Menschenrechte und Staatlichkeit [1 ed.] 9783428542277, 9783428142279

Welcherart Normen sind Menschenrechte? Wie unterscheiden sich Menschenrechte von individuellen Rechten und von allgemein

129 74 218KB

German Pages 61 Year 2013

Report DMCA / Copyright

DOWNLOAD FILE

Polecaj historie

Menschenrechte und Staatlichkeit [1 ed.]
 9783428542277, 9783428142279

Citation preview

Menschenrechte und Staatlichkeit

Von

Christine Chwaszcza

A Duncker & Humblot · Berlin

CHRISTINE CHWASZCZA Menschenrechte und Staatlichkeit

Lectiones Inaugurales Band 4

Menschenrechte und Staatlichkeit

Von

Christine Chwaszcza

Duncker & Humblot · Berlin

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte vorbehalten © 2013 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fremddatenübernahme: Klaus-Dieter Voigt, Berlin Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 2194-3257 ISBN 978-3-428-14227-9 (Print) ISBN 978-3-428-54227-7 (E-Book) ISBN 978-3-428-84227-8 (Print & E-Book) Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706 ∞



Internet: http://www.duncker-humblot.de

Vorwort Der hier abgedruckte Vortrag geht auf die Antrittsvorlesung zurück, die ich am 7. November 2012 vor der Philosophischen Fakultät der Universität zu Köln gehalten habe. Für die schriftliche Fassung wurde der Text an mehreren Stellen durch Beispiele ergänzt; Abschnitt II. 3. und der Appendix sind neu hinzugekommen. Ich danke dem Verlag Duncker & Humblot für die Anregung zur Veröffentlichung. Christine Chwaszcza

Inhaltsverzeichnis I. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Menschenrechte als Legitimitätsstandards soziopolitischer Institutionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Kritik der individualrechtlichen Auffassung von Menschenrechten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Menschenrechte als Statusnormen . . . . . . . . . . 3. Zur Abgrenzung der Menschenrechte von Forderungen der politisch-sozialen Gerechtigkeit 4. Zum Übergang von nationalen zu transnationalen Menschenrechten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Kritik der interventionistischen Auffassung von Menschenrechten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Zur philosophischen Motivation der interventionistischen Auffassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Kritik an Beitz’ Kritik eines „Menschenrechts auf Demokratie“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Kritik an Beitz’ Auffassung des Verbindlichkeitsanspruches von Menschenrechten . . . . . . . 4. Zum universellen Geltungsanspruch der Menschenrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Transnationale Menschenrechte zwischen (Völker-)Recht und Politik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Résumé . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

9 13 13 17 26 31 33 33 35 39 45 49 52

Appendix: Philosophie der Menschenrechte ohne Metaphysik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

53

Zur Autorin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

59

I. Einleitung Wir sprechen von Menschenrechten, aber nicht von Menschenpflichten. Wenn jemandes Menschenrechte verletzt werden, so geschieht dies gewöhnlich nicht durch die Handlung einer Privatperson, sondern eines Vertreters der Staatsgewalt. Menschenrechte, das galt lange Zeit als ausgemacht, artikulieren Ansprüche, die Bürger und aufenthaltsberechtigte Personen „dem Staat“ gegenüber haben, womit in erster Linie der jeweils eigene Staat oder Aufenthaltsort gemeint ist – oder besser gesagt: gemeint war. Denn in den letzten zwei Jahrzehnten wird zunehmend von „transnationalen“ Menschenrechten gesprochen, und zwar nicht nur in der Philosophie. Obwohl es nur wenige Auffassungen zum Begriff der Menschenrechte gibt, die nicht kontrovers diskutiert werden, halte ich die Entwicklung transnationaler Menschenrechte für eine praktisch nicht nur gerechtfertigte, sondern auch theoretisch konsequente Weiterentwicklung eines Kerngedankens der neuzeitlich-liberalen Staats- und Rechtsphilosophie. In Theorie und Praxis besteht im Moment allerdings wenig Einigkeit darüber, wie und in welche Richtung sich diese Entwicklung bewegt. In meinem Vortrag möchte ich zwei der zentralen Streitpunkte darstellen und aus Sicht der politischen Philosophie beleuchten. Die erste Frage lautet: „Was ist die besondere Rolle bzw. Funktion von Menschenrechten im Gesamtsys-

10

I. Einleitung

tem moralischer und juridischer Normen?“ Die zweite Frage lautet: „Wie ist der Anspruch auf universelle Geltung der Menschenrechte zu verstehen?“ Nach der Rolle des Begriffs der Menschenrechte in der Praxis zu fragen, folgt der Maxime Ludwig Wittgensteins, dass die Bedeutung eines Wortes in vielen Fällen sein Gebrauch in der Sprache ist.1 Im Falle normativer Begriffe manifestiert sich dieser Gebrauch sowohl in den relevanten Normen, Prinzipien und Regelungen in der Praxis als auch in den kritischen Diskursen darüber. Praxis meint hier die Gesamtheit moralischer und juridischer Normensysteme. Dabei sind nicht nur verschiedene Normsphären zu unterscheiden, sondern auch verschiedene Rollen oder Aufgaben, die einzelne Normtypen innerhalb der Teilsysteme übernehmen. Aus philosophischer Sicht geht es bei der Frage nach der Rolle der Menschenrechte in der Praxis vor allem um eine Abgrenzung des Regelungsbereichs menschenrechtlicher Normen von Normen der politisch-sozialen Gerechtigkeit auf der einen Seite und um die Abgrenzung von Moral und Recht sowie von Moral und Politik auf der anderen Seite. Für das Verständnis der besonderen Rolle der Menschenrechte im Gesamtsystem der Normen ist der Umstand bemerkenswert, dass es sich um eine Begriffsrenaissance handelt, die in der Praxis des Völkerrechts des 20. Jahrhunderts erfolgte. Tatsächlich war der Begriff der Menschenrechte in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts nicht nur in der politischen Pra1 Ludwig Wittgenstein: Philosophische Untersuchungen, hg. v. G. E. M. Anscombe, Oxford 1953, § 43.

I. Einleitung

11

xis missachtet und verpönt, sondern galt auch in der politischen Philosophie – und zwar in so unterschiedlichen Richtungen wie Utilitarismus, Marxismus und Historismus – als obsolet, um nicht zu sagen als philosophischer Unsinn, in den berühmten Worten Jeremy Benthams als „nonsense upon stilts“.2 Die Renaissance des Begriffs der Menschenrechte im Völkerrecht ist ganz unzweideutig eine Reaktion auf die aktual bestehenden moralischen Problemlagen im Anschluss an den Zweiten Weltkrieg. Das belegt die praktische Unverzichtbarkeit des Begriffs, wirft aber zugleich die Schwierigkeit auf, eine systematische Verbindung zwischen der Rolle der Menschenrechte im traditionellen Kontext der Entwicklung rechtsstaatlicher Praktiken und den vergleichsweise offenen Entwicklungsprozessen in der Praxis des Völkerrechts herzustellen. Menschenrechte, so die These, die ich im Folgenden vertreten möchte, artikulieren Legitimitätsstandards für Institutionen, denen eine besondere Rolle in Phasen der Transformation und Innovation institutioneller Strukturen zukommt – sowohl auf einzelstaatlicher, als auch auf völkerrechtlicher Ebene. Diese These grenzt sich von der Auffassung ab, Menschenrechte seien eine spezifische Teilklasse individueller Rechte. Abschnitt II. wird die These erläutern und begründen. Abschnitt III. wendet sich einer speziellen Interpretation der Rolle von Menschenrechten zu, die ich als interventionistische Menschenrechtsauffassung bezeichnen möchte. Die interventionistische Auffas2 Jeremy Bentham: Anarchical Fallacies, in: id.: Works vol. 2, hg. v. John Bowring, London 1843.

12

I. Einleitung

sung geht auf einen Vorschlag John Rawls’ zurück,3 den Charles Beitz ausgearbeitet und in einer Monographie mit dem Titel „The Idea of Human Rights“ publiziert hat.4 Nach Beitz bezeichnen Menschenrechte Legitimitätsstandards von Institutionen, deren Einhaltung transnational zu gewährleisten ist. Konkret heißt dies, dass Menschenrechte Normen sind, die eine Einmischung von außen in die inneren Angelegenheiten eines anderen Staates rechtfertigen. Diese Auffassung versteht sich als normativ-theoretische Auslegung der Entwicklung völkerrechtlicher Menschenrechtsregime und unterstellt, dass der universelle Geltungsanspruch von Menschenrechten sich darin manifestiert, dass Menschenrechte transnationale Verbindlichkeiten generieren. Das interventionistische Menschenrechtsverständnis mag vordergründig radikal erscheinen. Tatsächlich führt es zu einem außerordentlich restriktiven Menschenrechtsbegriff, und ich werde es in Abschnitt III. kritisieren.

3 John Rawls: The Law of Peoples, in: Susan Hurley/ Stephen Shute (Hg.): On Human Rights. Oxford Amnesty Lectures 1993, S. 41–82. 4 Charles Beitz: The Idea of Human Rights, Oxford 2009.

II. Menschenrechte als Legitimitätsstandards sozio-politischer Institutionen Die wahrscheinlich populärste Auffassung von Menschenrechten versteht Menschenrechte als „Rechte“ – im Sinne individueller Rechte in einem quasi-juridischen Sinne –, die jedem Menschen zukommen. Ich werde diese Auffassung im Folgenden als „individualrechtliche“ Auffassung bezeichnen, im Kontrast zu der von mir, in ähnlicher Form aber auch von Beitz, vertretenen „institutionalistischen“ Konzeption. 1. Kritik der individualrechtlichen Auffassung von Menschenrechten Prima facie ist die These, Menschenrechte seien eine spezielle Unterklasse individueller Rechte, aus zwei Gründen theoretisch sehr attraktiv. Erstens ist die Idee der Menschenrechte, wie James Griffin betont, historisch betrachtet eng mit der Entwicklung der Idee individueller Rechte verbunden.5 Zweitens ist das Rechtsinstrument individueller Rechte in der Philosophie und Rechtstheorie inzwischen theoretisch weit entwickelt und aus der Rechtspraxis schlechterdings nicht wegzudenken. Das heißt zwar keineswegs, dass die Idee individueller Rechte jenseits jeder normativen Kritik stünde, und schon gar nicht, dass es 5

James Griffin: On Human Rights, Oxford 2008.

14

II. Menschenrechte als Legitimitätsstandards

theoretische Übereinstimmung hinsichtlich der Analyse individueller Rechte gäbe. Aber es heißt zumindest, dass eine individualrechtliche Menschenrechtsauffassung nicht als philosophischer „nonsense“ abgestempelt werden kann. Eine offensichtliche Herausforderung des individualrechtlichen Ansatzes liegt in der Bestimmung eines überzeugenden Abgrenzungskriteriums, das die spezielle Klasse der Menschenrechte von anderen ebenfalls normativ gerechtfertigten individuellen Rechten abgrenzt, insbesondere von Forderungen der politisch-sozialen Gerechtigkeit. Hier beginnen denn auch die theoretischen Schwierigkeiten. Denn die meisten Vertreter des individualrechtlichen Ansatzes votieren für ein substantiell-inhaltliches Abgrenzungskriterium. Dabei lassen sich – ein wenig vereinfachend – zwei größere Strömungen unterscheiden, die ich der Literatur folgend als „konsenstheoretische“ Variante und als „universalanthropologische“ Variante bezeichnen möchte. Konsenstheoretische Varianten schlagen vor, unter den Begriff der Menschenrechte nur solche normativen Forderungen zu fassen, die Interessen, Bedürfnisse und Wertorientierungen schützen, die inter-kulturell anerkannt sind oder sich als konsensuales Resultat aus einem noch zu leistenden interkulturellen Diskurs ergeben.6 Demgegenüber orientieren sich uni6 Siehe neben anderen: Richard Rorty: Human Rights, Rationality, and Sentimentality, in: Susan Hurley/Stephen Shute (Hg.): On Human Rights. The Oxford Amnesty Lectures 1993, New York 1993, S. 111–134. Die konsenstheoretische Variante leidet unter der generellen Schwierigkeit, das normativ-kritische Potential der Berufung auf

1. Kritik der individualrechtlichen Auffassung

15

versalanthropologische Ansätze an der Metaphorik des Begriffs und verstehen Menschenrechte als Rechte, die Menschen schlicht qua besonderer menschlicher Eigenschaften zukommen. Damit ist im Einzelnen durchaus Unterschiedliches gemeint: zum Beispiel die These, dass Menschenrechte kulturindifferente, quasibiologische Interessen und Bedürfnisse von Menschen schützen7 oder dass sie die Entfaltung genuin menschlicher Fähigkeiten gewährleisten sollen wie normative Selbstbestimmung und die Verfolgung zeitübergreifender Projekte8 oder dass sie die Entwicklung der kognitiven Fähigkeiten und emotionalen Kompetenzen von Personen befördern sollen.9 Beide Varianten sind offen für eine Vielzahl von Einwänden. Ich möchte mich im Folgenden auf einen gemeinsamen Kritikpunkt konzentrieren, der sich gegen den substantiellen Abgrenzungsversuch als solchen richtet – d. h. gegen jeden Versuch, Menschenrechte „inhaltlich“ von anderen normativen Forderungen abzugrenzen. Wie einleitend bereits angesproMenschenrechte verständlich machen zu können. Wenn Menschenrechte erst durch einen Konsens gefunden werden müssen, dann ist ihr aktualer Einfluss ein normatives Rätsel. 7 Wolfang Kersting: „Dürfen Menschenrechte mit Gewalt zwischenstaatlich durchgesetzt werden? Rechtsphilosophische Überlegungen zu einer Ethik der Intervention“, in: id.: Politik und Recht. Abhandlungen zur politischen Philosophie der Gegenwart, Weilerswist 2000, S. 237– 273. 8 Griffin (2008), s. Fn. 5; Griffin selbst spricht von „human agency“, wofür es leider keine gute deutsche Übersetzung gibt. 9 Martha Nussbaum: „Capabilities and Human Rights“, Fordham Law Review 66/2 (1997), S. 273–300.

16

II. Menschenrechte als Legitimitätsstandards

chen, zeichnen sich menschenrechtliche Normen in erster Linie nicht durch ihre inhaltliche Bestimmung aus, sondern durch ihre spezifische Regulationsfunktion. Das wird besonders deutlich, wenn man sich vergegenwärtigt, welcher Art Vergehen oder Zustände als eine Verletzung der Menschenrechte gelten. Nehmen wir als Beispiel die Verletzung der physischen Integrität von Personen, deren Schutz unstrittig als substantieller Inhalt von Menschenrechten anerkannt wird. Zweifelsfrei bezeichnet jeder Mord und jeder Totschlag eine Verletzung der physischen Integrität eines Menschen. Aber nicht jeder Mord oder Totschlag zählt als Menschenrechtsverletzung. In rechtlich geordneten Verhältnissen gilt eine solche Tat gewöhnlich als Verbrechen oder Straftatbestand. Demgegenüber liegt eine Menschenrechtsverletzung insbesondere dann vor, wenn ein Vertreter eines öffentlichen Amtes eine solche Tat aus politischen Gründen oder anderen Motiven begeht, die als Machtmissbrauch aufgefasst werden können. – Wenn der Premierminister den Liebhaber seiner Frau ermordet, handelt er allerdings gewöhnlich aus Eifersucht und wird des Mordes angeklagt. – Von Menschenrechtsverletzungen gesprochen wird weiterhin dann, wenn eine Regierung entweder nicht willens oder nicht fähig ist, derartige Straftaten zu ahnden. Das schließt Zustände ein, in denen allgemeine Anarchie und Rechtlosigkeit vorherrschen. Zum menschenrechtlichen Schutz der physischen Integrität gehört daher keineswegs nur die wechselseitige Unterlassung willkürlicher Schädigungen der physischen Integrität, die als solche natürlich sowohl moralisch verboten als auch rechtlich unzulässig sind. Die besondere Rolle

2. Menschenrechte als Statusnormen

17

der Menschenrechte besteht in der Forderung nach einem institutionellen Rahmen zum Schutz der physischen Integrität.10 Dazu gehört insbesondere die Einrichtung eines funktionierenden Rechtssystems, das entsprechende Straftatbestände festlegt und institutionalisierte Formen einer effizienten Strafverfolgung und Rechtsdurchsetzung vorsieht. 2. Menschenrechte als Statusnormen Wie das Beispiel veranschaulicht, ist der Begriff der Menschenrechte in der Praxis sehr viel stärker mit der Gewährleistung spezifischer institutioneller Strukturen und der Einrichtung bzw. Gestaltung regulierender Normensysteme verbunden, als mit dem substantiellen Inhalt der entsprechenden Normen. Tatsächlich ist es keineswegs ungewöhnlich, dass substantiell-moralische Inhalte – und dies gilt gerade für besonders prekäre Inhalte – nicht nur durch einen Normtypus und nicht nur in einer Normsphäre geschützt werden, sondern normativ überdeterminiert sind und mehrfach geschützt werden, zum Beispiel gleichermaßen durch moralische Normen als auch durch rechtliche und institutionelle Vorkehrungen. Insbesondere moderne Gesellschaften zeichnen sich dadurch aus, dass ihre normativen Regelungssysteme eine komplexe Struktur von sich partiell überlappenden, partiell hierarchisch geordneten und partiell in10 So heißt es in Art. 6 Abs. 1 des Internationalen Paktes über bürgerliche und politische Rechte (BGBl. 1973 II 1553) explizit: „Jeder Mensch hat ein angeborenes Recht auf Leben. Dieses Recht ist gesetzlich zu schützen. Niemand darf willkürlich seines Lebens beraubt werden.“

18

II. Menschenrechte als Legitimitätsstandards

einandergreifenden Normen aus verschiedenen Quellen bilden. Einzelne Subsysteme, wie etwa das Recht, sind selbst in sich komplex strukturiert und mit anderen Normsphären verknüpft.11 Innerhalb solcher Normsysteme gibt es gewöhnlich eine Form normativer Arbeitsteilung, die ich mithilfe einiger exemplarischer Unterscheidungen kurz umreißen möchte. Wenn von Normen die Rede ist, denken die meisten Personen wahrscheinlich zunächst an handlungsregulierende Normen, also an Normen, die bestimmte Handlungen vorschreiben, verbieten oder erlauben – sei es im Kontext der Straßenverkehrsordnung, des Privatrechts, oder von Vorschriften für das Verhalten von Staatsbediensteten. Aber keineswegs alle Normen sind in diesem unmittelbaren Sinne „handlungsregulierend“. So gibt es Typen von Normen, für die ich die Bezeichnung „Statusnormen“ einführen möchte, weil sie der Bestimmung des moralischen und rechtlichen Status von natürlichen Personen einerseits und der Bestimmung der Aufgaben und Kompetenzen öffentlicher Ämter andererseits dienen. Statusnormen zeichnen sich vor allem dadurch aus, dass sie norm-generierend und norm-korrigierend wirken, indem sie Gründe für den Erlass bestimmter Regelungen artikulieren oder bestehende Regelungen als nicht (länger) akzeptabel und änderungsbedürftig qualifizieren. Statusnormen sind in diesem Sinne primär Normen für Normen; sie formulieren Standards der Legitimität für die Einrich-

11 H. L. A. Hart: The Concept of Law, hg. v. Penelope Bulloch/Joseph Raz, Oxford: 1997.

2. Menschenrechte als Statusnormen

19

tung und Ausgestaltung von Institutionen und die Normensysteme ihrer einzelnen Teilbereiche. Mit Blick auf natürliche Personen umschreiben Statusnormen den moralischen und rechtlichen Status von Einzelpersonen in verschiedenen Kontexten, etwa als Bürger, als Rechtssubjekte, als Strafgefangene, als Flüchtlinge, als Asylbewerber, als staatenlose Personen oder als Kriegsgefangene. Traditionell gilt es als Kerngehalt der Idee der Menschenrechte, dass allen Personen ein egalitärer moralischer und rechtlicher Status unabhängig von Geschlecht, Sprache, politischen oder weltanschaulichen Überzeugungen, Rasse, Hautfarbe, Religion, Vermögen, Geburt sowie nationaler oder sozialer Herkunft zuerkannt werden muss. Diese Forderung ist zunächst formal, ihre inhaltliche Ausfüllung muss immer vor dem Hintergrund der praktischen Zwecke und Gefährdungen erfolgen, denen Einzelpersonen in verschiedenen sozialen und juridischen Kontexten ausgesetzt sind.12 Ein zentraler Gegenstand der Regelungsfunktion von Statusnormen ist die Gestaltung politisch-rechtlicher Institutionen. Tatsächlich sind sozio-politische Institutionen wie der Staat, Souveränität, politische Herrschaft, das öffentliche, private oder internationa12 Neben dem Schutz der physischen Integrität und dem Schutz vor willkürlichen Maßnahmen öffentlicher Gewalten fordern Menschenrechte traditionell auch Freiräume normativer individueller Selbstbestimmung und egalitäre Möglichkeiten zur Partizipation an öffentlichen gesellschaftlichen Praktiken. In verschiedenen institutionellen Kontexten müssen menschenrechtliche Forderungen allerdings inhaltlich den kontextuell gerechtfertigten normativen Erwartungen und unterschiedlichen Bedrohungen angepasst werden.

20

II. Menschenrechte als Legitimitätsstandards

le Recht normativ ausgestaltete Positionen oder Funktionen, die durch die mit diesen Positionen und Funktionen verbundenen Kompetenzen und Zuständigkeiten definiert werden. Sie sind keineswegs natürlich gegeben, sondern abstrakte Normensysteme, die Ämter und Organe konstituieren, die dann in der Praxis durch Amtspersonen repräsentiert werden müssen. So bezeichnet Souveränität (aus innerstaatlicher Perspektive betrachtet) unter anderem eine Ermächtigung – Autorisation – zum Erlass allgemein verbindlicher Normen, was in Verbindung mit anderen Regelungen den normativen Status des Legislateurs bzw. der Legislative konstituiert. Statusnormen definieren in diesem Sinne die Aufgaben und Befugnisse von Institutionen, was gewöhnlich auch die Bestimmung der zulässigen Mittel zur Wahrnehmung der Aufgaben und die Verfahren zur Besetzung der sie repräsentierenden Personen miteinschließt. Zu Statusnormen für Institutionen zähle ich in diesem Sinne alle Normen oder Prinzipien, die der Bestimmung der legitimen Zwecke von öffentlichen Institutionen dienen und die die zulässigen Mittel zur Verfolgung dieser Zwecke eingrenzen. Solche Normen regeln in erster Linie die Kompetenzen und den Aufgabenbereich öffentlicher Ämter und die Autorisationsverfahren ihrer Besetzung. Anders als handlungsanleitende Normen schreiben Statusnormen jedoch in der Regel keine spezifische Handlungsweise vor, sondern umreißen normative Befugnisse und Verantwortlichkeiten. Statusnormen haben jedoch nicht nur eine konstitutive, sondern auch eine korrektive Funktion. In letzte-

2. Menschenrechte als Statusnormen

21

rem Sinne artikulieren sie substantielle Standards der Gültigkeit konkreter Norminhalte und fungieren als substantielle Validitätskriterien für Normen. So hat gerade die weitgehend formale menschenrechtliche Forderung, dass allen Personen ein egalitärer moralischer und rechtlicher Status zuerkannt werden muss, eine in hohem Maße korrektive Funktion, die sich über verschiedene politisch-rechtliche Normsphären erstreckt. Mit Blick auf universalanthropologische Varianten des individualrechtlichen Menschenrechtsverständnisses ist dezidiert festzuhalten, dass sich das mit der formalen Gleichheit einhergehende Diskriminierungsverbot nicht plausibel auf spezifische substantielle Inhalte beschränken lässt, sondern bereichsspezifisch ganz unterschiedliche Forderungen rechtfertigt. Die normative Relevanz des Diskriminierungsverbots entfaltet sich gerade in seiner Applikation auf die Vielfalt sozio-politischer und rechtlicher Partizipations- und Regelungssphären, die für moderne Gesellschaften charakteristisch sind.13 13 Diese Kontexte können im Einzelnen natürlich sehr komplex sein und entsprechend weitreichende Regelungen erfordern. Als Beispiel mag hier das Recht auf Verteidigung im Falle einer gerichtlichen Anklage angeführt werden, das im Falle fehlender Mittel zur privaten Beauftragung eines Verteidigers eine für den Angeklagten unentgeltliche Bereitstellung eines Verteidigers von Seiten der relevanten Behörden vorsieht, „wenn dies im Interesse der Rechtspflege erforderlich ist“ (Internationaler Pakt über bürgerliche und politische Rechte, Art. 14 Abs. 3 Buchst. d). Das Beispiel zeigt wiederum ganz deutlich, dass es hier nicht um den Schutz universalanthropologischer Eigenschaften des Menschen geht, sondern um den Schutz des Individuums im Kontext komplexer sozio-politischer Institutionen.

22

II. Menschenrechte als Legitimitätsstandards

Die Unterscheidung verschiedener Typen und Aufgaben von Normen ist allerdings nicht so zu verstehen, dass die Funktion einer Norm durch ihre semantisch-grammatische Formulierung festgelegt wäre. Die Unterscheidung verschiedener Normtypen ist vielmehr eine Unterscheidung verschiedenartiger Regelungsbereiche und Regelungsmechanismen, die Normen in verschiedenen Funktions-, Rechtfertigungs- und Begründungskontexten erfüllen können. Das schließt natürlich keineswegs aus, dass formulierungsäquivalente Normen in verschiedenen Kontexten auch unterschiedliche Funktionen erfüllen. So bezeichnet beispielsweise die Norm pacta sunt servanda im Kontext des Internationalen Vertragsrechts eine konstitutive Norm; im Falle eines Streitfalls vor Gericht kann eine gleichlautende Formulierung aber auch als Handlungsanweisung dienen, etwa wenn der Richter dem Angeklagten die Auflage erteilt, seine Vertragspflichten zu erfüllen. Die These, dass Menschenrechte Legitimitätsstandards für sozio-politische Institutionen artikulieren, ordnet Menschenrechte der Klasse der Statusnormen zu. Entsprechend wird die besondere Rolle von Menschenrechten an ihrer spezifischen Funktion innerhalb des Gesamtsystems der Normen festgemacht, nicht an bestimmten substantiellen Inhalten. Als Statusnormen verstanden regeln Menschenrechte grundlegende Strukturaspekte und Zwecke sozio-politischer Institutionen. Das heißt zum einen, dass sie sich nicht auf den Normtypus individueller Rechte einschränken lassen. Zum anderen ist mit dieser Auffassung die These verbunden, dass sich inhaltliche Bestimmungen von Menschenrechten nicht aus kultur- oder universal-

2. Menschenrechte als Statusnormen

23

anthropologischen Auffassungen speisen, sondern aus normativen Diskursen über die Legitimitätsbedingungen sozio-politischer Institutionen. Betrachtet man etwa die Normen, die in dem Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte von 1966 aufgeführt werden, und die überwiegend unstrittig den Menschenrechten zugerechnet werden, zeigt sich recht klar, dass es sich bei vielen von ihnen um Normen handelt, die grundlegende Prinzipien von Rechtsstaatlichkeit formulieren, indem sie „richtiges“ („gerechtes“) Recht von Willkürmaßnahmen abgrenzen und strukturelle Beschränkungen legitimer Staatsgewalt und ihrer Ausübung artikulieren. So präzisieren die Ausführungen zum gesetzlichen Schutz des Lebens in Art. 6 des Paktes insbesondere Bedingungen der Zulässigkeit der Todesstrafe und institutionelle Verpflichtungen im Falle von Anklagen des Völkermordes; Art. 26 garantiert die Gleichheit aller Personen vor dem Gesetz; die Artikel 9 bis 11 und 14 bis 16 gelten dem rechtlichen Status von Personen im Falle einer Verhaftung und einer gerichtlichen Anklage; Art. 25 formuliert das Recht auf gleichberechtigte Mitgestaltung der öffentlichen Angelegenheiten sowie aktives und passives Wahlrecht.14

14 Der Pakt enthält des Weiteren allgemeine Forderungen, die insbesondere den Status von Individuen im sozialen und politischen Raum betreffen. Hier wären besonders hervorzuheben: das Verbot der Folter (Art. 7), das Verbot der Sklaverei und Zwangsarbeit (Art. 8), das Recht auf Gewissens- und Religionsfreiheit (Art. 18), das Recht auf Meinungsfreiheit (Art. 19), und das Recht auf Versammlungsfreiheit (Art. 21).

24

II. Menschenrechte als Legitimitätsstandards

Ähnlich formulieren viele, wenngleich nicht alle, der Bestimmungen des Internationalen Paktes über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte von 1966 (BGBl. 1976 II 428) normative Zielbestimmungen, die teilweise generelle Standards des normativ Zulässigen umreißen, teilweise aber auch spezielle Aufgaben für die Agenda politisch-legislatorischer Entscheidungen formulieren.15 Auffällig ist, dass die Normen beider Dokumente sich nicht an konkret-individuelle Adressaten richten, sondern an abstrakte Institutionen – die Vertragsstaaten –, die im internationalen Recht durch ihre jeweiligen Regierungen repräsentiert werden. Staaten sind nicht Adressaten von Menschenrechten im üblichen Sinne, sondern vielmehr der Gegenstand ihres Regelungsbereichs.

15 Der menschenrechtliche Status der in diesem Pakt ausgesprochenen Forderungen ist allerdings sehr viel stärker umstritten als der der bürgerlichen und politischen Rechte. Insbesondere Vertreter einer individualrechtlichen Auffassung der Menschenrechte erheben oft den Vorbehalt, dass die wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte sich nicht gut als individuelle Rechte konstruieren lassen, weil sie sehr offen formuliert sind und politische Zielbestimmungen vorgeben. Dies gilt insbesondere für die Anerkennung eines Rechtes auf Arbeit und Maßnahmen zur Sicherung von Vollbeschäftigung (Art. 6), die Anerkennung des Rechtes „eines jeden auf das für ihn erreichbare Höchstmaß an körperlicher und geistiger Gesundheit“ und für die Aufforderung zur Ergreifung von Maßnahmen zur Senkung der Kindersterblichkeit (Art. 12). Strittig ist hierbei, um dies nochmals zu betonen, nicht die normative Plausibilität der genannten Forderungen, sondern ihre Qualifizierung als Menschenrechte.

2. Menschenrechte als Statusnormen

25

Als Statusnormen fungieren Menschenrechte, wie bereits angedeutet, primär als Normen für Normen. Natürlicherweise kommt Statusnormen daher eine besondere Bedeutung in Phasen der Transformation institutioneller Arrangements zu, entweder weil sie selbst Anlass zu solchen Transformationen geben oder weil sie normative Standards für die Ausgestaltung und Bewertung von konkreten Alternativen für eine Veränderung des status quo vorgeben. Menschenrechte artikulieren in diesem Sinne formale und substantielle Standards der Legitimität. Sie fungieren als Rechtfertigungsgründe für den Erlass und den Ausschluss spezifischer Regelungsvorschläge, aber auch für den Aufweis eines neu entstandenen institutionellen Regelungsbedarfs. Sind menschenrechtlich begründete Änderungen und Innovationen aber erst einmal vollzogen, und besteht kein weiterer struktureller Handlungsbedarf mehr, dann manifestiert sich die Menschenrechtskonformität des Normensystems in den Details der institutionellen Struktur und der konkreten Ausgestaltung der bereichsspezifischen Einzelnormen. Abschließend ist von der Rolle der Menschenrechte noch ihre Implementierung auf der Ebene konkreter Normen und Arrangements zu unterscheiden. Als Normen für Normen werden menschenrechtliche Forderungen überwiegend in Rechtsnormen übersetzt, die weiteren rechtspragmatischen Anforderungen, wie Justiziabilität, Praktikabilität und Standards der Rechtssicherheit gerecht werden müssen und häufig auch Handlungsanweisungen an Staatsbedienstete und Repräsentanten offizieller Amtspositionen miteinschließen. Diese konkreten Umsetzungen werde ich

26

II. Menschenrechte als Legitimitätsstandards

auch als „menschenrechtlich begründete“ Normen bezeichnen, weil ihre konkrete inhaltliche Formulierung sich aus den jeweiligen Regelungskontexten ergibt. So formuliert beispielsweise die vielzitierte und oft kritisierte Norm, dass jede Person im Falle einer Verhaftung das Recht hat, „unverzüglich“ einem Richter vorgeführt zu werden, eine kontextspezifische Konkretion, die menschenrechtlich begründet ist – wenn man Prinzipien wie das Verbot willkürlicher Freiheitsbeschränkung durch staatliche Gewalten als Menschenrecht anerkennt –, inhaltlich aber bereits auf praktische Bedingungen des Rechtswesen westlichindustrieller Staaten zugeschnitten ist und Justiziabilität in solcherart organisierten Systemen gewährleisten soll. Der notorische Einwand, dass die konkrete Ausformulierung der Norm schlechterdings nicht auf Gesellschaften passt, in denen weite Regionen nur dünn besiedelt sind und Gerichte von Ort zu Ort ziehen, ist in diesem Sinne keineswegs ein Einwand gegen die menschenrechtliche Begründung der Forderung, sondern nur gegen ihre konkrete Ausgestaltung, die man vernünftigerweise den Umständen und Möglichkeiten verschiedener Gesellschaften anpassen sollte. 3. Zur Abgrenzung der Menschenrechte von Forderungen der politisch-sozialen Gerechtigkeit In ihrer strukturellen Ausrichtung überschneiden sich Menschenrechte mit Forderungen, die sehr häufig der politischen Gerechtigkeit zugerechnet werden. Das gilt vor allem für institutionalistische Auffassungen der Gerechtigkeit, die sich an John Rawls orientieren. In der Theorie der Gerechtigkeit hält Rawls

3. Menschenrechte und politisch-soziale Gerechtigkeit 27

gleich zu Beginn explizit fest, dass die Gerechtigkeit – in der Neuzeit und Moderne – die „oberste Tugend politischer Institutionen“ ist.16 Es ist daher angebracht, die institutionalistische Auffassung der Menschenrechte von dem Begriff der politischen oder sozialen Gerechtigkeit abzugrenzen. Dem allgemeinen Verständnis nach umfasst der Begriff der politischen Gerechtigkeit zwar auch Legitimitätsstandards für sozio-politische Institutionen, hat aber insgesamt einen weiteren Regelungsbereich. Es besteht daher eine partielle Überschneidung von Menschenrechten und politischer Gerechtigkeit, die ich jedoch für unproblematisch halte, da es in vielerlei Hinsicht merkwürdig wäre, Menschenrechte nicht als Forderungen der Gerechtigkeit zu bezeichnen.17 Zu zeigen ist deshalb, inwiefern sich der Begriff der politischen Gerechtigkeit nicht in dieser Schnittmenge erschöpft. Meiner Ansicht nach schließt die Gerechtigkeit auch Grundsätze zur Verteilung der Vorund Nachteile gesellschaftlicher Kooperation mit ein, die nicht die strukturelle Ebene institutioneller Arrangements betreffen, sondern sich auf die Folgen, die Bedingungen und auf konkrete Akte kollektiv-politischer Entscheidungen beziehen. Das gilt zumindest 16 Vgl. John Rawls: Eine Theorie der Gerechtigkeit, Frankfurt 1975, Kap. 1 Abschn. 1. 17 Im Appendix werde ich auf einige Einwände gegen das institutionalistische Menschenrechtsverständnis eingehen, die in der partiellen Überschneidung menschenrechtlicher Forderungen mit Forderungen der politischen Gerechtigkeit ein theoretisches Problem sehen. Da diese Einwände primär normativitätstheoretischer, nicht begriffsanalytischer Art sind, sollen sie jedoch getrennt behandelt werden.

28

II. Menschenrechte als Legitimitätsstandards

für liberale Auffassungen der politischen Gerechtigkeit, die politische und gesellschaftliche Beziehungen nicht als ein marktanaloges System freien Austausches verstehen, das sich normativer Regulierung grundsätzlich entzieht bzw. solcher Regelung grundsätzlich entzogen werden sollte. Ich möchte diese Abgrenzung mithilfe einiger exemplarischer Beispiele kurz erläutern. Die Rolle der Gerechtigkeit, so Rawls, besteht darin, Prinzipien für den Umgang mit praktischen Konflikten bereitzustellen. Praktische Konflikte können recht unterschiedliche Ursachen haben. Sie können sich aufgrund konkurrierender und kollidierender Interesse ergeben, aber natürlich auch aufgrund konkurrierender und kollidierender normativer Überzeugungen oder aufgrund gleichermaßen gerechtfertigter, aber nicht gleichermaßen erfüllbarer Ansprüche verschiedener Gruppierungen. Insbesondere in pluralistischen und liberalen Gesellschaften sind gerade normative Konflikte keineswegs selten, da gesetzliche Verordnungen einen Anspruch auf allgemeine Verbindlichkeit erheben, individuellen Personen aber zugleich das Recht bzw. die Freiheit zugestanden wird, unterschiedliche normative Auffassungen zu haben, die öffentlich respektiert werden müssen. Daher entstehen praktische Konflikte keineswegs ausschließlich auf der Ebene der strukturellen Gestaltung sozio-politischer Institutionen, in Rawls’ Worten auf der Ebene der gesellschaftlichen Grundstruktur, sondern gleichsam regelmäßig im dynamischen Prozess alltäglicher politischer Entscheidungsfindung. Anschaulich gesprochen betreffen solche Konflikte Fragen wie die folgenden: Beeinträchtigen arbeits-

3. Menschenrechte und politisch-soziale Gerechtigkeit 29

rechtliche Regelungen zum Schutz von Beschäftigten die Chancen von Arbeitslosen, Arbeit zu finden; und wenn ja, ist eine entsprechende Gesetzgebung gerecht? Wie lassen sich knappe finanzielle Ressourcen „gerecht“ auf verschiedene Systeme der sozialen Absicherung verteilen? Wie lassen sich unterschiedliche, gleichermaßen öffentlich anzuerkennende normative Auffassungen, etwa über den Wert des Lebens oder den moralischen Status von Embryonen, gesetzlich miteinander vermitteln? Die Liste ließe sich leicht fortsetzen, aber die Beispiele sollten hinreichen, um zu zeigen, dass die Bedingungen politischer Entscheidungsfindung in der Praxis vielfältige gerechtigkeitsrelevante Konfliktlinien aufwerfen, denen überwiegend nicht mit institutionell-strukturellen Maßnahmen begegnet werden kann. Eine Vermittlung derartiger Konflikte muss vielmehr auf der Ebene der konkreten Gestaltung politischer Maßnahmen stattfinden.18 Dabei müssen entsprechende politische Maßnahmen zwar als solche menschenrechtliche Standards respektieren, zum Beispiel dürfen sie religiöse und weltanschauliche Positionen nicht willkürlich dis18 Zum Teil erfolgt diese Vermittlung auch über institutionelle Mechanismen. So sind beispielsweise demokratische Verfahren der Wahl von Repräsentanten und Verfahren demokratisch organisierter Gesetzgebung prozedurale Mechanismen, die Legitimität stiften, sofern diese Verfahren selbst als faire Entscheidungsmethoden anerkannt sind und sofern alle Bürger zumindest formal in gleichem Maße daran partizipieren und die Entscheidungsfindungsprozesse beeinflussen können. Aber auch prozedurale Verfahren müssen häufig durch substantiell normative Gründe ergänzt werden, die die wechselseitige Akzeptanz konkurrierender Auffassungen ermöglichen und eine substantiell-normative Basis der Anerkennung bereitstellen.

30

II. Menschenrechte als Legitimitätsstandards

kriminieren, aber derartige menschenrechtliche Standards benennen nur normative Randbedingungen für eine Vermittlung. Sie bieten keinen hinreichenden normativen Rahmen für eine inhaltliche Vermittlung der unterschiedlichen normativen Positionen. Im Falle konkurrierender und konfligierender Interessen lassen sich zweifelsfrei viele Probleme zumindest eine Zeitlang durch Kompensations- und Ausgleichsmaßnahmen lösen. Normative Konflikte haben demgegenüber in pluralistischen Gesellschaften keine „Lösung“ in dem Sinne, dass die normativen Divergenzen sich „auflösen“ würden. Eine gerechte politische Vermittlung wird daher in vielen Fällen eine Abwägung normativer Gründe und eine kritische Weiterentwicklung akzeptierter normativer Prinzipien erfordern, die am besten auf der Ebene substantieller Normgestaltung erfolgt und von integrativen gesamtgesellschaftlichen Diskursen begleitet werden muss. Die angeführten gerechtigkeitsrelevanten Konflikte umreißen exemplarisch den Regelungsbereich dessen, was ich als politische oder soziale Gerechtigkeit im engeren Sinne bezeichnen würde. Diese Probleme entstehen in der konkreten politischen Praxis, und weil diese Praxis dynamisch ist, verändern sie sich auch. Sie entstehen aber überwiegend nicht aufgrund illegitimer institutioneller Strukturen, sondern sind genuin „praktisch“ bedingt und müssen auf der Ebene politischer Gestaltung und Entscheidungsfindung ausgehandelt werden. Das gilt auch und gerade für normative Konflikte in pluralistischen Gesellschaften.19 19 Rechtstheoretiker wie Ronald Dworkin scheinen allerdings der Ansicht, dass die meisten normativen Kon-

4. Nationale und transnationale Menschenrechte

31

Sofern gerechtigkeitsrelevante politische Konflikte allerdings Fragen aufwerfen, die die Legitimität bestehender Teilinstitutionen in Zweifel ziehen oder einen normativ gerechtfertigten Bedarf neuzuschaffender Institutionen ans Licht bringen, werden sie auch menschenrechtlich relevant. Ob dies der Fall ist oder nicht, ist aber in entscheidender Hinsicht eine Frage der Struktur und der Ursachen des jeweiligen Konflikts. 4. Zum Übergang von nationalen zu transnationalen Menschenrechten Sofern die These überzeugend ist, dass Menschenrechte normative Forderungen an Institutionen stellen, artikulieren Menschenrechte auch normative Einschränkungen für die Institution des Völkerrechts und für institutionelle Aspekte der normativen Praxis zwischenstaatlicher Beziehungen. Schließlich handelt es sich auch beim Völkerrecht und der Praxis der internationalen Beziehungen um normgeleitete Praktiken – an denen sich übrigens fast alle Einzelstaaten ganz ungeachtet ihrer kulturellen Unterschiede gleichermaßen beteiligen. Inhaltlich und funktional unterscheiden sich internationale Praktiken zwar von nationalstaatlichen Institutionen. Dessen ungeachtet sind sie fliktlinien in juristische Rechtsansprüche umgewandelt werden sollten, um sie dem politischen Vermittlungsverfahren entziehen und einem juridischen Vermittlungsverfahren übertragen zu können, das nach Dworkin für derartige Aufgaben besser geeignet ist. Zur theoretischen und praktischen Kritik siehe neben anderen: Jeremy Waldron: Law and Disagreement, Oxford 1999.

32

II. Menschenrechte als Legitimitätsstandards

nicht weniger als nationalstaatliche Institutionen legitimationsbedürftig. Entsprechend der skizzierten institutionalistischen Auffassung von Menschenrechten können Unterschiede der institutionellen Kontexte, sofern sie moralisch relevant sind,20 auch inhaltliche Unterschiede zwischen nationalstaatlichen und transnationalen Menschenrechtsforderungen begründen. In dieser Hinsicht steht die institutionalistische Auffassung quer zu der weitverbreiteten Ansicht, dass der „universelle“ Geltungsanspruch von Menschenrechten sich darin manifestiert, dass sie „überall“ und gegenüber „global allen“ Personen gleicherweise gelten. Auch die interventionistische Auffassung der Menschenrechte von Charles Beitz, die ich im dritten Teil meines Vortrages kritisieren möchte, orientiert sich an einem „globalen“ Verständnis „universeller“ Geltung.

20 Moralisch relevante Unterschiede sind zum einen natürlich die Zwecke und Ziele der jeweiligen Institutionen, zum anderen bereichsspezifische Autorisationsstrukturen, die Distribution und Organisation von Regelungskompetenzen, die Gestaltung prozeduraler Verfahren, der moralisch-rechtliche Status von Staaten und Regierungen etc.

III. Kritik der interventionistischen Auffassung von Menschenrechten 1. Zur philosophischen Motivation der interventionistischen Auffassung Zunächst zu einer Übereinstimmung. In „The Idea of Human Rights“21 verteidigt auch Charles Beitz die These, dass Menschenrechte als Legitimitätsstandards für Institutionen aufzufassen sind, die sich nicht auf den spezifischen Normtypus individueller Rechte einschränken lassen. Die besondere Rolle von Menschenrechten besteht nach Beitz’ Ansicht jedoch darin, dass sie basale Forderungen formulieren, die a) universell-überall gelten und b) im Falle ihrer NichtErfüllung im jeweils eigenen Staat eine sekundäre Verantwortung für ihre Gewährleistung generieren, die sich nunmehr an einen gleichsam „universellen“ Menschenrechts-Adressaten wendet: an die internationale Staatengemeinschaft, die „community of states“. Entsprechend sieht Beitz die charakteristische Rolle von Menschenrechten darin, dass sie Rechtfertigungsgründe für eine Einmischung von außen artikulieren.22 21

Beitz (2009); vgl. Fn. 4. Für Beitz beschränkt sich äußere Einmischung nicht auf militärische Maßnahmen und offensichtlich auch nicht auf Maßnahmen, die ohne Zustimmung der Regierung des Zielstaates erfolgen. Leider gibt er keine klare Abgrenzung an, die nicht-militärische äußere Einmischung etwa 22

34

III. Kritik der interventionistischen Auffassung

Prima facie mag der interventionistische Menschenrechtsbegriff radikal anmuten. Tatsächlich ist er sehr restriktiv, da nur sehr wenige normative Forderungen als Rechtfertigungsgründe für äußere Einmischung anerkannt werden können. Das liegt natürlich daran, dass die Rechtfertigung äußerer Einmischung ein normativ äußerst komplexes Problemfeld aufspannt, weil bei jeder solchen Maßnahme eine Vielzahl normativer Regelungen zu berücksichtigen sind, die in der Regel partiell miteinander konkurrieren und konfligieren. Im bestehenden Völkerrecht bezeichnet äußere Einmischung nach wie vor eine extreme Maßnahme, die grundsätzlich nur auf der Grundlage weiterer ebenfalls moralisch-relevanter Gründe und praktischer Gesichtspunkte gerechtfertigt werden kann. Daher qualifiziert Beitz Menschenrechte genauer als pro tanto-Gründe, „pro tanto reasons for outside interference“, das heißt als Gründe, die eine Einmischung rechtfertigen würden, sofern nicht andere normative und nicht-normative Gründe dagegen sprechen. Aber selbst diese Qualifizierung ist noch immer sehr restriktiv. Denn das Völkerrecht versteht sich als Ordnung der rechtlichen Beziehungen zwischen einzelstaatlich organisierten politischen Gemeinschaften, die sich wechselseitig die Freiheit zu, bzw. das Recht auf kollektive Selbstbestimmung zugestehen. Die theoretische Motivation von Beitz’ These ist offensichtlich das Bestreben, einerseits der Entwicklung völkerrechtlicher Menschenrechtsregime in den von zwischenstaatlicher Kooperation und von ganz normalen Austauschbeziehungen unterscheiden würde.

2. Beitz’ Kritik eines „Menschenrechts auf Demokratie‘‘ 35

letzten Jahrzehnten gerecht zu werden, ohne den Begriff gänzlich von der nationalstaats-bezogenen Tradition der Rede von Menschenrechten abzukoppeln, die sehr häufig als spezifisch liberal aufgefasst wird. Wie viele andere Autoren votiert daher auch Beitz für eine Grenzziehung zwischen menschenrechtlichen Forderungen und Forderungen einer liberalen Auffassung der politischen Gerechtigkeit, die wenig Spielraum für eine Überschneidung der beiden Sphären vorsieht. Das erlaubt es ihm, den „universellen“ Geltungsanspruch von Menschenrechten im Sinne interoder transnationaler Pflichten auszulegen, ohne den Vorwurf eines moralischen Imperialismus zu provozieren. 2. Kritik an Beitz’ Kritik eines „Menschenrechts auf Demokratie“ Betrachten wir also Beitz’ These, Menschenrechte seien pro tanto Gründe für auswärtige Einmischung, etwas genauer. Wie diese These zu verstehen ist, wird besonders deutlich in Beitz’ Diskussion des normativen Status politischer Rechte, die er unter dem Stichwort eines Rechts auf Demokratie („a right to democracy“) zusammenfasst. Ein solches Recht geht über die Gewährleistung grundlegender Prinzipien von Rechtsstaatlichkeit deutlich hinaus. Es wird zumindest die Einsetzung – und natürlich auch Absetzung – von Regierungen durch Wahlen und Verfahren vorsehen, die allen Bürgern zumindest formal ein gleiches Recht auf Teilnahme gewähren, indem sie gleiches Stimmgewicht und formal gleiche Bedingungen für aktives und passives Wahlrecht vorsehen. Nach Beitz fallen derartige Forderungen – ungeachtet des Um-

36

III. Kritik der interventionistischen Auffassung

standes, dass sie zum traditionellen Kern menschenrechtlicher Forderungen zählen – nicht in die Klasse universeller Menschenrechte, sondern artikulieren ein spezifisch liberales Verständnis der politischen Gerechtigkeit. Die entscheidende normative Überlegung, die nach Beitz gegen eine menschenrechtliche Qualifizierung eines Rechts auf Demokratie spricht, ist folgende. Es lassen sich, zumindest idealtypisch, alternative Formen der Organisation politischer Herrschaft konstruieren, die ebenfalls als legitim anerkannt werden müssen, obwohl sie nicht im engeren Sinne demokratisch sind. Zur Veranschaulichung relevanter Alternativen greift Beitz auf ein Modell zurück, dass John Rawls erfunden hat, die sog. „decent non-liberal societies“.23 Diese politische Gesellschaftsform zeichnet sich dadurch aus, dass die Struktur der politischen Organisation auf Gerechtigkeitsgrundsätzen basiert, die sozial allgemein geteilt werden, die aber nicht identisch mit liberalen Gerechtigkeitsvorstellungen, sondern z. B. religiös motiviert, sind. Diese Gerechtigkeitsvorstellungen stellen sicher, dass die Regierenden nicht den eigenen Vorteil, sondern das Wohl der Bevölkerung verfolgen, und dass die Befriedigung grundlegender Interesse und Bedürfnisse des Volkes gewährleistet ist. Außerdem besteht eine Art „Konsultationshierachie“, die sicherstellt, dass die Anliegen der Bevölkerung und die politischen Maßnahmen der Regierenden im Großen und Ganzen einigerma-

23 John Rawls: The Law of Peoples, Cambridge, Mass.: 1999.

2. Beitz’ Kritik eines „Menschenrechts auf Demokratie‘‘ 37

ßen kongruent sind und dass die jeweils ergriffenen Maßnahmen öffentliche Zustimmung finden. Mir persönlich ist innerhalb der gegenwärtig bestehenden 192-plus-Staaten kein einziger bekannt, der diesem Idealtypus auch nur annähernd nahekäme. Ich nehme jedoch an, dass, wenn es tatsächlich ein Regime gäbe, das dem Idealtypus der „decent non-liberal societies“ hinreichend ähnlich wäre, jedermann zustimmen würde, dass es aus normativen Gründen toleriert werden müsste. Denn eine Einmischung würde mit einem normativen Grundsatz genuin liberaler Provenienz24 kollidieren: der Freiheit zu kollektiver Selbstbestimmung. Dieses Resultat zeigt meines Erachtens allerdings nicht, dass politische Rechte keine Menschenrechte sind, sondern dass Beitz’ interventionistische Auffassung der Menschenrechte unplausibel ist. Ich werde meine Kritik an zwei theoretischen und einem praktischen Einwand erläutern. Der erste theoretische Einwand richtet sich gegen Beitz’ Methode des Vergleichs. Denn „decent liberal societies“ sind per definitionem dadurch charakterisiert, dass ein sozialer Konsens hinsichtlich der normativen Beurteilung politischer Gerechtigkeit besteht. Im Gegensatz dazu liegt die normative Relevanz demokratischer Verfahren gerade darin, dass sie legitime Verfahren kollektiver Entscheidungsfindung in 24 Eine nicht-liberale Rechtfertigung des Rechts auf kollektive Selbstbestimmung ist zumindest mir nicht bekannt. Daher halte ich es auch für theoretisch problematisch, das Selbstbestimmungsrecht als Rechtfertigung für die normative Gleichberechtigung anti-liberaler Positionen heranzuziehen.

38

III. Kritik der interventionistischen Auffassung

pluralistischen Gesellschaften bereitstellen, also in Gesellschaften, in denen ein normativer Dissens hinsichtlich Fragen der politischen Gerechtigkeit nicht nur vorkommt, sondern in denen Bürgern explizit die Freiheit zugestanden wird, voneinander abweichende normative Auffassungen öffentlich zu vertreten. Es ist wahrscheinlich zutreffend, dass „decent non-liberal societies“ sehr gut ohne demokratische Verfahren auskommen können, da im Falle übereinstimmender moralischer Auffassungen politische Mechanismen zur Beilegung moralischer Konflikte nicht benötigt werden. In pluralistischen Gesellschaften, jedoch, können nur solche Verfahren als menschenrechtskonform akzeptiert werden, die jedem Bürger ein zumindest formal gleiches Maß an Einfluss auf Prozesse der kollektiven Entscheidungsfindung zugestehen, selbst wenn sich diese Forderung auf prozedurale Verfahren zur Auswahl und Kontrolle der Legislative und Exekutive beschränken sollte. Es besteht daher ein normativ relevanter Unterschied zwischen den Legitimitätsbedingungen für pluralistische Gesellschaften und dem Modell der „decent non-liberal societies“. Stellt man die soziale Differenz zwischen normativ homogenen und normativ heterogenen Gesellschaften aber erst einmal in Rechnung, treten die Gemeinsamkeiten der Legitimitätsstandards der beiden Regierungstypen in den Vordergrund. Denn offensichtlich gilt auch für das Modell der „decent non-liberal societies“, dass die politisch Herrschenden erstens zum Wohle der Regierten regieren und zweitens auch in irgendeiner Form ihre Zustimmung suchen sollten – obwohl dies offensichtlich anders als durch prozedurale Wahlen und Verfahren organisiert wird.

3. Beitz’ Auffassung des Verbindlichkeitsanspruches 39

Der zweite theoretische Einwand gegen Beitz’ interventionistische Auffassung der Menschenrechte wendet sich gegen seine Interpretation des Verbindlichkeitsanspruches von Menschenrechten. Denn Beitz’ Rede von einer sekundären Verantwortung der Staatengemeinschaft unterstellt, dass Menschenrechte als strikte Obligationen auffassen sind, die zu einer Einmischung tatsächlich verpflichten würden, sofern nicht andere Gründe dagegen sprechen. 3. Kritik an Beitz’ Auffassung des Verbindlichkeitsanspruches von Menschenrechten Strikte Obligationen zeichnen sich dadurch aus, dass sie keinen Spielraum ihrer Erfüllung zulassen. Sie beziehen sich gewöhnlich auf einigermaßen konkrete Handlungsanweisungen und spezifizieren, was genau geleistet werden muss oder zu tun verboten ist. Tatsächlich betont Beitz wiederholt, dass Menschenrechte, insofern sie normativ sind, auch präskriptiv sein müssen, und insofern sie präskriptiv sind, zu spezifischen Handlungen verpflichten müssen, nämlich zu äußerer Einmischung. In der vor-neuzeitlichen Tradition handlungs- und tugendethischer Moralkonzeptionen gelten strikte Obligationen als ein spezifisches Charakteristikum von Pflichten der Gerechtigkeit im Gegensatz zu Tugendpflichten. In der politischen Philosophie der Neuzeit werden strikte Obligationen dementsprechend insbesondere mit dem Rechtsmittel individueller Rechte verbunden, das mit einer Ermächtigung zur Rechtserzwingung ausgestattet ist, die als solche allerdings

40

III. Kritik der interventionistischen Auffassung

das Bestehen politisch-rechtlicher Institutionen voraussetzt, um eine allgemeine Gewährleistung zu sichern. Genau dieser Erfüllungskontext ist im Bereich des internationalen Rechts nicht gegeben. Das wirft die Frage auf, wie mit der Differenz zwischen normativem Anspruch und institutioneller Wirklichkeit umzugehen ist. Ist es theoretisch plausibel, transnationale Menschenrechte als strikte Obligationen zu konstruieren – in der Hoffnung, dass sie irgendwann dann auch in der Praxis als solche gewährleistet werden können? Oder gibt es, alternativ, allgemeine Gründe, die dafür sprechen, den Verpflichtungsanspruch von Menschenrechten nicht im Sinne strikter Obligationen auszulegen? Vertreter eines individualrechtlichen Menschenrechtsverständnisses müssen aus Gründen begrifflicher Konsistenz die erste Option verteidigen. Die individualrechtliche Auffassung wird aber nicht nur von mir, sondern auch von Beitz explizit kritisiert. Die Frage ist daher zu präzisieren: Ist es tatsächlich plausibel, den Verbindlichkeitanspruch von Menschenrechten im Sinne strikter Obligationen auszulegen, wenn man Menschenrechte als Legitimitätsstandards für Institutionen auffasst? Ich denke: nein, und zwar aus zwei Gründen. Traditionell gelten strikte Obligationen als Verbindlichkeitserwartungen, die primär im Kontext der Regelung interpersonellen Handlungsverhaltens sachlich angemessen sind, und zwar ausschließlich dann, wenn man davon ausgehen kann, dass die Möglichkeiten der Obligationserfüllung nicht zu Kollisionen mit anderen normativen Forderungen führen und auch nicht entscheidend von empirisch-kontingenten Um-

3. Beitz’ Auffassung des Verbindlichkeitsanspruches 41

ständen abhängen. Hinsichtlich empirisch-kontingenter Umstände gilt der übliche Grundsatz ultra posse nemo obligatur. Das Problem der Kollision mit anderen Normen ist dagegen etwas differenzierter zu betrachten. Denn in normativ wohlgeregelten Bereichen sind mögliche Normkollisionen meistens schon bekannt und werden in der Formulierung strikt obligatorischer Handlungsanweisungen gewöhnlich bereits berücksichtigt. Die jeweils konkreten Handlungsnormen sind in diesem Sinne meistens so formuliert, dass sie die eigenen Applikationsbedingungen und Ausnahmen gleichsam mitbenennen. Diese Strategie funktioniert allerdings nur, wenn man zusätzlich davon ausgehen darf, dass auch die allgemeine Befolgung der relevanten Handlungsregeln in der Praxis gewährleistet ist. Beide Bedingungen sind auf der Ebene der internationalen Beziehungen definitiv nicht erfüllt. Tatsächlich tritt Beitz’ transnationale Verantwortung für die Gewährleistung von Menschenrechten ja erst sekundär ein und ist strenggenommen als moralische Verpflichtung zur Kompensation eines Unrechts anzusehen, dass eine andere Partei – in diesem Fall der primäre Verantwortungsadressat – verschuldet hat. Solche Forderungen können niemals strikte Obligationen sein, sondern sind immer konditional. Denn man kann zwar vernünftigerweise die Unterlassung von Unrecht generell fordern, nicht aber eine generelle Pflicht zur Kompensation von Unrecht, das andere Parteien zu verantworten haben. Insbesondere wären im Falle einer transnationalen Pflicht zur Einmischung von außen zwei weitere normativ relevante Aspekte zu berücksichtigen: erstens die moralischen und nicht-

42

III. Kritik der interventionistischen Auffassung

moralischen Kosten, die eine Intervention den intervenierenden Parteien aufbürdet; und zweitens die Frage, wann wer zur Ergreifung interventionistischer Maßnahmen gegen wen autorisiert werden soll. Auch auf nationalstaatlicher Ebene ergeben sich Schwierigkeiten, wenn man Menschenrechte als Legitimitätsstandards für Institutionen versteht, die mit einem strikten Obligationsanspruch verbunden sind. Denn als Statusnormen verstanden, die die strukturelle Gestaltung sozio-politischer Institutionen regeln, beziehen sich Menschenrechte auch auf nationalstaatlicher Ebene auf normativ komplexe Sachverhalte, die gewöhnlich empirisch-kontingenten Gelingensbedingungen unterliegen. Die wichtigsten dieser Gelingensbedingungen sind wiederum empirisch-kontigente Bedingungen der Machbarkeit einerseits, aber andererseits auch Bedingungen sozialer Akzeptanz. Insofern Menschenrechte eine kritische Funktion erfüllen und nicht nur konstitutiv, sondern auch korrigierend wirken, sollte ihr Verbindlichkeitsanspruch vernünftigerweise eine gewisse Offenheit der Erfüllung zulassen und zum Beispiel graduelle Stufen ihrer Umsetzung erlauben. Das gilt zumindest dann, wenn man den normativen Anspruch von Menschenrechten nicht radikal auf minimalistische Forderungen beschränken möchte. So berechtigt meiner Ansicht nach der Umstand, dass Frauen in vielen Gesellschaften im sozialen, familiären und wirtschaftlichen Leben gegenüber Männern nach wie vor benachteiligt sind, nicht notwendig per se zu dem Urteil, dass die gesellschaftliche Ordnung insgesamt illegitim ist, rechtfertigt aber das Urteil,

3. Beitz’ Auffassung des Verbindlichkeitsanspruches 43

dass der status quo normativ durchaus verbesserungsfähig ist. Denn gerade soziale Praktiken lassen sich in der Regel nicht per Dekret verordnen und auf dem Wege rechtlich gestalteter Maßnahmen umstandslos verändern. In der Praxis erweist sich immer wieder, dass rechtliche Maßnahmen alleine nicht greifen, sondern von einem sich schrittweise vollziehenden kulturellen Wandel begleitet werden müssen. Es wäre meines Erachtens aber gänzlich unplausibel, aus Gründen der Anerkennung sozial-pragmatischer Gelingensbedingungen den Schluss zu ziehen, dass das Verbot sozialer und wirtschaftlicher Diskriminierung aufgrund des Geschlechts keine Menschenrechtsforderung darstellt, weil sie nicht als strikte Obligation konstruiert werden kann. Es ist theoretisch erheblich ehrlicher anzuerkennen, dass nicht alle normativen Forderungen in strikte Obligationen umgewandelt werden können – und dies gilt insbesondere hinsichtlich der Anerkennung und des Respekts des moralischen Status von Personen. Hier zeigt sich eine bekannte, aber interessante Asymmetrie von Legitimitätsstandards für Institutionen, da Illegitimität häufig vergleichsweise klar bestimmt werden kann, während Legitimität graduelle Stufen besserer oder schlechterer Regelungen zulässt und damit ein gleichsam zum Besseren hin offenes normatives Kontinuum absteckt. Nimmt man die Qualifizierung von Menschenrechten als Legitimitätsstandards von Institutionen ernst, dann ist es sachlich unangemessen, ihren normativen Verpflichtungsanspruch im Sinne des traditionellen Verständnisses strikter Obligationen auszulegen. Die normative Verbindlichkeit von Menschenrechten manifestiert sich

44

III. Kritik der interventionistischen Auffassung

vielmehr darin, dass sie einen normativen Zielhorizont abstecken, an dem der status quo normativ gemessen wird, und der selbst dann Gründe für eine normative Kritik des status quo formuliert, wenn die Zustände nicht im strikten Sinne illegitim sind, aber weiter verbessert werden können. Eine Einmischung von außen rechtfertigt die Möglichkeit der Verbesserung allerdings aus den oben angeführten Gründen in keinem Fall automatisch. Die verbindlichkeitstheoretische Interpretation des institutionalistischen Menschenrechtsverständnisses provoziert routinemäßig den Vorwurf, dass Menschenrechte zu einer Sache moralischer Beliebigkeit werden, wenn der Anspruch strikter Obligation aufgegeben wird. Das ist aber keineswegs der Fall. Denn strikt illegitime Arrangements sind definitiv ausgeschlossen. Die verbindlichkeitstheoretische Anerkennung gradueller Erfüllungsbedingungen berührt in erster Linie Forderungen nach einer optimalen Erfüllung. Eine optimale Erfüllung menschenrechtlicher Forderungen kann aber aus den oben angesprochenen Gründen auch von den Vertretern eines strikten Obligationsanspruches von Menschenrechten nicht eingefordert werden. Tatsächlich tendieren die Verteidiger eines strikten Obligationsanspruches dazu, pragmatische und soziale Hinderungsgründe einer optimalen Umsetzung menschenrechtlicher Forderungen als rein pragmatisch-bedingte Einschränkungen ihrer Implementierung abzuwerten, die gleichsam nur Randbedingungen der Ausführung einer strikten moralischen Pflicht formulieren. Ich finde dieses Ausweichmanöver unplausibel. Ich denke, dass es de facto dazu führt, die normativitätstheoretisch relevanten Unter-

4. Zum universellen Geltungsanspruch

45

schiede zwischen strikten Obligationen auf der einen Seite und normativ offenen Verbindlichkeitsansprüchen auf der anderen Seite zu verwischen. 4. Zum universellen Geltungsanspruch der Menschenrechte Damit komme ich zu meinem letzten Kritikpunkt an Beitz, der weniger ein theoretischer als ein praktischer ist und die Frage betrifft, wie die empirischpraktische Entwicklung menschenrechtlich begründeter Veränderungen des Völkerrechts theoretisch interpretiert werden kann. Die interventionistische Auffassung ist, wie bereits ausgeführt, zumindest partiell durch den Anspruch motiviert, den universellen Geltungsanspruch der Menschenrechte zu verteidigen. Wenn „Universalität“ entgegen Beitz nicht als „überall gleich und transnational verpflichtend“ ausgelegt wird, worin besteht dann der universelle Geltungsanspruch der Menschenrechte? Meine praktische These gegen Beitz lautet: Der universelle Geltungsanspruch von Menschenrechten manifestiert sich in ihrer Rolle als Rechtfertigung für strukturelle Transformationen völkerrechtlicher Grundnormen. Die Staatengemeinschaft ist nicht „Adressat“ transnationaler menschenrechtlicher Forderungen, sondern das Völkerrecht ist „Gegenstand“ menschenrechtlich begründeter Korrekturen. Sofern man die sich nach wie vor in Entwicklung befindlichen Transformationen theoretisch-systematisch deuten kann, scheint es sich dabei in der Tat um eine strukturelle Transformation von Grundnormen des Völkerrechts zu handeln.

46

III. Kritik der interventionistischen Auffassung

Zu Recht interpretiert Beitz die Entwicklung interventionistischer Maßnahmen als menschenrechtlich bedeutsames Phänomen. Obwohl er „äußere Einmischung“ nicht auf militärische Einmischung beschränken möchte, ist die Entwicklung militärisch unterstützter interventionistischer Maßnahmen, wie Humanitäre Intervention oder Peace Enforcing, gleichwohl das wahrscheinlich augenfälligste Phänomen des Einflusses menschenrechtsbegründeter Transformationen im Völkerrecht. Die normativ-praktische Signifikanz dieser Maßnahmen liegt aber meines Erachtens in der Veränderung von Normen und gewohnheitsrechtlichen Praktiken des Völkerrechts selbst. Ganz konkret betrifft dies den völkerrechtlichen Begriff der (äußeren) Souveränität und den rechtlichen Status der Mitglieder nationaler Regierungen im internationalen Recht. Aus der Perspektive eines institutionalistischen Menschenrechtsverständnisses bemerkenswert ist hierbei vor allem die partielle Aufhebung des Immunitätsstatus von Mitgliedern der Regierung und die Schaffung rudimentärer Strukturen eines Völkerstrafrechtes, die sich bereits in dem „Übereinkommen zur Verhinderung und Bestrafung von Verbrechen des Völkermordes“ von 1948 abzeichnen und zwischenzeitlich bis zur Bildung eines Internationalen Strafgerichtshofes weiterentwickelt wurden.25

25 In dieser Entwicklung zeigt sich natürlich auch ein tiefverwurzeltes Vertrauen in die Wirksamkeit legalistisch-juristischer Kontrollmechanismen. Ob dieses Vertrauen gerechtfertigt ist und sich fruchtbar auf die Praxis der internationalen Beziehungen übertragen lässt, muss sich allerdings noch erweisen.

4. Zum universellen Geltungsanspruch

47

Was die Rechtfertigung äußerer Einmischung betrifft, so scheinen mir die entscheidenden Gründe entgegen Beitz’ Auffassung jedoch nicht in dem substantiellen Gehalt einer nicht-erfüllten oder unter-erfüllten Norm zu liegen, sondern in den Motiven bzw. Ursachen der Nicht-Erfüllung. In der Praxis anerkannte Gründe für äußere Einmischung sind zunächst einmal Fälle eklatanten Unrechtsverhaltens auf Seiten der Regierenden oder Konfliktparteien, das heißt Fälle von systematischer Repression, Ausbeutung oder Marginalisierung von Teilen der Bevölkerung, Genozid und ethnische Vertreibung. Neben Missbrauch der Regierungsmacht ist auch Regierungsversagen im Sinne fortgeschrittener institutioneller Dysfunktionalität anzuführen, das heißt Fälle eklatanten Staatsversagens und organisierter Regierungskriminalität. De facto beschränken sich insbesondere Maßnahmen gewaltsamer äußerer Einmischung bislang auf vergleichsweise wenige Fälle, und die Bekämpfung der internen Ursachen hat sich in der überwiegenden Zahl der Fälle als extrem schwierig erwiesen, was die normativen Hürden für die Ergreifung derartiger Maßnahmen noch einmal höhersetzt. Demgegenüber sind humanitäre Maßnahmen zur Milderung der Konsequenzen für die betroffenen Personen und angrenzenden Regionen inzwischen recht weit fortgeschritten und haben auch zu einer menschenrechtlich begründeten Verbesserung des moralischen und rechtlichen Status von Einzelpersonen im Völkerrecht geführt – zum Beispiel von Flüchtlingen, Vertriebenen und staatenlosen Personen. Diese Entwicklung ist durchaus bemerkenswert, da die Anerkennung von Individuen als Subjekten des Völker-

48

III. Kritik der interventionistischen Auffassung

rechts historisch betrachtet eine strukturelle Innovation darstellt. Die sehr zurückhaltende Aufnahme interventionistischer Praktiken hat natürlich verschiedene Gründe, von denen keineswegs alle moralisch motiviert sind. Moralisch ernst zu nehmen sind aber unzweifelhaft drei Gründe: das aus normativen Gründen als gerechtfertigt anzuerkennende (pro tanto) Recht auf kollektive Selbstbestimmung; damit verbunden, die Anerkennung eines Grundsatzes der wechselseitigen NichtEinmischung; und das praktische Desiderat eines normativ-effizienten Verfahrens zur Autorisation von Interventionen.26 Bemerkenswert aus der Perspektive einen institutionalistischen Menschenrechtsverständnisses ist daher vor allem, dass sich ungeachtet der Beibehaltung des Status externer Souveränität ein recht deutlicher Wandel hinsichtlich der Anerkennung des moralischrechtlichen Status von Mitgliedern aktualer oder ehemaliger Regierungen abzuzeichnen scheint. Hier zeigt sich eine theoretische und inhaltliche Kontinuität mit der Entwicklung der Menschenrechte auf der nationalstaatlichen Ebene moderner Rechts- und Verfassungsstaatlichkeit. Tatsächlich muss zwischen Staaten und Regierungsmitglieder unterschieden werden. Denn Staaten sind zwar nur insofern Rechtssubjekte – und übrigens auch Akteure –, als sie durch natio26 Formal liegt die Autorität zwar beim Sicherheitsrat der Vereinten Nationen, aber in der Praxis zeigt sich, dass die Entscheidungen und Aktionen des Sicherheitsrates keineswegs immer dem Geist der UN-Charta entsprechen und zudem nicht konsistent sind.

5. Transnationale Menschenrechte

49

nale Regierungen repräsentiert werden. Aber gemäß dem neuzeitlich-modernen Institutionenverständnis „repräsentiert“ die Regierung den Staat lediglich, sie „personifiziert“ ihn nicht. Die Anerkennung dieser Differenz im Völkerrecht vollzieht einen Schritt nach, der sich auf nationalstaatlicher Ebene längst durchgesetzt hat und die Entwicklung nationalstaatlicher Menschenrechtsforderungen auf der Ebene des Völkerrechts kontinuiert. Daraus lässt sich jedoch meines Erachtens nicht eine sekundäre Pflicht zur äußeren Einmischung ableitet, wie Beitz sie diagnostiziert, weil zuviele praktische und normative Einwände gegen die Anerkennung einer solchen Pflicht sprechen. Die moralischen und nicht-moralischen Kosten äußerer Einmischung sind derartig hoch, dass entsprechende Maßnahmen nur in Ausnahme- und Extremfällen in Betracht kommen. Der Begriff der Menschenrechte reicht aber erheblich weiter. 5. Transnationale Menschenrechte zwischen (Völker-)Recht und Politik Formal widersprechen die angeführten strukturellen Veränderungen des Völkerrechts nicht dem Prinzip der moralischen und rechtlichen Gleichbehandlung aller „Staaten“. Praktisch würden sie aber eine einschneidende Transformation der Struktur der internationalen Beziehungen und des Völkerrechts nach sich ziehen, falls sie sich fortsetzen sollten. Das gilt insbesondere dann, wenn positive Ansprüche an die Legitimität von Regierungstätigkeit erhoben würden, wie sie etwa in dem in der Praxis kontrovers diskutierten Bericht „Responsibility to Protect“ angedacht

50

III. Kritik der interventionistischen Auffassung

werden. Aus diesem Grund wird die gesamte Entwicklung politisch und rechtlich außerordentlich strittig diskutiert. Das wirft für normative Theoretiker die Frage auf, mit welchen Mitteln eine menschenrechtliche Transformation legitimerweise befördert werden darf. Die Entscheidung betrifft hier natürlich die Wahl zwischen rein rechtlichen Mitteln, die im bereits bestehenden positiv-rechtlichen status quo des Völkerrechts vorgesehen sind, auf der einen Seite und politischen Maßnahmen, die unter Umständen dem rechtlichen status quo auch widersprechen können, auf der anderen Seite.27 Im Lichte eines institutionalistischen Menschenrechtsverständnisses können politische Maßnahmen auch dann, wenn sie das bestehende positive Völkerrecht verletzen, menschenrechtlich gerechtfertigt sein, wenn aus moralisch-normativen Gründen gerechtfertigt sind. Sofern die Auffassung überzeugend ist, dass die besondere Rolle von Menschenrechten in ihrer Funktion als Gründe für Transformation und Innovation institutioneller Strukturen besteht, ist vernünftigerweise anzuerkennen, dass strukturelle Veränderungen institutioneller Normsysteme nicht immer endogen erfolgen. Das gilt insbesondere dann, wenn es um Veränderungen geht, die die Legitimitätsbedingungen der Machtbasis politischer Autoritäten betreffen. Aus praktischer Perspektive provoziert die institutionalistische Position den notorischen Einwand, dass eine 27 Einen Kulminationspunkt findet die angesprochene Problematik in der Diskussion um die Zulässigkeit sog. „unilateraler“ Humanitärer Intervention, worunter eine Humanitäre Intervention zu verstehen ist, die nicht vom Sicherheitsrat der Vereinten Nationen autorisiert wurde.

5. Transnationale Menschenrechte

51

normativ begründete Erlaubnis zum Rechtsbruch das Recht nicht befördert, sondern unterminiert und zu Missbrauch einlädt. Aber Missbrauch ist im vorliegenden Kontext in erster Linie nicht deshalb ein Übel, weil er eine mögliche Konsequenz darstellt, sondern weil er die Ursache des Problems bezeichnet. Daher lässt sich die normative Suprematie des Rechts gegenüber der Politik im Falle eines menschenrechtlich defizitären status quo des positiven Rechts nicht gut verteidigen. Aus Sicht einer institutionalistischen Auffassung der Menschenrechte erweist sich die Erlaubnis politischer Maßnahmen zur Förderung der Menschenrechte, die im bestehenden Völkerrecht nicht abgesegnet sind, als normativ zulässig, sofern diese Maßnahmen unter Berücksichtigung aller normativen Gründe tatsächlich gerechtfertigt sind. Der Begriff der Menschenrechte ist eben kein reiner Rechtsbegriff, sondern artikuliert system-übergreifende Ansprüche an die normative Gestaltung der vielfältigen institutionellen Normsysteme.

IV. Résumé Damit komme ich auf die beiden eingangs gestellten Fragen zurück: Zur ersten Frage: Die besondere Rolle von Menschenrechte besteht der institutionalistischen Auffassung gemäß in ihrer Funktion als Statusnormen, die Legitimitätsstandards für die strukturelle Gestaltung sozio-politischer Institutionen artikulieren. Zur zweiten Frage: Der universelle Geltungsanspruch von Menschenrechten manifestiert sich kontextabhängig in ihrer praktischen Rolle als Rechtfertigungsgründe für die Innovation und Verbesserung sozio-politischer Institutionen – auf einzelstaatlicher wie auf völkerrechtlicher Ebene.

Appendix: Philosophie der Menschenrechte ohne Metaphysik Die theoretische Zurückhaltung gegenüber dem Begriff der Menschenrechte in der politischen Philosophie des 20. Jahrhunderts ist nicht nur auffällig, sondern erklärungsbedürftig. Das gilt insbesondere für deontologische Konzeptionen politischer Gerechtigkeit, wie Rawls’ Theorie der Gerechtigkeit, den wahrscheinlich einflussreichsten Beitrag zur politischen Philosophie in den letzten Jahrzehnten. Die theoretischen Gründe dafür scheinen überwiegend metaethischer Art zu sein und sind nicht schwer zu erraten.28 Denn die Rede von Menschenrechten, sofern sie sich nicht einfach auf politische Akte der Deklara28 Neben theoretischen gibt es natürlich auch normativpraktische Gründe, die gegen die Anerkennung von Menschenrechten angeführt wurden. Hierzu zählt unter anderem die lange Zeit von Großbritannien vertretene Auffassung, dass die legislative Souveränität des Parlaments nicht durch gleichsam von außen gesetzte Normen eingeschränkt werden dürfe. Dazu zählt aber auch die in den USA vertretene Auffassung, dass die der amerikanischen Verfassung zugefügte Bill of Rights Teil des positiven Verfassungsrechtes ist. Eine zumindest partielle philosophische Renaissance erfährt die Rede von „natürlichen Rechten“ in den USA offensichtlich erst in Anschluss an Ronald Dworkin: Taking Rights Seriously, Cambridge, Mass. 1977.

54

Appendix

tion völkerrechtlicher Menschenrechtsdokumente bezieht, wurde – ob nun zurecht oder nicht – häufig mit der einen oder der anderen Tradition des vor-neuzeitlichen Naturrechts assoziiert, genauer gesagt mit seinem begründungstheoretischen Anspruch. Ungeachtet der zum Teil weitreichenden Unterschiede zwischen verschiedenen Naturrechtstheorien manifestiert sich dieser Anspruch in der Vorstellung, es gäbe „objektive“ von menschlichen Personen und ihren Urteilen völlig unabhängige Normativitätsstrukturen, die Standards der Legitimität, der Richtigkeit oder der Gerechtigkeit des von Menschen gesetzten Rechts artikulieren. Aus philosophischer Sicht ist das objektivistische Normativitätsverständnis der traditionellen Naturrechtstheorie tatsächlich nicht länger plausibel. Geht man davon aus, dass die Rede von Menschenrechten in normativitätstheoretischer Kontinuität mit dem vor-neuzeitlichen Naturrecht steht, dann wäre die Rede von Menschenrechten in der Tat problematisch. In der Philosophie galt sie daher als ebenso überflüssig wie irreführend, da sich zentrale normative Forderungen, die in der politischen und völkerrechtlichen Praxis den Menschenrechten zugerechnet werden, auch ohne Rückgriff auf überholte metaethische Vorstellungen begründen lassen. Die Rede von Grundrechten, von individuellen moralischen Rechten („moral individual claim rights“) oder subjektiven Rechten erscheint unter dieser Perspektive als völlig ausreichend und weitaus weniger kontrovers als die Rede von Menschenrechten. Die anhaltende Attraktivität des individualrechtlichen Menschenrechtsverständnisses speist sich meines Erachtens zu einem guten Teil nach wie vor aus dem Wunsch einer

Appendix

55

Abgrenzung von traditionellen Naturrechtskonzeptionen. Auch Rawls zählt zu den Theoretikern, die dem Begriff der Menschenrechte offensichtlich aus metaethischen Gründen eher verhalten gegenüberstehen. In der Theorie der Gerechtigkeit spielt der Begriff der Menschenrechte keine systematische Rolle; es gibt lediglich einen kurzen Abschnitt zu „natürlichen Pflichten“, die aber wenig mit dem neuzeitlich-modernen Menschenrechtsverständnis zu tun haben. In späteren Veröffentlichungen erkennt Rawls dann zwar an, dass der Begriff der Menschenrechte eine eigenständige normative Relevanz besitzt, interpretiert Menschenrechte aber vor dem Hintergrund der Renaissance des Begriffs im 20. Jahrhundert primär als transnational anzuerkennende moralische Grundsätze des Völkerrechts.29 In metaethischer Hinsicht vertritt Rawls’ einen konstruktivistischen Ansatz.30 Das heißt zunächst einmal, dass er eine genuin anthropogene Auffassung von Normativität vertritt. Entsprechend speist sich für Rawls der Verbindlichkeitsanspruch von Grundsätzen der Gerechtigkeit, das heißt von allgemeinverbindlichen Grundsätze zur Regelung praktischer Konflikte auf gesellschaftlicher Ebene, daraus, dass sie von ver29

Vgl. Rawls (1999); vgl. Fn. 23. Charles Beitz’ interventionistische Auffassung von Menschenrechten versucht demgegenüber, eine völkerrechtliche Auffassung von Menschenrechten mit dem traditionellen nationalstaatlichen Fokus von Menschenrechten zu verbinden. 30 Vgl. John Rawls: „Kantian Constructivism in Moral Theory“, in: id.: Collected Papers, hg. v. S. Freeman, Cambridge, Mass. 1999, S. 303–358.

56

Appendix

nünftigen Personen als moralisch verbindlich anerkannt werden können. Die Gültigkeit des moralischen Verbindlichkeitsanspruches normativer Grundsätze gründet entsprechend in nichts anderem als in ihrer Anerkennungsfähigkeit und umgekehrt gilt, dass nur solche Grundsätze einen Anspruch auf normativ gültige Verbindlichkeit erheben können, die von vernünftigen Personen als normativ verbindlich anerkannt würden. Entscheidend für Rawls’ individual-rechtlich orientierte Auffassung der Gerechtigkeit ist allerdings eine weitere normative Annahme: Die Anerkennung von individuellen Personen als eigenständiger Quellen normativer Ansprüche. Diese zweite Annahme leistet die inhaltliche Begründung der Forderung, dass Grundsätze der sozialen Gerechtigkeit die normative Selbstbestimmung von Personen gewährleisten müssen, was dann zur Anerkennung individueller Rechte und Freiheiten führt. Inhaltlich und sachlich ist insbesondere der erste der Rawlsschen Grundsätze der Gerechtigkeit weitgehend kongruent mit traditionell als Menschenrechten bezeichneten bürgerlichen und politischen Rechten. Das konstruktivistische Normativitätsverständnis Rawls’ ist dagegen unvereinbar mit traditionellen Auffassungen des Naturrechts. Diese Differenz scheint einer der entscheidenden Gründe für Rawls’ Vorbehalte gegen den Begriff der Menschenrechte zu sein. Hinzu kommt jedoch ein zweiter Grund. Im Laufe der Auseinandersetzung mit Kritikern und Befürwortern seiner Theorie hat sich Rawls’ Auffassung darüber, wie der konstruktivistische Ansatz umzusetzen und auszulegen ist, in mehreren Hinsichten verändert.

Appendix

57

Unter anderem distanziert sich Rawls in seinen späteren Schriften von dem Anspruch, eine Gerechtigkeitskonzeption sub specie aeternitatis entwickelt zu haben und charakterisiert sie als dezidiert „liberale“ Konzeption. Damit erkennt er explizit an, dass seine metaethische Position auf bestimmten philosophischen Voraussetzungen aufbaut, insbesondere auf der Kritik naturrechtlicher und theologischer Normativitätsauffassungen und auf der Anerkennung eines egalitären normativen Status von Individuen. Beide Auffassungen scheinen für Rawls dezidiert liberaler Provenienz zu sein, und können seiner Ansicht nach nicht den Anspruch auf „universelle“ Anerkennung erheben. Beitz’ Kritik an dem von ihm so bezeichneten (Menschen-)Recht auf Demokratie wiederholt letztlich diesen Schritt zur theoretischen Selbstbeschränkung. Persönlich halte ich den konstruktivistischen Ansatz in der Metaethik für theoretisch alternativenlos. Der konstruktivistische Ansatz bezeichnet nicht einfach eine metaethische Präferenz oder historischideosynkratische Position. Er ist vielmehr auf engste mit einer ganzen Reihe weiterer, nicht-moralischer Auffassungen verbunden, darunter mit dem analytischdeskriptiven Institutionenverständnis das in Teil II des Vortrages skizziert wurde und in der Praxis weitgehend unstrittig anerkannt wird. Mit dem konstruktivistischen Ansatz ist die vorgeschlagene Analyse des Begriffs der Menschenrechte allerdings uneingeschränkt vereinbar. Die institutionalistische Auffassung von Menschenrechten behauptet gerade nicht, dass Menschenrechte eine „über- oder „außer“-menschliche Normativitätsstruktur artikulieren, sondern orientiert sich an ihrer Funktion inner-

58

Appendix

halb des Gesamtsystems anthropogener normativer Praxis. Hinsichtlich seiner Funktion steht der Begriff der Menschenrechte meiner Ansicht nach tatsächlich in einer gewissen Kontinuität mit traditionellen Naturrechtskonzeptionen. Denn die Frage nach der „Richtigkeit“ oder „Gerechtigkeit“ des positiven Rechts hat sich immer gestellt und wird sich auch in Zukunft nicht erübrigen. Eine normativitätstheoretische Kontinuität muss dabei allerdings nicht unterstellt werden. Als Standards der Legitimität für sozio-politische Institutionen verstanden, artikulieren Menschenrechte ein gänzlich anthropogenes Normativitäts- und Institutionenverständnis, das uneingeschränkt mit dem metaethischen Konstruktivismus vereinbar ist. Zielpunkt der neueren Kritik am Normativitätsverständnis der Menschenrechtsidee ist tatsächlich selten der metaethische Konstruktivismus an sich, sondern seine Verbindung mit einem ethischen Individualismus, der sich in dem begründungstheoretischen Gewicht der Anerkennung des normativen Status von Individuen manifestiert. Darin kann man durchaus eine dezidiert liberale Ausrichtung der Menschenrechte sehen. Darin liegt aber auch die normative Signifikanz der Menschenrechte – und ganz offensichtlich auch ihre anhaltende normative Attraktivität.

Zur Autorin Christine Chwaszcza studierte Politische Wissenschaft, Soziologie Germanistik und Philosophie an der Ludwig-Maximilians-Universität München und schloss das Magister-Studium 1988 mit einer Arbeit zur Politischen Theorie ab. Die Promotion erfolgte 1994 in den Fächern Politische Wissenschaft, Philosophie und Soziologie ebenfalls in München. Der Titel der Dissertation lautete: „Zwischenstaatliche Kooperation. Perspektiven einer normativen Theorie der Internationalen Politik“. Von 1994 bis 1999 war sie als Wissenschaftliche Assistentin am Philosophischen Seminar der Universität Kiel am Lehrstuhl von Prof. Wolfgang Kersting tätig. 1999 wurde sie im Fach Philosophie an der Universität Kiel habilitiert, wo sie bis 2004 weiterhin als Oberassistentin tätig war. Im Herbst 2004 lehrte sie als Gastprofessorin am Department of Philosophy der University of California at Los Angeles. Von 2005 bis 2009 war sie Chair of Social and Political Philosophy am Department of Social and Political Science des European University Institute in San Domenico di Fiesole bei Florenz. 2009 erhielt Christine Chwaszcza einen Ruf an das Philosophische Seminar der Universität Köln, wo sie seit Januar 2010 die Professur für Politische Philosophie und Sozialphilosophie innehat. Neben der Politischen Philosophie liegen ihre Forschungsschwerpunkte im Bereich der Theorien prak-

60

Zur Autorin

tischer Rationalität, der Normativitätstheorie und der Analytischen Handlungstheorie. Weitere Arbeiten zur Thematik der Menschenrechte sind unter anderem: Moral Responsibility and Global Justice. A Human Rights Approach, Baden-Baden, 2. Aufl. 2011; „International Practice and Human Rights“, in: Hajo Greif/Martin G. Weiss (eds.): Ethics, Society, Politics. Proceedings of the 35th International Wittgenstein Symposium 2012, Berlin: De Gruyter, 2013, 387–410; „The Concept of Rights in Contemporary Human Rights Discourse“, Ratio Juris 33/3 (2010) S. 333– 364; „Beyond Cosmopolitanism: Towards a Non-ideal Account of Transnational Justice“, Ethics and Global Politics 1/3 (2008) S. 115–139. Zusammen mit Wolfgang Kersting hat Christine Chwaszcza 1998 den Band Philosophie der Internationalen Beziehungen im Suhrkamp Verlag herausgegeben.