause und eroberten Schleswig-Holstein mit eigenen Truppen. Im Vertrag von Gastein (August 1865) wurde Schleswig als preußischer Besitz, Hol-

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stein als österreichischer Besitz festgeschrieben. +250 Preußisch-österreichischer Krieg (1866): Vor dem Hintergrund der Rivalität zwischen Preußen und Österreich um die Vorherrschaft in Deutschland bildeten die Auseinandersetzungen der beiden Mächte um Schleswig-Holstein und eine Reform des Deutschen Bundes den näheren Konfliktanlaß. Nach mehreren Vorgefechten fiel die militärische Entscheidung am 3. Juli 1866 durch einen Sieg preußischer Truppen über das österreichische Hauptheer bei Königgrätz in Böhmen. Preußen annektierte daraufhin das Königreich Hannover, die Herzogtümer Holstein und Nassau, das Kurfürstentum Hessen-Kassel und die freie Stadt Frankfurt am Main. Der Ausgang des Krieges führte zur Auflösung des Deutschen Bundes, zum Ausscheiden Österreichs aus Deutschland und zur Gründung des ›Norddeutschen Bundes‹, in dem Preußen durch den vom preußischen König ernannten Bundeskanzler (Bismarck) das Präsidium führte. +251 Rudolf Virchow (1821-1902), berühmter Pathologe und Entdecker der Zellularpathologie. Als Mitbegründer und Abgeordneter (ab 1862) der Deutschen Fortschrittspartei gehörte er zu den entschiedensten Gegnern Bismarcks im preußischen Abgeordnetenhaus; 1880 wurde er als Abgeordneter in den Reichstag gewählt. Franz Hermann Schulze-Delitzsch (1808-1883), deutscher Ökonom und Politiker, befürwortete die Bildung von Kredit-, Konsum- und Produktionsgenossenschaften nach dem Grundsatz der kollektiven Selbsthilfe. Ab 1861 war er Mitglied des preußischen Abgeordnetenhauses und einer der Führer der Deutschen Fortschrittspartei. +252 Die Volkspartei entstand aus einer gegen die preußische Großmachtpolitik gerichteten demokratischen Sammlungsbewegung während der Jahre 1863-1866. Die locker organisierte Partei hatte vor allem in Mittel- und Südwestdeutschland ihre wichtigsten Stützpunkte, weshalb Bakunin von den »bourgeoisen Schwaben der ›Volkspartei‹« spricht (siehe vorliegenden Band, S. 351). Im September 1868 wurde in Stuttgart eine Vereinigungskonferenz der verschiedenen Zweige der Partei abgehalten und die Deutsche Volkspartei gegründet. +253 Die Initiative zur Einberufung eines Friedenskongresses hatte zuerst Evariste Mangin in einem Artikel in Le Phare de la Loire vom 5. Mai 1867 ergriffen. Die Idee erregte unter den europäischen Demokraten großes Aufsehen. Vorbereitungskomitees in Paris und Genf erarbeiteten das Programm des Kongresses, der

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vom 9. bis 12. September 1867 in Genf stattfand und auf dem die Friedens- und Freiheitsliga gegründet wurde. Zusammen mit Garibaldi gehörte Bakunin zu den prominentesten Teilnehmern des Kongresses. Unter den deutschen Teilnehmern war Johann Jacoby der bekannteste; ansonsten nahmen teil August Ladendorf, Ludwig Büchner, Karl Grün, Amandus Goegg, Friedrich Beust, alles Delegierte der demokratischen Bewegung Süddeutschlands und Mitglieder der Volkspartei. Am 2. Kongreß der Friedens- und Freiheitsliga, der vom 22. Bis 26. September 1868 in Bern stattfand, nahmen 220 Delegierte teil, darunter 96 Schweizer, 41 Franzosen, 29 Deutsche, 15 Russen und g Italiener. Zu den deutschen Delegierten gehörten die süddeutschen Demokraten und Mitglieder der Volkspartei Jules Hausmann, Amandus Goegg, August Ladendorf, Friedrich Beust und Adolf Kröber. Letzterer war von der bayerischen Volkspartei, dem ›Deutschen Volksverein‹ aus Heidelberg und dem Nürnberger Kongreß des ›Verbandes der deutschen Arbeitervereine‹ (VDAV) delegiert worden. Zu dem Konflikt auf dem Berner Kongreß, auf den Bakunin anspielt, siehe vorliegenden Band, S. 351 und Anm. +288. Bakunin verwechselt hier die ›Sozialdemokratische Arbeiterpartei‹ mit dem ›Allgemeinen Deutschen Arbeiterverein‹ (vgl. Anm. +205). Gemeint ist der ›Vereinstag‹ später ›Verband deutscher Arbeitervereine‹ (VDAV), der im Juni 1863 als Vereinigung der Arbeiterbildungsvereine in Frankfurt am Main gegründet wurde (kurz nach dem ›Allgemeinen Deutsche Arbeiterverein‹ Lassalles, vgl. Anm. +205). Die Diskussionen innerhalb des VDAV waren zunächst noch von den Ideen Hermann Schulze-Delitzsch' geprägt, dann aber entwickelte sich die Organisation unter dem Einfluß von Bebel (seit 1867 Vorsitzender des VDAV) und Liebknecht zur Internationale hin und löste sich auf dem Eisenacher Kongreß (August 1869) in die Sozialdemokratische Arbeiterpartei auf. Gemeint ist der am 23. Mai 1863 in Leipzig gegründete ›Allgemeine Deutsche Arbeiterverein‹, zu dessen erstem Präsidenten Lassalle gewählt wurde, der auch das Gründungsprogramm entworfen hatte (vgl. Anm. +205). Im Original deutsch. Die Deutsche Fortschrittspartei entstand 1861 im preußischen Abgeordnetenhaus aus einem Zusammenschluß von Demokraten der 1848er-Revolution und liberalen Abgeordneten und trat

für die Vereinigung eines demokratischen und parlamentarischen Deutschlands unter preußischer Zentralgewalt ein. Bis 1866 bekämpfte sie die Politik Bismarcks, nach dem preußisch-österreichischen Krieg (vgl. Anm. +250) spaltete sich jedoch ein Teil ihrer Abgeordneten ab und gründete im Folgejahr die Nationalliberale Partei, die zur parlamentarischen Stütze Bismarcks wurde. +260 Bakunin spielt hier auf die in Lassalles ›Offenem Antwortschreiben‹ (vgl. Anm. +205) entwickelte Theorie des »ehernen Lohngesetzes« an, demzufolge im kapitalistischen System die Werktätigen durchschnittlich immer nur soviel Lohn erhalten, wie sie als Existenzminimum benötigen (vgl. auch Schriften, I, S. 140-141). Die Löhne drohen danach auf lange Sicht sogar zu sinken, da die Zahl der Arbeiter weiterhin etwas schneller ansteigen werde als die Nachfrage nach Arbeit. Auch die von Schulze-Delitzsch geförderten Arbeiter-Konsumgenossenschaften könnten nach Lassalle angesichts des »ehernen Lohngesetzes« keine Abhilfe schaffen, da sie das in der Natur des Kapitalismus liegende Elend der Volksmassen nur in Einzelfällen und punktuell ändern könnten. Lassalle zufolge sei eine Verbesserung der Lage der Arbeiter somit innerhalb der gegenwärtig bestehenden bürgerlichen Wirtschafts- und Staatsordnung grundsätzlich nicht möglich. Während Bakunin als Konsequenz daraus zur Beseitigung der herrschenden staatlichen und ökonomischen Ordnung aufrief, forderte Lassalle im ›Offenem Antwortschreiben‹ das Eingreifen des Staates zur Verbesserung der Lebensbedingungen des Proletariats, indem dieser durch Kredite die genossenschaftliche Organisation des gesamten Arbeiterstandes fördern sollte. Zur Erreichung dieses Ziels sollten die Arbeiter den Staat über das allgemeine und direkte Wahlrecht dazu zwingen, sich der Sache des Proletariats anzunehmen. Der Arbeiterstand müsse sich demzufolge nach Lassalle »als selbständige politische Partei konstituieren und das allgemeine, gleiche und direkte Wahlrecht zu dem prinzipiellen Losungswort und Banner dieser Partei machen. Die Vertretung des Arbeiterstandes in den gesetzgebenden Körpern Deutschlands – dies ist es allein, was in politischer Hinsicht seine legitimen Interessen befriedigen kann. Eine friedliche und gesetzliche Agitation hierfür mit allen gesetzlichen Mitteln zu eröffnen, das ist und muß in politischer Hinsicht das Programm der Arbeiterpartei sein.« (Lassalle, a.a.O. ❲Anm. +207❳, Band 3, S. 47) +261 Anspielung auf die Zurückweisung der Marschen Politik nach

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dem Haager Kongreß durch fast alle Föderationen der Internationale (siehe Anm. +72). Gemeint ist die von Marx verfaßte ›Inauguraladresse‹ der Internationale, aus der Bakunin im Folgenden zitiert. Sie erschien zuerst in The Bee-Hive Newspaper, London, Nr. 160, 5. November 1864, unter dem Titel ›Address of the Working Men's International Association‹ (Nachdruck in MEGA, I 20, S. 3-12; dt. ebd., S. 16-25, hier S. 24). In der deutschen Originalfassung: »Wir sahen schon oben, daß der erste Schritt in der Arbeiterrevolution die Erhebung des Proletariats zur herrschenden Klasse, die Erkämpfung der Demokratie ist. Das Proletariat wird seine politische Herrschaft dazu benutzen, der Bourgeoisie nach und nach alles Kapital zu entreißen, alle Produktionsinstrumente in den Händen des Staats, d.h. des als herrschende Klasse organisierten Proletariats, zu zentralisieren und die Masse der Produktionskräfte möglichst rasch zu vermehren.« (MEW, Band 4, S. 481) Bakunin benutzt an dieser Stelle nicht die erste russische Ausgabe des Kommunistischen Manifests (Manifest' Kommunističeskoj Parti. [Imp. Czerniecki], o.O. [Genf] o.J. [1869]. 23 S.), als deren Übersetzer Bakunin zu Unrecht gelegentlich bezeichnet worden ist (vgl. Archives, IV, S. XXVII-XXIX). Die gegen Schulze-Delitzsch gerichtete Schrift Lassalles hatte den Titel ›Herr Bastiat-Schulze von Delitzsch, der ökonomische Julian, oder: Capital und Arbeit‹ (1864). Im dritten Kapitel dieses Werkes (›Tausch, Wert und freie Konkurrenz‹) schrieb Lassalle: »Und sehen Sie, Herr Schulze, was ich Ihnen hier zuletzt entwickelt habe, über das Geld, wie über die gesellschaftliche Bedeutung der Arbeitszeit als Maßeinheit des Wertes, – das ist alles seiner geistigen Grundlage nach vollständig entnommen und nur der gedrängte Gedankenextrakt [...] aus der vortrefflichen und epochemachenden Schrift von Karl Marx nämlich: ›Zur Kritik der politischen Ökonomie‹.« (Lassalle, a.a.O. ❲Anm. +207❳, Band 5, S. 219-220). Diesem Satz hatte Lassalle die folgende Fußnote hinzugefügt: »Leider ist von diesem ausgezeichneten Werke vorläufig nur das ›die Ware‹ und ›das Geld‹ behandelnde erste Heft erschienen.« (ebd., S. 220) Im Vorwort zum ersten Band des ›Kapitals‹, an dessen Übersetzung ins Russische Bakunin von Dezember 1868 bis Januar 1869 gearbeitet hatte, fügte Marx bei dem Satz »Was nun näher die Analyse der Werthsubstanz und der Werthgröße betrifft, so habe ich sie möglichst popularisirt« folgende Fußnote ein: »Es

schien dieß um so nötiger, als selbst der Abschnitt von F. Lassalle's Schrift gegen Schultze-Delitzsch, worin er ›die geistige Quintessenz‹ meiner Entwicklung über jene Themata zu geben erklärt, bedeutende Mißverständnisse enthält. En passant. Wenn F. Lassalle die sämmtlichen allgemeinen theoretischen Sätze seiner ökonomischen Arbeiten, z.B. über den historischen Charakter des Kapitals, über den Zusammenhang zwischen Produktionsverhältnissen und Produktionsweise u.s.w. u.s.w. fast wörtlich, bis auf die von mir geschaffene Terminologie hinab, aus meinen Schriften entlehnt hat, und zwar ohne Quellenangabe, so war dieß Verfahren wohl durch Propagandarücksichten bestimmt. Ich spreche natürlich nicht von seinen Detailausführungen und Nutzanwendungen, mit denen ich nichts zu thun habe.« (MEGA, II 5, S. 11) Lassalle hat übrigens nicht vergessen darauf hinzuweisen, daß er seine ökonomischen Vorstellungen von Marx übernommen hat (siehe Anm. +264). Eduard Bernstein rechtfertigte die Erklärung von Marx damit, »daß sachlich Marx in seinem Rechte war, wenn er ein erheblich größeres Quantum geistiger Arbeit für sich reklamierte, als Lassalle im angegebenen Kapitel quittiert hat.« Man dürfe nicht vergessen, fügte Bernstein hinzu, daß zu der Zeit, als Marx das Vorwort zum ›Kapital‹ schrieb, die von Lassalle eingeschlagene Taktik als vom sozialdemokratischen Standpunkt aus einzig berechtigte galt. Mit vollem Recht erklärte also Marx, daß die Nutzanwendungen, die Lassalle aus seinen theoretischen Prinzipien abgeleitet hatte, nicht seine eigenen seien (vgl. Lassalle, a.a.O. ❲Anm. +207❳, Band 5, Vorbemerkung, S. 15-16). Hermann Oncken, der Biograph Lassalles, schrieb zu dieser Frage: »Man kann Marx das Recht nicht bestreiten, Lassalle gegenüber die Priorität seiner originalen geistigen Arbeit nachdrücklich zu wahren, und auch in dem besonderen Fall, in dem jener sich auf ihn berufen hatte, war er im Recht, aber seine Schärfe wurde dem anderen [Lassalle] keineswegs gerecht: sie spiegelt das nagende Gefühl einer historischen Rivalitätsstellung wider, das seit dem Frühjahr 1863 den einsam ringenden Denker [Marx] beherrschte.« (Hermann Oncken: Lassalle. Zwischen Marx und Bismarck. 5. Auflage, herausgegeben von Felix Hirsch. W. Kohlhammer, Stuttgart, Berlin, Köln, Mainz 1966, S. 335) +266 Marx und Engels haben oft von der Anarchie gesprochen, die der Phase der Diktatur folgen sollte, und oft die sozialistische Gesellschaft als eine klassenlose Gesellschaft definiert, folglich

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ohne ›politische Macht‹ und ohne Staat. 1847 schrieb Marx: »Die arbeitende Klasse wird im Laufe der Entwicklung an die Stelle der alten bürgerlichen Gesellschaft eine Assoziation setzen, welche die Klassen und ihren Gegensatz ausschließt, und es wird keine eigentliche politische Gewalt mehr geben, weil gerade die politische Gewalt der offizielle Ausdruck des Klassengegensatzes innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft ist.« (MEW, Band 4, S. 182) Im ›Kommunistischen Manifest‹ heißt es: »Sind im Laufe der Entwicklung die Klassenunterschiede verschwunden und ist alle Produktion in den Händen der assozierten Individuen konzentriert, so verliert die öffentliche Gewalt den politischen Charakter.« (ebd., Band 4, S. 482) In ›Die angeblichen Spaltungen in der Internationale‹ (1872) schrieben Marx und Engels: »Alle Sozialisten verstehen unter Anarchie dieses: Ist einmal das Ziel der proletarischen Bewegung, die Abschaffung der Klassen erreicht, so verschwindet die Gewalt des Staates, welche dazu dient, die große produzierende Mehrheit unter dem Joche einer wenig zahlreichen ausbeutenden Minderheit zu halten, und die Regierungsfunktionen verwandeln sich in einfache Verwaltungsfunktionen.« (ebd., Band 18, S. 50) Marx und Engels glaubten, daß die Abschaffung des Staates sich aus der Eroberung der politischen Macht ergeben würde, derer man sich bedienen müsse, um nach und nach der Bourgeoisie alles Kapital zu entreißen und um in den Händen des Staates, d.h. des als herrschenden Klasse konstituierten Proletariats die Produktionsmittel zu zentralisieren (ebd., Band 4, S. 481482). 1850 schrieb Marx von der »Klassendictatur des Proletariats als nothwendigem Durchgangspunkt zur Abschaffung der Klassenunterschiede überhaupt« (MEGA, I 10, S. 192). In dem Artikel, ›Nachtrag über Proudhon und die Wohnungsfrage‹ (1873), wo Engels gegen den deutschen Proudhonisten Arthur Mülberger polemisiert, spricht er von »Anschauungen des deutschen wissenschaftlichen Sozialismus von der Notwendigkeit der politischen Aktion des Proletariats und seiner Diktatur als Uebergang zur Abschaffung der Klassen und, mit ihnen, des Staats – wie solche bereits im kommunistischen Manifest und seitdem unzählige Male ausgesprochen worden.« (MEGA, I 24, S. 62) +267 Lassalles Kontakte mit Bismarck bestanden aus mehreren persönlichen Gesprächen – zwischen Mai 1863 und etwa Januar 1864 – und einem 21 Schriftstücke (und Anlagen) umfassenden Briefwechsel mit Bismarck sowie mit Bismarcks Beratern Zitelmann und von Keudell (Erstveröffentlichung durch Gustav

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Mayer: Bismarck und Lassalle. Ihr Briefwechsel und ihre Gespräche. Verlag J. H. W. Dietz Nachf., o.O. 1928, S. 59-108). Bezugspunkt für diese prophetischen Äußerungen Bakunins waren möglicherweise die im ›Kommunistischen Manifest‹ vorgeschlagenen Maßnahmen, wie zum Beispiel »Zentralisation des Kredits in den Händen des Staats durch eine Nationalbank mit Staatskapital und ausschließlichem Monopol«, »Zentralisation des Transportwesens in den Händen des Staats«, »Gleicher Arbeitszwang für alle« und »Errichtung industrieller Armeen, besonders für den Ackerbau« (MEW, Band 4, S. 481). Nicht im ›Kommunistischen Manifest‹ wie Bakunin schreibt, sondern in der ›Inauguraladresse‹ von 1864 sprach Marx von ArbeiterProduktionsgenossenschaften: »Um die arbeitenden Massen zu befreien, bedarf das Cooperativsystem der Entwicklung auf nationaler Stufenleiter und der Förderung durch nationale Mittel.« (MEGA, I 20, S. 24) Hauptpunkt der Unterhandlungen Lassalles mit Bismarck (vgl. Anm. +267) bildete die Einführung des allgemeinen Wahlrechts anstelle des geltenden Dreiklassenwahlrechts. Zu Lassalles Forderung nach staatlichem Kredit für Arbeiterproduktionsgenossenschaften vgl. Anm. +260. Lassalle starb, 39 Jahre alt, am 31. August 1864 in Genf, drei Tage nachdem er bei einem Duell schwer verletzt worden war. Gemeint ist der ›Verband Deutscher Arbeitervereine‹ (VDAV) (vgl. Anm. +256). Gemeint ist die Sozialdemokratische Arbeiterpartei, die unter maßgeblichem Einfluß von Bebel und Liebknecht auf dem Eisenacher Kongreß (August 1869) gegründet wurde. Erst nach dem Nürnberger Kongreß des ›Verbandes Deutscher Arbeitervereine‹ (VDAV) (vgl. Anm. +34) begannen die Vorbereitungen zur Gründung der Sozialdemokratische Arbeiterpartei. Im Sommer 1869 gelang es Bebel und Liebknecht eine Reihe von einflußreichen Mitgliedern des konkurrierenden ›Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins‹ (vgl. Anm. +205) auf ihre Seite hinüberzuziehen und einigten sich mit ihnen auf eine gemeinsame Organisation »der sozialdemokratischen Arbeiter Deutschlands«. Der VDAV löste sich daraufhin anläßlich seines nächsten Kongresses vom 7. bis 9. August 1869 in Eisenach in die Sozialdemokratische Arbeiterpartei auf. Eine gegnerische Minderheit, die den VDAV fortsetzte, spielte nur eine unbedeutende Rolle. Bakunin bezieht sich auf Artikel II.6 des Eisenacher Programms: »In Erwägung, daß die Befreiung der Arbeit weder eine lokale noch

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nationale, sondern eine soziale Aufgabe ist, welche alle Länder, in denen es moderne Gesellschaft gibt, umfaßt, betrachtet sich die sozial-demokratische Arbeiter-Partei soweit es die Vereinsgesetze gestatten, als Zweig der Internationalen Arbeiterassoziation, sich deren Bestrebungen anschließend.« (Programm und Statuten der sozial-demokratischen Arbeiter-Partei. In: Demokratisches Wochenblatt, Leipzig, Nr. 33, 14. August 1869, S. 374) +275 Bakunin bezeichnet mit den Worten »das Programm von Marx« oder »deutsches Programm« (siehe Anm. +72) die Theorie von der Eroberung der politischen Macht durch die Arbeiterklasse. Auf dem 1. Kongreß der Internationale (Genf, September 1866) wurde nicht über dieses »Programm« abgestimmt, sondern über die von Marx abgefaßten Provisorischen Statuten der Internationale (Text siehe MEGA, I 20, S. 13-15, dt. S. 54-56), die vom Kongreß mit wenigen Zusätzen und Änderungen bestätigt wurden. Bakunin bezieht sich wahrscheinlich auf die ebenfalls von Marx im Namen des provisorischen Generalrates geschriebene ›Inauguraladresse‹, die den Satz enthält: »Politische Macht zu erobern, ist daher jetzt die große Pflicht der Arbeiterklassen.« (vgl. vorliegenden Band, S. 335 und Anm. +262). Auch in seinem ,Lettre à 'La Liberté hatte Bakunin bereits geschrieben, daß der Genfer Kongreß diesen »Hauptpunkt« der Staatssozialisten aus dem Programm der Internationale gestrichen habe (vgl. Werke, III, S. 241). Die ›Inauguraladresse‹ hat jedoch niemals einem Kongreß der Internationale zur Abstimmung vorgelegen; erst auf der Londoner Konferenz (September 1871) wurde die Frage »der Eroberung der politischen Macht« zum ersten Mal diskutiert. +276 In Artikel I des Eisenacher Programms hieß es: »Die sozialdemokratische Arbeiter-Partei erstrebt die Errichtung des freien Volksstaats.« (Programm und Statuten der sozial-demokratischen Arbeiter-Partei, a.a.O. ❲Anm. +274❳, S. 374). Die Formulierung »Eroberung der politischen Macht als nächstem und unmittelbarstem Ziel« ist im Eisenacher Programm nicht enthalten. +277 Bakunin bezieht sich auf Artikel II.4 des Eisenacher Programms: »Die politische Freiheit ist die unentbehrlichste Vorbedingung zur ökonomischen Befreiung der arbeitenden Klassen. Die soziale Frage ist mithin untrennbar von der politischen, ihre Lösung durch diese bedingt und nur möglich im demokratischen Staat.« (ebd.)

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+278 Gemeint ist die Vereinigungskonferenz der Deutschen Volkspartei in Stuttgart am 20. September 1868. Unter anderem aufgrund der Ereignisse auf der Wiener Volksversammlung (siehe Anm. +33) schien es der Mehrzahl der Delegierten ratsam, eine engere programmatische Verbindung zur Arbeiterbewegung herzustellen. Mit 35 gegen 2 Stimmen erklärte daher die Konferenz ihren Anschluß an die Beschlüsse des Nürnberger Kongresses des ›Verbandes deutscher Arbeitervereine‹ (VDAV) (siehe Anm. +34), der auch eine Delegation zur Stuttgarter Konferenz entsandt hatte. +279 Der 2. Kongreß der Friedens- und Freiheitsliga fand vom 22. bis 26. September 1868 in Bern statt. +280 Verallgemeinernd versteht Bakunin unter »Partei der sogenannten Allianz« oder »Anhänger der Allianz« die Mitglieder der ›Fraternité‹, die 1866 von ihm begründet worden war. Mehrere Mitglieder dieser geheimen Organisation nahmen am Berner Kongreß teil und gehörten zu den russischen, polnischen, italienischen und französischen Sektionen dieses Kongresses. +281 Der Sammelband ›Die Historische Entwicklung der Internationale‹ wurde als Band 2 der Reihe ›Veröffentlichungen der Sozial-Revolutionären Partei‹ von der Russischen Druckerei in Zürich publiziert und erschien im August 1873 (vgl. die Einleitung in vorliegendem Band, S. 37-38 und 43). Auf den Seiten 301-365 des Sammelbandes, auf die Bakunin hier verweist, befinden sich sein Artikel ›Die Internationale Allianz der Sozial-Revolutionäre‹ und seine Reden auf dem 2. Kongreß der Friedens- und Freiheitsliga in Bern. +282 Der Berner Kongreß der Friedens- und Freiheitsliga diskutierte am 23. September 1868 die Frage: »In welchen Beziehungen steht die ökonomische oder sociale Frage zu derjenigen des Friedens durch die Freiheit?« Diese Frage war auf Antrag Bakunins vom ›Comité central permanent‹ der Liga als 2. Tagesordnungspunkt in das Programm des Kongresses aufgenommen worden. Bakunin schlug folgende Resolution vor: »In Erwägung, dass die Frage, welche sich uns in der am meisten gebieterischen Form aufdrängt, diejenige der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Ausgleichung der Klassen und der Individuen ist, erklärt der Kongress, dass ausserhalb dieser Ausgleichung, d.h. ausserhalb der Gerechtigkeit, die Freiheit und der Frieden nicht verwirklicht werden können. Infolge dessen setzt der Kongress das Studium der praktischen Mittel zur Lösung dieser Frage auf die Tagesordnung.« (Stenographisches Bulletin

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des zweiten Friedens- und Freiheits-Kongresses, Bern, Nr. 2, 23. September 1869, S. 91) Das Zitat ist ein Resümee der beiden Reden Bakunins während der Kongreßsitzung vom 23. September 1868. Die Reden wurden später in russischer Übersetzung in den Sammelband ›Die Historische Entwicklung der Internationale‹ aufgenommen (vgl. Anm. +281). Nach dieser russischen Ausgabe wurden die beiden Reden im Briefwechsel, S. 314-315, auszugsweise ins Deutsche übersetzt. Amandus Goegg (1820-1897), deutscher Demokrat, nahm 1849 an der Revolution im Großherzogtum Baden teil und gehörte als Finanzminister der Provisorischen Regierung an. Nach der Niederschlagung der revolutionären Bewegung emigrierte er in die Schweiz. Als Delegierter der deutschen Arbeiterbildungsvereine in der Schweiz unterstützte er Liebknecht auf dem 4. Kongreß der Internationale (Basel, September 1869) in der Frage der ›direkten Gesetzgebung‹. Goegg nahm an den Kongressen und Konferenzen der Friedens- und Freiheitsliga von 1867 bis 1871 und 1873 teil, war 1870 Vizepräsident der Liga, Redakteur ihres Organs Les États-Unis d'Europe und gehörte dem Zentralkomitee der Volkspartei an. Charles Lemonnier (1806-1891), französischer Demokrat, Anhänger des Saint-Simonismus, Herausgeber der ›Œuvres choisies de SaintSimon‹ (3 Bände, Brüssel 1859). Lemonnier gehörte zu den Organisatoren des 1. Kongresses der Friedens- und Freiheitsliga (1867) und zu ihren einflußreichsten Mitgliedern. Sowohl der Nürnberger Kongreß des ›Verbandes deutscher Arbeitervereine‹ (VDAV) als auch die Stuttgarter Konferenz der Deutschen Volkspartei hatten Delegierte zum 2. Kongreß der Friedens- und Freiheitsliga in Bern entsandt. Bakunin verwechselt hier erneut den Nürnberger Kongreß des VDAV (September 1868) mit dem Eisenacher Gründungskongreß der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei vom August 1869 (vgl. Anm. +34 und +273). Das Abstimmungsergebnis zum 2. Tagesordnungspunkt des Kongresses (»In welchen Beziehungen steht die ökonomische oder sociale Frage zu derjenigen des Friedens durch die Freiheit?«) wurde am 24. September 1868 bekanntgegeben. Die Abstimmung war nach Nationalitäten erfolgt. Bakunins Resolutionsentwurf (siehe Anm. +282) wurde mit 4 (Polen, Rußland, Italien, USA) gegen 7 Stimmen (Spanien, Schweden, Mexiko, Frankreich, Deutschland, Schweiz, England) abgelehnt und statt dessen ein von den deutschen Delegierten ausgearbeiteter

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Resolutionsentwurf angenommen. Am 25. September 1868 traten daraufhin Bakunin und 17 weitere Teilnehmer des Kongresses unter Verlesung einer Protesterklärung (siehe Guillaume: L'Internationale, I, S. 75) aus der Liga aus. Der 3. Kongreß der Internationale fand vom 6. bis 13. September 1868 in Brüssel statt. Die Mehrheit des Brüsseler Kongresses lehnte eine von Gustav Vogt, dem Präsidenten der Liga, brieflich ausgesprochene Einladung zur Zusammenarbeit von Liga und Internationale ab. Zur Begründung hieß es »Daß die Delegirten der Internationalen der Meinung sind, daß die Friedens- und Freiheitsliga keinen vernünftigen Grund hat, neben dem Werke des Internationalen Arbeiterbundes zu existiren, und laden daher die Liga ein, sich anzuschließen und den Beitritt ihrer Mitglieder an eine oder die andere Sektion der Internationalen zu veranlaßen« (Der Vorbote. Politische und sozial-ökonomische Monatsschrift. Zentral-Organ der Sektionsgruppe deutscher Sprache der Internationalen Arbeiterassociation, Genf, 4. Jg., Nr. 2, Februar 1869, S. 24). Nur drei Delegierte hatten gegen diesen Beschluß gestimmt. Die Delegierten, die in Bern mit der Mehrheit stimmten, standen nicht unter dem Einfluß von Marx und können auch nicht als Marxisten bezeichnet werden. Der Volksstaat. Organ der sozial-demokratischen Arbeiterpartei und der Gewerksgenossenschaften, erschien seit 1869 in Leipzig unter der Redaktion von Liebknecht. Der Volksstaat druckte Dokumente der Friedens- und Freiheitsliga ab (unter anderem in Nr. 1 ❲2. Oktober 1869❳, Nr. 59 ❲23. Juli 1870❳, Nr. 74 ❲14. September 1870❳ und Nr. 79 ❲1. Oktober 1870❳) und einen Artikel von Amandus Goegg (in Nr. 3 ❲9. Oktober 1869❳) über seine Tätigkeit auf dem Kongreß der Liga in Lausanne (1869). Von den 78 Delegierten des Basler Kongresses kamen sieben direkt aus Deutschland (Spier, Rittinghausen, Liebknecht, Krieger, Bracke, Scherrer, Burger), fünf weitere Delegierte hatten ein Mandat von deutschen Sektionen der Internationale (Hess, Jannasch, Becker, Bastin, Lessner). Auf dem Brüsseler Kongreß der Internationale (1868) hatten insgesamt fünf Delegierte ein Mandat aus Deutschland. Anspielung auf das schlechte Abschneiden eines von Marx abgefaßten Resolutionsentwurfs zur Frage des Erbrechts während des Basler Kongresses. Bakunin hatte im Auftrag der Genfer Sektionen der Internationale einen Resolutionsentwurf verfaßt (siehe Werke, II, S. 128), in der die völlige Abschaffung des Erb-

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rechts gefordert wurde (zum Hintergrund vgl. Arnold Künzli: Mein und Dein. Zur Ideengeschichte der Eigentumsfeindschaft. Bund-Verlag, Köln 1986, S. 514-517). Marx legte dazu eine Gegenresolution des Generalrats vor (MEW, Band 16, S. 367-369), in der er erklärte, die Erbschaftsgesetze seien nicht die Ursache, sondern die juristische Folge der bestehenden Ökonomischen Organisation der Gesellschaft und würden mit der Aufhebung des Privateigentums an Produktionsmitteln von selbst verschwinden. Bis dahin seien nur Übergangsmaßregeln notwendig, wie Erhöhung der Erbschaftssteuern und Beschränkung des Erbschaftsrechts. Marx' Resolution wurde in der Kongreßsitzung vom 11. September 1869 von Johann Georg Eccarius verlesen und mit 19 gegen 37 Stimmen bei 6 Enthaltungen und 13 Abwesenden mehrheitlich abgelehnt. Bakunins Resolutionsentwurf, den sich die vom Kongreß gebildete Kommission zur Frage des Erbrechts mit geringen Änderungen zu eigen gemacht hatte, wurde mit 32 gegen 23 Stimmen bei 13 Enthaltungen und 7 Abwesenden mehrheitlich angenommen. Beide Resolutionen erreichten jedoch nicht die zur beschlußfähigen Annahme oder Ablehnung erforderliche absolute Mehrheit der abgegebenen Stimmen. +295 Bakunin spielt auf den Beschluß der Mehrheit des Basler Kongresses an, die Frage der ›direkten Gesetzgebung durch das Volk‹ von der Tagesordnung abzusetzen. Der Vorschlag, diese Frage zu behandeln, war von Karl Bürkli eingebracht und von Bruhin, Rittinghausen, Goegg, Starke und Liebknecht unterstützt worden, alles deutsche oder schweizerdeutsche Delegierte. Die Forderung nach ›direkter Gesetzgebung durch das Volk‹ war auch Bestandteil des Programms der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei (a.a.O. ❲Anm. +274❳, S. 374, Artikel III.2), die einen Monat vor dem Kongreß in Basel auf dem Eisenacher Kongreß gegründet worden war. Obwohl in Basel schließlich nur darüber abgestimmt wurde, ob diese Frage überhaupt auf die Tagesordnung gesetzt werden soll, ist über das Thema dennoch intensiv diskutiert worden. Für die Gegner, insbesondere den belgischen Delegierten Eugène Hins, implizierte die Frage der direkten Gesetzgebung durch das Volk das Akzeptieren des bürgerlichen Staates und das Prinzip der Veränderung der kapitalistischen Gesellschaft durch Wahlen. Angesichts des Beschlusses der Mehrheit des Kongresses, die Frage von der Tagesordnung zu streichen, erklärte Bakunin in vorliegendem Text, daß der Versuch, bürgerliche Politik in

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die Internationale einzuführen, gescheitert sei. Ein Artikel von James Guillaume über den Basler Kongreß, erschienen am 18. September 1869 in Le Progrès, interpretierte das Votum der Mehrheit des Kongresses ebenfalls auf diese Weise. Guillaume schloß seinen Artikel: »Diese Forderung [die Frage der direkten Gesetzgebung als Tagesordnungspunkt] wurde von einer sehr großen Mehrheit zurückgewiesen und die Internationale Arbeiter-Assoziation hat noch einmal ihren Willen bekundet, an keiner politischen Bewegung teilzunehmen, deren unmittelbares Ziel nicht die direkte Emanzipation der Arbeiter ist.« In seinen Schriften kommt Bakunin öfters auf diese Frage. zurück, um zu unterstreichen, daß auf dem Basler Kongreß der Versuch gescheitert sei, eine Wählerpolitik in die Internationale einzuführen und das Programm der Internationale zu verändern, um daraus ein Instrument des bürgerlichen Radikalismus zu machen. Von den anwesenden Anhängern der Allianz (»Allianzisten«) auf dem Basler Kongreß ergriffen nur Bakunin und Charles Perron das Wort, um gegen diesen Vorschlag zu sprechen. Der Name ›Allianz der Sozial-Revolutionäre‹ wurde erst drei Jahre später geprägt (vgl. Anm. +49). Anspielung auf die von Marx verfaßte ›Confidentielle Mittheilung‹ über Bakunin vom 28. März 1870, die an den Ausschuß (Vorstand) der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei in Braunschweig gerichtet war. Der Text wurde erst im Jahre 1902 vollständig veröffentlicht (in Die Neue Zeit. Wochenschrift der deutschen Sozialdemokratie, Stuttgart, 20. Jg., Band 2, Nr. 15, 12. Juli 1902, S. 472-480; Nachdruck in MEW, Band 16, S. 409-420). Der Inhalt des Dokuments war jedoch schon im Leipziger Hochverratsprozeß gegen Bebel und Liebknecht im März 1872 bekannt geworden (vgl. Anm. +301 und den Bericht über die Gerichtsverhandlung vom 16. März 1872, in: Der Volksstaat. Organ der sozialdemokratischen Arbeiterpartei und der Internationalen Gewerksgenossenschaften, Leipzig, Nr. 23, 20. März 1872). Im Original irrtümlich: 1848 (siehe Anm. +225). In Nr. 79 des Volksstaats vom 1. Oktober 1870 wurden unter dem Titel ›Kriegsbilder‹ drei Korrespondenzen deutscher Soldaten über die Kriegshandlungen veröffentlicht. Am 14. September 1870 sprach sich Johann Jacoby (vgl. Anm. +31) auf einer öffentlichen Veranstaltung in Königsberg gegen die Annexion Elsaß-Lothringens aus. Jacoby wurde daraufhin am 20. September 1870 verhaftet und ohne Gerichtsverfahren

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in der Festung Boyen bei Lötzen in Ostpreußen interniert, was ein starkes Echo in der in- und ausländischen Presse hervorrief. Am 26. Oktober wurde er auf Weisung des Königs zusammen mit 11 weiteren politischen Festungsgefangenen wieder freigelassen. +301 Bebel und Liebknecht hatten auf öffentlichen Kundgebungen und am 26. November 1870 auch im Norddeutschen Reichstag die Ablehnung neuer Kredite für die Fortführung des deutschfranzösischen Krieges und den Abschluß eines ehrenvollen Friedens mit der Französischen Republik ohne Annexionen gefordert. Am 17. Dezember 1870 wurden sie wegen »Vorbereitung zum Hochverrat« verhaftet und blieben bis 28. März 1871 in Untersuchungshaft. In dem darauffolgenden Leipziger Hochverratsprozeß (März 1872) wurden sie zu zwei Jahren Festungshaft verurteilt. +302 Bakunin bezieht sich auf einen Satz im ›Manifest des Ausschusses der sozial-demokratischen Arbeiterpartei‹ über den deutschfranzösischen Krieg (vgl. hierzu auch Bakunins Äußerungen in Archives, VII, S. 408-409). In diesem wahrscheinlich von Wilhelm Bracke redigierten Manifest, das als Flugschrift (datiert vom 5. September 1870) sowie im Volksstaat vom 11. September 1870 veröffentlicht wurde, hieß es unter anderem: »Dieser Krieg hat den Schwerpunkt der continentalen Arbeiter-Bewegung von Frankreich nach Deutschland verlegt.« (Der Volksstaat. Organ der sozial-demokratischen Arbeiterpartei und der Internationalen Gewerksgenossenschaften, Leipzig, Nr. 73, 11. September 1870). Der zitierte Satz war, wie überhaupt ein großer Teil des Manifests, einem Brief entnommen worden, den Marx zusammen mit Engels verfaßt und Ende August 1870 an den Ausschuß der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei in Braunschweig geschickt hatte, der Marx um Hinweise bezüglich der Stellung der Partei zum deutsch-französischen Krieg gebeten hatte. Aus diesem Brief sind nur die Passagen bekannt, die in das Manifest übernommen wurden (Text siehe MEW, Band 17, S. 268-270). Im Manifest sind die Zitate aus dem Brief durch Anführungsstriche kenntlich gemacht und tragen den Vermerk: »so schreibt uns einer unserer ältesten und verdientesten Genossen in London«. Der Originalbrief gilt als verschollen. Der Brief von Marx an den Vorstand der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei war ursprünglich gar nicht zur Veröffentlichung bestimmt gewesen. Am 10. September 1870 schrieb Marx an Engels: »Man unterstellt dabei – mit Unrecht -, daß man nicht

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mit flegelhaften babies zu tun hat, sondern mit gebildeten Leuten, die wissen müssen, daß die brutale Sprache von Briefen nicht ›für den Druck‹ berechnet ist, und daß ferner in Instruktionen geheime Winke gegeben werden müssen, die nicht unter Trommelschall zu verraten sind. Well! Diese Esel drucken nicht nur ›wörtlich‹ aus meinem Brief ab. Sie zeigen auf mich mit der Heugabel als den Briefschreiber. Sie drucken dazu Sätze, wie den über ›die Verlegung des Schwerpunkts der kontinentalen Arbeiterbewegung von Frankreich nach Deutschland‹ usw., die ihnen zur Anfeurung dienen sollten, aber unter keinen Umständen jetzt zu publizieren waren. Ich muß ihnen wohl noch dankbar sein, daß sie wenigstens meine Kritik der französischen Arbeiter nicht gedruckt haben. Und dazu schicken die Kerls in hot haste [großer Eile] ihr kompromittierliches Machwerk – nach Paris! (von Brüssel und Genf nicht zu sprechen).« (MEW, Band 33, S. 59) Am 12. September 1870 antwortete Engels Marx: »Diese Esel in Braunschweig! Sie waren bange, Du würdest es ihnen übelnehmen, wenn sie die ihnen gegebenen Gesichtspunkte verarbeiteten, und so gaben sie's wörtlich. Eigentlich unangenehm ist indes nur die Stelle von der Verlegung des Schwerpunkts. Das zu drucken übertrifft alles an Taktlosigkeit. Indes ist zu hoffen, daß die Pariser jetzt was andres zu tun haben, als sich dem Studium dieses Manifests zu widmen, namentlich, da sie kein Deutsch verstehn.« (ebd., S. 61) Die Idee von der ›Verlegung des Schwerpunktes‹ ist noch deutlicher in einem Brief von Marx an Engels vom 20. Juli 1870 ausgedrückt: »Die Franzosen brauchen Prügel. Siegen die Preußen, so die Zentralisation der state power nützlich der Zentralisation der deutschen Arbeiterklasse. Das deutsche Übergewicht würde ferner den Schwerpunkt der westeuropäischen Arbeiterbewegung von Frankreich nach Deutschland verlegen, und man hat bloß die Bewegung von 1866 bis jetzt in beiden Ländern zu vergleichen, um zu sehn, daß die deutsche Arbeiterklasse theoretisch und organisatorisch der französischen überlegen ist. Ihr Übergewicht auf dem Welttheater über die französische wäre zugleich das Übergewicht unserer Theorie über die Proudhons etc.« (MEW, Band 33, S. 5) +303 Anspielung auf den ›Kulturkampf‹ zwischen der Regierung Bismarck und der Katholischen Kirche in den 1870er Jahren. Bismarck war aus innen- und außenpolitischen Gründen in Gegnerschaft zum Katholizismus geraten und ließ, gestützt auf die

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Liberalen, eine Reihe von Gesetzen gegen den Einfluß der Katholischen Kirche und der Jesuiten verabschieden, die unter anderem das staatliche Aufsichtsrecht über die Kirche, die Schulaufsicht und Zivilehe betrafen, Das Wort ›Kulturkampf‹ ist von Rudolf Virchow (siehe Anm. +251) geprägt worden. +304 Zwei Jahre später änderte Bakunin seine im Text folgende Meinung über die Bedeutung der klerikalen Reaktion. In einem in deutscher Sprache abgefaßten Brief an Adolf Reichel vom 19. Oktober 1875 schrieb er: »Eins nur muss ich Dir doch gestehen, von allem thätigen Leben entfernt, laufe ich die Gefahr, ein Bismarckianer zu werden – und doch hasse ich nicht den Bismarck selbst – er ist ein consequenter Kerl – sondern den Bismarckianismus wie früher, von ganzem Herzen – aber ich hasse den nun wieder überall siegenden oder zu siegen scheinenden Katholicismus, Clericalismus, noch mehr. – Es ist ein Schimpf für die Menschheit, ein Schimpf für alles, was in uns vernünftig, sittlich, menschlich ist; – ich würde mich um die Pfaffen sehr wenig kümmern, wenn ihre Thätigkeit sich damit beschränken wollte, alte Esel noch mehr zu vereseln – aber in Frankreich, in Italien, in Spanien, in Belgien, und auch in manchem schweizerischen Canton, z.B. nel Ticino [im Tessin], ziehen sie die ganze Erziehung der Kinder, der Zukunft in ihre schmierigen Hände und das ist ein wahres Unglück; denn sie machen nicht nur die Herzen und die Köpfe der Jugend voll Lüge – nein, sie verfälschen systematisch und gründlich sozusagen die organische Natur und die ganze natürliche Tätigkeit und Entwicklung beider – sie schaffen Lügner und Sklaven – und obgleich ich sehr gut weiss, dass Bismarck die Religion des lieben Gottes nur mit dem Zweck bekriegt, an ihre Stelle die mir immer verhasste Religion des Staates und die Staatsdienerei zu setzen – so muss ich doch anerkennen, dass wenn es jetzt in Europa keine Bismarckianische Politik gäbe, wir alle in kurzer Zeit zu Pfaffenfrasse würden.« (Biographie, S. 823) Zehn Tage später, am 29. Oktober 1875, schrieb er über das gleiche Thema an seinen Freund Emilio Bellerio: »Die Priesterfrage ist nicht nur eine Tessiner oder Schweizer Frage, sie ist eine weltweite Frage, die heute alle anderen dominiert. In diesem Punkt bin ich, der ich nicht Bismarck, sondern sein System, seinen Einfluß und seine Auswirkungen auf Europa zutiefst verabscheue, in gewisser Weise Bismarckianer geworden – nein, ich gehe nur in die gleiche Richtung wie Bismarck. Ansonsten bleibe ich mir selber treu und stimme ein in den alten Schlachtruf der

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Enzyklopädisten: ›Ecrasons l'infâme‹.« (ebd.) +305 Anspielung auf die ›Eisenacher Versammlung zur Besprechung der sozialen Frage‹ vom 6. und 7. Oktober 1872, in deren Anschluß am 13. Oktober die offizielle Gründung des ›Vereins für Sozialpolitik‹ durch die sog. Kathedersozialisten (Lujo Brentano, Gustav Schmoller, Adolph Wagner u.a.) erfolgte, die für eine staatliche Sozialpolitik eintraten, um die sozialen Gegensätze abzubauen. +306 Bakunin nimmt hier den Gedankengang von S. 142-143 wieder auf, wo er vom Ideal des Volkes spricht, »ohne das [...] ein Volksaufstand völlig unmöglich ist, wie groß auch immer die Leiden des Volkes sein mögen«. +307 Artel (артель): genossenschaftsähnliche Vereinigung in Rußland, zu der sich Personen gleichen Berufs zusammenschließen konnten (Handwerker, Bauern, Saisonarbeiter), um gemeinsam Arbeiten auszuführen. +308 Der 2. Kongreß der Internationale in Lausanne (September 1867) nahm folgende Resolution an: »Der Kongreß fordert die Mitglieder der Internationalen Assoziation in den verschiedenen Ländern dringend auf, ihren Einfluß geltend zu machen, damit die Gewerkvereine ihre Fonds den Produktionsgenossenschaften zur Verfügung stellen. Dadurch könnten die Gelder, die sie jetzt noch dem Mittelstand und den Regierungen als Kredit überlassen, mit dem größten Nutzen für die Emanzipation der arbeitenden Klassen eingesetzt werden. Diejenigen Vereine, die sich nicht entschließen können, ihre Fonds zur Bildung kooperativer Einrichtungen zur Verfügung zu stellen, sollten diese Fonds dazu benutzen, die Einrichtung von Produktionsgenossenschaften im allgemeinen zu erleichtern. Und zwar indem sie sich darum bemühen, ein nationales Kreditsystem aufzubauen, das den Mitteln derer entspricht, die um seine Hilfe nachsuchen und das von der Metallwährung unabhängig ist. Außerdem sollten sie dafür Sorge tragen, ein System von Genossenschaftsbanken zu errichten.« (Procès-Verbaux du Congrès de l'Association internationale des Travailleurs, Lausanne 2-8 septembre 1867. La Chaux-de-Fonds, 1867, S. 75) Der Brüsseler Kongreß nahm folgende Resolution an: »Jede Gesellschaft, die auf demokratischen Prinzipien aufgebaut ist, weist jede Bevormundung im Namen des Kapitals, in welcher Form sie sich auch präsentiert: Anleihe, Zins oder Gewinn, zurück und beläßt so der Arbeit all ihre Rechte, ihren ganzen gerechten Lohn. Auf diese Weise wird der Arbeiter nach und nach

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durch die Verringerung seiner Arbeitszeit, durch den gerechten Lohn als Frucht seiner Mühen, durch die Bildung, die er sich aufgrund gesicherter Lebensumstände wird aneignen können, durch das Verschwinden jener Vampire, die ihn erwürgten, wird also der Arbeiter, der freie Arbeiter, allein und durch sich selbst das Gesicht der alten Welt verändern. [...] Der Kongreß fordert alle Mitglieder der Internationalen Arbeiter-Assoziation auf, den diversen kooperativen Vereinigungen beizutreten und alles Erdenkliche zu versuchen, um zu erreichen, daß sie die in den Resolutionen des Kongresses als beste Art der Kooperation anerkannten Prinzipien übernehmen.« (Troisième Congrès de l'Association internationale des Travailleurs. Compte rendu officiel, supplément au journal ›Le Peuple belge‹, Brüssel 1868, S. 41-42) +309 Mirtov und Kedrov waren Pseudonyme von Lavrov, der seit seiner Verbannung ins Gouvernement Vologda (Februar 1867) in Rußland nicht mehr unter seinem Namen publizieren konnte. Auch nach seiner Flucht ins Ausland (1870) benutzte Lavrov weiterhin diese Pseudonyme für seine in Rußland erscheinenden Arbeiten. +310 Petr Jakovlevič Čaadaev (1794-1856), russischer Philosoph und Historiker. Etwa seit 1830 zirkulierte in Moskau das Manuskript seiner berühmten, französisch geschriebenen ›Lettres philosophiques‹ (Philosophische Briefe), in denen er eine scharfe Abrechnung mit der russischen Geistesentwicklung hielt: Rußland sei aus der Geschichte herausgefallen, besitze weder Vergangenheit noch nationale Tradition, habe von anderen Ländern nur nutzlosen Luxus übernommen und selbst der Menschheit nichts gegeben, was zum allgemeinen Fortschritt beitragen könnte. Die Veröffentlichung des ›Ersten philosophischen Briefes‹ in russischer Übersetzung 1836 in der Zeitschrift Teleskop geriet zum Skandal. Der Teleskop mußte sein Erscheinen einstellen, Čaadaev wurde von Amts wegen für verrückt erklärt. Bakunin bezieht sich im Text auf Čaadaevs Schrift ›L'Apologie d'un fou‹ (Verteidigung eines Verrückten), die im Folgejahr (1837) erschienen war – »vor sechsunddreißig Jahren«. Darin argumentierte Čaadaev, schon Peter der Große sei der Meinung gewesen, daß den Russen alle geschichtlichen Voraussetzungen für ihre Entwicklung fehlten: »Peter der Große fand nur eine tabula rasa vor, und mit seiner mächtigen Hand schrieb er darauf die Worte: Europa und der Westen; und seither gehörten wir Europa und dem Westen an. Man muß sich darüber klar wer-

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den: wir groß auch das Genie und die Willensenergie dieses Menschen gewesen sein mögen, sein Werk war nur inmitten eines Volkes möglich, [...] dessen historische Erinnerungen durch einen kühnen Gesetzgeber straflos weggewischt werden konnten.« (Peter Tschaadajew: Schriften und Briefe. Herausgegeben von Elias Hurwicz. Drei Masken Verlag, München 1921, S. 141-142) +311 Das von Lavrov abgefaßte »dritte Programm« des Vpered erschien zuerst als Vorabdruck im März 1873 (vgl. die Einleitung in vorliegendem Band, S. 53) und dann in der ersten Nummer des Vpered vom August 1873. Bakunin bezieht sich auf folgenden Abschnitt des Programms, in dem Lavrov die Reformstrategien verschiedener politischer Richtungen in Rußland bespricht: »Legal bestehende öffentliche Verwaltungsorgane können sich im Moment einer Erschütterung der Gesellschaft jene Macht aneignen, die ihnen augenblicklich fehlt, ihren Wirkungskreis im Staat erweitern und mit einem Schlag von zweit- und drittrangigen Elementen zum leitenden Zentrum werden, dem sich die zaristische Autokratie beugt oder vor dem sie in den Hintergrund tritt. Und dann kann sich durch den Übergang der gesetzgebenden Macht vom Regierungszimmer des absoluten Herrschers in den Sitzungssaal der Ständeversammlung oder des regierenden Senats ein legaler Umschwung einschließlich einer konstitutionellen parlamentarischen Ordnung der Dinge vollziehen. Natürlich erscheint dieser Weg als die allerschönste Phantasie unserer Konstitutionalisten nach dem Muster westeuropäischer Parlamente, gesetzgebender Kammern usw.« ([Lavrov:] ›Vpered'! Nasa programma‹. In: Vpered'! Neperiodičeskoe obozrenie, Zürich, Band 1, Abt. 1, 1873, S. 19). Lavrov erklärte dazu, daß Artikel, die diese Richtung verträten, nur »mit äußerster Vorsicht und unausbleiblichen Vorbehalten« in den Vpered aufgenommen werden könnten (ebd., S. 20). +312 »Weh euch, Schriftgelehrte und Pharisäer, ihr Heuchler, die ihr gleich seid wie die übertünchten Gräber, welche auswendig hübsch scheinen, aber inwendig sind sie voller Totengebeine und alles Unflats!« (Die Bibel. Neues Testament, Matthäus 23, 27). +313 Um die Bedeutung der ›Obščina‹ oder ›Mir‹ genannten russische Dorfgemeinschaft für die Zukunft Rußlands wogte seit den 1840er Jahren eine Debatte innerhalb der russischen Intelligencija. Bakunin hat seine Position dazu unter anderem in einem Brief an Alexander Herzen und Nikolaj Ogarev vom 19. Juli 1866 ausführlich dargelegt. Darin fragte Bakunin die Adressaten,

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»warum diese Dorfgemeinde, von der Ihr so viel Wunder für die Zukunft erwartet, im Laufe der zehn Jahrhunderte ihres Bestehens nichts als die traurigste und abscheulichste Sklaverei hervorgebracht hat – die empörende Erniedrigung der Frau, die absolute Verneinung und Verkennung des Rechtes und der Ehre der Frau und die apathische, gleichgültige Bereitwilligkeit, sie jedermann, dem ersten besten Tschinownik [Bürokraten] oder Offizier preiszugeben. Die abscheuliche Verfaultheit und völlige Rechtlosigkeit des patriarchalen Despotismus und der patriarchalen Sitten, die Rechtlosigkeit des einzelnen der Gemeinde gegenüber und die alles erdrückende Last derselben, die jede Möglichkeit einer individuellen Initiative erstickt – das Fehlen nicht nur eines juridischen Rechts, sondern sogar der gewöhnlichen Gerechtigkeit in den Beschlüssen dieser Gemeinde – und ihre harte, boshafte Rücksichtslosigkeit gegen alle machtlosen oder armen Mitglieder; ihre systematische, schadenfrohe, grausame Bedrückung derjenigen, welche Ansprüche, und sei es auch nur auf die geringfügigste Kleinigkeit, erheben, sowie die Bereitwilligkeit, Recht und Gerechtigkeit für einen Kübel Wodka zu verkaufen; – das ist in der Gesamtheit ihres wirklichen Charakters die großrussische Dorfgemeinde. [...] Neben den schrecklichen hier aufgezählten Mängeln findet Ihr in der großrussischen Dorfgemeinde zwei Tugenden, zwei Vorzüge. Die eine ist rein negativer Natur, – die völlige Abwesenheit des römischen sowie jedes andern juridischen Rechts, welches beim großrussischen Volke durch ein unbestimmtes und, was den Einzelnen betrifft, eigentlich sehr rücksichtsloses und sogar völlig negatives Recht ersetzt wird; das andre könnte wohl als eine positive, wenn auch ziemlich dunkle instinktive Vorstellung des Volkes vom Rechte jedes einzelnen Bauers auf den Grund und Boden betrachtet werden, – eine Vorstellung, die, wenn man sie streng analysiert, keineswegs das Recht des ganzen Volkes auf den Grund und Boden bestimmt« (Briefwechsel, S. 123-124). Vgl. auch Pierre Péchoux: ›Bakounine et l'obščina‹, In: Russes, Slaves et Soviétiques. Pages d'histoire offertes à Roger Portal. Herausgegeben von Céline Gervais-Francelle. Institut d'études slaves, Publications de la Sorbonne, Paris 1992, S. 183-188. +314 Über die ›falschen Demetrier‹ siehe Schriften, III, S. 118. +315 Gemeint ist der Aufstand von Novgorod im Jahre 1650 gegen Zar Alexej. +316 Die Formulierung »ins Volk gehen«, die zum Ausgangspunkt

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der russischen revolutionären Bewegung der 187oer Jahre wurde, war zuerst im Jahre 1861 von Alexander Herzen in seiner Zeitschrift Kolokol aufgebracht worden und in den Folgejahren von Bakunin aufgenommen worden (vgl. die Einleitung in vorliegendem Band, S. 54). +317 Nečaev-Affäre: Der russische Revolutionär Sergej Nečaev (18471882) organisierte im September 1869 in Moskau und St. Petersburg eine Geheimgesellschaft unter dem Namen ›Narodnaja rasprava‹ (Volksgericht). Von den ca. 60 Mitgliedern, die der Gesellschaft beitraten, verlangte Nečaev unbedingten Gehorsam und Unterwerfung unter seine Anweisungen. Als eines der Mitglieder, der Student Ivan Ivanov, Nečaevs Auftreten hinterfragte und einen eigenen Kreis zu gründen ankündigte, beschuldigte ihn Nečaev des Verrats und organisierte am 21. November (3. Dezember) 1869 dessen Ermordung. Der darauffolgenden Repression entzog sich Nečaev durch die Flucht ins Ausland, während in Rußland ca. 150 Personen festgenommen und 84 in einem Schauprozeß zum Teil zu langjährigen Haftstrafen und Verbannung nach Sibirien verurteilt wurden. Die während des Prozesses im Sommer 1871 bekannt gewordenen Fakten über die Nečaev-Affäre hatten auch unter der revolutionären Jugend großes Aufsehen und Abscheu erregt. Nečaev hatte bereits während seines ersten Auslandsaufenthalts Kontakt zu Bakunin aufgenommen, dem gegenüber er sich als Beauftragter eines geheimen Moskauer Aktionskomitees ausgegeben hatte. Bakunin arbeitete daraufhin von April bis August 1869 sowie von Januar bis Mai 1870 mit Nečaev in der Schweiz zusammen. Als im Mai 1870 auch für Bakunin die skrupellosen Methoden Nečaevs offenbar wurden, kam es zwischen ihnen zum Bruch. Nečaev wurde schließlich im August 1872 in der Schweiz verhaftet, an Rußland ausgeliefert und in der Peter-Pauls-Festung eingekerkert, wo er am 21. November (3. Dezember) 1882 starb. +318 Étienne Cabet (1788-1856), französischer Frühsozialist, veröffentlichte 1840 den Roman ›Voyage en Icarie‹ (Reise nach Ikarien), die er während eines fünfjährigen Aufenthaltes (1834-1839) als Emigrant in London verfaßt hatte. Die darin beschriebene neue Gemeinschaftsform und andere Schriften von Cabet über den pazifistischen, experimentellen und religiösen Kommunismus übten einen starken Einfluß auf die französische Arbeiterbewegung der 1840er Jahre aus. Bakunin traf Cabet im Juni 1844 in Paris.

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+319 Die erste Initiative zur Gründung einer ikarischen Kolonie außerhalb Frankreichs war schon vor der Februarrevolution 1848 unternommen worden: Im Mai 1847 veröffentlichte Cabet in seiner Wochenzeitschrift Le Populaire einen ersten Aufruf zur Gründung einer Siedlung in der Neuen Welt unter dem Titel ›Allons en Icarie!‹ (Gehen wir nach Ikarien!). Das gleiche Projekt stellte er in seiner Broschüre ›Réalisation de la communauté d'Icarie‹ (erste Auslieferung Mai 1847) vor. Am 3. Februar 1848 verließ eine Vorhut von 69 Pionieren Le Havre, um in Texas eine kommunistische Musterkolonie zu gründen nach dem Modell, das Cabet in seinem Roman beschrieben hatte. 500 weitere Siedler folgten wenig später. Cabet traf im Januar 1849 ein und verlegte wegen der dort bestehenden Schwierigkeiten die Kolonie nach Nauvoo (Illinois). In der Kolonie lebten nie mehr als 1.500 Personen. Die Reste dieser Gemeinschaft hielten sich bis 1895. +320 Nach seinen Tagebucheintragungen schrieb Bakunin das ›Programm der Slawischen Sektion in Zürich‹ am 14. August 1872 (vgl. Nettlau: Russische Bewegung, S. 413, und die Einleitung in vorliegendem Band, S. 17-19). Der russische Text des Programms, der als Anhang B von ›Staatlichkeit und Anarchie‹ veröffentlicht wurde, weist gegenüber der französischen Urschrift vom August 1872 geringe Änderungen auf, vor allem im letzten Programmpunkt (vgl. Anm. +324). +321 Zum Text der allgemeinen Statuten, wie sie auf dem i. Kongreß der Internationale (Genf, September 1866) angenommen wurden, siehe Der Vorbote. Organ der Internationalen Arbeiter-Association, Genf, 1. Jg., Nr. 9, September 1866, S. 137-139. +322 Diese Forderung war auch in den neuen allgemeinen Statuten der Internationale enthalten, die auf dem Genfer Kongreß (1. Bis 6. September 1873) angenommen worden waren. In Artikel 3 hieß es: »Die Föderationen und Sektionen, welche die Assoziation bilden, bewahren ihre vollständige Autonomie, d.h. das Recht, sich nach ihrem Willen zu organisieren, ihren eigenen Geschäfte ohne irgendeine äußere Einmischung nachzugehen und den Weg selbst zu bestimmen, den sie zu verfolgen beabsichtigen, um zur Emanzipation der Arbeit zu gelangen.« (vgl. Anm. +77) +323 Diese Forderung ist auch in der Präambel zur ersten Resolution des internationalen antiautoritären Kongresses in St. Imier (15. September 1872) enthalten, die von den Delegierten der Föderationen und Sektionen Italiens, Frankreichs, Spaniens, Amerikas und des Jura angenommen wurde: »In Erwägung, daß die Auto-

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nomie und Unabhängigkeit der Arbeiterföderationen und -sektionen die erste Bedingung der Befreiung der Arbeiter ist; daß jede den Kongressen zugestandene gesetzgebende und Verordnungen erlassende Gewalt eine flagrante Verneinung dieser Autonomie und Freiheit sein würde, verneint der Kongreß prinzipiell das gesetzgebende Recht aller allgemeinen oder Landeskongresse und erkennt ihnen keine andere Mission zu als die, die Aspirationen, Bedürfnisse und Ideen des Proletariats der verschiedenen Orte oder Länder einander gegenseitig vorzuführen, damit ihre Angleichung und Vereinheitlichung sich so viel als möglich vollziehe; in keinem Fall aber darf die Mehrheit irgendeines Kongresses ihre Beschlüsse der Minderheit aufzwingen.« (zitiert nach Werke, III, S. 252-253) +324 In der französischen Urschrift des Programms, die Bakunin am 14. August 1872 abgefaßt hat (vgl. Anm. +320), lautete dieser Punkt noch: »Da sich die Juraföderation offen zu diesen Prinzipien bekannt hat und sie aufrichtig in die Tat umsetzt, hat sich die Slawische Sektion in Zürich entschlossen, ihre Aufnahme in die Föderation zu beantragen.« (vgl. vorliegenden Band, S. 19) Die Aufnahme der ›Slawischen Sektion‹ in die Juraföderation muß dann zu Beginn der zweiten Augusthälfte 1872 vollzogen worden sein, da die Sektion bereits am 18. August 1872 auf dem Regionalkongreß der Juraföderation in La Chaux-de-Fonds vertreten war. In der russischen Übersetzung des Programms, die Bakunin 1873 als Anhang B zu ›Staatlichkeit und Anarchie‹ veröffentlichte, konnte dann der vollzogene

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Textnachweise Wolfgang Eckhardt: Einleitung Originalbeitrag. Staatlichkeit und Anarchie Michail Bakunin: Staatlichkeit und Anarchie und andere Schriften. Herausgegeben und eingeleitet von Horst Stuke. Verlag Ullstein, Frankfurt/M, Berlin, Wien 1972, S. 417-658 (Übersetzung von Barbara Conrad und Ingeborg Wolf nach Archives, III, S. 3-181). Über ihre Übersetzung schrieben Barbara Conrad und Ingeborg Wolf: »Maßgebend für die Übersetzung war die Absicht, eine deutsche Version dieses Textes herzustellen, die sich so nah wie möglich an den Wortlaut des russischen Originals hält, also Bakunins Ausdrucksweise mit ihren stilistischen wie auch logischen Eigenheiten – soweit es sich im Deutschen noch irgend vertreten ließ – beizubehalten. Bakunin hat eine Vorliebe für lange und recht kompliziert gebaute Sätze, deren Konstruktionsprinzip er bei der schnellen Ausarbeitung dieser Schrift mehr als einmal gänzlich aus den Augen verloren hat, weshalb z.B. nicht auf jedes ›Entweder‹ auch ein ›Oder‹ und nicht auf jedes ›Erstens‹ ein ›Zweitens‹ folgt u.ä. [...] All diese Eigenheiten, einschließlich der oft recht willkürlichen Interpunktion, sind in der Übersetzung nach Möglichkeit beibehalten worden. Spezifisch russische Begriffe, wie ›obščina‹, ›mir‹, ›kulak‹, ›mužik‹, wurden nur dann übersetzt, wenn sie sich auf nicht-russische Verhältnisse beziehen, ansonsten einfach übernommen. Bei Bakunins Zitierweise, d.h. vor allem beim Übersetzen deutscher Zitate, ist auffallend, wie tendenziös er die Texte in seiner Übersetzung abwandelt. Deshalb wurden Zitate im allgemeinen rückübersetzt, zum Vergleich wurde der ursprüngliche deutsche Wortlaut jeweils als Anmerkung wiedergegeben.« (Bakunin: Staatlichkeit und Anarchie und andere Schriften, a.a.O., S. 417) Bakunin verwendet im russischen Text gelegentlich deutsche Ausdrücke, z.B. »ландвер и штурмвер« (landver i šturmver). In diesem Fall wurde in eckigen Klammern [ ] auf den russischen Originalwortlaut hingewiesen. Offensichtliche Fehler bei Satzstellung, Zeichensetzung und Rechtschreibung in der Übersetzung wurden in vorliegendem Band stillschweigend korrigiert. Die Übersetzung wurde ferner an einzelnen

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Stellen mit dem russischen Originaltext (in Archives, III) verglichen und danach folgende Änderungen vorgenommen: 1) Das Zitat aus Puškins Gedicht ›Klevetnikam Rossi‹ (siehe vorliegenden Band, S. 199) übersetzten Conrad und Wolf mit »Ist gar des russischen Zaren Wort schon in Kraft?«, während das genaue Gegenteil gemeint sein dürfte. Für vorliegenden Band wurde eine Übersetzung von Puškins Gedicht durch Friedrich Fiedler verwandt (»Meint ihr, des Zaren Wort wird ungehört verklingen?« in Alexander Puschkin: Gedichte. Im Versmaß der Urschrift von Friedrich Fiedler. Druck und Verlag von Philipp Reclam jun., Leipzig o.J. [1897], S. 113). 2) Die Worte »непрочных морских границ« (nepročnych morskich granic) übersetzten Conrad und Wolf als »unsichere (sic!) Seegrenzen«, während aus dem Sinnzusammenhang hervorgeht, daß es sich – unter Zugrundelegung einer Bedeutungsvariante von непрочный – um »leicht überwindliche Seegrenzen« handelt, die nach Bakunin den Expansionsdrang großer Staaten erst möglich mache (siehe vorliegenden Band, S. 223). 3) Die Worte »по неизменному социалистическому закону« übersetzten Conrad und Wolf mißverständlich als »nach dem unwandelbaren sozialistischen (sic!) Gesetz«, während es um ein »nach Meinung der Sozialisten« unwandelbares Gesetz gehen dürfte (S. 279). 4) Die europäische Revolution von 1848/49 war nach Bakunins Meinung eher »erfolglos« (S. 298) – im Original »несостоятельной« (nesostojatel‘noj) – als »unbefriedigend« (nach der Übersetzung von Conrad und Wolf), wie aus dem Folgesatz hervorgeht. 5) Siehe Anm. +218. 6) Die Monarchie wartete nach der Revolution von 1848 darauf, »ihre frühere uneingeschränkte Macht wiederzuerlangen« (S. 308) und nicht die Macht »wie früher uneingeschränkt zu ergreifen«. 7) Statt Gesandter in Frankreich (S. 328, im Original: Францию) war Bismarck im Jahre 1862 in der Übersetzung von Conrad und Wolf irrtümlich Gesandter in »Frankfurt«. 8) Aufgrund einer falschen Satzanalyse übersetzten Conrad und Wolf irreführend: »[...] solange es ein ökonomisches Monopol gibt, das die Arbeitermassen und den politischen Staat verschlingt, der dieses Monopol vor einem Volksaufstand bewahrt [...].« Tatsächlich dürfte Bakunin gemeint haben: »[...] solange es ein ökonomisches Monopol gibt, das die Arbeitermassen bedrückt, sowie einen politischen Staat, der dieses Monopol vor einem Volksaufstand bewahrt [...].« (S. 332-333). 9) Der Zarenkult war im Bewußtsein des Volkes sicherlich nicht »uninteressanter«; das Volk dürfte vielmehr »seiner überdrüssig« geworden sein (S. 385) (im Original »оно [...] поприелось«).

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10) Die russischen Verwaltungseinheiten »волость« (volost') und »область« (oblast') übersetzten Conrad und Wolf mal als »Bezirk« und »Gebiet«, mal als »Amtsbezirk« und »Distrikt«. Für die vorliegende Textfassung wurde bei Äußerungen über Rußland einheitlich die Bezeichnung »Bezirk« und »Gebiet« verwandt (zum Beispiel S. 282), in allen anderen Fällen wurde »oblast'« ebenso wie »край« (kraj) mit »Region« übersetzt (zum Beispiel S. 211 und 234). 11) Weitere Änderungen in vorliegender Textfassung gegenüber der Übersetzung von Conrad und Wolf: »zu befrieden« statt »zu befriedigen« (S. 309); »so massiv« statt »mit so großen Maßen« (S. 312); »erlassen« statt »gegeben« (S. 317); »aufs Kreuz gelegt« statt »angeführt« (S. 328); »auf ihre Art« statt »auf seine Art« (S. 341); »die Arbeitermassen« statt »der Arbeitermassen« (S. 368); »notwendigerweise« statt »als notwendigerweise« (S. 373); »mit allen Kräften« statt »aus allen Kräften« (S. 384); »Slawische Sektion« statt »Slawische Föderation« (S. 391). Hansjörg Viesel: Vorwort zur Ausgabe Berlin 1972 Michael Bakunin: Staatlichkeit und Anarchie. Karin Kramer Verlag, Berlin 1972, S. VII-IVI. Offensichtliche Fehler wurden berichtigt, in einigen Fallen wurden mit Zustimmung des Verfassers kleinere grammatikalische und stilistische Änderungen vorgenommen; ansonsten blieben Stileigenheiten und Zitierweise unverändert. Die Zitate aus ›Staatlichkeit und Anarchie‹ wurden der Übersetzung aus vorliegendem Band entnommen. Das zitierte Vorwort Nettlaus zu ›Gott und der Staat‹ (Leipzig 1919) ist auch in Schriften, I, S. 125-137, abgedruckt. Anmerkungen Die Grundlage für die Anmerkungen des vorliegenden Bandes bildet der Anmerkungsapparat in Archives, III, S. 415-454, und dessen Übersetzung in der deutschen Erstausgabe von ›Staatlichkeit und Anarchie‹ (Karin Kramer Verlag, Berlin 1972, S. 340-416). Für vorliegenden Band wurden diese 209 Anmerkungen grundlegend überarbeitet und vielfach ergänzt; dabei wurden eine Reihe von Übersetzungsfehlern (zum Beispiel »Kunstkongreß« statt »Kongreß der Internationale«, »Kongreß von Le Havre« statt »Haager Kongreß« usw.) korrigiert, bibliographische Angaben und Textnachweise aktualisiert, Lebensdaten etc. ergänzt, Zitate aus Originalausgaben übernommen bzw. übersetzt und für die abgekürzten Quellennachweise die auf S. 97-100 angeführten Abkürzungen verwendet. Ferner sind eine Reihe von Anmerkungen neu hinzugekommen.

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Register Berücksichtigt werden Personen und PERIODIKA. Bei kursiven Seitenzahlen werden biographische Hinweise gegeben.

Acta ex iis decerpta 444 Aksel'rod, Pavel 24, 62-64, 69, 75 Alerini, Charles 453, 455 Alexander I. (russ. Zar) 113, 243, 256, 260, 266, 472-473, 475476 Alexander II. (russischer Zar) 10, 21, 180, 192, 194, 237, 385, 462 Alexander III. (russ. Zar) 66, 192 Alexej (russischer Zar) 528 Alfons XII. (span. König) 455 Almanach de Gotha 456 Altenstein, Karl Freiherr vom Stein zum 273, 479 Altertum 488 Amadeus I. (span. König) 105106, 138, 443, 445 Andreucci, Franco 79 Andrié, Alfred 73 Annenkov, Pavel 431, 449, 467, 494 Aptekman, Osip 75 Arakčeev, Aleksej Graf 256, 472 Archiv für die Geschichte des Sozialismus 81, 99 Arminius (Cheruskerfürst) 265 Arndt, Ernst Moritz 262-263, 359, 473-475 Arnoldi, Wilhelm 495 Aršinov (Arschinoff), Petr 402 Augustus (röm. Kaiser) 252 Avant-Garde 91 Avrich, Paul 91 Babeuf, Gracchus 417 492 Bakunin, A. 91

Bankowski-Züllig, Monika 12, 71 Barbarossa (dt. Kaiser) 266, 476 Barbès, Armand 486 Barnikol, Ernst 488 Barodet, Désiré 128-129, 453 Bastin, Hubert 519 Bauer, Bruno 289, 483, 487-488, 490 Bauer, Edgar 289, 488 Bauer, Heinrich 493-494 Bebel, Aug. 50, 86, 167, 347, 351, 355, 439, 450, 458, 510, 515, 521-522 Becker, Johann-Philipp 519 Bee-Hive Newspaper 512 Beesly, Edward 425 Beljaevskij, Aleksandr 60-61 Bellerio, Emilio 73, 524 Berkman, Aleksandr 402, 404 Bernays, Karl Ludwig 497 Bernstein, Eduard 405, 499, 513 Bernstein, Samuel 444 Bestužew-Rjumin, Michail 185, 463 Beust, Friedrich Graf von 144, 331, 455, 510 Bismarck, Otto Fürst von 50, 104106, 110-112, 115, 129, 133, 144, 147, 149, 154, 164, 166, 178, 181, 187, 212-214, 217218, 223, 226-228, 235, 237, 245, 252, 267-268, 283-284, 297, 325-331, 340-342, 345346, 355, 359-362, 441, 442, 443, 482, 506, 507, 508-509, 511, 513-515, 523-524, 533 Blanc, Louis 287, 290, 483, 492493

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Blanqui, Auguste 52, 417, 486 Blücher, Gebhard Fürst von 251 Bluntschli, J. K. 288, 486-487 Bonaparte, Joseph 454 Borkheim, Sigismund 51 Born, Stephan 497 Börne, Ludwig 265, 272, 288, 475-476 Bottero, Alessandro 460 Bourgin, Georges 443, 452 Bracke, Wilhelm 86, 519, 522 Brandenburg, Friedrich Wilhelm Graf von 314, 328, 503-504 Brauner, František 178, 462 Brentano, Lujo 525 Brousse, Paul 453 Bruhin, Caspar 520 Brupbacher, Fritz 431 Büchner, Ludwig 276, 480, 510 Buckmiller, Brigitte 95 Buckmiller, Michael 93-94 Buhl, Ludwig 483 Bulletin de la Fédération jurassienne 19-20 Bunonarroti, Filippo 417, 470 Burazerovic, Manfred 92 Burger 519 Bürkli, Karl 520 Buturlin, Aleksandr 27-28, 35 Čaadaev, Petr 372, 526-527 Cabet, Étienne 383, 529-530 Caesar, Julius 265 Cafiero, Carlo 425, 445, 455, 482 Čajkovskij, Nikolaj 57-59, 63-64, 66, 70 Calmon 503 Camélinat, Zéphirin 448 Camet, Camille 453 Canadian-American Slavic Studies 69 Carlos (spanischer Kronprätendent) 477

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Čarušin, Nikolaj 63 Castelar y Ripoll, Emilio 44, 284, 343, 345, 482 Caussidière, Marc 397 Cavaignac, Louis-Eugène 310, 312-314, 500, 502, 534 Cavour, Camillo 173, 445 Ceretti, Celso 445 Čerkezov, Varlaam 79 Chambord, Henri Charles Comte de 325, 506 Chardina, Ekaterina 35, 40 Chmel'nickij, Bogdan 194, 464 Cluseret, Gustave-Paul 425 Cohn-Bendit, Daniel 397 Colletti, Lucio 405 Conrad, Barbara 532-534 Costa, Andrea 455 Cousin, Viktor 274, 479 Dante Alighieri 140 Danton, Georges 287 Debogorij-Mokrievič, Vladimir 30, 42, 44, 56, 61-62, 69, 77, 98 Démocratie 430 Demokratisches Wochenblatt 450 Desmoulins, Camille 287 Detti, Tommaso 79 Deutsch-Französische Jahrbücher 479, 484 Deutsche Jahrbücher 483-484, 488 Diderot, Denis 241 Dönhoff, Sophie 503 Dragomanow, Michail 18, 98-99 Droysen, Hans 446 Drude, Otto 489 Duchinski, Franciszek 201, 465466 Dumesnil 453 Dumont, Augustin-Alexandre 452 Dušan, Stephan 150, 170, 174, 456 Dutschke, Rudi 85

Eccarius, Johann Georg 520 Echtermeyer, Theodor 483 Eckhardt, Wolfgang 95-96, 100, 532 Égalité 37 Elpidin, Michail K. 71 Emil (hessischer Prinz) 478 Engels, Friedrich 50, 80, 85-86, 98-99, 109, 167, 290-291, 295, 335, 346, 406, 411, 421423, 425, 429, 436-437, 443, 449, 458, 482, 484, 490, 493494, 497-498, 513-514, 522523 Espartero, Baldomero 138 Esquiros, Alphonse 481 États-Unis d'Europe 518 Ewerbeck, Hermann 493 Eylert, Friedrich 257 Fanelli, Giuseppe 455 Farga-Pellicer, Rafael 455 Favre, Jules 104-106, 441, 442, 443 Ferdinand VII. (span. König) 477 Feuerbach, L. 275, 479-480, 484 Fichte, Johann Gottlieb 241, 244-245, 273, 275, 470 Fiedler, Friedrich 533 Field, Daniel 61 Figner, Vera 10-12, 28, 36, 69 Fleury, Victor 467 Fontane, Theodor 489 Fourier, Charles 52 Fournaise, Joseph 448 Franz I. (österreichischer Kaiser) 247, 471, 476 Frese, Julius 450 Freymond, Jacques 40 Friedrich II. »der Große« (preußischer König) 111-112, 115, 186, 243, 248, 251, 326, 446 Friedrich Wilhelm II. (preußischer König) 503

Friedrich Wilhelm III. (preußischer König) 244,246, 249, 252, 256, 270, 273, 470-472 Friedrich Wilhelm IV. (preußischer König) 286, 302, 304, 317-318, 321, 483, 500-501, 503-505 Fröbel, Julius 488 Frolenko, Michail 58 Gambetta, Léon 104, 118, 120, 123-124, 128, 130-133, 164, 284, 343-344, 442, 453 Garibaldi, Giuseppe 110, 139, 173, 284, 360-361, 446, 510 Genschertancele, deiche 383 Gilk, Basil 45 Godwin, William 489 Goegg, Amandus 350, 510, 518520 Goethe, Johann Wolfgang von 206, 241-242, 244, 274-275, 319 Golos Truda 91 Gorčakov, Aleksandr Fürst 218, 225-227, 237, 462, 467 Gorev, Boris 90 Görres, Joseph 475 Gorter, Herman 400 Greulich, Hermann 17 Grossmann, Henryk 405 Grün, Karl 510 Grünberg, Carl 99, 423, 449 Guillaume, James 19-20, 35-38, 43, 45, 71-74, 78, 98, 416, 459, 519, 521 Guizot, François 494 Gvozdev, M. 65 Hales, John 443 Hallische Jahrbücher 483, 488 Hardy, Deborah 88 Harich, Wolfgang 395-396 Hartung, Hermann 451

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Hausmann, Jules 510 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 241, 273-278, 284, 289, 319, 396, 437, 479 Heine, Heinrich 243, 272, 276277, 288, 292, 478-481, 484, 496-497 Henriot, Gabriel 452 Hepner, Adolf 51 Herwegh, Georg 223, 288, 449, 467, 483, 484, 485 Herzen, Alexander 11, 54, 97, 99, 426, 527, 529 Hess, Moses 51, 289, 484, 490, 519 Hieronymus von Prag 459 Hilmer, Johannes 491 Hins, Eugène 520 Hippel, Jacob 489 Hirsch, Felix 513 Hofer, Andreas 454 Hohenzollern-Sigmaringen, Karl Anton Fürst von 323, 505 Holstein, Vladimir 12-17,19, 26, 28-29, 31, 35-36, 38, 40, 43, 45, 68 Holstein, Maria 12, 40 Horkheimer, Max 395 Huber, Ernst Rudolf 501, 505 Huhn, Willy 427 Hülferuf der deutschen Jugend 486 Humboldt, Alexander von 273 Hurwicz, Elias 527 Hus, Jan 456-457, 459 Ibell, Karl von 264, 475 Innozenz III. (Papst) 458 International Review for Social History 443 International Review of Social History 81, 92, 443 Isabella (spanische Königin) 138 Itenberg, Boris 100 Ivančin-Pisarev, Aleksandr 61 Ivanov, Ivan 529

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Jacoby, Johann 98, 121, 303, 307308, 323-324, 331, 355, 449, 484, 501-502, 505-506, 510, 521 Jahn, Friedrich Ludwig 262, 474 Jahrbuch Arbeiterbewegung 93, 95 Jakob II. (englischer König) 472 Jakovlev, V. 36, 38, 40 Jannasch, R. 519 Jeanne d'Arc 119, 446 Jellačić, Josip 299, 500 Johannard, Jules 448 Johanson, Christine 9, 41 Joll, James 69-70 Journal of Modern History 61 Journal officiel de la République française 443 Junge Generation 486 Kant, Immanuel 241, 243, 275, 319, 468-469 Karakazov, Dmitri 21 Karl I. »der Große« 452 Karl V. (deutscher Kaiser) 135, 353 Karl X. (franz. König) 477, 506 Karl Albert (König von SardinienPiemont) 173, 459 Karl Wilhelm Ferdinand v. Braunschweig 468 Katharina II. (russ. Zarin) 115, 186, 446 Katorga i ssylka 73, 100 Kaufman 454 Kautsky, Karl 405 Keudell, Robert von 514 Kinkel, Gottfried 326-327, 506507 Kohl, Horst 507 Kolokol 54, 529 Konstantinov, M. 11 Köppen, Ludwig 483 Kornilov, Aleksandr 465 Korsch, Karl 93-94, 399-400, 406, 423-424, 436, 438

Koser, Reinhold 446 Kotzebue, August von 264, 266, 475 Kovalik, Sergej 14, 20, 57, 58, 59, 60, 61, 69, 87, 98 Koz'min, Boris 11, 45 Kramer, Bernd 94, 95 Kreuzzeitung 327, 507 Krieger, Johann 519 Kröber, Adolf 510 Kropotkin, Petr 31-32, 69-70, 75, 78, 91, 425 Krüdener, Juliane Barbara Freifrau von 260, 473 Kugelmann, Ludwig 80, 423, 450 Kuljabko-Koreckij, Nikolaj 11-12 Künzli, Arnold 520 Ladendorf, August 510 Lafayette, Marie-Joseph de 465 Lamartine, Alphonse de 287, 483 Lassalle, Ferdinand 116, 121, 296297, 332-338, 340-342, 345347, 367, 498-499, 510-515 Lavrov, Petr 20, 21-22, 23-29, 3133, 36, 53, 56, 63-64, 69, 7475, 79-80, 87, 433-434, 526527 Lavrova, Sof'ja 31-32, 35, 37 Lehning, Arthur 94, 97, 100, 417 433-434 Lemonnier, Charles 350, 518 Lenin, Vladimir 66, 90, 395, 397, 399, 402, 405, 415, 421, 424 Lermontov, Feofan 55, 56-61, 69 Leroux, Pierre 52 Lessing, G. E. 241, 274-275, 319 Lessner, Friedrich 519 Letopisi Marksizma 80, 435 Levental 62 Liberté 37, 432, 516 Liebknecht, Wilhelm 50, 84, 86, 121, 166-167, 347, 351-352, 355, 449-450, 458, 510, 515, 518-522

Literarisches Wochenblatt 475 Litivinova, Elizaveta 21 Livanov, Aleksandr 61 Loening, Carl 264, 475-477 Louis-Philippe (französischer König) 267, 311, 452-453, 477 Ludwig XIV. (franz. König) 111 Ludwig XVI. (französischer König) 243, 468 Ludz, Peter 81 Lukács, Georg 397, 413 Lukanina, Adelaida 35, 42 Lur'e, Semen 69 Luther, Martin 240, 261, 264, 496 Luxemburg, Rosa 400 Mac-Mahon, P. M. Comte de 190, 441, 463 Machiavelli, Niccolò 112, 140 Machno, Nestor 90, 402 Mackay, John-Henry 489-490 Maenchen-Helfen, Otto 490 Malatesta, Errico 445, 455 Malon, Benoît 448 Manacorda, Gastone 445 Mangin, Evariste 509 Manteuffel, Otto Theodor von 320, 322, 328, 504 Mao Tse-tung 440 Marat, Jean-Paul 287 Maria Theresia (deutsche Kaiserin) 186-187, 463 Maria-Christina (spanische Königin) 267, 477 Marie Antoinette (französische Königin) 243, 468 Marselau, Nicolás Alonso 455 Martin, Henri 466 Marx, Karl 45, 47, 50-52, 72, 8086, 93-94, 97-99, 109, 121, 131, 143, 167, 245, 276, 283, 288-290, 295-296, 334-338, 340-343, 346-347,

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Mars, Karl (Fortsetzung) 350-352, 389, 369, 398, 401, 405-406, 408, 411-413, 416-417, 419, 421-436, 439-432, 435-439, 443, 449-450, 458-459, 476, 482, 484-485, 487, 490-494, 497-500, 511-516, 519-523, 534 Marx, Hirschel 487 Marx, Meier Halevi 487 Mattick, Paul 405, 414 Mayer, Gustav 489, 515 Mayer, Karl 450 Mazzini, Giuseppe 48, 97, 106107, 110, 139, 172, 193, 284, 444-446, 464, 480 Mazzotti, Filippo 79 Mehring, Franz 431 Meijer, J. M. 10, 25, 31, 42, 98 Meschkat, Klaus 434 Metternich, Klemens Fürst von 112, 144, 187, 247-248, 256, 258, 260, 269, 273, 320, 446 Meyer, Hermann 507 Michelet, Jules 287, 483 Mickiewicz, Adam 151, 456 Miljutin, Dimitrij Graf 203, 466 Miloglazkin, Kiriak 61 Mirabeau, Victor Marquis de 276 Moimir 456 Moll, Joseph 493-494 Morago, Tomás González 455 Most, Johann 451 Mühsam, Erich 411 Mülberger, Arthur 514 Müller, Wilhelm 99, 267, 471-472, 476-478, 506-507 Murat, André 448 Murav'ev, Michail 154, 195, 211212, 457 Murav'ev, Nikita 473 Murav'ev-Apostol, Sergej 185, 262, 163

540

Nabat 87 Nabruzzi, Ludovici 110, 445, 155 Napoleon I. (französischer Kaiser) 111, 136-137, 198, 243, 245246, 249, 251, 260, 263, 293, 313, 327, 330, 353, 445-146, 452, 454, 469-471, 474 Napoleon III. (franz. Kaiser) 110, 118, 120, 144, 173, 209, 217, 237, 252, 313, 328, 344, 353, 360, 441, 445-446, 452, 455, 467 Narodnoe Delo 45 Narváez, Ramon-Maria 138 Nečaev, Sergej 97, 382, 529 Nedelja 22 Nettlau, Max 12-13, 16-18, 20, 2628, 33, 44, 47-48, 51, 56, 64, 68, 70, 73, 76-78, 87, 92-93, 97, 99, 418, 433, 488-489, 530, 534 Neue Zeit 63, 521 Neumann, Daniela 9-10 Nikolaevskij, Boris 73, 490 Nikolaus I. (russischer Zar) 66, 113, 144, 185, 192-193, 199200, 270, 273, 286, 317-318, 321-322, 325, 381, 463-464, 473 Nikon (Patriarch von Moskau) 465 Nürnberger, Helmuth 489 O minuvšem 58, 99 Oberwinder, Heinrich 451 Oelsnitz, Aleksandr 14, 15, 16, 2628, 31, 35-40, 43, 68 Oelsnitz, Emilia 40 Oelsnitz, Ottilia 35, 40 Ogarev (Ogarjow), Nikolaj 13,77, 98-99, 527 Oncken, Hermann 514 Palacký, František 178, 215, 462 Palen (von der Pahlen), Konstantin Graf 66-68, 434

Pannekoek, Anton 400 Paskevič, Ivan 192, 463 Péchoux, Pierre 91, 528 Perrachon, Joseph-Etienne 448 Perron, Charles 521 Pestel', Pavel 185, 262, 462, 473 Peter I. (russ. Zar) 225-226, 467, 526 Phare de la Loire 509 Philipp II. (spanischer König) 135 Pi y Margall, Francisco 284, 482 Pindy, Louis 448 Pirumova, Natal'ja 65-66, 69, 99 Pius IX. (Papst) 444 Plechanov, Georgij 66 Podolinskij, Sergej 25 Politikon 399 Pomper, Philip 21 Popov, A. 36, 38, 40 Populaire 530 Portal, Roger 528 Portmann, Werner 35 Potockaja, Marija 35 Pozzoli, Claudio 93 Pravda 404 Pravitel'stvennyj vestnik 40 Prim, Juan 138 Progrès 37, 521 Prokop, Andreas 457, 459 Protesta 92 Proudhon, Pierre-Joseph 60,70-71, 290, 482, 489-492, 514, 523 Pugačev, Emel'jan 153, 370, 380381, 384, 457 Puškin, Aleksandr 199, 465, 533 Püttmann, Hermann 496 Pyat, Félix 452 Rabehl, Bernd 397 Rabočij put' 77 Rabotnik 67-68 Radowitz, Joseph Maria Freiherr von 302, 318, 500

Ralli, Zamfirij 14, 15-20, 26, 29, 31, 35-40, 42-43, 45, 47, 65, 67-68, 87, 99 Ramus, Pierre 426 Rätekorrespondenz 415 Razin, Stenka 153, 370, 380-381, 384, 457 Reclus, Elisée 453 Reichel, Adolf 524 Reichenbach, Eduard Graf von 291, 494 Rémusat, Charles 453 Réveil 448 Rheinische Zeitung 484, 487, 490 Richard, Albert 418, 430 Rieger, Franz Ladislaus von 178, 215, 462 Rippmann, Inge 476 Rippmann, Peter 476 Rittinghausen, Moritz 519-520 Rjazanov, D. 80, 85, 435 Robespierre, Maximilien 243,276, 287, 290, 313, 468-469, 480 Rocker, Rudolf 397, 403, 426 Roma del Popolo 445 Ronge, Johannes 291, 495 Rosdolsky, Roman 93-94, 436 Ross, Arman 11-13, 16-17, 19, 2123, 25-33, 35-45, 48, 53, 5559, 69, 71-73, 76-78, 87, 92, 100, 472 Rousseau, Jean Jacques 241, 276, 480 Rozenštejn, Marija 35 Rubel, Maximilien 81, 437 Rue 20 Ruge, Arnold 288, 483-485, 488 Rühle, Otto 400, 403, 409, 431 Sächsische Vaterlandsblätter 495 Sagasta, Práxedes 105-106, 138, 443-444 Saint-Just, Louis de 287

541

Saint-Simon, Claude-Henri Comte de 290,518 Sand, Karl Ludwig 264, 474-475 Santillán, Diego Abad de 92, 93 Sapir, Boris 25-29, 35, 53, 79, 100 Šapiro, Aleksandr 79, 93 Schapper, Karl 493-494 Scharnhorst, Gerhard Johann David von 248, 470, 472 Scherrer, Heinrich 519 Scheu, Andreas 451 Schiller, Friedrich von 206, 241, 275 Schmalz, Theodor 470-471 Schmoller, Gustav 525 Schulenburg, Friedrich Wilhelm Graf von der 454 Schulze-Delitzsch, Franz Hermann 330, 332-335, 509-513 Schurz, Carl 326-327, 506-507 Schwarzenberg, Felix Fürst zu 144, 191, 255, 318, 321-322, 455 Schweizerischer Republikaner 486 Schwerin, Maximilian Graf von 508 sds-korrespondenz 85 Senese, Donald L. 69 Shatz, Marshall S. 52 Sigismund (dt. König) 457, 459 Silberner, Edmund 51, 490 Simonovič 35 Šiško, Leonid 64, 75 Slavic Review 10 Slavonic and East European Review 456 Šlykova, Virginija 10 Smeckaja, Nadežda 30, 31-32, 35, 37 Smirnov, Valerian 12, 33, 100 Sokolov, Nikolaj 26, 33 Solger, Reinhold 480 Souchy, Augustin 425 Spier, Samuel 519

542

Springer, Axel 392 Stalin, Jossif 404, 421 Staphany, Friedrich 489 Starke, Rudolf 520 Stein, Heinrich Freiherr vom 214, 248, 257-258, 273, 470, 472473 Stein, Julius 291, 494 Stein, Lorenz von 288, 485 Stenographisches Bulletin 518 Stepnjak, Sergei 14, 64, 69-71 Stirner, Max 289, 426, 489-490 Stoffel 453 Streckfuss, Adolph 489 Stuke, Horst 94-95, 532 Sudzilovskaja, Evgenija 35, 58 Sudzilovskij, Nikolaj 56 Suslova, Nadežda 9-10 Syndikalist 426 Tacitus, P. 265 Tamerlan (Timur Lenk) 235, 467 Teleskop 526 Tetzel, Johannes 292, 496 Theiss, Albert-Félix 448 Thiers, Adolphe 118, 124, 127128, 130-131, 190, 311, 441442, 444, 446, 452-453, 463, 502-503 Thun, Alphons 10, 20, 59 Thun, Leo Graf von 144, 455 Tiburtius, Franziska 42 Times 443 Tkačev, Petr 87-90 Tolain, Henri-Louis 448 Triersch, Bernhard 504 Trofimova, A. 35 Trotzki, Leo 402-403 Trusov, Anton 45-46 Turgenev, Ivan 490 Uhlich, Leberecht 496 Ursati, Semen 26

Vachovskaja, Varvara 30, 32-33, 35, 39, 42, 58-59 Vachovskij, Eduard 42 Veličanskaja, L. 80 Vencia, Alexis 20 Venturi, Franco 68-69, 88, 100 Viesel, Hansjörg 93-96, 392, 534 Viktor Emanuel II. (italienischer König) 106, 173, 443, 446 Virchow, Rudolf 330,509, 524 Vogt, Gustav 519 Volin (Wollin) 402-403 Volk, S. 100 Volksstaat 84, 351, 355, 519-522 Voltaire 112, 241, 276, 446 Vorbote 448-449, 519, 530 Vorwärts 479, 496-497 Vpered! 24, 29, 53, 58, 63-64, 69, 74-76, 79, 87, 100, 527 Wage 475 Wagener, Hermann 507 Wagner, Adolph 525 Weerth, Georg 496 Wehler, Hans-Ulrich 489 Weintraub, Wiktor 456 Weitling, Wilhelm 288, 485-487, 493 Wellington, Arthur Duke of 251

Wenzel I. (böhmischer König) 174, 176, 179, 459 Wigand, Otto 484 Wigard, Franz 501 Wilhelm I. (deutscher Kaiser) 315, 321-323, 325, 328, 441, 503, 505 Wilhelm von Oranien 252, 472 Windischgrätz, Alfred Fürst zu 268, 314, 477 Wirth, Johann Georg August 270, 478 Wittgenstein, Wilhelm Ludwig Georg Fürst zu Sayn- 258, 472 Wolff, Adolf 504 Wolff, Wilhelm 497 Zajcev, Varfolomej 36, 38, 44, 71 Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 444 Zeitschrift für slavische Philologie 12 Ziber, Nikolaj 80 Zinn, Georg August 394 Zitelmann 514 Žižka, Jan 175, 457, 459 Zolkiewski 464 Zorila, Manuel Ruez 138, 454

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Michael Bakunin AUSGEWÄHLTE SCHRIFTEN Herausgegeben von Wolfgang Eckhardt

Band 1 Gott und der Staat Bakunins grundlegender Text mit einer Einleitung von Paul Avrich und Dokumenten zur Editionsgeschichte von Elisée Reclus und Max Nettlau. 160 S. / ISBN 3-87956-222-9 / DM 22,00 (Hardcover DM 42,00)

Band 2 »Barrikadenwetter« und »Revolutionshimmel« Bakunins Artikel und Pamphlete in der radikaldemokratischen ›Dresdner Zeitung‹ (1849). Mit einer Einleitung von Boris Nikolaevskij. 192 S. / ISBN 3-87956-223-7 / DM 24,00 (Hardcover DM 44,00)

Band 3 Russische Zustände Erste Ausgabe der deutschen Originalfassung seit 1849. »Besorgen Sie sich diese Broschüre«, schrieb Alexander Herzen kurz nach Erscheinen der Erstausgabe, »sie ist wunderbar.« Mit einer Einleitung von Boris Nikolaevskij. 144 S. / ISBN 3-87956-231-8 / DM 22,00 (Hardcover DM 42,00)

in Vorbereitung: Band 5 Die Schweizer Polizei und andere Texte zu Staat und Asyl. Der »Fall Nedaev«. Mit einer Einleitung von Jeanne-Marie. ca, 144 S. / ca. DM 22,00 (Hardcover ca. DM 42,00)

Weitere Bände in Vorbereitung. Beim Verlag kann ein Editionsplan angefordert werden.