Staatliche Mindestarbeitsbedingungen: Die Möglichkeiten des Staates zur Setzung von Mindestarbeitsbedingungen unter besonderer Berücksichtigung des Falls der partiellen Machtlosigkeit von Arbeitnehmerkoalitionen [1 ed.] 9783428502769, 9783428102761

Arbeitsbedingungen werden in Deutschland traditionell und in von der Verfassung garantierter Weise durch die Tarifvertra

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 9783428502769, 9783428102761

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UTZ AENEAS ANDELEWSKI

Staatliche Mindestarbeitsbedingungen

Schriften zum Sozial- und Arbeitsrecht Band 193

Staatliche Mindestarbeitsbedingungen Die Möglichkeiten des Staates zur Setzung von Mindestarbeitsbedingungen unter besonderer Berücksichtigung des Falls der partiellen Machtlosigkeit von Arbeitnehmerkoalitionen

Von U tz Aeneas Andelewski

Duncker & Humblot · Berlin

Die Deutsche Bibliothek- CIP-Einheitsaufnahme

Andelewski, Utz Aeneas:

Staatliche Mindestarbeitsbedingungen : die Möglichkeiten des Staates zur Setzung von Mindestarbeitsbedingungen unter besonderer Berücksichtigung des Falls der partiellen Machtlosigkeit von Arbeitnehmerkoalitionen I von Utz Aeneas Andelewski.- Berlin: Duncker und Humblot, 2001 (Schriften zum Sozial- und Arbeitsrecht ; Bd. 193) Zug!.: Berlin, Freie Univ., Diss., 2000 ISBN 3-428-10276-2

D 188 Alle Rechte vorbehalten © 2001 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fremddatenübernahme und Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0582-0227 ISBN 3-428-10276-2 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706@

Vorwort Diese Arbeit wurde vom Fachbereich Rechtswissenschaft der Freien Universität Berlin im Wintersemester 1999 I 2000 als Dissertation angenommen. Ich danke Herrn Prof. Dr. Jochern Schmitt, den ich aus vielen Lehrveranstaltungen kenne und der mein Interesse für das Arbeitsrecht geweckt hat. Er interessierte sich sofort für das Thema der Untersuchung, begleitete die Arbeit wohlwollend und verfaßte das Erstgutachten. Herrn Prof. Dr. Axel Hunscha danke ich für die Erstattung des Zweitgutachtens und die Freiheit, die er mir während meiner Tätigkeit an seinem Lehrstuhl für eigene wissenschaftliche Arbeit ließ. Darüber hinaus möchte ich allen danken, die mich auf meinem Weg begleitet und unterstützt haben. Besonderer Dank gilt meiner Mutter und meinen Großeltern, die mir mein Studium und die anschießende Promotion ermöglicht haben. Berlin, im Juli 2000

Utz Aeneas Andelewski

Inhaltsübersicht Einleitung

Problemstellung und Relevanz des Themas

27

Erstes Kapitel

Die Gesetzgebungskompetenz des Bundes auf dem Gebiet des Arbeitsrechts

45

A. Das Verhältnis der Bundes- und Landesgesetzgebungskompetenz auf dem Gebiet des Arbeitsrechts ..

45

B. Der Schutz der Tarifautonomie durch Art. 9 lii GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

48

C. Staatsgesetzgebungsbefugnis und Tarifautonomie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

51

D. Konsequenzen für das Recht des Staates zur Setzung von Mindestarbeitsbedingungen......... . ... .. . . . . . . . . . .. .. . . . . . . . . . . . . . . . .. . . .. . . . . .. . . . .. ............ .. .. . . . . .

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Zweites Kapitel

Mindestarbeitsbedingungen durch staatlichen Umsetzungsakt

77

A. Die Allgemeinverbindlicherklärung gemäß § 5 TVG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

77

B. Die Regelungen im Heimarbeitsrecht (§§ 19, 21 I, 22 HAG) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

90

C. Die Festsetzungen von Mindestarbeitsbedingungen nach dem MindArbBG . . . . . . . . . 116 D. Die Vorschriften des AEntG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 132 E. Die Vorschrift des § 92a HGB .

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8

Inhaltsübersicht Drittes Kapitel

Unmittelbar geltende Mindestarbeitsbedingungen

165

A. Die Vergütungsregelung des§ 612 II BOB . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 165 B. Die Vergütungsregelung des § 59 HOB

171

C. Die Vorschrift des§ 138 BOB . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 174 D. Die Vergütungsregelung des§ lO BBiG....... . .......... . ........... . .... . .... . .. . . 189 E. Das Verbot der geschlechtsspezifischen Vergütungsdifferenzierung des § 612 III BOB und des Art. 141 EGV . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 201

F. Das Diskriminierungsverbot des § 2 I BeschFG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 217 G. Die Vorschriften der§§ 285 I I Nr. 3 und 286 I I Nr. 2 SGB III

226

H. Das Diskriminierungsverbot des Art. 39 II EGV . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 241

J. Der allgemeine arbeitsrechtliche Gleichbehandlungsgrundsatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 247

Viertes Kapitel

Analyse der staatlichen Handlungsmöglichkeiten zur Setzung von Mindestarbeitsbedingungen

255

A. Die gesetzlichen Regelungen zur Setzung von Mindestarbeitsbedingungen unter speziellen verfassungsrechtlichen Gesichtspunkten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 255 B. Unterstützung bzw. Förderung der tariflichen Nonnsetzung durch den Staat? . . . . . . . 275

C. Gebot weiterer staatlicher Regelungen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 300

Ergebnis in Thesen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 326

Literaturverzeichnis . . . . .

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Sachwortverzeichnis .... ..

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354

Inhaltsverzeichnis Einleitung

Problemstellung und Relevanz des Themas

27

A. Die gewerkschaftliche Mitgliederentwicklung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

28

B. Die besondere Situation in Ostdeutschland . . . ... . ....... . .. . ...... . .......... . .. . . . .

32

C. Strukturveränderungen der Wirtschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

34

D. Globalisierung der Wirtschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

37

E. Europäisierung der Wirtschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

38

F. Differenzierung der Arbeitnehmerinteressen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

40

G. Identitätsprobleme.. .. .. .. ..... . ... . ..... . ... . .......... . ... . ..... . . . .. . . . ... .. . .. ..

40

H. Ansehen und Image der Gewerkschaften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

43

J. Fazit und Eingrenzung des Themas . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

44

Erstes Kap itel

Die Gesetzgebungskompetenz des Bundes auf dem Gebiet des Arbeitsrechts

45

A. Das Verhältnis der Bundes- und Landesgesetzgebungskompetenz auf dem Gebiet des Arbeitsrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

45

B. Der Schutz der Tarifautonomie durch Art. 9 111 GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

48

10

Inhaltsverzeichnis

C. Staatsgesetzgebungsbefugnis und Tarifautonomie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

51

I. Lösung des Konfliktes aufgrund vergleichbarer verfassungsrechtlicher Ansätze? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

52

II. Stellungnahmen in Literatur und Rechtsprechung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

53

1. Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

54

2. Rechtsprechung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

59

III. Systematisierung der Meinungen und Kritik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

61

1. Das Ausschließlichkeitsprinzip . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

61

2. Das Günstigkeilsprinzip . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

63

3. Das Subsidiaritätsprinzip . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

66

4. Grenzen des Subsidiaritätsprinzips . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

68

a) Das Sozialstaatsprinzip (Art. 20 I, 28 I GG) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

69

b) Grundrechte und andere Rechtsgüter mit Verfassungsrang . . . . . . . . . . . . . . .

70

c) Das Allgemeinwohl und die Gesamtverantwortung des Staates . . . . . . . . . . .

71

d) Schutzpflicht für Außenseiter? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

72

e) Zeitliche Zuständigkeit des Staates und Anforderungen an die staatlichen Normen ... . . .. . ...... . .. . ......... .. . .. . ... .. . ............ .. .. . . . . . . .. . .

73

D. Konsequenzen für das Recht des Staates zur Setzung von Mindestarbeitsbedingungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. . . . . . . . . . . . .. . . . . . . .. . . . . . . . . . . . . .. . . . . . . . . . .

75

Zweites Kapitel

Mindestarbeitsbedingungen durch staatlichen Umsetzungsakt

77

A. Die Allgemeinverbindlicherklärung gemäß § 5 TVG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

77

I. Formelle Voraussetzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

78

1. Tarifvertrag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

78

2. Antrag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

78

3. Tarifausschuß . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

78

4. Der Minister bzw. die oberste Arbeitsbehörde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

79

5. Keine vorrangige Tarifbindung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

79

Inhaltsverzeichnis II. Die Voraussetzungen gemäß § 5 I 1 TVG 1. Das Quorum des § 5 I 1 Nr. 1 TVG

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2. Das öffentliche Interesse des§ 5 I 1 Nr. 2 TVG 111. Der soziale Notstand des § 5 I 2 TVG

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IV. Die Allgemeinverbindlicherklärung als taugliches Instrument zur Setzung von Mindestarbeitsbedingungen? . .. .................... . .. . .

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B. Die Regelungen im Heimarbeitsrecht (§§ 19, 21 I, 22 HAG) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

90

I. Bindende Festsetzungen gemäß § 19 I HAG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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1. Adressaten ................ . .............

2. Fehlen repräsentativer Verbände . . ... . .

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3. Unzulängliche Entgelte oder unzulängliche sonstige Vertragsbedingungen . .

95

a) Bestehen von Tarifverträgen für gleiche oder gleichwertige Betriebsarbeit

95

b) Bestehen von Tarifverträgen für Heimarbeiter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

97

c) Tarifloser Zustand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

98

4. Inhalt der bindenden Festsetzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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5. Der Heimarbeitsausschuß ...

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a) Errichtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 100 b) Zusammensetzung, Beschlußfähigkeit und -fassung. . ............ ...... . . 100 6. Anhörung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101 7. Zustimmung der Arbeitsbehörde und Veröffentlichung(§ 19 II 1, III 1 HAG) 101 II. Entgeltregelung für Zwischenmeister gemäß § 21 I HAG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 102 1. Adressaten . ... . . ......... . .. . .....

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2. Das Gleichstellungsverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103 3. Schutzbedürftigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103 4. Festsetzung der Zuschläge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 105 III. Mindestarbeitsbedingungen für fremde Hilfskräfte gemäß § 22 HAG . . . . . . . . . . 105 I. Adressaten .......

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2. Festsetzung der Entgelte der Arbeitgeber gemäߧ§ 17 bis 19 HAG .

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Inhaltsverzeichnis 3. Weitere Voraussetzungen, Verfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 107 4. Mindestarbeitsbedingungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 107 IV. Die Vorschriften der§§ 19, 21 I, 22 HAG als taugliche Instrumente zur Setzung von Mindestarbeitsbedingungen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 108

C. Die Festsetzungen von Mindestarbeitsbedingungen nach dem MindArbBG . . . . . . . . . 116

I. Voraussetzungen gemäß § 1 II MindArbBG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 117 1. Nichtbestehen von Gewerkschaften oder Arbeitgeberverbänden bzw. Umfassen einer Minderheit- § I II lit. a MindArbBG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 117 2. Befriedigung notwendiger sozialer und wirtschaftlicher Bedürfnisse - § 1 II lit. b MindArbBG.......... . .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 119 3. Keine Allgemeinverbindlicherklärung eines Tarifvertrages - § 1 II lit. c MindArbBG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 121 II. Inhalt(§ 4 IV MindArbBG) und Geltung(§ 8 I, II MindArbBG) . . . . . . . . . . . . . . . 122 111. Verfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 124 l. Hauptausschuß (§§ 2, 3 MindArbBG) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 124

2. Der Bundesminister .. .. . ... . ... . ..... . ... . . . .. . .. .. .. .. . .............. . .. ... 124 3. Fachausschüsse (§§ 4-6 MindArbBG) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. . . . . . . . . . . . . . 125 4. Die Zustimmung des Bundesministers(§ 4 III MindArbBG) . . . . . . . . . . . . . . . . 125 IV. Das MindArbBG als taugliches Instrument zur Setzung von Mindestarbeitsbedingungen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 126 D. Die Vorschriften des AEntG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 132

I. Voraussetzungen gemäߧ 1 I AEntG- Bauwirtschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 134 l. Adressaten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 134

2. Bauleistungen i.S.v. § 211 I SGB III . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 136 3. Allgemeinverbindlicherklärung eines Tarifvertrages i.S.v. §§ 1, 2 Baubetriebe-Verordnung.......... . ... . ................ .. ............ . ....... . .. . ..... 136 4. Inhalt des Tarifvertrages . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 137 5. Arbeitsortprinzip und Bindung inländischer Arbeitgeber . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 137 6. Keine vorrangige Tarifbindung? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 138

Inhaltsverzeichnis

13

II. Voraussetzungen gemäß § I II AEntG - Seeschiffahrtsassistenz . . . . . . . . . . . . . . . . 141 III. Voraussetzungen gemäߧ I III AEntG- Urlaubskassenverfahren . . . . . . . . . . . . . . 141 I. Vermeidung von Doppelzahlungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 142

2. Anrechnung bereits erbrachter Leistungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 143 3. Ausnahmen gemäߧ l V AEntG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 144 IV. Voraussetzungen gemäߧ I lila AEntG- Rechtsverordnungsermächtigung . . . . 144 I. Adressaten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 144

2. Antrag auf Allgemeinverbindlicherklärung...... . ... . ..... . .......... . .. .. .. 145 3. Voraussetzungen einer Allgemeinverbindlicherklärung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 146 4. Anhörung und Geltung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 146 V. Voraussetzungen des§ 1 Ha AEntG- Leiharbeitnehmer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 147 I. Adressaten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 148

2. Tätigkeiten der Leiharbeitnehmer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 148 3. Mindestentgelt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 148 VI. Das AEntG als taugliches Instrument zur Setzung von Mindestarbeitsbedingungen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 148 E. Die Vorschrift des § 92a HGB

156

I. Adressaten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 156 I. Einfirmenhandelsvertreter (§ 92a I HGB) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 156

a) Vertraglicher Ausschluß . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 157 b) Faktischer Ausschluß . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 157 2. Mehrfirmenversicherungsvertreter (§ 92a II HGB) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 158 a) Vertrag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 158 b) Zusammengehörigkeit der Versicherer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 159 c) Abhängigkeit der Vertreterverhältnisse..... . . . . .. ...... . ..... ... . . . . . .. . . 159 d) Bausparkassenvertreter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 159 II. Inhalt der Mindestarbeitsbedingungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 160 1. Einfirmenhandels- und Mehrfirmenversicherungsvertreter . . . . . . . . . . . . . . . . . . 160 2. Mehrfirmenversicherungsvertreter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 161

14

Inhaltsverzeichnis III. Verfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 161 1. Einvernehmen mit Ministern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 162

2. Anhörung von Verbänden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 162 IV. § 92a HGB als taugliches Instrument zur Setzung von Mindestarbeitsbedingungen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 162

Drittes Kapitel

Unmittelbar geltende Mindestarbeitsbedingungen

165

A. Die Vergütungsregelung des§ 612 II BGB . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 165 I. Fehlen einer Bestimmung über die Vergütungshöhe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 165

Il. Die übliche Vergütung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 166 III. § 612 II BGB als taugliches Instrument zur Setzung von Mindestarbeitsbedin-

gungen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 169

B. Die Vergütungsregelung des § 59 HGB

170

I. Adressaten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 171

Il. Fehlende Vereinbarung über die Vergütung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 172 III. Ortsgebräuchliche Vergütung i.S.v. §59 S. I HGB . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 172

IV. Angemessene Vergütung i.S.v. §59 S. 2 HGB........ . ............. . .. ... . . .. . . 173 V. § 59 HGB als taugliches Instrument zur Setzung von Mindestarbeitsbedingungen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 173 C. Die Vorschrift des § 138 BGB . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 174 I. Die guten Sitten-§ 138 I BGB . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 174 1. Die Begriffsbestimmung im Schrifttum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 175

2. Das Anstandsgefühl aller billig und gerecht Denkenden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 175 a) Die Verkehrsanschauung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 175 b) Die Gesamtbeurteilung des Rechtsgeschäftes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 176

Inhaltsverzeichnis 3. Auffalliges Mißverhältnis von Leistung und Gegenleistung

15 178

a) Lohnwucherähnliche Fälle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 178 b) Überbürdung des Geschäfts- und Wirtschaftsrisikos . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 180 4. Weitere Fallgruppen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 181 II. Der Wuchertatbestand des§ 138 II BGB . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 181

1. Objektive Voraussetzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 181 2. Subjektive Voraussetzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 182 3. Arbeitsrechtliche Fallgruppen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 183 a) Lohnwucher . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 183 b) Überbürdung des Geschäfts- und Wirtschaftsrisikos . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 185 111. Rechtsfolgen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 185 IV. § 138 BGB als taugliches Instrument zur Setzung von Mindestarbeitsbedingungen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 186

D . Die Vergütungsregelung des § 10 BBiG .... . ..... .... . ... . ... . ..... .. ...... . ... .. . . . 189 I. Adressaten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 189 II. Angemessene Vergütung(§ 10 I S. I BBiG) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 190 III. Lebensalter undjährlicher Anstieg(§ 10 I S. 2 BBiG).. ........ . ...... . ... . . .. . 194 IV. Anrechnung von Sachleistungen (§ 10 II BBiG)

196

V. Mehrarbeit (§ 10 II1 BBiG) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 197 VI. § 10 BBiG als taugliches Instrument zur Setzung von Mindestarbeitsbedingungen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 198

E. Das Verbot der geschlechtsspezifischen Vergütungsdifferenzierung des § 612 III BGB und des Art. 141 EGV . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 201 I. Das Verhältnis von § 612 III BGB und Art. 141 EGV . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 202 II. Vergütungsvereinbarung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 202

Inhaltsverzeichnis

16

III. Unmittelbare Diskriminierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 204

1. Gleiche Arbeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 204 2. Gleichwertige Arbeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 204 IV. Mittelbare Diskriminierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 205 V. Entgeltdifferenzierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. . .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 206 1. Nicht auf das Geschlecht bezogene Gründe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 206 2. Geschlecht als unverzichtbare Voraussetzung(§ 6lla I 2 BGB) . . . . . . . . . . . . . 207 VI. Rechtsfolge einer Diskriminierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 208 VII. § 612 III BGB und Art. 141 EGV als taugliche Instrumente zur Setzung von Mindestarbeitsbedingungen? . ..... ... .. .. ....... . .. . . . . . .... ... .. . .. . ... .. .. . .. 211

F. Das Diskriminierungsverbot des§ 2 I BeschFG ...... I. Adressaten ...

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II. Verbot der Ungleichbehandlung .. ..... .. .. ..... . . . . . . .. III. Differenzierungen ..

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217 217 218 219

1. Differenzierungen aus anderen Gründen als der Teilzeitarbeit . . . . . . . . . . . . . . . 220 2. Differenzierungen aus sachlichen Gründen . . . . .. . ... . ..

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IV. Rechtsfolgen einer Ungleichbehandlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 221 V. § 2 I BeschFG als taugliches Instrument zur Setzung von Mindestarbeitsbedingungen? . 222 00

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G. Die Vorschriften der§§ 285 I 1 Nr. 3 und 286 II Nr. 2 SGB III

226

I. Adressaten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 226

1. In Deutschland beschäftigte Ausländer ..

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2. Ausnahmen gemäß § 284 I 2 SGB 111 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 227 a) Ausnahmen gemäß § 284 I 2 Nr. 1 SGB 111

227

b) Ausnahmen gemäߧ 284 I 2 Nr. 2 SGB III

228

c) Ausnahmen gemäß § 284 I 2 Nr. 3 SGB III

229

Inhaltsverzeichnis II. Arbeitserlaubnis (§ 285 SGB III) und Arbeitsberechtigung (§ 286 SGB III)

17 230

III. Keine ungünstigeren Arbeitsbedingungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 231 IV. §§ 285 I 1 Nr. 3 und 286 I I Nr. 2 SGB 111 als taugliche Instrumente zur Setzung von Mindestarbeitsbedingungen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 235 H. Das Diskriminierungsverbot des Art. 39 II EGV

241

I. Adressaten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 241 II. Pflicht zur Inländergleichbehandlung III. Auswirkungen des Art. 39 IV EGV

242 243

IV. Rechtsfolgen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 244 V. Art. 39 II EGV als taugliches Instrument zur Setzung von Mindestarbeitsbedingungen? ...................... . . ................ . ... . ................ .. ... .. . . . 244

J. Der allgemeine arbeitsrechtliche Gleichbehandlungsgrundsatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 247 I. Voraussetzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 248 1. Einheitliche Regelung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 248 2. Vergleichbare Lage der Arbeitnehmer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 248 3. Ungleichbehandlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 249 4. Rechtfertigung von Differenzierungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 249

5. Vertragsfreiheit . . . . . . . . . . .. . . .. . . . . . . .. .. . . . . . . . . . . . . .. . . .. .. . . . . . .. . . . .. . . . 250 II. Rechtsfolgen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 251 III. Der allgemeine arbeitsrechtliche Gleichbehandlungsgrundsatz als taugliches Instrument zur Setzung von Mindestarbeitsbedingungen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 252

Viertes Kapitel

Analyse der staatlichen Handlungsmöglichkeiten zur Setzung von Mindestarbeitsbedingungen

255

A. Die gesetzlichen Regelungen zur Setzung von Mindestarbeitsbedingungen unter speziellen verfassungsrechtlichen Gesichtspunkten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 255 2 Andelewski

18

Inhaltsverzeichnis I. Die gesetzlichen Regelungen und die Tarifautonomie der Koalitionen (Art. 9 111 GG) ................... . ... . ............. . .. .. . .. ... . ........ . ............ . . 255 1. Unbedenkliche Regelungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 255 a) Die Vorschriften des MindArbBG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 255 b) Die Vorschrift des§ 92a HGB . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 256 c) Die Allgemeinverbindlicherklärung gemäß § 5 TVG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 256 d) Die Vergütungsregelungen der§§ 612 II BGB und 59 HGB . . . . . . . . . . . . . . 258 e) Die Vorschrift des§ 138 BGB .................. .. .......... .. ......... .. 258 f) Die Vergütungsregelung des § 10 BBiG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 258

g) Die Gleichbehandlungsvorschriften der §§ 612 III BGB, 2 I BeschFG, 285 I I Nr. 3, 286 I I Nr. 2 SGB III, Art. 39 II, 141 EGV .. .. .. .. .. .. .. .. . 259 h) Der allgemeine arbeitsrechtliche Gleichbehandlungsgrundsatz . . . . . . . . . . . 260 2. Bedenkliche Regelungen . . . .. .. . .. . . . .. . .. . . . . . . . . .. .. . .. . . . .. .. . . . . . . .. . . .. 260 a) Die Regelungen im Heimarbeitsrecht (§§ 19, 21 I, 22 HAG) . . . . . . . . . . . . . 260 b) Die Vorschriften des AEntG . .. . . . .. . . . .. . . . . . . .. .. . . . . . . .. .. . . . . .. .. . .. . 263 II. Die gesetzlichen Regelungen und der Gleichheitssatz des Art. 3 I GG . . . . . . . . . . 265 1. Der Inhalt des Gleichheitssatzes (Art. 3 I GG) . . . . . . . . . . . . .. . . . .. . .. .. . .. . . . . 265 a) Gleichheit der Sachverhalte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 266 b) Ungleichbehandlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 267 c) Willkür - Ungleichbehandlung ohne sachliche Rechtfertigung . . . . . . . . . . . 267 2. Unbedenkliche Regelungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 269 a) Nicht differenzierende Regelungen (MindArbBG, §§ 138, 612 II BGB, allgemeiner arbeitsrechtlicher Gleichbehandlungsanspruch) . . . . . . . . . . . . . . 270 b) Nur für bestimmte Arbeitnehmer geltende Regelungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 270 aa) Die Allgemeinverbindlicherklärung gemäß § 5 TVG . . . . . . . . . . . . . . . . 270 bb) Die Vorschriften des AEntG .. . . .. . . . .. . .. . . . .. . . .. .. . .. . . . . . . . . .. . .. 270 cc) Die Entgeltregelung des § 59 HGB . ....... . .. . ....... . . .. .... . . . . .. . 271 dd) Die Vergütungsregelung des§ 10 BBiG .. .. .. .. ... . ............. . .. . 272 ee) Die Vorschriften der§§ 285 I 1 Nr. 3, 286 I 1 Nr. 2 SGB III . . . . . . . . . 272 c) Die speziellen Gleichheitssätze (§§ 612 III, 2 I BeschFG, Art. 39 II, 141 EGV) ..... . . ... . ...... . . .... . ... .. ......... . . ..... . .............. . . . . .... 273 3. Bedenkliche Regelungen (§ 22 HAG) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 273

Inhaltsverzeichnis

19

B. Unterstützung bzw. Förderung der tariflichen Normsetzung durch den Staat?

275

I. Staatliche Förderung partiell machtloser Arbeitnehmerkoalitionen? . . . . . . . . . . . . 276 1. Die Entstehung der Arbeitnehmerkoalitionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 276 2. Die Parität der Sozialpartner

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3. Die Neutralität des Staates . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 280

li. Die Schlichtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 288 1. Das fakultative Schlichtungsverfahren 2. Die empfehlende Schlichtung

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a) Die empfehlende Schlichtung und Art. 9 Ili GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 291 b) Die empfehlende Schlichtung und der Verhandlungszwang . . . . . . . . . . . . . . 293 3. Die verbindliche Zwangsschlichtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 295 a) Die Zwangsschlichtung und Art. 9 III GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 295 b) Auch keine Zwangsschlichtung in Notsituationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 298

C. Gebot weiterer staatlicher Regelungen?

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I. Die vorhandenen Möglichkeiten des Staates zur Setzung von Mindestarbeitsbedingungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 300 1. Die im zweiten und dritten Kapitel untersuchten Normen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 301 a) Umfang des Schutzes der untersuchten Vorschriften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 301 b) Die untersuchten Vorschriften und die Tarifautonomie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 302 2. Weitere gesetzliche Vorschriften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 303

li. Staatliche Entgeltzuschüsse? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 305 1. Der Ansatz .. . . . . . ..........

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2. Keine wirklich neue Idee .. . . 3. Bedenken .......

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305 306 306

III. Deregulierung und Sozialstaatsprinzip (Art. 20 I, 28 I GG) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 310 1. Deregulierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 310 2. Sozialstaatsprinzip (Art. 20 I, 28 I GG) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 317 2*

20

Inhaltsverzeichnis 3. Europäisierung und Globalisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 321 a) Europäisches Arbeitsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 321 b) Globalisierung......... . ..................... . .. . . ... . ............ . ... . .. 324 IV. Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 325

Ergebnis in Thesen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 326

Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 331

Sachwortverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 354

Abkürzungsverzeichnis a.A.

anderer Ansicht

a. a. 0.

am angegebenen Ort

Abs.

Absatz

AcP

Archiv für die civilistische Praxis (Zeitschrift)

AEntG

Gesetz über zwingende Arbeitsbedingungen bei grenzüberschreitenden Dienstleistungen (Arbeitnehmer-Entsendegesetz)

AEVO

Verordnung über die Arbeitserlaubnis für nicht-deutsehe Arbeitnehmer (Arbeitserlaubnisverordnung)

a.F.

alte Fassung

AFG AG

Arbeitgeber

AGBG

Arbeitsförderungsgesetz Gesetz zur Regelung des Rechts der Allgemeinen Geschäftsbedingungen (AGB-Gesetz)

AiB

Arbeit im Betrieb (Zeitschrift)

AK-GG

Reihe Altemativkommentare, Kommentar zum Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland

AktG

Aktiengesetz

AN

Arbeitnehmer

Anm.

Anmerkung

AöR

Archiv für öffentliches Recht (Zeitschrift)

AP

Arbeitsrechtliche Praxis, Nachschlagewerk

ArbG

Arbeitsgericht

ArbR

Arbeitsrecht

ArbRHB

Arbeitsrechts-Handbuch von Günther Schaub

ArbuR

Arbeit und Recht (Zeitschrift)

ArbZG

Arbeitszeitgesetz

Art.

Artikel

AT

Allgemeiner Teil

Auf!.

Auflage

AÜG

Gesetz zur Regelung der gewerbsmäßigen Arbeitnehmerüberlassung (Arbeitnehmerüberlassungsgesetz - AÜG) und zur Änderung anderer Gesetze

Aus!G

Gesetz über die Einreise und den Aufenthalt von Ausländern im Bundesgebiet (Ausländergesetz- Aus!G)

AVE

Allgemeinverbindlicherklärung

AZO

Arbeitszeitordnung

22 Bad.

Abkürzungsverzeichnis Baden

BAG

Bundesarbeitsgericht

BAGE

Entscheidungen des Bundesarbeitsgerichts

BArbBl

Bundesarbeitsblatt (Zeitschrift)

BAT

Bundes-Angestelltentarifvertrag

BB

Betriebs-Berater (Zeitschrift)

BBiG

Berufsbildungsgesetz

BeschFG

Gesetz über arbeitsrechtliche Vorschriften zur Beschäftigungsförderung

BetrAVG

Gesetz zur Verbesserung der betrieblichen Altersversorgung

BetrVG

Betriebsverfassungsgesetz

BGB

Bürgerliches Gesetzbuch

BGBl

Bundesgesetzblatt

BGH

Bundesgerichtshof

BGHZ

Entscheidungen des Bundesgerichtshofes in Zivilsachen

BOG

Bruttoorganisationsgrad

BPersVG

Bundespersonalvertretungsgesetz Gewerkschaft Bau-Steine-Erden

BSE BSG

Bundessozialgericht

BSGE

Entscheidungen des Bundessozialgerichts

BT-Ds

Drucksache des Deutschen Bundestages

BUrlG BVerwG

Mindesturlaubsgesetz für Arbeitnehmer (Bundesurlaubsgesetz)

BVerwGE

Entscheidungen des Bundesverwaltungsgerichts

Bundesverwaltungsgericht

bzw.

beziehungsweise

ca.

circa

CGB

Christlicher Gewerkschaftsbund Deutschlands

DAG

Deutsche Angestellten Gewerkschaft

DB

Der Betrieb (Zeitschrift)

DBB

Deutscher Beamten Bund

DDR

Deutsche Demokratische Republik

ders.

derselbe

DGB

Deutscher Gewerkschaftsbund

d. h.

das heißt Deutscher Juristentag

DJT DöV

Die öffentliche Verwaltung (Zeitschrift)

DPG

Deutsche Postgewerkschaft

DVBl

Deutsches Verwaltungsblatt (Zeitschrift)

DVO

Durchführungsverordnung

DZWir

Deutsche Zeitschrift für Wirtschaftsrecht (Zeitschrift)

EGV

EL

Vertrag zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft Ergänzungslieferung

Abkürzungsverzeichnis

23

EU

Europäische Union

EuGH

Europäischer Gerichtshof

EuGHSlg.

Entscheidungssammlung des Gerichtshofes der Europäischen Gemeinschaften

EWG-Vertrag

siehe EGV

EWR

Europäischer Wirtschaftsraum

EzA

Entscheidungssammlung zum Arbeitsrecht

EzB

Entscheidungssammlung zum Berufsbildungsrecht

FDGB

Freier Deutscher Gewerkschaftsbund

ff.

folgende

FAZ

Frankfurter Allgemeine Zeitung für Deutschland

FS

Festschrift

GdED

Gewerkschaft der Eisenbahner Deutschlands

GdEDinform

Mitgliederzeitschrift der GdED

GdP

Gewerkschaft der Polizei

GEW

Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft

GewA

Gewerbearchiv, Zeitschrift für Gewerbe- und Wirtschaftsverwaltungsrecht (Zeitschrift)

GewO

Gewerbeordnung

GG

Grundgesetz

GOLF

Gewerkschaft Gartenbau, Land- und Forstwirtschaft

G/H-EGV

Kommentar zur Europäischen Union, ... , von Eberharrt Grabitz und Meinhard Hilf

GHK

Gewerkschaft Holz und Kunststoff

GL

Gewerkschaft Leder

GMH

Gewerkschaftliche Monatshefte (Zeitschrift)

gr

Gewerkschaftseeport (Zeitschrift)

GS

Großer Senat

GTB

Gewerkschaft Textil-Bekleidung

G/T/E-EGV

Kommentar zum EWG-Vertrag von Hans von der Groben, Jochen Thiesing und Claus-Dieter Ehlenoonn

GVBl

Gesetz- und Verordnungsblatt

HAG

Heimarbeitsgesetz

HAuslG HBV

Gesetz über die Rechtsstellung heimatloser Ausländer im Bundesgebiet Gewerkschaft Handel, Banken und Versicherungen

HGB

Handelsgesetzbuch

H/K/Z/Z-TVG

Kommenar zum TVG von Christian Hagemeier, Otto Ernst Kempen, Ulrich Zachert und ]an Zilius

h.L.

herrschende Lehre

HRG

Hochschulrahmengesetz

HS

Halbsatz

i.d.R.

in der Regel

24

Abkürzungsverzeichnis

IGBAU

Industriegewerkschaft Bauen, Agrar, Umwelt

IGBCE

Industriegewerkschat Bergbau, Chemie, Energie

IGBE

Industriegewerkschaft Bergbau und Energie

IGC

Industriegewerkschaft Chemie-Papier-Keramik

IGM

Industriegewerkschaft Metall

i. S. d.

im Sinne des

i.S.v.

im Sinne von

i.V.m.

in Verbindung mit

IG Medien

Industriegewerkschaft Medien - Druck und Papier, Publizistik und Kunst

J/P-GG

Grundgesetzkommentar von Hans D. Jarass und Bodo Pieroth

JR

Juristische Rundschau (Zeitschrift)

JuS

Juristische Schulung (Zeitschrift)

JW

Juristische Wochenschrift (Zeitschrift)

JZ

Juristen Zeitung (Zeitschrift)

KJ

Kritische Justiz (Zeitschrift)

KSchG

Kündigungsschutzgesetz

LAG

Landesarbeitsgericht

L/M/S-B, SGB III

Kommentar zum SGB III von Wemer Lohre, Udo Mayer und Eckart Stevens-Bartal

LIR-TVG

Kommentar zum TVG vom Manfred Löwisch und Manfred Rieble

M/D/H/S-GG

Grundgesetzkommentar von Theodor Maunz, Günther Dürig, Roman Herzog und Rupert Scholz

MDR

Monatsschrift für Deutsches Recht (Zeitschrift)

MHBzArbR

Münchener Handbuch zum Arbeitsrecht

MindArbBG

Gesetz über die Festsetzung von Mindestarbeitsbedingungen

MüKo

Münchener Kommentar zum Bürgerlichen Gesetzbuch bzw. zum Handelsgesetzbuch

M/W /G/S-BeschFG

Kommentar zum Beschäftigungsförderungsgesetz 1985 von Rosemarie Winterfeld, Johannes Göbel und Andreas See/mann, herausgegeben von Ernst-Günther Mager

NGG

Gewerkschaft Nahrung-GenuG-Gaststätten

NVwZ

Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht (Zeitschrift)

NJW

Neue Juristische Wochenschrift (Zeitschrift)

NZA

Neue Zeitschrift für Arbeitsrecht (Zeitschrift)

o.g.

oben genannt

ÖTV

Gewerkschaft Öffentliche Dienste, Transport und Verkehr

PostG

Postgesetz

RGBI

Reichsgesetzblatt

RdA

Recht der Arbeit (Zeitschrift)

Rsp.

Rechtsprechung

SAE

Sammlung Arbeitsrechtlicher Entscheidungen (Zeitschrift)

Abkürzungsverzeichnis Schrnidt/K/T /W SprAuG TVG S-B/K-GG SGB Vetf. vgl. v.M/K-GG

vo

WiB WM W /PIE, SGB 111 WuW WR

z. B. ZfA ZRP ZTA

25

Kommentar zum HAG von Klaus Schmidt, Wolfgang Kobersky, Barbara Tiemann und Angelika Waseher Gesetz über Sprecherausschüsse der leitenden Angestellten (Sprecherausschutzgesetz- SprAuG) Tarifvertragsgesetz Kommentar zum Grundgesetz von Bruno Schmidt-Bleibtreu und Franz Klein Sozialgesetzbuch Verfassung vergleiche Grundgesetz-Kommentar von lngo von Münch und Philip Kunig Verordnung Wirtschaftliche Beratung (Zeitschrift) Wertpapiermitteilungen, Zeitschrift für Wirtschafts- und Bankrecht (Zeitschrift) Kommentar zum SGB III von Gerhard Wissing, Pitschas und Eicher Wirtschaft und Wettbewerb (Zeitschrift) Weimarer Republik zum Beispiel Zeitschrift für Arbeitsrecht (Zeitschrift) Zeitschrift für Rechtspolitik (Zeitschrift) Zeitschrift für Tarifrecht; Tarif-, Arbeits- und Sozialrecht des öffentlichen Dienstes (Zeitschrift)

Einleitung Problemstellung und Relevanz des Themas Die Möglichkeiten des Staates zur Setzung von Mindestarbeitsbedingungen waren bisher noch nicht Gegenstand einer umfassenden wissenschaftlichen Untersuchung. Dies ist erstaunlich, denn einige der in diesem Zusammenhang auftretenden Einzelfragen erfreuen sich einer regen Diskussion. Den Zusatz "unter besonderer Berücksichtigung des Falles der partiellen Machtlosigkeit von Arbeitnehmerkoalitionen" erhielt das Thema, weil die hier untersuchte Fragestellung in diesem Fall eine besonders große praktische Bedeutung haben dürfte. Denn im Fall der partiellen Machtlosigkeit werden die Gewerkschaften regelmäßig nicht in der Lage sein, für ihre Mitglieder (angemessene) Arbeitsbedingungen zu normieren, so daß sich die Frage nach den Möglichkeiten des Staates zur Setzung von (Mindest-)Arbeitsbedingungen stellt. Von besonderem Interesse ist dann der Umfang der Normsetzungsbefugnis des Staates, also die Frage, ob der Staat nur unzumutbare oder auch unbillige Arbeitsbedingungen unterbinden kann 1• Gegenwärtig werden etwa 90% aller Arbeitnehmer in der Bundesrepublik entsprechend den Tarifentgelten entlohnt2 , entweder weil Arbeitnehmer und Arbeitgeber tarifgebunden sind, auf einen Tarifvertrag individualvertraglich Bezug genommen wird, ein Tarifvertrag für allgemeinverbindlich erklärt wurde oder weil sich die Arbeitsvertragsparteien bei der Festsetzung der Entgelte an die Tarifentgelte anlehnen. Dennoch sind bereits heute in ausgewählten Branchen und bei einzelnen Arbeitnehmergruppen unbillige Arbeitsbedingungen zu beobachten. Besonders gefährdet sind Berufsanfänger und Arbeitnehmer, die in Branchen mit direktem Konkurrenzdruck zu Niedriglohnländern arbeiten. Wahrend bei letzteren z.T. von Akkordlöhnen von 8,87 DM pro Stunde berichtet wird3 - der Lohn beruht auf einem Firmentarifvertrag - werden junge Arbeitnehmer oft in die Scheinselbständigkeit gedrängt. Von jungen scheinselbständigen Architekten wird sogar berichtet, daß ihr Entgelt unter dem Mindeststundenlohn jener Bauarbeiter liegt, die errichten, was die Architekten geplant und gezeichnet haben4 . I Als unzumutbar werden im Folgenden solche Arbeitsbedingungen angesehen, die auch mit den Synonymen unerträglich, abstoßend oder unausstehlich beschrieben werden können. Unter unbilligen Arbeitsbedingungen werden solche verstanden, die lediglich als ungerecht, unpassend, ungehörig, unredlich, unschicklich oder unangemessen anzusehen sind. 2 Heinze, FS Gaul, S. 305, 321; Heinze, DB 1996, S. 729, 732; Woll, Deregulierung, S. 97, 103; Die Zeit Nr. 24/1998 vom 04. 06. 1998, S. 13 ff. 3 Die Zeit Nr. 24/1998 vom 04. 06. 1998, S. 14.

28

Einleitung

Dennoch fehlt es dem Thema in seiner Breite gegenwärtig noch an Brisanz. Es ist jedoch auch Aufgabe der Wissenschaft, sich mit Fragestellungen zu beschäftigen, die momentan noch nicht aktuell sind, um für den Fall, daß sie akut werden sollten, Problemanalysen und Lösungsmöglichkeiten aufzeigen zu können. Freilich ist es vergebene Mühe, sich mit Sachverhalten auseinanderzusetzen, deren Eintritt praktisch auszuschließen ist. Deshalb wird in der Einleitung zunächst untersucht, ob in Deutschland überhaupt die realistische Gefahr der partiellen Machtlosigkeit von Arbeitnehmerkoalitionen besteht. Hierzu werden zunächst gewerkschaftliche, gesellschaftliche, nationale, europäische und globale Trends und Entwicklungen betrachtet.

A. Die gewerkschaftliche Mitgliederentwicklung Die Schwäche von Arbeitnehmerkoalitionen kann verschiedene Ursachen haben. Primäre Griinde werden wahrscheinlich sinkende Mitgliederzahlen und ein geringer Organisationsgrad der Arbeitnehmer sein. Diese sind jedoch auch ein Spiegelbild gesellschaftlicher und globaler Entwicklungen. Untersucht wird deshalb zunächst die absolute Mitgliederentwicklung der letzten Jahre der vier großen gewerkschaftlichen (Dach-)Verbände Deutschlands. Dies sind der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB), der Deutsche Beamtenbund (DBB), die Deutsche Angestellten-Gewerkschaft (DAG) und der Christliche Gewerkschaftsbund Deutschlands (CGB). Von besonderem Interesse ist hierbei die Mitgliederentwicklung in Teilbereichen, wie die Anzahl jugendlicher Gewerkschaftsrnitglieder, die Mitgliederentwicklung in einzelnen Berufsgruppen, der Organisationsgrad in bestimmten sich neu entwickelnden Beschäftigungsfeldern und einzelnen Regionen. Denn partielle Machtlosigkeit von Arbeitnehmerkoalitionen kann theoretisch in einer Region oder Branche eintreten, obwohl in einer anderen Region oder Branche ein hoher Organisationsgrad herrscht. Betrachtet man die absoluten Mitgliederzahlen (Tabelle 1), so ist ein stetiger Rückgang des Mitgliederbestandes zu verzeichnen. So verloren die Einzelgewekschaften des DGB von 1991 bis 19975 3.176.942 Mitglieder (26,92%), der CGB 7.957 Mitglieder (2,56%) und die DAG 95.509 Mitglieder (16,33%). Der Mitgliederzuwachs des DBB fällt insoweit etwas aus dem Rahmen, ist aber hauptsächlich auf die seit 1991 einsetzenden Verbeamtungen in Ostdeutschland zuriickzuführen. Ein gegenläufiger Trend ist der Mitgliederentwicklung des DBB deshalb nicht zu 4 Die Zeit Nr. 2411998 vom 04. 06. 1998, S. 13 ff.- Hier wird auch mit Beispielen die Situation weiterer Arbeitnehmergruppen dargestellt. 5 Dieser Zeitraum wurde wegen der erst ab 1991 vorliegenden gesamtdeutschen Vergleichsdaten gewählt. Ein Vergleich der Mitgliederentwicklung der Gewerkschaften in den alten Bundesländern über einen längeren Zeitraum ergibt den gleichen Trend.

A. Die gewerkschaftliche Mitgliederentwicklung

29

entnehmen. Auch die Zahl der im DBB organisierten Arbeiter und Angestellten ist rückläufig. Sie sank von 1992 bis 1995 um 49.714 Arbeiter und Angestellte (14,29%)6 . Die absoluten Zahlen lassen somit einen stetigen, für die Gewerkschaften fast bedrohlichen Mitgliederrückgang erkennen. Eine Trendwende7 oder zumindest das Erreichen einer Talsohle8 ist nicht in Sicht. Neben den absoluten Zahlen ist auch der Organisationsgrad der abhängig Beschäftigten Trendbarometer für die Schlagkraft und soziale Mächtigkeit der Gewerkschaften. Der Organisationsgrad gibt sogar genauer über die Mächtigkeit der Gewerkschaften Auskunft, denn er berücksichtigt die sinkende Zahl der abhängig Erwerbstätigen. Da die Gewerkschaften jedoch mehr Mitglieder verloren haben, als Arbeitsplätze abgebaut wurden, ist der Brutto-Organisationsgrad (BOG)9 von 1991 bis 1995 von 40,57% auf 34,88% gesunken (Tabelle 2). Der BOG beinhaltet jedoch auch arbeitslose Gewerkschaftsmitglieder, Rentner, Studenten, Wehr- und Zivildienstleistende. Auch er gibt deshalb nur bedingt über die soziale Mächtigkeit der Gewerkschaften in den Betrieben und Verwaltungen, sowie gegenüber Arbeitgebern und Arbeitgeberverbänden Auskunft. Um einen realistischen Annäherungswert zum Netto-Organisationsgrad zu erhalten, muß der BOG um circa 20 Prozent (nicht 20 Prozentpunkte) für nicht aktiv im Berufsleben stehende Mitglieder vermindert werden 10. Das sich nun ergebende Bild gibt die kritische Lage der Gewerkschaften deutlicher wieder. Danach betrug der Organisationsgrad der Gewerkschaften 1995 in den Betrieben und Verwaltungen tatsächlich nur noch durchschnittlich 28%, der Organisationsgrad des DGB nur noch 23%. Ein wichtiges Indiz für die zukünftige Entwicklung der Gewerkschaften ist ihre Akzeptanz bei den jungen Arbeitnehmern. Eine Gewerkschaft ohne Nachwuchs vergreist erst und stirbt schließlich. Aber die Zahlen der gewerkschaftlichen Mitgliederentwicklung bei den jungen Arbeitnehmern 11 sind schlicht verheerend. Die größte Fachgewerkschaft der Welt, die IG Metall, wies 1996 29.614 weniger Mitglieder im Alter bis zu 25 Jahren aus als noch ein Jahr zu vor. Dies ist ein Rückgang von 12,02% gegenüber dem Vorjahr. In Ostdeutschland verlor die IGM 1996 sogar 28,68% ihrer jugendlichen Mitglieder 12 .

Pege, gr 1 I 1995, S. 63, 64 (Tabelle 1); ders., gr 1 I 1996, S. 44, 47. Pege, gr 1 I 1996, S. 44 ff. s Pege, gr 4/1996, S. 39 ff. 6

7

9 Der Bruttc-Organisationsgrad bezeichnet das unbereinigte Verhältnis von statistischen Angaben zur Gesamtzahl der abhängig Beschäftigten zur Gesamtzahl der von den Gewerkschaften gemeldeten Mitglieder. 10 Pege, gr 1 I 1994, S. 111, 112 f.; gr 4/1996, S. 39, 41; Im gr 411996, S. 39,48 bezeichnet Pege diese Berechnung allerdings als wohlwollend und hält einen Abzug von 25% für realistisch. II Junge Arbeitnehmer sind bezogen auf die folgenden Angaben Arbeitnehmer bis zu 25 Jahren, bei der HBV Arbeitnehmer bis zu 27 Jahren. 12 Pege, gr 1 I 1997, S. 66, 77.

in%

1998

in%

1997

in%

1996

457.168 457.720 338.106 270.016 273.787 179.072 190.617 132.867 1.201.891 462.164 304.910

955.734 -5,4 1.010.555 -4,6

474.094 -2,8 487.814 -5,0 -3,6 -2,9 471.333 -3,5 488.271 -3,4 367.734 -4,2 -4,0 352.161 -4,2 -4,4 282.521 -4,1 294.546 -5,3 -2,7 281.236 -2,7 289.014 -2,4 -3,0 184.656 -3,6 191.610 -2,9 -1 ,5 193.578 -1,5 196.536 -1,4 -8,5 145.128 -5,8 154.043 -4,2 1,5 1.184.149 6,0 1.116.714 1,4 -3,8 480.225 -1,9 489.266 -2,3 0,6 303.087 0,1 302.874 -0,1

922.783 -3,5 1.059.228 364.331 694.897 513.322 505.405 383.942 310.891 296.232 197.309 199.421 160.785 1.101.598 501.009 303.106

1995

in%

1994

-3,7 9.385.493 -3,9 9.768.373 -4,1 2.869.469 -4,2 2.995.738 -5,1 23.293 -7,0 25.043 -7,5 234.240 216.288 -7,7 -3,3 177.789 -5,7 1.877.651 -4,0 724.829 -2,5 640.861 -1,9 652.964 83.968 -7,0 90.281 -3,8 -3,2 378.000 -3,1 390.000 -3,9 742.367 723.240 -2,6 -3,0 546.906 529.233 -3,2 -2,8 545.270 522.696 -4,1 -3,6 423.163 423.163 336.239 -3,5 322.019 -4,2 -3,3 316.196 306.448 -3,1 -4,6 206.323 -4, 1 215. 155 0,3 198.897 0,7 197.482 -5,9 170.806 -5,0 179.678 2,4 1.075.652 -1,3 1.089.213 -1,3 520.709 507.478 -2,5 -0,2 306.481 303.840 -0,9

in%

1993

in% 1992

666.910 -4,1 103.541 -13,9

1991

695.712 10,4 120.190 -10,7

776.781 134.980

-6,7 11.800.413 -6,4 3.624.380 -23,6 45.718 -17,2 348.095 -1,1 2.138.317

in %

-3,3 403.172 -11,8 457.239 -9,8 506.640 -4,6 818.832 -6,6 876.674 778.530 -4,9 -5,4 578.179 -5,4 611.244 -0,1 611 .969 -6,6 583.782 -7,3 629.727 -14,6 737.075 -6,1 450.461 -5,1 474.540 -10,0 527.478 -5,5 355.863 -9,8 394.686 -8,5 431.211 -4,1 329.729 -4,7 346.040 -3,8 359.852 -3,8 223.600 -5,4 236.306 -3,5 244.774 0,0 197.523 0,0 197.45 1 -1,8 200.997 -6,9 192.926 -5,8 204.763 -14,5 239.472 1,0 1.078.794 -1,5 1.095.399 4,0 1.053.001 - 1,4 584.775 527.888 -8,7 578.352 -1 ,1 -1,3 310.677 -1,5 315.550 1,5 310.831

-2,1 -12,8

-5,1 10.290.152 -6,6 11.015.612 -5,8 3.146.437 -7,3 3.394.282 -8,7 27.420 -14,0 35.890 -8,4 255.708 -11,3 288.198 -5,9 1.996.371 -5,6 2.114.522

in %

Veränderung der Mitgliederzahlen absolut und in % gegenüber dem Vmjahr

8.036.382 -3,3 8.310.783 -3,6 8.623.471 -4,3 9.006.755 2.701.996 -2,6 2.772.916 -2,5 2.660.951 -3,3 2.752.226 21.904 200.075 183.349 -8,4 1.526.891 -3,5 1.582.776 -3,7 1.643.692 -4,0 1.712.149 585.359 -4,8 614.659 -6,2 655.356 -5,6 693.866

1999

Die Zahlen beziehen sich auf den 31. Dezember des jeweiligen Jahres. Die Angaben des DBB beziehen sich auf den 30. September des jeweiligen Jahres. Die IG Bau entstand am 01. 01. 1996 durch Fusion der Gewerkschaften BSE und GGLF. ' Die IGM fusionierte mit der GL und der GTB. Die IG BCE entstand durch die Fusion der Gewerkschaften IGBE und IGC. Quellen: gr 111993, S. 100 (Tabelle 3); gr 111996, S. 48 (Tabelle 3), S. 51 (Tabelle 6); gr 4/1996, S. 40 (Tabelle 1), S. 44 (Tabelle 4), S. 70 (Tabelle 2); gr 1/1997, S. 68 (Tabelle I); gr 4/1998, S. 5 (Tabelle I); gr 1/1999, S. 16 (Tabelle 2), S. 19 (Tabelle 3), S. 21 (Tabelle 4), S. 28 (Tabelle 9); gr 211999, S. 11 (Tabelle 1), S. 24 (Tabelle 2); gr 1/2000, S. 4 (Tabelle 1), S. 7 (Tabelle 3), S. 14 (Tabelle 6).

Gewerkschaft DGB IGM GL GTB OTV IGBAU BSE GGLF IG BCE IGBE IGC DPG HBV GdED NGG GEW IGMedieu GdP GHK DBB DAG CGB

Tabelle 1: Mitgliederzahlen der großen deutschen Gewerkschaften

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0

A. Die gewerkschaftliche Mitgliederentwicklung

31

Tabelle 2 Gewerkschaftlicher Brutto-Organisationsgrad in Deutschland Jahr

insgesamt

Männer

Frauen

Angestellte

Arbeiter

Beamte

1991

40,57

47,00

31,82

25,85

51,76

64,48

1992

39,03

45,65

30,00

25,29

50,54

63,87

1993

37,31

43,96

28,25

23,47

48,87

63,31

1994

36,18

43,26

26,71

22,29

47,39

63,60

1995

34,88

41,92

25,51

21,37

45,10

63,99

1996

33,80

41,13

24,34

20,92

43,05

60,26

1997

33,00

40,41

23,54

19,87

42,92

60,49

1998

32,24

39,58

22,95

19,51

41,58

63,00

1999

30,79

Quelle: gr 1/2000, S. 5 (Tabelle 2).

Noch unerfreulicher für die Gewerkschaften sieht die Jungmitgliederentwicklung aus. Allein im Jahr 1995 verlor die NGG 17.300 Jungmitglieder (44,87%), die ÖTV 54.004 (42,17%), die GGLF 3.177 (41,46%), die GEW 1.350 (39,64%), die HBV 20.077 (32,94%), die GTB 5.436 (26,68%). Die DPG hatte 12.247 Nettoabgänge von Junggewerkschaftern zu verzeichnen (24,43%). Die Mitgliederentwicklung in den fünf neuen Bundesländern stellt sich I 995 für die Gewerkschaften noch erschreckender dar. Dort verloren die GEW 52,38%, die ÖTV 51,79%, die NGG 45,89%, die HBV 40,13% und die GTB 34,05% ihrer Jungmitglieder innerhalb eines Jahres 13 . Die Mitgliederverluste sind nicht nur auf Austritte zurückzuführen. Einige Mitglieder haben sicherlich die Altersgrenze überschritten und fallen deshalb aus der Statistik heraus. Dies ändert jedoch nichts daran, daß es Netto mehr Abgänge von Junggewerkschaftern als Zugänge gab. Auch ein anderer Vergleichszeitraum macht dies deutlich. Innerhalb eines Jahrzehnts hat sich die DGBJugendquote von 15% auf?% (1995) halbiert 14• Demgegenüber nimmt der Anteil der nicht direkt im Erwerbsleben stehenden Mitglieder zumindest prozentual stetig zu. 1996 waren 557.089 !GM-Mitglieder Rentner (20,24%) und 338.247 Mitglieder (12,29%) arbeitslos. Damit steht je zwei aktiven Gewerkschaftern ein Inaktiver gegenüber. Das bedeutet aber letztlich, daß die IGM, was ihre Aktionsfähigkeit betrifft, trotz aller demonstrierten Stärke heute nur noch eine ,,Zweidrittel-Gewerkschaft" ist 15 • Bei der IGBE lag der Rentneranteil vor ihrer Fusion mit der IGC sogar schon bei 40% 16• 13 14

15

Pege, gr 4 I 1996, S. 39, 50 (Tabelle 8). Pege, gr 411996, S. 39, 51. Pege, gr 1 I 1997, S. 66, 78.

32

Einleitung

Die Redensart, man könne mit Zahlen und Statistiken alles und nichts beweisen, ist mir wohl bekannt. Im folgenden muß jedoch auf einige besonders alarmierende Zahlen bei der Mitgliederentwicklung im Metallhandwerk und in Ostdeutschland eingegangen werden. Tarifverträge werden firmen- oder branchenspezifisch und meist regional begrenzt abgeschlossen. Die partielle Machtlosigkeit von Gewerkschaften ist somit um so wahrscheinlicher, je stärker die Mitgliederverluste einzelner Gewerkschaften in bestimmten Branchen und Regionen sind. 1995 betrug der Bruttoorganisationsgrad der IGM im Metallhandwerk - bezogen auf das gesamte Bundesgebiet - weniger als acht Prozent 17 . Da kann die Gewerkschafter die Erkenntnis, daß der Organisationsgrad mit der Größe des Betriebes sinkt 18, wenig trösten. In Ostdeutschland verlor die IGM im Jahre 1996 124.527 Mitglieder (24,01 %). Der DPG kehrte im gleichen Jahr sogar jedes dritte Mitglied (32,7%) den Rücken. Der Verlust von 21,14% der Mitglieder der GTB innerhalb eines Jahres (1996) nimmt sich da schon fast moderat aus 19 • Der Trend der Mitgliederentwicklung der Gewerkschaften muß demnach eindeutig als negativ bezeichnet werden.

8. Die besondere Situation in Ostdeutschland Diese Mitgliederrückgänge im sechsten Jahr der Einheit können, obwohl die grundlegende Umstrukturierung der Wirtschaft noch nicht abgeschlossen ist und diese zu weiteren Branchenverschiebungen und weiteren Gewerkschaftsaustritten führen wird20, nicht mehr primär auf den Zusammenbruch der Industrielandschaft im Osten am Beginn der neunziger Jahre und den anfangs deutlich höheren Organisationsgrad in den neuen Bundesländern zurückzuführen sein. Ursächlich hierfür scheinen auch innerorganisatorische Struktur-, Motivations- und Kommunikationsprobleme zu sein21 • So stimmten 1996 61,8% der !GM-Funktionäre in den neuen Bundesländern dem Satz zu. "Leute wie ich haben sowieso keinen Einfluß darauf, was die IG Metall tut". Außerdem wurde festgestellt, daß viele Ost-Gewerkschafter sich nach bewährter DDR-Überlebensstrategie in der Öffentlichkeit lieber bedeckt halten 22 • Ostdeutschen Mitgliedern wird sogar noch generell das nötige Selbstvertrauen als Gewerkschaftmitglied abgesprochen 23 . Zudem wissen angeblich nach Lecher, GMH 1991, S. 700, 703. Pege, gr 1/1997, S. 66, 79; ders., gr 2/1997, S. 48, 51. 1s Lecher, GMH 1991, S. 700,703. 19 Die Mitgliederzahlen des Jahres 1996 der im DGB zusammengeschlossenen Gewerkschaften für die neuen Bundesländern sind veröffentlicht bei: Pege, gr 1/1997, S. 66, 75. 20 Schmid/Blancke, GMH 1995, S. 566, 572. 21 Schmid/Blancke, GMH 1995, S. 566,567. 22 Pege, gr2/l997, S. 16. 23 Fichter, GMH 1994, S. 374, 376. 16 17

B. Die besondere Situation in Ostdeutschland

33

Auffassung von 69% der Gewerkschaftsmitglieder die Funktionäre nicht, was die Basis will und nach Meinung von 51% der Befragten, haben Spitzenfunktionäre durch ihr Verhalten das Ansehen der Gewerkschaften nachhaltig beschädigt24. Dies ist auch den Gewerkschaftsführungen bekannt. Die stellvertretende Vorsitzende des DGB, Dr. Ursula Engelen-Kefer, zog am 02. 10. 1996 bei der Vorstellung des dritten "trendbarometers" durch den DGB die Schlußfolgerung, daß Gewerkschaften neue Kommunikationsformen entwickeln müssen, vor allem um die Dialogbereitschaft mit den Außenseitern zu nutzen 25 . Doch können die Gewerkschaften dadurch eine Umkehrung des negativen Trendes erreichen? Ein Ende der Deindustrialisierung und der Strukturkrise in Ostdeutschland ist nicht abzusehen 26 . Ein weiterer Mitgliederrückgang der Gewerkschaften ist dort zu erwarten, wo der Frauenmitgliederanteil im Vergleich zum Westen überdurchschnittlich hoch ist. Denn die Gruppe der Frauen ist in den fünf neuen Ländern besonders stark von Arbeitslosigkeit betroffen. Deshalb ist anzunehmen, daß viele Frauen ihr Erwerbsverhalten zukünftig ändern und aus dem Erwerbsleben ausscheiden werden27 • Eine Gewerkschaftsmitgliedschaft scheint dann entbehrlich. Weitere Gewerkschaftsaustritte sind wahrscheinlich. Ein weiteres Problem ist die Gewerkschaftseinheit Diese stellt sich vielfach als eine Anpassung an die westdeutsche "Normalität" der Apparate dar. Auf die abweichenden ostdeutschen Bedürfnisse wird nicht eingegangen 28 . Die Gewerkschaftsarbeit in den ostdeutschen Betrieben wird weiterhin dadurch erschwert, daß sich viele Betriebsräte mit dem Ziel gebildet haben, sich von einer Außenbeeinflussung (FDGB, SED) zu befreien. Die Betriebsräte reagieren deshalb noch heute auf gewerkschaftliche "Einmischung" allergisch. Die Verständigung zwischen Gewerkschaft und Betriebsrat wird offenbar dann noch erschwert, wenn westdeutsche Gewerkschaftsfunktionäre auf ostdeutsche Betriebsräte treffen29 . Die wachsende Zahl außerbetrieblicher Mitglieder (insbesondere der Rentner und Arbeitslosen) stellt die Gewerkschaften vor weitere Probleme. Diese nehmen die Dienstleistungen der Gewerkschaften vermehrt in Anspruch und benötigen einen besonderen Betreuungsaufwand, so daß die Einnahmen die Kosten nicht mehr decken30. Die durch sinkende Mitgliederzahlen ausgelöste Finanzkrise verschärft sich.

24

25

26 27

28 29

30

Pege, gr 1/1996, S. 44, 45 f. Pege, gr211997, S. 16, 18. Fichter, GMH 1994, 374, 377; Schmid/Blancke, GMH 1995, S. 566. Schmid/Blancke, GMH 1995, S. 566, 572. Schmid/Blancke, GMH 1995, S. 566. Fichter, GMH 1994, S. 374, 375, 378. Fichter, GMH 1994, S. 374, 378; Schmid/Blanke, GMH 1995, S. 566, 572.

3 Andelewski

34

Einleitung

C. Strukturveränderungen der Wirtschaft Deutschland und die Industrieländer befinden sich gegenwärtig in der Anfangsphase eines grundlegenden Strukturwandels der gesamten Wirtschafts- und Arbeitswelt, wie er vielleicht nur mit dem Übergang von der Agrar- zur Industriegesellschaft zu vergleichen ist und als großer sozialer Umbruch beschrieben werden kann 31 . Die Bedeutung altindustrieller Branchen nimmt ab. Es bilden sich neue Industrie-Cluster. Die Bedeutung des Dienstleistungssektors steigt erheblich32 . Die zukünftige Wirtschaftsstruktur Deutschlands dürfte durch forschungs- und entwicklungsintensive Hochtechnologie, flexible, individuelle, umweltverträgliche Fertigungen und Dienste, hochwertige nationale und internationale Dienstleistungen, außerordentlich hohe internationale Arbeitsteilung und Verflechtung gekennzeichnet sein. Denkbar ist, daß in einer arbeitsteiligen Weltwirtschaft in Deutschland längerfristig sogar nur noch soviel Industrieproduktion nötig ist, daß Forschung und Entwicklung in Produkte umgesetzt werden können 33 . So wird z.B. prognostiziert, daß im Jahre 2010 durch die Verschiebung zu Dienstleistungstätigkeiten - vorwiegend in dezentralen kleinen Organisationseinheiten und mittelständischen Unternehmen - fast drei Viertel der Erwerbstätigen überwiegend Dienstleistungstätigkeiten im weitesten Sinne ausüben34 . Besonders wichtig für die Strukturen der zukünftigen Arbeitswelt sind die Informationstechnologien. Diese führen bereits heute zu einer weitgehenden Automatisierung der Routinetätigkeiten, zur örtlichen und zeitlichen Entkoppelung von Mensch und Maschine, zu einer Dezentralisierung von Arbeitsstätten und zu einer Rückverlagerung von Arbeitsleistungen in Heimarbeie5 • Diese Entwicklung führt zu einer Verschiebung der Beschäftigungsanteile zwischen den Sektoren und Branchen36. Niedriglohnarbeitsplätze werden weitgehend nach Fernost oder Osteuropa transferiert37 . Das formale Qualifikationsniveau des Arbeitskräftebedarfs wird sich erhöhen. Der Bedarf an Absolventen der Hochschulebene wird steigen38 . 3t Martens, GMH 1994, S. 78, 81; Klauder, GMH 1994, S. 764, 766; HoffriUmn, GMH 1995, S. 197; Bundesmann-Jansen!Frerichs, GMH 1996, S. 345 f. 32 Däubler; Tarifvertragsrecht, S. 67 Rdn. 38; Klauder; GMH 1994, S. 764, 771; DaunerLieb/Krebs, ZfA 1994, S. 19, 25; Hoffrnann, GMH 1995, S. 197; Dichmann, gr 2/1997, S. 3, 10; Pege, gr 2/1997, S. 16, 30 f.; Junker, NZA 1997, S. 1305, 1312 ff.; Lang/Schaaf, GMH 1997, S. 305, 306 f.; Welsch, GMH 1998, S. 80, 81; Hemmer, GMH 1998, S. 265, 267; Mai, GMH 1998, S. 281; Löwisch, RdA 1999, S. 69, 70. 33 Klauder, GMH 1994, S. 764, 770; Revel, Tarifautonomie, S. 113. 34 Klauder; GMH 1994, S. 764,771 f. 35 Klauder; GMH 1994, S. 764,765 f.; Welsch, GMH 1998, S. 80, 82; Löwisch, RdA 1999, s. 69,70 f. 36 Armingeon, GMH 1991, S. 371, 374; Hemmer, GMH 1998, S. 265, 267. 37 Ho!frnann, GMH 1995, S. 197. 38 Revel, Tarifautonomie, S. 111 ff.; Klauder, GMH 1994, S., 771; Löwisch, RdA 1999, s. 69, 71.

C. Strukturveränderungen der Wirtschaft

35

Sind die Gewerkschaften auf diese Veränderungen eingestellt oder genügend reformfahig, um in den veränderten Rahmenbedingungen der Zukunft die Arbeitnehmerinteressen gleich effektiv zu vertreten, wie in der Vergangenheit? Nach Auffassung von Walter Riester; ehemaliger Zweiter Vorsitzender der IGM, machen "einschneidende Veränderungen in Produktionsstruktur und Arbeitsorganisation sowie in den Strukturen der industriellen Arbeit es zur Wahrnehmung der gewerkschaftlichen Schutzfunktion erforderlich, die eigenen Gestaltungskonzepte auszubauen und weiterzuentwickeln"39 . Ob den Gewerkschaften dies tatsächlich gelingt, bleibt abzuwarten. Eine gewisse Aussagekraft über die Zukunftsfähigkeit der Gewerkschaften läßt sich jedenfalls aus ihrer Mitgliederstruktur und ihrem Organisationsgrad in Branchen mit wachsendem Arbeitskräftebedarf ablesen. Der beschriebene Trend zur Dienstleistungsgesellschaft führt zu einer Verschiebung der Beschäftigtenstruktur von den Arbeitern hin zu den Angestellten40 • Der gewerkschaftliche Organisationsgrad stellt sich aber nur im schrumpfenden industriellen Sektor abnehmend stabil dar. Noch fast jeder zweite Arbeiter ist gewerkschaftlich organisiert. Im wachsenden Dienstleistungssektor nimmt der gewerkschaftliche Organisationsgrad jedoch ab. Nur noch jeder fünfte Angestellte ist Gewerkschaftsrnitglied41 . Der BOG der Angestellten sinkt sogar weiter. Er betrug 1991 24,9%42 , 1995 jedoch nur noch 21 ,37%43 . Die soziale Mitgliederstruktur entspricht damit noch der der fünfzig er Jahre und reflektiert das durch den sozio-kulturellen Wandel in Europa an Einfluß gewinnende neue soziale Milieu im Dienstleistungssektor nicht angemessen44 • Die DGB-Gewerkschaften verstehen sich noch immer als Industriegewerkschaften. Historisch ist das sicherlich verständlich, waren die Gewerkschaften bisher doch vor allem die Organisationen der männlichen Industriefacharbeiter. Doch die Masse der Arbeitnehmer der Zukunft wird als Angestellte arbeiten. Diese Gruppe ist jedoch schwer zu integrieren45 • Ich kann nicht beurteilen, ob den Gewerkschaften die Einbindung der Arbeitnehmer der Zukunft gelingt. Für ihr Überleben ist dies aber zweifellos von entscheidender Bedeutung. Selbst in gewerkschaftseigenen Publikationen wird aber ganz offen die Einschätzung geäußert, daß die Gewerkschaften ihre strukturellen Probleme nicht zu lösen vermögen46 . Auskünfte über die Zukunftsfähigkeit von Gewerkschaften können auch deren Organisationsmodellen für ihre Mitglieder in den Zukunftsbranchen entnommen Riester, GMH 1994, S. 149. Schmid/Blancke, GMH 1995, S. 566, 573; Junker, NZA 1997, S. 1305, 1315; Lang/ Schaaf, GMH 1997, S. 305,307. 41 Dichmann, gr211997, S. 3, 12. 42 Pege, gr 111994, S. 111, 114. 43 Pege, gr 4/1996, S. 39, 41 (Tabelle 2). 44 Hoffmann, GMH 1995, S. 197, 198. 45 Schmidl Blanke, GMH 1995, S. 566, 573. 46 Schmidl Blanke, a. a. 0. 39

40

3*

36

Einleitung

werden. Zu den Zukunftsbranchen gehört zweifelsfrei der Multimediabereich. Der Vorsitzende der IG-Medien, Detlef Hensche, beschreibt die Gewerkschaftszuständigkeit für die aufkommende Multimediabranche so: "Für die Geräte ist die IG Metall, für die Netze die DPG und für die Inhalte die IG Medien zuständig."47 . Zu welchen Abgrenzungsschwierigkeiten dies in der Praxis führen wird, ist offensichtlich. Zudem gibt es nach seiner eigenen Auffassung entlang dieser Wertschöpfungskette noch jede Menge "gewerkschaftsfreier Bereiche"48 . Da kann es nicht verwundern, daß die Gewerkschaften in der Zukunftsbranche Multimedia keinen Fuß fassen können49. Die Organisationsschwäche moderner Arbeitnehmer in strategisch wichtigen Zukunftsbereichen ist unübersehbar50. Das bisherige gewerkschaftliche Organisationsmodell nach Industrieverbänden wird den neuen Anforderungen offensichtlich nicht gerecht. Doch was tut sich an organisatorischen und strukturellen Veränderungen bei den deutschen Gewerkschaften? Für jeden Interessierten wahrnehmbar sind zunächst die Zusammenschlüsse einzelner DGB-Gewerkschaften. So schlossen sich die BSE und die GGLF zur IG BAU, die IGBE und die IGC zur IG BCE zusammen und die GTB ging in der IGM auf. Im Februar 1998 verständigten sich die Spitzen von ÖTV, GEW, DPG, HBV, IG Medien und DAG darauf, eine Dienstleistungsgewerkschaft zu gründen. Dabei kann man sich jedoch nicht des Eindruckes erwehren, daß diese Zusammenschlüsse primär vor dem Hintergrund des Mitgliederrückganges und der damit verbundenen finanziellen Schwäche der Einzelgewerkschaften erfolgten51 und in den Gewerkschaften selbst nicht unumstritten sind52 • Strategisch neue Konzepte oder zündende Ideen spielen wohl keine vordergründige Rolle. Inzwischen überholte Strukturen und Verhaltensmuster werden durch diese halbherzigen Reformen von Organisation und Programmatik nur verfestigt53 . Dabei publizieren selbst die gewerkschaftseigenen Medien, daß Industrie- und Massengewerkschaften alten Zuschnitts der Vergangenheit angehören54 und die gewerkschaftliche Organisation dringend reformbedürftig ist55 . Dennoch werden Vorschläge, wie eine stärkere (politische) Dezentralisierung und Regionalisierung der Organisation, die Veränderung von Abteilungsstrukturen und Zuständigkeiten, die Ausweitung des Angebotes von Dienstleistungen, die Straffung der Organisation durch den Abbau des bürokratischen Wasserkopfes und den Einsatz neuer Inzitiert nach: Ferch, GMH 1996, S. 615,620. Ferch, GMH 1996, S. 615, 620; ebenso: Lang /Schaaf, GMH 1997, S. 305, 307. 49 Ferch, a. a. 0 . 5o Martens, GMH 1994, S. 78, 79; Kittner, AiB 1995, S . 158, 160. 51 Hoffmann, GMH 1995, S. 197, 200. 52 So hat die zunächst an den Gründungsgesprächen der neuen Dienstleistungsgewerkschaft beteilgte GdED eine Beteiligung an der neuen Gewerkschaft abgelehnt. 53 Schmid! Blancke, GMH 1995, S. 566,567. 54 Armingeon, GMH 1991, S. 371,372. 55 Martens, GMH 1994, S. 78; Lang!Schaaf, GMH 1997, S. 305,306 ff. 47 48

D. Globalisierung der Wirtschaft

37

formations- und Kommunikationstechnologien, die verstärkte kommunikative Öffnung und die Entwicklung neuer Partizipationsangebote für die Arbeitnehmerschaft56 oder die Stärkung des Dachverbandes57, auf die lange Bank geschoben. Insgesamt läßt sich der Eindruck, daß die Gewerkschaften ihre Strukturen angesichts der veränderten Problemlagen nicht ausreichend weiterentwickelt haben, nicht ausräumen 58. Die gewonnenen Einblicke geben für einen starken Optimismus hinsichtlich einer grundlegenden Reform der Gewerkschaften und damit für ihre Zukunftsfähigkeit wenig Anlaß59.

D. Globalisierung der Wirtschaft Das Erfordernis der organisatorischen Weiterentwicklung wird durch die zunehmende Globalisierung der Wirtschaft verstärkt. Diese ist durch die weltweite Zunahme der Waren- und Dienstleistungsexporte und den erheblich gestiegenen grenzüberschreitenden Einsatz des Faktors Kapital gekennzeichnet60• Die weltweite Allokation auf den Güter- und Faktormärkten nimmt zu. Daraus resultiert eine Verschärfung des Wettbewerbs. Nationale Grenzen, die das Wirtschaftsleben seit Beginn der Industrialisierung geprägt und begrenzt haben, werden faktisch eliminiert61 . Der weltweite Wettbewerb führt dazu, daß sich Entgeltsteigerungen schwerer durchsetzen lassen62. Dadurch verursacht die Globalisierung erhebliche gewerkschaftliche Organisationsprobleme. Denn das wirtschaftliche Umfeld setzt der gewerkschaftlichen Interessenvertretung viel engere Grenzen als in der Vergangenheit. Unter den neuen Bedingungen muß sich der relativ immobile Faktor Arbeit um die mobilen Faktoren Kapital und technisches Wissen bemühen, wenn er seine Einkommenschancen durch entsprechende Kombination mit Sachkapital und der damit einhergehenden Arbeitsproduktivität erhalten will63 . Gegenwärtig ist in den internationalisierten Witrschaftsbereichen allerdings ein Entwicklungsvorsprung des Produktionsfaktors Kapital und der Un56 Schmid/Blancke, GMH 1995, S. 566, 574; Hensche, GMH 1998, S. 274, 277; Mai, GMH 1998, S. 281,284. 57 Lang/Schaaf, GMH 1997, S. 305,308,310, 314. 58 Schmid/Blancke, GMH 1995, S. 566,575. 59 Schmid/Blancke, GMH 1995, S. 566,576. 60 Hoffmann, GMH 1995, S. 197; Dichmann, gr 2/1997, S. 3, 9 f.; Junker, NZA 1997, S. 1305, 1312 f.; Engelen-Kefer, GMH 1997, S. 151, 152; Gaul, NZA 1997, S. 1022; FAZ vom 04. 11. 1997, Nr. 256, S. 17 f.; Löwisch, RdA 1999, S. 69, 72; Zur Globalisierung aus volkswirtschaftlicher Sicht, vgl.: 1ietmeyer, Bundesbank 1998 Nr. 54, S. 1, 2 ff. 61 Pelinka, Gewerkschaften, S, 169; Klauder, GMH 1994, S. 764; Schulte, GMH 1997, S. 449, 454; 1ietmeyer, a. a. 0 .; Düwell, ArbuR 1998, S. 149, 151. 62 Dichmann, gr 2/1997, S. 3, 9. 63 Dichmann, gr2/1997, S. 3. 11.

Einleitung

38

ternehmerverbände gegenüber dem Produktionsfaktor Arbeit und den Gewerkschaften zu beobachten64 . Dies führt zu einem weiteren Problem der Gewerkschaften. Sich als Global Player verstehende multinationale Unternehmen können sich ohne größere Schwierigkeiten durch Verlagerung der Produktion in andere Länder gewerkschaftlichem Druck, der zu relativ hohen Arbeits- und Sozialkosten führt, entziehen65 . Die wachsende internationale Wirtschaftsintegration kann die auf nationale Interessenvertretung spezialisierten Gewerkschaften damit zunehmend ins Leere laufen lassen66. Die auf nationale Grenzen orientierte Gewerkschaftspolitik wird deshalb zukünftig immer weniger in der Lage sein, den neuen Herausforderungen gerecht zu werden67 . Wenn Klaus Zwickel, Vorsitzender der IGM, sagt, daß die Globalisierung den Gewerkschaften auch die Chancen eröffnet, wirtschaftliche Entwicklungen, soziale Standards und ökologische Normen zu universalisieren68 , so ist ihm bezogen auf diese theoretische Möglichkeit zuzustimmen. Bedenkt man jedoch, daß die supranationalen Handlungsmöglichkeiten der Gewerkschaften nicht im gleichen Maße wachsen, wie der Handlungsbedarf steigt,69 und ein Bewußtsein der internationalen gewerkschaftlichen Solidarität nicht entwickelt ist70, so muß auch unter dem Gesichtspunkt der Globalisierung an der Zukunftsfähigkeit der Gewerkschaften gezweifelt werden.

E. Europäisierung der Wirtschaft Die Globalisierung wird in Europa durch eine zunehmende Europäisierung der Wirtschaftsstrukturen im EG-Binnenmarkt begleitet71 . Parallel hierzu werden politische Entscheidungskompetenzen von der nationalen auf die europäische Ebene verlagert 72. Der Effekt der Europäisierung wird durch die einheitliche europäische Währung und die damit wegfallenden Wechselkursanpassungen noch beschleunigt. Bei den nach wie vor vorhandenen Disparitäten, wird die Lohn- und Sozialpolitik weiter unter Druck geraten73 . Auch können europa- oder weltweit tätige Konzerne Pe/inka, Gewerkschaften, S. 169. Revel, Tarifverhandlungen, S. 119 f.; Dichmann, gr 211997, S. 3, 12. 66 Anningeon, GMH 1991, S. 371. 67 Hoffmann, GMH 1995, S. 197, 198. 68 Zwickel, GMH 1995, S. 585, 599; ebenso: Engelen-Kefer, GMH 1997, S. 151, 157; Gejjken, NZA 1997, S. 874, 875. 69 Anningeon, GMH 1991, S. 371. 70 Pe/inka, Gewerkschaften, S. 170. 71 Däubler, Tarifvertragsrecht, S. 70 Rdn. 46; Junker, NZA 1997, S. 1305, 1312. n Issen, GMH 1998, S. 278. 73 Soltwedel, Regulierungen, S. 1; Hoffmann, GMH 1995, S. 197,204. 64

65

E. Europäisierung der Wirtschaft

39

versuchen, die Standorte und die Beschäftigten der einzelnen Länder gegeneinander auszuspielen, um Lohn- und Sozialkosten zu senken74. Auf europäischer Ebene belegen dies die Beispiele Ford und Gillette bereits jetzt75 . Deshalb werden handlungsfähige Gewerkschaften auf europäischer Ebene benötigt76. Doch wie sieht der Ist-Stand aus? Es gibt den Europäischen Gewerkschaftsbund (EGB) als Dachverband von 39 nationalen Mitgliedsgewerkschaften aus 21 Ländern Westeuropas77 • Dieser ist nicht tarifvertragsfähig. Wie sollte er auch? Es existiert kein europäisches Tarifstatut und nicht einmal alle Mitgliedsgewerkschaften des EGB, wie z. B. der deutsche DGB oder der britische TUC, sind national tarifvertragsfähig78 . Zudem fehlt für Tarifverhandlungen schlicht der europäische Tarifvertragspartner, da die europäischen Arbeitgeberverbände stark zersplittert sind79· 80. Hinzu kommen noch unterschiedliche Tarifverhandlungssysteme in den europäischen Ländern81 , die eine einheitliche europäische Tarifpolitik fast unmöglich machen. Diese hier nur angerissenen Umstände verhinderten bisher den Abschluß europäischer Tarifverträge82. Große Probleme bereiten den Gewerkschaften auch ihre unterschiedlichen Organisationsmodelle auf europäischer Ebene. Es gibt Arbeiter- und Angestelltengewerkschaften, Industrie-, Branchen- und Berufsgewerkschaften, Richtungs-, konfessionelle und unabhängige Gewerkschaften. Benötigt werden jedoch möglichst homogene und keine segmentierten Einzelgewerkschaften 83 . Weiterhin wird berichtet, das Verständnis für die unterschiedlichen kulturellen und politischen Ausgangsbedingungen der Gewerkschaften in den europäischen Nachbarländern sei wenig ausgeprägt84. Auch sollen die Gewerkschaften bei den europäischen Institutionen als Interessenvertretung und Lobbyisten weniger aktiv sein als die Unternehmerverbände85. 74 Anningeon, GMH 1991, S. 371, 378; Lecher, GMH 1991, S. 700,704. 75 hierzu: Lecher, GMH 1991, S. 700,704.

Janssen, GMH 1993, S. 552, 557. Lecher, GMH 1991, S. 700, 709. 78 Im Falle des DGB liegt dies aber nicht arn nationalen Gesetzgeber, vgl. § 2 III TVG. 79 Neben der Union der Industrie- und Arbeitgeberverbände in Europa (UNICE) als Spitzenverband der privatwirtschaftliehen Arbeitgeber und der Vertretung der öffentlichen Arbeitgeber (CEEP) bestehen noch weitere Verbände, vgl.: Buchner, RdA 1993, S. 193, 202. 80 Buchner, RdA 1993, S. 193, 200, 202; Hoffmann, GMH 1995, S. 197, 205; Kempen, ArbuR 1996, S. 336, 338. 81 Lecher; GMH 1991, S. 700, 704 skizziert die unterschiedlichen Tarifverhand1ungssysterne; Wiedemann/Stumpf TVG, Ein!. Rdn. 51; Birk, NZA 1989, S. 329, 331; Däubler; EuZW 1992, S. 329 ff.; Wißmann, RdA 1999, S. 152, 157. 82 vgl.: Däubler; Tarifvertragsrecht, S. 706 ff., Rdn. 1716 ff. ; Däubler; NZA 1995, S. 577, 585; ders., RdA 1999, S. 18, 22; Wißmann, a. a. 0 .. 83 Hoffmann, GMH 1995, S. 197, 199. 84 Hoffmann, a. a. 0. 85 Anningeon, GMH 1991, S. 371,376 f. 76 77

40

Einleitung

Auf europäischer Ebene herrscht somit ein Ungleichgewicht zwischen ökonomischer und sozialer Integration86. Die Gewerkschaften scheinen für die Herausforderungen der Europäisierung noch nicht ausreichend gewappnet.

F. Differenzierung der Arbeitnehmerinteressen Weitere Unsicherheitsfaktoren bei der Beurteilung der gewerkschaftlichen Zukunft sind die zunehmend differenzierteren lnteressenlagen, ein einsetzender Wertewandel - vom Selbstzwang zur Selbsterfahrung - und ein neuer Individualismus der Arbeitnehmer87 . Insbesondere der Wandel in der Beschäftigtenstruktur und die deutsche Einheit führten und führen zu einer wachsenden Heterogenität der Mitgliedschaft. Heterogene Interessen, abweichende politisch-kulturelle Orientierungsmuster und unterschiedliche soziale und ökonomische Probleme kennzeichnen die organisatorische Lage der Gewerkschaften heute mehr denn je. Dies gefährdet ihre Integrations- und Handlungsfähigkeit massiv. Dafür Lösungen zu finden, ist nicht leicht. Skeptische Sozialwissenschaftler sprechen deshalb von einem Organisationsdilemma88 . Dem Bedürfnis nach individualisierter Interessenvertretung soll jedoch kein adäquates gewerkschaftliches Angebot gegenüberstehen89.

G. Identitätsprobleme Der Zusammenbruch des Sozialismus nahm den Gewerkschaften - insbesondere einem Teil der Funktionärselite - die ideologische Grundlage und kratzte an deren traditionellem politischen Weltbild 90. Die sich daraus ergebenden Auswirkungen auf die Mitgliederentwicklung zeigen sich besonders deutlich in Ländern mit ideologisch polarisierten Gewerkschaftssystemen, wie Frankreich, Italien und Spanien91. Dort sind die Mitgliederverluste zum Teil noch gravierender als in Deutschland. So erlitten in Frankreich die kommunistische CGT und die sozialistisch Lecher, GMH 1991, S. 700,709. Möschel, ZRP 1988, S. 48, 51; Däubler, Tarifvertragsrecht, S. 67 Rdn. 39; Zachert, Sicherung, S. 139; Martens, GMH 1994, S. 78, 80; Klauder, GMH 1994, S. 764, 765; Schmid/ Blancke, GMH 1995, S. 566, 573; Bundesmann-Jansen/Frerichs, GMH 1996, S. 345, 346; Junker, NZA 1997, S. 1305, 1313, 1315; Lang/Schaaf, GMH 1997, S. 305, 306; Oppolzer, ArbuR 1998, S. 45, 54; Brandt/Revel, Arbeitsmarkt, S. 219,231. 88 Nachweise bei: Schmidl Blancke, GMH 1995, S. 566, 573, Fußnote 11. 89 Beier, GMH 1996, S. 25, 31. 90 Hoffmann, GMH 1995, S. 197, 198; Dichmann, gr 2/1997, S. 3, 10. 91 Armingeon, GMH 1991, S. 371, 373 f. 86 87

G. Identitätsprobleme

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orientierte FO erhebliche Mitgliederverluste. Die parteipolitisch nicht links orientierte CFDT konnte ihre Mitgliederzahl hingegen fast stabil halten92 . Zudem droht sich unter dem Druck der von Arbeitgebern und weiten Teilen der Politik geführten Diskussion um den Industriestandort Deutschland der schon in den achtziger Jahren verlorengegangene Umverteilungsanspruch der Gewerkschaften vollends umzukehren. Bereits heute führen die Gewerkschaften im wesentlichen nur noch Verteidigungskämpfe um bereits erreichte Positionen93 . Walter Riester bezeichnet die heutige Tarifpolitik ganz offen als "auf Verteidigung von Besitzständen und Strukturen ausgerichtet" 94. Andere Gewerkschafter haben "einen Wandel vom Wohlfahrts- zum Wettbewerbsstaat" bereits akzeptiert95 . Neue sozioökonornische Disparitäten und Standortprobleme unterminieren damit die alten Programmformeln von der "Einheitlichkeit der Lebensverhältnisse" und stetig steigerbaren sozialstaatliehen Leistungen. Die traditionelle Funktionslogik der Tarifpolitik, wonach über relativ hohe Löhne und starke Arbeitnehmervertretungen ein permanenter Modernisierungsdruck auf die gesamte Industrie ausgeübt wird, scheint nicht mehr zu funktionieren 96. Dies führte (und führt weiter) dazu, daß der Anteil der Arbeitnehmer am Sozialprodukt - die Entgeltquote - rückläufig ist. Die Massenkaufkraft ist vom Produktivitätswachstum abgekoppelt und bleibt hinter diesem zurück97 • Darüber hinaus schwächt die steigende Arbeitslosigkeit die Durchsetzungsfähigkeit der Gewerkschaften98. Auch diese Gesichtspunkte lassen die Gewerkschaften in der Defensive erscheinen. Es wird sogar von einem Ende der gewerkschaftlichen Epoche gesprochen99 . Auch die Konfliktfreudigkeit der Gewerkschaften nimmt ab. 1971 gingen durch Arbeitskämpfe noch 2.599.413 Arbeitstage verloren. 1990 betrug der jährliche Ausfall durch Arbeitskampfmaßnahmen in den alten Bundesländern nur noch 365.547 Arbeitstage 100. Für die gewerkschaftlichen Streikkassen ist dies erfreulich. Konflikte wirken aber auch integrierend. Sie binden die eigenen Mitglieder, stärken die gewerkschaftliche Organisationsstruktur und sanktionieren bei Streik und Aussperrung die Trittbrettfahrer, die ansonsten ohne Beitragszahlung von den 92 Zahlen zur gewerkschaftlichen Mitgliederentwicklung in Frankreich bei: Mouriaux, GMH 1995, S. 220 ff.; vgl. auch Le Friant, Wirkung, S. 105 ff. 93 Manens, GMH 1994, S. 78, 83. 94 Riester, GMH 1994, S. 149. 95 Die Zeit Nr. 40/1998 vom 24.090.1998 S. 41. 96 Schmid/Blancke, GMH 1995, S. 566,574. 97 Janssen, GMH 1993, S. 552, 555. 98 Welsch, GMH 1998, S. 80, 81. 99 Mouriaux, GMH 1995, S. 220, 225. 100 Löwer, v.M/K-GG, Art. 9 GG, Statistische Angaben; Den Tiefstpunkt erreichte die Arbeitskampftätigkeit im Jahre 1986, als nur noch 27.964 Arbeitstage durch Arbeitskämpfe ausfielen. Der Vergleichszeitraum von 1971 bis 1990 wurde wegen der seit 1991 veränderten Bezugsgröße gewählt. Der hier dargestellte abnehmende Trend der Arbeitskampfmaßnahmen setzte sich aber nach 1991 im vereinigten Deutschland fort.

42

Einleitung

erzielten Tarifabschlüssen profitieren 101 • Daß dies deutliche Auswirkungen auf die negative Mitgliederentwicklung der Gewerkschaften hat, zeigen die kurzfristigen Neuzugänge- allein bei der IGM 40.000 im vierten Quartal 1996 102 - durch den Kampf der Gewerkschaften um die Sicherung der einhundertprozentigen Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall 1996. Auch im gesellschaftlichen Bereich verloren die Gewerkschaften an Einfluß dies gilt zumindest bis zum Zeitpunkt der Bundestagswahl im Herbst 1998. Deutlich wird dies daran, daß die konservativ-liberale Bundesregierung die Arbeitnehmerorganisationen seit den achtziger Jahren kaum noch an wirtschafts-und sozialpolitischen Schlüsselentscheidungen beteiligte 103 . Wenn dann doch eine Einbeziehung der Gewerkschaften erfolgte, war dies - wie der Beschäftigungsgipfel und die Beschäftigungsinitiative Ost zeigen - aus Sicht der Arbeitnehmer erfolglos. Gleiches gilt für die Beziehungen zu den Arbeitgebern, die angeblich seit längerem die Stellung der Gewerkschaften zu untergraben versuchen 104 . In dieses Bild paßt eine Äußerung des Präsidenten des BDI, Hans-Olaf Henkel, der im Dezember 1997 die flächendeckenden Verstöße von Arbeitgebern gegen Verbandstarifverträge in Ostdeutschland als vorbildlich bezeichnete 105 • Aber auch auf Arbeitgeberseite ist ein Aufbröseln der Arbeitgeberverbände zu beobachten. Die Verbandsaustritte und die Nichtbeitritte neugegründeter Unternehmen sowie die Mitgliedschatten ohne tarifliche Bindung mehren sich 106• Sogar regionale Arbeitgeberverbände treten aus ihren Dachverbänden aus. Spektakuläres Beispiel des Jahres 1997 war der Austritt der Berliner Fachgemeinschaft Bau aus dem Bau-Arbeitgeberverband. Im Osten sind die in den Arbeitgeberverbänden organisierten Unternehmen bereits jetzt in der Minderheit. Die "Krise" des Gegners schwächt pradoxerweise aber auch die Arbeitnehmerorganisationen, denn diese sind längerfristig auf ein funktionierendes Gegenüber angewiesen 107 . Von einer Identitätskrise der Gewerkschaften zu sprechen, wirkt in Anbetracht dieser Situation nicht übertrieben.

Schmid/Blancke, GMH 1995, S. 566,569. Pege, gr 1/1997, S. 66 f. 103 Schmidl Blancke, GMH 1995, S. 566,574. 104 Schmid/Blancke, GMH 1995, S. 566,574. 105 Henkel im Spiegel-Streitgespräch mit Gerhard Schröder; DER SPIEGEL, Nr. 1 vom 29. 12. 1997, S. 72, 74 und danach in mehreren Interviews. 106 Henssler; ZfA 1994, S. 487, 507; Kittner, AiB 1995, S. 158, 160; Otto, NZA 1996, S. 624; Hensche, ArbuR 1996, S. 331 ff.- mit Beispielen aus der Druckindustrie; Heinze, NZA 1997, S. 1, 8; Schulte, GMH 1997, S. 449, 551 f.; Hanau, RdA 1998, S. 65,68 ff. 107 Schmid/Blancke, GMH 1995, S. 566,569. 101

102

H. Ansehen und Image der Gewerkschaften

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H. Ansehen und Image der Gewerkschaften Die Mitgliederzahlen geben nur Auskunft über den zurückliegenden Verlauf der Mitgliederentwicklung. Wichtiges Indiz für die gegenwärtige und zukünftige Rolle der Gewerkschaften ist die Akzeptanz durch Arbeitnehmer und Bevölkerung. Nach einer ifep-Untersuchung waren 1996 48,2% der befragten Arbeitnehmer der Meinung, daß Gewerkschaften ein unverzichtbarer Bestandteil unserer Wirtschaftsund Gesellschaftsordnung sind. Dies sind nur 1,2% weniger als 1994. Im Osten waren 1996 hingegen nur noch 43,2% von der Unverzichtbarkeit der Gewerkschaften überzeugt. 1994 waren dies noch 53,6%. Allerdings halten es nur 21,2% der im gesamten Bundesgebiet Befragten für richtig, daß man als Arbeitnehmer unbedingt Gewerkschaftsmitglied sein muß (1994: 24,9%). Von der Minderheit der Gewerkschaftsmitglieder ist dann auch nur jeder Zehnte mit der eigenen Organisation und deren Politik sehr zu frieden. Vielleicht sieht ja deshalb nur eine Minderheit von 9,7% der Arbeitnehmer eine aktive Mitarbeit in ihrer Organisation als wichtig an (1994: 10,7%) 108• Aus Sicht der Gewerkschaften muß dies erschrecken, benötigen sie zur Durchsetzung ihrer Interessen doch aktive Mitglieder 109 . Vor allem für die Schlagkraft der Gewerkschaften und für deren Finanzkraft ist jedoch entscheidend, wieviele Befragte bereit sind, aus ihrer grundsätzlichen Einstellung gegenüber den Gewerkschaften Konsequenzen zu ziehen, und aus- oder beizutreten. 1994 hatte ifep bei dieser Fragestellung noch fast doppelt soviele Austrittswillige wie Beitrittswillige registriert. 1996 war die Bilanz zwischen Aus- und Beitrittskandidaten hingegen fast ausgeglichen (40,3% zu 38%). Doch darf auch hier nicht übersehen werden, daß auch 1996 nur 1,7% der Befragten eine sichere Beitrittszusage abgaben 110. Diese zögernde Beitrittswilligkeit liegt vielleicht auch am Image der Gewerkschaften. Nach Auffassung von 86,3% der 1996 Befragten sollten Gewerkschaften zukunftsorientiert sein. Tatsächlich sind dies die Gewerkschaften aber nur nach Meinung von 43,2%. Flexibilität wird von 75,9% der Befragten gefordert (1994: 77,6%). Als flexibel sehen die Gewerkschaften aber nur 33,4% der Interviewten an (1994: 37,8%) 111 • Die Gegenüberstellung der ifep-Daten zu Idealbild und Wirklichkeit zeigt somit, daß sich die real existierenden Gewerkschaften tendenziell weiter vom Idealbild entfernt haben. Dies bedeutet insbesondere für die arbeitende Jugend, daß in absehbarer Zeit nicht zu erwarten ist, daß sie in den Gewerkschaften ihre soziale Heimat sehen werden 112 .

Pege, gr 2/1995, S. 45,48 ff.; gr 2/1997, S. 16, 22 ff. Beier, GMH 1996, S. 25. 110 Zahlen aus: Pege, gr 2/1995, S. 45, 53 ff.; gr 2/1997, S. 16, 26 ff.; Dort finden sich auch Daten weiterer Untersuchungen zum Ansehen und Image der Gewerkschaften. 111 Pege, gr 2/1997, S. 16, 28 ff. 112 Pege, gr 2/1997, S. 16, 30 f. 108

109

44

Einleitung

Ein posttiVer Trend der gewerkschaftlichen Mitgliederentwicklung läßt sich demnach auch nicht aus dem Ansehen der Gewerkschaften ableiten.

J. Fazit und Eingrenzung des Themas Die hier nur als Einleitung dienende Darstellung von gewerkschaftlichen, gesellschaftlichen, nationalen, europäischen und globalen Trends und Entwicklungen kann keinen Anspruch auf Vollständigkeit erheben. Die Anzeichen für einen Trend zum Machtverlust der Gewerkschaften sind aber unübersehbar. Ich bin zwar nicht der Auffassung, daß die deutsche Gewerkschaftsbewegung zukünftig zwingend an Macht und gesellschaftlichem Einfluß verlieren muß, aus den dargestellten Entwicklungstendenzen kann aber zweifelsfrei die Möglichkeit der dem Thema als Zusatz dienenden Fallkonstellation - der partiellen Machtlosigkeit von Arbeitnehmerkoalitionen - geschlossen werden. Mehr war mit der Darstellung nicht beabsichtigt. Die Arbeit untersucht zunächst das grundsätzliche Verhältnis von Staatsgesetzgebung und tariflicher Normsetzungsmacht (Kapitel 1). In den Kapiteln zwei und drei werden vorhandene staatliche Regelungen auf ihre Geeignetheit zur Setzung von Mindestarbeitsbedingungen untersucht. Inhaltlich beschränkt sich die Untersuchung hierbei auf diejenigen Vorschriften, die die Setzung von Mindestentgelten ermöglichen, denn innerhalb der klassischen Regelungsbereiche der Tarifverträge (Entgelt, Arbeitszeit, Urlaub) haben Entgeltfragen die größte praktische Bedeutung. Soweit mit diesen Vorschriften auch andere Mindestarbeitsbedingungen gesetzt werden können, wird auch auf diese eingegangen. Unberücksichtigt bleiben die (Mindest-)Arbeitsbedingungen, die typischerweise vom Staat in öffentlichrechtlichen Vorschriften normiert werden 113 . Zwar sind auch dies Mindestarbeitsbedingungen, da diese aber für alle Arbeitsverhältnisse kraft Gesetzes verbindlich sind, wirkt sich der hier besondere Berücksichtigung findende Fall der partiellen Machtlosigkeit von Arbeitnehmerkoalitionen auf die Arbeitsverhältnisse nicht aus. Ebenfalls unberücksichtigt bleiben Vorschriften, die nur indirekt zur Setzung von Mindestarbeitsbedingungen beitragen, indem sie die Nichteinhaltung von Arbeitsbedingungen sanktionieren 114, oder mit denen primär Mindestarbeitsbedingungen außerhalb des Entgeltbereiches gesetzt werden 115 • Im vierten Kapitel werden die vorhandenen Handlungsmöglichkeiten des Staates zur Setzung von Mindestarbeitsbedingungen unter verfassungsrechtlichen Gesichtspunkten untersucht. Weiter wird geprüft, ob der Staat zur Förderung einer partiell machtlosen Arbeitnehmerkoalition berechtigt ist und ob die im zweiten und dritten Kapitel untersuchten Vorschriften ergänzungsbedürftig sind. 11 3 114 115

z. B.: §§ 120b, 120c, 120d GewO. z. B.: die Wuchertatbestände der §§ 302a I Nr. 3, 4 StGB, 15 AÜG, 406 SGB Ill. z. B.: BUrlG; ArbZG; §§ 242, 315,626 BGB.

Erstes Kapitel

Die Gesetzgebungskompetenz des Bundes auf dem Gebiet des Arbeitsrechts In diesem Kapitel wird untersucht, wie die Gesetzgebungskompetenz auf dem Gebiet des Arbeitsrechts nach dem Grundgesetz verteilt ist und welche Schranken die Tarifautonomie der Legislativgewalt des Gesetzgebers setzt.

A. Das Verhältnis der Bundes- und Landesgesetzgebungskompetenz auf dem Gebiet des Arbeitsrechts In einem Bundesstaat, wie der Bundesrepublik Deutschland, sind die Gesetzgebungsbefugnisse zwischen Bund und Ländern aufgeteilt. Der Bund und die Länder können nur innerhalb ihrer durch die Verfassung zugewiesenen Zuständigkeitsbereiche legislativ tätig werden. Im Rahmen der Untersuchung der Möglichkeiten des Staates zur Setzung von Mindestarbeitsbedingungen muß deshalb zunächst geklärt werden, wie die Legislativgewalt im Bereich des Arbeitsrechts nach dem GG verteilt ist. Gemäß Art. 70 I GG obliegt die Gesetzgebung den Ländern, soweit das GG dem Bund nicht ausdrücklich Gesetzgebungsbefugnisse verleiht. Für das Gebiet der konkurrierenden Gesetzgebung ergibt sich die Normierungsbefugnis des Bundes aus Art. 74 I GG i.V.m. Art. 72 II GG. Im Bereich der konkurrierenden Gesetzgebung haben die Länder die Befugnis zur Gesetzgebung, solange und soweit der Bund von seiner Gesetzgebungszuständigkeit nicht durch Gesetz Gebrauch gemacht hat (Art. 72 I GG). Regelt der Bund in Ausübung seiner konkurrierenden Gesetzgebungsbefugnis eine Materie, so entfällt die Zuständigkeit der Länder. Regelt der Bund jedoch nur einen Teil der Materie, so bleibt der Rest für eine Regelung durch die Landesgesetzgeber frei 1 • Voraussetzung für ein Tatigwerden des Bundesgesetzgebers im Bereich der konkurrierenden Gesetzgebungszuständigkeit ist neben dem Vorliegen eines Katalogtatbestandes des Art. 74 I GG die ErforderIichkeit eines Bundesgesetzes zur Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse im Bundesgebiet oder zur Wahrung der Rechts- und Wirtschaftseinheit im gesamtstaatlichen Interesse (Art. 72 II GG). Die Kriterien hierfür sind weit gefaßt und I Maunz, M/0/H/S-GG, Art. 72 Rdn. 5, 14; Pieroth, J/P-GG, Art. 72 Rdn. 2 ff.; Degenhart, Sachs-GO, Art. 72 Rdn. 20, 25; Fratzky, Gesetzgebungskompetenz, S. 37.

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1. Kap.: Die Gesetzgebungskompetenz des Bundes

werden in der bundesverfassungsgerichtliehen Judikatur eher großzügig gehandhabt2, so daß insbesondere unter dem Gesichtspunkt der "gleichwertigen Lebensverhältnisse" nahezu jede bundeseinheitliche Regelung gerechtfertigt werden kann3 . Gemäß Art. 74 I Nr. 12 GG erstreckt sich die konkurrierende Gesetzgebungsbefugnis auf das Arbeitsrecht. Das Rechtsgebiet Arbeitsrecht umfaßt alle für die Arbeitsverhältnisse maßgeblichen Regelungen der rechtlichen Beziehungen zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern unter Einbeziehung des individuellen, kollektiven, privaten und öffentlichen Arbeitsrechts4 • Mindestarbeitsbedingungen unterfallen demnach eindeutig dem Gebiet des Arbeitsrechts 5 . Gegenwärtig ist das Arbeitsrecht noch nicht umfassend kodifiziert6 , insbesondere hat der Bund von seiner Kompetenz zur Regelung des Arbeitsvertragsrechts nur teilweise Gebrauch gemacht7 . Das BVerfG war mit der speziellen Frage, wieweit die verbleibende Restzuständigkeit der Landesgesetzgeber auf dem Gebiet des Arbeitsrechts reicht, eher selten befaßt. 1958 entschied das BVerfG8 , daß den Ländern das Recht zur Urlaubsgesetzgebung zusteht. Dieses Recht ist aber inzwischen durch das 1963 in Kraft getretene BUrlG gesperrt. 1977 entschied das BVerfG9 , daß Regelungen zum Bildungsurlaub landesrechtlich möglich bleiben. Eine weitere Zuständigkeit der Landesgesetzgeber mit arbeitsrechtlichem Bezug ist das (Landes-)Feiertagsrecht 10• 11 • 2 Bisher ist noch kein Gesetz wegen Verstoßes gegen Art. 72 II GG für verfassungswidrig erklärt worden, vgl. auch: BVerfGE 2, S. 213, 224; 4, S. 115, 127; 26, S. 338, 382 f.; 34, S. 9, 39; Pieroth, J /P-GG, Art. 72 Rdn. 7 f.; Degenhart, Staatsrecht I, S. 39 Rdn. 107. 3 so Degenhart, Staatsrecht I, S. 39 Rdn. 107 für die "Einheitlichkeit der Lebensverhältnisse" in der bis zum 14. 11. 1994 gültigen Fassung des Art. 72 II GG. 4 Kunig, v.M/K-GG, Art. 74 Rdn. 62; Pieroth, JIP-GG, Art. 74 Rdn. 29; Degenhart, Sachs-GG, Art. 74 Rdn. 47; Butzer. RdA 1994, S. 375, 376; BVerfGE 7, S. 342, 351 = AP Nr. 2 zu§ 1 UriG Hamburg; BVerfGE 38, S. 281, 299 =AP Nr. 23 zu Art. 9 GG. s Denkbar ist auch, daß der Bund im Rahmen seiner Gesetzgebungszuständigkeiten aufgrund der Art. 74 I Nr. 1 GG - Bürgerliches Recht - und Art. 74 I Nr. 11 GG - Recht der Wirtschaft - Randbereiche des Arbeitsrechts und somit auch der (Mindest-)Arbeitsbedingungen berührt. So auch: Nikisch, ArbR, S. 59. 6 Degenhart, Sachs-GG, Art. 9 Rdn. 49. 7 Kunig, v.M/K-GG, Art. 74 GG Rdn. 63; BVerfG AP Nr. 2 zu§ 1 UriG Hamburg; a.A. noch das BAG im Vorlagebeschluß, AP Nr. 1 zu § 1 UriG Hamburg. s BVerfGE 7, S. 342 ff. =AP Nr. 2 zu§ 1 UriG Hamburg. 9 BVerfGE 77, S. 308, 329 ff. 10 BayObLGStE 7. Bd. (1957), S. 16 f.; Maunz, Staatsrecht, 4. Aufl., S. 69; Fratzky, Gesetzgebungskompetenz, S. 73; Kunig, v.M/K-GG, Art. 70 GG Rdn. 8. II Daß dies zu einer unterschiedlichen Behandlung von Arbeitnehmern- je nach Bundesland - führen kann, zeigt die unterschiedliche Anzahl an (Landes-)Feiertagen. Besonders deutlich wurde dies 1995, als sich das Land Sachsen entschloß, zur "Gegenfinanzierung" der Pflegeversicherung keinen Landesfeiertag zu streichen. Die Arbeitnehmer in Sachsen zahlen deshalb 0,5% ihres bemessungsrelevanten Bruttoentgeltes zusätzlich in die Pflegekassen ein.

A. Das Verhältnis der Bundes- und Landesgesetzgebungskompetenz

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Vorliegend interessiert jedoch primär die Frage, ob der Bund im Bereich der Mindestarbeitsbedingungen seine Gesetzgebungskompetenz umfassend genutzt hat oder ob etwaige Lücken für die Länder zur Gesetzgebung verbleiben. Soweit ersichtlich, hat sich zu dieser Frage für den Bereich der gesamten Arbeitsbedingungen bisher nur Fratzky 12 eindeutig geäußert. Er vertritt die Auffassung, der Bundesgesetzgeber habe insbesondere durch den Erlaß des MindArbBG die Frage der Arbeitsbedingungen erschöpfend geregelt 13• 14• Da Festsetzungen nach dem MindArbBG gemäß § 4 IV MindArbBG nur die unterste Grenze der Entgelte und sonstigen Arbeitsbedingungen festlegen 15, ist dem zumindest für Arbeitsbedingungen zuzustimmen, die diese Grenze nicht übersteigen. Oberhalb dieser Grenze fehlt jedoch eine mit dem MindArbBG vergleichbare einheitliche Regelung, so daß sich die Frage nicht ohne weiteres beantworten läßt. Sicher ist jedoch, daß die Gesetzgebungskompetenz der Länder innerhalb des vom Bund kodifizierten Bereiches gesperrt ist. Landesgesetzliche Regelungen scheiden deshalb aus, soweit sie die Vorschriften des ArbZG, des BUrlG, des Bergmannsprämiengesetzes 16, der §§ 5 TVG 17, 19 ff. HAG 18, 1 ff. AEntG 19, 6 III Nr. 3 PostG20, 92a HGB 21 , 120b ff. Gew022 , 612 II BGB 23 , 59 HGB 24, 10 BBiG25 , 612 II1 BGB26, 2 I BeschFG27 , 285 8 , Art. 39II29 , 141 EGV30 beriihren würden. I 1 Nr. 3, 286 I 1 Nr. 2 SGB

ne

Fratzky, Gesetzgebungskompetenz, S. 66 f. Fratzky. a. a. 0. Ebenfalls unter Heranziehung des MindArbBG lehnen Bötticher, RdA 1958, S. 361, 365, eine Gesetzgebungskompetenz der Länder im Bereich des Urlaubsrechtes und das BAG in BAGE 3, S. 149, 151 eine Gesetzgebungskompetenz der Länder im Bereich der Mindestlöhne ab. 14 Auch das BAG hat in: BAGE 3, S. 149, 151 entschieden, daß gemäß Art. 43 II 4 bayer. GO i.V.m. Art. 169 bayer. Verfassung nach Erlaß des MindArbBG keine Mindestlöhne mehr festgesetzt werden können. 15 Vgl.: C. (zweites Kapitel). 16 Vgl.: C.I. (viertes Kapitel). 17 Vgl.: A. (zweites Kapitel). 18 Vgl.: B. (zweites Kapitel). 19 Vgl.: D. (zweites Kapitel). 20 Vgl.: C.l.2. (viertes Kapitel). 21 Vgl.: E. (zweites Kapitel). Da Handelsvertreter und Versicherungsvertreter grundsätzlich keine Arbeitnehmer sind, beruht die Gesetzgebungszuständigkeit des Bundes hier auf Art. 74 I Nr. 11 GG. 22 Vgl.: C.I.2. (viertes Kapitel). 23 Vgl.: A. (drittes Kapitel). 24 Vgl.: B. (drittes Kapitel). 25 Vgl.: D. (drittes Kapitel). 26 Vgl.: E. (drittes Kapitel). 21 Vgl.: F. (drittes Kapitel). 28 Vgl.: G. (drittes Kapitel). 29 Vgl.: H. (drittes Kapitel). 12

13

1. Kap.: Die Gesetzgebungskompetenz des Bundes

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Die Fülle der durch den Bundesgesetzgeber erlassenen arbeitsrechtlichen Regelungen legt die Vermutung nahe, daß der Bund den Bereich der (Mindest-)Arbeitsbedingungen ziemlich umfassend kodifiziert hat. Für die Landesgesetzgeber verbleibt im Bereich der Mindestarbeitsbedingungen somit nur ein sehr begrenzter Raum für eigenständige Regelungen, die wohl nicht mehr als eine "Lückengesetzgebungskompetenz" darstellen 31 . Der Frage, wie weit diese Restzuständigkeit reicht, soll hier nicht nachgegangen werden. Bekanntlich ist die Entwicklung des Arbeitsrechtes in "ständigem Fluß"32, so daß (theoretisch) durchaus Gesetzeslükken denkbar sind, deren Entdeckung sich gegenwärtig nicht aufdrängt. Eine solche Bundesgesetzeslücke auf dem Gebiet der Mindestarbeitsbedingungen hat aber keinerlei Auswirkungen auf den Gang der Untersuchung. Denn solange der Bund seine Gesetzgebungskompetenz nicht wahrnimmt, kann die Gesetzeslücke durch die Landesgesetzgeber geschlossen werden33 •

B. Der Schutz der Tarifautonomie durch Art. 9 111 GG Neben dem staatlich gesetzten Recht sind im Arbeitsrecht als weitere Rechtsquellen insbesondere Betriebsvereinbarungen und Tarifverträge von Bedeutung. Für die folgende Untersuchung sind nur letztere von Interesse. Tarifverträge finden ihre Rechtsgrundlage im TVG und der durch Art. 9 III GG gewährleisteten Tarifautonomie. Wegen der Bedeutung der Tarifautonomie für den Gang der Untersuchung, soll zunächst die Verankerung der Tarifautonomie in Art. 9 III GG und der daraus resultierende Schutz der Verfassung für die Tarifautonomie skizziert werden. Art. 9 III GG gibt jedermann das Recht, zur Wahrung und Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen Vereinigungen zu bilden. Seinem Wortlaut Vgl.: E. (drittes Kapitel). Daß der verbleibende Raum durch die Landesgesetzgeber zur Setzung von Mindestarbeitsbedingungen genutzt werden kann, zeigt das Land Berlin. Hier wurde festgelegt, daß öffentliche Aufträge nur an Unternehmen vergeben werden dürfen, die die tariflichen Arbeitsbedingungen einhalten. Vor den Gerichten hatte diese Regelung allerdings keinen Bestand. 32 Küchenhoff, Erman-BGB, 7. Aufl., vor 611 Rdn. 73; Allerdings stellte bereits der griechische Philosoph Heraklit fest: "Alles fließt, nichts beharrt". 33 Das Kodifikationsprinzip der Art. 3, 55, 218 EGBGB hat dagegen, wie zunächst teilweise in der Literatur - vgl.: Nipperdey, NJW 1951, S. 897 ff. ; Köttgen, BB 1956, S. 441, 442 f.; Wiese, RdA 1957, S. 81 ff.; Nikisch, ArbR., S. 59; Hueck/Nipperdey, ArbR. I, S. 434; a.A.: Draibik, RdA 1956, S. 145 ff.; Hesse/, ArbuR. 1956, S. 267 ff.; Fischer, BB 1956, S. 1206- und auch von BAG - vgl.: AP Nr. 1 zu § 1 UriG Harnburg; AP Nr. I zu § 1 UriG Württemberg-Baden; AP Nr. 1 zu § 1 UriG Schleswig-Holstein - angenommen, für die Abgrenzung der Gesetzgebungszuständigkeiten zwischen Bund und Ländern keine Bedeutung. Das BVerfG hat festgestellt, daß sich das Arbeitsrecht als ganzes zu einem eigenen Rechtsgebiet entwickelt hat, das neben dem bürgerlichen Recht steht und deshalb nicht mehr vom Kodifikationsprinzip erfaßt wird- vgl.: BVerfG AP Nr. 2 zu UriG Harnburg = BVerfGE 7, s. 342 ff. 30

31

B. Der Schutz der Tarifautonomie durch Art. 9 III GG

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nach, ist er damit zunächst ein individuelles Grundrecht. Er garantiert das Recht eines jeden, sich einer Koalition anzuschließen (positive Koalitionsfreiheit) und selbstverständlich auch das Recht, einer Koalition fernzubleiben oder auszutreten (negative Koalitionsfreiheit) 1• Das Recht zur Koalitionsbildung wäre unvollständig und ginge sogar ins Leere, wenn nicht mit der gleichen Verfassungskraft das geschützt wäre, um dessentwillen die Koalitionsfreiheit besteht, nämlich der koalitionäre Zusammenschluß2 . Art. 9 111 GG schützt deshalb auch die kollektive Koalitionsfreiheie mit dem Zweck der Wahrung und Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen4 . Dieser Zweck kann nur von konkreten Koalitionen verfolgt werden. Deshalb sind die Vereinigungen nach Art 9 III GG notwendigerweise auch in ihrem Bestand geschützt5 . Durch die bloße Existenz einer Koalition nimmt diese aber noch keinen Einfluß auf die Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen ihrer Mitglieder. Hierzu bedarf es der Betätigung. Wäre die Betätigungsgsgarantie nicht von der Bestandsgewährleistung mit erfaßt, wäre letztendlich die individuelle Koalitionsfreiheit im Kerne getroffen 6 . Art. 9 III GG umfaßt deshalb neben dem Bestand auch die Betätigung der Koalitionen7. Bei der Betätigung ist den Koalitionen grundsätzlich wiederum eine umfas' Statt aller: Scholz, M/D/H/S-GG, Art. 9 Rdn. 169, 221; Jarass, J/P-GG, Art. 9 Rdn. 25 f.; Löwer; v.M/K-GG, Art. 9 Rdn. 55,70 f.; Höfling, Sachs-GG, Art. 9 Rdn. 63; BVerfGE 4, S. 96, 101 f.; 19, S. 303, 312, 319 = AP Nr. 7 zu Art. 9 GG; 28, S. 295, 304; 50, S. 290, 367, 370 = AP Nr. 50 zu§ 1 MitbestG; 58, S. 233, 246. 2 Müller; Arbeitskampf, S. 23; Fratzky, Gesetzgebungskompetenz, S. 89. 3 Art. 9 III GG ist nach h.M. und Rsp. ein sogenanntes "Doppelgrundrecht": vgl. z. B. Löwer; v.M/K-GG, Art. 9 Rdn. 71 ff.; Kittner; AK-GG, Art. 9 GG Rdn. 44; Fratzky, Gesetzgebungskompetenz, S. 89; Lerche, Zentralfragen, S. 25; Weber, Koalitionsfreiheit, S. 11; Zöllner; AöR 98 (1973), S. 71, 79 ff.; Gamillscheg, ArbR I, S. 181 ff.; Rommelspacher, Schlichtung, S. 100 ff.; BVerfGE 4, S. 96 und danach in ständiger Rechtsprechung; BAGE 20, S. 175, 209; a.A.: Scholz, Koalitionsfreiheit, S. 254 ff.; Scholz, M/D/H/S-GG, Art. 9 Rdn. 170, 240 der die Auffassung vertritt, der kollektive Grundrechtsschutz der Koalitionen ergebe sich aus Art. 9 111 GG i.V.m. Art. 19 111 GG und Nipperdey, ArbR II/ I, S. 39 f., der auf eine Synthese von freiheitlich-rechtsstaatliehen und sozialen Rechtsprinzipien aus Art. 2 I, 9 III, 18, 20 I, 28 I GG abstellt. 4 Das BVerfG erkennt in ständiger Rechtsprechung die Garantie der Zweckverfolgung an, vgl.: BVerfGE 18, S. 18, 26 = AP Nr. 15 zu§ 2 TVG; 19, S. 303, 312 = AP Nr. 7 zu Art. 9 GG; BVerfGE 20, S. 319 =AP Nr. 24 zu § 2 TVG; 28, S. 295, 304 = AP Nr. 16 zu Art. 9 GG; 50, S. 290, 367; 58, S. 233, 246; auch die Literatur, hier nur: Scho[z, MIDI H I S-GG, Art. 9 GG Rdn. 255 ff. 5 Scholz, MIDIHIS-GG, Art. 9 Rdn. 242 f.; Löwer, v.M/K-GG, Art. 9 GG Rdn. 71; Wiedemann/Stumpf, TVG, Ein!. Rdn. 30; Kittner; AK-GG, Art. 9 GG Rdn. 58; Müller; Arbeitskampf, S. 23; BVerfGE 13, S. 174, 175; 28, S. 295,304 = AP Nr. 16 zu Art. 9 GG; BVerfGE 44, s. 322, 353. 6 Müller. Arbeitskampf, S. 24. 7 Schaub, ArbR., § 188 VI, S. 1430; Jarass, J I P-GG, Art. 9 Rdn. 29; Däubler, Mitbestimmung, S. 178 Fußnote 19; Wiedemannl Stumpf, TVG, Ein!. Rdn. 30; Fratzky, Gesetzgebungskompetenz, S. 90; Säcker; Grundprob1eme, S. 40 ff.; Löwer, v.M/K-GG, Art. 9 GG Rdn. 71; Kittner, AK-GG, Rdn. 9 GG Rdn. 63; Scholz, M/D/H/S-GG, Art. 9 GG Rdn. 278; kritisch: 4 Andelewsk.i

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1. Kap.: Die Gesetzgebungskompetenz des Bundes

sende Freiheit der Koalitionsmittel zuzubilligen8 . Denn sie sind autonom. Die wichtigsten Koalitionsmittel sind Tarifverträge und Arbeitskämpfe. Dies erkennt das BVerfG9 an, wenn es ausführt: "Der Zweck, die Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen zu wahren und zu fördern, wird von den Gewerkschaften vorwiegend dadurch erfüllt, daß sie in der Auseinandersetzung über Löhne und Arbeitsbedingungen mit dem sozialen Gegenspieler, den Arbeitgebern, für die Arbeitnehmer möglichst günstige Tarifverträge abschließen und, wenn nötig, in Arbeitskämpfen durchsetzen.". Aus der notwendigen Autonomie der Koalitionen und ihrer spezifischen Betätigung in der modernen Marktwirtschaft, dem Abschließen von Tarifverträgen, folgt wohl das Wort Tarifautonomie. Die Tarifautonomie ist als funktionstypisches Koalitionsmittel ebenfalls von Art. 9 III GG geschützt 10. Denn es ergäbe keinen Sinn, die Bildung, den Bestand und die Betätigung der Koalitionen zu schützen, aber dem spezifischsten Betätigungsmittel, dem Tarifvertrag, den Schutz des Art. 9 III GG zu versagen. Die Tarifautonomie ist deshalb unmittelbar in Art. 9 III GG verankert und wird durch die Verfassung geschützt 11 • Reuter; RdA 1994, S. 152, 162; Butzer, RdA 1994, S. 375, 376 f.; Gamillscheg, ArbR I, S. 222 ff.; Zur sogenannten funktionellen Garantie vgl. auch die Rechtsprechung: BVerfGE 19, S. 303,312 = AP Nr. 7 zu Art. 9 GG; 20, S. 312,319 f.; 28, S. 295, 304 = AP Nr. 16 zu Art. 9 GG; 44, S. 322, 353; 50, S. 290, 367, 369; 57, S. 220, 246; 58, S. 233, 246; 73, S. 261, 270 =AP Nr. 28 zu Art. 9 GG; 77, S. 1, 62 f.; BAGE 48, S. 307, 311 = AP Nr. 4 zu§ 3 BAT. 8 Säcker; Grundprob1eme, S. 69 ff.; Scholz, M/D/H/S-GG, Art. 9 GG Rdn. 297 f.; Scholz, Grundrecht, S. 48 ff.; ders., Koalitionsfreiheit, S. 120 f., 258 ff.; Müller, Arbeitskampf, S. 25. 9 BVerfG AP Nr. 23 zu Art. 9 GG. w BVerfGE 4, S. 96, 106 f.; 20, S. 312, 317; 34, S. 307, 316 f.; 38, S. 281, 305 f.; 44, S. 322, 340 f. = AP Nr. 15 zu§ 5 TVG; 50, S. 290, 367 f.; 58, S. 233, 248 f.; 88, S. 103, 114; AP Nr. 117 zu Art. 9 GG Arbeitskampf; BVerwGE 80, S. 355, 368; Hueck/Nipperdey, ArbR Il/1, S. 915; Jarass, J/P-GG, Art. 9 Rdn. 29; Richardi, Kollektivgewalt, S. 89; Säcker; Grundprobleme, S. 71 ff.; Biedenkopf, Grenzen, S. 102 ff.; Däubler; Mitbestimmung, S. 176, 192; Kempen, H/K/Z/Z-TVG, Eint. Rdn. 86; Scholz, M/D/H/S-GG, Art. 9 GG Rdn. 299; Höfling, Sachs-GG, Art. 9 GG Rdn. 83 f.; Löwer; v.M/K-GG, Art. 9 GG Rdn. 71; Löwisch, LIR-TVG, Grund!. Rdn. 16; Plander; DB 1986, S. 2180; Kittner; AiB 1995, S. 158; Zuleger; ArbuR 1996, S. 231, 232; Rieble, NZA 1991, S. 809; May, Außenseiter, S. 43 ff., 62; Weber; Koalitionsfreiheit, S. 22 ff.\ II Das Ergebnis und die skizzierte Herleitung der Tarifautonomie entspricht der h.M. und der ständigen Rechtsprechung (lntegrationstheorie). Zum Nachweis wird auf die zitierte Literatur und Rechtsprechung in den vorherigen Fußnoten verwiesen. Vereinzelt werden jedoch auch andere Ansichten vertreten. Krüger vertritt in seinem Gutachten über Sinn und Grenzen der Vereinbarungsbefugnis der Tarifvertragsparteien auf dem 46. DJT., Band 1, Teil 1, insbesondere: Gutachten, S. 28, 32, die Auffassung, Grundlage der Tarifautonomie und der Normsetzungsbefugnis der Tarifpartner sei die Verfassungswirklichkeit Herschel, FS Bogs, S. 130 f. und Referat, S. D 7, 11, 16, und Molitor; FS Ebers, S. 15 ff., sehen die Grundlage der Tarifautonomie dagegen in vorkonstitutionellen Gegebenheiten, der geschichtlichen Entwicklung und in der soziologischen Wirklichkeit. Adomeit, RdA 1967, S. 297, 303 ff. und Küchenhoff, RdA 1959, S. 201 , 205, sehen die Rechtsgrundlage der Tarifautonomie und der Rechtssetzungsbefugnis in einer Delegation durch den Gesetzgeber und somit in § 1 TVG, so auch: BAGE 1, S. 258, 264; BAG AP Nr. 4 zu Art. 3 GG; Wiedemann/Stumpf, TVG, § 1 Rdn. 25 ff. Nikisch, ArbR II, S. 54, sieht die

C. Staatsgesetzgebungsbefugnis und Tarifautonomie

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C. Staatsgesetzgebungsbefugnis und Tarifautonomie Tarifverträge wirken gegenüber den Mitgliedern der Verbände der vertragsschließenden Parteien unmittelbar und zwingend(§§ 3 I, 4 I TVG) 1• Ihre materielle Wirkung entspricht damit der von Gesetzen. Aus dieser Gleichartigkeit der Wirkung und der verfassungsrechtlich geschützten Tarifvertragsautonomie bzw. dem durch die Verfassung eingeräumten Gesetzgebungsrecht des Staates, ergibt sich zwangsläufig ein SpannungspotentiaL Oberflächlich betrachtet könnte man meinen, daß dieses Spannungspotential in dem hier besondere Berücksichtigung findenden Fall - der partiellen Machtlosigkeit von Arbeitnehmerkoalitionen - nicht besteht. Denn dann ermangelt es den Gewerkschaften an der zur Durchsetzung von Tarifverträgen erforderlichen Mächtigkeit, so daß von dem Fehlen einschlägiger Tarifverträge auszugehen ist. Daraus folgt aber nur, daß zum Zeitpunkt der partiellen Machtlosigkeit kein Spannungsverhältnis besteht. Es besteht die Möglichkeit, daß die partiell machtlosen Arbeitnehmerkoalitionen wieder an Mächtigkeit gewinnen und zukünftig wieder frihig sein werden, Tarifverträge durchzusetzen. Der Konflikt zwischen staatlichem Recht und Verbandsrecht tritt demnach spätestens dann wieder in den Vordergrund, wenn erneut Tarifverträge geschlossen werden. Er ist aber auch bereits für die Tarifverhandlungen von Bedeutung. Vorhandenes Gesetzesrecht kann Tarifverhandlungen dadurch beeinflussen, daß es als Richtwert angesehen wird, an dem sich die Tarifparteien zu orientieren haben2 . Dies kann dazu führen, daß Grundlage der Tarifautonomie letztendlich in der freiheitlichen, demokratischen Grundordnung. Hueck/Nipperdey, ArbR li/ I, S. 39 f., und Schnorr; RdA 1955, S. 3 ff., sehen die Tarifautonomie durch Art. 2 I, 18, 20 I, 28 I und 21 GG garantiert, verweisen aber auch auf den Sinnzusammenhang mit Art. 9 III GG. Dieser Konstruktionen aus den fünfziger und sechziger Jahren, die heute überwiegend nicht mehr vertreten werden, bedarf es jedoch nicht. Wie aufgezeigt, findet die Tarifautonomie ihre Grundlage bereits in Art. 9 111 GG selbst. So auch Fratzky, Gesetzgebungskompetenz, S. 83, 87; Däubler; Mitbestimmung, S. 192, Fußnote 18. I Betriebs- und Betriebsverfassungsnormen gelten gemäß § 3 II TVG auch gegenüber Außenseitern. Bei einer Allgemeinverbindlicherklärung gemäß § 5 TVG wird die Geltung des Tarifvertrages auf Außenseiter und nicht tarifgebundene Arbeitgeber erstreckt. Gemäß § 3 BetrVG können die Tarifparteien das BetrVG (in Grenzen) ergänzen. Die Ergänzungen gelten dann auch für Außenseiter. 2 Dies beabsichtigt z. B. § 3 StabG, der bestimmt, daß im Falle der Gefährdung des gesarntwirtschaftlichen Gleichgewichts die Bundesregierung Orientierungsdaten für ein gleichzeitiges aufeinander abgestimmtes Verhalten der Gebietskörperschaften, Gewerkschaften und Unternehmensverbände zur Verfügung stellt. Mayer, ArbuR 1993, S. 309,314, verweist darauf, daß die Vorgabe von Lohnleitlinien der autonomen Lohnvereinbarungskompetenz der Tarifparteien diametral entgegenläuft. Dies entspricht der h.M., Nachweise bei: Scholz, M/D/H/S-GG, Art. 9 GG Rdn. 276 Fußnote 4.; Kittner; AK-GG, Art. 9 GG Rdn. 64 Fußnote 198; Scholz, M/D/H/S-GG, Art. 9 GG Rdn. 276, und Buchner, FS Kissel, S. 97, 102 f., sind allerdings der Auffassung, daß Lohnleitlinien, sofern sie bloße Informationen oder Empfehlungen darstellen, zulässig sind. 4*

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1. Kap.: Die Gesetzgebungskompetenz des Bundes

Verhandlungen erschwert3 oder erleichtert4 , in jedem Falle aber präjudiziert5 werden. Staatliches Recht hat somit Einfluß auf die Tarifautonomie. Deshalb ist die Klärung des Verhältnisses von staatlichem Recht zu Tarifverträgen vorliegend von Bedeutung.

I. Lösung des Konfliktes aufgrundvergleichbarer verfassungsrechtlicher Ansätze? Die gleichzeitige Zuständigkeit mehrerer Normsetzungsberechtigter für denselben Sachbereich ist in unserer Rechtsordnung nicht unbekannt. Art. 70 ff. GG regelt die Verteilung der Gesetzeskompetenz zwischen Bund und Ländern, Art. 140 GG i.V.m Art. 137 III 1 WRV gewährt den Religionsgemeinschaften innerhalb der Schranken der für alle geltenden Gesetze weitgehend Autonomie und Art. 28 II GG garantiert die kommunale Selbstverwaltung. Gelegentlich wurde versucht, das Verhältnis zwischen staatlicher Gesetzgebungszuständigkeit im Arbeitsrecht und der Tarifautonomie in analoger Anwendung einer dieser drei grundrechtliehen Abgrenzungsverfahren zu lösen6 . Diesen Ansätzen soll hier nur kurz nachgegangen werden, denn die Ungeeignetheit dieser Verfassungsprinzipien als Vorbild für die hier zu lösende Konfliktsituation ist heute im wesentlichen anerkannt. Ein Rückgriff verbietet sich vor allem wegen der völlig unterschiedlichen Struktur und Funktion aller drei Prinzipien im Vergleich zur Tarifautonomie7 . Scholz, Koalitionsfreiheit, S. 332, hält sogar eine (begrenzte) staatliche Lohnfestsetzung für zulässig. Plander, ArbuR 1986, S. 65, 67 ff., belegt mit mehreren Beispielen, wie der Gesetzgeber durch Veränderung des Dienstrechtes für Beamte versucht hat - meist erfolgreich - präjudizierend auf anstehende Tarifverhandlungen für die Angestellten und Arbeiter im öffentlichen Dienst einzuwirken und damit das Ergebnis bereits im Vorfeld festgesetzt hat. Das LAG Harnrn, DB 1970, S. 1446 ff., hat zur Kündigungsfristenregelung des§ 622 II 2 BGB entschieden, daß die Tarifvertragsparteien von der gesetzlichen Regelung abweichen dürfen, beim Abschluß der Tarifverträge aber die Grundentscheidung des Gesetzgeber - längerer Kündigungsschutz für ältere Arbeitnehmer - berücksichtigen müssen. 3 Darauf weist Kempen, ArbuR 1996, 336, 342, hin, der auch bei einseitig zwingenden Gesetzen die Gefahr der "Austrocknung" der Tarifautonomie sieht. 4 Belling, Günstigkeitsprinzip, S. 165, meint, daß der Gesetzgeber durch die Zulassung nur günstigerer tarifvertraglicher Regelungen die Tarifverhandlungen einseitig- zu Lasten der Arbeitgeber - vorprogrammiert. Löwisch, LI R-TVG, Grund!. Rdn. 31, verweist hingegen zutreffender darauf, daß die tarifdispositive Regelung der Partei eine bessere Ausgangslage verschafft, die der gesetzlichen Regelung näher steht und sie deshalb nur zu verteidigen braucht. s Nipperdey, ArbR II/ 1, S. 398 f., verweist darauf, daß in der Praxis die Tarifkontrahenten bei fehlender Einigung häufig die gesetzliche Regelung übernehmen. Gegen eine Leitfunktion des Gesetzgebers: Coester, Vorrangprinzip, S. 95. 6 So z. B.: Hersehe/, Diskussion, S. 30 f., für Art. 140 GG i.V.m. Art. 137 III 1 WRV.; vgl. auch: Krüger, Gutachten, S. 33; Scheuner, Koalitionsfreiheit, S. 39; Galperin, FS Molitor, S. 143, 156; Weber, Koalitionsfreiheit, S. 25. 7 Däubler, Mitbestimmung, S. 208 ff.

C. Staatsgesetzgebungsbefugnis und Tarifautonomie

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Das GG weist in Art. 70 ff. GG einen Teil der Regelungsmaterie ausschließlich den Ländern (Art. 70 GG) und einen anderen Teil ausschließlich dem Bund (Art. 73 GG) zu. Die einzige echte Kompetenzüberschneidung in den Art. 74 und 75 GG löst das GG mit Hilfe des Art. 72 GG. Dem Art. 9 III GG sind jedoch keinerlei Anhaltspunkte zu entnehmen, wann eine Materie des Arbeitsrechtes exklusiv den Tarifparteien und wann dem Gesetzgeber zugewiesen sein soll8 . Zudem legt das BVerfG Art. 72 GG weit aus9 , so daß der Gesetzgeber bei Anwendung der Grundsätze der Art. 70 ff. GG die Möglichkeit hätte, die Tarifautonomie durch eigene Regelungen auszuhöhlen 10• Gegen eine Analogie der Art. 140 GG i.V.m. Art. 137 III 1 WRV spricht, daß die Kirche in einem Raum tätig wird, die dem sekulären Gesetzgeber wesensmäßig verschlossen ist11 • Dies trifft auf den Bereich des Arbeitsrechts nicht zu. Ein konsequenter Rückgriff auf das durch Art. 28 GG garantierte Recht der Gemeinden zur kommunalen Selbstverwaltung liefe darauf hinaus, daß der Gesetzgeber die Koalitionsfreiheit auf einen minimalen Kern beschränken könnte 12 und sogar das Recht hätte, einzelne Koalitionen aufzulösen, sofern es nur überhaupt noch Koalitionen gäbe 13 • Zudem würden dann die Koalitionen, wie die Gemeinden, der Staatsaufsicht unterliegen 14. Es ermangelt somit allen drei Prinzipien an einem inneren Zusammenhang und einer Vergleichbarkeit mit der durch Art. 9 III GG geschützten Tarifautonomie 15 . Die Normierungsbefugnis des Staates zum Recht der Tarifparteien und das Verhältnis von staatlichem Recht zu Tarifrecht muß deshalb nach anderen Grundsätzen gelöst werden.

II. Stellungnahmen in Literatur und Rechtsprechung Die Stimmen zur Frage, wie die Normierungskompetenzen zwischen Gesetzgeber und Tarifvertragsparteien abzugrenzen sind und in welchem Rangverhältis Gesetzes- und Tarifrecht zueinander stehen, sind in Literatur und Rechtsprechung zahlreich. 8 Däubler; Mitbestinunung, S. 208 f.; für Vergleichbarkeit: Küchenhoff, RdA 1959, S. 201, 205; Kempen, ArbuR 1996, S. 336,342. 9 vgl. hierzu: Erstes Kapitel A., insbesondere Fußnoten 2 und 3. 10 Däubler; Mitbestinunung, S. 208. II Richardi, Kollektivgewalt, S. 69; Scho[z, Koalitionsfreiheit, S. 169, 385; a.A.: Hersehe/, Referat, S. 7, 30 f. 12 Däubler; Mitbestinunung, S. 210. 13 so BVerfGE 17, S. 172 ff., 181m. w. N. für die Gemeinden; Däubler; a. a. 0.; Richardi, a. a. 0., S. 71. 14 Fratzky, Gesetzgebungskompetenz, S. 151. 15 Däubler; Mitbestinunung, S. 208 ff.

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I. Kap.: Die Gesetzgebungskompetenz des Bundes

1. Literatur

Nach früherer Auffassung sollte das Verhältnis von staatlichem Recht zum Tarifrecht unproblematisch sein. Man ging allgemein von einem Vorrang des staatlichen Rechtes aus 16. Dies wurde mit dem Rangverhältnis von Gesetz und Tarifvertrag begründet. Die gesetzliche Regelung stehe stets über der tariflichen Regelung und die ranghöhere gehe der rangniederen Regelung vor 17. Problematisiert wurde lediglich das Verhältnis von Bundestarifverträgen zu Landesgesetzen 18 . Zudem hätte der Gesetzgeber das Recht, jeden Gegenstand tariflicher Regelung an sich zu ziehen und selbst zu regeln 19• Nachdem das BVerfG20 erstmals 1954 die Auffassung vertreten hat, daß das Grundgesetz den Kernbereich der Tarifautonomie schütze, begann die Diskussion um das Verhältnis der Regelungszuständigkeiten von Staat und Tarifparteien und um das Rangverhältnis von staatlichem Recht und Tarifrecht. Die Diskussion kam bis zum heutigen Tage nicht zum Erliegen. Sie erhielt anläßtich verschiedener neuer gesetzlicher Regelungen 21 stets wieder Auftrieb. Die Gesamtproblematik kann noch nicht als geklärt angesehen werden. Einigkeit besteht dabei größtenteils darin, daß der sogenannte "Kernbereich" der Tarifmacht vom Gesetzgeber nicht verletzt werden darf. Umfang und Reichweite des Kernbereiches sind jedoch im einzelnen umstritten22. 16 Nikisch, ArbR II, S. 227; Sieg, AcP 151, S. 246,253 ff.; auch: Hueck, BB 1952, S. 925 f. - für zwingendes staatliches Recht. 17 Nipperdey, ArbR. 11/1, S. 392; Nikisch, a. a. 0.; Sieg, AcP 151, S. 246, 253 f.; Hueck, a. a. 0.; Sommer, RdA 1955, S. 422; ders., RdA 1956, S. 26 f.; Söllner, ArbuR 1966, S. 262 f.; Nachweise zur unterinstanzliehen Rechtsprechung bis 1954 bei: Heimann, RdA 1955, S. 422; a.A.: Heimann, RdA 1957, S. 341, der sehr anschaulich einen Zitierfehler des BAG nach dem BVerfG belegt und darstellt, daß das BVerfG dem Gesetzesrecht nie einen höheren Rang gegenüber dem Tarifrecht zugesprochen hat. 18 Gegen einen Vorrang der Landesgesetze: Heimann, RdA 1955, S. 422, 423; ders., RdA 1957, S. 341, sowie differenzierend, die in den Fußnoten 53 ff. zitierten Autoren; Für ein Vorrang der Landesgesetze: Sieg, AcP 151, S. 246, 253; Sommer; RdA 1956, S. 26, 27; Küchenhoff, RdA 1959, S. 201, 205; Nipperdey, ArbR 11/1, S. 392; Nikisch, ArbR II, S. 227, Schmelzer, RdA 1957, S. 339. 19 Nachweise bei: Däubler; Mitbestimmung, S. 202 Fußnote 5. 20 BVerGE 4, S. 96 ff. ; Zum eventuell veränderten Grundrechtsverständnis des BVerfG in BVerfGE 94, S. 268 ff. unter C.II.2. (erstes Kapitel). 21 1963: BUriG; 1972 und 1986: § 116 III AFG; 1985: § 57a HRG (sog. Zeitvertragsgesetz); 1985: § 1 BeschFG (Verlängerungen 1990 und 1994); 1990: § 21 IV 3 FIRG; 1992: SGB IV§ 41 IV 3 a.F. (Altersgrenzenregelung); 1992: §§ 249d, 249h AFG (Sonderregelungen für ABM); 1993: weitgediehene Pläne bezüglich der Einführung von Karenztagen zur Finanzierung der Pflegeversicherung, vgl. Art. 12 § 2 II des Entwurfs eines Entgeltfortzahlungsgesetzes, BT-Ds 12/5263; 1996: § 4 EntgeltfortzahlungsG. 22 Überwiegend werden die Höhe des Entgeltes, die Länge des Urlaubs und die Länge der Arbeitszeit zum Kernbereich der Tarifautonomie gezählt, vgl.: BVerfGE 4, S. 96, 107; 18, S. 18, 28; 50, S. 290, 367; Löwisch, LIR-TVG, Grund!. Rdn. 21 ff.; Säcker; Grundprobleme, S. 45 ff.; ders., ArbuR 1994, S. 1, 7; Biedenkopf, Grenzen, S. 152 ff.; Gamillscheg, Grund-

C. Staatsgesetzgebungsbefugnis und Tarifautonomie

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So vertreten einige Autoren die Auffassung, der Staat dürfe sich gesetzgebefisch betätigen, soweit er den Kernbereich der Tarifautonomie nicht antaste 23 . Andere Autoren grenzen anders herum ab und sprechen den Tarifvertragsparteien innerhalb des Kernbereichs einen Vorrang oder eine Normsetzungsprärogative zu24. Im Detail divergieren die Meinungen jedoch erheblich. So wird die Auffassung vertreten, der Staat dürfe in den Kernbereich der Tarifautonomie überhaupt nicht eingreifen25. Die größere Zahl der Stimmen läßt einen Eingriff des Staates in die Tarifautonomie unter bestimmten Voraussetzungen zu. So soll ein Eingriff in Erfüllung des Sozialstaatsprinzips 26 insbesondere zur Setzung von Mindestarbeitsbedingungen27 oder zur Verwirklichung des übergeordneten allgemeinen Wohles28 unter Beachtung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes29 oder bei einer Störung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichtes30 zulässig sein. Teilweise wird hierbei angenommen, die gesetzliche Regelung solle zeitlich begrenzt und auf besondere Notstandssituationen beschränkt sein31 oder die sozialen Gegenspieler seien bei dem Eingriff zu beteiligen32 . Andere meinen hingegen, ein Eingriff in die Tarifautonorechte, S. 89 f.; vereinzelt auch die Lohnfortzahlung im Krankheitsfalle, vgl.: Zuleger, ArbuR 1992, s. 231,234. 23 Schelp, DB 1965, S. 1094, 1099; Dietz. Diskussion, S. D 50 f.; Hersehe/, RdA 1967, S. 71, 72; Weber, Koa1itionsfreiheit, S. 33; Galperin, FS Molitor, S. 143, 158. 24 Lenz, Nähe, S. 203, 213; Löwisch, RdA 1969, S. 129 f., 134; Scheuner, RdA 1971, S. 327, 330; Kempen, ArbuR 1996, S. 336, 340 ff.; Coester, Vorrangprinzip, S. 83 ff.; Fratzky. Gesetzgebungskompetenz, S. 187 ff.; Säcker, Grundprobleme, S. 45 ff.; ders., RdA 1969, S. 291, 298; ders., ArbuR 1994, S. 1 ff.; Gamillscheg, ArbR I, S. 289 ff.; Kittner, AK-GG, Art. 9 GG Rdn. 71. 25 Radtke, Diskussion, S. D 52; Mayer, ArbuR 1993, S. 309, 314, zumindest ausdrücklich für die"verfassungsrechtliche Tabuzone" der Lohnfestsetzung. 26 Reuss, ArbuR 1958, S. 321 ff., 326; Nipperdey, ArbR II/ 1, S. 371, 391; Coester, Vorrangprinzip, S. 84; Butzer. RdA 1994, S. 375, 379, 381 ff.; Wiedemann/Stumpf. TVG, Ein!. Rdn. 45; Preis, ZfA 1972, S. 271, 293 ff.; Oppolzer/Zachert, BB 1993, S. 1353 ff.; Gamillscheg, ArbR I, S. 136, 300, 372; Stein, ArbuR 1998, S. 1, 3 ff. 27 Reuss, ArbuR 1958, S. 321 ff., 326; Säcker. Grundprobleme, S. 51 ; Wolf. ZfA 1971, S. 151, 159; Richardi, MHBzArbR, § 233 Rdn. 48 f.; Wiedemann/Stumpf. TVG, Ein!. Rdn. 45; Kittner, AK-GG, Art. 9 GG Rdn. 71. 2s Küchenhoff, RdA 1959, S. 201, 205; ders., RdA 1969, S. 97; Säcker, RdA 1969, S. 291, 298; ders., Grundprobleme, S. 52; ders., ArbuR 1994, S. I, 11; Löwisch, RdA 1969, S. 129, 130; Wolf. ZfA 1971, S. 151, 158; Fratzky, Gesetzgebungskompetenz, S. 185 ff.; Coester, Vorrangprinzip, S. 84 f.; Rüfner. RdA 1985, S. 193 ff.; Plunder, ArbuR 1986, S. 65, 77 f.; Höfling, Sachs-GG, Art. 9 GG Rdn. 136; Gamillscheg, ArbR I, S. 317 ff.; Weber, Koalitionsfreiheit, S. 38; Galperin, FS Molitor, S. 143, 159. 29 Nipperdey, ArbR II/ 1, S. 371 f.; Löwisch, RdA 1969, S. 129 f.; Löwisch, L/R-TVG, Grundl. Rdn. 21 ff., 24; Scholz, M/D/H/S-GG, Art. 9 GG Rdn. 271 f. ; Badura, RdA 1974, S. 129, 134 f.; Däubler, Tarifvertragsrecht, S. 199, S. 352; Butzer, RdA 1994, S. 375, 379, 381 ff.; Säcker, ArbuR 1994, S. I, II. 30 Löwisch, RdA 1969, S. 129 ff.; Blank!Fangmann, ArbuR 1988, S. 235, 238 ff.; Butzer, a. a. 0 .; Höfling, Sachs-GG, Art. 9 GG Rdn. 133; Säcker, a. a. 0. 31 Löwisch, RdA 1969, S. 129, 134; Weber, Koalitionsfreiheit, S. 38. 32 Däubler, Mitbestimmung, S. 214.

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1. Kap.: Die Gesetzgebungskompetenz des Bundes

mie könne nur durch gleichrangiges Verfassungsrecht33 insbesondere kollidierende Grundrechte34 gerechtfertigt werden 35 . Weitere Vertreter lassen Regelungen ausreichen, die durch einen sachlichen Grund des öffentlichen Interesses gerechtfertigt sind36. Dies gelte jedenfalls dann, wenn den Tarifvertragsparteien ein ausreichend großes Feld an Arbeitsbedingungen zur Betätigung überlassen bleibt37 oder die Regelungen zum Schutze überragend wichtiger Gemeingüter erfolgen38 . Auch wird gefordert, daß die einschränkenden Normen auf Dauer angelegt seien müssen und von bestimmten Wertungen getragene rechtseinheitliche Regelungen beinhalteten39. Stark differenzierende Autoren beurteilen die Zulässigkeit des Eingriffs bereits im Ansatz nach der Intensität. Die Abgrenzung der Zulässigkeit des Eingriffs habe auf drei Stufen40 oder in drei Ringzonen41 zu erfolgen. Andere lassen generell die Aufstellung von Ober- oder Untergrenzen für die tarifvertragliche Gestaltung durch den Gesetzgeber zu42. Es bestehe keine Pflicht des Gesetzgebers, die Arbeitsrechtsordnung allgemein oder ab einem bestimmten Grade, den Tarifvertragsparteien zur Regelung zu überlassen43 . Die Gegenmeinung lehnt bereits ein Eingriffsrecht aufgrund allgemeiner Erwägungen, wie sachliche Gründe, öffentliche Interessen oder fiskalischer Gründe ab, soweit der Eingriff nicht notwendig ist, um eine gerechte Sozialordnung herzustellen44 oder wenn das staatliche Gesetz eine zu starke Parallele zu der Regelungsmaterie der Tarifvertragsparteien aufweist45 . Andere erachten den Eingriff jedenfalls dann für zulässig, wenn die gesetzliche Regelung nicht den Vorrang vor der tariflichen Regelung beansprucht und den Ta33 Zilius, H/K/Z/Z-TVG, Ein!. Rdn. 169; Däubler, Tarifvertragsrecht, S. 198, Rdn. 350; Oppolzer/Zachert, BB 1993, S. 1353, 1355; Zachert, GMH 1994, S. 168, 175; Zachert, NZA 1994, S. 529, 533; Höfling, Sachs-GG, Art. 9 GG Rdn. 133; Kempen, ArbuR 1996, S. 336, 340 ff.; Rüfner, RdA 1997, S. 130, 132; Stein, ArbuR 1998, S. 1, 3 ff. 34 Plander, ArbuR 1986, S. 65, 76; Butzer, RdA 1994, S. 375, 379, 381 ff.; Höfling, SachsGG, Art. 9 GG Rdn. 133; Kempen, ArbuR 1996, S. 336, 340 ff. 35 So hält Kempen, ArbuR 1996, S. 336, 340 ff., zweiseitig zwingende Gesetze für zulässig, wenn dies grundrechtliche Schutzpflichten gebieten. Einseitig zwingende Gesetze sollen bereits durch die allgemeine sozialstaatliche Schutzaufgabe des Gesetzgebers gerechtfertigt sein. 36 Badura, RdA 1974, S. l29,l34;Löwisch, L/R-TVG, Grund!. Rdn. 23 ff. 37 Löwisch, L/R-TVG, Grund!. Rdn. 21. 38 Plander, ArbuR 1986, S. 65, 77 f.; Säcker, ArbuR 1994, S. 1, 11. 39 Nipperdey, ArbR II/ 1, S. 371 f., sog. "transitorische Maßnahmegesetze" seien hingegen unzulässig. 40 Coester, Vorrangprinzip, S. 83 ff.; Friauf, RdA 1986, S. 188, 191. 41 Fratzky. Gesetzgebungskompetenz, S. 187 ff. 42 Wiedemann/Stumpf, TVG, Ein!. Rdn. 42; Preis, ZfA, 1972, S. 271,289 ff., 296. 43 Wiedemann/Stumpf, TVG, Ein!. Rdn. 114 ff. 44 Oppolzer/Zachert, BB 1993, S. 1353 ff. 45 So Nipperdey, ArbR II/ I, S. 371 f. für "transitorische Gesetze".

C. Staatsgesetzgebungsbefugnis und Tarifautonomie

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rifvertragspartnem oberhalb des gesetzlichen Niveaus ein genügend breiter Handlungsspielraum verbleibt46 oder stets kollektivrechtliche Verbesserungen zugunsten der schwächeren Seite möglich bleiben47 . Ein Eingriff soll jedoch nicht in bestehende Tarifverträge möglich sein48 oder jedenfalls nicht, soweit dieser Eingriff die Rechtslage für die Arbeitnehmer verschlechtert49. Weiter wird vertreten, die geschaffenen Gesetzesnormen sollten grundsätzlich tarifdispositiv - weil diese auf jeden Fall unschädlich für die Tarifautonomie seien - 50 oder jedenfalls nur einseitig zwingend sein51 . Eine weitere Gruppe von Juristen löst die Konkurrenzfrage mit Hilfe des Günstigkeitsprinzips52. Die jeweils für die Arbeitnehmer günstigere Norm genieße den Vorrang, da die meisten Normen grundsätzlich dem Schutz der Arbeitnehmer dienten. Eine andere Gruppe von Rechtswissenschaftlern löst das Verhältnis zwischen staatlichem und tariflichem Recht nach dem Subsidiaritätsprinzip53 . Der Staat sei im Gestalten der Arbeitsbedingungen im Verhältnis zu den Tarifvertragsparteien subsidiär zuständig54. Alles was Gegenstand des Arbeitsrechts ist, sei zunächst eine Biedenkopf, Grenzen, S. 203; Lenz, Nähe, S. 213 f. Zilius, H/K/Z/Z-TVG, Ein!. Rdn. 169; 174, Zachen, Sicherung, S. 41, 145, 153; ders., NZA 1994, S. 529,530,533 f.; ders., GMH 1994, S. 168, 174 f.; Herschel, RdA 1967, S. 71, 72; Däubler, Mitbestinunung, S. 213- für "sachentscheidende Gesetzesnorrnen". 48 Plander, ArbuR 1986, S. 65, 74; Plander, DB 1986, S. 2180 ff.; Säcker, Grundprobleme, S. 50 f.; ders., ArbuR 1994, S. 1, 7; Zuleger, ArbuR 1992, S. 231; Kempf, AiB 1993, S. 480, 482; a.A.: Butzer, RdA 1994, S. 375, 379, 381 ff. 49 Zachen, Sicherung, S. 41, 145, 153; ders., NZA 1994, S. 529, 530, 533 f.; ders., GMH 1994, s. 168, 174 f. 50 Nipperdey, ArbR 11/1, S. 371; Hersehe[, RdA 1967, S. 71, 72; Plander, ArbuR 1986, S. 65, 76; Säcker, ArbuR 1994, S. 1, 7 f. 51 Hersehe[, RdA 1967, S. 71, 72; Säcker!Oetker, Grundlagen, S. 176 ff.; Oppolzer/Zachen, BB 1993, S. 1353; Zachert, Sicherung, S. 41, 145, 153; ders., NZA 1994, S. 529, 530, 533 f.; Rieble, RdA 1997, S. 134, 139. 52 Wlotzke, Günstigkeitsprinzip, S. 14; Hiersemann, BB 1963, S. 1301; Gamillscheg, ArbR I, S. 835 ff.; einschränkend: Belling, Günstigkeitsprinzip, S. 162 ff.- der das Günstigkeitsprinzip jedenfalls im Verhältnis der staatlichen Minimalgesetzgebung zum Tarifrecht anwendet; a.A.: Scholz, M/D/H/S-GG, Art. 9 GG Rdn. 273. 53 In neuerer Zeit wurde das Subsidiäritätsprinzip erstmals 1891 von Papst Leo X/11 im Rundschreiben "Rerum Novarum" entwickelt. In der Enzyklika "Quadragesima Anno" des Papstes Pius XI vom 15. 05. 1931 heißt es: "Jedwede Gesellschaftstätigkeit ist ja ihrem Wesen und Begriff nach subsidiär; sie soll die Glieder des Sozialkörpers unterstützen, darf sie aber niemals zerschlagen."; vgl. auch: die Sozialenzyklika "Mater Magista" (1961) von Papst Johannes XXIII. Das Subsidiaritätsprinzip selbst ist aber viel älter. Es hat seine Grundlage im uralten Gedanken der "Sophrosyme", was soviel wie weise Selbstbeschränkung des Mächtigen bei der Ausübung seiner Macht bedeutet. 54 Küchenhoff RdA 1959, S. 201 , 202 ff.; Wlotzke, RdA 1963, S. 44, 49 f.; Nipperdey, ArbR II/ 1, S. 44; Söllner, ArbuR 1966, S. 257, 258; Simitis, ZfA 1980, S. 294, 335; Müller; Arbeitskampf, S. 62 f.; 182; ders., RdA 1988, S. 4, 12 f.; Säcker/Oetker, Grundlagen, 46 47

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1. Kap.: Die Gesetzgebungskompetenz des Bundes

genuine Angelegenheit der Tarifvertragsparteien. Der Gesetzgeber müsse deshalb die Initiative den Tarifvertragsparteien überlassen 55 . Erst, wenn die Kräfte der Tarifparteien nicht ausreichen, komme der Staat zum Zuge56. Allerdings finde auch die Subsidiarität ihre Grenzen im Gemeinwohl5 7 oder im Sozialstaatsprinzip58 . Andere betonen, daß die Tarifvertragsparteien nur den vom staatlichen Gesetzgeber freigelassenen Raum regeln sollen59 und lehnen einen Vorrang der tariflichen Regelung grundsätzlich ab60. Dabei solle ein Einschätzungs- und Gestaltungsspielraum des einfachen Gesetzgebers bestehen61 . Das Gesetzesrecht sei nicht auf Minimalbestimmungen beschränkt62 . Ausführlicher dargestellt soll hier nur die Auffassung von Eiedenkopf werden. Er veröffentlichte 1964 in seiner Habilitationsschrift die erste größere Untersuchung zu der hier diskutierten Fragestellung. Biedenkop/3 differenziert bei der Zuständigkeitsabgrenzung zwischen Normen zur Existenzsicherung und verteilenden Normen. Für erstere sei ausschließlich der Staat zuständig. Der eigentliche Kompetenzkonflikt tauche erst bei letzteren auf. Soweit es bei sogenannten "verteilenden Sozialgesetzen" unter Beteiligung der öffentlichen Hand an einer ausdrücklichen Regelung fehle, spreche eine Vermutung für den ausschließlichen Geltungsanspruch der gesetzlichen Regelung, da solche Gesetze einen abschließenden unter Berücksichtigung aller beteiligen Interessen und des Allgemeinwohls gerechten Ausgleich im geregelten Bereich anstrebten. Eine für die Arbeitnehmer günstigere Regelung könne von den Gewerkschaften grundsätzlich nicht erzwungen werden. Eine Verbesserung der gesetzlichen Regelung, sei aber durch "fakultative Tarifverträge" - nicht erzwingbare - möglich64. Hier sei dann ein Günstigkeitsvergleich S. 176 f.; Gamillscheg, ArbR I, S. 289 ff.; Richardi, MHBzArbR, § 233 Rdn. 48, anders noch: Richardi, Kollektivgewalt, S. 53 ff.; für eine "Reihe von Erscheinungen" bejahend: Galperin, FS Molitor, S. 143, 158 f. 55 Simitis, ZfA 1980, S. 294, 335; a.A.: Scho/z, MIDIHIS-GG, Art. 9 GG Rdn. 271 f.; Richardi, Kollektivgewalt, S. 53 ff.; Preis, ZfA 1972, S. 271,292 ff. 56 Küchenhoff, RdA 1959, S. 201,202 ff.; Richardi, MHBzArbR, § 233 Rdn. 48. 57 Küchenhojf. a. a. 0. 58 Wlotzke, RdA 1963, S. 44, 49 f. 59 Scholz, MIDI H I S-GG, Art. 9 GG Rdn. 269 f. 60 Schelp, DB 1965, S. 1094, 1099; Scholz, Koalitionsfreiheit, S. 330; Scholz. MIDIHISGG, Art. 9 GG Rdn. 271 f.- Grenze soll nach Scho/z, a. a. 0 ., lediglich das allgemeine Übermaßverbot sein. 61 Schelp, DB 1965, S. 1094, 1099; Dietz, Diskussion, S. D 50; Wiedemann/Stumpf, TVG, Ein!. Rdn. 90, 107; Butzer, RdA 1994, S. 375, 379, 381 ff.; Nipperdey, ArbR 11/1, S. 372, stellt es zumindest in das Ermessen des einfachen Gesetzgebers, ob die staatlichen Normen einseitig oder zweiseitig zwingend sein sollen. 62 Wiedemann/Stumpf, TVG, Ein!. Rdn. 89, 107; Gamillscheg, ArbR I, S. 289. 63 Biedenkopf, Grenzen, S. 152 ff. 64 Ob Eiedenkopf diese Differenzierung heute noch so vornehmen würde, erscheint fraglich. Zur Begründung führt er aus: "daß durch Art. 9 III GG die Freiheit des Arbeitskampfes nicht in gleichem Umfang geschützt ist, wie die Befugnis der Tarifparteien zur Regelung der

C. Staatsgesetzgebungsbefugnis und Tarifautonomie

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durchzuführen. Bei sogenannten "arbeitsrechtlichen Schutzgesetzen" ohne inneren Sachzusarnrnenhang zur allgemeinen, nicht typisch arbeitsrechtlichen Sozialgesetzgebung, mit denen ein gerechter Ausgleich zwischen Arbeitnehmern und Arbeitgebern hergestellt werden soll, gelte der Grundsatz der Subsidiarität der gesetzlichen Regelung. Eine Vermutung spreche in diesen Fällen zugunsten des Tarifvertrages als der besseren, Sachgerechteren und deshalb von der Rechtsordnung bevorzugten Regelung der betroffenen Frage. Auf keinen Fall dürfte jedoch der Kernbereich der Tarifautonomie angetastet werden. Die dennoch getroffenen gesetzlichen Regelungen seien gegenüber den Tarifnormen subsidiär. 2. Rechtsprechung

Bei den Äußerungen der Rechtsprechung soll hier nur die Rechtsprechung des BVerfG beriicksichtigt werden. Denn zumindest nachdem das BVerfG eine Rechtsfrage entschieden hat, sind abweichende Entscheidungen in der Rechtsprechung atypisch. Seit 1954 geht das BVerfG in ständiger Rechtsprechung davon aus, daß Art. 9 III GG den Kernbereich der koalitionsmäßigen Betätigung schützt65 . Der Staat habe im Bereich der Arbeitsbedingungen seine Regelungszuständigkeit zu Gunsten der Koalitionen weit zuriickgenommen66 • Die Aussagen, die Regelung der Arbeitsbedingungen solle im wesentlichen ohne staatliche Einflußnahme erfolgen67 , der Staat besitze lediglich eine subsidiäre Regelungszuständigkeit68 und die Koalitionen haben ein Normsetzungsvorrecht69 unterstützen diesen Grundsatz. Das BVerfG verwies aber auch stets darauf, daß die Normsetzungsprärogative der Koalitionen nicht uneingeschränkt gilt70 und der Staat sich seines Normsetzungsrechtes nicht völlig entäußert hat71 • Es führte aus: "Wenn die Koalitionen die ihnen übertragene Aufgabe, das Arbeitsleben durch Tarifverträge sinnvoll zu ordnen, im Einzelfall nicht allein erfüllen können und die soziale Schutzbedürftigkeit Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen" (S. 173). Diese Auffassung war 1964, als Biedenkopf seine Schrift veröffentlichte, durchaus verbreitet. Seit Einführung des Satzes 3 in Art. 9 III GG (1968), der den Arbeitskampf ausdrücklich erwähnt, finden sich keine Stimmen mehr, die zwischen erzwingbaren und fakultativen Tarifverträgen differenzieren. 65 BVerfGE 4, S. 96 ff.; 17, S. 319, 333 f. ; 19, S. 303, 321; 28, S. 295, 304; 38, S. 281, 305; 38, S. 386, 393; 44, S. 322, 340, 345; 50, S. 290, 368; 51, S. 77, 88; 57, S. 220, 245 f .; 58, s. 233, 248. 66 BVerfGE 34, S. 307, 316; 44, S. 322, 340, 345, 349; 50, S. 290, 367; 56, S. 155, 169. 67 BVerfGE 44, S. 322, 340 f.; 50, S. 290, 367. 68 BVerfGE 44, S. 322, 341. 69 BVerfGE44, S. 322, 341; 56, S. 155, 169. 1o BVerfGE 38, S. 386, 393; 44, S. 322, 341; 50, S. 290, 368; 57, S. 220, 246; 58, S. 233, 248. 71 BVerfGE 44, S. 322, 347.

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1. Kap.: Die Gesetzgebungskompetenz des Bundes

einzelner Arbeitnehmer oder Arbeitnehmergruppen oder ein sonstiges öffentliches Interesse ein Eingreifen des Staates erforderlich macht, tritt die subsidiäre Regelungszuständigkeitdes Staates ein."72. Diesen Grundsätzen scheint es zu widersprechen, wenn das BVerfG73 an anderer Stelle sagt: "Es sei Sache des Gesetzgebers, die Tragweite der Koalitionsfreiheit dadurch zu bestimmen, daß er die Befugnisse der Koalitionen im einzelnen gestaltet und näher regelt. "74 • Das Gericht führt jedoch weiter aus: "Die Regelungsbefugnis findet ihre Grenzen an dem verfassungsrechtlich gewährleisteten Kernbereich der Koalitionsfreiheit." 75 und "dem Betätigungsrecht der Koalitionen dürfen nur solche Schranken gezogen werden, die zum Schutz anderer Rechtsgüter von der Sache her geboten sind. Regelungen, die nicht in dieser Weise gerechtfertigt sind, tasten den durch Art. 9 III GG geschützten Kerngehalt der Koalitionsbetätigung an."76 . Der grundsätzlich weiten Zuriicknahme der Regelungszuständigkeit des staatlichen Gesetzgebers würde es widersprechen, wenn der einfache Gesetzgeber die Zuständigkeiten der Koalitionen beschränken könnte. In dieser Richtung wird aber teilweise die folgende Aussage des BVerfG verstanden77 : "Den Koalitionen ist durch Art. 9 III GG die Aufgabe zugewiesen ... den von staatlicher Rechtsetzung frei gelassenen Raum in eigener Verantwortung .. . sinnvoll zu ordnen." 78 . Aber auch hier fUhrt das BVerfG (in der ersten Auslassung) aus, daß die Aufgabe der Koalitionen "in einem Kernbereich durch Art. 9 III garantiert"79 ist. Wer die Aussage des BVerfG unvollständig zitiert, will das Gericht vielleicht nicht richtig verstehen, denn er vermittelt durch Weglassen einen anderen Inhalt des Urteils. In einigen Entscheidungen jüngeren Datums hat das BVerfG das Wort Kernbereich gernieden80. 1996 nahm das BVerfG dann zu seinem Verständnis des Art. 9 III GG Stellung. Es führte aus: "Der Schutz ist nicht von vomherein auf einen Kernbereich koalitionsmäßiger Betätigung beschränkt. Er erstreckt sich vielmehr auf alle Verhaltensweisen, die koalitionsspezifisch sind." 81 . Im Anschluß zählt das Gericht die Materien auf, die von den Koalitionen in eigener Verantwortung n BVerlGE 44, S. 322, 342. BVerlGE 50, S. 290, 368. Dieses Zitat wird gerne von den in den Fußnoten 103 und 104 genannten Autoren zur Unterstützung ihrer Rechtsauffassung herangezogen. 75 BVerlGE 50, S. 290, 371. 76 BVerGE 50, S. 290, 369 mit Verweis auf BVerlGE 19, S. 303, 321; 28, S. 295, 306. 77 So Scholz, MIDI H I S-GG, Art. 9 GG Rdn. 269 ff. 78 BVerlGE 44, S. 322, 340 f.; mit Verweis auf BVerlGE 4, S. 96, 106; 18, S. 18, 26, 28; 20, S. 312, 317; 28, S. 295, 304; 38, S. 281 , 306; auch BVerlGE 50, S. 290,371. 79 BVerlGE 44, S. 322, 340 f. rn. w. N. 80 So z. B.: BVerlGE 84, S. 212, 220; 88, S. 103, 114 ff.; 92, S. 26, 38 ff. ; 92, S. 365, 393 ff. 81 BVerlGE 94, S. 268, 283. 73

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C. Staatsgesetzgebungsbefugnis und Tarifautonomie

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zu ordnen sind. "Dazu gehören vor allem das Arbeitsentgelt und die anderen materiellen Arbeitsbedingungen wie etwa Arbeits- und Urlaubszeiten sowie nach Maßgabe von Herkommen und Üblichkeit weitere Bereiche des Arbeitsverhältnisses, außerdem darauf bezogene soziale Leistungen und Einrichtungen. " 82 Es fällt auf, daß dies genau die Materien sind, die das Gericht in seiner früheren Rechtsprechung zum Kernbereich rechnete 83 und die auch von der Wissenschaft zum Kernbereich gezählt werden 84 . Zu einer möglichen Einschränkung der von Art. 9 III GG geschützten Materien sagt das Gericht: ,,Eine gesetzliche Regelung in diesem Bereich, der auch Tarifverträgen offensteht, kommt jedenfalls dann in Betracht, wenn der Gesetzgeber sich dabei auf Grundrechte Dritter oder andere mit Verfassungsrang ausgestattete Rechte stützen kann. " 85 . Diese Ausführungen des Gerichtes decken sich mit den früheren Voraussetzungen, deren Vorliegen das Gericht für ein Eingreifen des Gesetzgebers in den Kernbereich verlangte. Wirklich geändert hat das BVerfG somit nur die WortwahL Inhaltlich hat sich hingegen wenig getan. Das BVerfG hat auch schon früher bei Eingriffen des Gesetzgebers in den Kernbereich nach der Bedeutung der Gründe und der Intensivität des Eingriffes differenziert. Ein wesentlich verändertes Grundrechtsverständnis des Gerichts ist nicht ersichtlich86.

111. Systematisierung der Meinungen und Kritik Die geäußerten Ansichten in Literatur und Rechtsprechung lassen sich im wesentlichen in drei Gruppen einteilen. Die Vertreter, die einer Normenquelle - der staatlichen oder der tariflichen - den Vorrang einräumen (Ausschließlichkeitsprinzip), die Vertreter, die die jeweils für die Arbeitnehmer günstigere Norm anwenden (Günstigkeitsprinzip) und jene, die von einer subsidiären Zuständigkeit des Staates gegenüber den Tarifparteien ausgehen (Subsidiaritätsprinzip). Die folgende Auseinandersetzung mit den geäußerten Ansichten beschränkt sich deshalb auf die Würdigung dieser drei Ausgangsmodelle. 1. Das Ausschließlichkeitsprinzip Will man, wie die Vertreter des Ausschließlichkeitsprinzips, den Normen einer Rechtsquelle den Vorrang vor den Normen einer anderen Rechtsquelle einräumen, so setzt dies voraus, daß die dominierende Rechtsquelle gegenüber der unterliegenden Rechtsquelle stärker ist87 . 82 83 84 85 86

BVerfGE 94, S. 268, 283. vgl.: BVerfGE 4, S. 96, 107; 18, S. 18, 28; 50, S. 290, 367. vgl. hierzu Fußnote 58. BVerfGE 94, S. 268, 284. a.A.: Heilmann, ArbuR 1996, S. 121, 122 f.; Rüfer, RdA 1997, S. 130, 132.

1. Kap.: Die Gesetzgebungskompetenz des Bundes

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Art. 72 I Nr. 12 GG verleiht dem Bund die konkurrierende Gesetzgebungskompetenz auf dem Gebiet des Arbeitsrechts88. Die Regelungszuständigkeit der Tarifparteien folgt unmittelbar aus Art. 9 III GG89. Die Verfassung hat somit sowohl den Staat als auch die Tarifparteien zur Normsetzung legitimiert90. Aus der Verfassung ergibt sich demnach kein formales Übergewicht einer der beiden Rechtsquellen91.

Ein weiterer Aspekt muß berücksichtigt werden. Könnte der staatliche Gesetzgeber in den verfassungsrechtlich garantierten autonomen Raum der Koalitionsfreiheit beliebig eingreifen, so könnte er die Tarifvertragsfreiheit aushöhlen, indem er durch eine Vielzahl staatlicher Regelungen den Tarifpartnern ihre Normsetzungsmöglichkeiten nimmt92 . Gleichzeitig würden die Möglichkeiten der Tarifparteien, sich über die Ihnen noch verbleibenden Regelungsbereiche zu verständigen, erschwert. Die eine Seite könnte nicht mehr durch Zugeständnisse im nun staatlich reglementierten Bereich ein Entgegenkommen des Verhandlungspartners in anderen Regelungsbereichen erreichen93 . Die Tarifvertragsautonomie wäre nur noch eine leere Hülle. Es bestünde die Gefahr, daß die Tarifparteien auf die Regelung absolut sekundärer Fragen abgedrängt würden94. Die Schaffung eines sozialen Ausgleiches ist jedoch Kernstück und Thema der Tarifautonomie schlechthin95 . Aber auch ein ausschließlicher Vorrang des tariflichen Regelwerkes muß ausscheiden. Ließe man dies zu, so wäre der Gesetzgeber auf punktuelle Eingriffe beschränkt. Die Kompetenznorm des Art. 72 I Nr. 12 GG wäre weitgehend gegenstandslos96. Das Ausschließlichkeitsprinzip scheidet deshalb als Lösungsansatz zur Klärung des Verhältnisses von staatlichem Recht und Tarifrecht aus.

87 88

89

44.

Fratzky, Gesetzgebungskompetenz, S. 168. vgl.: A. (erstes Kapitel). vgl.: B. (erstes Kapitel); a.A.: die Vertreter der Delegationstheorie, vgl. hierzu Fußnote

Belling, Günstigkeitsprinzip, S. 162. Zum Vorrang der Tarifautonomie als Grundrecht vor der lediglich als Kompetenznorm ausgestalteten staatlichen Gesetzgebungszuständigkeit unter C.III.3. (erstes Kapitel). 92 Schnorr; JR 1966, S. 327, 334; Säcker; Grundprobleme, S. 48; ders., Gruppenparität, S. 113; Scholz, Koalitionsfreiheit, S. 257; Däubler; Mitbestimmung, S. 204; Däubler/ Hege, Tarifvertragsrecht, S. 63 Rdn. 132 f.; Simitis, Diskussion, S. 333; Plander; ArbuR 1986, S. 65, 70. 93 Wolf, ZfA 1971, S. 151, 157; Plander; a. a. 0. 94 Däubler; Mitbestimmung, S. 205; Plander; a. a. 0. 95 Coester; Vorrangprinzip, S. 85. 96 Däubler; Mitbestimmung, S. 207; Butzer; RdA 1994, S. 375, 384; Säcker; Grundprobleme, S. 50, verweist zusätzlich darauf, daß ein ausschließliches Normsetzungsrecht der Koalitionen ausscheidet, weil für die Tarifvertragsparteien keine Normsetzungspflicht besteht. 90

91

C. Staatsgesetzgebungsbefugnis und Tarifautonomie

63

2. Das Günstigkeitsprinzip

Das Günstigkeilsprinzip geht vom Miteinander der durch die verschiedenen Normgeber gesetzten Rechtsnormen aus. Es entspricht deshalb den Geboten der Verfassung eher als das Ausschließlichkeitsprinzip97 . Das Günstigkeitsprinzip hat einfachgesetzlich in den §§ 4 III TVG, 28 II 2 SprAuG Niederschlag gefunden98 . Es beruht auf der Vorstellung, daß der abhängige Arbeitnehmer trotz der Wahrnehmung seiner Interessen durch die Gewerkschaften grundsätzlich nicht gehindert sein soll, mit dem Arbeitgeber eine individuell bessere Regelung zu vereinbaren99. Der schwächere Arbeitnehmer soll nur vor der Unterschreitung der kollektiven Vereinbarungen durch den intellektuell und organisatorisch überlegenen Arbeitgeber 100 geschützt werden. Eine Verbesserung der kollektiven (Mindest-)Normen soll dem Arbeitnehmer nicht verwehrt sein 101 . Nach der gesetzlichen Regelung in den §§ 4 III TVG, 28 II 2 SprAuG gilt dieser Günstigkeitsgrundsatz ausdrücklich nur im Verhältnis von Kollektivnormen und Individualnormen - also zwischen Normen auf unterschiedlicher Ebene. Vorliegend ist aber das Verhältnis von staatlichem Gesetzesrecht und Tarifrecht, von Normen, die ihre Legitimation unmittelbar aus der Verfassung gewinnen - also von Normen auf gleicher Ebene- zu klären. Das Günstigkeitsprinzip kann hierbei nur zur Problemlösung herangezogen werden, wenn das Günstigkeitsprinzip auch im Verhältnis von Normen auf gleicher Ebene anwendbar ist. Im Unterschied zur dargestellten Ausgangssituation von kollektiver Vereinbarung und Individualvereinbarung fehlt es im Verhältnis der Tarifparteien zueinander an der strukturellen Unterlegenheit und der Abhängigkeit einer Seite 102. In Gestalt von Gewerkschaften und Arbeitgebern I Arbeitgeberverbänden stehen sich zwei gleichwertige Partner gegenüber. Dies wird entweder damit begründet, daß die kollektiven Partner von vornherein ebenbürtig sind oder damit, daß die strukturell unterlegenen Arbeitnehmer zumindest durch die Möglichkeit, Arbeitskämpfe zu führen, mit Ergreifen der Kampfmaßnahmen, Ebenbürtigkeit erlangen 103 • Schnorr; JR 1966, S. 327, 334; Fratzky, Gesetzgebungskompetenz, S. 170. Darüberhinaus findet das Günstigkeilsprinzip nach h.M. auch im Verhältnis Individualvereinbarung und Betriebsvereinbarung sowie im Verhältnis Individualvereinbarung und Gesetz Anwendung. 99 Nikisch, ArbR II, S. 418 ff.; Wlotzke, Günstigkeitsprinzip, S. 16; Eiedenkopf Grenzen, S. 146; Wiedemann/Stumpf TVG, § 4 Rdn. 223. 100 Richardi, RdA 1966, S. 241, 248; Reichet, BArbBI1969, S. 359, 361 ; Säcker; Gruppenparität, S. 100; ders., Gruppenautonomie, S. 88 ff.; Ansey/Kobersky, ArbuR 1987, S. 230, 237; Däubler; ArbuR 1995, S. 305; BVerfGE 84, S. 212,229. 1o1 Fratzky, Gesetzgebungskompetenz, S. 171; Wiedemann/Stumpf a. a. 0 . 102 Eiedenkopf Grenzen, S. 147; Fratzky, a. a. 0 . 103 Eiedenkopf a. a. 0.; Fratzky, a. a. 0.; Müller, Arbeitskampf, S. 162 ff.; ders. , RdA 1988, S. 4, II.; Kreßel, NZA 1995, S. 1121, 1123; Zum Erfordernis der Parität, vgl: Viertes Kapitel B.I.2. und 3. 97 98

l. Kap.: Die Gesetzgebungskompetenz des Bundes

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Im Verhältnis der Tarifparteien zueinander besteht deshalb keine besondere Schutzwürdigkeit einer Partei. Auch sind die Gewerkschaften nicht, wie die einzelnen Arbeitnehmer, von den Arbeitgebern abhängig oder ihnen intellektuell oder organisatorisch unterlegen 104• Die Ausgangslage der kollektiv organisierten Gewerkschaften ist somit nicht mit der Situation des einzelnen Arbeitnehmers vergleichbar. Würde man das Günstigkeitsprinzip dennoch auf das Verhältnis von Gesetz und Tarifvertrag anwenden, so würde dies die Arbeitnehmer und die Gewerkschaften einseitig begünstigen. Die Arbeitnehmervertreter könnten einseitige Verbesserungen zu ihren Gunsten erreichen. Den Arbeitgebern wäre es hingegen verwehrt, eine Verschlechterung herbeizuführen 105 • Die strukturelle und intellektuelle Unterlegenheit der Arbeitnehmer wäre doppelt kompensiert, durch die staatlichen Schutzgesetze, die von den Arbeitgebern nicht unterschritten werden können, und durch die kollektive Wahrnehmung der Arbeitnehmerinteressen durch die Gewerkschaften, die bereits die Unterlegenheit der Arbeitnehmer beseitigt 106• Dies würde die Stellung der Gewerkschaften einseitig stärken. Der Staat hätte dann über die Anerkennung des Günstigkeitsprinzips, eine Tarifpartei ohne Notwendigkeit bevorzugt, ohne daß dies von der Ausgangslage her geboten wäre. Der Staat ist aber zur Neutralität bei Tarifauseinandersetzungen und im Arbeitskampf verpflichtet 107 • Dieser Verpflichtung würde es widersprechen, wenn der Staat durch Anerkennung des Günstigkeitsprinzips einseitig zu Gunsten der Arbeitnehmer und Gewerkschaften intervenierte 108 . Im Ergebnis hätte der Staat seine Neutralitätspflicht gegenüber den Tarifvertragsparteien verletzt 109 . Teilweise wird angenommen, die Anwendung des Günstigkeitsprinzips stehe zudem im Widerspruch zur Tarifautonomie, weil es ein Abweichen der Tarifparteien von der gesetzlichen Regelung in beide Richtungen verhindere 110. Eiedenkopf zeichnet hier ein sehr schönes Bild wenn er ausführt: "Die nach dem Günstigkeitsprinzip antretenden Tarifparteien gleichen zwei Mannschaften, die sich im Tauziehen an einem Seil messen, das sich nur in eine Richtung bewegen läßt. Der begünstigte Teil kann nie verlieren." 111 . An diesem Ansatz ist zutreffend, daß das Kräfte104 Biedenkopf, Grenzen, S. 147 ff. Zur "strukturellen Ungleichgewichtslage" zwischen Arbeitnehmern und Arbeitgebern vgl. auch die Nachweise in Fußnote 120 des vierten Kapitels, Teil C. 105 Fratzky, a. a. 0.

Biedenkopf, Grenzen, S. 151 ; grundlegend: Säcker, Gruppenparität, S. 112 f. statt aller: Säcker, Gruppenparität, S. 98 ff.; Löwer, v.M/K-GG, Art. 9 GG Rdn. 88; BVerfG AP Nr. 1 zu Art. 9 GG; BAGE 1, S. 191, 308; BSGE 40, S. 190, 197; Zur Ausformung der Neutralität vgl.: Viertes Kapitel B.l.3. 108 Biedenkopf, Grenzen, S. 150; Fratzky, Gesetzgebungskompetenz, S. 172. 109 Biedenkopf, a. a. 0.; Fratzky, a. a. 0. 110 Biedenkopf, Grenzen, S. 151. 111 Biedenkopf, a. a. 0. 106 107

C. Staatsgesetzgebungsbefugnis und Tarifautonomie

65

gleichgewicht der Tarifpartner normalerweise die Richtigkeitsgewähr für den erzielten Abschluß bietet 112• Durch die staatliche Norm legt der Gesetzgeber nun aber einen Standard fest, der zumindest im Ergebnis für die Arbeitnehmer nicht unterschritten werden kann. Insoweit können die Arbeitnehmer nicht verlieren. Aber sie können eben nur im Ergebnis nicht verlieren. Die Tarifparteien sind bei Vorhandensein einer gesetzlichen Regelung nicht gehindert eine anderslautende auch schlechtere - Regelung für die Arbeitnehmer zu treffen. Einzige Folge wäre, daß diese Regelung wegen der günstigeren gesetzlichen Norm zunächst keine Wirkung entfaltet. Dies kann sich aber ändern, wenn die gesetzliche Regelung modifiziert oder aufgehoben wird. Die Kritik überzeugt deshalb nicht. Zwar ist nicht zu bestreiten, daß eine vorhandene gesetzliche Regelung auch auf die Tarifverhandlungen ausstrahlt 113 • Dies wird jedoch von der Rechtsprechung als zulässig anerkannt und ist letztendlich nur Ausfluß der Tatsache, daß wir uns in dieser von Regeln durchzogenen Gesellschaft nicht im rechtsfreien Raum bewegen, sondern in allen Lebenslagen vielfältigen Zwängen unterworfen sind. Die Anwendung des Günstigkeitsprinzip birgt aber dennoch erhebliche Gefahren für die Tarifautonomie in sich. Da Gesetzgeber und Tarifvertragsparteien nach dem Günstigkeitsprinzip parallel zuständig bleiben, bliebe es dem Gesetzgeber grundsätzlich überlassen, mit welcher Intensität er die staatlichen Schutzgesetze ausgestaltet. Deutlicher gesagt, es stünde im Ermessen des Gesetzgebers, wie hoch oder wie niedrig er die staatlichen Mindestbedingungen ansetzt 114 • Eine Verbesserung der Arbeitsbedingungen durch die Tarifvertragsparteien ist aber nur theoretisch unbegrenzt möglich. Praktisch sind von den Tarifvertragsparteien die wirtschaftlichen Gegebenheiten zu beriicksichtigen. Diese zwängen die Tarifpartner ein und setzen ihrem Handlungsspielraum nach oben Grenzenll 5 . Insbesondere in Zeiten der wirtschaftlichen Rezession und steigender Arbeitslosigkeit, ist es den Gewerkschaften nur schwerlich möglich, eine Erhöhung der tariflichen Leistungen durchzusetzen 116• Wenn aber die Gewerkschaften die staatlichen Schutzgesetze nicht mehr verbessern können und die tarifvertragliehen Abschlüsse sogar hinter den staatlichen Leistungen zuriickbleiben, besteht für die Arbeitnehmer kein Anreiz mehr, sich durch Beiträge einen besonderen kollektiven Schutz zu erkaufen. Die Gewerkschaften verlören an Attraktivität und wären fast überflüssig. Bei zu hohen staatlichen (Mindest-)Normen besteht deshalb die Gefahr der Aushöhlung und Verkümmerung der Tarifautonomie 117 • Biedenkopf, Grenzen, S. 149; Zur Parität, vgl.: Viertes Kapitel B.l.2. vgl. Fußnoten 46 bis 49. 114 Fratzky, Gesetzgebungskompetenz, S. 172. 115 Hiersemann, BB 1963, S. 1301; Biedenkopf, Grenzen, S. 203; Lenz. Nähe, S. 203, 214; Säcker, RdA 1969, S. 291, 298; Wolf, ZfA 1971, S. 151, 157; Fratzky, a. a. 0.; Kempen, ArbuR 1996, S. 336,342. 116 Seit 1991 stagnieren bzw. sinken die Reallöhne der westdeutschen Arbeitnehmer. Zu der starken Schwankungen unterworfenen Entwicklung der Reallöhne der westdeutschen Arbeitnehmer, vgl: Däubler, Tarifvertragsrecht, S. 283 ff., Rdn. 558 ff. 112

113

5 Andelewski

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l. Kap.: Die Gesetzgebungskompetenz des Bundes

Das Günstigkeilsprinzip ist somit nicht geeignet, das Verhältnis von staatlichem Recht und Tarifrecht zu ordnen.

3. Das Subsidiaritätsprinzip Dem Subsidiaritätsprinzip liegt der Gedanke zu Grunde, daß der höhere und umfassendere Verband erst zuständig sein soll, wenn der niedere und engere Verband eine Aufgabe nicht mehr mit eigenen Kräften allein bewältigen kann. So ergibt sich eine Stufenordnung von unten nach oben. Die Zuständigkeit der jeweils höheren Einheit besteht im Verhältnis zur unteren Einheit nur hilfsweise - nur subsidiär118. Fraglich ist, ob diese Grundkonzeption gestufter Zuständigkeiten auch auf das Verhältnis von Gesetzgeber und Tarifparteien übertragbar ist. Dagegen scheint zunächst die formal gleichberechtigte Stellung von Gesetzgeber und Tarifparteien zu sprechen. Beide leiten ihre Zuständigkeit für die Regelung der Materie Arbeitsrecht unmittelbar aus der Verfassung- aus Art. 72 I Nr. 12 GG bzw. aus Art. 9 III GG- ab 119• Dies spricht jedoch nicht zwingend gegen die Subsidiarität einer der Zuständigkeiten. Art. 72 GG stellt lediglich eine Kompetenznorm zur Begründung der konkurrierenden Gesetzgebungszuständigkeit des Bundes dar. Art. 9 III GG hingegen schützt ein Grundrecht, das Grundrecht der Koalitionsfreiheit mit der besonderen Ausprägung der Tarifautonomie 120• Deshalb wird bereits aus dem besonderen Schutz der Tarifautonomie durch Art. 9 III GG geschlossen, daß der den Koalitionen zugestandene und zugewiesene Aufgabenbereich eine aus der Regelungsbefugnis des Gesetzgebers herausgelöste vorrangige tarifliche Regelungsbefugnis darstellt 121 • Die staatliche Gesetzgebungsbefugnis sei deshalb im Verhältnis zur Tarifautonomie subsidiär. Hiergegen könnte sprechen, daß das GG das Subsidiaritätsprinzip selbst ausdrücklich nicht erwähnt. Der Versuch der Teilnehmer des Verfassungskonventes von Herrenchiemsee Süsterhenn und Kanka, das Subsidiaritätsprinzip in den Verfassungstext einzuarbeiten, schlug sogar fehl 122 . Bereits deshalb das Subsidiaritätsprinzip als Lösungsmöglichkeit auszuschlagen, erscheint jedoch übereilt. Im Hin117 Hiersemann, a.a.O.; Däubler/Hege, Tarifvertragsrecht, S. 63 Rdn. 133; Fratzky, a. a. 0 ., S. 172; Simitis, Diskussion, S. 333; Kempen, ArbuR 1996, S. 336, 342; vgl. auch: C.III.2. (erstes Kapitel). 118 Küchenhoff RdA 1959, S. 201, 202; Schnorr; JR 1966, S. 327, 334; Richardi, Kollektivgewalt, S. 53; Fratzky, Gesetzgebungskompetenz, S. 175; Maunz/Zippelius, Staatsrecht, § 10 III 5, S. 67; Hesse, Grundzüge, S. 97 Rdn. 219; Buchner; RdA 1993, S. 193, 195; Zum Subsidiaritätsprinzip unter volkswirtschaftlichen Gesichtspunkten, vgl.: Tzetmeyer; Bundesbank 1998 Nr. 54, S. 1, 2. 119 vgl.: Erstes Kapitel A., B., C.III.l. 120 vgl.: B. (erstes Kapitel). 121 Fratzky, Gesetzgebungskompetenz, S. 177; Wlotzke, RdA 1963, S. 44, 50. 122 Maunz, Staatsrecht, 4. Aufl., S. 68; Fratzky, Gesetzgebungskompetenz, S. 176.

C. Staatsgesetzgebungsbefugnis und Tarifautonomie

67

blick auf Art. 2, 6, 9, 28 II, 30, 72 II, 75, 105 II, 83, 84, 106 VI, VII, 107 II, 120 S. 3 ff. GG wird vertreten, daß das Subsidiaritätsprinzip dem Staatsaufbau und der Staatsform der Bundesrepublik mittelbar zu Grunde liegt 123 . Auch auf europäischer Ebene ist das Verhältnis der Nationalstaaten zur Gemeinschaft durch das Subsidiaritätsprinzip geprägt 124, vgl. Art. 5 EGV 125 • Da die Befugnis zur Regelung der Materie Arbeitsrecht durch die Verfassung verschiedenen Normgebern zugewiesen ist, lohnt ein Rückgriff auf allgemeine Prinzipien der Verfassungsinterpretation. Nach dem Grundsatz der Einheit der Verfassung sind verfassungsrechtlich geschützte Güter einander so zuzuordnen, daß sich jedes möglichst umfassend entfalten kann. Ist eine Optimierung nicht möglich, weil nur die eine oder die andere Vorschrift zur vollen Geltung gebracht werden kann, so reduziert sich die "praktische Konkordanz" auf das Postulat, nicht den Inhalt der einen Norm völlig zugunsten des Geltungsanspruchs der anderen Norm aufzuopfem 126. Ein Nebeneinander von staatlicher und tariflicher Zuständigkeit, birgt die Gefahr der Aushöhlung der Tarifautonomie durch umfassende staatliche Schutzgesetze in sich 127 • Eine sachgerechte Entfaltung der Tarifautonomie ist bei dieser latenten Gefahr nicht möglich. Der durch Art. 9 III GG geschützten Tarifautonomie kann deshalb nur effektiv Rechnung getragen werden, wenn das staatliche Gesetzgebungsrecht so lange und soweit zurücktritt, bis das staatliche Recht die Tarifautonomie nicht gefährden kann. Insoweit führt der Grundsatz der praktischen Konkordanz zur Subsidiarität des staatlichen Rechts 128•

123 Küchenhojf. RdA 1959, S. 201, 202; ders., RdA 1969, S. 97, 104; Fratzky, a. a. 0.; Maunz/Zippelius, Staatsrecht, § 10 III 5, S. 67; Deutlicher als Art. 6 II GG brachte das Subsidiaritätsprinzip Art. 106 der Verfassung von Württemberg-Hohenzollern zum Ausdruck: "Die Kinder zu brauchbaren Gliedern der menschlichen Gesellschaft zu erziehen, ist zu vörderst Recht und Pflicht der Eltern oder der Erziehungsberechtigten, die Kraft Gesetzes an ihre Stelle treten, aber auch Aufgabe des Staates und der Kirchen oder der Religionsgemeinschaften." 124 Hesse, Grundzüge, S. 51 Rdn. 113; Kempen, ArbuR 1996, S. 336, 338. 125 Vormals: Art. 3b EGV. 126 Hesse, Grundzüge, S. 27 Rdn. 71 ff.; Däubler, Mitbestimmung, S. 210; v.Münch, v.M/ K-GG, Vorb. Art. l-19 GG Rdn. 47; Wonneberger, Funktionen, S. 91; Butzer, RdA 1994, S. 275, 282; Heilmann, ArbuR 1996, S. 121, 122; BVerfGE 35, S. 202,225. 127 vgl.: Erstes Kapitel C.III.l. und 2. 128 Die Vertreter, die im wesentlichen mit einer vergleichbaren Argumentation zu einem Vorrang der tariflichen Rechtsquellen vor den staatlichen Rechtsquellen gelangen (Vorrangprinzip), würdigen den Umstand nicht ausreichend, daß staatliches Recht, auch wenn es von den Tarifparteien durch Tarifrecht vollständig verdrängt werden kann, in verschiedener Hinsicht auf das Tarifrecht ausstrahlt und es beeinflußt, vgl. hierzu die Nachweise in Fußnoten 46 bis 48. Insoweit beeinflußt der Staat durch seine Rechtsetzung mittelbar die Rechtsetzung der Tarifparteien. Dies bedeutet aber, daß er mittelbar in die durch Art. 9 III GG garantierte Tarifautonomie der Tarifparteien eingreift.

5*

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1. Kap.: Die Gesetzgebungskompetenz des Bundes

Für eine Anwendung des Subsidiaritätsgedankens spricht zudem die Vergleichbarkeit der vorliegenden Konfliktsituation mit den klassischen Fällen, bei denen das Subsidiaritätsprinzip zur Lösung herangezogen wird. Diese sind gekennzeichnet durch die primäre Zuständigkeit des engeren Rechtskreises gegenüber dem weiteren Rechtskreis 129• Tarifnormen gelten gemäß §§ 3 I, 4 I TVG nur zwischen den Mitgliedern der Tarifparteien unmittelbar und zwingend. Das staatliche Recht hingegen wendet sich an alle Rechtsgenossen. Da typischerweise nicht alle Arbeitnehmer Mitglieder einer Gewerkschaft sind, ist der Kreis der von Tarifnormen unmittelbar Betroffenen enger als der Kreis der dem staatlichen Recht Unterworfenen. Hinsichtlich der normunterworfenen Adressaten existiert auch hier ein engerer und ein weiterer Rechtskreis. Wegen der bereits ausführlich dargestellten Gefahr der Aushöhlung der Tarifautonomie durch umfassende staatliche Schutzgesetze kann das Verhältnis dieser beiden Rechtskreise zueinander nur nach dem Grundsatz der Subsidiarität des staatlichen Rechts gelöst werden. Neben diesen verfassungsrechtlichen Gesichtspunkten sprechen auch praktische Erwägungen für die Anwendung des Subsidiaritätsprinzips. Die Tarifvertragsparteien stehen den Fragen der Tarifpolitik gewöhnlich sachnäher gegenüber als der Gesetzgeber. Darüber hinaus können sie ihre Regelwerke meist rascher und umfangreicher an neue Erfordernisse anpassen als der Gesetzgeber 130. Dadurch nehmen die Tarifparteien eine staatsentlastende Funktion wahr131 . Im Grundsatz muß der Konflikt zwischen staatlicher und tariflicher Normsetzungszuständigkeit und das Verhältnis von Gesetzen und Tarifnormen deshalb nach dem Subsidiaritätsprinzip beurteilt werden. 4. Grenzen des Subsidiaritätsprinzips

Die isolierte Betrachtung der Materie Arbeitsrecht läßt andere Aufgaben und Funktionen des Staates unberücksichtigt. Zu klären ist deshalb, ob sich aus diesen Küchenhoff RdA 1959, S. 201, 202. Nipperdey, ArbR II/ 1, S. 395; Preißler, Zwangsschiedsspruch, S. 79; Rommelspacher, Schlichtung, S. 66; Paech, Tarifautonomie, S. 147; Müller, DB 1981, Beilage Nr. 7, S. 1, 11; ders, Arbeitskampf, S. 73, 179; RdA 1988, S. 4, 9, 12; Blomeyer, RdA 1988, S. 88, 89; Schüren/Zachert, ArbuR 1988, S. 245, 249; Zilius, H/K/Z/Z-TVG, Ein!. Rdn. 174; EngelenKefer, ArbuR 1996, S. 329, 330. Für die Aktualität der Tarifverträge sorgt bereits ihre begrenzte Laufzeit. Als der Bundesminister für Justiz (inzwischen a.D.) Schmidt-Jortzig dagegen (wiedereinmal) die Einführung von Gesetzen mit "Verfallsdatum" anregte, stieß er damit auf wenig Verständnis bei seinen Kollegen aus der Politik. 131 Plander, ArbuR 1986, S. 65, 66; Müller, Arbeitskampf, S. 62, 73, 188; ders., RdA 1988, S. 4, 12; Säcker/Oetker, Grundlagen, S. 36; Säcker, ArbuR 1994, S. 1, 3, 6. Zu beachten ist auch, daß die Tarifparteien Normenkonkretisierungen i.d.R. selbst vornehmen. Die Auslegung der staatlichen Nonnen bleibt dagegen gewöhnlich den Gerichten überlassen. Dies führt wegen der langen Verfahrensdauer zu erheblichen Unsicherheitsmomenten. 129

130

C. Staatsgesetzgebungsbefugnis und Tarifautonomie

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Aufgaben und Funktionen des Staates Schranken für die Anwendung des Subsidiaritätsprinzips ergeben.

a) Das Sozialstaatsprinzip (Art. 20/, 281 GG) Das Sozialstaatsprinzip (Art. 20 I, 28 I GG) und die Menschenwürde (Art. GG) verpflichten den Staat in allen Lebensbereichen - also auch auf dem Gebiet des Arbeitsrechts, für einen Ausgleich der sozialen Gegensätze und für eine gerechte Sozialordnung zu sorgen 132 oder anders formuliert, die gesellschaftsadäquate Existenz seiner Bürger zu gewährleisten 133 • Das Sozialstaatsprinzip enthält somit nicht lediglich einen rechtlich substanzlosen Programmsatz 134 sondern begründet normativ verbindliche Direktiven für das gesamte staatliche Handeln 135 • Dies gilt auch in wirtschaftlicher Hinsicht 136. Fehlt es an einer tariflichen Regelung, die den von Art. 20 I, 28 I GG geforderten Schutz bietet, entweder weil überhaupt kein Tarifvertrag besteht oder der bestehende Tarifvertrag nicht genügend Schutz gewährt 137, muß der Staat seine ihm aus dem Sozialstaatsprinzip zugewachsene Verantwortung wahrnehmen. Dies kann durch die Schaffung von Mindestnormen geschehen. Mit diesen nimmt der Staat eine Grenzziehung nach unten 138 vor. Dabei muß der Staat beachten, daß die Mindestsicherung der Arbeitnehmer ausschließlich verfassungsrechtlich - hier durch das Sozialstaatsprinzip - motiviert ist. Nur dann ist sichergestellt, daß die staatlichen Mindestnormen nicht in die durch Art. 9 III GG vorbehaltlos 139 garantierte Tarifautonomie eingreifen. Die 132 Degenhart, Staatsrecht I, Rdn. 354; Schnapp, v.M/K-GG. Art. 20 Rdn. 18; Brockmeyer, S-BIK-GG, Art. 20 Rdn. 44a; Kittner, AK-GG, Art. 20 I l-3 IV Rdn. 22; Jarass, J/P-GG, Art. 20 Rdn. 76 f.; Fechner, RdA 1955, S. 161, 162; Obermayer, RdA 1979, S. 8, 12, 14; Benda, RdA 1979, S. 1, 3; ders., RdA 1981, S. 137, 138; Düwell, ArbuR 1998, S. 149; BVerfGE 5, S. 85, 198; 22, S. 180, 204; 40, S. 121, 133. 133 Hesse, Grundzüge, S. 94, Rdn. 213 f.; Coester, Vorrangprinzip, S. 84; Belling, Günstigkeitsprinzip, S. 163; Schnapp, v.M/K-GG, Art. 20 GG Rdn. 18; Sachs, Sachs-GG, Art. 20 GG Rdn. 29; Stein, ArbuR 1998, S. 1, 3. 134 Zum Sozialstaatsprinzip vgl.: C.III.2. (viertes Kapitel). 135 Butzer, RdA 1994, S. 375, 382; vgl.: C.III.2. (viertes Kapitel). 136 Coester, a. a. 0 .; Belling, a. a. 0.; Müller, Arbeitskampf, S. 205. 137 Nicht eingegangen werden soll auf die Frage, ob ein Tarifvertrag, der keinen verfassungsrechtlich adäquaten Schutz bietet unwirksam ist oder ob er lediglich gegenüber dem staatlichen Recht nachrangig ist. Bei der Lösung dieser Frage kommt es darauf an, inwieweit die Tarifparteien dem Allgemeinwohl verpflichtet sind. 138 Biedenkopf, Grenzen, S. 190; Coester, a. a. 0. 139 Nach h.M. und Rsp. wird die Tarifautonomie durch Art. 9 111 GG schrankenlos geschützt. Nach a.A. soll die Schranke des Art. 9 II GG auch für die Koalitionsfreiheit gelten, vgl. für die Rsp. und h.M.: BVerfGE 92, S. 26, 41 ; Löwer, v.M/K, Art. 9 GG Rdn. 80, a.A.: Höfling, Sachs-GG, Art. 9 GG, Rdn. 126 ff. Butzer. RdA 1994, S. 375, 381, verweist hingegen darauf, daß Art. 9 III l GG ausdrücklich nur die Koalitionsbildung garantiert. Bei der Koalitionsbildung geraten - im Gegensatz zur Koalitionsbetätigung - Rechte Dritter kaum in

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1. Kap.: Die Gesetzgebungskompetenz des Bundes

Mindestnormen sind Ausfluß anderer Verfassungsgüter und beschränken Art. 9 III GG verfassungsimmanent Waren die staatlichen Normen hingegen durch allgemeine Gerechtigkeitserwägungen des Gesetzgebers unterhalb der verfassungsrechtlich relevanten Ebene motiviert, so könnte der Staat seine Normsetzung nicht auf Art. 20 I, 28 I GG stützen. Eine verfassungsimmanente Rechtfertigung läge nicht vor. Die Normen würden in den Schutzbereich der durch Art. 9 III GG geschützten Tarifautonomie eingreifen. Durch allgemeine Gerechtigkeitsvorstellungen motivierte Gesetze erlauben es deshalb nicht, eine Ausnahme vom Subsidiaritätsprinzip zu machen 140. Dagegen schränken aus dem Sozialstaatsprinzip motivierte staatliche Regelungen die Anwendung des Subsidiaritätsprinzips ein 141 . Derartig motivierte staatliche Mindestnormen gehen tariflichen Regelungen, die keinen verfassungsrechtlich adäquaten Schutz bieten, vor.

b) Grundrechte und andere Rechtsgüter mit Verfassungsrang

Neben dem Sozialstaatsprinzip können noch weitere schutzwürdige Rechtsgüter zu einer Durchbrechung des Subsidiaritätsprinzips zwingen. Hierzu sollen die Grundrechte Dritter 142, andere mit Verfassungsrang ausgestattete Rechtsgüter 143 , die aus Art. 109 II GG folgende Verantwortung des Staates für das gesamtwirtschaftliche Gleichgewicht 144, der Schutz überragend wichtiger Gemeinschaftsgüter145 und allgemeine Ordnungsprinzipien 146 zählen. Ließe man alle diese Ausnahmen vom Grundsatz der Subsidiarität zu, so führten die Ausnahmen im Ergebnis zu einem umfassenden Normierungsvorrang des staatlichen Gesetzgebers vor den Koalitionen. Das Subsidiaritätsprinzip wäre umgeGefahr. Deshalb sei die formale These, Art. 9 III GG sei gänzlich schrankenlos, fraglich. Ähnlich bereits: Weber, Koalitionsfreiheit, S. 24 f. 140 Coester, Vorrangprinzip, S. 92; Zachert, NZA 1994, S. 529, 533 f.; Das BVerfG betont in BVerfGE 5, S. 85, 198, es müsse eine "allgemeine Notwendigkeit" bestehen, eine gerechte Sozialordnung herzustellen. 141 Wlotzke, RdA 1963, S. 44, 50; Benda, RdA 1981, S. 137, 142. 142 Für die Literatur vgl. Fußnote 78; BVerfGE 84, S. 212, 228; BAGE 36, S. 131, 137 = AP Nr. I zu § 1 TVG Verhandlungspflicht mit Anm. Wiedemann. 143 vgl. Fußnote 78; BVerfGE 84, S. 212, 228. 144 vgl. Fußnote 75. 145 Für die Literatur vgl. Fußnote 64; BVerfGE 92, S. 26 ff. Zu den überragend wichtigen Gemeinschaftsgütern zählen z. B. der Jugend- und Mutterschutz, vgl. die Beschäftigungsverbote der§§ 3 ff. MuSchG, 38 I JArbSchG und der Behindertenschutz, hierzu auch: BVerwG MDR 1964, S. 1031 ff. Nach dem BVerfG (BVerfGE 92, S. 26, 43) soll grundsätzlich sogar das Interesse des deutschen Außenhandels an einer leistungsfähigen Handelsflotte, die Sicherheit des Schiffsverkehrs und die Beibehaltung des deutschen Sozialversicherungsstandortes ein überragend wichtiges Gemeinschaftsgut darstellen, welches eine Beschränkung des Art. 9 III GG rechtfertigen kann. 146 BAG GS AP Nr. 21 zu§ 616 BGB.

C. Staatsgesetzgebungsbefugnis und Tarifautonomie

71

kehrt. Die Koalitionsfreiheit stünde unter einem Gesetzesvorbehalt 147 . Voraussetzung für eine Beschränkung der Tarifautonomie muß deshalb die ausschließlich verfassungsrechtlich motivierte Aktivität des Gesetzgebers sein 148 . Nur dann liegt eine verfassungsimmanente Beschränkung der Tarifautonomie vor. Die Grundrechte und andere mit Verfassungsrang ausgestattete Rechtsgüter sind ausdrücklich durch das GG geschützt. Sie können die Tarifautonomie deshalb im Gegensatz zu den anderen genannten Rechtsgütern und Prinzipien 149 verfassungsimmanent beschränken. Der dabei auftretende verfassungsrechtliche Konflikt zwischen der durch Art. 9 III GG geschützten Tarifautonomie und anderen durch das GG geschützten Rechtsgütern und Aufgaben des Staates ist nach dem Grundsatz der Einheit der Verfassung und der praktischen Konkordanz unter Beachtung der beiderseitigen Effektivität zu lösen 150. Die verfassungsrechtlich geschützten Rechtsgüter sind dabei einander so zu zuordnen, daß jedes von ihnen an Wirklichkeit gewinnt 151 . Dabei ist zu beachten, daß das GG die unmittelbar in Art. 9 III GG wurzelnde Beeinträchtigung anderer mit Verfassungsrang ausgestatteter Rechtsgüter in Kauf nimmt 152, daß der besonders intensive Schutz einzelner Grundrechte durch den Gesetzgeber diesen mit dem Verdikt des Verfotgens bloßer Gruppeninteressen belegen würde 153 und daß auch verfassungsrechtlich motivierte Aktivitäten des Gesetzgebers die Gefahr einer schleichenden Umkehrung des Subsidiaritätsprinzips in sich bergen.

c) Das Allgemeinwohl und die Gesamtverantwortung des Staates Eine weitere Schranke des Subsidiaritätsprinzips ergibt sich aus dem Allgemeinwohl bzw. der Letzt- und Gesamtverantwortung des Staates 154• Denn das Gemeinwohl zu wahren ist eine staatliche Aufgabe 155 . Es zwingt den Staat, sich um das Wohl seiner Bürger zu sorgen. Letztlich dienen ihm alle staatlichen Eigenschaften und Zuständigkeiten, infolgedessen auch die Normsetzungskompetenz der Tarifvertragsparteien und das Prinzip der Subsidiarität staatlichen Handelns 156. Der 147 Däubler, Tarifvertragsrecht, S. 198, Rdn. 351 ff.; Kempen, ArbuR 1996, S. 336, 341; Kittner, AK-GG, Art. 9 GG Rdn. 70; Stein, ArbuR 1998, S. I, 5. 148 Auch deshalb scheiden die "allgemeinen Gesetze" als Schranke des Art. 9 lii GG aus, so aber: Scholz, Koalitionsfreiheit, S. 335 ff. ; Scholzl Konzen, Aussprerrung, S. 153. 149 So auch: Nipperdey, ArbR II /1, S. 371; Plander, ArbuR 1996, S. 65, 76; Kempen, ArbuR 1996, S. 336, 340. 150 vgl.: Erstes Kapitel C.III.3. und die Nachweise in Fußnote 170. 151 Hesse, Grundzüge, S. 28, Rdn. 72.

152 Plander, ArbuR 1986, S. 65, 76; Müller, RdA 1988, S. 4, 9 f., verweist auf die sozialethische Akzeptanz des Arbeitskampfes. 153 Plander, a. a. 0. 154 Küchenhoff RdA 1959, S. 201, 204; Fratzky, Gesetzgebungskompetenz, S. 185. 155 Küchenhoff RdA 1959, S. 201 , 205.

72

1. Kap.: Die Gesetzgebungskompetenz des Bundes

Staat kann seine Letzt- und Gesamtverantwortung für das Gemeinwohl nicht auf die Tarifvertragsparteien abwälzen 157 . Zur wirklichen Durchsetzung des gemeinen Wohls kann es deshalb erforderlich sein, daß der Staat seine Normsetzungskompetenz auch zu Lasten der Tarifvertragsparteien ausübt, wenn diese das Allgemeinwohl nicht beachten oder gefährden. Dies berechtigt ihn auch, arbeitsrechtliche Gesetze zu erlassen, die durch die Tarifvertragsparteien zu beachten sind 158• Problematisch ist jedoch, daß sich diese Überlegungen nur schwerlich an einer konkreten Verfassungsnorm festmachen lassen. Denn das Allgemeinwohl ist kein verdichtetes Verfassungsgebot 159 . Den Interessen des "ganzen Volkes" sind ausdrücklich nur die Bundestagsabgeordneten verpflichtet (Art. 38 I 2 GG). Zur Begründung des Allgemeinwohls wird deshalb die Gesamtkonzeption des GG bemüht. Damit entfernt man sich sehr weit von greifbaren und handfesten Argumentationshilfen. Dagegen mag man anführen, daß gerade hierin die hohe Kunst der Jurisprudenz besteht. Dies ist sicherlich richtig, aber die eigene Argumentation wird mit zunehmender Entfernung vom Gesetzestext auch stets angreifbarer. Deshalb sollte der zur Wahrung des Allgemeinwohls das Subsidiäritätsprinzip durchbrechende Gesetzgeber stets bemüht sein, Gesetzesvorhaben auf Grundrechte Dritter oder andere mit Verfassungsrang ausgestattete Rechtsgüter zu stützen 160• Dabei muß der Gesetzgeber beachten, daß Art. 9 III 3 GG normalerweise die durch Arbeitskämpfe drohenden Gefährdungen der Gemeinwohlbelange in Kauf nimmt 161 • Eine extensive Auslegung des Begriffs des Allgemeinwohls darf nicht zu einer Umkehrung des Subsidiaritätsprinzips führen. d) Schutzpflicht für Außenseiter?

Zu prüfen ist auch, ob eine etwaige besondere Schutzpflicht des Staates für Außenseiter zu einer weiteren Schranke des Subsidiaritätsprinzips führt 162 • Für Außenseiter gelten Tarifnormen nicht unmittelbar und zwingend. Der Schutz der Tarifverträge kommt ihnen deshalb nicht in derselben Weise wie tarifgebundenen Arbeitnehmern zu gute. Außenseiter sind aber nicht weniger schutzwürdig als gewerkschaftlich organisierte Arbeitnehmer. Dies könnte dafür sprechen, den Staat 156 Die von einigen Staatsdienern zu verantwortenden Steuergeldverschwendungen lassen daran allerdings zweifeln. 157 Fratzky, a. a. 0 . 158 Fratzky, Gesetzgebungskompetenz, S. 186. 159 Kempen, ArbuR 1996, S. 336, 341. 160 Auch das BVerfG spricht ausdrücklich von "grundrechtlich geschützten Gemeinwohlbelangen" vgl.: BVerfGE 92, S. 365, 403; Butzer, RdA 1994, S. 375, 382, meint, Art. 20 und 109 II GG seien die spezielleren Verpflichtungen des Staates gegenüber dem Gemeinwohl. 161 Plander, ArbuR 1986, S. 65, 76; Müller, RdA 1988, S. 4, 9 f., verweist auf die sozialethische Akzeptanz des Arbeitskampfes. 162 soNipperdey, ArbRII/1 , S. 371; Plander, a. a. 0 .; Kempen, ArbuR 1996, S. 336,340.

C. Staatsgesetzgebungsbefugnis und Tarifautonomie

73

in die Pflicht zu nehmen, um auch den Außenseitern einen adäquaten Schutz zuteil werden zu lassen. Diese formale Gleichstellung von Außenseitern und organisierten Arbeitnehmern übersieht jedoch, daß die Außenseiterstellung der nicht organisierten Arbeitnehmer auf ihrem eigenen Entschluß beruht, keiner Gewerkschaft beizutreten. Diese Entscheidung der Außenseiter bringt für diese Arbeitnehmer Vorteile, sie sparen Mitgliedsbeiträge, aber auch Nachteile, das Fehlen des tariflichen Schutzes. Typischerweise hindert die Außenseiter aber niemand, sich den tariflichen Schutz durch Mitgliedschaft in einer Gewerkschaft zu erkaufen. Ihre Entscheidung keiner Gewerkschaft beizutreten, ist Ausfluß ihrer durch Art. 9 III GG geschützten negativen Koalitionsfreiheit 163 • Gesichtspunkte, weshalb der Staat diese Entscheidung durch Schaffung von Schutzgesetzen korrigieren sollte, sind nicht ersichtlich 164. Würden die Außenseiter hingegen einen mit dem tariflichen Schutz vergleichbaren gesetzlichen Schutz - ohne Beitritt zu einer Gewerkschaft und somit ohne Zahlung von Mitgliedsbeiträgen - erhalten, bestünde für viele Arbeitnehmer erheblich weniger Anreiz einer Gewerkschaft beizutreten. Umfassende staatliche Schutzgesetze würden so zu einem Ausbluten der Gewerkschaften und zu einer Aushöhlung der Tarifautonomie führen 165 • Die Schutzwürdigkeit der Außenseiter als solche begründet deshalb keine Schranke des Subsidiaritätsprinzips. e) Zeitliche Zuständigkeit des Staates und Anforderungen an die staatlichen Normen

Wendet man das Subsidiaritätsprinzip mit den soeben dargestellten Schranken konsequent an, so bedeutet dies, daß der Staat seine Gesetzgebungszuständigkeit erst wahrnehmen darf, wenn keine oder nur verfassungsrechtlich unzulängliche tarifliche Regelungen bestehen. Der Staat müßte also zunächst abwarten, ob die Tarifparteien eine den verfassungsrechtlichen Schutzpflichten des Staates entsprechende Regelung treffen. Erst wenn dies nicht erfolgt, wäre der Gesetzgeber zuständig. Diese späte Zuständigkeit des staatlichen Gesetzgebers birgt erhebliche Gefahren für die betroffenen Arbeitnehmer in sich. Sollte das Tarifrecht den Arbeitnehmern nicht den von der Verfassung geforderten Schutz bieten, wären die Arbeitnehmer bis zum lokrafttreten der gesetzlichen Regelung schutzlos. Dieses Ergebnis kann weder befriedigen, noch richtig sein. Ein schutzloser Zustand für Arbeitnehmer muß verhindert werden. Dies kann der Staat nur, wenn er zur Rege163

vgl.: B. (erstes Kapitel).

Plander. a. a. 0., leitet das Erfordernis eines besonderen arbeitsrechtlichen Mindestschutzes für Außenseiter aus den Grundrechten der nicht organisierten Arbeitnehmer ab. Führt jedoch fehlender tariflicher Schutz zur Gefährdung verfassungsrechtlich geschützter Güter der Arbeitnehmer, so ist der Staat, wie bereits dargelegt, unabhängig von der Gewerkschaftszugehörigkeit der betroffenen Arbeitnehmer zum Handeln verpflichtet. Ein besonderes Schutzbedürfnis der Außenseiter besteht nicht. 165 vgl.: Erstes Kapitel C.III.l. und 2. 164

74

1. Kap.: Die Gesetzgebungskompetenz des Bundes

Jung auf dem Gebiet des Arbeitsrechts bereits zeitlich vor und parallel neben den Tarifparteien zuständig ist. Die verfassungsrechtliche Problematik einer zeitlich frühen gesetzlichen Regelung liegt in der präjudizierenden und beeinflussenden Wirkung der staatlichen Normen auf nachfolgend geschlossene Tarifverträge 166• Denn der Staat beeinflußt selbst durch dispositive Gesetze mittelbar das Tarifrecht. Insoweit liegt ein mittelbarer Eingriff in die durch Art. 9 III GG schrankenlos gewährte Tarifautonomie vor167 • Es besteht ein Konflikt zwischen der durch Art. 9 III GG geschützten Tarifautonomie und den durch verschiedene Verfassungsnormen implizierten Schutzpflichten des Staates. Dieser verfassungsrechtliche Konflikt ist sinnvoll nach dem Grundsatz der Einheit der Verfassung und der praktischen Konkordanz unter Beachtung der beiderseitigen Effektivität zu lösen 168• Die verfassungsrechtlich geschützten Rechtsgüter sind dabei einander so zu zuordnen, daß jedes von ihnen an Wirklichkeit gewinnt 169• Wäre ein Vorgreifen des Gesetzgebers vor die Tarifparteien nicht möglich, könnte der Staat seinen verfassungsrechtlichen Schutzpflichten nicht rechtzeitig nachkommen. Dagegen fallt die Beschränkung der Tarifautonomie eher gering aus. Die präjudizierende und beeinflussende Wirkung des staatlichen Rechts ist nicht zwingend, sondern nur möglich. Zumindest soweit dies durch Art. 9 III GG gerechtfertigt ist, können sich die Tarifparteien über das staatliche Recht hinwegsetzen. Bei der Beantwortung der Frage, inwieweit der Staat den Tarifparteien vorgreifen darf, muß es darauf ankommen, wie stark die staatliche Regelung die Tarifautonomie beschränkt. Nicht jede staatliche Regelung tangiert die Tarifautonomie gleich stark. Verschiedene staatliche Regelungen auf dem Gebiet des Arbeitsrechts berühren die Tarifautonomie nur unwesentlich oder sind sogar erforderlich, damit die Tarifpartner ihre grundrechtlich garantierten Kompetenzen effektiv wahrnehmen können. Dies gilt insbesondere für strukturregelnde Normen 170, wie das TVG 171 , BetrVG oder BPersVG. Andere staatliche Regelungen tangieren dagegen die Tarifautonomie erheblich. Dies gilt insbesondere dann, wenn der Staat Bereiche regelt, die herkömmlich unter den Begriff des Kernbereiches der Tarifautonomie subsummiert werden, also Entgelt, Arbeitszeit und Urlaub.

vgl. Ausführungen und Nachweise in den Fußnoten 46 bis 49. vgl.: Fußnoten 46 bis 49 und 183. 168 vgl.: Erstes Kapitel C.III.3. und die Nachweise in Fußnote 170. 169 Hesse, Grundzüge, S. 28, Rdn. 72. 170 Däubler; Mitbestimmung, S. 211 ff.; Kittner; AK-GG, Art. 9 GG Rdn. 71; Butzer; RdA 1994, s. 375, 379. 171 Bereits 1954- in seiner ersten Entscheidung zu Art. 9 III GG- hat das BVerfG festgestellt: "daß ein Tarifvertragssystem im Sinne des modernen Tarifrechts staatlicherseits überhaupt bereitzustellen ist" (BVerfGE 4, S. 96, 106 = AP Nr. 1 zu Art. 9 GG); später: BVerfGE 18, S. 18,26 =AP Nr. 15 zu§ 2 TVG; 20, S. 321, 317 =AP Nr. 24 zu§ 2 TVG; 50, S. 290, 367 ff. = AP Nr. 1 zu § 1 MitBestG mit Anm. Wiedemann. 166 167

D. Konsequenzen für das Recht des Staates

75

Wann eine die Tarifautonomie tangierende staatliche Regelung zulässig ist, kann nur im Einzelfall entschieden werden. Dabei müssen die Bedeutung der staatlichen Schutzpflicht und die Gefahren für die Arbeitnehmer ohne staatliche Regelung gegen die Schwere der Beschränkung der Tarifautonomie durch Wahrnehmung der staatlichen Schutzpflicht gegeneinander abgewogen werden. Grundsätzlich muß das verfassungsrechtlich geschützte Rechtsgut im konkreten Fall einen höheren Stellenwert als die Koalitionsfreiheit genießen, um sich gegen diese durchzusetzen 172. Die Eingriffe des Staates dürfen jedoch nicht weitergehen, als dies zur Herstellung der Konkordanz erforderlich ist 173 • Allgemein läßt sich nur der konkret wenig greifbare Grundsatz aufstellen, die gesetzliche Regelung muß um so eher und umfassender möglich sein, je weniger diese die Tarifautonomie tangiert 174 . Bei der Ausgestaltung der gesetzlichen Regelung muß der Gesetzgeber berücksichtigen, daß dispositive Gesetze die Tarifautonomie weniger stark belasten als einseitig zwingende Gesetze und diese wiederum milder gegenüber zweiseitig zwingenden Gesetzen sind 175 • Mit dem Rang der verfassungsrechtlich geschützten Güter und der steigenden Eingriffsintensität in die Tarifautonomie steigen dabei die Anforderungen an die Sicherheit der Prognose und die Verläßlichkeit der Tatsachenbasis, derer sich der Gesetzgeber bei seiner Einschätzung 176•177 bedient 178.

D. Konsequenzen für das Recht des Staates zur Setzung von Mindestarbeitsbedingungen Grundsätzlich ist der Staat im Aufstellen von Normen im Verhältnis zu den Tarifparteien nur subsidiär zuständig 1• Dieser Grundsatz gilt auch für staatliche MinMayer, ArbuR 1993, S. 309, 315. Butzer, RdA 1994, S. 375,382. 174 Weber, Koalitionsfreiheit, S. 38; Coester, Vorrangprinzip, S. 97. 175 Löwisch, LIR-TVG, Grund!. Rdn. 25; Kempen, ArbuR 1996, S. 334, 340 ff. 176 Das BVerfG erblickt den Unterschied zwischen Ausgestaltungs- und Einschätzungsvorbehalten darin, daß der Gesetzgeber im ersten Fall die Grundrechte "von innen", aus ihrem Wesen heraus begrenzt, während er im zweiten Fall die Grundrechte "von außen" beschränkt (vgl.: BVerfGE 7, S. 377, 404 =AP Nr. 3 zu Art. 12 GG; 13, S. 97, 122). Kritisch zur Rechtsauffassung des BVerfG, wonach es zunächst "Sache des Gesetzgebers ist, die Tragweite der Koalitionsfreiheit dadurch zu bestimmen, daß er die Befugnisse der Koalitionen im einzelnen gestaltet und näher regelt" (BVerfGE 28, S. 295, 306 = AP Nr. 16 zu Art. 9 GG; 50, S. 290, 368 = AP Nr. 1 zu § 1 MitBestG mit Anmerkung Wiedemann; 57, S. 220,248 AP Nr. 9 zu Art. 140 GG; 92, S. 26, 41); Friauf, RdA 1986, S. 188, 190. m Der vom BVerfG zu beachtende Einschätzungs- und Ermessensspielraum des Gesetzgebers bewirkt allerdings, daß praktisch nur gegen offensichtlich unnötige Beschränkungen der Koalitionsfreiheit eingeschritten werden kann (vgl.: Däubler/ Hege, Koalitionsfreiheit, S. 132, Rdn. 275). 178 Butzer; RdA 1994, S. 375, 382. 172 t73

=

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1. Kap.: Die Gesetzgebungskompetenz des Bundes

destarbeitsbedingungen, da diese Teil der staatlichen Normenkette sind. Verschiedene mit Verfassungsrang ausgestattete Rechtsgüter können zu einer Durchbrechung des Subsidiaritätsprinzips führen. Liegt ein Fall der Durchbrechung des Subsidiaritätsprinzips vor, so besteht eine primäre Zuständigkeit des staatlichen Gesetzgebers. Diese muß der Staat nach den soeben entwickelten Grundsätzen wahrnehmen 2 • Führt das Fehlen eines (adäquaten) tariflichen Arbeitnehmerschutzes zum Auftreten unzumutbarer bzw. unbilliger Arbeitsbedingungen, die die wirtschaftliche Existenz der Arbeitnehmer gefahrden, wird die Normsetzung des staatlichen Gesetzgebers primär aus dem Sozialstaatsprinzip motiviert sein. Denn dieses verpflichtet den Staat für eine gerechte Sozialordnung zu sorgen. Seiner in Art. 20 I, 28 I GG begründeten Verpflichtung kann der Staat durch Schaffung von Mindestarbeitsbedingungen nachkommen. Dabei muß der staatliche Normgeber beachten, daß auch Mindestarbeitsbedingungen eine latente Gefahr für die Tarifautonomie darstellen. Soweit keine tarifliche Regelung besteht und die Tarifparteien auch nicht konkret über eine solche verhandeln, besteht das Problem des Verhältnisses von staatlichen Mindestarbeitsbedingungen zum Tarifrecht zunächst nicht. Das staatliche Recht ist das einzige für alle verbindliche Recht. Sollten die Tarifparteien zeitlich nach den staatlichen Mindestarbeitsbedingungen Tarifnormen aufstellen, gehen diese grundsätzlich dem Gesetzesrecht vor3. Dies kann aber nur gelten, soweit das Tarifrecht den Arbeitnehmern den verfassungsrechtlich geforderten Schutz bietet4 . Sollte das zeitlich spätere Tarifrecht den Arbeitnehmern diesen Schutz nicht gewähren, genießt das staatliche Recht den Vorrang vor dem Tarifrecht. Sollte nur eine verfassungsrechtlich unzulängliche tarifliche Regelung vorhanden sein, gehen die staatlichen Mindestarbeitsbedingungen den tariflichen Regelungen vor5 .

vgl.: C.III.3. (erstes Kapitel). vgl.: C.III.4. (erstes Kapitel). 3 vgl.: C.III.3. (erstes Kapitel). 4 vgl.: C.III.4. (erstes Kapitel). s vgl.: C.III.4. (erstes Kapitel). I

2

Zweites Kapitel

Mindestarbeitsbedingungen durch staatlichen Umsetzungsakt Im deutschen Recht finden sich in zahlreichen Gesetzen Vorschriften zur Setzung von Mindestarbeitsbedingungen. Diese lassen sich in zwei Gruppen einteilen, Normen, die unmittelbar verbindliche Mindestarbeitsbedingungen festsetzen und Normen, die lediglich die Rechtsgrundlage für einen staatlichen Umsetzungsakt zur Festsetzung von Mindestarbeitsbedingungen bilden. Normen, die in den erstgenannten Bereich fallen, werden im dritten Kapitel behandelt. In diesem Kapitel werden letztere Normen dargestellt und daraufhin untersucht, inwieweit sie zur Verhinderung bzw. Beseitigung unzumutbarer oder unbilliger Arbeitsbedingungen geeignet sind.

A. Die Allgemeinverbindlicherklärung gemäߧ 5 TVG Ein Tarifvertrag kann gemäß § 5 I TVG für allgemeinverbindlich erklärt werden. Rechtsfolge ist, daß die Rechtsnormen des für allgemeinverbindlich erklärten Tarifvertrages in seinem Geltungsbereich auch die Arbeitsverhältnisse der bisher nicht tarifgebundenen Arbeitgeber und Arbeitnehmer erfassen (§ 5 IV TVG). Zu klären ist, inwieweit die Allgemeinverbindlicherklärung nach § 5 I TVG zur Verhinderung bzw. Beseitigung unzumutbarer und unbilliger Arbeitsbedingungen geeignet ist. Hierzu wird zunächst auf die Voraussetzungen der Allgemeinverbindlicherklärung eingegangen 1 •

I Nicht eingegangen wird auf die umstrittene Frage der Rechtsnatur der Allgemeinverbindlicherklärung. Zur Frage der Rechtsnatur der Allgemeinverbindlicherklärung vgl.: Hueck/Nipperdey, ArbR II 1, § 34 II, S. 658 ff.; Nikisch, ArbR II, § 87, S. 492 ff.; Zöllner; DB 1967, S. 334 ff.; Reichet, BArbBI 1969, S. 359; Herschel, RdA 1983, S. 162 ff.; Wiedemann, Anmerkung zu BAG AP Nr. 16, 17 zu§ 5 TVG;Ansey/Koberski, ArbuR 1987, S. 230, 231 ff.; Backhaus/Wenner; DB 1988, S. 115, 116 ff.; Schwedes, Rechtsnatur, S. 53 ff.; May, Zulässigkeit, S. 93 ff.; Däubler; Tarifvertragsrecht, S. 549 ff., Rdn. 1282 ff.; Wonneberger; Funktionen, S. 115 ff.; Schaub, ArbRHB, § 207 IV, S. 1734; Wiedemann/Stumpf, TVG, § 5 Rdn. 9 ff.; Kempen, H/K/Z/Z-TVG, § 5 Rdn. 27 ff.; Rieble, LIR-TVG, § 5 Rdn. 53; Koberski/Sahl/Hold, AEntG, § 1 Rdn. 47 ff.; BVerfG AP Nr. 15 zu§ 5 TVG; BAG AP Nr. 12 zu§ 5 TVG.

78

2. Kap.: Mindestarbeitsbedingungen durch staatlichen Umsetzungsakt

Formale Voraussetzung der Allgemeinverbindlicherklärung durch den Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung (§ 5 I 1 1. HS TVG) oder die oberste Arbeitsbehörde eines Landes (§ 5 VI TVG) ist ein Antrag einer Tarifvertragspartei auf Allgemeinverbindlicherklärung und das positive Votum des Tarifausschusses. Materiell ist erforderlich, daß die tarifgebundenen Arbeitgeber nicht weniger als 50% der unter den Geltungsbereich des Tarifvertrages fallenden Arbeitnehmer beschäftigen (§ 5 I 1 Nr. I TVG) und die Allgemeinverbindlicherklärung im öffentlichen Interesse geboten ist(§ 5 I I Nr. 2 TVG). Von den Voraussetzungen der Nummern I und 2 kann abgesehen werden, wenn die Allgemeinverbindlicherklärung zur Behebung eines sozialen Notstandes erforderlich erscheint (§ 5 I 2 TVG).

I. Formelle Voraussetzungen 1. Tarifvertrag

Voraussetzung der Allgemeinverbindlicherklärung ist zunächst ein wirksamer Tarifvertrag. Fehlt ein solcher, z. B. wegen Verstoßes gegen formelles oder materielles Recht, scheitert die Allgemeinverbindlicherklärung bereits am fehlenden Bezugsobjekt Sind einzelne Normen eines Tarifvertrages unwirksam, so erlangen sie auch nicht durch eine etwaige Allgemeinverbindlicherklärung Wirksamkeit2 . Nicht möglich ist es, die für allgemeinverbindlich zu erklärenden Tarifbestimmungen inhaltlich abzuändern 3 . 2. Antrag

Erforderlich ist weiterhin ein Antrag einer Tarifvertragspartei auf Allgemeinverbindlicherklärung. Die Allgmeinverbindlicherklärung darf nicht von Amts wegen ausgesprochen werden4 . 3. Tarifausschuß

Über diesen Antrag muß dann im Tarifausschuß Einvernehmen erzielt werden. Dieses besteht, wenn ein die Allgemeinverbindlichkeit bejahender Beschluß des 2 Wiedemann/Stumpf, TVG, § 5 Rdn. 19 ff.; Rieble, LIR-TVG, § 5 TVG Rdn. 32; Kempen, H/K/Z/Z-TVG, § 5 Rdn. 12. 3 Umstritten ist, ob einzelne Normen oder Teile eines Tarifvertrages für allgemeinverbindlich erklärt werden können- vgl.: Wiedemann/Stumpf, TVG, § 5 Rdn. 22; Ansey/Koberski, ArbuR 1987, S. 230, 233; Wiedemann, RdA 1987, S. 262, 264; Kempen, H/K/Z/Z-TVG, § 5 Rdn. 12 f. 4 Goldschmidt, BArbB11950, S. 14, 16; Ringer; ArbuR 1953, S. 44, 45; Schaub, ArbRHB, § 207 II 2, S. 1732; Däubler; Tarifvertragsrecht, S. 541, Rdn. 1257; Wiedemann/Stumpf, TVG, § 5 TVG Rdn. 35; Rieble, LIR-TVG, § 5 Rdn. 57; Kempen, H/K/Z/Z-TVG, § 5 Rdn. 17.

A. Die Allgemeinverbindlicherklärung gemäß § 5 TVG

79

Tarifausschusses mit absoluter Stimmenmehrheit - also mit mindestens vier Stimmen- vorliegt5 . Eine Allgemeinverbindlicherklärung ohne Zustimmung des Tarifausschusses ist nicht möglich. Vor der Entscheidung über den Antrag ist gemäß § 5 II TVG6 den von der Entscheidung betroffenen Arbeitgebern und Arbeitnehmern, den am Ausgang interessierten Gewerkschaften und Vereinigungen von Arbeitgebern und den betroffenen obersten Arbeitsbehörden der Länder Gelegenheit zur schriftlichen Stellungnahme sowie zur Äußerung in einer mündlichen und öffentlichen Verhandlung geben werden. 4. Der Minister bzw. die oberste Arbeitsbehörde

Die Allgemeinverbindlicherklärung erfolgt allerdings nicht durch den Tarifausschuß, sondern durch den Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung oder die oberste Arbeitsbehörde eines Landes. Diese sind an das Votum des Tarifausschusses nur in eine Richtung gebunden. Die Allgemeinverbindlichkeit kann nicht gegen das Votum des Ausschusses erklärt werden. An ein befürwortendes Votum ist der Bundesminister hingegen nicht gebunden. Liegt ein solches vor, nimmt der Bundesminister oder die zuständige oberste Landesbehörde eine selbständige Prüfung des Antrages vor und trifft eine Entscheidung nach pflichtgemäßen Ermessen7·8.

5. Keine vorrangige Tarifbindung

Der für allgemeinverbindlich erklärte Tarifvertrag erfaßt nur Arbeitsverhältnisse (Arbeitgeber), die keiner vorrangigen Tarifbindung unterliegen. Dieses ungeschriebene Tatbestandsmerkmal folgt aus der positiven Koalitionsfreiheit (Art. 9 III GG)9 und der Rechtsprechung des BAG zur Tarifkonkurrenz und zur Tarifpluralität10. Das BAG löst trotz verbreiteter Kritik im Schrifttum 11 beide Fallgruppen s Däubler/ Hege, Tarifvertragsrecht, S. 165, Rdn. 429; Schaub, ArbRHB, § 207 I1I 3, S. 1733; Wiedemann/Stumpf, TVG, § 5 Rdn. 48; Kempen, H/K/Z/Z-TVG, § 5 Rdn. 18. 6 Vgl. auch den insoweit inhaltsgleichen § 7 MindArbBG- C.III.3. (erstes Kapitel). 7 Goldschmidt, a. a. 0.; Ringer, a. a. 0.; Nikisch, ArbR II, § 88, S. 504; Etzel, NZA 1987, Beilage 1, S. 19, 20; Däubler/Hege, a. a. 0 .; Schaub, ArbRHB, § 207 II 5, S. 1733, III 3, S. 1357; Wiedemann/Stumpf, TVG, § 5 Rdn. 50 f.; Wiedemann, RdA 1987, S. 262, 265, 267; Ansey/Koberski, ArbuR 1987, S. 230, 234; Kempen, H/K/Z/Z-TVG, § 5 Rdn. 18; Koberski/Sah// Hold, AEntG, § 1 Rdn. 57; Kretz, AEntG, C Rdn. 34; BAG AP Nr. 12, 25 zu§ 5 TVG; BVerwG AP Nr. 23 zu § 5 TVG. s Vgl. auch den insoweit inhaltsgleichen § 3 I MindArbBG - C.III.2. (erstes Kapitel). 9 vgl.: B. (erstes Kapitel). 10 BAG AP Nr. 3, 4, 11, 13, 16,20 zu§ 4 TVG Taritkonkurrenz.

80

2. Kap.: Mindestarbeitsbedingungen durch staatlichen Umsetzungsakt

nach dem Grundsatz der Tarifspezialität Der speziellere Tarifvertrag geht dem allgemeineren vor 12, sofern die Tarifparteien nicht etwas anders vereinbart haben 13 • Spezieller ist der Tarifvertrag, der "den besonderen Bedürfnissen des Betriebes und in ihm beschäftigten Arbeitnehmer am meisten entspricht" 14. Dies ist im Zweifel der Tarifvertrag, der nach seinem räumlichen, fachlichen und persönlichen Geltungsbereich dem Betrieb am nächsten steht 15 . Bei der Konkurrenz eines Yerbaudstarifvertrages und eines Firmentarifvertrages führt das Grundsatz der Tarifspezialität typischerweise zum Vorrang des Firmentarifvertrages 16.

II. Die Voraussetzungen gemäß § 5 I 1 TVG 1. Das Quorum des § 5 I 1 Nr. 1 TVG

Gemäß § 5 I I Nr. I TVG setzt die Allgemeinverbindlicherklärung grundsätzlich voraus, daß die tarifgebundenen Arbeitgeber mindestens 50% der unter den räumlichen, fachlichen und persönlichen Geltungsbereich des Tarifvertrages fallenden Arbeitnehmer beschäftigen 17 • Für das Quorum ist somit allein die Tarifbindung der Arbeitgeber maßgeblich. Unerheblich ist, ob die Arbeitnehmer tarifgebunden sind 18 . Die 50% Klausel ist bei Firmentarifverträgen stets erfüllt, da der tarifgebundene Arbeitgeber alle unter den Geltungsbereich des Tarifvertrages fallenden 11 Nach Meinung einiger Autoren sind nur die Fälle der Tarifkonkurrenz, nicht jedoch die Fälle der Tarifpluralität nach dem Prinzip der Tarifeinheit zu lösen. Diesem Streitstand wird im Rahmen dieser Arbeit aber nicht nachgegangen. 12 BAG AP Nr. 11, 13, 16 zu § 4 TVG Tarifkonkurrenz; vgl. auch: Junker/Wichmann, NZA 1996, S. 505,509. 13 Schaub, ArbRHB, § 203 VII 2.a., S. 1331; Junker/Wichmann, a. a. 0. 14 BAG AP Nr. 4 zu§ 4 TVG Tarifkonkurrenz. 15 BAG AP Nr. 20 zu § 4 TVG Tarifkonkurrenz; Junker/Wichmann, a. a. 0.; Schaub, ArbRHB, § 203 VII 4, S. 1332. 16 Junker/Wichmann, a. a. 0.; Wiedemann/Stumpf, TVG, § 4 Rdn. 165; Löwisch/Rieble, TVG, Grund!., Rdn. 21; Schaub, a. a. 0. 17 Mit der 50% Klausel trägt der Gesetzgeber dem Wettbewerbsschutz Rechnung. Die durch die Allgemeinverbindlicherklärung eintretende Wettbewerbsbeschränkung wird nur als erträglich angesehen, wenn der betroffene Arbeitsmarkt zumindest gleichgewichtig von organisierten und nichtorganisierten Arbeitgebern bestimmt wird. Zudem soll vermieden werden, daß die tarifgebundenen Arbeitgeber, soweit sie nur eine Minderheit der Arbeitnehmer beschäftigen, die "Außenseiterarbeitgeber" majorisieren können. vgl.: Ansey/Koberski, ArbuR 1987, S. 230, 232; Däubler, Tarifvertragsrecht, S. 539, Rdn. 1252; Rieble, LIR-TVG, § 5 Rdn. 34. Das Quorum ist im Unterschied zu § 19 I 1 HAG, vgl.: B.l.l. (zweites Kapitel), streng nach dem zahlenmäßigen Verhältnis der von den tarifgebundenen Arbeitgebern und den Außenseiterarbeitgebern beschäftigten Arbeitnehmer zu ermitteln. 18 Kraegeloh, BB 1952, S. 90, 91; Reiche[, BArbBl 1969, S. 359, 360; Etzel, a. a. 0 .; Däubler, a. a. 0 .; Wonneberger, Funktionen, S. 66 ff.; Rieble, LIR-TVG, § 5 Rdn. 33; Koberski/Sahl/Hold, AEntG, § 1 Rdn. 57; Kretz, AEntG, C Rdn. 31.

A. Die Allgemeinverbindlicherklärung gemäß § 5 TVG

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Arbeitnehmer beschäftigt. Bei Verbandstarifverträgen ist bereits die exakte Feststellung, wieviele Arbeitnehmer die organisierten Arbeitgeber beschäftigen schwierig. Fast unmöglich ist es, die genauen Beschäftigtenzahlen der nichtorganisierten Arbeitgeber zu ermitteln. Der Bundesminister für Arbeit ist deshalb im Zweifel auf eine sorgfaltige Schätzung des Verhältnisses der beiden Gruppen angewiesen19.

2. Das öffentliche Interesse des§ 5 I 1 Nr. 2 TVG Die Allgemeinverbindlicherklärung muß im öffentlichen Interesse geboten sein

(§ 5 I 1 Nr. 2 TVG). Eine allgerneine Definition des öffentlichen Interesses läßt

sich kaum finden 20. Es handelt sich um einen unbestimmten Rechtsbegriff, der wie Häberle 21 gezeigt hat, in mannigfacher Form in Gesetzgebung und Rechtsprechung auftaucht und weder von der Sache her, noch durch gesetzliche Präzisierung eindeutig bestimmt ist22 und einem fortlaufenden Wandel unterliegt23 .

Um uns einer Konkretisierung des Begriffes des öffentlichen Interesses anzunähern, ist es hilfreich über eine Zweckbestimmung des Institutes der Allgerneinverbindlicherklärung eine teleologische Interpretation des Begriffs des öffentlichen Interesses zu erhalten. Ein öffentliches Interesse an einer Allgerneinverbindlicherklärung wird zur Sicherung und Erhaltung der Tarifautonomie und der Tarifsetzungsrnacht der Koalitionen gegenüber Unterwanderungstendenzen durch Außenseiter bejahr24 . Aber nicht nur die Koalitionen, auch ihre Mitglieder sollen vor Lohndruckerei und Schmutzkonkurrenz geschützt werden25 . Weiterhin wird die Sicherung bzw. Schaffung von sozial angemessenen Arbeitsbedingungen für Außen19 Goldschmidt, BArbB11950, S. 14, 16; Kraegeloh, BB 1952, S. 90, 91; Reiche!, a. a. 0.; Etzel, a. a. 0 .; Däubler/ Hege, Tarifvertragsrecht, Rdn. 559; Däubler; a. a. 0 .; Ansey / Koberski, ArbuR 1987, S. 230, 233; Wonneberger; Funktionen, S. 68; Schaub, ArbRHB, § 207 II 4, S. 1732; Kempen, H/K/Z/Z-TVG, § 5 Rdn. 14; Rieble, LIR-TVG, § 5 Rdn. 33 ff. ; Kretz, a. a. 0.; BAG AP Nr. 16 zu § 5 TVG; BAG AP Nr. 29 zu § 2 TVG; gegen eine Schätzung: Wiedemann, Anmerkung zu BAG AP Nr. 16, 17 zu § 5 TVG. 20 Reiche[, BArbB11969, S. 359, 362; v.Hoyningen-Huene, DB 1986, S. 1909, 1910; Wonneberger; Funktionen, S. 69. 21 Häberle, Öffentliches Interesse, S. 32 ff., 240 ff. 22 v.Hoyningen-Huene, a. a. 0 . 23 Reichel, BArbBl 1969, S. 359, 360; Ansey/ Koberski, ArbuR 1987, S. 230, 232. 24 Kraegeloh, BB 1952, S. 90, 91 ; Kirchner; ArbuR 1959, S. 295, 296; Wiedemann, RdA 1987, S. 262, 266 f.; Wonneberger; Funktionen, S. 82 ff., 89, 102; Däubler; Tarifvertrasgrecht, S. 537, Rdn. 1244; BVerfG AP Nr. 15 zu§ 5 TVG = BVerfGE 44, S. 322, 342. 2s Wittig, BArbBI 1950, S. 227; Nikisch, ArbR II, § 88 I 3, S. 505; Stahlhacke, NZA 1988, S. 344, 345; Kirchner; a. a. 0.; Reichel, BArbBl 1969, S. 359, 361 f. ; v.Hoyningen-Huene, DB 1986, S. 1909, 1910; Wiedemann, RdA 1987, S. 262, 265; Wonneberger; Funktionen, S. 82 ff.; Däubler; a. a. 0.; Wiedemann/Stumpf, TVG, § 5 Rdn. 2; OVG Ber1in AP Nr. 3 zu § 5 TVG; Soltwedel, Regulierungen, S. 200. 6 Andelewski

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2. Kap.: Mindestarbeitsbedingungen durch staatlichen Umsetzungsakt

seiter26 oder generell die Schaffung gleichartiger Arbeitsbedingungen 27 anerkannt. Auch soll die Allgemeinverbindlicherklärung zum Wettbewerbsschutz von tarifgebundenen Arbeitgebern vor Außenseiterarbeitgebern dienen können28 . In der Sicherung der Funktionsfähigkeit gemeinsamer Einrichtungen wird ebenfalls ein legitimer Zweck erblickt29 . Auch sollen die Umsetzung bzw. Sicherung bestimmter Vorgaben oder Interessen des Gesetzgebers30 und die Sicherung von Belangen der Allgemeinheit (sog. sozialpolitische und-staatsbezogene Funktionen)31 einen legitimen Zweck darstellen. Weiterhin wird der Allgemeinverbindlicherklärung eine gewisse Ordnungsfunktion (Gesetzesersatz) zugeschrieben 32• Die hier dargestellten Zweckrichtungen der Allgemeinverbindlicherklärung sind im einzelnen zum Teil umstritten 33 . Aber selbst, wenn man sie anerkennt, können 26 Wittig, a. a. 0.; Ringer, ArbuR 1953, S. 44, 46; ders., ArbuR 1959, S. 289, 291; Kirchner, ArbuR 1959, S. 295, 296 f.; Hueck!Nipperdey, ArbR II 1, § 35, S. 678; Nikisch, a. a. 0.; Reiche/, a. a. 0.; Wiedemann, RdA 1987, S. 262, 265 ff.; Etzel, NZA 1987, Beilage 1, S. 19, 21; Wonneberger, Funktionen, S. 102; Däubler, a. a. 0.; Schaub, ArbRHB, § 207 115, S. 1732; Rieble, L/R-TVG, § 5 Rdn. I f.; BVerfG, a. a. 0.; BVerwG NZA 1989, S. 364, 367; Koenigs, OB 1997, S. 225 f. 27 Däubler/ Hege, Tarifvertragsrecht, S. 164 Rdn. 426; Schaub, a. a. 0.; differenzierend: Wonneberger, Funktionen, S. 81 ff.; a.A.: Ringer, ArbuR 1959, S. 289, 291; Kirchner, ArbuR 1959, S. 295, 297. 28 Kraegeloh, a. a. 0.; Kirchner, ArbuR 1959, S. 295, 296 f.; Reiche/, a. a. 0 .; Ansey/ Koberski, ArbuR 1987, S. 230, 232 f.; Wonneberger, Funktionen, S. 83 f.; Koenigs, a. a. 0.; Kempen, H/K/Z/Z-TVG, § 5 Rdn. 4 ff.; Rieble, L!R-TVG, § 5 Rdn. 4 ff.; differenzierend: Wiedemann, RdA 1987, S. 262, 265; a.A.: v.Hoyningen-Huene, a. a. 0 .; Etzel, a. a. 0 .; Nakken, WUW 1988, S. 475,483 f.; Schaub, a. a. 0.; Kretz, AEntG, C Rdn. 35; BAG AP Nr. 16 zu§ 5 TVG. 29 Ringer, a. a. 0.; Wiedemann, RdA 1987, S. 262, 266; Ansey/Koberski, ArbuR 1987, S. 230, 233; Däubler, a. a. 0.; Kempen, H/K/Z/Z-TVG, § 5 Rdn. 15; BAG AP Nr. 25 zu§ 5 TVG; differenzierend: Wittig, BArbBII950, S. 227, 228; Reichel, BArbBII969, S. 359, 362; Wonneberger, Funktionen, S. 92 ff., 102; Rieble, LIR-TVG, § 5 Rdn. 9 f.; umfassend: Bötticher, Die gemeinsamen Einrichtungen der Tarifvertragsparteien. 30 Ansey/Koberski, a. a. 0 .; Wiedemann, RdA 1987, S. 262,266 f.; Rieble, LIR-TVG, § 5 Rdn. 2; Kempen, H/K/Z/Z-TVG, § 5 Rdn. 15; a.A.: Wonneberger, Funktionen, S. 97 ff. 31 Wittig, BArbBI 1950, S. 227; v.Hoyningen-Huene, a. a. 0.; Wiedemann, RdA 1987, S. 262, 265; Wiedemann/Stumpf, TVG, § 5 Rdn. 3; Kempen, H/K/Z/Z-TVG, § 5 Rdn. 15; a.A.: Wonneberger, Funktionen, S. 101. 32 v.Hoyningen-Huene, a. a. 0.; Wiedemann!Stumpf, TVG, § 5 Rdn. 4; Rieble, L/R-TVG, § 5 Rdn. 3; a.A.: Wonneberger, Funktionen, S. 100. 33 Auf die einzelnen Streitstände kann im Rahmen dieser Arbeit nicht eingegangen werden. Allgemein anerkannt ist jedoch, daß die Allgemeinverbindlicherklärung im öffentlichen Interesse geboten ist, wenn die Gefahr besteht, daß Außenseiter die tariflichen Arbeitsbedingungen massiv unterbieten (vgl.: Nachweise in den Fußnoten 24, 25) und wenn die Allgemeinverbindlicherklärung erforderlich ist, um Mindestarbeitsbedingungen für Außenseiter zu setzen (vgl.: Nachweise in Fußnote 26). Eine Allgemeinverbindlicherklärung mit dem Zweck der Setzung von Mindestarbeitsbedingungen und der Verhinderung bzw. Beseitigung unzumutbarer oder unbilliger Arbeitsbedingungen wird primär durch eine dieser beiden Zweckrichtungen motiviert sein. Die Allgemeinverbindlicherklärung von Tarifverträgen über gemeinsame Einrichtungendürfte i.d.R. heute nicht mehr durch das Ziel der Setzung von Min-

A. Die Allgemeinverbindlicherklärung gemäß § 5 TVG

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diese Motive allein den Ausspruch der Allgemeinverbindlicherklärung noch nicht automatisch rechtfertigen. Bei der Allgemeinverbindlicherklärung sind nicht nur Partikularinteressen, sondern auch davon unabhängige und möglicherweise gegenläufige Allgemeininteressen zu beriicksichtigen34• Deshalb sind bei der Klärung der Frage, ob (im Einzelfall) ein öffentliches Interesse an einer Allgemeinverbindlicherklärung eines Tarifvertrages vorliegt, die unterschiedlichen Interessen der verschiedenen Gruppen, die zusammen erst die Allgemeinheit bilden, zu berücksichtigen und gegeneinander abzuwägen35 • Besonders zu beachten sind hierbei die Wertentscheidungen der Verfassung und die Grundrechte Dritter36. Eine besondere Rolle spielen die Interessen und Grundrechte der nichtorganisierten Arbeitnehmer und Arbeitgeber. Sie haben ein Schützenswertes Interesse, nicht von den Wirkungen eines Tarifvertrages erfaßt zu werden37• Das Recht auf negative Koalitionsfreiheihet wird durch Art. 9 III GG garantiert38 und liefe praktisch leer, wenn die nichtorganisierten Arbeitnehmer und Arbeitgeber, zwar keiner Koalition beitreten müßten, aber von den Regelungen der Tarifpartner dennoch erfaßt werden könnten39• Das öffentliche Interesse an der Allgemeinverbindlicherklärung muß deshalb so gewichtig sein, daß es das Interesse der Nichtorganisierten, nicht einer Tarifbindung zu unterfallen, überwiegt40. Grundsätzlich gilt auch hier, daß unter dem Gesichtspunkt der Einheit der Verfassungsordnung nach dem Prinzip der praktischen Konkordanz eine Optimierung der geschützten Rechtsgüter anzustreben ist41 • Die für allgemeinverbindlich zu erklärenden Regelungen müssen nicht allen Gruppen der Gesellschaft zu gute kommen. (Dies ist fast unmöglich.) Ausreichend destarbeitsbedingungen motiviert sein. Dies gilt nicht für den klassischen Bereich der Sozialkassen im Baugewerbe. Hier werden z. B. durch die Verkürzung oder Abschaffung der Wartezeit bis zur Entstehung eines Urlaubsanspruches (§ 4 BUriG) echte Mindestarbeitsbedingungen geschaffen. 34 Wittig, BArbBI 1950, S. 227; Kirchner, ArbuR 1959, S. 292, 298; Reichet, BArbBI 1969, S, 359, 362 ff.; Wiedemann, Anmerkung zu BAG AP Nr. 16, 17 zu§ 5 TVG; ders., RdA 1987, S. 262, 266; Wonneberger, Funktionen, S. 81 ff. 35 v.Hoyningen-Huene, a. a. 0.; Riebte, L/R-TVG, § 5 Rdn. 38. 36 v.Hoyningen-Huene, a. a. 0.; Stahthacke, NZA 1988, S. 344, 345. 37 Heinze, DB 1996, S. 729, 731 ; Koenigs, DB 1997, S. 225, 226; May, Zulässigkeit, S. 117 ff., 147 f.; Wonneberger, Funktionen, S. 82, 84 ff.; Wonneherger leitet die Freiheit der Außenseiter, von einer Einbeziehung in die tarifliche Normsetzung verschont zu bleiben, allerdings aus Art. 2 I GG her. 38 vgl.: B. (erstes Kapitel). 39 May, a. a. 0., hält deshalb die Allgemeinverbindlicherklärung wegen Verstoßes gegen die negative Koalitionsfreiheit der Außenseiter für verfassungswidrig. 40 Reichet, TVG, § 5 Rdn. 19c; v.Hoyningen-Huene, DB 1986, S. 1909, 1911; Koenigs, a. a. 0 .; vgl.: auch die Abwägungen von Wonneberger, Funktionen, S. 84 ff. 41 vgl.: Erstes Kapitel: C.III.3. (Nachweise in Fußnote 170), C.III.4.b. (Nachweise in Fußnote 195) und C.III.4.e. (Nachweise in Fußnote 213). Speziell für den vorliegenden Sachverhalt: Wonneberger, Funktionen, S. 91. 6*

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2. Kap.: Mindestarbeitsbedingungen durch staatlichen Umsetzungsakt

für die Annahme eines öffentlichen Interesses an der Allgemeinverbindlicherklärung ist, daß die Tarifregelungen bestimmten Gruppen zu gute kommen und daß deren Förderung im Interesse der Allgemeinheit liegt42 . Die schutzzweckbezogenen Vorteile der Allgemeinverbindlicherklärung müssen jedoch ihre Nachteile überwiegen43 . Wann konkret ein öffentliches Interesse an einer Allgemeinverbindlicherklärung zu bejahen ist, läßt sich nur im Einzelfall entscheiden. Die Verfolgung eines billigenswerten Zweckes stellt jedoch ein Indiz für das Vorliegen eines öffentlichen Interesses dar. Als sicher kann hier nur gelten, daß ein öffentliches Interesse nicht erst beim Vorliegen eines sozialen Notstandes i.S.v. § 5 I 2 TVG gegeben ist44. Sonst wäre § 5 I 2 TVG, bei dessen Vorliegen je nach Betrachtungsweise ein öffentliches Interesse nicht erforderlich oder stets impliziert ist45 , überflüssig. Zur Verhinderung oder Bekämpfung unzumutbarer Arbeitsbedingungen dürfte ein öffentliches Interesse an der Allgemeinverbindlicherklärung eines Tarifvertrages stets vorliegen. Ein sozialer Staat (Art. 20 I, 28 I GG) kann es nicht hinnehmen und tatenlos zusehen, wenn Teile der Gesellschaft unter unzumutbaren Arbeitsbedingungen leiden und dahinvegetieren. Ob ein öffentliches Interesse auch zur Verhinderung oder Bekämpfung unbilliger Arbeitsbedingungen zu bejahen ist, hängt vom Einzelfall ab. Sicherlich sind unbillige Arbeitsbedingungen nicht wünschenswert. Es wird auch vertreten, daß es legitimer Zweck der Allgemeinverbindlicherklärung sei, gleichartige Arbeitsbedingungen herzustellen 46. Folgt man dieser Ansicht, so ist auch die Verhinderung oder Beseitigung unbilliger Arbeitsbedingungen von Außenseitern, die unter den vergleichbaren Arbeitsbedingungen tarifgebundener Arbeitnehmer liegen, im öffentlichen Interesse geboten. Berücksichtigt werden muß jedoch auch, daß gerade in Zeiten eines Arbeitskräfteüberangebotes ein Interesse der Außenseiter besteht, nicht arbeitslos zu werden oder zu bleiben, sondern zu untertariflichen ggf. auch zu unbilligen Arbeitsbedingungen zu kontrahieren47. Dieses Recht ist Ausfluß der Vertragsfreiheit (Art. 2 I GG) und der negativen Koalitionsfreiheit (Art. 9 III GG) und kann den Außenseitern nicht ohne Hinzutreten weiterer Gründe verwehrt werden48 . Die privatautonome Gestaltungsfreiheit der Arbeitsvertragsparteien besitzt grundsätzlich Vorrang vor der kollektiven Privatautonomie der Koalitionen und der Normsetzungsmacht des Staates49 . v.Hoyningen-Huene, a. a. 0. Rieble, L/R-TVG, § 5 Rdn. 38. 44 Wiedemann, RdA 1987, S. 262, 266; Däubler; Tarifvertragsrecht, S. 540, Rdn. 1253; Kempen, H/K/Z/Z-TVG, § 5 Rdn. 13; Rieble, L/R-TVG, § 5 Rdn. 40. 45 Ringer; ArbuR 1953, S. 44, 46; Däubler; Tarifvertragsrecht, S. 540, Rdn. 1254; Wiedemann/Stumpf, TVG, § 5 Rdn. 32; Kempen, H/K/Z/Z-TVG, § 5 Rdn. 16; Rieble, L/R42 43

TVG, § 5 Rdn. 40. 46 Vgl.: Nachweise in Fußnote 26. 47 Vgl.: Rieble, L/R-TVG, § 5 Rdn. 93; Koenigs, a. a. 0. 48 Vgl.: Kirchner; ArbuR 1959, S. 292, 297 f. 49 Heinze, DB 1996, S. 729,731.

A. Die Allgemeinverbindlicherklärung gemäß § 5 TVG

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111. Der soziale Notstand des§ 5 I 2 TVG Der Begriff des sozialen Notstandes ist im Gesetz nicht näher erläutert. Er bedarf daher der Auslegung. Aus der Entstehungsgeschichte folgt, daß die Tatbestandsalternative des sozialen Notstandes 1952 eingefügt wurde, um auf die damaligen Verhältnisse in der Landwirtschaft zu reagieren50. Diese waren in nicht unerheblichem Umfang durch ein unzureichendes Lohnniveau der Arbeitnehmer und eine einsetzende Landflucht der Bevölkerung gekennzeichnet. Wegen des geringen Organisationsgrades der Arbeitgeber war die 50% Quote zudem häufig nicht erfüllt51, so daß eine Allgemeinverbindlicherklärung gemäߧ 5 I 1 TVG nicht möglich war. Eine Allgemeinverbindlicherklärung eines Tarifvertrages wegen sozialen Notstandes wurde bis heute jedoch noch nie ausgesprochen52. Deshalb liegt keine Rechtsprechung zu dieser Frage vor. In der Literatur wird ein sozialer Notstand angenommen, wenn die Arbeitnehmerentgelte das Sozialhilfeniveau (erheblich) unterschreiten 53 . Eine Präzisierung des Begriffs des sozialen Notstandes wird auch anband von § 1 II lit. b MindArbBG vorgenommen 54. Dies erscheint sinnvoll, da beide Regelungen nahezu zeitgleich ergangen sind und den gleichen Regelungszweck verfolgen 55 . Demnach liegt ein sozialer Notstand vor, wenn die in einer Branche gewährten Arbeitsbedingungen zur Befriedigung der notwendigen sozialen und wirtschaftlichen Bedürfnisse der Arbeitnehmer nicht ausreichen56 oder sonstige Arbeitsbedingungen eine unsoziale Ausbeutung oder Gefahr der Arbeitnehmer darstellen57 . Ein sozialer Notstand kann sich aber auch aus überindividuellen Gesichtspunkten ergeben, z. B. aus der Störung der sozialen Ordnung oder aus sozialem Dumping58 . Der Meinung, daß bereits erhebliche Unterschiede der materiellen Arbeitsbedingungen einer Branche im Vergleich zu anderen Wirtschaftsbereichen ausreichen, 50 vgl.: BT-Ds I Nr. 2396; Nikisch, ArbR II, § 88, S. 505; Wonneberger, Funktionen, S. 103; Wiedemann/Stumpf, TVG, § 5 Rdn. 32. 51 BT-Ds 1/2396; Nikisch, a. a. 0.; Wonneberger, a. a. 0 .; Wiedemann/Stumpf, a. a. 0. 52 Ansey/Koberski, ArbuR 1987, S. 230, 232; Etzel, a. a. 0.; Wonneberger, Funktionen, S. 360; Däubler, Tarifvertragsrecht, S. 541, Rdn. 1255; Ringer, ArbuR 1959, S. 289, 291 dokumentiert jedoch zwei Fälle, in denen Anträge auf Allgemeinverbindlicherklärung mit der Behebung eines sozialen Notstandes begründet wurden. In diesen Sachen ergingen aber keine Beschlüsse des Tarifausschusses. 53 Reiche/, BArbBI 1969, S. 359, 360; Ansey/ Koberski, a. a. 0.; Däubler, a. a. 0 .; Wiedemann/Stumpf, TVG, § 5 Rdn. 33; Koberski/Sahl/Hold, AEntG, § I Rdn. 56. 54 Hueck/Nipperdey, ArbR 111, § 35, S. 678 f.; Wonneberger, Funktionen, S. 105; Wiedemann/Stumpf, a. a. 0.; dagegen: Däubler, a. a. 0 . 55 Wonneberger, a. a. 0. 56 Hueck/Nipperdey, a. a. 0.; Nikisch, a. a. 0 .; Kirchner, ArbuR 1959, S. 295; Wonneberger, a. a. 0.; Wiedemann/Stumpf, a. a. 0. - Zur Orientierung kann auf die Bedarfshöhe des Bundessozialhilfegesetzes abgestellt werden. 57 Kirchner, a. a. 0.; Etzel, a. a. 0.; Wiedemann/Stumpf, a. a. 0 .. 58 Hersehe/, BArbB11952, S. 36, 38.

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2. Kap.: Mindestarbeitsbedingungen durch staatlichen Umsetzungsakt

um einen sozialen Notstand anzunehmen59, kann wegen des Ausnahmecharakters dieser Vorschrift nicht gefolgt werden 60. Gelegentlich wird gefordert, daß sich der soziale Notstand auch auf die Allgemeinheit negativ auswirken muß61 . Diese Auffassung engt den Anwendungsbereich der Norm hingegen zu weit ein. Denn Zweck des § 5 I 2 TVG ist letztlich der Arbeitnehmerschutz, so daß es ausreichen muß, wenn ein sozialer Notstand auf Seiten der Arbeitnehmer vorliegt oder droht. Zudem stellt der Begriff "sozialer Notstand" klar, daß kein allgemeiner staatlicher Notstand erforderlich ist62 . Doch selbst, wenn man für die Allgemeinverbindlicherklärung ein öffentliches Interesse oder eine Auswirkung auf die Allgemeinheit fordert, liegt die Behebung eines sozialen Notstandes regelmäßig auch im Interesse der Allgemeinheit63 . Zudem kann aus dem Sozialstaatsprinzip die Befugnis zur Verdrängung privatautonomer Handlungsspielräume abgeleitet werden64. Nach den soeben herausgearbeiteten Grundsätzen scheidet die Tatbestandsalternative des sozialen Notstandes zur Bekämpfung bzw. Verhinderung unbilliger Arbeitsbedingungen aus. Lediglich unbillige Arbeitsbedingungen liegen unterhalb der Erheblichkeitsschwelle des § 5 I 2 TVG. Das Auftreten unzumutbarer Arbeitsbedingunen wird die Annahme eines sozialen Notstandes hingegen regelmäßig rechtfertigen. Dies gilt selbst dann, wenn nur ein verhältnismäßig kleiner Teil von Arbeitnehmern von diesen betroffen ist. Eine kleinere Anzahl von Arbeitnehmern ist nicht weniger schutzwürdig, als eine größere Gruppe. Arbeitnehmerschutz bedeutet auch stets Schutz des einzelnen Individiums. Das Ziel des Arbeitnehmerschutzes läßt sich deshalb nur konsequent durchsetzen, wenn es auf die Zahl der von unzumutbaren Arbeitsbedingungen und vom sozialen Notstand erfaßten Arbeitnehmer nicht ankommt.

IV. Die Allgemeinverbindlicherklärung als taugliches Instrument zur Setzung von Mindestarbeitsbedingungen?

Die Allgemeinverbindlicherklärung setzt immanent das Vorhandensein eines Tarifvertrages voraus65 • Fehlt ein solcher, gibt es schlicht keine Normenkette, die auf andere Arbeitsverhältnisse durch eine Allgemeinverbindlicherklärung erstreckt wohl Däubler; Tarifvertragsrecht, S. 541, Rdn. 1255. Hueck/Nipperdey, ArbR II l, § 35, S. 678; Koenigs, DB 1997, S. 225, 227; Wonneberger, a. a. 0. 61 Kraegeloh, BB 1952, S. 90, 92; Kirchner; ArbuR 1959, S. 295 f. 62 Wonneberger, Funktionen, S. 106. 63 Wonneberger, Funktionen, S. 104. 64 Wonneberger, a. a. 0.; Zum Sozialstaatsprinzip vgl. auch: C.III.2. (viertes Kapitel). 65 vgl.: A.I.l. (zweites Kapitel). 59

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A. Die Allgemeinverbindlicherklärung gemäß § 5 TVG

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werden kann. Dies macht deutlich, daß die Allgemeinverbindlicherklärung nur dann zur Verhinderung bzw. Beseitigung unzumutbarer oder unbilliger Arbeitsbedingungen von Außenseitern, anders organisierten Arbeitnehmern oder Arbeitnehmern, die in einem Arbeitsverhältnis zu nicht- oder anders organisierten Arbeitgebern stehen, geeignet ist, wenn bereits ein Tarifvertrag besteht. Fehlt es an einem Tarifvertrag, so können mit dem Institut der Allgemeinverbindlicherklärung staatlicherseits keine Mindestarbeitsbedingungen gesetzt werden66 • Typischerweise sind die Arbeitsbedingungen jedoch gerade beim Fehlen von Tarifverträgen besonders schlecht. Da der Staat die Arbeitsbedingungen im Rahmen der Allgemeinverbindlicherklärung nicht losgelöst von den Tarifpartnern normieren kann, erweist sich das Instrument der Allgemeinverbindlicherklärung zur Setzung von Mindestarbeitsbedingungen damit in den schlimmsten der denkbaren Fälle als ungeeignet. Das Instrument der Allgemeinverbindlicherklärung hilft ebenfalls nicht weiter, wenn ein Tarifvertrag besteht, dieser aber selbst nur unbillige oder unzumutbare Arbeitsbedingungen normiert67 • In einem solchem Fall ist den Arbeitnehmern, die in Arbeitsverhältnissen stehen, die nicht unter den Geltungsbereich eines solchen Tarifvertrages fallen, wenig mit einer Allgemeinverbindlicherklärung geholfen. Aber auch eine Allgemeinverbindlicherklärung eines aus Arbeitnehmersicht günstigeren Tarifvertrages würde den Arbeitnehmern, die gemäß § 3 I TVG an die Arbeitsbedingungen des ungünstigeren Tarifvertrages gebunden sind nur zu gute kommen, wenn der für allgemeinverbindlich erklärte Tarifvertrag aufgrund einer Vereinbarung der Tarifpartner vorrangig Anwendung finden soll oder nach den Grundsätzen der Tarifspezialität den ungünstigeren Tarifvertrag verdrängt68 . Da die Allgemeinverbindlicherklärung eines Tarifvertrages stets nur innerhalb seines Geltungsbereiches erfolgen kann69, kommt die Allgemeinverbindlicherklärung zur Setzung von Mindestarbeitsbedingungen nicht in Betracht, wenn zwar ein Tarifvertrag besteht, dieser aber in Ermangelung des räumlichen, fachlichen, betrieblichen oder persönlichen Anwendungsbereiches nicht auf die notleidenden Arbeitsverhältnisse erstreckt werden kann. Voraussetzung einer Allgemeinverbindlicherklärung ist ein vorangegangenes positives Votum des Tarifauschusses. Ein solches liegt erst bei mindestens vier bejahenden Stimmen vor70 • Da sowohl Arbeitgeber, wie Arbeitnehmer je drei Vertreter der Spitzenorganisationen in den Tarifausschuß entsenden, kann eine Seite die Allgemeinverbindlichkeitserklärung verhindern71 •72 • Auch deshalb erweist sich 66 67

Waniorek, Teleheimarbeit, S. 48. vgl. hierzu die Beispiele in der Einleitung vor A.

Vgl.: A.I.5. (zweites Kapitel). Schaub, ArbRHB, § 207 II 3, S. 1732; vgl. auch: A.l.l. (zweites Kapitel). 70 vgl.: A.1.3. (zweites Kapitel). 71 Fitting, RdA 1952, S. 5, 7. n Im Jahre 1996 blieb das AEntG zunächst wirkungslos, weil sich die Tarifparteien nicht auf einen tariflichen Mindestlohn einigen konnten bzw. im Tarifausschuß kein Einvernehmen 68

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2. Kap.: Mindestarbeitsbedingungen durch staatlichen Umsetzungsakt

das Instrument der Allgemeinverbindlicherklärung zur Setzung von Mindestarbeitsbedingungen nicht immer als geeignet73 . Aber selbst wenn im Tarifausschuß Einvernehmen hergestellt wird, ist der Minister nicht an das Votum des Tarifausschusses gebunden. Er muß die Allgemeinverbindlichkeit nicht erklären74. Dies gilt selbst dann, wenn ein öffentliches Interesse i. S. d. § 5 I 1 Nr. 2 TVG besteht75 . Dies stellt ein weiteres Unsicherheitsmoment dar76. Auch die 50% Klausel stellt ein weiteres- nicht immer überwindbares- Hindernis auf dem Weg zur Allgemeinverbindlicherklärung dar. Typischerweise sind die Arbeitsbedingungen besonders schlecht, wenn auf der Arbeitnehmerseite ein niedriger Organisationsgrad herrscht77 und auch nur wenige Arbeitgeber tarifgebunden sind78 • Führt die geringe Tarifbindung auf Arbeitgeberseite dazu, daß die 50% Klausel unterschritten ist, oder durch Verbandsaustritte der Arbeitgeber unterschritten wird, kann die Allgemeinverbindlichkeit nicht gemäß § 5 I 1 TVG erklärt werden. Konsequenz ist, daß das Instrument der Allgemeinverbindlicherklärung gerade dann nicht zur Setzung von Mindestarbeitsbedingungen geeignet ist, wenn die Allgemeinverbindlicherklärung im öffentlichen Interesse geboten erscheint. Zwar kann von der Voraussetzung der 50% Klausel bei Vorliegen eines sozialen Notstandes (§ 5 I 2 TVG) abgesehen werden, so daß unzumutbare Arbeitsbedingungen (sofern die sonstigen Voraussetzungen vorliegen) doch noch bekämpft werden können, aber bei der Bekämpfung unbilliger Arbeitsbedingungen kann das Instrument der Allgemeinverbindlicherklärung nicht helfen. Auch ist nach den in diesem Kapitel unter A.II.2. dargestellten Voraussetzungen des öffentlichen Interesses grundsätzlich fraglich, ob mit Hilfe der Allgemeinvererzielt wurde (Schmitt, WiB 1996, S. 769, 772; Koenigs, DB 1997, S. 225) - vgl.: D.IV. (zweites Kapitel). 73 Nicht von der Hand zu weisen ist jedoch auch, daß ein Interesse der tarifgebundenen Arbeitgeber an einer Allgemeinverbindlicherklärung besteht, da so gleiche Wettbewerbsbedingungen zwischen ihnen und den nichttarifgebundenen Arbeitgebern hergestellt werden. 74 vgl.: A.I.3. (zweites Kapitel). 75 Wiedemann, RdA 1987, S. 265; Schlachter; BB 1987, S. 751 f.; Stahlhacke, NZA 1988, S. 344, 345; Däubler; Tarifvertragsrecht, S. 544, Rdn. 1268; Kempen, H/K/Z/Z-TVG, § 5 Rdn. 15; BAG AP Nr. 12, 15 zu § 5 TVG; BVerwG AP Nr. 23 zu § 5 TVG = DB 1989, s. 529 f. 76 So hat z. B. der Minister für Arbeit, Gesundheit, Familie und Sozialordnung des Landes Baden-Württemberg einen Tarifvertrag über Vergütungssätze für Auszubildende im Einzelhandel entgegen dem befürwortenden Votum des Tarifausschusses nicht für allgemeinverbindlich erklärt, vgl. hierzu: Ansey I Koberski, ArbuR 1987, S. 230, 234. 77 z. B. im Einzelhandel - Hier zumindest auch wegen der vielen Teilzeitbeschäftigten, vgl.: Kempen, H/K/Z/Z-TVG, § 5 Rdn. 16. 78 Ansey!Koberski, ArbuR 1987, S. 230, 237; Rieble, LIR-TVG, § 5 Rdn. 40; Allgemein ist zu beobachten, daß die Organisationsbereitschaft sowohl bei Arbeitnehmern wie bei Arbeitgebern in Wirtschaftsgruppen- und gebieten mit geringem Entgeltniveau besonders gering ausgeprägt ist, vgl.: Ansey/ Koberski, a. a. 0.

A. Die Allgemeinverbindlicherklärung gemäß § 5 TVG

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bindlicherklärung nicht nur unzumutbare, sondern auch unbillige Arbeitsbedingungen bekämpft werden können. Bei einer Untersuchung der Allgemeinverbindlicherklärung auf ihre Geeignetheit zur Setzung von Mindestarbeitsbedingungen muß weiter berücksichtigt werden, daß sich das Instrument der Allgemeinverbindlicherklärung aus gewerkschaftlicher Sicht durchaus zwiespältig darstellt. Durch die Allgemeinverbindlicherklärung werden tarifliche Arbeitsbedingungen auch auf die bisher nicht vom Geltungsbereich des Tarifvertrages erfaßten Arbeitsverhältnisse erstreckt. In der Regel tritt damit eine Verbesserung der Arbeitsbedingungen der Außenseiter ein. Eine Verschlechterung der Arbeitsbedingungen ist wegen des Günstigkeitsprinzips des § 4 III TVG ausgeschlossen. Die Allgemeinverbindlicherklärung liegt wegen des Gesamtvertretungsanspruchs der Gewerkschaften, der alle Arbeitnehmer umfaßt, somit im Interesse der Gewerkschaften. Kommen allerdings Arbeitnehmer durch die Allgemeinverbindlicherklärung (gemäߧ 5 TVG) in den Genuß der Geltung eines Tarifvertrages, so ist eine Gewerkschaftsmitgliedschaft nicht erforderlich um eine Tarifbindung (gemäß § 3 I TVG) herbeizuführen. Dies könnte eine Gewerkschaftsmitgliedschaft aus Arbeitnehmersicht entbehrlich erscheinen lassen, verringert jedoch zumindest deren Attraktivität. Folge können eine weitere Entsolidarisierung der Arbeitnehmer und ein Mitgliederschwund der Gewerkschaften, der zu einer weiteren Schwächung der Gewerkschaften führt, sein. Letztlich kann die Allgemeinverbindlicherklärung die positive Koalitionsfreiheit bedrohen79 • Abschließend ist festzustellen, daß die Bedeutung der Allgemeinverbindlicherklärung oft überschätzt wird80. Nur ein verschwindend geringer Teil der Tarifverträge wurde bzw. ist für allgemeinverbindlich erklärt81 . Wegen der differenziert zu erfüllenden Voraussetzungen bis zum Ausspruch der Allgemeinverbindlichkeit kann sich die Allgemeinverbindlicherklärung zur Bekämpfung unbilliger Arbeitsbedingungen als unpraktikabel erweisen. Selbst zur Bekämpfung unzumutbarer Arbeitsbedingungen, die im Falle eines sozialen Notstandes (§ 5 I 2 TVG) wohl stets vorliegen, ist die Allgemeinverbindlicherklärung nur bedingt geeignet. Auch hier setzt die Allgemeinverbindlicherklärung zumindest einen Tarifvertrag, einen 79 Reiche/, BArbB11969, S. 359, 363 f.; AnseyiKoberski, ArbuR 1987, S. 230, 236; Wonneberger; Funktionen, S. 82; Rieble, LIR-TVG, § 5 Rdn. 94; Koberski/Sahl/Hold, AEntG, Ein!. Rdn. 21. 80 Ebenso: Ansey I Koberski, a. a. 0 . 81 Am 01. 01. 1987 waren von den ca. 45.000 Tarifverträge 513 Tarifverträge für allgemeinverbindlich erklärt (Anseyl Koberski, ArbuR 1987, S. 130, 125). Am 01. 01. 1992 waren von ca. 32.000 Tarifverträgen 507 Tarifverträge für allgemeinverbindlich erklärt (Rieble, LI R-TVG, § 5 Rdn. 12) und arn 01. 01. 1997 waren von etwa 45.000 Tarifverträgen 503 Tarifverträge für allgemeinverbindlich erklärt (Koberski I Sahl I Hold, AEntG, § 1 Rdn. 86). Die Diskrepanz zwischen den absoluten Zahlen der Tarifverträge folgt m.E. aus der Mit- bzw. Nichtberücksichtigung von Firrnentarifverträgen. Andere Quellen geben die Zahl der für allgemeinverbindlich erklärten Tarifverträge mit ca. 2% an (Hanaul Adomeit, ArbR, S. 65, 68; BeisiegeliMosbacheriLepante, JZ 1996, S. 668, 669).

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2. Kap.: Mindestarbeitsbedingungen durch staatlichen Umsetzungsakt

Antrag, das positive Votum des Tarifauschusses und eine positive Ermessensentscheidung des Ministers voraus.

B. Die Regelungen im Heimarbeitsrecht (§§ 19, 21 I, 22 HAG) Das HAG beinhaltet mit den §§ 19, 21 I, 22 HAG drei Vorschriften, die Regelungen zur Setzung von Mindestarbeitsbedingungen für verschiedene Personengruppen enthalten. § 19 HAG normiert die Voraussetzungen unter denen für in Heimarbeit Beschäftigte bindende Festsetzungen von Entgelten und sonstigen Vertragsbedingungenerlassen werden können.§ 21 I HAG befaßt sich mit der Entgeltregelung für Zwischenmeister. § 22 HAG legt die Bedingungen fest, unter denen für fremde Hilfskräfte, Mindestarbeitsbedingungen gesetzt werden können. Im Folgenden wird geprüft, inwieweit diese Vorschriften zur Verhinderung bzw. Beseitigung unzumutbarer oder unbilliger Arbeitsbedingungen geeignet sind. Hierzu werden zunächst die Adressatenkreise und die Voraussetzungen der einzelnen Vorschriften untersucht.

I. Bindende Festsetzungen gemäß § 19 I HAG Der Heimarbeitsausschuß kann gemäß § 19 I HAG nach Anhörung der Auftraggeber und Beschäftigten Entgelte und sonstige Vertragsbedingungen mit bindender Wirkung für alle Auftraggeber und Beschäftigten seines Zuständigkeitsbereiches festsetzen, wenn Gewerkschaften oder Vereinigungen der Auftraggeber für seinen Zuständigkeitsbereich nicht bestehen oder nur eine Minderheit der Auftraggeber oder Beschäftigten umfassen und unzulängliche Entgelte gezahlt werden oder sonstige Vertragsbedingungen unzulänglich sind 1• Die Festsetzung bedarf der Zustimmung der zuständigen Arbeitsbehörde und der Veröffentlichung (§ 19 II 1 HAG). Sie hat die Wirkung eines allgemeinverbindlichen Tarifvertrages(§ 19 III 1 HAG).

1. Adressaten Adressaten der Vorschrift sind die Auftraggeber der Heimarbeit und die in Heimarbeit Beschäftigten sowie die ihnen gleichgestellten Personen2 • I Nicht eingegangen wird auf die umstrittene Frage der Rechtsnatur der bindenden Festsetzung. Zur Frage der Rechtsnatur der bindenden Festsetzung vgl.: Schwedes, Rechtsnatur, S. 63 ff.; Brecht, HAG,§ 19 Rdn. 7 ff.; Otten, HAG,§ 19 Rdn. 1 ff.; Schmidtl KIT/W, HAG, § 19 Rdn. 6 ff.; BVerfG AP Nr. 7 zu § 19 HAG; BAG, ArbuR 1973, S. 59 ff. 2 Zu den mit den in Heimarbeit Beschäftigten gleichgestellten Personen und den Voraussetzungen der Gleichstellung, vgl.: B.II.2. und 3. (zweites Kapitel).

B. Die Regelungen im Heimarbeitsrecht (§§ 19, 21 I, 22 HAG)

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Im Regelfall versteht das HAG unter Auftraggebern Gewerbetreibende oder Zwischenmeister3 • Gewerbetreibende4 i. S. d. Gesetzes sind Personen, die selbst ein Gewerbe betreiben und Teile ihrer Produkte oder die ganze Produktion durch in Heimarbeit Beschäftigte oder Gleichgestellte ausführen lassen5 . Abweichend von diesem Grundsatz können gemäß § 2 IV HAG auch Personen, Personenvereinigungen oder Körperschaften des öffentlichen Rechts, welche die Herstellung, Bearbeitung oder Verpackung von Waren nicht zum Zwecke der Gewinnerzielung betreiben, Auftraggeber sein. Meist dürfte es sich hierbei um Blindenvereine, kirchliche Stellen oder vergleichbare Einrichtungen handeln6 . Weiter können diejenigen Auftraggeber i. S. d. Gesetzes sein, die als Auftraggeber der dort genannten gleichstellungsfähigen Personen aufgeführt sind7 . Dies sind meist Angehörige der freien Berufe, Auftraggeber aus der Urproduktion, Behörden oder Verwaltungseinrichtungen 8 . Gemäß § I I HAG sind in Heimarbeit Beschäftigte die Heimarbeiter und die Hausgewerbetreibenden. Der Begriff des Heimarbeiters ist in § 2 I 1 HAG legal definiert. Hiernach ist Heimarbeiter, wer in selbstgewählter Arbeitsstätte (eigener Wohnung oder selbstgewählter Betriebsstätte) allein oder mit seinen Familienangehörigen (Absatz 5) im Auftrag von Gewerbetreibenden oder Zwischenmeistem erwerbsmäßig arbeitet, jedoch die Verwertung der Arbeitsergebnisse dem unmittelbar oder mittelbar auftraggebenden Gewerbetreibenden überläßt. Der Heimarbeiter unterscheidet sich vom Gewerbetreibenden primär dadurch, daß er keinerlei Risiko seiner gewerblichen Tätigkeit trägt. Vom Arbeitnehmer unterscheidet sich der Heimarbeiter durch seine persönliche Selbständigkeit in der Arbeitsleistung. Er kann Arbeitsort- und zeit frei wählen9 . Durch das Heimarbeitsänderungsgesetz von 1974, durch das der Begriff "gewerblich" durch "erwerbsmäßig" ersetzt wurde, wurde klargestellt, daß nicht nur solche Beschäftigten Heimarbeiter sein können, Zum Begriff des Zwischenmeisters vgl.: B.II.1. (zweites Kapitel). Der Begriff des Gewerbetreibenden wird im Heimarbeitsrecht in Übereinstimmung mit der zum Begriff des Gewerbetreibenden in der GewO entwickelten Definition verstanden, Schmidt/KIT/W, HAG,§ 2 Rdn. 20. Als Gewerbetreibender wird deshalb angesehen, wer als Selbständiger eine auf Dauer angelegte Tätigkeit, einen bestimmten Kreis von Geschäften planmäßig und in der Absicht betreibt, sie als ständige Einnahmequelle berufsmäßig auszunutzen und aus ihr Gewinn zu ziehen, Sieg/Leifennann/Tettinger, GewO, § 1 Rdn. 1 ff.; Frieauf, GewO, Einl. A.I.II. 5 Brecht, HAG, § 2 Rdn. 42. 6 Brecht, HAG, § 2 Rdn. 43. 7 Brecht, a. a. 0 .; Zur Klarstellung sei darauf hingewiesen, daß es sich bei diesen Personen nicht um Gewerbetreibende i. S. d. GewO handeln muß. Zu den Anwendungslücken des HAG in diesen FäJJen, vgl.: B.IV. (zweites Kapitel). 8 Brecht, a. a. 0. 9 Küfner-Schmitt, Telearbeiter, S. 63 f.; Kappus, NJW 1984, S. 2384, 2385; Wedde, ArbuR 1987, S. 325, 327; Wedde, Telearbeit, S. 72; Simon/ Kuhne, BB 1987, S. 201, 203; Albrecht, NZA 1996, S. 1240, 1241; Schmidt/KIT/W, HAG,§ 2 Rdn. 5 ff.; Kilian/Borsum/Hoffmeister, Forschungsbericht, S. 121, 163; Collardin, Telearbeit, S. 28. 3

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2. Kap.: Mindestarbeitsbedingungen durch staatlichen Umsetzungsakt

die, wenn sie im Betrieb arbeiten würden, als gewerbliche Arbeitnehmer anzusehen wären, sondern grundsätzlich auch jede Angestelltentätigkeit von § 2 I HAG erfaßt werden kann, wenn die sonstigen Voraussetzungen der Heimarbeit vorliegen10. Gemäß § 2 II I HAG ist Hausgewerbetreibender, wer in eigener Arbeitsstätte (eigene Wohnung oder Betriebsstätte) mit nicht mehr als zwei fremden Hilfskräften (Absatz 6) oder Heimarbeitern (Absatz 1) im Auftrag von Gewerbetreibenden oder Zwischenmeistern Waren herstellt bearbeitet oder verpackt, wobei er selbst wesentlich am Stück mitarbeitet, jedoch die Verwertung der Arbeitsergebnisse dem unmittelbar oder mittelbar auftraggebenden Gewerbetreibenden überläßt. Der Hausgewerbetreibende ist im Unterschied zum unselbständigen Heimarbeiter ein selbständiger Unternehmer 11 • Vom Gewerbetreibenden, der nicht unter das HAG fallt, unterscheidet ihn, daß er nach seinem sozialen und wirtschaftlichen Status einem Heimarbeiter nahesteht und deshalb schutzbedürftig ist 12 •

2. Fehlen repräsentativer Verbände

Gemäß § 19 I 1 HAG ist Voraussetzung einer Festsetzung, daß Gewerkschaften13 oder Vereinigungen von Auftraggebern für den Zuständigkeitsbereich des Heimarbeitsausschusses nicht bestehen oder nur eine Minderheit der Beteiligten erfassen. Dieses Erfordernis soll bereits erfüllt sein, wenn entweder auf der Seite der Auftraggeber oder der Seite der Beschäftigten Verbände nicht bestehen oder nur eine Minderheit der Auftraggeber oder Beschäftigten repräsentieren 14. Dem kann nur teilweise zugestimmt werden. Fehlt auf der Beschäftigtenseite eine Gewerkschaft, so kann in Ermangelung eines Vertragspartners kein Tarifvertrag gemäß § 17 I HAG geschlossen werden. Dies gilt auch für den Fall, daß zwar eine Gewerkschaft besteht, diese aber nur eine Minderheit der Beschäftigten repräsentiert. Hier wird es der Gewerkschaft regelmäßig an der zur Durchsetzung eines angemessenen Tarifvertrages erforderlichen Mächtigkeit 15 fehlen. Das Fehlen oder IO Lepke, BB 1971, S. 1509, 1514; Wlotzke, DB 1974, S. 2252 f.; Kappus, NJW 1984, S. 2384, 2386; Küfner-Schmitt, Telearbeiter, S. 65, 68; Wedde, ArbuR 1987, S. 325, 328; Kilian/ Borsum/Hoffmeister, Forschungsbericht, S. 123 ff.; Waniorek, Teleheimarbeit, S. 40; Schmidt/K/T/W, HAG, § 2 Rdn. 10; LAG Düsseldorf, BB 1989, S. 2400. n Brecht, HAG,§ 2 Rdn. 25; Schmidt/K/T/W, HAG,§ 2 Rdn. 27. 12 Wedde, Telearbeit, S. 81 ; Kilian/Borsum/Hoffmeister, Forschungsbericht, S. 109; Brecht, HAG,§ 2 Rdn. 26 ff.; Schmidt!K/TIW, HAG,§ 2 Rdn. 28 ff. 13 Als Gewerkschaften gelten im Verhältnis zu ihren Auftraggebern auch Verbände der Haus- und Lohngewerbetreibenden - Bauer, Heimarbeitsrecht, S. 28; Brecht, HAG, § 19 Rdn. Nr. 14; Schmidt/KITIW, HAG,§ 19 Rdn. 19; BAG AP Nr. 14 zu§ 2 TVG. 14 Brecht, HAG,§ 19 Rdn. 15; Schmidt/KITIW, HAG,§ 19 Rdn. 19. 15 Vgl.: B.l.2. (viertes Kapitel).

B. Die Regelungen im Heimarbeitsrecht (§§ 19, 21 I, 22 HAG)

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die Unterrepräsentanz von Gewerkschaften rechtfertigt somit die bindende Festsetzung. Nach absolut herrschender Meinung soll das gleiche gelten, wenn auf der Auftraggeberseite keine Organisation besteht oder diese nur eine Minderheit von Auftraggebern umfaßt 16. Dies wird damit begründet, daß § 19 HAG den Fall bewußt außer acht lasse, daß gemäß § 17 I HAG auf Auftraggeberseite auch ein einzelner Auftraggeber Partner eines Tarifvertrages sein kann 17 . Zudem habe der Gesetzgeber 1974 durch die Änderung des HAG, bei der das Wort "Beteiligte" durch "Auftraggeber oder Beschäftigte" ersetzt wurde, klargestellt, daß die Voraussetzungen des § 19 I 1 1. Alt. HAG erfüllt seien, wenn auf einer Seite Verbände fehlen oder nur eine Minderheit repräsentieren 18 • Die Annahme, eine bindende Festsetzung sei bereits bei bloßem Fehlen von Auftraggeberverbänden zulässig, widerspricht jedoch dem Normzweck und dem Subsidiaritätsprinzip 19• Schutzzweck der bindenden Festsetzung ist es, angemessene Arbeitsbedingungen für Heimarbeiter festzulegen 20. Mangelt es nur auf der Auftraggeberseite an repräsentativen Verbänden, nicht jedoch auf Seite der Beschäftigten, so besteht kein Bedürfnis für eine bindende Festsetzung, selbst wenn unzulängliche Entgelte oder Arbeitsbedingungen vorliegen sollten. Ist nämlich nur eine Minderheit der Auftraggeber organisiert, so ist es den Gewerkschaften zumindest durch den Abschluß von Firmentarifverträgen möglich, Arbeitsbedingungen für die in Heimarbeit Beschäftigten zu normieren. Eines Verbandes der Auftraggeber bedarf es zum Abschluß eines Tarifvertrages nicht, da auch ein einzelner Auftraggeber Partei eines Tarifvertrages sein kann. Die Heimarbeiter sind dann auch nicht sozial schutzbedürftig, da es ihnen durch die Mächtigkeit ihrer Organisation möglich ist, selbst akzeptable Arbeitsbedingungen durchzusetzen, auch wenn es hierzu des Arbeitskampfes bedarf. Wenn ausgeführt wird, beim Fehlen repräsentativer Auftraggeberverbände, fanden die Gewerkschaften keinen gleichwertigen Vertragspartner, mit dem kollektive Regelungen über Entgelte und sonstige Vertragsbedingungen vereinbart werden könnten21 , wird schlicht übersehen, daß gemäß § 17 I HAG ausdrücklich auch einzelne Auftraggeber Partner eines Tarifvertrages sein können und der Zweck der bindenden Festsetzung nicht der Schutz der Auftraggeber vor für sie ungünstigen Tarifverträgen ist. In erster Linie ist es Aufgabe der zuständigen Verbände (und Auftraggeber), in freien Vereinbarungen Arbeitsbedingungen für ihre Mitglieder zu norrnieren 22• Die vgl. Nachweise in Fußnote 14. Brecht, HAG,§ 19 Rdn. 15. 18 Schmidt/KITIW, HAG,§ 19 Rdn. 19. 19 Zum Subsidiaritätsprinzip vgl.: C.III.3. (erstes Kapitel). 2o vgl.: B.I.4. (zweites Kapitel). 21 Schmidt/KIT/W, HAG,§ 19 Rdn. 19. 22 Wlotzke, DB 1974, S. 2252, 2253; Brecht, HAG, § 19 Rd. 17; Mehrle, AR-Blattei SD 910 Rdn. 74. 16 17

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2. Kap.: Mindestarbeitsbedingungen durch staatlichen Umsetzungsakt

tarifvertragliche Regelung genießt den Vorrang23 . Nur wenn diese fehlt, soll von außen regelnd eingegriffen werden24. Denn jeder staatliche Eingriff schwächt auch die Verbände25 . Das Argument, bei Vorliegen eines Firmentarifvertrages bliebe dennoch genügend Anwendungsspielraum für eine bindende Festsetzung im übrigen Zuständigkeitsbereich des Heimarbeitsausschusses26 überzeugt nicht, denn sind Arbeitsbedingungen durch den Heimarbeitsausschuß bindend festgesetzt, so erschwert dies den Abschluß weiterer Firmen- oder Verbandstarifverträge und schwächt langfristig die Verbände27• Das Nichtbestehen von Gewerkschaften oder Auftraggebervereinigungen ist verhältnismäßig einfach festzustellen. Die Feststellung, ob die Verbände nur eine Minderheit von Auftraggebern oder Beschäftigten repräsentieren, kann hingegen auf Schwierigkeiten stoßen. Der Begriff der Minderheit ist nach allgemeiner Ansicht- anders als das Quorum des§ 5 I 1 Nr. 1 TVG28 - aber ebenso wie bei§ 1 II lit. a MindArbBG29 nicht ausschließlich mathematisch zu verstehen 30. Nach dem Grundgedanken des Vorranges der Vereinbarung der Arbeitsbedingungen durch die Tarifvertragsparteien soll von einer Minderheit nicht mehr gesprochen werden können, wenn eine Koalition zwar weniger als 50% der Beschäftigten oder Auftraggeber umfaßt, aber dennoch regelmäßig Tarifverträge aushandelt, die insgesamt richtungsweisend für den entsprechenden Heimarbeitsbereich sind31 • Eine Minderheit soll jedenfalls dann nicht mehr vorliegen, wenn mehr als 50% auf einer Seite organisiert sind32• Wendet man das Kriterium des Abschlusses bedeutungsvoller Tarifverträge konsequent an, bedeutet dies jedoch, daß man nicht automatisch die Voraussetzungen für den Erlaß einer bindenden Festsetzung verneinen kann, wenn eine Koalition mehr als 50% der Beteiligten umfaße 3 . Ob eine Auslegung des Begriffes der Minderheit, die sich derart weit vom Wortlaut entfernt, noch mit dem Schutzzweck der Norm begründbar ist, erscheint fraglich.

23 Hersehe[, BArbBl, 1951, S. 13 ff. ; Wlotzke, a. a. 0 .; Küfner-Schmitt, Telearbeiter, S. 103; Otten, HAG, § 19 Rdn. 8; Schmidt/K/TIW. HAG, § 19 Rdn. 19; Brecht, a. a. 0.; BAG, ArbuR 1973, S. 59, 61. 24 Vgl. C.III.3. (erstes Kapitel) und A. (zweites Kapitel). 25 Vgl.: 8.1.2. und 11.3. (viertes Kapitel). 26 Brecht, HAG,§ 19 Rdn. 15. 27 Vgl.: Nachweise in Fußnote 25 und Ausführungen und Nachweise in den Fußnote 46 bis 49 des Abschnittes C. (erstes Kapitel). 28 Vgl.: A.II.l. (zweites Kapitel). 29 Vgl.: C.l.l. (zweites Kapitel). 30 Brecht, HAG,§ 19 Rdn. 17; Schmidt/K/TIW. HAG,§ 19 Rdn. 20. 31 Brecht, a. a. 0 .; Schmidt/KITI W. a. a. 0 . 32 Brecht, a. a. 0. 33 Schmidt/KITIW. HAG,§ 19 Rdn. 20.

B. Die Regelungen im Heimarbeitsrecht (§§ 19,21 I, 22 HAG)

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3. Unzulängliche Entgelte oder unzulängliche sonstige Vertragsbedingungen Weitere Voraussetzung einer bindenden Festsetzung der Entgelte oder sonstigen Vertragsbedingungen ist, daß entweder unzulängliche Entgelte gezahlt werden oder sonstige Vertragsbedingungen unzulänglich sind. Der Begriff der Unzulänglichkeit wird in § 19 I 2 HAG für den Fall definiert, daß für Heimarbeiter kein Tarifvertrag besteht, jedoch vergleichbare tarifliche Regelungen für Betriebsarbeiter bestehen. Satz 3 behandelt den Fall, daß in Tarifverträgen Regelungen für Heimarbeiter enthalten sind. Gesetzlich nicht geregelt ist der Fall, daß weder Tarifverträge für Heimarbeiter, noch für vergleichbare Betriebsarbeiter bestehen. a) Bestehen von Tarifverträgenfür gleiche oder gleichwertige Betriebsarbeit

Gemäß § 19 I 2 HAG sind Entgelte oder sonstige Vertragsbedingungen als unzulänglich anzusehen, wenn sie unter Beriicksichtigung der sozialen und wirtschaftlichen Eigenart der Heimarbeit unter den tariflichen Löhnen oder sonstigen durch Tarifvertrag festgelegten Arbeitsbedingungen für gleiche oder gleichwertige Betriebsarbeit liegen. Als Maßstab werden somit die tarifvertragliehen Bedingungen der vergleichbaren Betriebsarbeiter herangezogen. Hierbei können nur gleichartige Arbeitsbedingungen von Betriebs- und Heimarbeitern miteinander verglichen werden34, d. h. es ist nur Betriebsarbeit, die die gleichen Arbeitsgänge wie Heimarbeit umfaßt oder nach der Lohnstaffel des Tarifvertrages mit der gleichen Entgeltgruppe zu entlohnen ist, zu beriicksichtigen35 . Bei mehreren Tarifverträgen ist der speziellere Tarifvertrag heranzuziehen 36. Nach dem eindeutigem Wortlaut des § 19 I 2 HAG sind bei dem Vergleich der Betriebs- mit der Heimarbeit die sozialen und wirtschaftlichen Eigenarten der Heimarbeit zu beriicksichtigen. Dies bedeutet insbesondere, daß geltwerte Vorteile der Heimarbeiter gegenüber Betriebsarbeitern bei der Höhe der Entgelte und sonstigen Vertragsbedingungen beachtet werden müssen. Für Heimarbeiter fallen keine Wegezeiten und keine Fahrtkosten an. Sie haben einen geringeren finanziellen Aufwand für Kleidung und Essen und können sich ihre Arbeitszeit frei eintei34 Schmidt/KIT!Wmeinen daß bei dem Vergleich der Entgelte von Betriebs- und Heimarbeitern Jahressonderzahlungen der Betriebsarbeiter nicht zu berücksichtigen seien, weil man sonst Äpfel mit Birnen vergliche, Schmidt/KITIW. HAG,§ 19 Rdn. 26. Dem kann nicht zugestimmt werden. Zwar verfolgt der Arbeitgeber mit der Gewährung von Jahressonderzahlungen noch über die Vergütung der Arbeitsleistung hinausgehende weitere Zwecke, aber letztendlich ist eine Einmalzahlung doch nur ein aufgeschobener oder vorweggenommener VergütungsbestandteiL 35 Brecht, HAG,§ 19 Rdn. 19. 36 Brecht, a. a. 0 .

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2. Kap.: Mindestarbeitsbedingungen durch staatlichen Umsetzungsakt

len37 . Dies rechtfertigt eine geringere Vergütung gegenüber den Betriebsarbeitern. Deshalb begründet nicht jede Unterschreitung der tariflichen Arbeitsbedingungen eine Unzulänglichkeit der Entgelte oder sonstigen Vertragsbedingungen 38 . Auch die mittelbaren sozialen Folgen von Entgelterhöhungen sind von den Heimarbeitsausschüssen bei dem Erlaß der bindenden Festsetzungen zu berücksichtigen39. Die durch den Erlaß von bindenden Festsetzungen verbesserten Entgelte und Arbeitsbedingungen könnten nämlich das Gegenteil bewirken, wenn die Vergabe von Heimarbeit für Unternehmen nicht mehr genügend gewinnträchtig ist. Würde die Heimarbeit für die Auftraggeber oder Zwischenmeister zu teuer, so würden diese die Heimarbeit in Gebiete vergeben, in denen keine bindenden Festsetzungen bestehen oder gar die Vergabe von Heimarbeit zurückführen und Betriebsarbeiter beschäftigen. Die Folge wäre, daß die Heimarbeiter gar kein Erwerbseinkommen mehr hätten40 . Die Heimarbeitsausschüsse müssen das Instrument der bindenden Festsetzung deshalb ausgewogen handhaben und ihrer Verantwortung im Hinblick auf die Erhaltung und ggf. die Schaffung neuer Heimarbeitsverhältnisse gerecht werden41 . Nach absolut herrschender Meinung darf der Heimarbeitsausschuß für Heimarbeiter keine günstigeren Entgelte oder Vertragsbedingungen als für Betriebsarbeiter festsetzen 42 . Begründet wird dies mit einem Umkehrschluß aus § 19 I 2 HAG. Satz 2 gehe davon aus, daß nur die unter der vergleichbaren Betriebsarbeit liegende Vergütung unzulänglich sei, deshalb stelle die tarifvertragliche Regelung die strikte Obergrenze für die bindende Festsetzung dar43. Dem ist nur im Grundsatz zuzustimmen. Es sind auch atypische Fälle vorstellbar, bei denen die Normen der bindenden Festsetzung über die vergleichbarer tariflicher Vorschriften hinausgehen müssen. Aus den o.g. Gründen entstehen Heimarbeitern i.d.R. geringere Kosten, als vergleichbaren Betriebsarbeitern. Heimarbeiter können im Vergleich mit Betriebsarbeitern aber auch zusätzliche Kosten zu tragen haben, so z. B. Mietzins 37 Kappus, NJW 1984, S. 2384; Simon/Kuhne, BB 1987, S. 201; Linnenkohl, BB 1996, S. 51; Mehrte, AR-Blattei SD 910 Rdn. 79; Brecht, BArbBI 1974, S. 677, 680; ders., HAG, § 19 Rdn. 20; Wedde, Telearbeit, S. 40 f.; Kilian/Borsum/Hoffmeister, Forschungsbericht, S. 58 ff., mit einer Auflistung weiterer Vorteile. 38 Brecht, a. a. 0. 39 Fitting, RdA 1950, S. 453, 454; Schmidt/KITIW, HAG, § 19 Rdn. 27, 30; Brecht, HAG, § 19 Rdn. 20; Otten, HAG,§ 19 Rdn. 9. 40 Oftmals sind Frauen mit kleinen Kindern, behinderte Personen oder Personen, die pflegebedürftige Angehörige zu versorgen haben in Heimarbeit beschäftigt - Waniorek, Teleheimarbeit, S. 35; Brecht, HAG, § 19 Rdn. 20. Diesen Personen ist es nur äußerst schwierig möglich, sich als Betriebsarbeiter zu verdingen. 41 Wedde, ArbuR 1987, S. 325, 326; Otten, a. a. 0.; Schmidt/KIT/W, HAG, § 19 Rdn. 27, 31. 42 Otten, HAG,§ 19 Rdn. 11; Brecht, HAG,§ 19 Rdn. 25; Schmidt/K/T/W, HAG,§ 19 Rdn. 26. 43 Brecht, a. a. 0.; Schmidt/KITIW. a. a. 0.

B. Die Regelungen im Heimarbeitsrecht (§§ 19,21 I, 22 HAG)

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oder Wertabschreibung für die Räumlichkeit, in der die Heimarbeit verrichtet wird, Strom- und Betriebskosten oder die Kosten für die Lagerung von Arbeitsmaterialien. Übersteigen diese Kosten die Kostenersparnis der Heimarbeiter, so ist eine bindende Festsetzung, die günstiger ist als der Tarifvertrag für vergleichbare Betriebsarbeiter, zulässig. Auch der von der herrschenden Meinung gezogene Umkehrschluß aus § 19 I 2 HAG ist nicht zwingend. Der Gesetzgeber hat in Satz 2 das Wort "insbesondere" eingefügt. Kehrt man den Satz um, so kann dies nur bedeuten, daß die bindenden Festsetzungen für Heimarbeiter in der Regel nicht günstiger sein dürfen als die tarifvertragliehen Regelungen vergleichbarer Betriebsarbeiter. Zudem sollen nach § 19 I 3 HAG durch die bindende Festsetzung lediglich keine günstigeren Entgelte oder sonstigen Vertragsbedingungen festgelegt werden, als sie in Tarifverträgen für Heimarbeiter normiert sind. Der Fall einer günstigeren bindenden Festsetzung für Heimarbeiter im Verhältnis zu tarifvertragliehen Regelungen für Betriebsarbeiter ist gesetzlich nicht geregelt. b) Bestehen von Tarifverträgenfür Heimarbeiter

Bestehen Tarifverträge für Heimarbeiter, so sollen gemäß § 19 I 3 HAG durch die bindenden Festsetzungen keine günstigeren Entgelte oder sonstigen Vertragsbedingungen normiert werden als dies die tarifvertragliehen Regelungen vorsehen. Die tarifvertragliehen Regelungen für Heimarbeiter können in besonderen Tarifverträgen für Heimarbeiter44 oder in Tarifverträgen für Betriebsarbeiter, die ganz oder teilweise auch für Heimarbeiter gelten45 , enthalten sein. Wegen der Richtigkeitsvermutung, die Tarifverträgen zu gute kommt46, haben die Heimarbeitsausschüsse die mittels bindender Festsetzung getroffenen Entgeltregelungen und sonstigen Vertragsbedingungen an den für Heimarbeiter geltenden Tarifverträgen auszurichten47 • Es sollen keine günstigeren Entgelte oder sonstigen Vertragsbedingungen festgesetzt werden. Da Satz 3 eine Sollvorschrift ist, gilt dies für den Regelfall48 . Bei Vorliegen ganz besonderer Umstände darf von der Vorschrift jedoch abgewichen werden und es dürfen auch günstigere Entgelte und sonstige Vertragsbedingungen festgesetzt werden. Dies ist z. B. vorstellbar wenn der Tarifvertrag, von dem abgewichen werden soll, in seinem Geltungsbereich offensichtlich keine Ordnungsfunktion besitzt, die abschließenden Tarifvertragsparteien unbedeutend sind oder die im Tarifvertrag vereinbarten Bedingungen, die in der Branche tatsächlich ge44 Diese werden traditionell im Bereich Textil und Bekleidungen abgeschlossen - Brecht, HAG, § 19 Rdn. 22. 45 Zur Öffnung des persönlichen Geltungsbereiches von Tarifverträgen für Heimarbeiter vgl.: Mayer, BB 1993, S. 1513 f. 46 Schmidt/K/T/W, HAG, § 19 Rdn. 22. 47 Schmidt/KITIW. HAG,§ 19 Rdn. 23. 48 Brecht, HAG,§ 19 Rn. 22; Schmidt/K/TIW. a. a. 0.

7 Andelewski

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2. Kap.: Mindestarbeitsbedingungen durch staatlichen Umsetzungsakt

währten Bedingungen deutlich unterschreiten49. Will der Heimarbeitsausschuß von einer tarifvertragliehen Regelung abweichen, so hat dieser die Umstände des Einzelfalles besonders genau zu prüfen und gegenüber der zuständigen Arbeitsbehörde zu begründen50. Nach absolut herrschender Meinung51 stellen die tarifvertragliehen Regelungen für Betriebsarbeiter die Obergrenze für die bindende Festsetzung dar. Bezüglich meiner Bedenken verweise ich auf die Ausführungen in diesem Kapitel unter B.l.3.a.

c) Tarifloser Zustand Ist kein Tarifvertrag als Vergleichsbasis vorhanden, muß bei der Prüfung der Unzulänglichkeit auf die ortsüblichen tatsächlich durchschnittlich gezahlten Löhne vergleichbarer Betriebsarbeiter abgestellt werden52. Dies folgt aus dem von § 19 I 2 HAG hergestellten Bezug zu den Betriebsarbeitern. Wie sich aus dem Wort "insbesondere" in Satz 2 ergibt, stellt die Bezugnahme auf die Tarifverträge von Betriebsarbeitern nur eine beispielhafte Aufzählung dar 3 . Hierfür spricht auch ein kurzer rechtsgeschichtlicher Rückblick. Bereits nach der Legaldefinition des § 20 II des Hausarbeitsgesetzes i.d.F. v. 30. 06. 192354 wurde zur Ermittlung der Unzulänglichkeit auf die örtsüblichen Löhne abgestellt. Sollten keine gleichen oder gleichwertigen Betriebsarbeiten auffindbar sein, so sind die Entgelte dann als unzulänglich anzusehen, wenn sie für die Heimarbeiter so ungünstig sind, daß sie ihnen wirtschaftlich nicht zu einem angemessenem Auskommen verhelfen55 und die Heimarbeiter nicht in die Lage versetzen, ihre notwendigen wirtschaftlichen und sozialen Bedürfnisse zu befriedigen56 . Schmidt/KITIW. a. a. 0.; Brecht, HAG,§ 19 Rdn. 23. Brecht, HAG,§ 19 Rdn. 23; Schmidt/K/TIW. a. a. 0. 51 Vgl. die Nachweise in Fußnote 41. 52 Mehrle, AR-Blattei SD 910 Rdn. 79; Schmidt/K/TIW. HAG,§ 19 Rdn. 28; Brecht, BArbBI1974, S. 677, 680; Brecht, HAG,§ 19 Rdn. 26. 53 Begründung des Regierungsentwurfes in BT-Ds 7/975, S. 17; Brecht, a. a. 0. 54 RGBI 1923 I, S. 472 ff. § 20 II Hausarbeitsgesetz: "Als unzulängliche Entgelte sind Arbeitsvergütungen anzusehen, die Heimarbeitern für bestimmte Arten von Heimarbeit unter Zugrundelegung einer normalen Arbeitszeit und einer vollwertigen und eingerichteten Arbeitskraft nicht den ortsüblichen Lohn zu erreichen ermöglichen oder die hinter den in anderen Bezirken mit ähnlichen wirtschaftlichen Verhältnissen für die gleiche Arbeit bezal!lten Löhnen zurückbleiben oder den in demselben Bezirk in Werkstatt und Fabriken gezahlten Löhnen für ähnliche Arbeit nachstehen." 55 Schmidt/KITIW. HAG,§ 19 Rdn. 29. Ob man weiterhin fordern kann, daß die Arbeitsbedingungen sozial untragbar sein müssen (so Schmidt/ KITlW. a. a. 0 .), erscheint fraglich, denn die bindenden Festsetzungen stellen Ersatzregelungen für einen Tarifvertrag dar und sollen nicht lediglich einen Schutzwall gegen einen zu behebenden sozialen Notstand i. S. d. MindArbBG schaffen - vgl. insoweit B.l.4., II.3. und IV. (zweites Kapitel). 49

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B. Die Regelungen im Heimarbeitsrecht (§§ 19,21 I, 22 HAG)

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Zur Prüfung, ob eine Unzulänglichkeit vorliegt, kann der Heimarbeitsausschuß zudem gemäß § 28 I HAG Auskünfte unter Vorlage einschlägiger Unterlagen über die Entgelte verlangen und Feststellungen zur Arbeitszeit anstellen oder anstellen lassen5 7 . Bei der bindenden Festsetzung der Entgelte und sonstigen Vertragsbedingungen haben die Heimarbeitsausschüsse die Vor- und Nachteile der Heimarbeiter gegenüber den Betriebsarbeitern zu berücksichtigen58. Weiter sind aus den in diesem Kapitel unter B.II.3.a. genannten Gründen, etwaige soziale Folgen einer zu hohen Festsetzung der Entgelte oder sonstigen Vertragsbedingungen von den Heimarbeitsausschüssen zu berücksichtigen.

4. Inhalt der bindenden Festsetzung Inhalt der bindenden Festsetzung können nur Entgeltregelungen und sonstige Vertragsbedingungen sein59. Die bindenden Festsetzungen sind keine Mindestarbeitsbedingungen i. S. d. MindArbBG60. Sie bewegen sich also nicht auf der untersten Stufe und stellen keinen Schutzwall gegen einen zu behebenden sozialen Notstand dar. Die bindenden Festsetzungen schaffen innerhalb ihres Geltungsbereiches vielmehr eine Ersatzregelung für einen fehlenden Tarifvertrag. Sie stehen deshalb unter dem Gebot der Angemessenheit61 • Sie müssen inhaltlich so aufgebaut sein, daß sie einer tarifvertragliehen Regelung gleichen 62 . Wegen ihrer Beschränkung auf Entgelte und sonstige Vertragsbedingungen steht ihnen gegenüber Tarifverträgen jedoch ein geringerer Bereich an Regelungsmöglichkeiten zur Verfügung. Insbesondere betriebliche und betriebsverfassungsrechtliche Fragen können nicht geregelt werden63 . Die bindenden Festsetzungen enthalten im Gegensatz zu Tarifverträgen auch keinen schuldrechtlichen Teil64.

Fitting, RdA 1952, S. 5. 6. Otten, HAG,§ 19 Rdn. 10; Brecht, HAG,§ 28 Rdn. 4. 58 Vgl. Hierzu B.I.3. (zweites Kapitel). 59 Orten, HAG,§ 19 Rdn. 19; Brecht, BArbBl 1974, S. 677, 679; ders., HAG,§ 19 Rdn. 29; Schmidt/K/T/W, HAG,§ 19 Rdn. 42. 60 Vgl.: C. (zweites Kapitel). 61 Fittig, RdA 1950, S. 453, 455; Fittig, RdA 1952, S. 5, 8; Hersehe/, BArbBI 1951, S. 13, 16; Lepke, BB 1971, S. 1509, 1515; Schmidt/K/T/W, HAG,§ 19 Rdn. 31, 44. 62 Die bindenden Festsetzungen sind auch wie Tarifverträge auszulegen, BAG AP Nr. 9 zu § 19 HAG; Schmidt/K/TIW, HAG,§ 19 Rdn. 14. 63 Otten, HAG,§ 19 Rdn. 21; Schmidt/K/T/W, HAG,§ 19 Rdn. 44; Brecht, HAG, § 19 Rdn. 29. 64 Schmidt/K/T/W, HAG,§ 19 Rdn. 46. 56 57

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2. Kap.: Mindestarbeitsbedingungen durch staatlichen Umsetzungsakt

5. Der Heimarbeitsausschuß

Die bindende Festsetzung der Entgelte oder sonstigen Vertragsbedingungen beschließt der Heimarbeitsausschuß. a) Errichtung

Der Heimarbeitsausschuß wird gemäß § 4 I 1 HAG von der zuständigen Arbeitsbehörde für Gewerbezweige oder Beschäftigungsarten errichtet, in denen Heimarbeit in nennenswertem Umfang geleistet wird. Der Begriff des nennenswerten Umfanges ist gesetzlich nicht näher definiert. Heimarbeit in nennenswertem Umfang wird allgemein angenommen, wenn die geleistete Heimarbeit in dem betreffenden Bereich wirtschaftlich von einiger Bedeutung und wegen der Zahl der mit dieser Heimarbeit Beschäftigten auch sozial von Gewicht ist65 . Seit dem Heimrechtsänderungsgesetz von 1977 kommt dem Merkmal des nennenswerten Umfanges jedoch keine große Bedeutung mehr zu. Fehlen nämlich Voraussetzungen zur Errichtung von Heimarbeitsausschüssen, so ist gemäß § 4 I 3 HAG ein gemeinsamer Heimarbeitsausschuß zu errichten. Dieser ist für die Heimarbeit zuständig, die von keinem sonstigen Heimarbeitsausschuß erfaßt wird. Damit ist eine lückenlose Erfassung der gesamten Heimarbeit gewährleistet66. b) Zusammensetzung, Beschlußfähigkeit und -fassung

Der Heimarbeitsausschuß besteht gemäß § 4 II 1 HAG aus je drei Beisitzern aus Kreisen der Auftraggeber und Beschäftigten und einem von der zuständigen Arbeitsbehörde zu bestimmenden Vorsitzenden. Gemäß § 4 II 2 HAG können weitere sachkundige Personen ohne Stimmrecht hinzugezogen werden. § 4 III HAG regelt die Beschlußfähigkeit und das Abstimmungsverfahren67. Der Heimarbeitsausschuß ist beschlußfähig, wenn mehr als die Hälfte der Beisitzer also mindestens vier Beisitzer - anwesend sind. Bei der Beschlußfassung hat sich der Vorsitzende zunächst der Stimme zu enthalten. Kommt bei der Abstimmung keine Mehrheit zustande, so übt der Vorsitzende sein Stimmrecht nach einer weiteren Beratung aus. Der Beschluß ist schriftlich niederzulegen und nicht justitiabel68.

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18.

Brecht, HAG, § 4 Rn. 5. Schulte, DB 1974, S. 1534; Wlotzke, DB 1974, S. 2252, 2253; Brecht, HAG, § 4 Rdn.

67 Vgl. hinsichtlich des Stimmverhaltens des Vorsitzenden auch den insoweit inhaltsgleichen § 5 II MindArbBG- C.II1.3. (zweites Kapitel). 68 Brecht, HAG,§ 19 Rdn. 37; Schmidt/KITIW, HAG,§ 19 Rdn. 15.

B. Die Regelungen im Heimarbeitsrecht (§§ 19,21 I, 22 HAG)

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Der Heimarbeitsausschuß wird durch den Vorsitzenden einberufen. Er hat den Ausschuß auf Antrag der zuständigen Arbeitsbehörde oder von mindestens drei Beisitzern einzuberufen (§ 5 II DVO). 6.Anhörung

Vor dem Erlaß der bindenden Festsetzung sind Auftraggeber und Beschäftigte gemäߧ 19 I l HAG anzuhören. Die Anhörung erfolgt nach§ 7 I DVO derart, daß nach der Bekanntmachung der vorn Heimarbeitsausschuß beschlossenen bindenden Festsetzung den Beteiligten innerhalb einer Frist Gelegenheit zu einer schriftlichen Stellungnahme gegeben wird. Eine öffentliche und mündliche Verhandlung wird nur noch dann durchgeführt, wenn gegen die beschlossenen bindenden Festsetzungen frist- und formgerecht Einwendungen erhoben worden sind. Die Verhandlung ist dann ihrem Gegenstand nach auf die erhobenen Einwendungen begrenzt. Ändert der Heimarbeitsausschuß aufgrund der Verhandlung den Beschluß ab, hat er die bindende Festsetzung erneut bekanntzugeben und den Beteiligten wiederum Gelegenheit zur schriftlichen Stellungnahme zu geben. Werden keine Einwendungen erhoben oder hat der Heimarbeitsausschuß die erhobenen Einwendungen voll berücksichtigt, so ist das Verfahren vor dem Heimarbeitsausschuß abgeschlossen69 . 7. Zustimmung der Arbeitsbehörde und Veröffentlichung (§ 19 II 1, 111 1 HAG)

Die bindende Festsetzung bedarf gemäß § 19 II 1 HAG der Zustimmung der zuständigen Arbeitsbehörde und der Veröffentlichung. Die Arbeitsbehörde befaßt sich mit der bindenden Festsetzung nachdem das Verfahren vor dem Heimarbeitsausschuß abgeschlossen ist und der Heimarbeitsausschuß gemäß § 7 III 1 DVO die Zustimmung der zuständigen Arbeitsbehörde schriftlich beantragt hat. Die Arbeitsbehörde nimmt eine eigenständige Prüfung vor. Ihr steht der gleiche Prüfungsrahmen wie dem Heimarbeitsausschuß zur Verfügung70. Die Behörde ist, wie auch der Heirnarbeitsausschuß, an die Vergleichsmaßstäbe des § 19 I 2, 3 HAG gebunden71 • Dies ergibt sich aus § 19 II 4 HAG. Hiernach kann die Arbeitsbehörde die Zustimmung insbesondere dann versagen, wenn sie die vorn Heimarbeitsausschuß festgesetzten Entgelte und sonstigen Vertragsbedingungen als unzulänglich ansieht. Brecht, HAG, § 19 Rdn. 38. Wlotzke, DB 1974, S. 2252, 2253 f.; Otten, HAG, § 19 Rdn. 15; Brecht, HAG, § 19 Rdn. 39; Schmidt/K/T/W, HAG, § 19 Rdn. 37. 71 Begründung des Regierungsentwurfes BT-Ds 7/975, S. 17. 69

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2. Kap.: Mindestarbeitsbedingungen durch staatlichen Umsetzungsakt

Beabsichtigt die Behörde, die Zustimmung zu verweigern, so hat sie dies gemäß § 19 II 4 HAG dem Heimarbeitsausschuß unter Angabe der Gründe mitzuteilen und ihm Gelegenheit zu geben, die bindende Festsetzung zu ändern. Schließt sich der Heimarbeitsausschuß den Bedenken an, hat er eine geänderte bindende Festsetzung zu erlassen und die Beteiligten erneut anzuhören72. Beharrt der Heimarbeitsausschuß auf der von ihm erlassenen bindenden Festsetzung, kann die Arbeitsbehörde die Zustimmung endgültig verweigern. Ein Weisungsrecht gegenüber dem Heimarbeitsausschuß steht ihr jedoch nicht zu73 • Hat die zuständige Arbeitsbehörde die Zustimmung erteilt, so veranlaßt sie die Veröffentlichung der bindenden Festsetzung. Die bindende Festsetzung hat die Wirkung eines allgemein verbindlichen Tarifvertrages(§ 191II 1 HAG/4 •

11. Entgeltregelung für Zwischenmeister gemäß § 21 I HAG Der Heimarbeitsausschuß kann gemäߧ 21 I HAG für Zwischenmeister im Verhältnis zu ihren Auftraggebern Zuschläge mit bindender Wirkung festlegen. Voraussetzung ist, daß die Zwischenmeister gemäß § 1 II d, III, IV, V HAG den in Heimarbeit Beschäftigten gleichgestellt sind, in der Gleichstellungsentscheidung die Anwendung des sechsten Abschnittes des HAG nicht ausgeschlossen ist und die Voraussetzungen der §§ 17 bis 19 HAG gegeben sind. 1. Adressaten

Adressaten der Vorschrift sind die Auftraggeber und ihre Zwischenmeister. Zum Begriff des Auftraggebers, vgl.: B.l.l. (zweites Kapitel). Der Begriff des Zwischenmeisters ist in § 2 III HAG legal definiert. Hiernach ist Zwischenmeister, wer ohne Arbeitnehmer zu sein, die ihm von Gewerbetreibenden übertragene Arbeit an Heimarbeiter oder Hausgewerbetreibende weitergibt. Zwischenmeister sind demnach Mittelspersonen, die die Heimarbeit von Gewerbetreibenden annehmen und diese an Heimarbeiter oder Hausgewerbetreibende weitergeben. Nur die Zwischenmeister stehen zu Letzteren in einer Rechtsbeziehung. Im Verhältnis zu den von dem Zwischenmeister beschäftigten Heimarbeitern oder Hausgewerbetreibenden sind die Zwischenmeister Auftraggeber75 . Dennoch sieht der Gesetzgeber die Zwischenmeister als sozial schutzbedürftig an, soweit sie den in Heimarbeit Beschäftigten gleichgestellt sind. n Brecht, HAG, § 19 Rdn. 40. Brecht, a. a. 0.; Schmidt/KIT/W, a. a. 0. 74 vgl. hierzu: A. (zweites Kapitel). 75 Mehrte, AR-Blattei, SD 910 Rdn. 103; Brecht, HAG,§ 2, Rdn. 38; Schmidt/K/T/W, HAG, § 2 Rdn. 43. 73

B. Die Regelungen im Heimarbeitsrecht (§§ 19, 21 I, 22 HAG)

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2. Das Gleichstellungsverfahren Das Gleichstellungsverfahren ist in § 1 III bis V HAG geregelt. Die Gleichstellung erfolgt nach Anhörung der Beteiligten durch widerrufliche Erklärung des zuständigen Heimarbeitsausschusses76 (§ I IV I HAG). Das Verfahren durch den Heimarbeitsausschuß ist in § I IV HAG geregelt. Es ist im wesentlichen mit demjenigen beim Erlaß einer bindenden Festsetzung identisch77. Sollte für den betreffenden Gewerbezweig oder die Beschäftigungsart kein Heimarbeitsausschuß bestehen, entscheidet die zuständige Arbeitsbehörde nach Anhörung der Beteiligten über die Gleichstellung (§ I V HAG). Das Verfahren ist in § 1 V HAG geregelt. Ein Rechtsanspruch auf Gleichstellung besteht nicht78 . In der Gleichstellungsentscheidung darf die Anwendbarkeit des sechsten Abschnittes des HAG nicht gemäß § 1 III HAG ausgeschlossen sein. Sollte dies der Fall sein, so meinen Heimarbeitsausschuß und Arbeitsbehörde, daß die Zwischenmeister hinsichtlich ihrer Entgelte nicht in gleicher Weise wie die in Heimarbeit Beschäftigten schutzbedürftig sind. 3. Schutzbedürftigkeit Materiell bedarf es zur Gleichstellung der Zwischenmeister mit den in Heimarbeit Beschäftigten der Schutzbedürftigkeit der Zwischenmeister (§ 1 II HAG). Für die Schutzbedürftigkeit ist das Ausmaß der wirtschaftlichen Abhängigkeit maßgeblich. Bei der Ermittlung der Schutzbedürftigkeit sind gemäß § II 3 HAG insbesondere die Zahl der fremden Hilfskräfte, die Abhängigkeit von einem oder mehreren Auftraggebern, die Möglichkeit des unmittelbaren Zuganges zum Absatzmarkt, die Höhe und die Art der Eigeninvestitionen sowie der Umsatz zu berücksichtigen. Der allgemeine Maßstab zur Ermittlung der Schutzbedürftigkeit ist somit das Ausmaß der wirtschaftlichen Abhängigkeit der Gleichzustellenden von ihren Auftraggebern. Auf die persönliche Abhängigkeit kommt es hingegen nicht an. Waren die Gleichzustellenden nämlich auch persönlich anhängig, z. B. wenn sie weisungsgebunden wären, so wären sie regelmäßig echte Arbeitnehmer79 • Bei der Beurteilung der Schutzbedürftigkeit sind die folgenden Überlegungen zu berücksichtigen. Je größer die Zahl der beschäftigten fremden Hilfskräfte ist, desto eher ist davon auszugehen, daß es sich um ein wirtschaftlich selbständiges Unternehmen handelt, welches nicht schutzbedürftig ist80• Für Zwischenmeister kann aus dem Kriterium 76 77

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Zum Heimarbeitsausschuß vgl.: B.I.3. bis 5. (zweites Kapitel). Brecht, HAG, § 1 Rdn. 39; Zum Verfahren vgl.: B.I.3. bis 5. (zweites Kapitel). Schmidt/K/T/W, HAG, § 1 Rdn. 42; Brecht, HAG,§ 1 Rdn. 38. Waniorek, Teleheimarbeit, S. 151; Brecht, HAG, § 1 Rdn. 25 f. Brecht, HAG,§ 1 Rdn. 27.

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2. Kap.: Mindestarbeitsbedingungen durch staatlichen Umsetzungsakt

der fremden Hilfskräfte jedoch nicht auf eine fehlende Schutzbedürftigkeit geschlossen werden, denn die Zwischenmeister geben Arbeit nur an Heimarbeiter oder Hausgewerbetreibende weiter(§ 2 III HAG), beschäftigen jedoch keine fremden Hilfskräfte. Dies zeigt auch die Legaldefinition der fremden Hilfskraft in § 2 VI HAG, in der ein Verweis auf den§ 1 II lit. d HAG und somit auf den Zwischenmeister fehlt. Je größer die Zahl der Auftraggeber ist, desto unabhängiger ist der einzelne Zwischenmeister von dem einzelnen Auftraggeber81 • Die Schutzbedürftigkeit der Zwischenmeister steigt deshalb mit dem Sinken der Anzahl ihrer Auftraggeber. Die Schutzbedürftigkeit kann jedoch auch bei nur einem oder nur wenigen Auftraggebern zu verneinen sein, wenn zwischen dem Zwischenmeister und den Auftraggebern auf Dauer angelegte Vertragsbeziehungen bestehen. In diesen Fällen fehlt es an dem typischen Unsicherheitsmoment82 . Die Gleichzustellenden sind um so schutzbedürftiger, je erschwerter ihr unmittelbarer Zugang zu den Absatzmärkten ist83 . Zwischenmeister sind Mittelspersonen zwischen Gewerbetreibenden und Heimarbeitern 84. Sie haben überhaupt keinen Zugang zu Absätzmärkten. Aus diesem Kriterium kann deshalb nicht auf die fehlende Schutzbedürftigkeit der Zwischenmeister geschlossen werden. Zwischenmeister sind weiter um so schutzbedürftiger, je höher das Ausmaß ihrer Eigeninvestitionen (z. B. in Gebäude, Räume Maschinen, Materialien) ist. Hierbei kommt es nicht primär auf den absoluten Wert der Investitionen, sondern auf das Verhältnis der Investitionen zur übernommenen Arbeit an 85 . Stellte man nicht auf ein solches Verhältnis ab, so ergäben sich im Vergleich der einzelnen Wirtschaftszweige miteinander und im Vergleich von umsatzstarken und umsatzschwächeren Gleichzustellenden Wertungsunterschiede. Schließlich gilt, je größer der Umsatz eines Gleichzustellenden ist, um so eher ist anzunehmen, daß es sich um einen selbständigen Unternehmer handelt, der nicht schutzbedürftig ist86. Die aufgezählten Kriterien lassen erkennen, daß der Heimarbeitsausschuß bei der Beurteilung der Schutzbedürftigkeit eine umfassende Abwägung vorzunehmen hat. Aus dem Wort "insbesondere" folgt, daß die Aufzählung nicht erschöpfend ist. Es können auch weitere Kriterien, die die Verhältnisse der Gleichzustellenden beriihren, beriicksichtigt werden87• 81 Kilian!Borsum/Hoffmeister; Forschungsbericht, S. 145 f.; Schmidt/KI T/W, HAG,§ 1 Rdn. 41; Brecht, HAG,§ 1 Rdn. 28. 82 Brecht, a. a. 0. 83 Kappus, NJW 1984, S. 2384, 2388; Kilianl Borsuml Hoffmeister; Forschnungsbericht, S. 146; Brecht, HAG, § I Rdn 29. 84 Brecht, HAG, § 2 Rdn. 26. 85 Kilianl Borsum/ Hoffmeister; Forschungsbericht, S. 146; Brecht, HAG, § I Rdn. 30. 86 Brecht, HAG, § 1 Rdn. 31.

B. Die Regelungen im Heimarbeitsrecht (§§ 19, 21 I, 22 HAG)

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4. Festsetzung der Zuschläge

Die Festsetzung der Zuschläge erfolgt gemäß den §§ 17 bis 19 HAG. Im Rahmen des Themas der Arbeit ist nur die Festsetzung der Zuschlage entsprechend § 19 HAG von Interesse. Wie sich aus dem Verweis auf § 19 HAG ergibt, müssen die Voraussetzungen für den Erlaß von bindenden Festsetzungen für Heimarbeiter auch für Zwischenmeister vorliegen. Insoweit wird auf die Ausführungen in diesem Kapitel unter B.l. verwiesen, die entsprechend für Zwischenmeister gelten. Der Heimarbeitsausschuß kann für Heimarbeiter Stückentgelte (§ 20 Satz I HAG) oder Zeitentgelte (§ 20 Satz 2 HAG), für Zwischenmeister jedoch nur Zuschläge festsetzen. Dieser Unterschied erklärt sich aus der Funktion der Zwischenmeister. Die Zwischenmeister arbeiten selbst an der Ausführung der Stücke nicht mit, sondern geben die Arbeit weiter. Deshalb eignen sich für sie weder Stücknoch Zeitentgelte88 . Die Zuschläge werden in aller Regel als prozentuale Anteile des Entgeltes festgesetzt, das die von den Zwischenmeistem belieferten Heimarbeiter und Hausgewerbetreibende erhalten89 . Die Festsetzung der Zuschüsse verfolgt zwei Ziele. Sie soll einen angemessenen Verdienst der Zwischenmeister sichem90. Insoweit ist anerkannt, daß die bindende Festsetzung der Zuschläge zumindest die Existenzgrundlage der Heimarbeiter sichern soll91 • Die Festsetzung von Zuschlägen erfolgt aber auch zum Schutz der von den Zwischenmeistem in Heimarbeit Beschäftigten. Der Zwischenmeister hat die sich aus den §§ 17 bis 19 HAG ergebenden Entgelte und sonstigen Vertragsbedingungen zu gewähren. Um dies sicherzustellen muß verhindert werden, daß die Auftraggeber den Zwischenmeistem so geringe Entgelte zahlen, daß es den Zwischenmeistem unmöglich ist, ihre Verpflichtungen gegenüber den Heimarbeitern und Hausgewerbetreibenden einzuhalten92 •

111. Mindestarbeitsbedingungen für fremde Hilfskräfte gemäß § 22 HAG Für fremde Hilfskräfte können gemäß § 22 HAG Mindestarbeitsbedingungen festgesetzt werden. Voraussetzung ist, daß die fremden Hilfskräfte von Hausgewer87 Wlotzke, DB 1974, S. 2252, 2255; Brecht, BArbBI 1974, S. 677; ders., HAG,§ 1 Rdn. 26, 32; Kilian/Borsum/Hoffmeister; Forschungsbericht, S. 145; Schmidt/K/TI W. HAG,§ 1 Rdn. 35. 88 Brecht, HAG,§ 21 Rdn. 2; Schmidt/KITIW. HAG,§ 21 Rdn. 2. 89 Otten, HAG, § 21 Rdn. 3; Brecht, a. a. 0 .; Schmidt/ KI TI W. a. a. 0. 90 BT-Ds 1/1357, S. 27; Schmidt/K/TIW. a. a. 0. 91 Schmidt/K/TIW. a. a. 0 . 92 BT-Ds 1/1357, S. 27; Mehrte, AR-B1attei, SD 910 Rdn. 103; Schmidt/K/TI W. a. a. 0 .

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2. Kap.: Mindestarbeitsbedingungen durch staatlichen Umsetzungsakt

betreibenden oder Gleichgestellten beschäftigt werden und daß die Entgelte für die Hausgewerbetreibenden oder Gleichgestellten gemäß §§ 17 bis 19 HAG festgesetzt sind. Die Mindestarbeitsbedingungen haben die Wirkung eines für allgemeinverbindlich erklärten Tarifvertrages(§§ 22 II 1 i.V.m. § 19 III 1 HAG).

1. Adressaten Adressaten der Vorschrift sind Hausgewerbetreibende, die ihnen gleichgestellten Personen und die von diesen beschäftigten fremden Hilfskräfte. Zum Begriff der Hausgewerbetreibenden, der ihnen gleichgestellten Personen und dem Gleichstellungsverfahren, vgl.: B.l.l., 11.2. und 3 (zweites Kapitel). Der Begriff der fremden Hilfskräfte ist in § 2 VI HAG legal definiert. Hiernach sind fremde Hilfskräfte Personen, die als Arbeitnehmer eines Hausgewerbetreibenden oder eines nach § 1 II lit. b, c HAG Gleichgestellten in deren Arbeitsstätte beschäftigt sind. Der Begriff der fremden Hilfskraft wurde in Abgrenzung zu den mitarbeitenden Familienangehörigen (§ 2 V HAG) gewählt93 . Fremde Hilfskräfte sind Arbeitnehmer. Sie stehen in einem Arbeitsverhältnis, auf das die allgemeinen Vorschriften des Arbeitsrechts anwendbar sind94. Für sie können jedoch Mindestarbeitsbedingungen festgesetzt werden.

2. Festsetzung der Entgelte der Arbeitgeber gemäߧ§ 17 bis 19 HAG Voraussetzung einer Festsetzung von Mindestarbeitsbedingungen für fremde Hilfskräfte ist, daß die Entgelte ihrer Arbeitgeber gemäß §§ 17 bis 19 HAG festgesetzt sind. Die Arbeitsbedingungen der Hausgewerbetreibenden und der ihnen gleichgestellten Personen müssen also entweder durch Tarifverträge gemäß § 17 HAG oder durch bindende Festsetzungen gemäß § 19 HAG geregelt sein. Diesem Erfordernis liegen mehrere Erwägungen zu Grunde. Eine Festsetzung von Mindestarbeitsbedingungen ist ohne Vergleichsgrundlage äußerst schwierig. Deshalb sollen die gemäߧ§ 17, 19 HAG festgesetzten Entgelte der Hausgewerbetreibenden und der ihnen gleichgestellten Personen als Vergleichsgrundlage dienen95. Zudem erscheint die Normierung von Mindestarbeitsbedingungen für fremde Hilfskräfte nur vertretbar, wenn die Arbeitgeber, die selbst sozial schutzbedürftig sind96, durch Entgeltregelungen wirtschaftlich abgesichert sind97 . Verzichtete 93 94 95

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Brecht, HAG, § 2 Rdn. 53. Brecht, a. a. 0.; Schmidt/KITIW, HAG,§ 2 Rdn. 54. Schmidt/KIT/W, HAG,§ 22 Rdn. 3. Zur bindenden Festsetzung vgl.: B.l. (zweites Kapitel). Brecht, HAG, § 22 Rdn. 3.

B. Die Regelungen im Heimarbeitsrecht (§§ 19,21 I, 22 HAG)

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man hierauf, wäre die Mindestleistungsfähigkeit der Arbeitgeber nicht gesichert und die Arbeitgeber der fremden Hilfskräfte könnten die festgesetzten Mindestarbeitsbedingungen wohlmöglich nicht gewähren. Dies ginge zu Lasten ihres eigenen Einkommens und ihrer eigenen Vertragsbedingungen. Der Hauptzweck des HAG, die in Heimarbeit Beschäftigten und die ihnen Gleichgestellten zu schützen, wäre ins Gegenteil verkehrt98 . 3. Weitere Voraussetzungen, Verfahren

Gemäß § 22 II 1 HAG gilt fur die Festsetzung der Mindestarbeitsbedingungen § 19 HAG entsprechend. Die Voraussetzungen für die Festsetzung von Mindestarbeitsbedingungen entsprechen somit den Voraussetzungen, bei deren Vorliegen bindende Festsetzungen gemäß § 19 HAG erlassen werden können. Insoweit wird auf die Ausführungen in diesem Kapitel unter B.l. verwiesen. Die Mindestarbeitsbedingungen für fremde Hilfskräfte werden von Entgeltausschüssen festgesetzt. Für die Zusammensetzung und das Verfahren vor den Entgeltausschüssen gelten gemäß § 22 III HAG die §§ 4 II bis IV, 5 HAG entsprechend. Auch insoweit kann auf die Ausführungen in diesem Kapitel unter B.l.3. und 4. verwiesen werden. Ergänzend sei noch bemerkt, daß schriftliche Vereinbarungen gemäß § 17 HAG für fremde Hilfskräfte nicht möglich sind. Solche Vereinbarungen können nur für in Heimarbeit Beschäftigte oder ihnen gleichgestellte Personen abgeschlossen werden. Fremde Hilfskräfte sind jedoch echte Arbeitnehmer. Ihre Arbeitsbedingungen können durch echte Tarifverträge nach dem TVG geregelt werden99 • Da Hausgewerbetreibende und Gleichgestellte nur selten in tariffähigen Arbeitgebervereinigungen zusammengeschlossen sind, werden solche Tarifverträge in der Praxis nur selten abgeschlossen. Auch deshalb sollen die fremden Hilfskräfte durch § 22 HAG geschützt werden 100• 4. Mindestarbeitsbedingungen

Die Mindestarbeitsbedingungen für fremde Hilfskräfte stellen eine mit den bindenden Festsetzungen vergleichbare Regelung für Arbeitnehmer dar 101 • Sie sind, wie auch die bindenden Festsetzungen nach § 19 HAG, Ersatzregelung für einen fehlenden Tarifvertrag 102 • Aus der Verweisung auf§ 19 HAG folgt weiter, daß die Mindestarbeitsbedingungen inhaltlich auf die Festsetzung von Entgelten und sonstigen Vertragsbedingungen beschränkt sind 103 . Otten, HAG,§ 22 Rdn. 4; Schmidt!KITIW, HAG,§ 22 Rdn. 3. Schmidt,KITIW, HAG, § 22 Rdn. 1; Brecht, HAG, § 22 Rdn. l. 10o Schmidt/KITIW, a. a. 0. lOt Brecht, HAG, § 22 Rdn. 4. 102 Schmidt/KITIW. HAG,§ 22 Rdn. 5.

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2. Kap.: Mindestarbeitsbedingungen durch staatlichen Umsetzungsakt

Der Begriff der Mindestarbeitsbedingungen nach § 22 HAG ist nicht mit dem Begriff des MindArbBG identisch 104• Mindestarbeitsbedingungen i. S. d. MindArbBG stellen einen Schutzwall gegen einen zu behebenden sozialen Notstand dar. Die Mindestarbeitsbedingungen gemäß § 22 HAG sollen dagegen hinsichtlich der Entgelte und sonstigen Vertragsbedingungen eine Ersatzregelung für einen fehlenden Tarifvertrag schaffen 105 . Die Unterschiedlichkeit der Inhalte desselben Begriffes in verschiedenen Gesetzes folgt auch aus § 1 III MindArbBG, in dem normiert ist, daß die Vorschriften des HAG durch das MindArbBG nicht beriihrt werden 106. Die Mindestarbeitsbedingungen für fremde Hilfskräfte dürfen nicht so hoch festgesetzt werden, daß ihre Gewährung durch die Heimarbeiter oder Gleichgestellten zu einem Absinken der durch §§ 17, 19 festgesetzten Entgelte oder sonstigen Vertragsbedingungen der Auftraggeber führt. Dies folgt aus dem Hauptzweck des HAG, die in Heimarbeit Beschäftigten und die ihnen gleichgestellten Personen zu schützen 107 . Da den Hausgewerbetreibenden und den ihnen gleichgestellten Personen durch die Beschäftigung fremder Hilfskräfte auch Kosten entstehen, dürften die Mindestarbeitsbedingungen der fremden Hilfskräfte typischerweise etwas hinter den Entgeltregelungen und sonstigen Vertragsbedingungen der Auftraggeber zuriickbleiben. Würden die schriftlichen Vereinbarungen (§ 17 HAG) oder die bindenden Festsetzungen(§ 19 HAG) für die in Heimarbeit Beschäftigten in ihrer Gänze für die Festsetzung der Mindestarbeitsbedingungen für fremde Hilfskräfte übernommen, so würde dies im Ergebnis dazu führen, daß die Entgelte und sonstigen Vertragsbedingungen der Hausgewerbetreibenden und der ihnen gleichgestellten Personen sinken. Das Hauptanliegen des HAG wäre dann ins Gegenteil verkehrt. Die Mindestarbeitsbedingungen haben die Wirkung eines für allgemeinverbindlich erklärten Tarifvertrages (§§ 22 II 1 i.V.m. § 19 IIl 1 HAG). Sie erfassen jedoch nur diejenigen fremden Hilfskräfte, für deren Arbeitgeber Regelungen i. S. d. §§ 17, 19 HAG bestehen 108 .

IV. Die Vorschriften der§§ 19,21 I, 22 HAG als taugliche Instrumente zur Setzung von Mindestarbeitsbedingungen? Die bindenden Festsetzungen für in Heimarbeit Beschäftigte und ihnen gleichgestellte Personen (§ 19 HAG), die Entgelte für Zwischenmeister (§ 21 I HAG) 103 Otten, HAG,§ 22 Rdn. 7; Brecht, a. a. 0.; Schmidt!K/ T/W, HAG,§ 22 Rdn. 7; a.A.: Maus!Schmidt, HAG 3. Aufl., § 22 Rdn. 7. 104 Zum MindArbBG vgl.: C. (zweites Kapitel). 105 Schmidt/K/TIW. HAG,§ 22 Rdn. 5. 106 Schmidt!K/T/W, HAG, § 22 Rdn. 5; Brecht, HAG,§ 22 Rdn. I. 107 Otten, HAG,§ 22 Rdn. 4; Schmidt/ KITlW, § 22 Rdn. 3. 108 Vgl.: B.III.2. (zweites Kapitel).

B. Die Regelungen im Heimarbeitsrecht (§§ 19, 21 I, 22 HAG)

109

und die Mindestarbeitsbedingungen für fremde Hilfskräfte (§ 22 HAG) stellen Ersatzregelungen für fehlende Tarifverträge dar 109 . Innerhalb ihres Regelungsbereiches enthalten die Festsetzungen ein abgestuftes System an Sicherungsmöglichkeiten. Hierdurch wird dem geschützten Personenkreis ein tarifvertragähnlicher Schutz gewährt. Die Festsetzungen ermöglichen deshalb nicht lediglich die Schaffung eines unteren Schutzwalles zur Behebung eines sozialen Notstandes und damit die Verhinderung und Bekämpfung unzumutbarer Arbeitsbedingungen sondern durch Festsetzung angemessener Entgelte und sonstiger Vertragsbedingungen auch die Verhinderung und Bekämpfung unbilliger Arbeitsbedingungen. Der Schutz des HAG weist jedoch auch Lücken auf. Nach h.M. 110 ist das HAG nicht auf alle Tatigkeiten anwendbar, die von in Heimarbeit Beschäftigten ausgeübt werden. Zusätzlich zum Vorliegen der sonstigen Voraussetzungen der Heimarbeit verlangt eine Auffassung, daß sich eine Verkehrsanschauung gebildet hat, nach der die fraglichen Tätigkeiten als Heimarbeit i. S. d. HAG angesehen werden. In Ermangelung einer diesbezüglichen Verkehrsanschauung sollen insbesondere qualifizierte Angestelltentätigkeiten nicht unter § 2 I HAG fallen 111 • Dem kann nicht gefolgt werden. § 2 I HAG enthält kein Tatbestandsmerkmal der Verkehrsanschauung hinsichtlich der Einordnung einer bestimmten Tatigkeit als Heimarbeit 112. Ein solches wurde primär von der Rechtsprechung zum HAG in der bis 1974 geltenden Fassung entwickelt 113 . Nach§ 2 I HAG a.F. konnten nämlich nur gewerbliche Tätigkeiten in Heimarbeit verrichtet werden. Um den Schutzbereich des HAG auszuweiten, wurde der Begriff "gewerblich" von der Rechtsprechung weit ausgelegt. Die Rechtsprechung unterstellte auch diejenigen Bürotätigkeiten unter den Schutz des § 2 I HAG, die nach der Verkehrsanschauung als Heimarbeit i. S. d. HAG anzusehen waren. Dadurch wurden zunächst auch sogenannte einfache Angestelltentätigkeiten von § 2 I HAG erfaßt. Durch das Heimrechtsänderungsgesetz von 1974 wurde der Begriff "gewerblich" durch "erwerbsmäßig" ersetzt. Durch diese Änderung bezweckte der Gesetzgeber eine Erweiterung des Anwendungsbereiches des HAG 114• Nun unterfielen grundsätzlich auch Vgl.: B.l.4. und 111.3. (zweites Kapitel). Brecht, HAG,§ 2 Rdn. 9; Küfner-Schmitt, Telearbeiter, S. 66 ff.; Schmidt/KIT/W, HAG,§ 2 Rdn. 65 ff.; Weitere Nachweise in Fußnote 121. 111 Küfner-Schmitt, Telearbeiter, S. 69 f.; Brecht, HAG,§ 2 Rdn. 9; Maus/Schmidt, HAG 3. Aufl., § 2 Rdn. 64. 112 Kappus, NJW 1984, S. 2384, 2387; Simon/Kuhne, BB 1987, S. 201, 203; Albrecht, NZA 1996, S. 1240, 1241; Waniorek, Teleheimarbeit, S. 40; Kilian/Borsum/Hoffmeister, Forschungsbericht, S. 123 ff., 153 ff.; Wedde, Telarbeit, S. 73; Collardin, Telearbeit, S. 29. 113 BSG AP Nr. 7 zu § 2 HAG; BAG AP Nr. 3 zu § 2 HAG; weitere Nachweise bei: Schmidt/K/TIW, HAG,§ 2 Rdn. 56 ff. 114 BT-Ds 7/975, S. 12, 14; Wlotzke, DB 1974, S. 2252 f.; Kappus, a. a. 0 .; Simonl Kuhne, a. a. 0.; Kilian/Borsum/Hoffmeister, Forschungsbericht, S. 125; Waniorek, a. a. 0 .; Wedde, Telearbeit, S. 74. 109

IJO

110

2. Kap.: Mindestarbeitsbedingungen durch staatlichen Umsetzungsakt

Angestelltentätigkeiten dem unmittelbaren Schutz des HAG 115 . Durch die Gesetzesänderung wurde das von der Rechtsprechung entwickelte Kriterium der Verkehrsanschauung überflüssig. Hält man mit der hier kritisierten Auffassung an diesem Tatbestandsmerkmal dennoch fest, obwohl es von der Rechtsprechung zu einer anderen Gesetzesfassung entwickelt wurde und den Schutz des HAG ausweiten sollte, so schränkt man nun den Anwendungsbereich des HAG ein. Dies widerspricht der Intention des Gesetzgebers 116• Zudem ist nicht einzusehen, warum Heimarbeiter, die eine qualifizierte Tätigkeit ausüben, weniger schutzbedürftig sein sollen als Heimarbeiter, die eine einfache Tätigkeit ausüben 117 • Trotz der vorgetragenen Kritik an dieser Auffassung, ist es fraglich, ob sogenannte qualifizierte Angestelltentätigkeiten rechtstatsächlich durch das HAG geschützt sind. Jedenfalls bis vor wenigen Jahren, mußte die hier kritisierte Auffassung als herrschend angesehen werden. Das BAG 118 hat die Frage, ob sich eine Verkehrsanschauung gebildet haben muß, in einer 1992 ergangenen Entscheidung offengelassen. Beharrt man auf dem Merkmal der Verkehrsanschauung, so erstreckt sich der Schutz des HAG nicht auf Angestelltentätigkeiten, für die sich eine diesbezügliche Verkehrsanschauung nicht gebildet hat. Das HAG ist dann in diesen Fällen weder zur Verhinderung unzumutbarer noch zur Verhinderung unbilliger Arbeitsbedingungen geeignet. Auch die einhellig vorgenommene Auslegung des Begriffs des Gewerbetreibenden schränkt den Schutzbereich des HAG ein 119• § 2 I HAG setzt einen gewerblichen Auftraggeber voraus. Der Begriff des Gewerbetreibenden wird im Heimarbeitsrecht in Übereinstimmung mit der zum Begriff des Gewerbetreibenden in der GewO entwickelten Definition verstanden 120. Diese eng an der GewO orientierte Auslegung des Begriffs des Gewerbetreibenden führt zu zufälligen Ergebnissen hinsichtlich der unmittelbaren Anwendbarkeit des HAG auf die Beschäftigtenverhältnisse. Insbesondere Angehörige der freien Berufe sind keine Gewerbetreibenden 121 • Vergeben diese Aufträge in Heimarbeit, so sind sie keine Auftraggeber i. S. d. HAG und nicht den Schutzvorschriften des HAG unterworfen 122• Sofern sie Büroheimarbeit vergeben, werden sie wegen des engen Wortlautes des § 2 IV vgl.: Nachweise in Fußnote 10. Ebenso: Waniorek, a. a. 0.; Simon/Kuhne, BB 1987, S. 201, 203; Kilian/Borsuml Hoffmeister, Forschnungsbericht, S. 126 ff.; Albrecht, NZA 1996, S. 1240, 1241 ; i.E. auch Wedde, ArbuR 1987, S. 325, 328; ders. , Telearbeit, S. 74; Schmidt/KIT/W, HAG, § 2 Rdn. 63. 117 Kappus, NJW 1984, S. 2384, 2388; Kilian/Borsum/Hoffmeister, Forschungsbericht, S. 128. 118 BAG NZA 1992, S. 899,902. 119 Kappus, NJW 1984, S. 2384, 2388, regt deshalb eine analoge Anwendung des HAG an. 120 Vgl.: Fußnote 4. 12 1 Sieg/Leifermann/Tettinger, GewO, § 1 Rdn. 9 f.; Frieauf, GewO, Ein!. A II 2. 122 Wedde, Telearbeit, S. 76 f. ; Kilian/Borsum/Hoffmeister, Forschungsbericht, S. 155, 162; Collardin, Telearbeit, S. 29. 115

116

B. Die Regelungen im Heimarbeitsrecht (§§ 19, 21 I, 22 HAG)

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HAG auch nicht von dieser Norm erlaßt. Ob ein in Heimarbeit Beschäftigter durch die Vorschriften geschützt wird, hängt somit auch von der Person seines Auftraggebers ab. Dies führt zu zufälligen Ergebnissen, die aus der Sicht des Auftragnehmers willkürlich erscheinen 123 • Die Auftragnehmer von Gewerbetreibenden unterfallen dem unmittelbaren Schutz des HAG, andere Auftragnehmer jedoch nicht, selbst wenn sie identische Tätigkeiten zu identischen Vertragsbedingungen verrichten. Die soziale Schutzbedürftigkeit eines Auftragnehmers richtet sich jedoch nicht nach der rechtlichen Qualifizierung des Auftraggebers. Auch insoweit besteht eine Lücke im Schutz des HAG, die der Verhinderung und Bekämpfung unzumutbarer und unbilliger Arbeitsbedingungen entgegensteht. Eine weitere Lücke im Schutz des HAG besteht für Hausgewerbetreibende, soweit sie Angestelltentätigkeiten verrichten. Nach dem eindeutigen Wortlaut des § 2 II HAG, werden diese nicht vom HAG erfaßt 124• Hausgewerbetreibende unterfallen gemäß § 2 II HAG nur dem Schutz des HAG, soweit sie Waren herstellen, verarbeiten oder verpacken. Da sich die Definitionen der § 2 I HAG (Heimarbeiter - Angestellten- und Arbeitertätigkeit) und § 2 II HAG (Hausgewerbetreibender- Arbeitertätigkeit) weitgehend decken 125 , hängt der Schutz der Angestelltentätigkeit im Ergebnis davon ab, ob der Hausgewerbetreibende ein Gewerbe angemeldet hat oder nicht. Dies eröffnet die Möglichkeit, die Schutzvorschriften des HAG durch die Anmeldung eines Gewerbes zu umgehen 126• Dem formellen Kriterium der Gewerbeanmeldung kommt damit eine erhebliche praktische Bedeutung zu. Dies kann insbesondere die Auftraggeber von Schreibarbeiten veranlassen, ihre Auftragnehmer zu einer Gewerbeanmeldung zu drängen 127• Einer rechtsmißbräuchlichen Umgehung des HAG soll zwar über § 242 BGB begegnet werden können, so daß der Hausgewerbetreibende, der Angestelltentätigkeiten ausübt, dann wie ein Heimarbeiter nach § 2 I HAG behandelt wird 128, dennoch bestehen Zweifel an der Zweckmäßigkeit der unterschiedlichen Ausprägungen der§§ 2 I und II HAG 129• Durch das Abstellen auf die rein formale Gewerbeanmeldung, bleibt die materielle und individuelle Schutzbedürftigkeit der AuftragKüfner-Schmitt, Telearbeiter, S. 65; Wedde, Telearbeit, S. 76. Küfner-Schmitt, Telearbeiter S. 71 ff.; Brecht, HAG, § 2 Rdn. 26; Schmidt/K/T/W, HAG,§ 2 Rdn. 35, 66; a.A.: Kappus, NJW 1984, S. 2384, 2388; Wedde, ArbuR 1987, S. 325, 328; Kilian!Borsum!Hoffmeister, Forschungsbericht, S. 131 ff.; Simon!Kuhne, BB 1987, S. 201, 204; Collardin, S. 30; differenzierend: Waniorek, Teleheimarbeiter, S. 42, 141 ff. 12s Kilian/ Borsum! Hoffmeister, Forschungsbericht, S. 133; Waniorek, Teleheimarbeit, S. 143; Küfner-Schmitt, Te1earbeiter, S. 71. 126 Kappus, NJW 1984, S. 2384, 2388; Kilian/Borsum!Hoffmeister, Forschungsbericht, s. 132 f. 127 Küfner-Schmitt, Telearbeiter, S. 72; Kappus, a. a. 0. 128 Küfner-Schmitt, a. a. 0.; Wedde, Telearbeit, S. 86; Schmidt!K/TIW, HAG,§ 2 Rdn. 66. 129 Kappus (NJW 1984, S. 2384, 2388), Wedde (ArbuR 1987, S. 325, 328; Telearbeit, S. 82 ff.) und Simon!Kuhne (BB 1987, S. 201, 204) wollen deshalb auch Hausgewerbetreibende die Angestelltentätigkeiten verrichten unter den Schutz des HAG stellen. 123

124

112

2. Kap.: Mindestarbeitsbedingungen durch staatlichen Umsetzungsakt

nehmer außer Betracht130. Im Ergebnis bleibt dennoch festzustellen, daß das HAG bei Hausgewerbetreibenden, die Angestelltentätigkeiten verrichten, mangels unmittelbarer Anwendbarkeit weder zur Verhinderung und Bekämpfung unzumutbarer noch zur Verhinderung und Bekämpfung unbilliger Arbeitsbedingungen geeignet ist. Für diese Personengruppen besteht die Möglichkeit, sie gemäß § 1 II bis V HAG mit den in Heimarbeit Beschäftigten gleichzustellen. Die Möglichkeit der Gleichstellung bietet jedoch nicht zwingend den gleichen Schutz, wie ihn die Personen genießen, auf die das HAG unmittelbar anwendbar ist. Die Gleichstellung bedarf eines förmlichen Verfahrens 131, welches auch mit einer beschränkten Gleichstellung enden kann (§ 1 III 2). Im Rahmen dieses Verfahrens sollen die Gleichstellungen restriktiv gehandhabt werden 132 . Es besteht kein Rechtsanspruch auf Gleichstellung133 und gegen die Gleichstellungsentscheidung können keine Rechtsmittel eingelegt werden 134. Zudem sind die kollektiven Rechte der Gleichgestellten gegenüber den in Heimarbeit Beschäftigten eingeschränkt 135 . Beschäftigte, die den Schutz des HAG erst nach einer Gleichstellung genießen, werden somit durch das HAG schlechter geschützt als Personen auf die das HAG unmittelbar anwendbar ist. Der Heimarbeitsausschuß ist gemäß § 5 II DVO auf Antrag von mindestens drei Beisitzern oder auf Antrag der zuständigen Arbeitsbehörde einzuberufen. Damit ist der Kreis der Berechtigten, die das Festsetzungsverfahren einleiten können gegenüber dem Verfahren vor dem Tarifausschuß 136 weiter gefaßt. Ein größerer Kreis an Antragsberechtigten ist grundsätzlich besser zur Verhinderung und Bekämpfung unbilliger und unzumutbarer Arbeitsbedingungen geeignet als ein kleinerer Kreis, da zu erwarten ist, daß eine erhöhte Quantität der Antragsberechtigten auch zu einer vermehrten Zahl der Anträge führt. Die Wahrscheinlichkeit, daß unbillige oder unzumutbare Arbeitsbedingungen unentdeckt bleiben, schwindet damit. Dies gilt um so mehr, als mit den Arbeitsbehörden Einrichtungen ein Antragsrecht eingeräumt wurde, die wegen der von ihnen durchgeführten Entgeltüberwachung (§§ 23 ff. HAG) als besonders sachkundig anzusehen sind 137 . Voraussetzung einer bindenden Festsetzung gemäߧ§ 19, 21 I, HAG ist ein Beschluß des Heimarbeitsausschusses. Der Beschluß muß mit einer Mehrheit von 130 Simon!Kuhne, a. a. 0.; Albrecht, NZA 1996, S. 1240, 1241; Collardin, Telearbeit,

s. 30.

131 Vgl.: 8.11.2. (zweites Kapitel). 132 Schmidt!KITIW. HAG, § 1 Rdn. 35. 133 Kilian!Borsum!Hoffmeister, Forschungsbericht, S. 148; Schmidt!KITIW. HAG,§ 1 Rdn. 42; Brecht, HAG, § I Rdn. 33. 134 Brecht, HAG, § 1 Rdn. 75. 135 Wedde, Telearbeit, S. 82. 136 Vgl.: A.l.3. (zweites Kapitel). 137 Brecht, HAG,§ 19 Rdn. 37.

B. Die Regelungen im Heimarbeitsrecht (§§ 19,21 I, 22 HAG)

ll3

mindestens vier Stimmengefaßt werden 138• Da bei einer Pattsituation in der ersten Abstimmung, der neutrale Vorsitzende in der zweiten Abstimmung volles Stimmrecht hat, kann eine Seite die Beschlußfassung nicht durch eine etwaige Blockadehaltung verhindern. Insoweit ist das Verfahren praktikabler, als das Verfahren vor dem Tarifausschuß, bei dem Einvernehmen hergestellt werden muß 139• Der Heimarbeitsausschuß ist jedoch gemäß § 4 III 1 HAG nur beschlußfähig, wenn außer dem Vorsitzenden mehr als die Hälfte der Mitglieder anwesend sind. Die Beschlußfähigkeit des Ausschusses erfordert somit stets die Anwesenheit mindestens eines Ausschußmitgliedes der Auftraggeber- und der Beschäftigtenseite. Weigert sich eine Seite schlicht zu kommen, so ist der Heimarbeitsausschuß beschlußunfähig. Insoweit besteht eine Blockademöglichkeit einer Seite 140. Dies kann im Einzelfall die Ungeeignetheil des Festsetzungsverfahrens zur Setzung von Mindestarbeitsbedingungen begründen. Die gleichen Probleme können sich bei der Festsetzung von Mindestarbeitsbedingungen für fremde Hilfskräfte gemäß § 22 HAG ergeben. Auch die Entgeltausschüsse für fremde Hilfskräfte sind paritätisch zusammengesetzt und nur beschlußfähig, wenn mindestens ein Vertreter der Arbeitnehmer und ein Vertreter der Hausgewerbetreibenden oder Gleichgestellten anwesend ist. Aber selbst, wenn der Heimarbeitsausschuß oder der Entgeltausschuß für fremde Hilfskräfte einen Beschluß gefaßt haben, ist die zuständige Arbeitsbehörde nicht an diesen Beschluß gebunden. Sie trifft eine eigene Ermessensentscheidung und muß die Festsetzung nicht erklären 141 . Dies gilt selbst dann, wenn die Entgelte oder sonstigen Vertragsbedingungen unzulänglich sind. Dies stellt ein weiteres Unsicherheitsmoment dar. Weder die Beschlüsse der Ausschüsse, noch die Entscheidungen der Arbeitsbehörden sind justitiabel 142• Ein Rechtsanspruch des durch die §§ 19, 21 I, 22 HAG geschützten Personenkreises auf Erlaß der Festsetzung besteht nicht 143 . Dies führt im Ergebnis dazu, daß weder die Entscheidungen der Heimarbeits- bzw. Entgeltausschüsse, noch der Arbeitsbehörden unmittelbar von einer unabhängigen Gewalt geprüft werden. Bei falscher Handhabung bergen die Festsetzungen gemäߧ§ 19, 21 I, 22 HAG auch Gefahren für die Beschäftigten in sich. Werden Entgelte oder sonstige Vertragsbedingungen so hoch festgesetzt, daß die Heimarbeit für den Auftraggeber Vgl.: B.l.5. (zweites Kapitel). vgl.: B.l.3. (zweites Kapitel). 140 Karpj. Heimarbeit, S. 125 f.; Karpj. a. a. 0., verweist auf Fälle, in denen Beisitzer durch absichtliches Fernbleiben, Beschlüsse zu verhindem vermochten. 141 vgl.: B.I.7. (zweites Kapitel). 142 BAG NZA 1993, S. 315; Schmidt / K/T/W, HAG,§ 19 Rdn. 15; Brecht, HAG,§ 19 Rdn. 37. 143 Brecht, a. a. 0. 138 139

8 Andelewski

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2. Kap.: Mindestarbeitsbedingungen durch staatlichen Umsetzungsakt

oder Zwischenmeister zu teuer wird, so werden diese die Heimarbeit in Gebiete ohne bindende Festsetzungen vergeben oder gar die Vergabe von Heimarbeit gänzlich zurückführen 144• Die Festsetzungen hätten dann im Ergebnis nicht zu angemessenen Arbeitsbedingungen der Beschäftigten geführt, sondern deren Erwerbsgrundlage vernichtet. Der Erlaß der Festsetzungen muß deshalb ausgewogen gehandhabt werden. Sie dürfen nicht zu einer Überschutzvorschrift werden. Nur dann stellen sie ein geeignetes Instrument zur Setzung von Mindestarbeitsbedingungen dar. Ungleichgewichtigkeiten bezüglich der Verteilung der Heimarbeit im Bundesgebiet können sich aber auch allgemein aus einer gebietsspezifisch unterschiedlichen Entgeltstruktur ergeben. Da Heimarbeit, die weder an Standorte noch an Produktionsanlagen gebunden ist, leicht verlagert werden kann, wird sie in diejenigen Gegenden abwandern, in denen die Lohnsätze am niedrigsten sind 145 . Gefördert wird dies auch dadurch, daß bei der Festsetzung der Entgelte und sonstigen Vertragsbedingungen auf die Ortsüblichkeit der Arbeitsbedingungen abgestellt wird 146. Regelmäßig sind Entgelte in ländlichen Regionen geringer als in Ballungszentren. Der Profit der Unternehmer ist demnach größer, wenn sie Heimarbeit in ländliche Regionen vergeben. Auch deshalb ist Heimarbeit auf dem Lande stärker verbreitet als in den großen Städten. Gemäß § 24 HAG kann die oberste Arbeitsbehörde eines Landes oder die von ihr bestimmte Stelle die Auftraggeber oder Zwischenmeister auffordern innerhalb einer bestimmten Frist etwaig nicht gezahlte Entgelte oder sonstige Vertragsbedingungen an die in Heimarbeit Beschäftigten und die ihnen gleichgestellten Personen nachzuzahlen. Gemäߧ 25 HAG kann der Staat die Nachzahlung etwaig nicht gezahlter Entgelte im eigenem Namen gerichtlich geltend machen 147 . Die Vorschriften wurden erlassen, weil die Heimarbeiter meist derart stark von ihren Auftraggebern abhängig sind, daß sie in der Besorgnis künftig von der Vergabe von Heimarbeit ausgeschlossen zu werden, darauf verzichten könnten, das ihnen zustehende Entgelt zu fordern oder gar einzuklagen 148. Bereits die Existenz dieser Normen dürfte viele Auftraggeber zur Zahlung der festgesetzten Entgelte anhalten. Die Vorschriften fördern damit die Beachtung der festgesetzten Entgelte 149 und sind hervorragend zur Durchsetzung der festgesetzten Entgelte geeignet. Sie tragen zur tatsächlichen Verhinderung und Beseitigung unbilliger und unzumutbarer Arbeitsbedingungen bei. Nicht ohne weiteres verständlich ist jedoch, warum der Staat 144 Fitting, RdA 1950, S. 453, 454; Wedde, ArbuR 1987, S. 325, 326; Schmidt/K/T/W, HAG,§ 19 Rdn. 27, 30; Brecht, HAG,§ 19 Rdn. 20; Otten, HAG,§ 19 Rdn. 9. 145 Fittig, a. a. 0.; Wedde, a. a. 0 . 146 Vgl.: 8.1.3. (zweites Kapitel). 147 Vgl. auch den insoweit inhaltsgleichen § 14 MindArbBG- C.IV. (zweites Kapitel). 148 Glaß, RdA 1962, S. 172, 173; I..epke, BB 1971, S. 1509, 1514; Karpf, Heimarbeit, S. 113; Schmidt/K/T/W, HAG,§ 25 Rdn. 1; Brecht, HAG,§ 25 Rdn. 2. 149 Schmidt! K/TlW, a. a. 0.; Brecht, a. a. 0.: BAG AP Nr. 1 zu§ 25 HAG.

B. Die Regelungen im Heimarbeitsrecht (§§ 19, 21 I, 22 HAG)

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nach dem HAG- im Gegensatz zu den§§ 13 f. MindArbBG 150 - die Einhaltung sonstiger Vertragsbedingungen zwar anmahnen, nicht jedoch für die in Heimarbeit Beschäftigten gerichtlich geltend machen darf. Auch der Schutz der fremden Hilfskräfte gemäß § 22 HAG weist Lücken auf. Mindestarbeitsbedingungen für fremde Hilfskräfte können nach § 22 HAG nur festgesetzt werden, wenn die Arbeitgeber der fremden Hilfskräfte durch schriftliche Vereinbarungen(§ 17 HAG) oder durch bindende Festsetzungen(§ 19 HAG) geschützt sind. Der Hintergrund dieser Voraussetzung wurde bereits dargestellt und ist durchaus nachvollziehbar 151 . Diese Voraussetzung führt auf der Seite der Arbeitnehmer zu Ungerechtigkeiten. Die Festsetzung der Entgelte oder sonstigen Vertragsbedingungen durch den Entgeltausschuß muß unterbleiben oder wirkt nicht auf das betreffende Arbeitsverhältnis, wenn eine fremde Hilfskraft unzulänglich vergütet wird oder sonstige unzulängliche Vertragsbedingungen vorliegen, der Arbeitgeber jedoch nicht gemäß §§ 17, 19 HAG geschützt ist. Ist der Arbeitgeber hingegen gemäß §§ 17, 19 HAG geschützt, so können für dessen Arbeitnehmer Mindestarbeitsbedingungen nach § 22 HAG festgesetzt werden. Ob ein Arbeitnehmer unter den Schutz des § 22 HAG fallt, hängt somit von einer Tatsache ab, die er nicht beeinflussen kann. Aus der Sicht der fremden Hilfskraft ist es nicht verständlich, warum ein Arbeitnehmer besser geschützt wird, dessen Arbeitgeber von einer Regelung der §§ 17, 19 HAG erfaßt wird. Die soziale Schützbedürftigkeit von Arbeitnehmern hängt nämlich nicht davon ab, wie gut der Arbeitgeber selbst geschützt ist. Da für fremde Hilfskräfte nicht die Möglichkeit der Gleichstellung gemäß § 1 II bis V HAG besteht, bleiben die Arbeitnehmer, deren Arbeitgeber nicht nach §§ 17, 19 HAG geschützt sind im Ergebnis ohne den Schutz der festgesetzten Mindestarbeitsbedingungen. § 22 HAG ist damit nicht immer zur Verhinderung und Bekämpfung unbilliger und unzumutbarer Arbeitsbedingungen geeignet. Aus gewerkschaftlicher Sicht stellen sich die §§ 19, 21 I, 22 HAG durchaus zwiespältig dar. Die Festsetzungen führen zu einer Verbesserung der Arbeitsbedingungen des geschützten Personenkreises. Dies muß im Interesse der Arbeitnehmervertretungen liegen. Andererseits verringern sie auch die Attraktivität einer Gewerkschaftsmitgliedschaft oder lassen sie gar entbehrlich erscheinen. Kommen die in Heimarbeit Beschäftigten, die Gleichgestellten und die fremden Hilfskräfte bereits durch Festsetzungen gemäß §§ 19, 21 I, 22 HAG in den Genuß eines quasi Tarifvertrages, so ist eine Gewerkschaftsmitgliedschaft nicht erforderlich um eine Tarifbindung gemäß §§ 17 HAG oder 3 I TVG herbeizuführen. Die in weiten Teilen der Heimarbeit nicht vorhandene Tarifmacht der Gewerkschaften kann so nie aufgebaut werden 152 . Der ohnehin mit der Heimarbeit verbundene EntsolidarisieVgl.: C.IV. (zweites Kapitel). Vgl.: 8 .111.2. (zweites Kapitel). 152 Der gewerkschaftliche Organisationsgrad von Heimarbeitern liegt unter I %, Kilian/ BorsumlHoffmeister; Forschungsbericht, S. 72. 150

151

8*

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2. Kap.: Mindestarbeitsbedingungen durch staatlichen Umsetzungsakt

rungseffekt der abhängig Beschäftigten wird verstärkt 153 und kann letztlich auch die positive Koalitionsfreiheit bedrohen. In der Gesamtbetrachtung muß jedoch festgehalten werden, daß das HAG seit dem Inkrafttreten im Jahre 1951 maßgeblich dazu beigetragen hat, die von den §§ 19, 21 I, 22 HAG geschützten Personen an der allgemeinen wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung partizipieren zu lassen. Die Verhältnisse der in Heimarbeit Beschäftigten haben sich verbessert 154. Zwar ist der tatsächliche Abstand der Heimarbeitsentgelte zu den Tariflöhnen für gleiche oder gleichwertige Betriebsarbeit zum Teil noch immer erheblich 155 . Auch wird die Situation der in Heimarbeit Beschäftigten insgesamt oder in Bereichen der Heimarbeit als unbefriedigend angesehen156. Zudem können die Festsetzungen an den die Heimarbeit typischerweise begleitenden unerwünschten sozialen Effekten, wie fehlender Arbeitszeitschutz, schwindende soziale Kontakte, Verlust an Kooperation und Kommunikation, Vermischung der beruflichen und privaten Bereiche 157 nichts ändern. Dennoch kann im Hinblick auf die in manchen Gewerbezweigen besonders schwache Organisationswilligkeit der Auftraggeber und der Beschäftigten und auf die besondere Lage der Heimarbeit nicht auf bindende Festsetzungen für Entgelte und sonstige Vertragsbedingungen verzichtet werden 158. Mit der weiteren Zunahme der Telearbeit159, wird sich die Zahl der Personen, die unter den Schutz des HAG fallen, erhöhen und die quantitative Bedeutung der bindenden Festsetzungen wird steigen.

C. Die Festsetzungen von Mindestarbeitsbedingungen nach dem MindArbBG Unter bestimmten Gegebenheiten können in Ermangelung der Voraussetzungen einer Allgemeinverbindlicherklärung oder einer bindenden Festsetzung mit Hilfe dieser Instrumente keine Mindestarbeitsbedingungen gesetzt werden. Dann besteht 153 Fittig, RdA 1950, S. 453, 455; Simon/Kuhne, BB 1987, S. 201; Küfner-Schmitt, Telearbeiter, S. 9; Kilian/Borsum/Ho.ffmeister, Forschungsbericht, S. 71 f.; Waniorek, Teleheimarbeit, S. 35; Pfarr/Drüke, Telearbeit, S. 109 f. 154 Brecht, HAG, § 19 Rdn. 1. 155 Brecht, a. a. 0.; ders., BArbB11974, S. 677. 156 Pfarr/Drüke, Telearbeit, S. 99 ff.; Brecht, HAG,§ 19 Rdn. 1. 157 Bömecke, Telearbeit, S. 105 ff.; Wedde, Telearbeit, S. 45 ff.; Pfarr/ Drüke, a. a. 0.; Linnenkohl, BB 1996, S. 51; Kilian!Borsum/Ho.ffmeister. Forschungsbericht, S. 61 ff. mit einer umfangreichen Auflistung weiterer Nachteile. rss So bereits die Begründung des Gesetzentwurfes zum HAG 1950, BT-Ds 1/1357, S. 26. 159 vgl.: Kappus, NJW 1984, S. 2384; Küjner-Schmitt, Telearbeiter, S. 12 ff.; Kilian/Borsum/Ho.ffmeister, Forschungsbericht, S. 56 ff.; Huber, Telearbeit, S. 36 ff.; Wedde, Telearbeit, S. 36 ff.; Waniorek, Teleheimarbeit, S. 28; Bömecke, Telearbeit, S. 22; Collardin, Telearbeit, S. I ff.

C. Die Festsetzungen von Mindestarbeitsbedingungen nach dem MindArbBG

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die Möglichkeit, für den Staat gemäß § 1 ff. MindArbBG Mindestarbeitsbedingungen festzusetzen. Im Folgenden wird untersucht, inwieweit die Vorschriften des MindArbBG zur Verhinderung bzw. Beseitigung unzumutbarer oder unbilliger Arbeitsbedingungen geeignet sind. Hierzu muß zunächst auf die Voraussetzungen der Festsetzung von Mindestarbeitsbedingungen eingegangen werden.

I. Voraussetzungen gemäß § 1 II MindArbBG Mindestarbeitsbedingungen können gemäß § 1 II MindArbBG festgesetzt werden, wenn Gewerkschaften oder Arbeitgeberverbände nicht bestehen, bzw. nur eine Minderheit repräsentieren, die Festsetzung zur Befriedigung notwendiger sozialer und wirtschaftlicher Bedürfnisse erforderlich ist und keine Allgemeinverbindlicherklärung eines Tarifvertrages erfolgt ist. Diese drei Voraussetzungen müssen nebeneinander vorliegen. 1. Nichtbestehen von Gewerkschaften oder Arbeitgeberverbänden bzw. Umfassen einer Minderheit § 1 II lit. a MindArbBG

Gemäß § 1 II lit. a MindArbBG ist Voraussetzung einer Festsetzung von Mindestarbeitsbedingungen, daß für den Wirtschaftszweig oder die Beschäftigungsart, für die die Festsetzung erfolgen soll, Gewerkschaften oder Vereinigungen von Arbeitgebern nicht bestehen oder nur eine Minderheit der Arbeitnehmer oder Arbeitgeber umfassen. Das Bestehen oder Nichtbestehen von Verbänden ist verhältnismäßig einfach festzustellen. Insoweit ist diese Tatbestandsvoraussetzung unproblematisch. Etwas anders verhält es sich bei dem Begriff der Minderheit. Dieser wurde vom Gesetzgeber nicht näher erläutert. Ebenso wie bei § 19 I HAG 1 ist der Begriff der Minderheit nicht rein mathematisch zu verstehen. Nach dem Grundgedanken des Vorranges der Vereinbarung der Arbeitsbedingungen durch die Tarifvertragsparteien kann von einer Minderheit nicht mehr gesprochen werden, wenn eine Koalition zwar weniger als 50% der Beschäftigten oder Auftraggeber umfaßt, aber dennoch regelmäßig Tarifverträge aushandelt, die insgesamt richtungsweisend für den entsprechenden Wirtschaftszweig oder die Beschäftigungsart sind2 . Nur diese Auslegung wird dem Normzweck 3 , dem Subsidiaritätsprinzip4 und dem Vorrang der TaVgl.: B.l.2. (zweites Kapitel). Hersehe/, BArbB11952, S. 36, 38; Fitting, RdA 1952, S. 5, 6; Brecht, HAG,§ 19 Rn. 17; Schmidt/K/TIW, HAG,§ 19 Rdn. 20. 3 vgl.: C.II. (zweites Kapitel). 4 Zum Subsidiaritätsprinzip vgl.: C.III.3. (erstes Kapitel). 1

2

118

2. Kap.: Mindestarbeitsbedingungen durch staatlichen Umsetzungsakt

rifsetzungsmacht5 gerecht. Der Staat soll erst eingreifen, wenn die Koalitionen die Arbeitsbedingungen ihrer Mitglieder nicht mehr eigenverantwortlich regeln können. Dies ist dann nicht mehr möglich, wenn die Minderheit geringfügig und machtlos ist6 . Gelingt es der Minderheit jedoch repräsentative Tarifverträge abzuschließen, so ist die Festsetzung von Arbeitsbedingungen nach dem MindArbBG entbehrlich7 . Problematisch erscheint mir jedoch die Festsetzung von Mindestarbeitsbedingungen durch den Staat bereits dann zuzulassen, wenn lediglich die Vereinigungen der Arbeitgeber eine Minderheit der Arbeitgeber repräsentieren, die Gewerkschaften hingegen eine Mehrheit der Arbeitnehmer umfassen. Fehlt es auf Arbeitnehmerseite an einer Gewerkschaft, so kann in Ermangelung eines Vertragspartners kein Tarifvertrag gemäß § 2 I TVG geschlossen werden. Dies gilt auch für den Fall, daß zwar eine Gewerkschaft besteht, diese aber nur eine Minderheit der Beschäftigten repräsentiert. Hier wird es der Gewerkschaft regelmäßig an der zur Durchsetzung eines angemessenen Tarifvertrages erforderlichen Mächtigkeit8 fehlen. Das Fehlen oder die Unterrepräsentanz von Gewerkschaften rechtfertigt somit die Festsetzung nach dem MindArbBG. Anders verhält es sich auf der Arbeitgeberseite. Hier kann auch ein einzelner Arbeitgeber Partner eines Firmentarifvertrages sein. Eines (mächtigen) Arbeitgeberverbandes bedarf es zum Abschluß eines Tarifvertrages nicht. Fehlen nur auf der Arbeitgeberseite repräsentative Verbände, nicht jedoch auf Seite der Arbeitnehmer, so besteht kein Bedürfnis für eine Festsetzung von Arbeitsbedingungen nach dem MindArbBG, denn es ist den Gewerkschaften durch Abschluß von Firmentarifverträgen möglich, Arbeitsbedingungen für ihre Mitglieder zu normieren. Die Arbeitnehmer sind dann auch nicht sozial schutzbedürftig. Durch die Mächtigkeit ihrer Organisation ist es ihnen möglich, selbst akzeptable Arbeitsbedingungen durchzusetzen, als letztes Mittel auch im Wege eines Arbeitskampfes. In erster Linie ist es Aufgabe der Gewerkschaften, der Arbeitgebervereinigungen und der einzelnen Arbeitgeber in freien Vereinbarungen Arbeitsbedingungen für ihre Mitglieder zu normieren9 . Die tarifvertragliche Regelung genießt den Vorrang 10. Nur wenn diese fehlt oder nicht möglich ist, soll von außen regelnd s vgl.: C. (erstes Kapitel). Hersehe/, a. a. 0.; Fitting, a. a. 0 . Tatsächlich liegen die Organisationszahlen von Gewerkschaften und Arbeitgeberverbänden in vielen Bereichen, in denen die Arbeitsbedingungen durch repräsentative Tarifverträge geregelt werden, unter 50% - vgl. bereits Hersehe!, BArbBI 1952, S. 36, 38; Fitting, RdA 1952, s. 5, 6. s Vgl.: 8.1.2. (viertes Kapitel). 9 Wlotzke, DB 1974, S. 2252, 2253; Brecht, HAG,§ 19 Rd. 17; Mehrte, AR-Blattei SO 910 Rdn. 74. 10 Hersehe!, BArbBI, 1951, S. 13 ff. ; Wlotzke, a. a. 0 .; Küfner-Schmitt, Telearbeiter, S. 103; Otten, HAG, § 19 Rdn. 8; Schmidt/K/T/W, HAG,§ 19 Rdn. 19; Brecht, a. a. 0 .; BAG, ArbuR 1973, S. 59, 61. 6

7

C. Die Festsetzungen von Mindestarbeitsbedingungen nach dem MindArbBG

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eingegriffen werden 11 , denn jeder staatliche Eingriff schwächt auch die Verbände12. Die Festsetzung von Mindestarbeitsbedingungen nach dem MindArbBG ist deshalb entgegen dem Wortlaut des § 1 II lit. a MindArbBG nur zulässig, wenn die Gewerkschaften nicht bestehen oder nur eine Minderheit der Arbeitnehmer repräsentieren 13 • 2. Befriedigung notwendiger sozialer und wirtschaftlicher Bedürfnisse § 1 II lit. b Mind.ArbBG

Weitere Voraussetzung ist, daß die Festsetzung zur Befriedigung der notwendigen sozialen 14 und wirtschaftlichen Bedürfnisse der Arbeitnehmer erforderlich erscheint(§ 1 II lit. b MindArbBG) 15 • Fraglich ist, welcher Maßstab zur Ermittlung der notwendigen sozialen und wirtschaftlichen Bedürfnisse der Arbeitnehmer heranzuziehen ist. Die Lohnpfandungsfreigrenzen der §§ 850 ff. ZPO bieten sich nicht an. Sie sind als Minimun gedacht, mit dem sich der Arbeitnehmer als Schuldner im Einzelfall - meist vorübergehend - begnügen muß. Die Mindestarbeitsbedingungen stellen jedoch Entgeltregelungen für ganze Wirtschaftszweige oder Beschäftigungsarten dar, die als Übergangsregelung bis zum Erstarken der sozialen Autonomie der Koalitionen Bestand haben sollen 16• Übedegenswert scheint es, auf die Vorschriften - insbesondere die Regelsätze des BSHG abzustellen. Durch die Sozialhilfe soll den Hilfsbedürftigen die Führung eines Lebens ermöglicht werden, das der Würde des Menschen entspricht (§ 1 II BSHG). Dies schließt es ein, daß die Hilfsbedürftigen von den Sozialleistungen ihre notwendigen sozialen und wirtschaftlichen Bedürfnisse befriedigen können (vgl.: § 12 I BSHG) 17 • Eine Orientierung der Mindestarbeitsbedingungen nach dem MindArbBG an den Vorschriften des BSHG ist jedoch aus verschiedenen Gründen unpraktikabel. Die vom BSHG getroffenen Differenzierungen zwischen Hilfen zum Lebensunterhalt (§§ ll ff. BSHG) und Hilfen in besonderen Lebenslagen (§§ 27 ff. BSHG) Vgl. C.II1.3. (erstes Kapitel). Vgl.: B.I.3. und Il.3. (viertes Kapitel). 13 Zur ausführlichen Begründung siehe auch B.l.2. (zweites Kapitel). 14 Die sozialen Bedürfnisse schließen auch gewisse kulturelle Bedürfnisse mit ein. Zwar taucht der Begriff der kulturellen Bedürfnisse entgegen der Fassung des Initiativantrages nicht mehr ausdrücklich im Gesetzestext auf, die kulturellen Grundbedürfnisse zählen jedoch zu den notwendigen sozialen Bedürfnissen der Arbeitnehmer - vgl. auch: Hersehe/, BArbBl 1952, s. 36, 37. 15 Vgl. auch den fast identischen Wortlaut des§ 92a I S. 1 HGB - E.II. (zweites Kapitel). 16 Hersehe/, BArbB11952, S. 36, 37; Fitting, RdA 1952, S. 5, 9. 17 statt aller: Schellhom, BSHG, § 12 Rdn. 2 ff. 11

12

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2. Kap.: Mindestarbeitsbedingungen durch staatlichen Umsetzungsakt

sowie die unterschiedliche Ausgestaltung des Hilfesystems in Ist- Kann- und SollLeistungen18 ist auf die Mindestarbeitsbedingungen nach dem MindArbBG nicht übertragbar. Mindestarbeitsbedingungen nach dem MindArbBG sind verbindlich und haben gemäß § 8 I MindArbBG die Wirkung eines Tarifvertrages. Zudem ist anerkannt, daß bei der Festsetzung der Mindestarbeitsbedingungen zwischen Branchen und Berufsgruppen differenziert werden kann 19• Eine solche Differenzierung ist nach dem BSHG gerade nicht möglich, da zahlreiche Leistungen, vor allem die materiellen Hilfen, durch Regelsätze für jeden Haushaltsangehörigen standardisiert sind. Weiterhin ist dem System der Sozialhilfe immanent, daß sie erst gewährt wird, wenn der Hilfesuchende eigenes Einkommen und Vermögen - mit Ausnahme geringfügiger Ersparnisse (§ 88 II Nr. 1 BSHG) und des angemessenen Hausgrundstückes (§ 88 II Nr. 7 BSHG)20 - eingesetzt sowie Unterhaltsanspruche gegenüber Kindern und Eltern geltend gemacht hat (§ 11 BSHG). Diese Nachrangigkeit ist dem MindArbBG fremd. Weiter ist zu beriicksichtigen, daß die notwendigen Bedürfnisse arbeitender Menschen und die von Sozialhilfempfängern durchaus variieren können. Aber auch die praktischen Folgen einer Festsetzung der Entgelte in Höhe des Sozialhilfeniveaus müssen beriicksichtigt werden. Entspräche die festgesetzte Vergütung der Arbeitnehmer dem Sozialhilfeniveau oder wäre sie nur ungleich höher, so bestünde für die Arbeitnehmer nur ein sehr geringer Anreiz für ihren Lebensunterhalt selbst zu sorgen21 • Sie könnten sich veranlaßt sehen, ihren Arbeitsplatz aufzugeben und in gleicher Höhe Hilfe vom Staat beziehen, ohne ihrerseits eine Gegenleistung erbringen zu müssen22 • Um dies zu verhindern und auf diese Weise dem Staat neue soziale Lasten aufzubürden, muß im Grundsatz gelten: Wer arbeitet muß mehr erhalten, als die Bezieher öffentlicher Leistungen! 23 . Deshalb müssen insbesondere die festgesetzten Entgelte grundsätzlich oberhalb des Sozialhilfeniveaus liegen24·25 . Insoweit kommen die Vorschriften des Sozialhilferechts- hauptsächlich die Regelsätze - für die Festsetzungen nach dem MindArbBG dann doch 18 19

20

30 ff.

vgl.: Sehellhom, BSHG, § 4 Rdn. 3 ff. Hersehe/, BArbBl 1952, S. 36; Nikisch, ArbR II, S. 522. Zu weiteren Ausnahmen: vgl.: § 88 II Nr. 2 ff. BSHG - Sehellhom, BSHG, § 88 Rdn.

21 Eine vergleichbare Problematik liegt der gegenwärtigen Diskussion um den "Kombilohn" zu Grunde, vgl. hierzu: C.ll (viertes Kapitel). 22 Zwar muß der Hilfsbedürftige, wenn er arbeitsfähig ist, dem Arbeitsmarkt zur Verfügung stehen, tatsächlich wird jedoch hinsichtlich eines mißbräuchlichen Leistungsempfanges eine hohe Dunkelziffer vermutet. 23 Hersehe/, BArbBl 1952, S. 36. 24 Koberski/Sahl/Hold, AEntG, Ein!. Rdn. 21. 25 Dieses Ergebnis entspricht auch dem Rechtsgedanken des Abstandsgebotes des § 22 IV BSHG. Danach müssen Leistungen der Sozialhilfe im Grundsatz unter den monatlichen durchschnittlichen Nettoverdiensten unterer Lohn- und Gehaltsgruppen bleiben.

C. Die Festsetzungen von Mindestarbeitsbedingungen nach dem MindArbBG

121

als Orientierungsmarke in Betracht, die grundsätzlich nicht unterschritten werden sollte. Allerdings soll gemäß § 4 IV MindArbBG nur die unterste Grenze der Entgelte und sonstigen Arbeitsbedingungen festgesetzt werden26 . Die Festsetzungen sollen keinen vollwertigen Ersatz für einen Tarifvertrag darstellen27 . Dies grenzt die Normierungsbefugnis nach oben ein. Hersehe! schrieb bereits 1952: "Es wird viel soziales Verantwortungsgefühl und wirtschaftliches Verständnis erfordern, die richtigen Sätze festzulegen.'.zs. 3. Keine Allgemeinverbindlicherklärung eines Tarifvertrages § 1 II lit. c MindArbBG

Weitere Voraussetzung ist gemäß § 2 II lit. c MindArbBG, daß eine Regelung von Entgelten oder sonstigen Arbeitsbedingungen durch Allgemeinverbindlicherklärung eines Tarifvertrages nicht erfolgt ist. Der Erlaß einer Festsetzung ist somit nur möglich, wenn keine Allgemeinverbindlicherklärung29 vorliegt. Sollte ein Tarifvertrag für allgemeinverbindlich erklärt worden sein, so soll es unerheblich sein, ob dieser die Arbeitsbedingungen erschöpfend regelt. Eine Ergänzung des für allgemeinverbindlich erklärten Tarifvertrages durch Mindestarbeitsbedingungen soll auf keinen Fall statthaft sein30• Dem kann nur im Grundsatz zugestimmt werden. Sollte ein Tarifvertrag eine Materie umfassend und abschließend regeln, ist eine Ergänzung durch staatliche Mindestarbeitsbedingungen unzulässig. Selbst wenn die Tarifvertragsparteien einzelne Arbeitsbedingungen aus Sicht der Arbeitnehmer ungünstig normiert haben, so werden andere Fragen dafür aus Arbeitnehmersicht günstiger geregelt sein. Ließe man eine staatliche Ergänzung eines in sich geschlossenen Tarifwerkes zu, liefe dies darauf hinaus, daß für die Arbeitnehmer die jeweils günstigeren Tarifnormen und die jeweils günstigeren staatlichen Mindestarbeitsbedingungen gelten würden. Durch diese Rosinentheorie würde der Staat ein in sich geschlossenes, funktionsfähiges und höchstwahrscheinlich gerechtes Tarifwerk zerstören. Etwas anderes muß gelten, wenn der für allgemeinverbindlich erklärte Tarifvertrag bestimmte Arbeitsbedingungen (ungewollt) nicht regelt. Soweit die sonstigen Voraussetzungen für den Erlaß von Mindestarbeitsbedingungen erfüllt sind, muß hier eine Ergänzung des Tarifvertrages möglich sein. Eine solche Regelung greift nicht in die Tarifautonomie der Parteien ein3 1. Sie zerstört nicht die Balance eines in sich ge26

Zum Inhalt der Festsetzung vgl.: C.II. (zweites Kapitel).

27

Nikisch, ArbR II, S. 522.

28 29

30

31

Hersehe/, BArbB11952, S. 36, 37. Zu den Voraussetzungen der Allgemeinverbindlicherklärung vgl.: A. (zweites Kapitel). Hersehe/, BArbB11952, S. 36, 38. Zur Tarifautonomie vgl. B. (erstes Kapitel).

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2. Kap.: Mindestarbeitsbedingungen durch staatlichen Umsetzungsakt

schlossenen Tarifwerkes32. Verneinte man jedoch die Eingriffsmöglichkeit des Staates in diesem Fall, so wären die Arbeitnehmer ungeschützt, selbst wenn ihre Arbeitsbedingungen die Grenze der§§ 1 II lit. b; 4 IV MindArbBG unterschreiten würden. Die rechtstatsächlich relevantere Bedeutung des § 1 II lit. c MindArbBG dürfte jedoch in der Veranlassung der Behörde liegen, vor Erlaß einer Festsetzung zu prüfen, ob nicht eine Allgemeinverbindlicherklärung eines Minderheitentarifvertrages möglich ist, d. h. ob nicht das Verfahren angewandt werden kann, das dem freien kollektiven Arbeitsrecht graduell näher steht als die Festsetzung von Mindestarbeitsbedingungen nach dem MindArbBG33 . Auch hierin zeigt sich die Subsidiarität der Festsetzungen nach dem MindArbBG.

II. Inhalt(§ 4 IV MindArbBG) und Geltung (§ 8 I, II MindArbBG) Gemäß § 4 IV MindArbBG wird durch die Mindestarbeitsbedingungen die unterste Grenze der Entgelte und sonstigen Arbeitsbedingungen in einem Wirtschaftszweig oder einer Beschäftigungsart festgelegt 34. Die Festsetzungen sollen keinen vollwertigen Ersatz für einen Tarifvertrag schaffen. Zweck des Gesetzes ist es, eine Verelendung der Arbeitnehmer zu verhindem und den nicht von einem Tarifvertrag erfaßten Arbeitnehmern wenigstens ein bescheidenes Auskommen und menschenwürdige Arbeitsbedingungen zu sichem35. Hierzu ermöglicht das MindArbBG die Schaffung einer untersten Grenze gegen einen zu behebenden sozialen Notstand36. Die festgesetzten Mindestarbeitsbedingungen sollen nicht die angemessenen, sondern die notwendigen Arbeitsbedingungen (praktisch besonders wichtig sind natürlich die Entgelte) sichem37 . Die Festsetzungen enthalten keine nach Tatigkeitsmerkmalen abgestuften Regelungen, sondern ergehen einheitlich für eine Wirtschaftsart oder einen Beschäftigungs32 Eine vergleichbare Thematik begegnet uns bei § 87 I ES BetrVG der ein Mitbestimmungsrecht des Betriebsrates ausschließt, wenn eine tarifliche Regelung besteht. Diese Sperrwirkung dient der Sicherung ausgeübter Tarifautonomie vor konkurrierender betriebsautonomer Gestaltungsmacht Das Mitbestimmungsrecht des Betriebsrates soll aber nur dann ausgeschlossen sein, wenn und soweit der Tarifvertrag selbst aus sich heraus praktikable und bandhabbare Vorschriften aufweist, die die fragliche Materie regeln, vgl.: GK/ Wiese, BetrVG, § 87 BetrVG Rdn. 40 f.; Fitting I AuffarthlKaiser I Heither, BetrVG, § 87 Rdn. I 0; HeekelmanniFranzen, Fälle, S. 212; BAG AP Nr. 1 zu§ 87 BetrVG Tarifvorrang. 33 Fitting, RdA 1952, S. 5, 6; Hersehe/, BArbBI 1952, S. 36, 38; Gaul, ArbR II, M 111 Rdn. 20, S. 308. 34 Vgl. auch den fast identischen Wortlaut des§ 92a I S. I HGB- E.ll. (zweites Kapitel). 35 Nikiseh, ArbR II, S. 522; Gerkenl LöwisehlRieble, BB 1995, S. 2370, 2375. 36 Fitting, RdA 1952, S. 5, 8; HueekiNipperdey, ArbR I,§ 25, S. 149. 37 Hersehe[, BArbB11952, S. 36; HueekiNipperdey, a. a. 0 .

C. Die Festsetzungen von Mindestarbeitsbedingungen nach dem MindArbBG

123

zweig 38 . Abstufungen, z. B. nach dem Lebensalter oder den Beschäftigungsjahren sind nicht möglich 39. Zulässig sind jedoch Differenzierungen nach der Beschäftigungsart, z. B. Melker, Vorarbeiter, Hilfsarbeiter, Polier40. Weitere Unterscheidungen sind nicht möglich. Sie wären mit dem Wesen der untersten Grenze unvereinbar und würden ihrem Inhalt nach stets über der untersten Grenze liegen41 • Auch die Rücksichtnahme auf das System des freien kollektiven Arbeitsrechtes und die Wahrung dieses Systems läßt die Setzung von Arbeitsbedingungen durch den Staat nur im beschränkten Rahmen - zur Sicherung eines untersten Mindeststandards - zu42 . Denn jede staatliche Regelung schwächt auch die Verbände43 . und greift in die Tarifautonomie der Koalitionen ein44. Deshalb wird durch die ausschließliche Festsetzung der untersten Grenze der Arbeitsbedingungen versucht, jede Verminderung des Anreizes zur Bildung von Koalitionen und zum Abschluß von Tarifverträgen zu verhindem45 . Die staatlich festgesetzten Mindestarbeitsbedingungen stellen nur eine Übergangsregelung dar, bis die soziale Autonomie der Koalitionen wieder geweckt ist. Diesen bleibt es auch überlassen, in Tarifverträgen einen für die Arbeitsleistung angemessenen Lohn zu normieren46 . Die festgesetzten Mindestarbeitsbedingungen haben die Wirkung eines Tarifvertrages(§ 8 I MindArbBG). Die Mindestarbeitsbedingungen wirken somit unmittelbar und zwingend47 • Gemäß § 8 II MindArbBG gehen tarifvertragliche Regelungen den Mindestarbeitsbedingungen vor. Diese Bestimmung gilt dem Wortlaut nach ohne Einschränkungen. Daraus wird der Schluß gezogen, daß auch tarifvertragliche Regelungen, die für den Arbeitnehmer ungünstiger sind als die festgesetzten Mindestarbeitsbedingungen, diese verdrängen48 . Dem kann nur im Grundsatz zugestimmt werden. Aus den in diesem Kapitel unter C.l.3. genannten Gründen gilt dies nur, wenn ein Tarifvertrag eine Materie umfassend und abschließend regelt. Sollten jedoch bestimmte Arbeitsbedingungen im Tarifvertrag (ungewollt) nicht geregelt sein, so kann der Tarifvertrag die festgesetzten Mindestarbeitsbedingungen nicht verdrängen.

Hersehe/, a. a. 0.; Fitting, a. a. 0. Hersehe/, a. a. 0 . 40 Hersehe/, a. a. 0.; Nikiseh, a. a. 0. 41 Hersehe/, a. a. 0 . 42 Fitting, RdA 1952, S. 5, 9. 43 Vgl.: B.I.3 und 11.3. (viertes Kapitel). 44 Zur Tarifautonomie vgl.: B. (erstes Kapitel). 45 Fitting, a. a. 0. 46 Fitting, a. a. 0 .; Gerken/Löwiseh/Rieble, BB 1995, S. 2370, 2375. 47 Hesse{, BB 1952, S. 64; Hersehe/, BArbBl 1952, S. 36, 37; Nikiseh, ArbR II, § 89, S. 523; MüHBzArbR/ Riehardi, § 234, Rdn. 52. 48 Hersehe/, BArbBI1952, S. 36, 37; Hesse[, a.a.O; Riehardi, a. a. 0. 38

39

124

2. Kap.: Mindestarbeitsbedingungen durch staatlichen Umsetzungsakt

111. Verfahren Das Festsetzungsverfahren nach dem MindArbBG ist entgegen dem zweistufigen Verfahrensaufbau nach§§ 5 TVG49 , 19 ff. HAG50 vierstufig ausgestaltet. An dem Festsetzungsverfahren sind der Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung bzw. die oberste Arbeitsbehörde eines Landes 51 sowie der vom Minister gemäß § 2 I MindArbBG errichtete Hauptausschuß für Mindestarbeitsbedingungen und die gemäß § 3 I MindArbBG errichteten Fachausschüsse für die Wirtschaftszweige und Beschäftigungsarten, für die Mindestarbeitsbedingungen festgesetzt werden sollen, beteiligt. 1. Hauptausschuß (§§ 2, 3 MindArbBG)

Zunächst entscheidet der aus je fünf Vertretern der Arbeitnehmer und Arbeitgeber sowie dem Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung oder einem von ihm bestimmten Vertreter bestehende Hauptausschuß, für welche Wirtschaftszweige und Beschäftigungsarten eine Festsetzung von Mindestarbeitsbedingungen erforderlich erscheint. Der Hauptausschuß prüft, ob die Voraussetzungen für eine Festsetzung von Mindestarbeitsbedingungen gegeben sind, muß aber auch darauf achten, daß das freie kollektive Arbeitsrecht nicht durch staatliche Mindestarbeitsbedingungen überwuchert wird52. Der Ausschuß faßt mit Stimmenmehrheit einen Beschluß, indem er sich für oder gegen eine Festsetzung von Mindestarbeitsbedingungen ausspricht. 2. Der Bundesminister

Die Entscheidung liegt jedoch nicht bei dem Ausschuß sondern wird gemäß § 3 I MindArbBG von dem Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung im Einvernehmen mit dem Ausschuß getroffen53 . Der Minister ist an das Votum des Ausschusses nur in eine Richtung gebunden. Die Festsetzung kann nicht gegen das VoVgl.: A. (zweites Kapitel). Vgl.: B. (zweites Kapitel). 51 Der Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung kann gemäß § 10 MindArbBG die Errichtung der Fachausschüsse und die Durchführung der Festsetzungsverfahren auf die oberste Arbeitsbehörde eines Landes übertragen, wenn die Angelegenheit nach Umfang, Auswirkung und Bedeutung nur dieses Land betrifft. Zur sprachlichen Vereinfachung wird im Folgenden die Möglichkeit der Übertragung nach§ 10 MindArbBG nicht mehr ausdrücklich erwähnt. 52 Fitting, RdA 1952, S. 5, 7; Nikisch, ArbR II, § 89, S. 521. 53 Die Formulierung des § 3 I MindArbBG ist in diesem Punkt identisch mit der des § 5 I TVG. Inhaltlich kann deshalb auf die Ausführungen zum Einvernehmen unter A.I.3. (zweites Kapitel) verwiesen werden. 49

50

C. Die Festsetzungen von Mindestarbeitsbedingungen nach dem MindArbBG

125

turn des Ausschusses erklärt werden. An ein befürwortendes Votum ist der Bundesminister hingegen nicht gebunden54. Liegt ein solches vor, nimmt der Bundesminister eine selbständige Prüfung vor und trifft eine Entscheidung nach pflichtgemäßem Ermessen55 . Gesetzestechnisch kommt der Ermessensspielraum des Bundesministers in der Formulierung des § 1 II lit. b MindArbBG zum Ausdruck in der wie im zeitgleich geänderten § 5 I 2 TVG nicht normiert ist, daß die Festsetzung erforderlich sein muß, sondern daß sie erforderlich erscheinen muß56 .

3. Fachausschüsse (§§ 4-6 MindArbBG) Hat sich der Bundesminister im Einvernehmen mit dem Hauptausschuß für die Festsetzung von Mindestarbeitsbedingungen entschieden, setzt der aus einem vom Minister bestimmten Vorsitzenden und je drei bis fünf Beisitzern aus den Kreisen der beteiligten Arbeitgeber und Arbeitnehmer bestehenden Fachausschuß den zu erlassenden materiellen Inhalt Mindestarbeitsbedingungen durch Beschluß fest. Die Tatigkeit des Fachausschusses beschränkt sich hierbei im wesentlichen auf die Vorbereitung des Wortlautes der Mindestarbeitsbedingungen57 . Der Beschluß ist mit einfacher Mehrheit zu fassen. Der Vorsitzende nimmt an der Beschlußfassung nur teil, wenn dies zur Bildung einer Mehrheit erforderlich ist (§§ 4 II, 6 II MindArbBG)58. Vor der Festsetzung ist gemäß § 7 MindArbBG den obersten Arbeitsbehörden der beteiligten Länder, den von der Regelung betroffenen Arbeitgebern und Arbeitnehmern sowie den zuständigen Gewerkschaften und Vereinigungen von Arbeitgebern Gelegenheit zur schriftlichen Stellungnahme sowie zur Äußerung in einer öffentlichen und mündlichen Verhandlung zu geben59 .

4. Die Zustimmung des Bundesministers(§ 4 111 MindArbBG) Die vom Fachausschuß festgesetzten Mindestarbeitsbedingungen sind nur ein Vorschlag an den Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung. Sie bedürfen gemäß § 4 III 1 MindArbBG noch seiner Zustimmung. Der Minister kann seine Zustimmung verweigern und die Sache unter Mitteilung seiner Bedenken dem Fachausschuß zur erneuten Beschlußfassung zuriickgeben. Stimmt der Minister dem Hersehe/, BArbB11952, S. 36, 38; Nikisch, a. a. 0 . Zur Ermessensentscheidung des Minister, vgl.: A.l.4. (zweites Kapitel). 56 Herschel, a. a. 0.; Kretz, AEntG, C Rdn. 34. 57 Fitting, a. a. 0. 58 Vgl. auch den insoweit inhaltsgleichen § 4 III 3 HAG- B.I.5.b. (zweites Kapitel). 59 Vgl. auch den insoweit inhaltsgleichen § 5 II TVG- A.I.3. (zweites Kapitel) und§ 19 I 1 HAG i.V.m. § 7 I DVO - B.I. (zweites Kapitel). 54 55

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2. Kap.: Mindestarbeitsbedingungen durch staatlichen Umsetzungsakt

Beschluß des Fachausschusses zu, erläßt er die festgesetzten Mindestarbeitsbedingungen als Rechtsverordnung (§ 4 III 2 MindArbBG). Hierbei ist er nicht frei, sondern muß den festgelegten Wortlaut, jedenfalls aber den unveränderten materiellen Inhalt, als Rechtsverordnung publizieren60. Der Minister ist an das Votum des Fachausschusses somit nur in eine Richtung gebunden. Die Festsetzung kann nicht gegen das Votum des Ausschusses erklärt werden, denn ohne einen Beschluß des Fachausschusses können keine Mindestarbeitsbedingungen erlassen werden. Der Minister kann die beschlossenen Mindestarbeitsbedingungen nicht direkt inhaltlich abändern. Er nimmt dennoch eine selbständige Prüfung vor und trifft eine Entscheidung nach pflichtgemäßem Ermessen61, die auch in einer Verweigerung der Zustimmung bestehen kann. Gesetzestechnisch kommt der Ermessensspielraum des Bundesministers in der Formulierung des § 1 II lit. b MindArbBG zum Ausdruck, in der wie im zeitgleich geänderten § 5 I 2 TVG nicht normiert ist, daß die Festsetzung erforderlich sein muß, sondern daß sie erforderlich erscheinen muß62 .

IV. Das MindArbBG als taugliches Instrument zur Setzung von Mindestarbeitsbedingungen? Das MindArbBG wurde noch nie angewandt63 . Demzufolge fehlen praktische Erkenntnisse über die Geeignetheit und die Praktikabilität dieses Gesetzes. Der größte pädagogische Erfolg des MindArbBG dürfte aber gerade in seiner Nichtanwendung liegen64, denn das MindArbBG ist gemäߧ§ 1 I, 8 II MindArbBG subsidiär und soll nur zur Anwendung kommen, wenn die Regelung von Entgelten und sonstigen Arbeitsbedingungen nicht mehr in freier Vereinbarung zwischen den Tarifvertragsparteien erfolgt. Fitting schrieb bereits 1952, "daß schon das Vorhandensein eines solchen Gesetzes bei den Beteiligten das Interesse fördern wird, lieber die Verhältnisse in eigener Verantwortung zu ordnen, als staatlichen Regelungen unterworfen zu werden"65 . Die staatliche Festsetzung von Mindestlöhnen birgt Gefahren in sich. Sollten Mindestlöhne mit tariflichen Arbeitsbedingungen konkurrieren, so wird befürchtet, daß das Interesse der Tarifvertragsparteien an einer autonomen Regelung nach60

Fitting, RdA 1952, S. 5, 8; Nikisch, ArbR II, § 89, S. 523.

61 Zur Ermessensentscheidung des Minister, vgl.: A.I.4. (zweites Kapitel). 62 Hersehe/, a. a. 0 .; Kretz, a. a. 0. 63 Hueck/Nipperdey, ArbR I, § 25, S. 149; MüHBzArbR/ Hanau, § 61 Rdn. 2; MüHBz-

ArbR/ Richardi, § 233 Rdn. 49; Däubler; Tarifvertragsrecht, S. 657, Rdn. 1587; ders., NJW 1999, S. 601, 607; Lorenz, AEntG, S. 10; Kobersk.i/Sahl/Hold, AEntG, Einl. Rdn. 20; MüKo/ Schaub, BGB, § 612 Rdn. 174. 64 Fitting, RdA 1952, S. 5, 9. 65 Fitting, a. a. 0 .

C. Die Festsetzungen von Mindestarbeitsbedingungen nach dem MindArbBG

127

läßt66. Dies könnte mit einem schwindenden Interesse der Arbeitnehmer, sich zu organisieren, einhergehen. Letztendlich könnten die staatlichen Mindestarbeitsbedingungen die tarifliche Normsetzung und die Tarifautonomie als ganzes bedrohen67. Auch ist zu bedenken, daß staatliche Mindestarbeitsbedingungen Auswirkungen auf andere Wirtschaftszweige haben. Die dort zuständigen Tarifvertragsparteien könnten gleich hohe oder unter den Mindestentgelten liegende Arbeitsbedingungen nicht mehr als angemessen erachten. Die Mindestarbeitsbedingungen können so eine stetige Anpassung nach oben nach sich ziehen. Dies birgt die Gefahr einer inflationären Lohn-Preis-Spirale in sich68. Das MindArbBG versucht deshalb konsequent jede Verminderung des Anreizes zum Abschluß von Tarifverträgen durch den Erlaß staatlicher Regelungen zu vermeiden69. Dies wird durch die Subsidiariät des Gesetzes(§§ 1 I, 8 II MindArbBG) und durch den Umfang der Mindestarbeitsbedingungen deutlich. Diese können stets nur die unterste Grenze der Entgelte und sonstigen Arbeitsbedingungen (§ 4 IV MindArbBG) festsetzen 70. Das MindArbBG tangiert die Tarifautonomie der Koalitionen damit nur peripher. Zwar schwächt jede staatliche Regelung von Arbeitsbedingungen die Verbände und deren Tarifautonomie71 , dies wird jedoch soweit wie möglich zu verhindern versucht. Aus Sicht der Gewerkschaften stellen sich die Festsetzungen nach dem MindArbBG - im Gegensatz zur Allgemeinverbindlicherklärungnach § 5 TVG72 und den bindenden Festsetzungen nach§§ 19 ff. HAG73 deshalb nicht zwiespältig dar. Dadurch daß der materielle Inhalt der Festsetzungen nach dem MindArbBG hinter den angemessenen Regelungen eines Tarifvertrages oder einer bindenden Festsetzung zuriickbleibt, konkurrieren die Festsetzungen inhaltlich nicht mit Tarifverträgen. Die Attraktivität einer Gewerkschaftsmitgliedschaft wird durch die Festsetzungen nicht gemindert, denn die Gewerkschaften werden stets versuchen für ihre Mitglieder in Tarifverträgen nicht nur die unterste Grenze der Entgelte und Arbeitsbedingungen zu normieren, sondern angemessene Regelungen zu vereinbaren. Hier wird aber auch deutlich, daß die Festsetzungen nach dem MindArbBG nur zur Verhinderung und Bekämpfung unzumutbarer, nicht aber zur Verhinderung und Bekämpfung unbilliger Arbeitsbedingungen geeignet sind. Gemäß § 4 IV MindArbBG wird durch Mindestarbeitsbedingungen die unterste Grenze der Entgelte

66 67

68 69 70 71

72 73

Koberski!Sahl/Hold, AEntG, Einl. Rdn. 21. Koberski!Sahl/Hold, a. a. 0. Gerken!Löwisch!Rieble, BB 1995, S. 2370, 2372; Koberski!Sahl/Hold, a. a. 0 . Fitting, a. a. 0. vgl.: C.II. (zweites Kapitel). vgl.: B.l.3. und 11.3. (viertes Kapitel). vgl.: A. (zweites Kapitel). vgl.: B. (zweites Kapitel).

128

2. Kap.: Mindestarbeitsbedingungen durch staatlichen Umsetzungsakt

und sonstigen Arbeitsbedingungen festgelegt. Wie sich aus den Ausführungen in diesem Kapitel unter C.II. ergibt, können Festsetzungen, die einen sozialen Notstand beheben sollen und keine darüber hinausgehenden Regelungen treffen dürfen naturgemäß nur unzumutbare Arbeitsbedingungen bekämpfen bzw. verhindern. An dem Gesetz kann aber auch Kritik angebracht werden. Die Regelung des § 1 II lit. c MindArbBG, wonach die Festsetzung nur erfolgen kann, wenn keine Allgemeinverbindlicherklärung vorliegt, ist etwas verunglückt74. Zwar wird diese Regelung die Behörde veranlassen zunächst zu prüfen, ob nicht eine Allgemeinverbindlicherklärung möglich ise 5 . Nach dem Wortlaut der Vorschrift hängt die Festsetzung jedoch nicht davon ab, ob die Allgemeinverbindlichkeit erklärt werden kann, sondern ausschließlich davon, ob die Allgemeinverbindlichkeit erklärt worden ist. Dies kann aus den oben genannten Gründen zwar nicht zu einer echten und unerwünschten Konkurrenz von Tarifverträgen und Festsetzungen nach dem MindArbBG führen 76, stellt den ultima-ratio-Charakter der Festsetzungen aber nicht in seiner deutlichsten Form heraus. Auch an der sachlichen Notwendigkeit der Aufspaltung der Ausschußzuständigkeiten auf den Haupt- und die Fachausschüsse scheinen Zweifel angebracht77 . Natürlich läßt sich hierfür anführen, daß die Beisitzer der nur für einzelne Wirtschaftszweige und Beschäftigungsarten zuständigen Fachausschüsse sachnäher und deshalb kompetenter sind als die Beisitzer des Hauptausschusses. Eine diesbezügliche Aufspaltung der Ausschußzuständigkeiten wird jedoch weder bei der Erklärung der Allgemeinverbindlichkeit eines Tarifvertrages nach § 5 TVG noch bei dem Erlaß einer bindenden Festsetzung nach§§ 19 ff. HAG für erforderlich gehalten. Das Verfahren ist wohl eher deshalb aufgespalten, weil nach dem ursprünglichen SPD-Antrag, der Staat im Hauptausschuß nicht beteiligt werden sollte78 . Nach den Vorstellungen des zuständigen Unterausschusses des Bundesrates hingegen sollte das Verfahren im wesentlichen so wie das nach dem HAG ausgestaltet werden79• Da sich keine der beiden Vorstellungen durchsetzen konnte, stellt das MindArbBG in der jetzigen Form wohl einen typischen Komprorniß dar. Bei der Festsetzung der Mindestarbeitsbedingungen sind Arbeitnehmer- und Arbeitgebervertreter in dem Haupt- und den Fachausschüssen beteiligt80. Dies macht deutlich, daß der Gesetzgeber auf die Sachkenntnis der Beisitzer zurückgreifen wollte81 und gleichzeitig demjenigen Verfahren den Vorzug geben wollte, welches innerhalb des Übergangs vom freien Tarifvertrag zur staatlichen Regelung der 74

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ebenso Hesse[, BB 1952, S. 64. vgl.: Zweites Kapitel C.I.3. - Nachweise in Fußnote 33. so aber Hesse[, a. a. 0. ebenso Hesse/, a. a. 0. Fitting, RdA 1952, S. 5, 7; Nikisch, ArbR II, § 89, S. 520. Hesse[, a. a. 0 . vgl.: C.III.l. und 3. (zweites Kapitel). Fitting, a. a. 0.

C. Die Festsetzungen von Mindestarbeitsbedingungen nach dem MindArbBG

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Arbeitsbedingungen dem Tarifvertrag am nächsten steht und demnach noch verhältnismäßig am engsten mit dem System des freien kollektiven Arbeitsrechts zu vereinbaren ist82 . Der Bundesminister ist an die Beschlüsse des Haupt- und der Fachausschüsse jedoch nur in eine Richtung gebunden. Er kann die Festsetzung nicht gegen das Votum der Ausschüsse erklären. Der Minister trifft eine eigene Ermessensentscheidung und muß die Festsetzung nicht erklären83 . Dies stellt ein Unsicherheitsmoment dar und ist vom Grundsatz her mit dem System des freien und kollektiven Arbeitsrechts unvereinbar. Im Vergleich mit den Verfahren nach §§ 5 TVG (Tarifausschuß) und 19 ff. HAG (z. B. Heimarbeitsausschuß) ist das Verfahren in den Ausschüssen nach dem MindArbBG ergebnisorientierter ausgestaltet und deshalb besser zur Setzung von Mindestarbeitsbedingungen geeignet. Bei einer Pattsituation in der ersten Abstimmung hat der neutrale Vorsitzende in der zweiten Abstimmung volles Stimmrecht84 • Hierdurch wird vermieden, daß die Beschlußfassung - wie im Tarifausschuß - durch eine etwaige Blockadehaltung einer Seite verhindert werden kann 85 . Im Rahmen der Untersuchung der Geeignetheit des MindArbBG zur Setzung von Mindestarbeitsbedingungen ist auch ein Vergleich von Parallelvorschriften des MindArbBG, des TVG und des HAG, die die jeweiligen Eingriffsvoraussetzungen normieren, von Interesse. Das Tatbestandsmerkmal der Befriedigung der notwendigen sozialen und wirtschaftlichen Bedürfnisse (§ I II lit. b MindArbBG) weist Parallelen zu § 19 I HAG und zu § 5 I 2 TVG auf. Entgelte werden dann als unzulänglich i.S.v. § 19 I HAG angesehen, wenn sie nicht zur Befriedigung der wirtschaftlichen und sozialen Bedürfnisse der Heimarbeiter ausreichen86 . Auch der Begriff des sozialen Notstandes i.S.v. § 5 I 2 TVG wird anband von § 1 II lit. b MindArbBG präzisiert87 . Ein sozialer Notstand soll vorliegen, wenn die in einer Branche gewährten Arbeitsbedingungen zur Befriedigung der notwendigen sozialen und wirtschaftlichen Bedürfnisse der Arbeitnehmer nicht ausreichen88. Dieser Rückgriff ist durchaus sinnvoll, da beide Regelungen nahezu zeitgleich ergangen sind und den gleichen Regelungszweck verfolgen89. Praktisch Fitting, RdA 1952, S. 5; Nikisch, ArbR II, § 89, S. 520. vgl.: C.III.2. und 4 (zweites Kapitel). 84 vgl.: C.III.3. (zweites Kapitel). 85 Fitting, RdA 1952, S. 5, 7. 86 vgl.: Zweites Kapitel B.l.3.c. -Nachweise dort in Fußnote 56. 87 vgl.: Zweites Kapitel A.III.- Hueck/Nipperdey, ArbR II 1, § 35, S. 678 f.; Wonneberger; Funktionen, S. 105; Wiedemann/Stumpf, TVG, § 5 Rdn. 33; dagegen: Däubler; Tarifvertragsrecht, S. 541 Rdn. 1255. 88 Hueck/Nipperdey, a. a. 0.; Nikisch, ArbR II, § 88, S. 505; Kirchner; ArbuR 1959, S. 295; Wonneberger; a. a. 0.; Wiedemann/Stumpf, a. a. 0. 89 Wonneberger; Funktionen, S. 105. 82 83

9 Andelewslti

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2. Kap.: Mindestarbeitsbedingungen durch staatlichen Umsetzungsakt

dürften bei einem Eingreifen des Staates nach § 5 I 2 TVG die gleichen sozialen Gründe maßgebend sein wie beim Erlaß von Mindestarbeitsbedingungen nach dem MindArbBG90. Dennoch verwendet der Gesetzgeber in § 5 I 2 TVG und in § l li lit. b MindArbBG bewußt verschiedene Begriffe91 . Ein Antrag der F.D.P. zur Vereinheitlichung der Terminologie wurde sogar abgelehnt92. Es stellt sich somit die Frage nach der Reichweite der beiden Begriffe. Fitting 93 meint, der Begriff des sozialen Notstandes (§ 5 I 2 TVG) sei der engere. Hersche/94 meint, der Begriff des sozialen Notstandes sei weiter gefaßt als der des § 1 li lit. b MindArbBG. Dem ist zuzustimmen. Ein sozialer Notstand kann sich auch aus überindividuellen Gesichtspunkten ergeben, z. B. der Störung der sozialen Ordnung oder Sozialdumping95 . § 1 li lit. b MindArbBG weist hingegen einen unmittelbaren Individualbezug auf, indem ausschließlich auf die Bedürfnisse der Arbeitnehmer abgestellt wird. Zudem folgt aus der Subsidiarität der Festsetzungen nach dem MindArbBG gegenüber einer Allgemeinverbindlicherklärung96, daß die Festsetzungen jedenfalls grundsätzlich enger angelegt sind als die Allgemeinverbindlicherklärung. Sollten die Festsetzungen weiter gehen können, als eine Allgemeinverbindlicherklärung, so machte es keinen Sinn die Festsetzungen nur zuzulassen, wenn keine Allgemeinverbindlicherklärung erfolgt ist. Auch aus § 4 IV MindArbBG folgt, daß der Begriff der notwendigen sozialen und wirtschaftlichen Bedürfnisse gegenüber dem Begriff des sozialen Notstandes der engere ist. Wie dargelegt97, stellen Mindestarbeitsbedingungen lediglich die unterste Grenze der Entgelte und sonstigen Arbeitsbedingungen dar. Die Festsetzungen bleiben hinter den Regelungen eines Tarifvertrages weit zurück. Regelungen, die hinter anderen zurückbleiben, sind aber typischerweise die engeren. Die Vorschriften der§§ 5 TVG, 19 ff. HAG, 1 ff. MindArbBG verfolgen einen ähnlichen Zweck, nämlich unter bestimmten Voraussetzungen Mindestarbeitsbedingungen zu normieren. Insoweit liegt es nahe, daß zur Begründung der Tatbestandsvoraussetzungen des jeweiligen Gesetzes oder zur Abgrenzung die Vorschriften der anderen hier dargestellten Gesetze herangezogen werden. Dies zeigt die enge Verwandtschaft der geregelten Materien aber auch die differenzierte Ausgestaltung der einzelnen Vorschriften. Wie dargestellt unterscheiden sich sowohl Verfahren, Voraussetzungen der Festsetzungen und der materielle Inhalt der Mindestarbeitsbedingungen trotz vieler Gemeinsamkeiten erheblich. 90

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Fitting, RdA 1952, S. 5, 6. Fitting, a. a. 0.

BT-StenBer. I, S. 7306 ff. Fitting, a. a. 0 . Hersehe/, BArbBll952, S. 36, 38. vgl.: Zweites Kapitel A.III. - Nachweise dort in Fußnote 58. vgl.: C.I.3. (zweites Kapitel). vgl.: C.II. (zweites Kapitel).

C. Die Festsetzungen von Mindestarbeitsbedingungen nach dem MindArbBG

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Gemäß § 11 MindArbBG sind die Arbeitgeber verpflichtet, die für ihren Betrieb maßgeblichen Mindestarbeitsbedingungen an geeigneter Stelle im Betrieb auszulegen und den Arbeitnehmern, deren Arbeitsverhältnis durch die Mindestarbeitsbedingungen geregelt ist, auszuhändigen. Hinsichtlich der Auslagepflicht der Mindestarbeitsbedingungen ist die Vorschrift mit der Regelung des § 8 TVG identisch. Hiernach ist der Arbeitgeber verpflichtet, die maßgeblichen Tarifverträge an geeigneter Stelle im Betrieb auszulegen. Die Pflicht zur Aushändigung der Mindestarbeitsbedingungen an die einzelnen Arbeitnehmer ist hingegen ein Unikum im deutschen Arbeitsrecht. Die Ausbändigungspflicht trägt entscheidend zur Publizität der Mindestarbeitsbedingungen bei und führt im Vergleich mit einem bloßem Aushang zu einem deutlich höheren Bekanntheitsgrad der Mindestarbeitsbedingungen. Da nur derjenige seine Rechte geltend machen kann, der sie auch kennt, trägt die Vorschrift des § 11 MindArbBG zur tatsächlichen Verhinderung und Beseitigung unzumutbarer Arbeitsbedingungen bei. Gemäß § 13 MindArbBG kann die oberste Arbeitsbehörde eines Landes oder die von ihr bestimmte Stelle Arbeitgeber die Mindestarbeitsbedingungen nicht einhalten, auffordern, die bestehenden Ansprüche der Arbeitnehmer innerhalb einer bestimmten Frist zu befriedigen. Gemäß § 14 MindArbBG kann der Staat im eigenen Namen Ansprüche der Arbeitnehmer aus den festgesetzten Mindestarbeitsbedingungen gerichtlich geltend machen. § 13 MindArbBG ist inhaltlich im wesentlichen mit § 24 HAG identisch. § 14 MindArbBG ist hingegen weiter gefaßt, als § 25 HAG. Nach dieser Vorschrift kann der Staat nämlich nur einen etwaigen Minderbetrag im Namen der Arbeitnehmer gerichtlich geltend machen98 . Nach § 14 MindArbBG kann der Staat jedoch neben Entgeltansprüchen auch andere Ansprüche der Arbeitnehmer geltend machen, soweit sie aus festgesetzten Mindestarbeitsbedingungen resultieren. Die Vorschriften wurden erlassen um sicherzustellen, daß die sich aus den festgesetzten Mindestarbeitsbedingungen ergebenden Ansprüche der Arbeitnehmer auch tatsächlich erfüllt werden. Dies war erforderlich, da einige Arbeitnehmer aus Sorge berufliche Nachteile zu erleiden oder gar gekündigt zu werden, darauf verzichten könnten, ihre Ansprüche geltend zu machen bzw. einzuklagen99. Bereits die Existenz dieser Normen dürfte viele Arbeitgeber zur Einhaltung der festgesetzten Mindestarbeitsbedingungen anhalten. Die Vorschriften fördern damit die Beachtung der festgesetzten Mindestarbeitsbedingungen100 und sind hervorragend zu ihrer Durchsetzung geeignet. Sie tragen zur tatsächlichen Verhinderung und Beseitigung unzumutbarer Arbeitsbedingungen bei.

vgl.: B.IV. (zweites Kapitel). Nikisch, ArbR II, § 89, S. 525; vgl. auch die Begründung zu § 25 HAG: Glaß, RdA 1962, S. 172, 173; Lepke, BB 1971, S. 1509, 1514; Karpf, Heimarbeit, S. 113; Schmidt/ K/ T/W, HAG, § 25 Rdn. 1; Brecht, HAG,§ 25 Rdn. 2. IOO Vgl.: die Begründung zu§ 25 HAG: Schmidt/K/TIW, a. a. 0.; Brecht, a. a. 0 .; BAG AP Nr. 1 zu § 25 HAG. 98

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2. Kap.: Mindestarbeitsbedingungen durch staatlichen Umsetzungsakt

In der Gesamtbetrachtung ist der positive Charakter des Gesetzes festzuhalten. Das MindArbBG stellt ein einmaliges Experiment in der deutschen Sozialpolitik dar 101 . Ohne das MindArbBG bestünde keine arbeitsrechtliche Möglichkeit, den Arbeitnehmern zu einem menschlichen Dasein unter Beriicksichtigung des allgemeinen Lebensstandards zu verhelfen und Störungen des sozialen Friedens zu vermeiden102. Das Gesetz legt den Sozialpartnern aber auch eine besondere Verantwortung auf. Sie sind gehalten, ein fast lückenloses Netz von Tarifverträgen zu schaffen, sonst besteht die Gefahr, daß der Staat die Arbeitsbedingungen festsetzt103. Wie die bisherige Nichtanwendung des MindArbBG zeigt, sind Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände hieran offensichtlich nicht interessiert 104.

D. Die Vorschriften des AEntG Am 01. 03. 1996 trat das AEntG in Kraft. Das Gesetz ordnet- sofern die Voraussetzungen des § 1 AEntG erfüllt sind - die Erstreckung des Geltungsbereiches bestimmter allgemeinverbindlicher Tarifverträge aus speziellen Bereichen der Bauwirtschaft und der Seeschiffahrtsassistenz auf von diesen Tarifverträgen nicht erfaßte Arbeitsverhältnisse an. Hierdurch werden für diese Arbeitsverhältnisse Mindestarbeitsbedingungen festgesetzt 1. Zum Erlaß des AEntG sah sich der Gesetzgeber angesichts des massiven Einsatzes von Arbeitnehmern aus Ländern mit deutlich niedrigerem Lohnniveau als in Deutschland auf deutschen Baustellen veranlaßt2 . Obwohl steigende Auftragseingänge und eine expandierende Bauproduktion am Beginn der neunziger Jahre zu Beschäftigungszuwächsen im Baugewerbe3 führten, stieg die Zahl der arbeitslosen deutschen Bauarbeiter4 erheblich an. Parallel hierzu übertraf die Zahl der aus der EU stammenden auf deutschen Baustellen für ausländische Bau-Arbeitgeber tätigen Arbeitnehmer5 , die Zahl der arbeitslosen deutschen Bauarbeiter6 . DieFitting, RdA 1952, S. 5, 8. Fitting, RdA 1952, S. 5. 103 Hersehe/, BArbB11952, S. 36. 104 Däubler; Tarifvertragsrecht, S. 657, Rdn. 1587; Däubler; NJW 1999, S. 601,607. I Die Vorschriften des AEntG werden im 2. Kapitel "Mindestarbeitsbedingungen durch staatlichen Umsetzungsakt" diskutiert, weil die Rechtsverordnungsermächtigung des § 1 lila AEntG einen staatlichen Umsetzungsakt darstellt. 2 BT-Ds 13/2414, S. 6. 3 Die Zahl der Beschäftigten im Baugewerbe betrug 1991 : 2,412 Millionen, 1993: 2,637 Millionen (BT-Ds 13/2414, S. 6). 4 Am 30. 06. 1991 gab es 90.151 Arbeitslose in Bauberufen, am 30. 06. 1994 dagegen 122.016 (BT-Ds 13/2414, S. 6). 5 Ca. 150.000 Arbeitnehmer aus der EU sind auf deutschen Baustellen tätig (BT-Ds 13/ 2414, S. 6). Eine differenzierte Aufschlüsselung liefert: Däubler, DB 1995, S. 726. 101

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D. Die Vorschriften des AEntG

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ser Entwicklung wollte der Gesetzgeber entgegenwirken, da er sonst auf Dauer gespaltene Arbeitsmärkte mit den daraus resultierenden Spannungen, die Gefährdung weiterer Arbeitsplätze, eine Verschlechterung der Situation von Klein- und Mittelbetrieben der deutschen Bauwirtschaft und eine Gefährdung der Tarifautonomie befürchtete7 . Zudem sollte den durch die stark differenzierenden Ausgangsvoraussetzungen zwischen deutschen und ausländischen Unternehmen bestehenden Wettbewerbsverzerrungen 8 auf deutschem Hoheitsgebiet Einhalt geboten werden9 . Nach der Rechtslage bis zum Inkrafttreten des AEntG konnte es nicht als gesichert angesehen werden, daß allgemeinverbindliche Tarifverträge auch entsandte Arbeitnehmer erfassen. Das BAG hatte dies in einer länger zurückliegenden Entscheidung verneint 10. Die Literatur stand mehrheitlich auf dem gegenteiligen Standpunkt' 1• Obwohl erhebliche Zweifel daran bestanden, daß das BAG bei einer erneuten Entscheidung seine damalige Rechtsansicht aufrechterhalten hätte 12, nahm der Gesetzgeber in Anbetracht der geschilderten Lage dieses Unsicherheitsmoment zum Anlaß um klarzustellen, daß die allgemeinverbindlichen Tarifverträge - sofern die Voraussetzungen des AEntG vorliegen - alle im räumlichen Geltungsbereich der allgemeinverbindlichen Tarifverträge beschäftigten Arbeitnehmer und deren Arbeitgeber erfassen, gleichgültig ob diese ausländischem oder deutschem Recht unterliegen 13 . Im Folgenden wird untersucht, inwieweit die Vorschriften des AEntG zur Verhinderung bzw. Beseitigung unzumutbarer oder unbilliger Arbeitsbedingungen geeignet sind. Hierzu muß zunächst auf die Voraussetzungen des § 1 AEntG eingegangen werden.

BT-Ds 13/2414, S. 6. BT-Ds 13/2414, S. 7; Lorenz, AEntG, S. 17; Koberski/Sahl/Hold, AEntG, Einl. Rdn. 14 ff.; OLG DüsseldorfNZA 1998, S. 1286. s In Griechenland kostet die durchschnittliche Bau-Arbeitsstunde ca. 2,5 ECU, in Portugal ca. 3,0 ECU, in Deutschland dagegen 10,97 ECU. Wegen des hohen Personalkostenanteils (ca. 50% des Auftragsvolumens- Däubler, DB 1995, S. 726) und der besonderen Mobilität bei der Erbringung grenzüberschreitender Dienstleistungen bewirkt dies eine für deutsche Unternehmen deutlich schlechtere Ausgangsposition im Wettbewerb (BT-Ds 13 I 2414, S. 8). 9 BT-Ds 13/2414, S. 8; Gerken/Löwisch/Rieble, BB 1995, S. 2370, 2371 ; Beisiegell Mosbacher/Lepante, JZ 1996, S. 668, 669; Kretz, AEntG, C Rdn. 71; Lorenz, AEntG, S. 17. 10 BAG AP Nr. 30 zu § 1 TV Bau. II Ausführliche Nachweise bei: Däubler; DB 1995, S. 726, 727 in Fußnote 18. 12 Neben den zahlreichen kritischen Stimmen aus der Literatur sprechen veränderte rechtliche Rahmenbedingungen für eine Neuorientierung der Rechtsprechung. Das BAG stütze seine Entscheidung damals u. a. auf die Erwägung, für die Abwehr von Störungen des Arbeitsmarktes stehe das Mittel der Arbeitserlaubnis zur Verfügung. Innerhalb der EU ist diese Voraussetzung heute nicht mehr gegeben, vgl.: Art. 39 EGV und die Ausführungen im dritten Kapitel unter H. t3 BT-Ds 13/2414, S. 8. 6

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2. Kap.: Mindestarbeitsbedingungen durch staatlichen Umsetzungsakt

I. Voraussetzungen gemäß § 1 I AEntG - Bauwirtschaft Nach § 1 AEntG werden die in allgemeinverbindlichen Tarifverträgen des Baugewerbes i. S. d. §§ 1, 2 Baubetriebe-VO geregelten Mindestentgeltsätze, die Urlaubsdauer, das Urlaubsentgelt und ein zusätzliches Urlaubsgeld auf Arbeitsverhältnisse von Arbeitgebern mit Sitz im Ausland und ihre im räumlichen Geltungsbereich des allgemeinverbindlichen Tarifvertrages beschäftigten Arbeitnehmer zwingend erstreckt, wenn der Arbeitgeber überwiegend Bauleistungen i.S.v. § 211 I SGB III 14 erbringt und auch inländische Arbeitgeber ihren im räumlichen Geltungsbereich des Tarifvertrages beschäftigten Arbeitnehmern mindestens die am Arbeitsort geltenden tarifvertragliehen Arbeitsbedingungen gewähren müssen. 1. Adressaten

Adressaten der Vorschrift sind Arbeitgeber mit Sitz im Ausland und ihre im Inland beschäftigten Arbeitnehmer. Dementsprechend erstreckt § I I I AEntG die Anwendbarkeit 15 von allgemeinverbindlichen Tarifverträgen - sofern die nachfolgenden Voraussetzungen vorliegen - auf Arbeitgeber mit Sitz im Ausland und deren im räumlichen Geltungsbereich der allgemeinverbindlichen Tarifverträge beschäftigten Arbeitnehmer im Inland. Dies war erforderlich, weil insbesondere ausländische Arbeitnehmer, die von ausländischen Arbeitgebern vorübergehend nach Deutschland entsandt werden, gemäß Art. 30 II Nr. 1 EGBGB grundsätzlich nicht dem Schutz des deutschen Arbeitsrechts unterliegen 16• Den gemäß § 1 I 1 AEntG erstreckten Arbeitsbedingungen wird der Charakter zwingender Vorschriften i. S. d. Internationalen Privatrechts (Art. 34 EGBGB) beigemessen mit der Folge, daß bezüglich dieser Arbeitsbedingungen das auf das Arbeitsverhältnis anwendbare Recht eines anderen Staates verdrängt wird 17' 18' 19 • Vormals: § 75 I Nr. 3 AFG. Rechtstechnisch wird der persönliche Geltungsbereich des Tarifvertrages ausgeweitet. 16 Webers, DB 1996, S. 574; Franzen, DZWir 1996, S. 89, 92. 17 BT-Ds 13/2414, S. 8; Junker/Wichmann, NZA 1996, S. 505 f.; Koberski/Sahl/Hold, AEntG, § I Rdn. 96, 99. 18 Dies ist in den Fällen von Bedeutung, in denen auf das Arbeitsverhältnis nicht ohnehin deutsches Recht anwendbar ist. Das ist z. B. nach Art. 30 EGBGB der Fall, wenn der Arbeitnehmer seine Arbeit gewöhnlich nicht in ein- und demselben Staat verrichtet und die Niederlassung, die ihn eingestellt hat, sich in Deutschland befindet oder wenn das Arbeitsverhältnis unabhängig davon die engste Beziehung zu Deutschland aufweist (BT-Ds 13/2414, S. 8). 19 Im Konfliktfall zwischen den nach Art. 30 EGBGB maßgeblichen ausländischen und den nach Art. 34 EGBGB einschlägigen inländischen Normen gehen grundsätzlich die zuletzt genannten Normen vor. Allerdings setzt sich nach h.M. die ausländische Norm durch, wenn diese die für den Arbeitnehmer günstigere Norm ist (MüKo/ Martiny, Art. 30 EGBGB Rdn. 23 ff.; Kretz, AEntG, C Rdn. 88; Koberski/Sahl/Hold, AEntG, § 1 Rdn. 194; a.A.: Franzen, 14

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D. Die Vorschriften des AEntG

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§ I I AEntG erfaßt sowohl ausländische als auch inländische Arbeitgeber mit Sitz im Ausland20, einschließlich der sogenannten Werkvertragsarbeitgeber aus den Staaten Mittel- und Osteuropas21 • Wer als Arbeitnehmer vom Geltungsbereich des § I I AEntG erfaßt wird, ist anhand der umfangreichen Kasuistik des BAG zum Arbeitnehmerbegriff zu ermitteln. Jedenfalls werden Selbständige- auch EinMann-Unternehmer, sofern sie keine Scheinselbständigen sind- und Gesellschafter grundsätzlich nicht vom Anwendungsbereich des AEntG erfaßt22 . § I I 3 AEntG normiert, daß auch Arbeitgeber mit Sitz im Inland ihren im räumlichen Geltungsbereich des Tarifvertrages beschäftigten Arbeitnehmern mindestens die im allgemeinverbindlichen Tarifvertrag normierten Arbeitsbedingungen gewähren müssen. Diese Vorschrift hat nur klarstellenden Charakter und dient ausschließlich als Anknüpfungspunkt für die Bußgeldregelung des § 5 AEntG23 . Dies ergibt sich bereits aus der Gesetzesbegründung zur ersten Fassung des AEntG. Dort wird ausgeführt, daß Satz 4 für inländische Arbeitgeber lediglich die sich bereits aus § 5 TVG ergebenden Verpflichtungen zur Gewährung der in allgemeinverbindlichen Tarifverträgen vorgeschriebenen Arbeitsbedingungen klarstellt und nur als Anknüpfungspunkt für die in § 4 enthaltene Bußgeldbewehrung dient24• Auch in der Gesetzesbegründung zur jetzt gültigen Fassung des AEntG wird ausgeführt, "schon nach der bisherigen Rechtslage, auf die der bisherige Satz 4 Bezug nahm, sind die Arbeitsbedingungen, die durch das AEntG auf ausländische Arbeitgeber erstreckt werden von inländischen Arbeitgebern einzuhalten"25 • Aus§ I I 3 AEntG folgt somit keine Erstreckung bestimmter allgemeinverbindlicher Arbeitsbedingungen auf inländische Arbeitgeber. Inländische Arbeitgeber sind an diese Arbeitsbedingungen bereits gemäߧ§ 3 I oder 5 TVG gebunden26 .

DZWir 1996, S. 89, 98). Vorliegend bedeutet dies, daß der allgemeinverbindliche deutsche Tarifvertrag einen ausländischen Tarifvertrag nicht verdrängt, wenn dieser der günstigere ist. Für das Sozialkassenverfahren (§ 1 III AEntG) hat die Bundesregierung in der Begründung zum Gesetzentwurf ausgeführt, daß "eine Einbeziehung ausländischer Arbeitgeber ... überall dort von vornherein nicht in Betracht kommt, wo es aufgrund des gebotenen Günstigkeistvergleichs in Bezug auf das materielle Recht gar nicht erst zu einer Anwendung der deutschen Urlaubsvorschriften ... kommt." (BT-Ds 13/2414, S. 9). 20 Koberskif Sahl/ Hold, AEntG, § l Rdn. 6. 21 BT-Ds 14/45, S. 58; Koberski!Sahl/Hold, AEntG, § l Rdn. 7 ff. 22 Koberski!Sahl/Hold, AEntG, § l Rdn. 16 ff.; Kretz, AEntG, C Rdn. 23 ff. 23 Schmitt, WiB 1996, S. 769, 772; Hanau, NZA 1998, S. 1249 f.; Meyer; NZA 1999, S. 121, 127; Böhm, NZA 1999, S. 128, 129. 24 BT-Ds 13/2414, S. 9. 2s BT-Ds 14/45, S. 57. 26 Schmitt, a. a. 0.; Meyer; a. a. 0 .

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2. Kap.: Mindestarbeitsbedingungen durch staatlichen Umsetzungsakt

2. Bauleistungen i.S.v. § 211 I SGB 111 Der Betrieb des Arbeitgebers muß überwiegend Bauleistungen i. S. d. § 211 I SGB III erbringen27 . Damit soll sichergestellt werden, daß nur Arbeiten auf Baustellen und an Bauwerken vom AEntG erlaßt werden. Auf Werkstattarbeiten und Reparaturen soll das AEntG keine Anwendung finden 28 . Im Anschluß an die Rechtsprechung des BAG zu § 75 AFG- jetzt § 211 SGB III- wird zur Bemessung darauf abgestellt, wie viele Arbeitsplätze dem Betriebszweck "Bau" zuzurechnen sind29 bzw. ob die überwiegende Arbeitszeit der eingesetzten Arbeitnehmer für Bauleistungen in Anspruch genommen wird30·31 . Bei ausländischen Unternehmen ist auf eine auf das deutsche Territorium beschränkte unternehmensbezogene Basis abzustellen (vgl.: § 1 IV AEntG) 32.

3. Allgemeinverbindlicherklärung eines Tarifvertrages i.S.v. §§ 1, 2 Baubetriebe-Verordnung Erforderlich ist weiterhin ein für allgemeinverbindlich erklärter Tarifvertrag des Bauhaupt- oder des Baunebengewerbes i.S.v. §§ 1, 2 der Baubetriebe-Verordnung33. Bezüglich der Allgemeinverbindlicherklärung eines Tarifvertrages und deren Voraussetzungen kann auf die Ausführungen in diesem Kapitel unter A. verwiesen werden. Die Beschränkung der Erstreckung auf für allgemeinverbindlich erklärte Normen eines Tarifvertrages erfolgte um sicherzustellen, daß ein ausländischer Arbeitgeber nur solchen Rechtsnormen eines Tarifvertrages unterworfen wird, die auch von inländischen Arbeitgebern verbindlich einzuhalten sind. Der Gesetzgeber wollte so eine gemeinschaftsrechtlich unzulässige Diskriminierung ausländischer Arbeitgeber vermeiden 34. Die Baubetriebe-Verordnung, die eigentlich die ganzjährige Beschäftigung auf Baustellen fördern soll35 , dient nur als Anknüpfungspunkt zur Ermittlung der geDies ist ein wichtiges Abgrenzungskriterium für Mischbetriebe. Webers, DB 1996, S. 574; Schmitt, WiB 1996, S. 769, 771. 29 BAG EzA Nr. 7 zu§ 4 TVG-Bauindustrie. 30 BAG EzA Nr. 19, 36, 47, 72, 75 zu § 4 TVG-Bauindustrie; BAG AP Nr. 193 zu § 1 TVG Tarifverträge: Bau. 31 Hammacher, BB 1996, S. 1554, 1555; Koberski!Sahl!Hold, AEntG, § 1 Rdn. 41. 32 Hammacher, a. a. 0. 33 Baubetriebe-VO vom 28. 10. 1980 (BGBI. 1980 I, S. 2033), zuletzt geändert durch Artikel! der Verordnung vom 13. 12. 1996 (BGBI. 1996 I, S. 1954). 34 BT-Ds 13/2414, S. 8; Webers, DB 1996, S. 574; Hanau, NZA 1998, S. 1249, 1250; Lorenz, AEntG, S. 18.; Kretz, AEntG, C Rdn. 44. 35 Hammacher, BB 1996, S. 1554; Kretz, AEntG, C Rdn. 16. 27

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D. Die Vorschriften des AEntG

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schützten Tatigkeiten. Es werden alle dort genannten Bau- und Ausbauarbeiten in den Geltungsbereich des Entsendegesetzes einbezogen, unabhängig davon, ob sie der Winterbauförderung unterliegen oder niche 6 . Zudem stellt § 1 I I AEntG, in der seit 01. 01. 1999 geltenden Fassung, ausdrücklich fest, daß das AEntG auch für Tarifverträge des Baunebengewerbes gelten kann. Aus der bis zum 31. 12. 1998 geltenden Fassung ging dies nicht eindeutig hervor. Dort wurde von "Baugewebe i. S. d. §§ 1, 2 Baubetriebe-VO" gesprochen. Das Baunebengewerbe zähltjedoch gemäߧ 2 Baubetriebe-VO gerade nicht zum Baugewerbe i. S. d. VO. Diese Unklarheit ist jetzt beseitigt37 . 4. Inhalt des Tarifvertrages Inhaltlich muß der für allgemeinverbindlich erklärte Tarifvertrag Mindestentgeltsätze einschließlich der Überstundensätze, die Dauer des Erholungsurlaubes, das Urlaubsentgelt oder ein zusätzliches Urlaubsgeld regeln. Die Beschränkung auf diese Regelungsbereiche in Tarifverträgen erklärt sich aus der großen wettbewerbs- und sozialpolitischen Bedeutung, die der Gesetzgeber diesen Vorschriften beimißt38 und daraus, daß andere Arbeitsbedingungen als öffentlich-rechtliche Vorschriften dem Territorialgrundsatz (Art. 34 EGBGB) unterliegen, also ohnehin für alle in Deutschland tätigen Arbeitnehmer gelten 39.4°. Die hier verwendeten Begriffe bedürfen inhaltlich keiner Erläuterung. Festzuhalten ist nur, daß die Tarifvertragsparteien entgegen der bis zum 31. 12. 1998 geltenden Fassung nicht lediglich ein Mindestentgelt vereinbaren können sondern sämtliche tariflichen Entgelte einschließlich der Überstundensätze normieren können41. Die zuvor im AEntG enthaltene Beschränkung auf die unterste Entgeltgruppe ist entfallen. Den Tarifvertragsparteien ist es möglich, mehr als eine Entgeltgruppe in dem für allgemeinverbindlich zu erklärenden Tarifvertrag zu regeln 42. 5. Arbeitsortprinzip und Bindung inländischer Arbeitgeber Weitere Voraussetzung der Erstreckung ist, daß auch inländische Arbeitgeber ihren im räumlichen Geltungsbereich des allgemeinverbindlichen Tarifvertrages be-

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Webers, DB 1996, S. 574; Schmitt, WiB 1996, S. 769, 770 f.; Kretz, a. a. 0 . Böhm, NZA 1999, S. 128, 130.

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BT-Ds 12/2414, S. 9.

36

Däubler; EuZW 1993, S. 370, 373; Beisiegel/Mosbacher!Lepante, JZ 1996, S. 668, 670; Franzen, DZWir 1996, S. 89, 92; Schaub, ArbRHB, § 6 III 5, S. 19; BT-Ds 14/45, S. 62. 39

40 § 7 I AEntG dient mit Rücksicht auf die betroffenen ausländischen Arbeitgeber vor allem der Klarstellung, BT-Ds 14/45, S. 62, vgl. auch: Däubler; NJW 1999, S. 601, 607. Deshalb wird von einer Darstellung des § 7 AEntG Abstand genommen. 41 Riester; ArbuR 1998, S. 1, 3; Däubler; a. a. 0.; Fische r; BArbB11/1999, S. 6, 8 f. 42 BT-Ds 14/45, S. 58; Meyer; NZA 1999, S. 121, 126 f.; Riester; a. a. 0.; Fischer; a. a. 0.

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2. Kap.: Mindestarbeitsbedingungen durch staatlichen Umsetzungsakt

schäftigten Arbeitnehmern mindestens die am Arbeitsort geltenden tarifvertragliehen Arbeitsbedingungen gewähren müssen- Arbeitsortprinzip -. Diese Voraussetzung ist erfüllt, wenn der am jeweiligen Arbeitsort maßgebliche allgemeinverbindliche Tarifvertrag unabhängig vom Sitz des inländischen Arbeitgebers einzuhalten ist. Es dürfen nicht nur die im räumlichen Geltungsbereich des Tarifvertrages ansässigen Arbeitgeber der Tarifbindung unterliegen. Auch im Fall der sogenannten nationalen Entsendung, wenn ein inländischer Arbeitgeber mit Sitz außerhalb des räumlichen Geltungsbereiches des Tarifvertrages Arbeitnehmer in das Tarifgebiet entsendet, muß sichergestellt sein, daß dieser Arbeitgeber seinen entsandten Arbeitnehmern mindestens die am Arbeitsort allgemeinverbindlichen Arbeitsbedingungen gewährt43 • Dies ist dann gewährleistet, wenn das Arbeitsortprinzip ausdrucklieh im Tarifvertrag festgeschrieben ist oder wenn sich aus dem Tarifvertrag insgesamt ergibt, daß dem im Inland beschäftigten Arbeitnehmer nicht weniger gezahlt werden darf, als dem Arbeitnehmer, dessen Arbeitgeber im Tarifgebiet ansässig ist44.45 . Damit wird eine gemeinschaftsrechtlich unzulässige Diskriminierung ausländischer Arbeitgeber vermieden46 . 6. Keine vorrangige Taritbindung?

Wie in diesem Kapitel unter A.l.5. dargestellt, folgt aus der positiven Koalitionsfreiheit (Art. 9 III GG)47 und der Rechtsprechung des BAG zur Tarifkonkurrenz und zur Tarifpluralität48 , daß ein für allgemeinverbindlich erklärter Tarifvertrag grundsätzlich nur Arbeitsverhältnisse erlaßt, die keiner vorrangigen Tarifbindung unterliegen. Im Rahmen des AEntG kann dies zu Konfliktsituationen führen. Wie dargelegt, ordnet § 1 I 3 AEntG nicht die Erstreckung allgemeinverbindlicher tariflicher Arbeitsbedingungen auf inländische Arbeitgeber an. Voraussetzung der Erstreckung auf ausländische Arbeitgeber ist aber, daß auch inländische Arbeitgeber ihren im 43 BT-Ds 13/2414, S. 8; Webers, DB 1996, S. 574; Schmitt, WiB 1996, S. 769, 771; Koberski/Sahl/Hold, AEntG, § 1 Rdn. 115; Kretz, AEntG, C Rdn. 49. 44 Eine entsprechende Lohnregelung findet sich seit Jahnehnten in § 5 Nr. 6 des BRTVBau: .,Lohn der Baustelle und Lohn bei auswärtiger Beschäftigung. Es gilt der Lohn der Arbeitsstelle. Auswärts beschäftigte Arbeitnehmer behalten jedoch den Anspruch auf den Gesamtstundenlohn ihres Einstellungsortes. Ist der Lohn der auswärtigen Arbeitsstelle höher, so haben sie Anspruch auf diesen Gesamtstundenlohn, solange sie auf dieser Arbeitsstelle tätig sind." 45 BT-Ds 13/2412, S. 8 f.; Schmitt, a. a. 0.; Webers, DB 1996, S. 574 f.; Koberski/Sahl/ Hold, a. a. 0.; Kretz, a. a. 0. 46 Webers, DB 1996, S. 574; Koberski!Sahl!Hold, a. a. 0.; Kretz, a. a. 0.; Hanau, NZA 1998, s. 1249, 1250. 47 vgl.: B. (erstes Kapitel). 48 BAG AP Nr. 3, 4, 11, 13, 16, 20 zu§ 4 TVG Tarifkonkurrenz.

D. Die Vorschriften des AEntG

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räumlichen Geltungsbereich des allgemeinverbindlichen Tarifvertrages beschäftigten Arbeitnehmern mindestens die tarifvertragliehen Arbeitsbedingungen gewähren müssen. Schließt jedoch ein Arbeitgeber mit Sitz in der Bundesrepublik oder ein Arbeitgeberverband mit einer (deutschen) Gewerkschaft einen Tarifvertrag ab, dessen Arbeitsbedingungen unter denen des allgemeinverbindlichen Tarifvertrages liegen, so verdrängt dieser Tarifvertrag den allgemeinverbindlichen Tarifvertrag nach h.M. und ständiger Rechtsprechung, wenn der Tarifvertrag spezieller ist49 . Dieses Prinzip sollte durch den Erlaß des AEntG nicht berührt werden50 . Folge ist dann aber, daß nicht mehr alle inländischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer an die Arbeitsbedingungen des allgemeinverbindlichen Tarifvertrages gebunden sind. Die Voraussetzung des Arbeitsortprinzips ist nicht mehr erfüllt. Eine Erstreckung der Arbeitsbedingungen des allgemeinverbindlichen Tarifvertrages auf ausländische Arbeitgeber kann nicht erfolgen, sonst käme es zu einer europarechtswidrigen Diskriminierung ausländischer Arbeitgeber51 . Art. 9 III GG schützt die Tarifautonomie von "jedermann". Der Schutzbereich des Art. 9 III erlaßt deshalb auch Ausländer, die sich im Geltungsbereich des GG aufhalten oder hierhin Arbeitnehmer entsenden52 . Geschützt sind somit auch Tarifverträge, die ausländische Arbeitgeber oder Arbeitgeberverbände mit ausländischen Gewerkschaften abschließen5 3 . Schließt nun ein ausländischer Arbeitgeber mit einer ausländischen Gewerkschaft einen Tarifvertrag, in dem die Arbeitsbedingungen von nach Deutschland entsandten Arbeitnehmern geregelt werden 54, so verdrängt dieser Tarifvertrag nach dem vom BAG in ständiger Rechtsprechung angewandten Prinzip der Tarifeinheit den allgemeinverbindlichen deutschen Tarifvertrag, weil der ausländische Tarifvertrag spezieller ist55 .

Bliebe es bei diesem Ergebnis, würde die praktische Bedeutung des AEntG gegen Null tendieren5 6 • Mit dieser Erwägung läßt sich eine Ausnahme von der Rechtsprechung des BAG zum Grundsatz der Tarifeinheit freilich nicht begründen. Eini49

Junker!Wichrrumn, NZA 1996, S. 505, 512.

so Junker!Wichrrumn, NZA 1996, S. 505,511. 51 Auf die Frage der Vereinbarkeil des AEntG mit Europarecht wird nicht eingegangen, vgl. hierzu: Gerkenlwwisch/Rieble, BB 1995, S. 2370, 2373 ff.; Königs, DB 1995, S. 1710 f.; ders. , DB 1997, S. 225, 227 ff.; Franzen, DZWir 1996, S. 89,93 ff.; Junker/Wichmann, NZA 1996, S. 505, 507 ff.; Deinen, RdA 1996, S. 339, 349 f.; Webers, DB 1996, S. 574, 577; Koberski!Sahl!Hold, AEntG, § 1 Rdn. 101 ff. 52 wwisch/MHBzArbR, § 236 Rdn. 34 ff.; Franzen, DZWir 1996, S. 89, 97. 53 Franzen, a. a. 0 . 54 Dem BAG lag der umgekehrte Fall zur Entscheidung vor. Dort ging es um einen Tarifvertrag, den die GEW mit dem Goethe-Institut in Mexiko für dort dauerhaft beschäftigte deutsche Staatsangehörige abgeschlossen hatte. Das BAG, AR-Biattei ES 340 Nr. 14, führte aus: "Deutsche Tarifvertragsparteien können für ausschließlich im Ausland zu erfüllende Arbeitsverträge Tarifverträge abschließen.". 55 Junker!Wichmann, NZA 1996, S. 505, 511. 56 Junker/Wichmann, a. a. 0 .

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2. Kap.: Mindestarbeitsbedingungen durch staatlichen Umsetzungsakt

ge Autoren halten das AEntG deshalb wegen Verstoßes gegen die Koalitionsfreiheit und die Tarifautonomie für verfassungswidrig57 • Andere meinen, der Konflikt zwischen dem ausländischen Tarifvertrag und dem allgemeinverbindlichen Tarifvertrag sei nach dem Günstigkeitsprinzip zu lösen 58 oder der allgemeinverbindliche Tarifvertrag erzeuge nur Sperrwirkungen gegenüber anderen Tarifverträgen, die deutlich hinter seinem sozialen Schutzniveau zurückbleiben59 . Weitere Autoren meinen, das AEntG verstoße nicht gegen Art. 9 III GG, weil ausländische Tarifverträge gegenüber deutschen Tarifverträgen weniger geschützt seien, denn sie wiesen nur einen eingeschränkten sachlichen Bezug zu den hiesigen durch Art. 9 III GG geschützten Arbeitsbedingungen aut6°, zudem könne die Rechtsprechung des BAG zur Lösung der Tarifkonkurrenzen keinen Verfassungsrang beanspruchen61 • Diese Begründungsansätze überzeugen nicht. Das Günstigkeitsprinzip findet rechtsquellentheoretisch nur auf Konkurrenzen von Regelungen unterschiedlichen Ranges Anwendung62 . Die Auffassung, ausländische Tarifverträge seien weniger geschützt als deutsche Tarifverträge steht schlicht im Widerspruch zum Wortlaut des Art. 9 III GG, der ein Jedermannsgrundrecht und kein Deutschengrundrecht ist. Auch die Kritik an der Rechtsprechung des BAG ist nicht angebracht. Die Rechtsprechung ist Ausfluß der durch Art. 9 III GG geschützten Tarifautonomie der Koalitionen. Entsprechend den im ersten Kapitel unter C.III.4. herausgearbeiteten Grundsätzen, kann die Tarifautonomie der Ausländer nur durch verfassungsrechtlich geschützte Rechtsgüter mit einem höheren Stellenwert verdrängt werden. Vorliegend besteht die zusätzliche Besonderheit, daß das AEntG Sachverhalte mit Auslandsberührung regelt. Für Art. 9 III GG hat das BVerfG in der Zweitregisterentscheidung ausgesprochen, daß die Gestaltungsbefugnis des Gesetzgebers größer ist, wenn die Ausübung des Grundrechts zwangsläufig die Rechtsordnungen mehrerer Staaten berührt als bei Rechtsbeziehungen mit inländischem Schwerpunkt63 . Stellt man nun anband der Gesetzesbegründung64 die Rechtsgüter, die der Gesetzgeber mit dem AEntG schützen wi!l65 , der Tarifautonomie der betroffenen Ausländer gegenüber und berücksichtigt die eben genannte Rechtsprechung des BVerfG, so ist 57 Gerken/Löwisch/Rieble, BB 1995, S. 2370, 2374; mit anderer Begründung: Strohmaier; RdA 1998, S. 339 ff. 58 Nachweise bei: Franzen, DZWir 1996, S. 89,98 in Fußnote 107. 59 Deinert, RdA 1996, S. 339, 346. 60 Franzen, DZWir 1996, S. 89, 97. 61 Franzen, DZWir 1996, S. 89, 98. 62 Franzen, a. a. 0. - vgl. auch: C.III.2. (erstes Kapitel) aber auch die Ausführungen in Fußnote 19 in diesem Abschnitt. 63 BVerfG AP Nr. 76 zu Art. 9 GG = AR-Biattei ES 1550.15 Nr. 1 mit Anmerkung Franzen. 64 BT-Ds 13/2414, S. 6 ff. 65 Vgl. hierzu: Zweites Kapitel D. - Einführung.

D. Die Vorschriften des AEntG

141

diesen Rechtsgütern- zumindest in ihrer Gesamtheit- ein höherer Stellenwert beizumessen als der Tarifautonomie der ausländischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer66. Ein ausländischer Tarifvertrag verdrängt demnach keinen allgemeinverbindlichen deutschen Tarifvertrag. Die im AEntG angeordnete Erstreckung der allgemeinverbindlichen Tarifverträge auf ausländische Arbeitgeber und deren im Inland beschäftigte Arbeitnehmer verstößt nicht gegen Art. 9 III GG.

II. Voraussetzungen gemäß § 1 II AEntG Seeschiffahrtsassistenz § 1 II AEntG erstreckt den Geltungsbereich des Gesetzes unter den in § 1 I AEntG genannten Voraussetzungen auch auf den Bereich der Seeschiffahrtsassistenz. Damit werden die Hafenschlepper in den deutschen Seehandelshäfen den Baubetrieben gleichgestellt67 . Absatz 2 bewirkt jedoch nur eine geringfügige Ausdehnung des Geltungsbereiches des AEntG, da dieser Bereich nur etwa 100 Arbeitsverhältnisse betrifft68 . Die Erstreckung wird dennoch für erforderlich gehalten, da im Bereich der Erbringung von Schlepperdiensten in deutschen Seehäfen ein ähnlicher Verdrängungswettbewerb herrscht wie auf deutschen Baustellen69, so bieten z. B. Reedereien aus Holland ihre Leistungen um ca. 30 bis 40% billiger an als deutsche Reedereien 70. Bezüglich der Voraussetzungen des Absatzes 1 kann auf obige Ausführungen verwiesen werden.

111. Voraussetzungen gemäß § 1 111 AEntG Urlaubskassenverfahren Nach § 1 III AEntG werden Rechtsnormen allgemeinverbindlicher Sozialkassentarifverträge für das Urlaubsverfahren auf Arbeitgeber und Arbeitnehmer, die 66 Sollte ein ausländischer Arbeitgeber oder Arbeitgeberverband mit einer deutschen Gewerkschaft einen Tarifvertrag über Arbeitsbedingungen nach Deutschland entsandter Arbeitnehmer abschließen, so verdrängt dieser Tarifvertrag nach dem Spezialitätsprinzip den allgemeinverbindlichen deutschen Tarifvertrag. In diesem Fall haben die Rechtsgüter die das AEntG schützen will gegenüber der Tarifautonomie keinen höheren Stellenwert. Es bleibt bei den vom BAG entwickelten Grundsätzen zur Tarifeinheit Gegenwärtig ist es jedoch wie Junker/Wichmann, NZA 1996, S. 505,511, feststellen schwer vorstellbar, daß deutsche Gewerkschaften einem ausländischen Arbeitgeber die Hand zur Unterschreitung der allgemeinverbindlichen tariflichen Arbeitsbedingungen reichen werden. 67 Schmitt, WiB 1996, S. 769; Webers, DB 1996, S. 574; Lorenz. AEntG, S. 24; Koberskif Sahl/ Hold, AEntG, § I Rdn. 42; Kretz, AEntG, C Rdn. 22; Marschall, NZA 1998, S. 633. 68 BT-Plenarprotokoll13/86, S. 7569; Koberski/Sahl! Hold, a. a. 0. 69 Lorenz, a. a. 0 . 10 Webers, a. a. 0.

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2. Kap.: Mindestarbeitsbedingungen durch staatlichen Umsetzungsakt

vom Geltungsbereich des Absatzes 1 erfaßt werden, erstreckt, wenn in den betreffenden Tarifverträgen oder auf sonstige Weise sichergestellt ist, daß Doppelzahlungen der ausländischen Arbeitgeber an Sozialkassen vermieden werden und bereits im Heimatland erbrachte Leistungen angerechnet werden71 . Die Einbeziehung des auf gemeinsame Einrichtungen der Tarifvertragsparteien übertragenen Urlaubskassenverfahrens in die erstreckten Rechtsnormen war wegen der spezifischen Besonderheiten des Urlaubsverfahrens im Baugewerbe erforderlich72. Im Baugewerbe bestehen wegen der Witterungsabhängigkeit der Arbeit, der hohen Fluktuation durch ständigen Wechsel der Bau- und Arbeitsstätten und dem hohen Anteil der Kleinbetriebe73 gemeinsame Einrichtungen der Tarifvertragsparteien zur Abwicklung der Urlaubsansprüche74• Regelmäßig erwachsen den Arbeitnehmern als Gläubigem Leistungsansprüche gegen die Sozialkasse. Die Arbeitgeber sind demgegenüber sowohl Gläubiger als auch Schuldner. Sie haben Beiträge zu zahlen, haben aber auch Anspruch auf Rückerstattung derjenigen Leistungen, die sie ihren Arbeitnehmern gewährt haben75 • 1. Vermeidung von Doppelzahlungen

Gemäß § 1 III 1 Nr. 1 AEntG können ausländische Arbeitgeber nur dann in Deutschland zu Sozialkassenbeiträgen herangezogen werden, wenn sichergestellt ist, daß sie nicht gleichzeitig in ihrem Sitzstaat zu einer vergleichbaren Einrichtung Beiträge zahlen müssen. Mit dieser Voraussetzung wird eine europarechtswidrige Diskriminierung von Arbeitgebern mit Sitz in der Europäischen Union vermieden76, denn müßten Arbeitgeber sowohl in ihrem Heimatstaat als auch in Deutschland Beiträge an Urlaubskassen entrichten, würde dies zu unzulässigen Wettbewerbsnachteilen führen77. Der EuGH hat unter Anknüpfung an seine bisherige Rechtsprechung in der Sache "Vander Elst" ausgeführt, daß Regelungen eines Mitgliedstaates, nach der die in einem anderen Mitgliedstaat ansässigen Unternehmen Abgaben zu zahlen haben, um auf seinem Gebiet Arbeitnehmer beschäftigen zu können, für die bereits vergleichbare Belastungen in ihrem Herkunftsstaat entstanden sind, eine zusätzliche wirtschaftliche Belastung für diese Arbeitgeber darstellen und diese damit im Ergebnis stärker belastet werden als die im Inland ansässigen Dienstleistenden78 • 71

Zum Günstigkeilsprinzip vgl.: Ausführungen in Fußnote 19.

n Lorenz, AEntG, S. 25; Kretz, AEntG, C Rdn. 71. 73 74 75

76

77 78

Von den über 70.000 Baubetrieben haben 80% weniger als 20 Beschäftigte. Koberski/Sahl/Hold, AEntG, § 1 Rdn. 159. Kretz, AEntG, C Rdn. 70; Koberski/Sahl/Hold, AEntG, § 1 Rdn. 178 ff. Kretz, AEntG, C Rdn. 77; Koberski/Sahl/Hold, AEntG, § 1 Rdn. 189. Kretz, a. a. 0. EuGH Slg. 1994 I, 3803, TZ 15 - Vander Eist.

D. Die Vorschriften des AEntG

143

Bei der Prüfung, ob eine vergleichbare Regelung vorliegt, kommt der Frage der vergleichbaren Belastungen der Unternehmen damit eine entscheidende Bedeutung zu79• Auf eine gleiche Regelung kommt es nicht an. Es genügt, daß die Systeme bezüglich ihrer Zielsetzung und Zweckbestimmung ähnlich sind und vergleichbare Belastungen der Arbeitgeber vorsehen. Dies ist dann der Fall, wenn es zur Absicherung und Abwicklung von Urlaubsansprüchen in dem Sitzstaat des Dienstleistenden ein System gibt, das alle Arbeitgeber der betroffenen Branche - auf gesetzlicher oder tarifvertraglicher Grundlage - zur Beitragszahlung verpflichtet80. Gegenwärtig bestehen innerhalb der Europäischen Union nur in Belgien, Deutschland, Frankreich, Italien, den Niederlanden und Österreich tarifliche bzw. gesetzliche Urlaubskassenregelungen. Das Problem der Doppelzahlungen kann somit nur auftreten, wenn Arbeitgeber mit Sitz in diesen Staaten Arbeitnehmer nach Deutschland entsenden 81 • Eine Doppelbelastung ist jedoch ausgeschlossen, wenn es kein vergleichbares System gibt oder ein vorhandenes vergleichbares System im Herkunftsland bzw. das deutsche System Freistellungen für entsprechende Tatbestände vorsehen 82. 2. Anrechnung bereits erbrachter Leistungen Nach§ 1 III 1 Nr. 2 AEntG werden allgemeinverbindliche Sozialkassentarifverträge nur dann auf ausländische Arbeitgeber und deren ins Inland entsandte Arbeitnehmer erstreckt, wenn das Verfahren der gemeinsamen Einrichtung der Tarifvertragsparteien eine Anrechnung derjenigen Leistungen vorsieht, die der ausländische Arbeitgeber zur Erfüllung der gesetzlichen, tarifvertragliehen oder einzelvertraglichen Urlaubsansprüche seiner Arbeitnehmer bereits erbracht hat. Auch mit diesem Erfordernis soll eine gemeinschaftsrechtswidrige Diskriminierung ausländischer Arbeitgeber vermieden werden 83 . Eine Leistungspflicht des ausländischen Arbeitgebers gegenüber der deutschen Urlaubskasse ist nur insofern gerechtfertigt, als etwaige vom Arbeitgeber an den Arbeitnehmer oder eine andere Sozialkasse erbrachte Leistungen angerechnet werden. Zur Vermeidung von Doppelbelastungen der ausländischen Arbeitgeber sind deshalb insbesondere bereits gewährte Freistellungen und bereits gezahlte Urlaubsvergütungen auf die Urlaubsansprüche der Arbeitnehmer anzurechnen 84•85 . Kretz, AEntG, C Rdn. 82. Kretz, AEntG, C Rdn. 83. 81 Koberski/Sahl/Hold, AEntG, § 1 Rdn. 189. 82 Kretz, AEntG, C Rdn. 84. 83 Kretz, AEntG, C Rdn. 86; Koberski/Sahl/Hold, AEntG, § 1 Rdn. 196. 84 BT-Ds 13/2414, S, 9; Kretz, a. a. 0.; Koberski/Sahl!Hold, AEntG, § 1 Rdn. 198. 85 Dies führt zu einer Besserstellung der ausländischen Arbeitgeber gegenüber inländischen Arbeitgebern. Fällt ein inländischer Unternehmer aufgrund einer Änderung des Tätigkeitsschwerpunktes oder einer Neuorganisation seines Betriebes erstmalig unter den Gel79

80

144

2. Kap.: Mindestarbeitsbedingungen durch staatlichen Umsetzungsakt

3. Ausnahmen gemäß § 1 V AEntG Von der Verpflichtung zur Zahlung der Beiträge kann gemäß § 1 V AEntG in Ausnahmefällen abgesehen werden, wenn dies wegen des geringen Umfangs der zu erbringenden Leistungen angemessen und begründet erscheint86 . Der Gesetzgeber hat hier an Fälle gedacht, bei denen die Erstreckung zur Erreichung des Gesetzeszieles nicht zwingend erforderlich ist87• Dies kann z. B. der Fall sein, wenn der Personalkostenanteil am Gesamtwert des vom Auftraggeber zu erfüllenden Auftrages gering ist oder der Einsatz von Bauarbeiterkolonnen unvorhersehbar und kurzfristig erfolgen mußte, beispielsweise um drohende Konventionalstrafen zu vermeiden88. Die Entscheidung über den Ausnahmefall liegt im Ermessen der Bundesanstalt für Arbeit89.

IV. Voraussetzungen gemäß § 1 lila AEntG Rechtsverordnungsermächtigung Das Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung kann gemäß § 1 lila AEntG durch Rechtsverordnung bestimmen, daß die Rechtsnormen eines Tarifvertrages auf alle unter den Geltungsbereich dieses Tarifvertrages fallenden und nicht tarifgebundenen Arbeitgeber und Arbeitnehmer Anwendung finden, wenn ein Antrag auf Allgemeinverbindlicherklärung eines Tarifvertrages nach § 1 I 1, III 1 AEntG gestellt wurde und die übrigen Voraussetzungen einer Allgemeinverbindlicherklärung vorliegen. 1. Adressaten

Adressaten der Vorschrift sind gemäß § 1 lila 1 AEntG alle unter den Geltungsbereich des Tarifvertrages fallenden nicht tarifgebundenen Arbeitgeber und Arbeittungsbereich eines allgemeinverbindlichen Sozialkassentarifvertrages, so wird diesem nach geltendem Recht keine Anrechnung bereits erbrachter Leistungen gewährt (vgl.: Kretz;, AEntG, C Rdn. 87). 86 Nach der bis zum 31. 12. 1998 geltenden Fassung hatte der Ausnahmetatbestand einen weiteren Anwendungsbereich. Der Begründung des Gesetzentwurfes zu Folge, sollte der Ausnahmetatbestand jedoch "auf den praktisch relevanten Fall der Einbeziehung ausländischer Arbeitgeber in das Urlaubskassenverfahren der Bauwirtschaft konzentriert werden" (BT-Ds 14/45, S. 60). 87 BT-Ds 13/2414, S. 10; Kretz;, AEntG, C Rdn. 98; Koberski/Sahl/Hold, AEntG, § 1 Rdn. 212 ff. 88 BT-Ds 13/2414, S. 10; Kretz;, a. a. 0 .; teilweise a.A.: Koberski/Sahl/Hold, AEntG, § 1 Rdn. 213. 89 Kretz;, a. a. 0.

D. Die Vorschriften des AEntG

145

nehmer. Die Sätze 2 und 3 stellen die Erstreckung bzw. Geltung sowohl für ausländische als auch für inländische Arbeitgeber nochmals ausdrücklich fest. Wegen der zu gewährleistenden Tarifautonomie der Parteien erlaßt die Rechtsverordnung nur Arbeitsverhältnisse, die keiner Tarifbindung unterliegen90 • Zumindest deutschen Tarifvertragsparteien ist es damit möglich, tarifvertraglich Arbeitsbedingungen zu normieren, die ungünstiger sind, als die Normen derjenigen Tarifverträge, die durch Rechtsverordnung auf sie erstreckt werden sollen oder bereits wurden. Ob die Rechtsverordnung auch Arbeitsverhältnisse erfaßt, deren Arbeitsbedingungen durch Tarifverträge, die ein ausländischer Arbeitgeber oder Arbeitgeberverband mit einer ausländischen Gewerkschaft geschlossen hat, kann wegen der ebenfalls von Art. 9 III GG geschützten Tarifautonomie der Ausländer nicht als gesichert angesehen werden91 . Da Absatz 3a ein Leerlaufen des AEntG verhindern wi1192 , entspräche eine Sperrwirkung ungünstigerer ausländischer Tarifverträge gegenüber einer deutschen Rechtsverordnung zumindest nicht dem Anliegen des Gesetzgebers. Auf die Frage, wie die Regelung des Absatzes 3a verfassungskonform auszulegen ist, soll im Rahmen dieser Arbeit jedoch nicht eingegangen werden. Dieses Problem wird die Jurisprudenz und die Gerichte aber wohl noch beschäftigen. Soweit der Tarifvertrag die Verpflichtung zur Zahlung von Beiträgen an gemeinsame Einrichtungen der Tarifvertragsparteien regelt, kann von der Beitragspflicht gemäß § l V AEntG in Ausnahmefallen abgesehen werden. Bezüglich dieser Regelung wird auf die Ausführungen in diesem Kapitel unter D.II1.3. verwiesen.

2. Antrag auf Allgemeinverbindlicherklärung Voraussetzung des Erlasses einer Rechtsverordnung ist, daß ein Antrag auf Allgemeinverbindlicherklärung eines Tarifvertrages nach § 1 I 1, III l AEntG gestellt wurde. Bezüglich der Voraussetzungen des § 1 I l und III l AEntG und der Anforderungen an den Tarifvertrag kann auf die Ausführungen in diesem Kapitel unter D.I. und III. verwiesen werden. Der Antrag auf Allgemeinverbindlicherklärung kann sowohl von den Gewerkschaften als auch von der Arbeitgeberseite kommen. Das Antragserfordernis stellt sicher, daß eine Ausweitung des Geltungsbereiches eines Tarifvertrages nur erfolgt, wenn hierfür aus den Reihen der Parteien dieses Tarifvertrages ein entsprechender Bedarf gesehen wird93 . Nicht eindeutig geregelt ist, ob der Erlaß der Rechtsverordnung voraussetzt, daß das Verfahren auf Erteilung der Allgemeinver-

90 91 92

93

BT-Ds 14 I 45, S. 59. Vgl.: 0.1.6. (zweites Kapitel). Riester; ArbuR 1998, S. 1, 3; Fischer; BArbBI 1 I 1999, S. 6, 9. Fischer; a. a. 0.; Meyer; NZA 1999, S. 121, 127.

I 0 Andelewski

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2. Kap.: Mindestarbeitsbedingungen durch staatlichen Umsetzungsakt

bindlichkeit erfolglos geblieben ist94• In der Gesetzesbegründung zu der ursprünglichen Fassung hieß es noch: ,,Der Erlaß einer Rechtsverordnung setzt nicht voraus, daß zuvor ein Verfahren auf Allgemeinverbindlicherklärung des Tarifvertrages eingeleitet wurde oder erfolglos blieb."95 . Die damalige Fassung des Absatzes 3a wurde jedoch wegen massiver verfassungsrechtlicher Bedenken geändert96, denn der Vorrang der Tarifautonomie gebietet es, daß die Parteien zunächst selbst versuchen eine Regelung zu treffen97 • Der Erlaß der Rechtsverordnung erfordert nach der Gesetz gewordenen Fassung des Absatzes 3a einen Antrag auf Allgemeinverbindlicherklärung. Dieser Antrag leitet das Verfahren auf Allgemeinverbindlicherklärung des Tarifvertrages aber gerade ein, so daß vor Erlaß der Rechtsverordnung grundsätzlich auch dessen Ausgang abgewartet werden muß. 3. Voraussetzungen einer Allgemeinverbindlicherklärung Weiterhin müssen zum Erlaß der Rechtsverordnung die übrigen Voraussetzungen einer Allgemeinverbindlicherklärung eines Tarifvertrages vorliegen. Insoweit kann auf die Ausführungen in diesem Kapitel unter A. verwiesen werden. Nicht erforderlich ist, daß die Tarifvertragsparteien im Tarifausschuß Einvernehmen erzielen. Absatz 3a wurde mit Wirkung zum 01. 01. 1999 eingefügt, um ein Leerlaufen des Gesetzes zu verhindern98 . Nach lokrafttreten des Gesetzes am 01. 03. 1996 blieb das Gesetz nämlich zunächst ohne Wirkung, weil sich die Tarifparteien nicht auf ein Mindestentgelt einigen konnten bzw. im Tarifausschuß kein Einvernehmen hergestellt wurde99, so daß sogar über ein Außerkrafttreten des Gesetzes nachgedacht wurdeHXl. Die Allgemeinverbindlicherklärung des Mindestlohntarifvertrages und der Urlaubskassentarifverträge für das Baugewerbe erfolgte erst zum 01. 01. 1997 101 . Das Gesetz will das nochmalige Auftreten einer vergleichbaren Situation verhindern. Ein Einvernehmen im Tarifausschuß ist deshalb entbehrlich. 4. Anhörung und Geltung Vor Erlaß der Rechtsverordnung gibt das Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung den Tarifvertragsparteien und den bislang nicht Tarifgebundenen ge94

Meyer, a. a. 0 .

BT-Ds 14/45, S. 59. Vgl.: BT-Ds 14/151, S. 35 f. 97 zur Tarifautonomie vgl.: B. (erstes Kapitel). 98 Fischer, BArbB11/1999, S. 6, 9. 99 Schmitt, WiB 1996, S. 769, 772; Koenigs, DB 1997, S. 225; Marschall, NZA 1998, S. 633, 634; Däubler, NJW 1999, S. 601,606. 100 Schmitt, a. a. 0. 101 Koenigs, a. a. 0 .; Marschall, a. a. 0 . 95

96

D. Die Vorschriften des AEntG

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mäß § 1 lila 2 AEntG Gelegenheit zur schriftlichen Stellungnahme. Dadurch soll sichergestellt werden, daß der Verordnungsgeber die Interessen aller Betroffenen einbeziehen kann 102 . Nach der Begründung des Gesetzentwurfes gilt die Rechtsverordnung bis zum Zeitpunkt ihrer förmlichen Aufhebung fort. Sie soll nicht vom Fortbestand des ihr zugrundeliegenden Tarifvertrages abhängig sein 103 • Wie bereits ausgeführt, soll Absatz 3a im Rahmen dieser Arbeit nicht auf seine Verfassungsmäßigkeit untersucht werden. Dies wird wohl durch die Rechtswissenschaft und die Gerichte noch geschehen. Ein Hinweis sei dennoch gestattet. Diejenigen, die Absatz 3a für verfassungskonform halten, begründen dies damit, daß die Tarifautonomie der Parteien nicht verletzt sei, weil den Tarifverträgen lediglich eine größere Wirkung verliehen werde 104• Ist die Geltungsdauer eines Tarifvertrages jedoch abgelaufen, so ist nichts mehr vorhanden, dessen Geltungsbereich ausgeweitet werden kann. Zumindest unter diesem Gesichtspunkt erscheint die Entkoppelung der Rechtsverordnung von der Geltung des Tarifvertrages bedenklich. Trotz der Entkoppelung soll der Verordnungsgeber im Falle der Absenkung der tariflichen Arbeitsbedingungen jedoch zu einer unverzüglichen Anpassung der Verordnung verpflichtet sein. So soll eine gemeinschaftsrechtlich unzulässige Ausländerdiskriminierung vermieden werden 105 .

V. Voraussetzungen des § 1 Ila AEntG Leiharbeitnehmer § 1 Ila AEntG verpflichtet den Verleiher seinen Leiharbeitnehmem, die vom Entleiher mit Tätigkeiten betraut sind, die den Geltungsbereich eines für allgemeinverbindlich erklärten Tarifvertrages nach Absatz 1 oder 2 oder einer Rechtsverordnung nach Absatz 3a unterfallen, mindestens das in dem allgemeinverbindlichen Tarifvertrag oder der Rechtsverordnung vorgeschriebene Mindestentgelt zu zahlen.

Mit dieser zum 01. 01. 1998 in Kraft getretenen Gesetzesergänzung soll verhindert werden, daß in- oder ausländische Arbeitgeber auf den Einsatz von Leiharbeitnehmern ausweichen, um sich der Anwendung des AEntG im Bereich des Baunebengewerbes zu entziehen 106•

102 103 104 105

106 10*

Fischer, a. a. 0 . BT-Ds 14/45, S. 60. Däubler, NJW 1999, S. 601,607. BT-Ds 14/45, S. 60; Däubler, a. a. 0. BT-Ds 13/8994, S. 70.

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2. Kap.: Mindestarbeitsbedingungen durch staatlichen Umsetzungsakt

1. Adressaten

Die Vorschrift wendet sich an Verleiher, die zulässigerweise Arbeitnehmerüberlassung im Bereich des Baugewerbes betreiben. Betroffen können hiervon jedoch nur Verleiher sein, die Arbeitnehmerüberlassung im Bereich des Baunebengewerbes betreiben 107. Für den Bereich des Bauhauptgewerbes verbietet§ lb S. I AÜG die Arbeitnehmerüberlassung, es sei denn, es handelt sich um Betriebe des Baugewerbes, die von denselben Rahmen- und Sozialkassentarifverträgen oder von deren Allgemeinverbindlichkeit erlaßt werden(§ lb S. 2 AÜG). 2. Tätigkeiten der Leiharbeitnehmer

Der Entleiher muß die Leiharbeitnehmer mit Tätigkeiten beschäftigen, die den Geltungsbereich eines für allgemeinverbindlich erklärten Tarifvertrages nach Absatz 1 oder 2 oder einer Rechtsverordnung nach Absatz 3a unterfallen. Hinsichtlich dieser Voraussetzungen kann auf die Ausführungen in diesem Kapitel unter D.l., II. und IV. verwiesen werden. 3. Mindestentgelt

Die Verpflichtung des Verleihers beschränkt sich auf die Zahlung des in dem allgemeinverbindlichen Tarifvertrag oder der Rechtsverordnung festgelegten Mindestentgeltes. Hinsichtlich der anderen Arbeitsbedingungen und bezüglich des Sozialkassenverfahrens wird der Verleiher nicht den für allgemeinverbindlich erklärten Tarifverträgen oder der Rechtsverordnung unterworfen 108 .

VI. Das AEntG als taugliches Instrument zur Setzung von Mindestarbeitsbedingungen? Das AEntG setzt für nach Deutschland entsandte ausländische Arbeitnehmer Mindestarbeitsbedingungen, soweit die Voraussetzungen des § 1 AEntG erfüllt sind. Sozialpolitisch ist es grundsätzlich die Aufgabe des Heimatlandes, für diese Arbeitnehmer Mindestarbeitsbedingungen zu setzen. Die soziale Absicherung ausländischer Arbeitnehmer zu verbessern, ist allerdings auch bestenfalls ein Nebeneffekt des Gesetzes. Primärer Zweck des Gesetzes ist es, die deutsche Bauwirtschaft vor ausländischer Billigkonkurrenz zu schützen und eine Entspannung auf dem deutschen Bauarbeitsmarkt herbeizuführen 109• Die Entsendung ausländischer 107 Marschall, NZA 1998, S. 633, 634. ws Marschall, NZA 1998, S. 633, 635. 109 Vgl.: Zweites Kapitel D. - Einführung.

D. Die Vorschriften des AEntG

149

Arbeitnehmer soll unwirtschaftlicher gemacht werden 110. Die Intentionen des Gesetzgebers sind somit völlig andere, als die Gesetzeszwecke, die der Gesetzgeber mit den§§ 5 TVG, 19, 21, 22 HAG, 1 II, 4 IV MindArbBG, 92a HGB und 10 I BBiG verfolgt. Trotz des beschriebenen Hintergrundes des Gesetzes, setzt das AEntG für nach Deutschland entsandte Arbeitnehmer in dem hier dargestelltem Umfang Mindestarbeitsbedingungen. Diese Mindestarbeitsbedingungen sind nicht nur zur Verhinderung und Bekämpfung unzumutbarer Arbeitsbedingungen geeignet, sondern können innerhalb ihrer Regelungsbereiche-Entgelt und Urlaub- auch unbillige Arbeitsbedingungen bekämpfen und verhindern. Dies verdeutlicht die seit 01. 01. 1999 gültige Fassung des AEntG. Hiernach können die Tarifvertragsparteien mehr als eine Entgeltgruppe in dem für allgemeinverbindlich zu erklärenden Tarifvertrag vereinbaren. Die zuvor im Gesetz enthaltene Beschränkung auf die unterste Entgeltgruppe ist entfallen 111 . Das Gesetz reicht insoweit weiter als das MindArbBG 112. Seit den Novellierungen des Gesetzes zum 01. 01. 1998 und zum 01. 01. 1999 setzt das AEntG auch für inländische Arbeitnehmer Mindestarbeitsbedingungen. Die Verleiher von Leiharbeitnehmern sind gemäß § 1 Ila AEntG verpflichtet, ihren Arbeitnehmern mindestens die in den für allgemeinverbindlich erklärten Tarifverträgen oder in Rechtsverordnungen festgelegten Mindestentgelte zu zahlen 113 • § 1 lila AEntG eröffnet dem Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung die Möglichkeit, den Geltungsbereich bestimmter Tarifverträge durch Rechtsverordnung auf bisher von den Tarifverträgen nicht erfaßte Arbeitsverhältnisse zu erstrekken114. Hierfür ist es nicht erforderlich, daß die inländischen Arbeitnehmer ihre Arbeit im Rahmen grenzüberschreitender Dienstleistungen verrichten. Die Absätze 2a und 3a weiten den Adressatenkreis des AEntG damit auf inländische Arbeitnehmer und Arbeitgeber aus. Deshalb wird sogar die nicht geänderte amtliche Bezeichnung des Gesetzes kritisiert 115. Da diese Mindestarbeitsbedingungen nichtwie nach dem MindArbBG - nur die unterste Grenze gegen einen zu behebenden sozialen Notstand darstellen, können sie innerhalb ihres Regelungsbereiches nicht nur unzumutbare sondern auch unbillige Arbeitsbedingungen bekämpfen und verhindern. Die Regelungen des AEntG sind allerdings nur dann zur Verhinderung und Beseitigung unzumutbarer bzw. unbilliger Arbeitsbedingungen geeignet, wenn das Gesetz selbst verfassungsgemäß ist und nicht gegen europäisches Recht verstößt. Soweit nicht bereits rudimentär geschehen, soll auf diese Fragen nicht eingegangen uo Einen mit dem AEntG vergleichbaren Zweck verfolgen auch die Vorschriften der §§ 284 ff. SGB III - vgl. hierzu die Ausführungen im dritten Kapitel unter G. llt Vgl.: D.I.4. (zweites Kapitel). 112 Vgl.: C. (zweites Kapitel). 113 Vgl.: D.V. (zweites Kapitel). ll4 Vgl.: D.IV. (zweites Kapitel). ll5 Böhm, NZA 1999, S. 128, 130.

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2. Kap.: Mindestarbeitsbedingungen durch staatlichen Umsetzungsakt

werden. Sollten die in der Literatur vorgebrachten Bedenken jedoch auch vom BVerfG bzw. dem EuGH geteilt werden, ist das AEntG - mangels Wirksamkeit nicht zur Verhinderung unbilliger bzw. unzumutbarer Arbeitsbedingungen geeignet. Dem AEntG wird entgegnet, der Zweck des Gesetzes, der Schutz des deutschen Baugewerbes vor ausländischen Wettbewerbern mit günstigeren Personalkosten 116, könnte sich auch ins Gegenteil verkehren, weil der Druck auf die deutschen Bauunternehmen zur Kostensenkung schwinde. Dies führe zu Preissteigerungen und könne die Wettbewerbsfähigkeit des deutschen Baugewerbes vermindern 117. Diese Gefahr scheint jedoch wohl eher theoretischer Natur, denn die deutschen Bauunternehmer werden bereits durch ihre nationalen Mitbewerber zur stetigen Kostenoptimierung veranlaßt Die Konzeption des AEntG birgt aber erhebliche Gefahren für die Tarifautonomie118 und den Arbeitsfrieden 119 in sich. Bereits die bis zum 31. 12. 1998 gültige Fassung des Gesetzes, nach der nur die Geltung eines Mindestlohnes auf ausländische Arbeitsverhältnisse erstreckt werden konnte, war nicht unproblematisch. Der tarifvertraglich festgelegte Mindestlohn des Baugewerbes lag zum Teil erheblich über den Löhnen anderer Branchen 120. Dies veranlaßte bereits 1995 einige Autoren vor der Gefahr eines gesamtwirtschaftlich nicht am Produktionszuwachs ausgerichteten Lohnkostenanstiegs - verbunden mit einem Beschäftigungsrückgang - zu warnen 121 . Diese Gefahr besteht seit der Novellierung des Gesetzes zum 01. 01. 1999 erst recht. Mit der Erstreckung sämtlicher Entgeltregelungen des Baugewerbes auf ausländische Arbeitgeber und deren im Inland beschäftigte Arbeitnehmer, hat der Gesetzgeber den Geltungsbereich einer Hochlohnbranche 122 ausgeweitet. Dies kann zu Begehrlichkeiten inländischer Arbeitnehmer anderer Branchen führen und den Arbeitsfrieden gefährden. Eine Rechtsverordnung nach § I lila AEntG gilt auch für rein innerdeutsche Arbeitsverhältnisse123. Die Rechtsverordnungsermächtigung ermöglicht es dem Staat damit aktiv Lohnpolitik zu betreiben 124. Allerdings legt der Staat die Arbeitsbedingungen nicht etwa nach französischem oder italienischem Vorbild selbst fest, sondern "verstaatlicht" die Verhandlungsergebnisse der Tarifvertragsparteien 125 , jeNachweise in Fußnote 8. Gerken/Löwisch/Rieble, BB 1995, S. 2370, 2371. 118 Böhm, a. a. 0 . 119 Gerken/Löwisch/Rieble, BB 1995, S. 2370, 2372. 120 Nachweise bei: Gerken/Löwisch/Rieble, a. a. 0. 121 Gerken/Löwisch/Rieble, a. a. 0.; Kretz, AEntG, C Rdn. 47; Koberski/Sahl/Hold, AEntG, Eint. Rdn. 11. 122 Gerken/Löwisch/Rieble, BB 1995, S. 2370,2371. 123 Vgl.: D.IV. (zweites Kapitel). 124 Böhm, a. a. 0. 125 Böhm, a. a. 0. 116

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D. Die Vorschriften des AEntG

151

doch ohne diese in einem Verfahren, welches mit dem nach dem TVG, dem MindArbBG oder dem HAG vergleichbar wäre, zu beteiligen. Dies stellt eine erhebliche Gefahr für die Tarifautonomie der Koalitionen dar und wird die Gerichte wohl noch beschäftigen. Bemerkt sei noch, daß das AEntG, obwohl es mit § 1 lila AEntG auch inländische Arbeitsverhältnisse erheblich beeinflussen kann, noch immer die Bezeichnung "Gesetz über zwingende Arbeitsbedingungen bei grenzüberschreitenden Dienstleistungen" führt. Die Rechtsverordnungsermächtigung ist auch unter einem anderem Gesichtspunkt ftir die Tarifautonomie bedrohlich. Wie dargestellt 126, schwächt das Vorhandensein jeder staatlichen Regelung die Tarifautonomie und kann den Abschluß von Tarifverträgen erschweren. Staatlich festgesetzte Arbeitsbedingungen verringern zudem die Attraktivität einer Gewerkschaftsmitgliedschaft oder lassen sie gar entbehrlich erscheinen. Kommen die nichttarifgebundenen Arbeitnehmer bereits durch eine Rechtsverordnung nach § 1 lila AEntG in den Genuß eines quasi Tarifvertrages, so ist eine Gewerkschaftsmitgliedschaft nicht erforderlich um eine Tarifbindung gemäß § 3 I TVG herbeizuführen. Sollte dies Arbeitnehmer zu Gewerkschaftsaustritten veranlassen, verstärkt die Rechtsverordnungsermächtigung die Entsolidarisierung der Arbeitnehmer und bedroht letztendlich die positive Koalitionsfreiheit Die Rechtsverordnungsermächtigung hat aber auch einen positiven Aspekt. Sie wird einer möglichen Blockadehaltung einer Seite im Tarifausschuß vorbeugen. Zwar ist es der Arbeitgeber- bzw. der Arbeitnehmerseite möglich durch eine Verweigerung im Tarifausschuß das Zustandekommen der Allgemeinverbindlicherklärung zu verhindern 127, so wie dies 1996 praktiziert wurde 128• Bei nichterzieltem Einvernehmen hat dann aber jede Seite die Möglichkeit beim Bundesministerium ftir Arbeit und Sozialordnung den Erlaß einer Rechtsverordnung gemäß § 1 lila AEntG zu beantragen. Die Tarifvertragsparteien werden deshalb das Erreichen des Einvernehmens im Tarifausschuß wohl nicht mutwillig blockieren. Andererseits schwächt die drohende Einschaltung des Bundesministers die Verhandlungsposition der Tarifvertragsparteien. Dies tangiert - wie dargestellt - die Tarifautonomie der Koalitionen. Die zwingende Erstreckung war nach der bis zum 31. 12. 1998 geltenden Fassung des Gesetzes auf ein in einem allgemeinverbindlichen Tarifvertrag vereinbartes Mindestentgelt beschränkt. Diese Beschränkung erfolgte - nach der Begründung des Gesetzentwurfes - , um Eingruppierungsschwierigkeiten zu vermeiden und um wettbewerbsrechtlichen Aspekten Rechnung zu tragen 129• Der Wettbewerb

126 Vgl.: Erstes Kapitel: C. -Insbesondere die Ausführungen in den Fußnoten 46 bis 49 und unter C.III. (erstes Kapitel). 121 V gl.: A.IV. (zweites Kapitel). 128 Vgl.: D.IV.3. (zweites Kapitel). 129 BT-Ds 13/2412, S. 9.

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2. Kap.: Mindestarbeitsbedingungen durch staatlichen Umsetzungsakt

der Unternehmen untereinander sollte nur soweit als unbedingt notwendig eingeschränkt werden. Zudem sollte der Charakter des Mindestentgeltes hervorgehoben werden 130. Die Antwort, warum diese Gesichtspunkte nur zwei Jahre später nicht mehr von Bedeutung sein sollen, ist der Gesetzgeber schuldig geblieben, als er die Beschränkung der tarifvertragliehen Regelung auf Mindestentgelte aufhob. Die Ausweitung der erstreckten Entgeltregelungen ist bedenklich. In einer freiheitlichen demokratischen Rechtsordnung kann es nicht Aufgabe des Staates sein, die absolute Gleichheit aller Rechtssubjekte herzustellen, dem Staat obliegt es lediglich, für die Gewähr annähernd gleicher Rahmenbedingungen zu sorgen 131 • Über solche Mindestregelungen geht das AEntG hinaus. Unter diesem Gesichtspunkt stößt auch die Regelung des § 1 III AEntG auf Bedenken. Zur Verwirklichung der wettbewerbsrechtlichen Zielsetzung des AEntG (Herstellung fairer Wettbewerbsbedingungen) wäre es grundsätzlich nur erforderlich gewesen, lediglich die preiswirksamen materiellen Arbeitsbedingungen, Lohn und Urlaub, einzubeziehen 132 • Bis zur 2. Novellierung des Gesetzes war dessen Geltungsdauer auf drei Jahre beschränkt. Die Bundesregierung begründete die Befristung damit, daß "das unterschiedliche europäische Lohnniveau kein auf Dauer unveränderliches Merkmal der Baubranche darstellt und somit nur innerhalb eines überschaubaren Zeitraums eine Ungleichbehandlung rechtfertigen kann" 133 . Nicht einmal drei Jahre später meint der Gesetzgeber, die Befristung sei kurzsichtig gewesen, da die Tarifpartner für ihre Verhandlungen eine verläßliche und solide Basis bräuchten 134• Jedenfalls machte die Umsetzung der Richtlinie 96/71 EG die Entfristung des Gesetzes erforderlich135. Diese gegensätzlichen Begründungen und die zwei einschneidenden Gesetzesänderungen innerhalb der ersten beiden Jahre verdeutlichen wohl die Unausgegorenheit der ersten Fassung des AEntG. Für eine Vielzahl der sogenannten Scheinselbständigen wird das AEntG nicht zu einer Verbesserung der Arbeitsbedingungen führen. Selbst wenn diese Personen nach der Rechtsprechung des BAG Arbeitnehmer oder arbeitnehmerähnliche Personen sein sollten, wird die Anwendung des AEntG wohlaufgrundvon Beweisproblemen scheitern. Insbesondere bei englischen Scheinselbständigen, die sich von britischen Behörden ihre Selbständigkeit in der sogenannten E 101 Bescheinigung bestätigen lassen, um sich in Deutschland im Rahmen eines geschlossenen Werkvertrages zu betätigen 136, ist es schwierig, ihre Arbeitnehmereigenschaft zu klären. Kretz, AEntG, C Rdn. 47. Zum Subsidiaritätsprinzip vgl.: C.III.3. (erstes Kapitel). 132 Kretz, AEntG, C Rdn. 71. m BT-Ds 13/2414, S. 8. 134 Riester, BArbBI1/1999, S. 5, 6. 135 Hanau, NZA 1998, S. 1249; Fischer, BArbBI 1/1999, S. 6, 8; Riester, a. a. 0.; ders., ArbuR 1998, S. 1, 4; Meyer, NZA 1999, S. 121, 126. 136 Däubler, DB 1995, S. 726 ff.; Franzen, DZWir 1996, S. 89, 99. 130

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D. Die Vorschriften des AEntG

153

Für diese Personen erweist sich das AEntG dann nicht zur Setzung von Mindestarbeitsbedingungen als geeignet. Auch hinsichtlich des Urlaubskassenverfahrens (§ l III AEntG) wird darauf hingewiesen, daß die Gefahr besteht, daß ausländische Arbeitnehmer ihren Arbeitgebern Gefälligkeitsbescheinigungen über den bereits gewährten Urlaub und die erhaltene Urlaubsvergütung unterzeichnen müssen. Diese manipulierten Urlaubsbescheinigungen ermöglichen es dann den Arbeitgebern Beiträge zu sparen und verhindern, daß die Arbeitnehmer die ihnen zustehende Urlaubsvergütung erhalten 137 . Sollte von dieser Manipulationsmöglichkeit tatsächlich Gebrauch gemacht werden, so wäre dies eine Schwachstelle des Gesetzes. Wegen der Beschränkung des Gesetzes auf die Bauwirtschaft und die Seeschifffahrtsassistenz ist das Gesetz nur in diesen beiden Bereichen zur Setzung von Mindestarbeitsbedingungen geeignet. In anderen Branchen, in denen ebenfalls Sozialdumping und illegale Beschäftigung zu beobachten ist (z. B. im Hotel- und Gaststättengewerbe)138, können mit Hilfe des AEntG keine Mindestarbeitsbedingungen gesetzt werden. Der Regelungsbereich des AEntG ist damit gegenüber dem TVG, dem HAG und dem MindArbBG erheblich eingeschränkt. Von Gewerkschaftsseite wird deshalb zumindest die Einbeziehung aller Branchen gefordert, die vergleichbare Probleme wie die Bauwirtschaft haben 139 • Aber auch innerhalb des Regelungsbereiches des Gesetzes können Fallkonstellationen auftreten, bei denen das AEntG nicht zur Setzung von Mindestarbeitsbedingungen geeignet ist. Die Rechtsverordnungsermächtigung des Absatzes 3a erlaßt bereits nach seinem Wortlaut nur nicht tarifgebundene Arbeitgeber und Arbeitnehmer. Haben die Tarifvertragsparteien in einem Tarifvertrag ungünstigere Arbeitsbedingungen vereinbart, als in dem Tarifvertrag, dessen Normen Inhalt der Rechtsverordnung sind oder werden sollen, so kommen die tarifgebundenen Arbeitnehmer nicht in den Genuß der günstigeren Arbeitsbedingungen. In diesem Fall können gemäß § 1 lila AEntG keine neuen Mindestarbeitsbedingungen gesetzt werden. Nach der hier vertretenen Auffassung scheitert die Erstreckung eines allgemeinverbindlichen Tarifvertrages auf ausländische Arbeitsverhältnisse am Arbeitsortprinzip, wenn neben dem allgemeinverbindlichen Tarifvertrag ein speziellerer (deutscher) Tarifvertrag mit ungünstigeren Arbeitsbedingungen besteht 140• In diesem Fall sind nicht alle inländischen Arbeitgeber an den allgemeinverbindlichen Tarifvertrag gebunden, so daß das Arbeitsortprinzip nicht eingehalten ist. Eine Erstreckung des allgemeinverbindlichen Tarifvertrages auf die ausländischen Arbeitsverhältnisse würde eine europarechtswidrige Diskriminierung der EU-Auslänm Koberski I Sahl/ Hold, AEntG, § 1 Rdn. 199. Koberski/Sahl/Hold, AEntG, Einl. Rdn. 10. 139 Kehrmann/Spirolke, AiB 1995, S. 621, 623 f.; Düwell, ArbuR 1998, S. 149, 151. 140 Vgl.: 0.1.5. (zweites Kapitel). 138

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2. Kap.: Mindestarbeitsbedingungen durch staatlichen Umsetzungsakt

der darstellen 141 • Auch in diesem Fall sind die Vorschriften des AEntG nicht zur Setzung von Mindestarbeitsbedingungen geeignet. Das Gesetz ist aber auch mit einer Reihe von Vorschriften ausgestattet, die die Arbeitgeber zur Einhaltung der Mindestarbeitsbedingungen anhalten sollen. § la AEntG regelt die sogenannte Generalunternehmerhaftung. Hiernach haftet ein Unternehmer, der Bauleistungen in Auftrag gegeben hat, für Nettoentgeltanspüche der Arbeitnehmer und die Ansprüche der gemeinsamen Einrichtungen der Tarifvertragsparteien i. S. d. AEntG gegen den Arbeitgeber wie ein selbstschuldnerischer Bürge. Die Regelung soll Generalunternehmer dazu veranlassen darauf zu achten, daß ihre Subunternehmer die nach dem AEntG zwingenden Arbeitsbedingungen einhalten 142• Gewähren die Subunternehmer ihren Arbeitnehmern nicht diese Arbeitsbedingungen, haften sie wie ein Bürge entsprechend§ 349 HGB 143 • Bereits die Existenz dieser Normen dürfte viele Generalunternehmer dazu veranlassen - zur Vermeidung eigener Belastungen - nur korrekt handelnde ausländische Partner heranzuziehen. Zugleich wird das Problem entschärft, daß ausländische Arbeitgeber häufig nicht zu packen sind, weil sich ihre Anschrift nicht ermitteln läßt oder es sich um vorgeschobene vermögenslose Firmen handelt 144• Obwohl die Durchgriffshaftung auf Unternehmer beschränkt ist und Privatleute, die Bauleistungen in Auftrag geben, nicht haften 145 , fördert§ la AEntG die Beachtung der festgesetzten Mindestarbeitsbedingungen und ist hervorragend zu ihrer Durchsetzung geeignet 146• Die Norm trägt zur tatsächlichen Verhinderung und Beseitigung unzumutbarer Arbeitsbedingungen bei. § 2 AEntG verleiht der für die Prüfung der Arbeitsbedingungen zuständigen Bundesanstalt für Arbeit und den Hauptzollämtern umfangreiche Prüfungs- und Kontrollbefugnisse. Der Kontrolle der zwingenden Arbeitsbedingungen kommt eine besondere Bedeutung zu, da entsandten ausländischen Arbeitnehmern die zwingenden Arbeitsbedingungen häufig vorenthalten werden. Das Ziel des Gesetzes läßt sich aber nur erreichen, wenn die tatsächliche Einhaltung der Arbeitsbedingungen durch alle normunterworfenen Arbeitgeber gewährleistet ist 147• Dies soll § 2 AEntG sicherstellen. Die Norm trägt damit zur Durchsetzung des AEntG und zur tatsächlichen Verhinderung und Beseitigung unzumutbarer Arbeitsbedingungen bei. § 3 AEntG verpflichtet den Arbeitgeber mit Sitz im Ausland, die Beschäftigung von Arbeitnehmern innerhalb des Geltungsbereiches des Gesetzes anzuzeigen. 141

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Vgl.: 0.1.5. (zweites Kapitel). Fischer, BArbBI 1/1999, S. 6, 9. BT-Ds 14/45, S. 60; Riester, ArbuR 1998, S. I, 4; Meyer, NZA 1999, S. 121, 127. Däubler, NJW 1999, S. 601, 607; Riester, BArbBI 1/1999, S. 5, 6. BT-Ds 14/45, S. 60 f.; Fischer, a. a. 0. Kritische Anmerkungen bei: Meyer, NZA 1999, S. 121, 127 f. Webers, DB 1996, S. 574, 575 f.

D. Die Vorschriften des AEntG

155

Dies ist erforderlich, da der ausländische Arbeitgeber in Ermangelung eines inländischen Betriebssitzes regelmäßig keinerlei gewerbe- und handwerksrechtlichen Meldepflichten unterliegt. Um eine wirksame Kontrolle überhaupt zu ermöglichen, werden sie daher verpflichtet, vor Beginn der Dienstleistung beim zuständigen Landesarbeitsamt eine schriftliche Anmeldung in deutscher Sprache vorzulegen148. Auch diese Norm trägt zur Durchsetzung des AEntG und zur tatsächlichen Verhinderung und Beseitigung unzumutbarer Arbeitsbedingungen bei. Bei der Nichtgewährung zwingender Arbeitsbedingungen können gemäß § 5 AEntG Bußgelder verhängt werden und der Arbeitgeber kann gemäߧ 6 AEntG von der Teilnahme am Wettbewerb ausgeschlossen werden. Da Bauleistungen einen vergleichsweise hohen Personalkostenanteil aufweisen, fallt die Nichtgewährung zwingender Arbeitsbedingungen hier besonders ins Gewicht 149. Um die Beachtung der zwingenden Arbeitsbedingungen durchzusetzen, hat der Gesetzgeber zum 01. 01. 1999 den Bußgeldrahmen erhöht 150. Die §§ 5, 6 AEntG die auch gegenüber inländischen Arbeitgebern angewandt werden können 151 , fördern damit die Beachtung der festgesetzten Mindestarbeitsbedingungen und sind grundsätzlich zu ihrer Durchsetzung geeignet. Tatsächlich tragen sie zur Verhinderung und Beseitigung unzumutbarer Arbeitsbedingungen jedoch nur bei, wenn die Geldbußen auch wirklich verhängt und durchgesetzt werden können. Daß den Aufsichtsund Kontrollbehörden hierzu das erforderliche Personal zur Verfügung steht, wird im Schrifttum jedoch bezweifelt 152. Gemäß § 8 AEntG können entsandte Arbeitnehmer und die gemeinsamen Einrichtungen ihre aus dem AEntG resultierenden Ansprüche auch vor einem deutschen Arbeitsgericht einklagen. Diese sind somit nicht darauf angewiesen, vor dem für den Arbeitgeber zuständigen ausländischen Gericht zu klagen. Dadurch werden der Rechtsschutz der entsandten Arbeitnehmer und die Klagemöglichkeiten der gemeinsamen Einrichtungen erheblich verbessert 153• Auch diese Vorschrift fördert die Durchsetzung der erstreckten Arbeitsbedingungen und ist hervorragend zu ihrer Durchsetzung geeignet. Die Norm trägt zur tatsächlichen Verhinderung und Beseitigung unzumutbarer Arbeitsbedingungen bei. Welche Auswirkungen das AEntG und hier insbesondere § 1 lila AEntG auf das Zustandekommen von Arbeitsbedingungen haben wird, kann nur die Zukunft zeigen. Obwohl das AEntG - wie dargestellt - auch die Koalitionsfreiheit der Gewerkschaften tangiert, wird es zunächst wohl zu einem Machtzuwachs der Ge148 Kehrmann/Spirolke, AiB 1995, S. 621, 624; Webers, DB 1996, S. 574, 576; Lorenz, AEntG, S. 27; Marschall, NZA 1998, S. 633, 635. 149 BT-Ds 14/45, S. 62. 150 BT-Ds 14/45, S. 61 f.; Marschall, a. a. 0. 15 1 BT-Ds 14/45,S.61 ; a.A.: OLGDüsseldorfNZA 1998, S.1286 f. 152 Kehrmann/Spirolke, AiB 1995, S. 621, 623 f.; Meyer, NZA 1999, S. 121, 128. 153 Marschall, NZA 1998, S. 633, 634 f.

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2. Kap.: Mindestarbeitsbedingungen durch staatlichen Umsetzungsakt

werkschaften führen 154• Diesen ist es im Zusammenwirken mit einer ihnen freundlich gesonnenen Bundesregierung möglich, den Geltungsbereich von Tarifverträgen auszuweiten, ohne zuvor mit den Arbeitgebern im Tarifausschuß hierüber Einvernehmen zu erzielen. Für die Tarifautonomie bleibt zu hoffen, daß von dem Instrument der Rechtsverordnungsermächtigung nur behutsam und verantwortungsbewußt Gebrauch gemacht wird.

E. Die Vorschrift des § 92a HGB Selbständige Handels- und Versicherungsvertreter sind keine Arbeitnehmer und unterfallen grundsätzlich nicht dem Schutz der in diesem Kapitel dargestellten Vorschriften. Soweit die Vertreter von einem Unternehmer wirtschaftlich ähnlich abhängig sind wie Handlungsgehilfen (Arbeitnehmer), wird ein materiell-rechtlicher Schutz für diesen Personenkreis dennoch für notwendig gehalten 1• § 92a HGB ermöglicht es dem Staat unter den nachfolgend dargestellten Voraussetzungen für Einfirmenhandelsvertreter und Mehrfirmenversicherungsvertreter durch Rechtsverordnung Mindestarbeitsbedingungen zu setzen. Im Folgenden wird untersucht, inwieweit § 92a HGB zur Verhinderung bzw. Beseitigung unzumutbarer oder unbilliger Vertragsbedingungen geeignet ist. Hierzu muß zunächst auf die Voraussetzungen der Festsetzung von Mindestarbeitsbedingungen eingegangen werden.

I. Adressaten Zum geschützten Personenkreis der Vorschrift zählen Einfirmenhandelsvertreter (§ 92a HGB) und Mehrfirmenversicherungsvertreter (§ 92a II HGB). Diesen gegenüber ist der Unternehmer verpflichtet, die durch Rechtsverordnung festgesetzten Mindestarbeitsbedingungen einzuhalten.

1. Einfirmenhandelsvertreter (§ 92a I HGB) Von der Rechtsverordnung werden gemäß § 92a I HGB Einfirmenhandelsvertreter erlaßt, also Handelsvertreter, die nur für einen Unternehmer tätig sind. Handelsvertreter, die für mehr als einen Unternehmer tätig sind, fallen nicht unter den Schutzbereich des § 92a HGB. Den Einfirmenhandelsvertretern muß es entweder vertraglich verboten sein, für weitere Unternehmer tätig zu sein, oder es darf ihnen Meyer, NZA 1999, S. 121, 127. BT-Ds 1/3856, S. 40; MüKo I v.Hoyningen-Huene, HGB, § 92a Rdn. 3; Heymann I Sonnenschein, HGB, § 92a Rdn. 3; Röhrichtlv. Westphalen/ Küstner, HGB, § 92a Rdn. 1. 154

I

E. Die Vorschrift des § 92a HGB

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nach Art und Umfang der von ihnen ausgeübten Tätigkeit nicht möglich sein, für weitere Unternehmer zu arbeiten. a) Vertraglicher Ausschluß

Ein vertragliches Verbot für andere Unternehmer tätig zu werden, liegt vor, wenn es dem Vertreter aufgrund eines mit dem Unternehmer geschlossenen Vertrages rechtlich unmöglich ist, für einen anderen Unternehmer zu arbeiten. Ein solches Verbot kann ausdrücklich vereinbart sein oder sich durch Auslegung des Vertrages gemäß §§ 133, 157 BGB ergeben2 . Ein vertragliches Verbot besteht auch dann, wenn die Aufnahme einer weiteren Tätigkeit von der Genehmigung durch den Unternehmer abhängig gemacht wurde und die Genehmigung noch nicht erteilt ist3 . Ein vertragliches Verbot i. S. d. § 92a I HGB liegt jedoch nicht vor, wenn dem Vertreter lediglich eine Konkurrenztätigkeit untersagt wird. In diesem Fall wird dem Vertreter nur das vertraglich untersagt, was ihm nach allgemeinen Regeln ohnehin verboten ist4 • Auch die Verpflichtung des Vertreters, "sein ganzes Wissen und Können und seine volle Arbeitskraft zur Verfügung zu stellen", macht ihn noch nicht zum Vertreter i. S. d. Absatzes 1. Diese Klausel ist in erster Linie eine qualitative Bestimmung des Arbeitseinsatzes5 . Die Voraussetzungen des Absatzes 1 sind ebenfalls nicht erfüllt, wenn der Vertreter lediglich die grundsätzlich bestehende Möglichkeit für einen anderen Unternehmer tätig zu werden nicht nutzt und keine weitere Tätigkeit ausübt, obwohl er dies könnte6 . b) Faktischer Ausschluß

Die Rechtsverordnung erfaßt auch diejenigen Handelsvertreter, denen die Ausübung weiterer Tätigkeiten nicht verboten ist, denen es aber nach Art und Umfang der von ihnen verlangten Tätigkeiten nicht möglich ist, weitere Tätigkeiten auszuüben. Ein solcher faktischer Ausschluß einer weiteren Tätigkeit liegt vor, wenn es dem Vertreter tatsächlich unmöglich ist, für weitere Unternehmer tätig zu wer-

MüKo/ v.Hoyningen-Huene, HGB, § 92a Rdn. 9. OLG Stuttgart BB 1966, S. 1396; Evers, BB 1992, S. 1365, 1367; MüKolv.HoyningenHuene, HGB, § 92a Rdn. 10; Heymann I Sonnenschein, HGB, § 92a Rdn. 6; Staub I Brüggemann, HGB, § 92a Rdn. 3. 4 LAG Düsse1dorf BB 1956, S. 593; MüKolv.Hoyningen-Huene, HGB, § 92a Rdn. 11; Heymann/ Sonnenschein, a. a. 0.; Baumbach/Hopt, HGB, § 92a Rdn. 3. 5 OLG Frankfurt BB 1979, S. 1178; Evers, BB 1992, S. 1365, 1367; Heymann/Sonnenschein, a. a. 0.; Baumbach/Hopt, a. a. 0. 6 MüKolv.Hoyningen-Huene, HGB, § 92a, Rdn. 11. 2

3

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2. Kap.: Mindestarbeitsbedingungen durch staatlichen Umsetzungsakt

den7 . Die Unmöglichkeit, eine weitere Tätigkeit auszuüben, muß sich hierbei aus dem nach dem Vertrag vom Handelsvertreter geschuldeten Tätigkeiten und aus dessen vertraglichen Pflichtenkreis ergeben, nicht aus dem was der Vertreter ohne entsprechendes Verlangen erbringt8 . Bei der Beurteilung der Frage, ob dem Vertreter eine weitere Tätigkeit möglich ist, ist auf einen durchschnittlich befähigten und voll arbeitsfähigen Handelsvertreter abzustellen 9 • Die subjektive Leistungsfähigkeit der einzelnen Handelsvertreter bleibt außer Betracht 10. Dies ergibt sich bereits aus der Natur der Rechtsverordnung, die Mindestarbeitsbedingungen für einen großen und abstrakten Adressatenkreis aufstellt und im Gegensatz zu Individualregelungen nicht auf die subjektive Leistungsfähigkeit des Einzelnen Rücksicht nehmen kann. 2. Mehrfirmenversicherungsvertreter (§ 92a II HGB) Gemäß § 92a II HGB können auch für Mehrfirmenversicherungsvertreter Mindestarbeitsbedingungen festgesetzt werden, wenn die Vertreter aufgrund eines oder mehrerer Verträge damit betraut sind, Geschäfte für mehrere Versicherer zu vermitteln oder abzuschließen, wenn die Versicherer zu einem Versicherungskonzern oder zu einer zwischen ihnen bestehenden Organisationsgemeinschaft gehören und wenn die Beendigung des Vertragsverhältnisses mit einem der Versicherer im Zweifel auch die Beendigung des Vertragsverhältnisses mit den anderen dieser Versicherer zur Folge haben würde. a) Vertrag

Der Versicherungsvertreter muß auf vertraglicher Grundlage für mehrere Versicherer tätig sein. Versicherungsvertreter, die nur eine Versicherungsgesellschaft vertreten, fallen nicht unter den Schutzbereich des Absatzes 2, sondern werden als Einfirmenvertreter von Absatz I erlaßt 11 • 7 Trinkhaus, BB 1956, S. 593, 594, meint sogar, bei der Beantwortung der Frage, ob es dem Vertreter nach Art und Umfang der von ihm verlangten Tätigkeit nicht möglich ist, für weitere Unternehmer tätig zu werden, müßten alle nur theoretischen Möglichkeiten, die in der Geschäftswirklichkeit regelmäßig nicht wahrgenommen werden, ausscheiden. 8 Trinkhaus, a. a. 0.; MüKo!v.Hoyningen-Huene, HGB, § 92a Rdn. 12; Röhrichtlv. Westphalenl Küstner, HGB, § 92a Rdn. 2. 9 LAG Düsseldorf BB 1956, S. 593; Trinkhaus, a. a. 0.; Evers, BB 1992, S. 1365, 1367; MüKolv.Hoyningen-Huene, HGB, § 92a Rdn. 13; Heymann/ Sonnenschein, HGB, § 92a Rdn. 7; Röhrichtlv. Westphalen/ Küstner, a. a. 0.; Staub! Brüggemann, HGB, § 92a Rdn. 4. IO LAG Düsseldorf, a. a. 0 .; Trinkhaus, a. a. 0.; MüKo/v.Hoyningen-Huene, a. a. 0.; Röhrichtlv. Westphalenl Küstner, a. a. 0. II MüKolv.Hoyningen-Huene, HGB, § 92a Rdn. 15; Heymann/Sonnenschein, HGB, § 92a Rdn. 8; Baumbach/ Hopt, HGB, § 92a Rdn. 5.

E. Die Vorschrift des § 92a HGB

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Ohne Belang ist es, ob der Versicherungsvertreter aufgrundeines mit einem Versicherer geschlossenen Vertrages damit betraut ist, Versicherungen für mehrere Versicherer zu vermitteln oder abzuschließen oder ob der Vertreter mit den einzelnen Versicherungen separate Verträge geschlossen hat 12• Sofern mehrere Verträge bestehen, müssen diese nicht rechtlich verbunden sein 13 . b) Zusammengehörigkeit der Versicherer

Die vom Versicherungsvertreter vertretenen Versicherungen müssen zu einem Konzern oder zu einer zwischen den Versicherungen bestehenden Organisationsgemeinschaft gehören. Der Konzernbegriff bestimmt sich nach §§ 15, 18 AktG 14. Eine Organisationsgemeinschaft liegt vor, wenn die Versicherer in der Weise zusammenarbeiten, daß sie ihre Geschäfte ganz oder teilweise in gemeinsamer Organisation führen 15 • c) Abhängigkeit der Vertreterverhältnisse

Die Beendigung eines Vertragsverhältnisses muß im Zweifel auch die Beendigung der Vertragsverhältnisses mit den anderen Versicherem zur Folge haben. Diese Voraussetzung ist nach der Begrundung des Gesetzentwurfes erfüllt, "wenn auf Grund des in anderen Fällen beobachteten Verhaltens des einem Konzern oder einer Organisationsgemeinschaft angehörenden Versicherungsunternehmens die begrundete Vermutung besteht, daß die Kündigung durch dieses Unternehmen die Beendigung der übrigen Vertragsverhältnisse herbeiführen wird." 16 Bei der Einschätzung ist somit auf die bisherigen Erfahrungen bei Kündigungen von Vertreterverträgen abzustellen 17 . Ob die Kündigung eines Vertrages tatsächlich auch die Kündigung der anderen Verträge nach sich zieht, ist unerheblich, da sich dies erst nach der Beendigung des Vertragsverhältnisses beurteilen läßt 18• d) Bausparkassenvertreter § 92 V HGB stellt Bausparkassenvertreter mit Versicherungsvertretern gleich. Deshalb gilt § 92a II HGB - sofern die eben dargestellten Voraussetzungen erfüllt sind- auch für Bausparkassenvertreter19 . 12

13 14 15

16 17 18

MüKo/ v.Hoyningen-Huene, HGB, § 92a Rdn. 16; Baumbach/Hopt, a. a. 0. MüKo/v.Hoyningen-Huene, HGB, § 92a Rdn. 17. MüKolv.Hoyningen-Huene, a. a. 0 . MüKolv.Hoyningen-Huene, a. a. 0. BT-Ds 1/3856, S. 41. MüKo/v.Hoyningen-Huene, a. a. 0. MüKolv.Hoyningen-Huene, a. a. 0.

160

2. Kap.: Mindestarbeitsbedingungen durch staatlichen Umsetzungsakt

Eine analoge Anwendung der Vorschrift auf Handelsvertreter scheidet jedoch aus. Für diese ist Absatz 1 abschließend20.

II. Inhalt der Mindestarbeitsbedingungen 1. Einfirmenhandels- und Mehrfirmenversicherungsvertreter

Gemäß § 92a I S. 1 HGB setzt die Rechtsverordnung die untere Grenze der vertraglichen Leistungen des Unternehmers fest, um die notwendigen sozialen und wirtschaftlichen Bedürfnisse der Handelsvertreter oder einer bestimmten Gruppe von ihnen sicherzustellen. Die Vorschrift weist erhebliche Parallelen zu den §§ 1 II lit. b, 4 IV MindArbBG auf. In der Gesetzesbegründung zu § 92a HGB wird dann auch ausdrücklich auf das MindArbBG Bezug genommen21 . Deshalb kann im wesentlichen auf die Ausführungen in diesem Kapitel unter C.l.2. und II. verwiesen werden. Wie bereits beim zuvor ergangenen MindArbBG soll die Rechtsverordnung dem Vertreter nicht zu einem angemessenen Entgelt und angemessenen sonstigen Vertragsbedingungen verhelfen 22 . Nach der Begründung zum Gesetzentwurf soll sich der Schutz darauf beschränken, den Vertretern die untere Grenze ihrer Existenz auf bescheidenster Grundlage zu sichern. Nur Vertreter, deren Einkünfte unter dem Existenzminimum liegen, sollen geschützt werden23 • Die Vorschriften der §§ 1 II lit. b, 4 IV MindArbBG und des § 92a I S. 1 HGB sind jedoch nicht völlig identisch. Gemäß § 4 IV MindArbBG kann die "unterste Grenze" der Leistungen festgesetzt werden. § 92a I S. 1 HGB gestattet es hingegen die "untere Grenze" der Leistungen festzusetzen. Soweit ersichtlich, hat sich mit dieser fehlenden Übereinstimmung der Gesetzestexte noch niemand auseinandergesetzt. Vielleicht stellt die unterschiedliche Wortwahl auch nur ein Redaktionsversehen dar und bezweckt nicht den beiden Normen einen unterschiedlichen Regelungsinhalt beizumessen. Die Gesetzesmaterialien geben hierzu keinen Aufschluß. Bei einem streng grammatikalischen Vergleich der beiden Regelungen, wäre es dem Verordnungsgeber nach§ 92a HGB gestattet, höhere Mindestbedingungen zu normieren, als dies dem Verordnungsgeber nach dem MindArbBG möglich ist. Vom Schutzzweck der Vorschriften her wäre dies jedoch nicht verständlich. In der Gesetzesbegründung zu § 92a HGB wird darauf verwiesen, daß die von § 92a 19 MüKol v.Hoyningen-Huene, HGB, § 92a Rdn. 18; Heyrnannl Sonnenschein, HGB, § 92a Rdn. 8; Röhrichtlv. Westphalen/ Küstner, HGB, § 92a Rdn. 3; Baumbach I Hopt, HGB, § 92a Rdn. 5; Staub/ Brüggemann, HGB, § 92a Rdn. 6. 20 Für die h.M.: MüKo I v.Hoyningen-Huene, a. a. 0. 21 BT-Ds 1 I 3856, S. 40 f. 22 BT-Ds 113856, S. 41; Baumbach/Hopt, HGB, § 92a Rdn. 4. 23 BT-Ds 113856, S. 41; Heyrnannl Sonnenschein, HGB, § 92a Rdn. 10.

E. Die Vorschrift des § 92a HGB

161

HGB geschützten Vertreter von einem Unternehmer ähnlich abhängig sind wie Handlungsgehilfen und deshalb schutzbedürftig seien24, daß Vertreter stärker geschützt werden sollen als Arbeitnehmer, ist der Begründung nicht zu entnehmen. Ein stärkerer Schutz der Vertreter gegenüber Arbeitnehmern wäre auch unter einem anderen Aspekt nicht verständlich. Vertreter sind selbständige Kaufleute und arbeiten für eigene Rechnung. Durch die Einfügung des § 92a HGB sollte diesen nicht das typische Risiko eines selbständigen Kaufmannes genommen werden25 . Dies würde aber geschehen, wenn die untere Grenze der Arbeitsbedingungen zu hoch angesetzt würde. In der Gesetzesbegründung zu § 92a HGB wird ausgeführt, daß zu den vertraglichen Leistungen, deren untere Grenze durch Rechtsverordnung festgesetzt werden kann, insbesondere eine Mindestvergütung zählt. Diese muß die dem Vertreter in seinem Geschäftsbetrieb regelmäßig entstehenden Aufwendungen berücksichtigen. Zudem können weitere Mindestverpflichtungen des Unternehmers festgelegt werden, wie z. B. Urlaub, Zahlung einer Vergütung bei unverschuldeter Dienstverhinderung und die Erteilung eines Zeugnisses26 .

2. Mehrfirmenversicherungsvertreter Gemäß § 92a II S. 2 HGB kann für Mehrfirmenversicherungsvertreter zusätzlich bestimmt werden, ob die festgesetzten Leistungen von allen Versicherem als Gesamtschuldner oder anteilig oder nur von einem der Versicherer geschuldet werden und wie der Ausgleich unter ihnen zu erfolgen hat. Die Rechtsverordnung kann somit auch den Schuldner der Mindestarbeitsbedingungen bestimmen. Hierbei kann auch ein anderer als der vertraglich vorgesehene Versicherer als Schuldner bestimmt werden, sofern der Vertreter auch für diesen Versicherer arbeitet27 • Zudem kann die Rechtsverordnung den Innenausgleich unter den Versicherem regeln28.

111. Verfahren Für den Erlaß der Rechtsverordnung ist der Bundesminister der Justiz zuständig. Die Zuständigkeit ist damit anders angesiedelt als die Kompetenz zum Erlaß der Rechtsverordnungen nach dem MindArbBG und dem AEntG, der AllgemeinverBT-Ds 1 I 3856, S. 40. BT-Ds 1/3856, S. 40; Heymann/ Sonnenschein, HGB, § 92a Rdn. 9. 26 BT-Ds 1/3856, S. 41; Heymann/Sonnenschein, HGB, § 92a Rdn. IO; Baumbach/ Hopt, HGB, § 92a Rdn. 4. 27 MüKolv.Hoyningen-Huene, HGB, § 92a Rdn. 23. 28 MüKolv.Hoyningen-Huene, HGB, § 92a Rdn. 24. 24

25

11 Ande1ewski

162

2. Kap.: Mindestarbeitsbedingungen durch staatlichen Umsetzungsakt

bindlicherklärung nach dem TVG und der Zustimmung nach dem HAG, die jeweils beim Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung liegen.

1. Einvernehmen mit Ministern Vor Erlaß der Rechtsverordnung muß der Bundesminister der Justiz hierüber Einvernehmen mit den Bundesministern der Wirtschaft und für Arbeit und Sozialordnung herbeiführen. Bezüglich des Einvernehmens kann auf die Ausführungen in diesem Kapitel unter A.l.3. verwiesen werden.

2. Anhörung von Verbänden Weiterhin sind vor Erlaß der Rechtsverordnung die Verbände der Handelsvertreter und der Unternehmer anzuhören. Dadurch soll sichergestellt werden, daß der Verordnungsgeber die Interessen der Betroffenen einbeziehen kann29. Eine Zustimmung der Verbände ist jedoch nicht erforderlich30.

IV.§ 92a HGB als taugliches Instrument zur Setzung von Mindestarbeitsbedingungen? Eine Rechtsverordnung aufgrund von § 92a HGB wurde noch nie erlassen31 . Auf parlamentarische Anfragen 1974 und 1985 teilte die Bundesregierung jeweils mit, daß es auch nicht beabsichtigt sei, eine Rechtsverordnung zu erlassen32, weil "allenfalls ein ganz kleiner Kreis von hauptberuflichen Einfirmenvertretern mit ihrem Einkommen unter dem nach § 92a HGB zu sichernden Existenzminimum liegen dürfte" 33 •34. Demzufolge fehlen praktische Erfahrungen über die Geeignetheit und die Praktikabilität dieser Vorschrift. Wie auch beim MindArbBG dürfte der größte Erfolg dieser Vorschrift aber gerade in ihrer Nichtanwendung liegen.

Für die identische Vorschrift des § 1 Illa AEntG: Fischer; BArbBll I 1999, S. 6, 9. MüKo I v.Hoyningen-Huene, HGB, § 92a, Rdn. 26. 31 Pauly, Tarifautonomie, S. 56; Evers, BB 1992, S. 1365, 1366; MüKolv.HoyningenHuene, HGB, § 92a Rdn. 4; Heymannl Sonnenschein, HGB, § 92a Rdn. 4; Röhrichtlv. Westphalen/Küstner; HGB, § 92a Rdn. 1, 5; Baumbach/Hopt, HGB, § 92a Rdn. 2; Staub/Brüggemann, HGB, § 92a Rdn. 1. 32 Vgl.: Ehrenheim, ArbuR 1974, S. 84 f.; BT-Ds 1012954, S. 3. 33 BT-Ds 1012954, S. 4. 34 Evers, BB 1992, S. 1365, berichtet hingegen von gehäuft auftretenden Fällen von Vertretern aus den neuen Bundesländern, die für "Hungerprovisionen" für Unternehmer aus den alten Bundesländern arbeiten. 29

30

E. Die Vorschrift des § 92a HGB

163

Sollte eine Rechtsverordnung gemäß § 92a HGB erlassen werden, so sind die Festsetzungen nur zur Verhinderung und Bekämpfung unzumutbarer, nicht aber zur Verhinderung und Bekämpfung unbilliger Arbeitsbedingungen geeignet. Die Rechtsverordnung kann gemäß § 92a I S. 1 HGB nur die untere Grenze der vertraglichen Leistungen des Unternehmers festlegen. Wie sich aus den Ausführungen in diesem Kapitel unter E.II. ergibt, soll damit den Vertretern lediglich ihre Existenz auf bescheidenster Grundlage gesichert werden. Dies ermöglicht nur die Verhinderung bzw. Bekämpfung unzumutbarer Arbeitsbedingungen. Die Rechtsverordnungen nach § 92a HGB stellen im Gegensatz zu den Rechtsverordnungen nach dem MindArbBG und dem AEntG, der Allgemeinverbindlicherklärung nach dem TVG und den Festsetzungen nach dem HAG keine Gefahr für die Tarifautonomie der Koalitionen dar35 und vermindern nicht den Anreiz einer Gewerkschaftsmitgliedschaft Handelsvertreter sind keine Arbeitnehmer. Selbst, wenn sie als arbeitnehmerähnliche Personen zu charakterisieren sind, finden die Vorschriften des TVG auf sie gemäߧ 12a IV TVG keine Anwendung. Für Handelsvertreter können deshalb keine Tarifverträge geschlossen werden. Die Rechtsverordnung nach § 92a HGB greift somit nicht in die Tarifautonomie der Koalitionen ein. Da der gewerkschaftliche Schutz der Vertreter von vornherein begrenzt ist, ist die Möglichkeit des Schutzes durch eine Rechtsverordnung um so wichtiger. § 92a HGB findet jedoch keine Anwendung auf sozialschutzbedürftige Mehrfirmenvertreter. Die soziale Schutzbedürftigkeit ist weder notwendige noch ausreichende Bedingung dafür, daß eine Rechtsverordnung zur Regelung der Mindestarbeitsbedingungen erlassen werden kann 36, selbst wenn die Mehrfirmenvertreter ungünstigeren Vertragsbedingungen ausgesetzt sein sollten als Einfirmenvertreter oder wenn sie als arbeitnehmerähnliche Personen zu charakterisieren sein sollten. § 92a HGB knüpft bewußt nicht an den Begriff der arbeitnehmerähnlichen Person an37 • Für Mehrfirmenhandelsvertreter können mit Hilfe der Rechtsverordnung somit keine Mindestarbeitsbedingungen gesetzt werden. Insoweit erweist sich § 92a HGB zur Setzung von Mindestarbeitsbedingungen als ungeeignet. Der Gesetzgeber hat den Schutz der Rechtsverordnung bewußt nur auf Einfirmenhandelsvertreter erstreckt. Mehrfirmenhandelsvertreter können sich zwar auch in einer ungünstigen wirtschaftlichen Lage befinden. Sie stehen aber nicht in ausschließlicher Verbindung zu einer bestimmten Firma und sind nicht auf die sich bei ihr bietenden Verdienstmöglichkeiten angewiesen. Sie können durch Arbeit für mehrere Unternehmer mehr verdienen. Mehrfirmenvertreter können alle Chancen, die sich ihnen durch die Vertretung mehrerer Firmen bieten, ausnutzen. Sie haben die typische Stellung selbständiger Kaufleute. Dies rechtfertigt - nach der Begrün-

35 36 37

11*

Pauly, Tarifautonomie, S. 57. Pauly, a. a. 0 .; MüKolv.Hoyningen-Huene, HGB, § 92a Rdn. 21. BT-Ds 1/3856, S. 40; MüKolv.Hoyningen-Huene, HGB, § 92a Rdn. 14.

164

2. Kap.: Mindestarbeitsbedingungen durch staatlichen Umsetzungsakt

dung des Gesetzentwurfes -, daß sie das mit der beruflichen Selbständigkeit verbundene Risiko selbst tragen müssen38. Die Stellung der Einfirmenvertreter ähnelt demgegenüber stark der von Angestellten 39. Sie sind an einen bestimmten Unternehmer gebunden. Für diesen müssen sie ihre Arbeitskraft einsetzen und sind wirtschaftlich völlig von diesem Unternehmer abhängig. Dies rechtfertigt - nach der Begründung des Gesetzentwurfes -, den sozialen Schutz der Rechtsverordnung nur den Einfirmenvertretern zu Teil werden zu lassen40. Der Erlaß einer Rechtsverordnung birgt für den geschützten Personenkreis aber auch Unsicherheitsmomente in sich. Es besteht die Gefahr, daß der Unternehmer den Erlaß der Rechtsverordnung zum Anlaß nimmt, die Vertragsverhältnisse mit begünstigten Vertretern zu lösen41 • Sollten Unternehmer in Folge des Erlasses einer Rechtsverordnung Verträge tatsächlich kündigen, so verlören die Vertreter ihre Erwerbsquelle und würden in Ermangelung der Vertretereigenschaft nicht mehr vom Schutzbereich der Rechtsverordnung erlaßt. In diesem Fall erweist sich die Rechtsverordnung nicht zur Setzung von Mindestarbeitsbedingungen als geeignet. § 92a HGB schließt eine Lücke im geltenden Recht, daß die arbeitnehmerähnlichen Handelsvertreter nur prozeßrechtlich den Arbeitnehmern gleichstellt42. Im Vergleich mit dem HAG ist jedoch festzustellen, daß für die unter den Schutz des HAG fallenden arbeitnehmerähnlichen Personen ein höheres Schutzniveau festgesetzt werden kann. Durch die bindenden Festsetzungen können angemessene Arbeitsbedingungen normiert werden43 . § 92a HGB erlaubt es hingegen nur, die untere Grenze der Arbeitsbedingungen staatlich festzusetzen. Die Vorschrift des § 92a HGB bleibt somit hinter den§§ 19 ff. HAG zurück.

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43

BT-Ds 1 I 3856, S. 40. BT-Ds 113856, S. 40. BT-Ds 1 I 3856, S. 40. BT-Ds 10 I 2954, S. 4; Heyrnann I Sonnenschein, HGB, § 92a Rdn. 4. Heyrnannl Sonnenschein, HGB, § 92a Rdn. 3. Vgl.: B.I.4. (zweites Kapitel).

Drittes Kapitel

Unmittelbar geltende Mindestarbeitsbedingungen In diesem Kapitel werden Normen, die unmittelbar verbindliche Mindestarbeitsbedingungen festsetzen, dargestellt und daraufhin untersucht, inwieweit sie zur Verhinderung bzw. Beseitigung unzumutbarer oder unbilliger Arbeitsbedingungen geeignet sind 1•

A. Die Vergütungsregelung des § 612 II BGB Ist die Höhe der Vergütung nicht bestimmt, gilt zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer gemäߧ 612 II BGB die übliche Vergütung als vereinbart. Im Folgenden wird der Begriff der üblichen Vergütung näher untersucht und geklärt, inwieweit§ 612 II BGB zur Verhinderung bzw. Beseitigung unzumutbarer oder unbilliger Arbeitsbedingungen geeignet ist. Hierzu muß zunächst auf die Voraussetzungen des§ 61211 BGB eingegangen werden.

I. Fehlen einer Bestimmung über die Vergütungshöhe Die übliche Vergütung gilt nur als vereinbart, wenn die Höhe des Arbeitsentgeltes nicht bestimmt ist. Dies ist der Fall, wenn weder eine kollektivvertragliche Regelung Anwendung findet, noch eine individualvertragliche Vergütungsregelung getroffen wurde, weder ausdrücklich noch konkludent, oder eine bestehende Vergütungsregelungunwirksam ist2 , z. B. wegen Verstoßes gegen §§ 138 BGB3 oder 2 I BeschFG4 . Die Regelung des§ 612 II BGB ist damit gegenüber einer vertraglichen Vereinbarung bzw. einer gesetzlichen oder kollektivvertragliehen Regelung subsidiär5 . I Nicht eingegangen wird auf Normen, deren innerstaatliche Wirkung ungeklärt ist. Deshalb wird z. B. Art. 4 ESC, der die Gewährleistung eines "Rechts auf ein gerechtes Arbeitsentgelt" fordert, im Rahmen dieser Arbeit nicht näher untersucht.

2 Soergel/ Raab, BGB, § 612 Rdn. 33 ff.; MHBzArbR/ Hanau, § 61 Rdn. 12; MüKo/ Schaub, BGB, § 612 Rdn. 190; BAG DB 1991, S. 391. 3 Vgl.: C. (drittes Kapitel). 4 Vgl.: F. (drittes Kapitel). 5 MüKo/ Schaub, a. a. 0 .

166

3. Kap.: Unmittelbar geltende Mindestarbeitsbedingungen

Weiter normiert § 612 II BGB, daß die übliche Vergütung nur in Ermangelung einer Taxe als vereinbart anzusehen ist. Taxen sind bundes- oder landesrechtlich zugelassene, durch staatliche Stellen festgesetzte Vergütungsordnungen6 , die für Arbeitsverhältnisse nicht bestehen7 . Taxmäßige Vergütungen sind damit für die Bestimmung der Höhe der Vergütung von Arbeitsleistungen unbeachtlich.

II. Die übliche Vergütung Fehlt eine wirksame Vergütungsregelung, muß der Arbeitgeber dem Arbeitnehmer die übliche Vergütung gewähren. Der Begriff der üblichen Vergütung wird vom Gesetz nicht näher erläutert. Er umfaßt unstreitig alle Arten von Vergütungen für Arbeitnehmer, mithin das Arbeitsentgelt im eigentlichen Sinne und Sondervergütungen (z. B.: Provisionen, Gewinnanteile, Gratifikationen) 8 •9 . Die Auffassungen in Rechtsprechung und Schrifttum dariiber, welche Vergütung im Einzelfall als üblich anzusehen ist, gehen auseinander. Überwiegend wird die Vergütung als üblich angesehen, die im gleichen oder ähnlichen Gewerbe oder Beruf an dem betreffenden Ort für entsprechende Arbeit gezahlt zu werden pflegt 10. Einige Autoren wollen dariiberhinaus noch die persönlichen Verhältnisse des Arbeitnehmers (Alter, Berufserfahrung, Familienstand, Kinderzahl) berücksichtigen 11 , bzw. gerade auf das Entgelt abstellen, das für den betreffenden Arbeitsplatz üblich ist 12 . Uneinigkeit besteht über die Bedeutung eines etwaig vorhandenen Entgelttarifvertrages für die Ermittlung der üblichen Vergütung. Es wird vertreten, die tarifliche Vergütung sei stets bzw. grundsätzlich die übliche Vergütung 13 . Andere Auto6 z. B.: BRAGO, Gebührenordnungen für Ärzte bzw. Zahnärzte, Steuerberater, Taxen für die Personenbeförderung- Soergel/ Raab, BGB, § 612 Rdn. 36; Müko/ Schaub, BGB, § 612 Rdn. 194 ff.; Palandt/ Putzo, BGB, § 612 Rdn. 7. 7 Hueck/Nipperdey, ArbR I, S. 265; Wagner, Handlungsgehilfe, S. 44; MHBzArbR/ Hanau, § 61 Rdn. 12; MüKo/Schaub, BGB, § 612 Rdn. 192; Schaub, ArbRHB, § 67 VI 2; Staub/Konzen/Weber, HGB, vor§ 59 Rdn. 190, §59 Rdn. 18; Röhrichtlv.Westphahlen/ Wagner, HGB, § 59 Rdn. 31. s MüKo/Schaub, BGB, § 612 Rdn. 191; Staub/Konzen/Weber, HGB, vor§ 59 Rdn. 170 ff. 9 Ausfrihrlicher zum Vergütungsbegriff unter E.II. (drittes Kapitel). IO Vielhaber, BB 1950, S. 170, 171; Rick, ArbuR 1960, S. 369; Hueck/Nipperdey, a. a. 0.; Erman/ Hanau, BGB, § 612 Rdn. 22; Soergel/ Raab, BGB, § 612 Rdn. 37; Isele, Anmerkung zu AP Nr. 21 zu § 611 Ärzte, Gehaltsansprüche, S. 7; Schaub, ArbRHB, § 67 VI 3; Palandt/ Putzo, BGB, § 612 Rdn. 8; Staub/Konzen/Weber, HGB, vor§ 59 Rdn. 190; Hanau/Rolfs, JZ 1993, S. 312, 323. II Isele, a. a. 0.; Rick, ArbuR 1960, S. 369 f.; Hueck/Nipperdey, a. a. 0.; Soergel/ Raab, a. a. 0.; Palandt/ Putzo, a. a. 0.; Hanau/Rolfs, a. a. 0. 12 Rick, ArbuR 1960, S. 369.

A. Die Vergütungsregelung des§ 612 II BGB

167

ren und die Rechtsprechung versehen diese Aussage mit Einschränkungen. So soll die tarifliche Vergütung die übliche Vergütung sein, wenn die Anwendung des Tarifvertrages im jeweiligen Einzelfall üblich ist 14, bzw. wenn besondere Anhaltspunkte für die Üblichkeit des Tarifentgeltes bestehen 15 oder wenn nahezu ausschließlich nach dem entsprechenden Tarifvertrag vergütet wird 16 • Weiter wird vertreten, das Tarifentgelt sei nicht üblich, wenn weniger als die Hälfte der Arbeitnehmer gemäߧ§ 3 I oder 5 TVG tarifgebunden sind 17• Die Höhe der üblichen Vergütung läßt sich nur durch einen Vergleich mit anderen tatsächlich gezahlten Entgelten ennitteln. Deshalb ist es zutreffend, die Üblichkeit anhand eines Vergleiches zu ermitteln und die Vergütung als üblich anzusehen, die im gleichen oder ähnlichen Gewerbe oder Beruf an dem betreffenden Ort für entsprechende Arbeit unter Berücksichtigung der persönlichen Verhältnisse gezahlt zu werden pflegt. Zum Vergleich sollten zunächst die im Betrieb, dann die im Ort, der Region, dem Land und schließlich dem Bundesgebiet tatsächlich gezahlten Vergütungen herangezogen werden. Diese Vorgehensweise entspricht dem im ersten Kapitel unter C.III.3. dargestellten Subsidiaritätsprinzip. Der Vergleichsmaßstab wird zunächst innerhalb des kleinst möglichen Rechtskreises gesucht. Läßt sich innerhalb dieses Verbandes kein geeigneter Vergleichsmaßstab finden, ist auf der nächst höheren Ebene nach einem geeigneten Vergleichsmaßstab zu suchen 18• Die zum Vergleich heranzuziehenden Vergütungen müssen stetes zum Vergleich geeignet sein. Dies sind Vergütungen dann nicht, wenn sie auf Grund etwaiger betrieblicher oder lokaler Besonderheiten untypisch hoch oder untypisch niedrig sind 19. Das Ergebnis dieses Vergleiches kann sein, daß das Tarifentgelt das übliche Entgelt ist. Dies mag sogar in der Mehrzahl der Fälle so sein. Ein solches Resultat ist jedoch nicht zwingend. Je größer die Zahl der Außenseiter ist, desto größer ist die Zahl der Arbeitnehmer die nicht entsprechend dem Tarif sondern untertariflich vergütet werden20• Zwar wird häufig individualvertraglich auf Tarifverträge Bezug genommen, so daß auch Außenseiter entsprechend den tarifvertragliehen Regelungen vergütet werden, eine solche Bezugnahme erfolgt jedoch nicht in allen Arbeitsverträgen. In 13 Lieb, NZA 1994, S. 337, 338; Nikisch, ArbR I,§ 29, S. 291; MHBzArbR/ Hanau, § 61 Rdn. 12; Erman/Hanau, BGB, § 612 Rdn. 22; MüKo/Schaub, BGB, § 612 Rdn. 206; LAG Frankfurt, AP 51 Nr. 2; LAG Hamm, AP 52 Nr. 123; ArbG Essen, BB 1978, S. 255, 256. 14 Soergel/ Raab, BGB, § 612 Rdn. 38; Palandt/ Putzo, BGB, § 612 Rdn. 8; BGH NJWRR 1990, S. 349; Hanau/ Rolfs, a. a. 0. 1s Vgl.: MHBzArbR/ Hanau, § 61 Rdn. 12. 16 Soergel/ Raab, BGB, § 612 Rdn. 38; BAG AP Nr. 21 zu§ 611 BGB Ärzte, Gehaltsansprüche; BAG DB 1991, S. 391. 17 Rick, ArbuR 1960, S. 369, 370. 18 Vgl. auch: G.III. (drittes Kapitel). 19 Insbesondere bei der Zugrundelegung der Vergütungsregelungen kleinerer Unternehmen ist Vorsicht geboten. 2o Rick, a. a. 0.

168

3. Kap.: Unmittelbar geltende Mindestarbeitsbedingungen

Zeiten wirtschaftlicher Konjunktur und in Branchen mit Arbeitskräftemangel liegen die Tarifentgelte dagegen oft unter den tatsächlich gezahlten Vergütungen21 . Dann ist es üblich, eine über dem Tarifvertrag liegende Vergütung zu zahlen. Dies entspricht auch dem Wesen der Tarifsätze, die ja nur Mindestsätze sein wollen22. Diese beiden Beispiele zeigen, daß die pauschale Aussage, die tarifliche Vergütung sei stets die übliche, unzutreffend ist. Ich meine, mehr als ein Anhaltspunkt bei der Ermittlung der üblichen Vergütung, kann die tarifliche Vergütung nicht sein. Zwar ist die tarifliche Vergütung bei der Ermittlung der üblichen Vergütung um so beachtlicher, je mehr Arbeitnehmer tatsächlich entsprechend dem Tarifvertrag vergütet werden, egal ob aufgrund einer Tarifbindung, individualvertaglicher Bezugnahme oder weil die individualvertraglichen Vergütungsregelungen in Anlehnung an den entsprechenden Entgelttarifvertrag getroffen wurden. In Branchen, in denen ganz überwiegend entsprechend dem Tarif vergütet wird, z. B. im öffentlichen Dienst, wird die tarifliche Vergütung meist auch die übliche Vergütung sein. Die skizzierten Beispiele zeigen aber, daß dies nicht immer so sein muß. Die übliche Vergütung läßt sich, wie ausgeführt, nur durch einen Vergleich ermitteln. Auch der pauschalen Aussage, das Tarifentgelt sei nicht die übliche Vergütung, wenn weniger als die Hälfte der Arbeitnehmer gemäß §§ 3 I, 5 I TVG tarifgebunden sind, kann nicht zugestimmt werden. Heute ist es weit verbreitet, daß tarifgebundene Arbeitgeber auch ihren nichtorganisierten Arbeitnehmern das Tarifentgelt zahlen und sogar, daß nicht tarifgebundene Arbeitgeber ihre Arbeitnehmer entsprechend dem jeweiligen Entgelttarifvertrag vergüten. Dies fördert die Verbreitung der Tarifentgelte über die Grenzen der Tarifbindung des § 3 I TVG hinaus, so daß die tarifliche Vergütung auch dann die übliche Vergütung i. S. d. § 612 II BGB sein kann, wenn weniger als die Hälfte der Arbeitnehmer unmittelbar und zwingend der Tarifbindung unterfallen. Ist eine übliche Vergütung nicht feststellbar, so ist gemäß § 316 BGB die Höhe der Vergütung vom Arbeitnehmer zu bestimmen. Er hat sich dabei im Rahmen des billigen Ermessens zu halten(§ 315 BGB)23 . Regelmäßig ist der Arbeitgeber dann verpflichtet, das angemessene Entgelt zu zahlen24 .

21 Hueck/Nipperdey, ArbR I, S. 265 Fußnote 14; Rick, ArbuR 1960, S. 369, 370; Hanau/ Rolfs, JZ 1993, S. 312, 323; BAG JZ 1993, S. 319, 320. 22 Vielhaber, BB 1950, S. 170, 171; Hanau/ Rolfs, a. a. 0. 23 Hueck/Nipperdey, ArbR I, S. 266; Nikisch, ArbR I, § 29, S. 291; Rick, ArbuR 1960, S. 369, 371; Soergel/Raab, BGB, § 612 Rdn. 40; Schaub, ArbRHB, § 67 VI I ; Staub/Kozen/Weber, HGB, vor§ 59 Rdn. 190; differenzierend: MHBzArbR/ Hanau, § 61 Rdn. 13. 24 Nikisch, a. a. 0 .; Hueck/Nipperdey, a. a. 0.; Wagner, Handlungsgehilfe, S. 46; Hanau/ Rolfs, JZ 1993, S. 312, 323- Für Handlungsgehilfen normiert dies§ 59 S. 2 HGB ausdrücklich.

A. Die Vergütungsregelung des§ 61211 BGB

169

111. § 612 II BGB als taugliches Instrument zur Setzung von Mindestarbeitsbedingungen ? In vielen Fällen stellt die übliche Vergütung auch die angemessene Vergütung dar, so grundsätzlich dann, wenn die übliche Vergütung mit der tarifvertragliehen Vergütung übereinstimmt. In diesen Fällen verpflichtet § 612 II BGB den Arbeitgeber indirekt den Arbeitnehmer angemessen zu vergüten und verhindert so nicht nur unzumutbare sondern auch unbillige Vergütungsbedingungen. Die Regelung des§ 61211 BGB istjedoch subsidiär. Sie kommt nur zur Anwendung, wenn keine wirksame Vergütungsvereinbarung besteht. Die bloße Vereinbarung unangemessener oder unbilliger Arbeitsbedingungen berührt die Wirksamkeit der vertraglichen Regelung nicht25 . Arbeitnehmer die aufgrund einer vertraglichen Vereinbarung lediglich unangemessen vergütet werden, können aus § 612 II BGB keinen Anspruch auf die angemessene Vergütung herleiten, selbst wenn diese die übliche Vergütung ist. Im Fall einer wirksamen aber unbilligen vertraglichen Vereinbarung ist§ 612 II BGB somit nicht zur Verhinderung unbilliger Vergütungsbedingungen geeignet. Das gleiche gilt, wenn die übliche Vergütung unangemessen oder unbillig sein sollte. § 612 II BGB gibt den Arbeitnehmern nur einen Anspruch auf die übliche Vergütung, unabhängig davon, ob diese angemessen bzw. billig ist oder nicht26 . § 612 II BGB ist dann ebenfalls nicht zur Verhinderung unbilliger Vergütungsbedingungen geeignet. Auch wenn die tarifliche Vergütung die übliche sein sollte, muß die gemäß § 612 II BGB geltende Vergütung nicht das gerechte Entgelt für die geleistete Arbeit sein. Tarifvertragliche Vereinbarungen über die Entgelthöhe stehen in einem Zusammenhang mit anderen tarifvertragliehen Regelungen. So kann ein hohes Tarifentgelt das Ergebnis einer Konzession der Arbeitnehmer bei anderen Arbeitsbedingungen sein27 . Auch ein niedriges Tarifentgelt kann mit den Regelungen anderer Arbeitsbedingungen im Zusammenhang stehen und z. B. die Folge von erhöhten Urlaubsansprüchen oder einer Arbeitszeitverkürzung sein. Das Tarifentgelt stellt in diesen Fällen eigentlich nur scheinbar und äußerlich die übliche Vergütung dar. Gerade in Fällen einer starken Verzahnung der tariflichen Arbeitsbedingungen, läßt sich die von den Tarifvertragsparteien gewollte gerechte Vergütung nur im Zusammenhang mit den übrigen tariflichen Bestimmungen ermitteln. Nach h.M. erfaßt die Regelung des § 612 II BGB jedoch nur die übliche Vergütung und ist auf andere Arbeitsbedingungen nicht entsprechend anwendbar28 . Dies heißt jedoch, daß eine Vergütung auch dann als üblich i. S. d. § 612 II BGB anzusehen ist, wenn 25 26 27

28

Vgl.: C. (drittes Kapitel). Nikisch, a. a. 0. Rick, a. a. 0 . a.A.: MHBzArbR/ Hanau, § 61 Rdn. 12.

170

3. Kap.: Unmittelbar geltende Mindestarbeitsbedingungen

sie wegen etwaiger Konzessionen bei anderen Arbeitsbedingungen besonders niedrig oder besonders hoch bemessen ist. Die Nichtanwendbarkeit des § 612 II BGB auf andere Arbeitsbedingungen verdeutlicht auch die Ungeeignetheil der Vorschrift zur Setzung von Mindestarbeitsbedingungen außerhalb des Vergütungsbereiches. Insoweit ist § 612 II BGB mit den §§ 59 HGB 29, 10 BBiG30, 612 III BGB, Art. 141 EGV31 vergleichbar, bleibt aber hinter den anderen im zweiten und dritten Kapitel dargestellten Vorschriften zurück. Kritisch anzumerken ist, daß die Regelung des§ 612 II BGB auch Gefahren für die Tarifautonomie der Koalitionen in sich birgt. Ist die tarifliche Vergütung mit der üblichen Vergütung identisch, führt § 612 II BGB zu einer Besserstellung der nichttarifgebundenen Arbeitnehmer gegenüber den tarifgebundenen Arbeitnehmern. Die nichttarifgebundenen Arbeitnehmer erhalten die tarifliche Vergütung gemäß § 612 II BGB ohne jegliche Gegenleistung gegenüber einer Gewerkschaft, während die organisierten Arbeitnehmer den tarifvertragliehen Schutz durch ihren Mitgliedsbeitrag erkaufen. Dies vermindert die Attraktivität einer Gewerkschaftsmitgliedschaft32. Im Fall der Identität von tariflicher und üblicher Vergütung ist weiter bedenklich, daߧ 612 II BGB im Einzelfall- hinsichtlich der Vergütungshöhe-eine vergleichbare Wirkung, wie eine Allgemeinverbindlicherklärung hat. Unabhängig davon, ob die tarifliche Vergütung gemäß § 612 II BGB als vereinbart gilt oder gemäß § 5 TVG auf bisher nicht erfaßte Arbeitsverhältnisse erstreckt wird, wird der Geltungsbereich der tariflichen Vergütungsregelung auf bisher nicht erfaßte Arbeitsverhältnisse ausgeweitet. Dies ist durchaus problematisch, denn die Allgemeinverbindlicherklärung eines Tarifvertrages ist gemäß § 5 TVG nur möglich, wenn die tarifgebundenen Arbeitgeber nicht weniger als 50% der unter den Geltungsbereich des Tarifvertrages fallenden Arbeitnehmer beschäftigen oder wenn ein sozialer Notstand vorliege 3 . Diese Voraussetzungen stellt § 612 II BGB nicht auf. Die Vorschrift des § 612 II BGB ermöglicht somit die Umgehung des § 5 TVG im Einzelfall. Doch weder die Erlangung der tariflichen Vergütungsregelung ohne Gewerkschaftsmitgliedschaft, noch die Umgehung der Voraussetzungen des § 5 TVG im Einzelfall, stellen eine erhebliche Gefahr für die Tarifautonomie der Koalitionen oder für das Instrument der Allgemeinverbindlicherklärung dar. Die tarifvertragliehe Vergütung ist den Außenseitern keineswegs sicher. Die Außenseiter erhalten eher zufällig die gleiche Vergütung wie die tarifgebundenen Arbeitnehmer. Die 29

30 31 32

33

Vgl.: B. (drittes Kapitel). Vgl.: D. (drittes Kapitel). Vgl.: E. (drittes Kapitel). Gumpert, BB 1978, S. 256 f. Vgl.: A. (zweites Kapitel).

B. Die Vergütungsregelung des § 59 HGB

171

"tarifliche Vergütung" gemäߧ 612 II BGB kann jederzeit durch eine vertragliche Vereinbarung zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer beseitigt werden und endet auch, wenn die übliche Vergütung zukünftig von der tariflichen Vergütung abweichen sollte. Abschließend ist festzuhalten, daß § 612 II BGB keinen gesetzlichen Mindestlohn festlegen will34, sondern lediglich eine bestehende Lücke im Arbeitsvertrag schließen will. Bereits deshalb kann die Vorschrift nur partiell zu Setzung von Mindestentgelten geeignet sein.

B. Die Vergütungsregelung des § 59 HGB Die Vorschrift des § 59 HGB enthält für Handlungsgehilfen eine vergleichbare Vergütungsregelung wie§ 612 II BGB für alle Arbeitnehmer. Im Falle des FehJens einer Vergütungsvereinbarung kann der Handlungsgehilfe vom Prinzipal gemäß § 59 S. 1 HGB die dem Ortsgebrauch entsprechende Vergütung beanspruchen. In Ermangelung eines Ortsgebrauches gilt die den Umständen nach angemessene Vergütung als vereinbart(§ 59 S. 2 HGB). Im Folgenden wird kurz auf die Voraussetzungen des § 59 HGB eingegangen und geklärt, inwieweit § 59 HGB zur Verhinderung bzw. Beseitigung unzumutbarer oder unbilliger Arbeitsbedingungen geeignet ist.

I. Adressaten Adressaten der Vorschrift sind der Prinzipal und dessen Handlungsgehilfen. Der Begriff des Handlungsgehilfen ist in § 59 S. 1 1. HS HGB legal definiert. Danach ist Handlungsgehilfe, wer in einem Handelsgewerbe zur Leistung kaufmännischer Dienste gegen Entgelt angestellt ist. Wesentlich für den Handlungsgehilfen ist, daß er unselbständig kaufmännische Dienste leistet. Kaufmännische Dienste sind überwiegend geistige Tätigkeiten die notwendig und üblich sind, um den Warenumsatz erfolgreich und sachgerecht zu gestalten 1 • Ob kaufmännische Dienste verrichtet werden, beurteilt sich im Zweifel nach der Verkehrsanschauung2. Die Leistung kaufmännischer Dienste allein macht den Arbeitnehmer aber Soergel/ Raab, BGB, § 612 Rdn. 33; RGRK/ Hilger; BGB, § 612 Rdn. 7. Hueck/ Nipperdey, ArbR I, § 9, S. 64; Wagner, Handlungsgehilfe, S. 27 ff.; Heidelberger/Ruß, HGB, §59 Rdn. 2; MüKolv.Hoyningen-Huene, HGB, §59 Rdn. 63; Staub/Konzen/Weber, HGB, §59 Rdn. 14; LAG Frankfurt RdA 1950, S. 198. 2 Hueck/Nipperdey, a. a. 0.; Baumbauch/Hopt, HGB, §59 Rdn. 25; Staub/Konzen/Weber, HGB, §59 Rdn. 11; MüKo/v.Hoyningen-Huene, HGB, §59 Rdn. 63; BAG AP Nr. 1, 3, 5, 12,24 zu§ 59 HGB. 34 I

172

3. Kap.: Unmittelbar geltende Mindestarbeitsbedingungen

noch nicht zum Handlungsgehilfen. Die Leistung muß in einem Handelsgewerbe erfolgen. Wer in einem Nichthandelsgewerbe kaufmännische Dienste leistet, ist nicht Handlungsgehilfe sondern Gewerbegehilfe3 . Der Handlungsgehilfe muß weiter gegen Entgelt angestellt sein. Dies unterscheidet ihn von den übrigen Arbeitnehmern. Denn die Beschäftigung gegen Entgelt ist nicht konstitutives Merkmal für Arbeitnehmer, wohl aber für Handlungsgehilfen (vgl.: §§ 612 I, II BGB, 59 S. 1 HGB)4 • Prinzipal ist die veraltete Bezeichnung für Arbeitgeber. Arbeitgeber des Handlungsgehilfen ist der Inhaber des Handelsgewerbes, ein Kaufmann, bei dem der Handlungsgehilfe angestellt ist5 .

II. Fehlende Vereinbarung über die Vergütung Der Handlungsgehilfe kann die dem Ortsgebrauch entsprechende Vergütung nur beanspruchen, wenn keine Vereinbarungen über die Vergütung getroffen wurden. Diese Voraussetzung deckt sich mit der des§ 612 II BGB, so daß insoweit auf die Ausführungen im dritten Kapitel unter A.l. verwiesen werden kann.

111. Ortsgebräuchliche Vergütung i.S.v. §59 S. 1 HGB Fehlt eine wirksame Vergütungsregelung, kann der Handlungsgehilfe vom Prinzipal die dem Ortsgebrauch entsprechende Vergütung beanspruchen. Der Begriff der ortsgebräuchlichen Vergütung wird vom Gesetz nicht näher erläutert. Einen Ortsgebrauch im strengen Sinne des Wortes gibt es heute nicht mehr6 . Was im Einzelfall als ortsgebräuchliche Vergütung anzusehen ist, richtet sich nach demambetreffenden Ort bestehenden Verhältnissen7 . Unsitten finden selbstverständlich keine Beachtung8 . Der Ortsgebrauch ist damit nichts anderes als die örtliche Verkehrssitte9 oder- anders umschrieben- das im Ort Übliche 10• Der Sache MüKo/v.Hoyningen-Huene, HOB, § 59 Rdn. 8. Hueck/Nipperdey, ArbR I, § 9, S. 48; RORK/ Hilger, BOB, § 612 Rdn. 7; MüKo/ v.Hoyningen-Huene, HOB, § 59 Rdn. 269; Röhrichtlv. Westphalen/Wagner, HOB, § 59 Rdn. 29. 5 Wagner, Handlungsgehilfe, S. 24; Baumbach/Hopt, HOB,§ 59 Rdn. 13; MüKo/ v.Hoyningen-Huene, HOB, § 59 Rdn. 3, 9. 6 Wagner, Handlungsgehilfe, S. 45. 7 Röhrichtlv. Westphahlen/Wagner, HOB,§ 59 Rdn. 31. s Wagner, Handlungsgehilfe, S. 38. 9 Wagner, Handlungsgehilfe, S. 37. 10 Wagner, Handlungsgehilfe, S. 44. 3

4

B. Die Vergütungsregelung des § 59 HGB

173

nach bedeutet "Ortsgebrauch" i.S.v. § 59 S. 1 HGB damit das Gleiche wie "übliche" i.S.v. § 612 II BGBn. Da auch bei der Ermittlung der üblichen Vergütung i.S.v. § 612 II BGB darauf abzustellen ist, welche Vergütung an dem entsprechenden Ort für die entsprechende Arbeit gezahlt zu werden pflegt 12, kann auch hier auf die Ausführungen zur üblichen Vergütung unter A.II. (drittes Kapitel) verwiesen werden.

IV. Angemessene Vergütung i.S.v. §59 S. 2 HGB Besteht kein Ortsgebrauch oder ist dieser nicht feststellbar, schuldet der Prinzipal dem Handlungsgehilfen gemäß § 59 S. 2 HGB die angemessene Vergütung. Die Vorschrift geht von einer als ideal gedachten Vergütung aus, bei der sich die Arbeitgeber- und Arbeitnehmerinteressen die Waage halten. Die Vergütung ist deshalb dann angemessen, wenn sie nach der Bewertung der Einzelumstände als gerechter Ausgleich der abzuwägenden Interessen der Vertragspartner empfunden wird 13•

V. § 59 HGB als taugliches Instrument zur Setzung von Mindestarbeitsbedingungen ? §59 HGB erlaßt einen kleineren Personenkreis als§ 612 II BGB. Hiervon abgesehen bestehen zwischen den Regelungen der§§ 59 HGB und 612 II BGB inhaltlich keine Unterschiede. Wie gezeigt ist der Begriff des Ortsgebrauches i.S.v. § 59 S. 1 HGB identisch mit dem Begriff der üblichen Vergütung i.S.v. § 612 II BGB. § 59 S. 2 HGB normiert zwar zusätzlich zur Regelung des § 612 ll BGB, daß der Handlungsgehilfe im Falle des Fehlens oder der Nichtfeststeilbarkeit eines Ortsgebrauches angemessen zu vergüten ist. Doch auch diese Vorschrift gibt dem Handlungsgehilfen nichts, was ihm nicht bereits nach den Vorschriften des allgemeinen Schuldrechts zusteht. Ist die übliche Vergütung(§ 612 II BGB) nicht feststellbar, so ist gemäߧ 316 BGB die Höhe der Vergütung vom Arbeitnehmer zu bestimmen. Die Bestimmung muß sich im Rahmen des billigen Ermessens halten (§ 315 BGB) 14. Damit kann auch ein Arbeitnehmer, der nicht Handlungsgehilfe 11 Wagner, Handlungsgehilfe, S. 45; Staub/Konzen/Weber, HGB, vor§ 59 Rdn. 190, §59 Rdn. 18; RGRK/ Hilger, BGB, § 612 Rdn. 60. 12 Vgl.: A.II. (drittes Kapitel). 13 Wagner, Handlungsgehilfe, S. 38 f.; Röhrichtlv. Westphalen/Wagner, HGB, § 59 Rdn. 31. 14 Hueck/Nipperdey, ArbR I, S. 266; Nikisch, ArbR I, § 29, S. 291; Rick, ArbuR 1960, S. 369, 371; Soergel!Raab, BGB, § 612 Rdn. 40; Schaub, ArbRHB, § 67 VI 1; Staub/Kozen/Weber, HGB, vor§ 59 Rdn. 190; differenzierend: MHBzArbR/ Hanau, § 61 Rdn. 13.

174

3. Kap.: Unmittelbar geltende Mindestarbeitsbedingungen

ist, eine angemessene Vergütung verlangen 15 . Das Ergebnis der§§ 59 HGB und 612 II BGB i.V.m. 315 f. BGB ist somit gleich, nur die Lösungswege sind dogmatisch verschieden 16• Deshalb wird die Vorschrift des § 59 HGB, soweit sie den Umfang der Vergütungspflicht bestimmt, sogar für überflüssig gehalten 17, ihr wird eine selbständige praktische Bedeutung abgesprochen 18 bzw. die praktische Bedeutung wird als eher gering bewertet 19. Wegen der inhaltlichen Identität und der Gleichheit im Ergebnis der Vorschriften der §§ 59 HGB und 612 II BGB, muß auch der Frage, ob § 59 HGB für Handlungsgehilfenlex spezialis vor§ 612 II BGB ist, nicht nachgegangen werden. Im Rahmen der Prüfung der Geeignetheit des § 59 HGB zur Setzung von Mindestarbeitsbedingungen kann voll auf die Ausführungen zur Prüfung der Geeignetheit des § 612 II BGB unter A.III. (drittes Kapitel) verwiesen werden.

C. Die Vorschrift des§ 138 BGB § 138 BGB regelt die Nichtigkeit von Rechtsgeschäften wegen Sittenverstoßes. Gemäß der Generalklausel des Absatzes 1 sind Rechtsgeschäfte, die gegen die guten Sitten verstoßen, nichtig. Nach Absatz 2 gilt dies insbesondere für wucherische Rechtsgeschäfte. Im Folgenden wird der Begriff der guten Sitten näher untersucht und geklärt, inwieweit§ 138 BGB zur Verhinderung bzw. Beseitigung unzumutbarer oder unbilliger Arbeitsbedingungen geeignet ist.

I. Die guten Sitten- § 138 I BGB Ein Rechtsgeschäft, das gegen die guten Sitten verstößt, ist gemäß § 138 I BGB nichtig. Was unter den "guten Sitten" zu verstehen ist, ist trotz zahlreicher Untersuchungen im Schrifttum nicht restlos geklärt.

Vgl.: A.Il. (drittes Kapitel). Wagner, Handlungsgehilfe, S. 39. 17 Wagner, Handlungsgehilfe, S. 41. 18 Heidelberger/Ruß, HGB, §59 Rdn. 1. 19 Staub/Konzen/Weber, HGB, vor§ 59 Rdn. 1, §59 Rdn. 2; MüKo/v.Hoyningen-Huene, HGB, §59 Rdn. 7. 15

16

C. Die Vorschrift des § 138 BGB

175

1. Die BegritTsbestimmung im Schrifttum

Zur Ermittlung der "guten Sitten" wird auf die Sittlichkeit', die Sozialmoral2 , den ordre public3 , den Schutzzweck für bestimmte Institutionen4 oder die soziale Gerechtigkeit5 abgestellt6 . Doch keine dieser Formulierungen erlaßt die ganze Breite der Anwendung des § 138 BGB. Nach ständiger Rechtsprechung sind Erfolgshonorare für Rechtsanwälte nichtig, doch verstoßen sie auch gegen die Sittlichkeit oder die Sozialmoral ? Die meisten in der Erduldung US-amerikanischer Anwaltsserien geübten Laien werden nicht einmal wissen, daß Rechtsanwaltserfolgshonorare in Deutschland unzulässig sind. Der Begriff der ordre public (öffentliche Ordnung) stammt aus dem internationalen Privatrecht. Er hat gemäß Art. 6 EGBGB von der Problematik des§ 138 BGB abweichende Fragen zu entscheiden und schneidet deshalb§ 138 BGB zu sehr von sittlichen Erwägungen ab7 . Der Begriff der sozialen Gerechtigkeit ist lediglich ein Blankett und im Einzelfall wenig hilfreich8 . Auch für die Gefährdung einer Institution wird ein einzelnes Rechtsgeschäft meist nicht genügen9 . 2. Das Anstandsgeftihl aller billig und gerecht Denkenden

Die h.M. 10 und die Rechtsprechung 11 stellt zur Ermittlung auf das "Rechts- und Anstandsgefühl aller billig und gerecht Denkenden" ab. Doch was ist objektiv unter dem "Anstandsgefühl" zu verstehen und wer sind diejenigen, die "billig und gerecht" denken? a) Die Verkehrsanschauung

Die Begriffe bedürfen der näheren Bestimmung. Diese ist äußerst schwierig, denn der Begriff der guten Sitten unterliegt einem ständigen Wandel 12 . Die AnVgl.: Teubner, Generalklauseln, S. 13 ff.- vor allem im älteren Schrifttum vertreten. Vgl.: Teubner, Generalklauseln, S. 23 ff. 3 Vgl.: Teubner, Generalklauseln, S. 36 ff. 4 Vgl.: Teubner, Generalklauseln, S. 39 ff. s Eser/Schmidt, BGB SR AT, S. 6, 163. 6 Dies sind die häufigsten Formulierungen außerhalb der h.M. Auf weitere Lösungsvorschläge kann im Rahmen dieser Arbeit nicht eingegangen werden. Zu weiteren Ansätzen vgl.: Teubner, Generalklauseln, S. 13 ff. 7 Flume, BGB AT, S. 365; Larenz, BGB AT, S. 436 f.; Medicus, BGB AT, Rdn. 683. 8 MüKo/ Mayer-Maly, BGB, § 138 Rdn. 17. 9 Medicus, a. a. 0. 10 Brox, BGB AT, Rdn. 283; Erman/ Brox, BGB § 138 Rdn. 30. II RGZ 48, S. 124; 80, S. 219, 221; 120, S. 142, 148; BGHZ 10, S. 228, 292; 69, S. 297; BAG AP Nr. I, 30 zu§ 138 BGB. 12 MüKo/ Mayer-Maly, BGB, § 138 Rdn. 17; Erman/ Brox, BGB, § 138 Rdn. 31. I

2

176

3. Kap.: Unmittelbar geltende Mindestarbeitsbedingungen .

schauungen von Verkehrskreisen und die Grundwertungen von Rechtsgemeinschaften ändern sich 13 . In einer pluralistischen Gesellschaft schwindet zudem der Konsens über sittliche Werte und deren Rangordnung 14 • Die einzelnen Moralvorstellungen bewegen sich von einander weg. Die Verfasser des BGB gingen noch davon aus, daß es in weiten Kreisen der Bevölkerung einen Konsens über das gibt, was im moralischen Sinne richtig und erlaubt ist 15 . Heute dagegen kann dies nicht mehr behauptet werden. Larenz meint, daß es im Bereich der Geschäftsmoral noch einen breiten Konsens gäbe, auf sexuellem Gebiet könne man hingegen von einer herrschenden Moral kaum noch sprechen 16. Dies mag zutreffen. Dennoch meine ich sagen zu können, daß auch in unserer Gesellschaft ein verkehrs- und rechtskreisübergreifendes Minimum an gemeinsamen Werten vorhanden ist. Ohne ein solches Minimum an gemeinsamen Werten vermag keine Rechtsgemeinschaft zu bestehen 17 . Das BVerfG hat formuliert, daß bei der Entscheidung dariiber, was die guten Sitten im Einzelfall fordern, "in erster Linie von der Gesamtheit der Wertvorstellungen ausgegangen werden muß, die das Volk in einem bestimmten Zweitpunkt seiner geistigen und kulturellen Entwicklung erreicht und in seiner Verfassung fixiert hat" 18 . Der die guten Sitten konkretisierende Standard ist damit vorrangig aus dem Inland zu gewinnen 19. Zudem finden die ethischen Wertmaßstäbe des Grundgesetzes durch den unbestimmten Rechtsbegriff der guten Sitten Eingang in das Privatrecht. Die Grundrechte und die übrige Verfassungsordnung konkretisieren damit den Begriff der guten Sitten20. b) Die Gesamtbeurteilung des Rechtsgeschäftes

Die Sittenwidrigkeit eines Rechtsgeschäftes kann sich aus seinem Inhalt, aus den Auswirkungen des Geschäfts auf Dritte, aus der Verbindung seines Inhaltes mit einem von den Parteien übereinstimmend verfolgten sittlich mißbilligenswerten Zweck oder durch das Vorgehen einer Partei, wenn diese sich in mißbilligenswerter Weise gegen die andere Partei richtet, ergeben21 • Das RG formulierte, es MüKo I Mayer-Maly, BGB, § 138 Rdn. 17. Medicus, BGB AT, Rdn. 681. 15 Larenz. BGB AT, S. 437. 16 Larenz, a. a. 0 . 17 MüKo/ Mayer-Maly, BGB, § 138 Rdn. 11; MHBzArbR/ Richardi, § 44 Rdn. 12. 18 BVeifGE 7, S. 198,206. 19 MüKo/ Mayer-Maly, BGB, § 138 Rdn. 14. 20 Larenz. BGB AT, S. 439; Medicus, BGB AT, Rdn. 693; Flume, BGB AT, S. 366 f.; MüKo/ Mayer-Maly, BGB, § 138 Rdn. 16; Erman/ Brox, BGB, § 138 Rdn. 32. 21 Flume, BGB AT, S. 368; Larenz, BGB AT, S. 440; Schaub, ArbRHB, § 35 I 3; MHBzArbR/ Richardi, § 44 Rdn. 14; Erman/ Brox, BGB, § 138 Rdn. 33; Soergel/ Hefermehl, BGB, § 138 Rdn. 73. 13

14

C. Die Vorschrift des § 138 BGB

177

käme auf den sich aus der Zusammenfassung von Inhalt, Beweggrund und Zweck ergebenden Gesamtcharakter des Geschäfts an22• Bei der Priifung im Einzelfall ist nicht auf moralisch besonders hochstehende Anschauungen bestimmter Kreise abzustellen. Ebensowenig sind besonders laxe Ansichten und Unsitten maßgeblich 23 . Nach Brox kommt es auf die Auffassung eines "anständigen Durchschnittsmenschen" an24. Da diese schwer feststellbar ist, bleibt oft nur der Weg, das Unwerturteil durch eine Interessenahwägung zu ermitteln25 • Nach h.M.26 und Rechtsprechung 27 liegt ein sittenwidriges Rechtsgeschäft nur vor, wenn objektiv gegen die guten Sitten verstoßen wird und subjektiv der Handelnde die Umstände kennt oder grob fahrlässig nicht kennt, aus denen sich die Sittenwidrigkeit ergibt; nicht erforderlich ist es dagegen, daß er im Bewußtsein der Sittenwidrigkeit handelt28. Bei einem Vertrag müssen grundsätzlich beide Parteien gegen die guten Sitten verstoßen. Ein einseitiger Sittenverstoß reicht jedoch aus, wenn die Sittenwidrigkeit gerade im Verhalten gegenüber dem Geschäftspartner besteht29. Im Laufe der Zeit ist die Generalklausel des § 138 I BGB durch die Rechtsprechung und das Schrifttum ausgefüllt worden. Dabei haben sich typische Fallgruppen herausgebildet30. Auf diese kann im Rahmen der vorliegenden Arbeit nur partiell eingegangen werden, da es ist nicht Aufgabe der Arbeit ist, einen zusätzlichen Umschreibungsversuch des Begriffs der "guten Sitten" zu liefem31 . Hier ist§ 138 I BGB nur insoweit von Interesse, wie er zur Setzung von Mindestarbeitsbedingungen beiträgt.

RGZ 56, S. 231; 80, S. 219, 221 ; 150, S. 1, 3; 154, S. 103. Brox, BGB AT, Rdn. 283; Ennan/ Brox, BGB, § 138 Rdn. 30; RGZ 120, S. 148; BGHZ 10,S.232;21, S. 350;60,S. 33. 24 Brox, a. a. 0. 25 Teubner, Generalklauseln, S. 92; Brox, a. a. 0. 26 Brox, BGB AT, Rdn. 284; Ennan/ Brox, BGB, § 138 Rdn. 36; a.A.: Medicus, BGB AT, Rdn. 690; MüKo/ Mayer-Maly, BGB, § 138 Rdn. 113. 27 RGZ 97, S. 253, 255; 120, S. 144, 148, 150, S. 1, 6; 161, S. 229, 233; BGHZ 80, S. 153, 160 f.; BGH NJW 1951, S. 397; BGH NJW 1953, S. 297, 299; BGH NJW 1957, S. 1274; BGH BB 1971, S. 1177 f.; BGH WM 1976, S. 289, 291; BGH NJW 1985, S. 2406; OLG Schleswig, NJW 1985, S. 884; BAG AP Nr. 30 zu§ 138 BGB. 28 Nicht eingegangen werden kann auf die Frage, ob sich die Sittenwidrigkeit eines Rechtsgeschäfts auch bereits aus dem Inhalt der Vereinbarung, ohne Rücksicht auf die Motive, ergeben kann. Dies wird für bestimmte Fallgruppen bejaht, vgl.: Flume, BGB AT, S. 373; Larenz, BGB AT, S. 447. 29 Brox, BGB AT, Rdn. 285. 30 Teubner, Generalklauseln, S. 92 ff.; Larenz. BGB AT, S. 440 ff.; Brox, BGB AT, Rdn. 290 ff.; Medicus, BGB AT, Rdn. 695 ff. 31 Mit dieser Thematik haben sich schon viele wissenschaftliche Abhandlungen befaßt, vgl. hierzu: Teubner; Generalklauseln, sowie die Nachweise bei Medicus, BGB AT, vor Rdn. 679 (Literaturnachweise). 22 23

12 Ande1ewski

178

3. Kap.: Unmittelbar geltende Mindestarbeitsbedingungen

3. Auffälliges Mißverhältnis von Leistung und Gegenleistung

Eine Gruppe bilden Fälle, bei denen Leistung und Gegenleistung in einem auffälligen Mißverhältnis stehen32• a) Lohnwucherähnliche Fälle

Aus arbeitsrechtlicher Sicht sind insbesondere die Fälle von Interesse, bei denen das Entgelt der Arbeitnehmer in einem auffälligen Mißverhältnis zu deren Leistung steht. In der Rechtsprechung der Arbeitsgerichte zum Lohnwucher ist ebenso wie in der Rechtsprechung der ordentlichen Gerichte zum Kreditwucher anerkannt, daß ein auffälliges Mißverhältnis von Leistung und Gegenleistung nicht nur unter den Voraussetzungen des Absatzes 2 sittenwidrig sein kann, sondern auch aufgrund des Absatzes 1, wenn sich der Bevorteilte der Einsicht in das auffällige Mißverhältnis leichtfertig verschließt33• Wann im Einzelfall eine sittenwidrige Entgeltabrede anzunehmen ist, wird von Rechtsprechung und Schrifttum durchaus unterschiedlich beurteilt. Oft wird zur Feststellung eines Mißverhältnisses in irgendeiner Weise auf den vergleichbaren Tariflohn abgestellt. So soll eine Entlohnung nichtig sein, die weit unter dem Tariflohn liegt34. Die Rechtsprechung entschied, daß ein Unterschreiten des Tariflohnes um 20%35 , 26% 36 bzw. um 33%37 noch nicht sittenwidrig ist. Auch eine Abweichung um 50% soll noch nicht unbedingt sittenwidrig sein38• Allerdings wurde im Fall eines besonders niedrigen Tariflohnes auch entschieden, daß eine Unterschreitung des Tarifentgeltes um 40% sittenwidrig ist39. In anderen Urteilen wird zum Vergleich nicht auf den Tariflohn der jeweiligen Branche sondern auf das allgemeine Lohnniveau des jeweiligen Bundeslandes abgestellt40. So wurde 1973 entschieden, daß die Vereinbarung eines Stundenlohnes von 1,04 DM für das Ausfahren von Brötchen nichtig ist, wenn die Arbeitnehmer zudem noch die Transportkosten zu tragen haben41 . Für Arbeitsbereitschaft (häuslicher Telefondienst) soll dagegen nach einer Entscheidung aus dem Jahre 1986 eine Vergütung von 1,55 DM pro Stunde - bei einer Bewertung von 25% als Arbeitszeit - nicht sittenwidrig 32 33 34

35 36

37 38 39

40 41

vgl. auch: C.Il.l. (drittes Kapitel). MHBzArbR/ Hanau, § 61 Rdn. 4; BAG NJW 1991 , S. 860. Kreutz, SAE 1974, S. 34, 37; Konzen, Anmerkung zu BAG AP Nr. 30 zu§ 138 BOB. ArbG Göttingen DB 1961, S. 882. ArbG Hagen NZA 1987, S. 610. LAG Bremen AP Nr. 3 zu § 611 BGB Lohnanspruch. RAGE 11, S. 268, 273. LAG Düsse1dorfDB 1978, S. 165. BAG AP Nr. 30 zu § 138 BOB. BAG AP Nr. 33 zu § 138 BOB.

C. Die Vorschrift des§ 138 BGB

179

sein42. Auch wurde entschieden, daß die Sozialhilfesätze keine zwingende Untergrenze für eine sittenwidrige Vergütung bilden43 . Im Schrifttum wird aus diesen und anderen Urteilen der Arbeitsgerichte sowie in Anlehnung an die Rechtsprechung zum Kreditwucher, die beim doppelten des Marktzinses eine zwingende Grenze zieht44, die Faustregel entnommen, daß die Hälfte des Marktlohnes nicht unterschritten werden dürfte45 . Dieser Ausschnitt aus den Äußerungen im Schrifttum und einer umfangreichen Judikatur zeigt, daß die Frage, wann eine Entgeltabrede gegen die guten Sitten verstößt, nicht pauschal sondern grundsätzlich nur für den jeweiligen Einzelfall beantwortet werden kann. Ausgangspunkt der Beurteilung muß das Anstandsgefühl aller billig und gerecht Denkenden sein. Unter Beriicksichtigung der eingangs dargestellten Grundsätze ist zu fragen, ob die konkrete Entgeltvereinbarung in einem auffalligem Mißverhältnis zur Leistung des Arbeitnehmers steht. Dabei ist die Arbeitsleistung, ihre Dauer, der Schwierigkeitsgrad sowie die körperliche und geistige Beanspruchung des Arbeitnehmers zu beriicksichtigen46. Die bloße Unangemessenheil der Entgeltvereinbarung führt noch nicht zur Sittenwidrigkeit der Regelung47. Auch eine für den Arbeitnehmer ungünstige Vereinbarung bewegt sich zunächst noch im Rahmen des durch die Vertragsfreiheit gewährleisteten Gestaltungsspielraumes der Vertragsparteien48. Schwierig ist es, die Grenze zwischen der lediglich unangemessenen und der sittenwidrigen Vergütungsregelung zu finden. Die Höhe des Tariflohnes und die Höhe der üblichen Vergütung können hierbei Anhaltspunkte sein. In vielen Fällen mag es auch zutreffend sein, anzunehmen, daß eine Vergütungsvereinbarung, die die Hälfte des Marktlohnes unterschreitet, sittenwidrig ist49. Als pauschales Abgrenzungskriterium ist dieses Quorum jedoch nicht geeignet. Vielmehr sollte zur Beantwortung der Frage, ob die konkrete Entgeltvereinbarung gegen die guten Sitten verstößt, auf die Rechtsgedanken der §§ I II lit. b, 4 IV MindArbBG50 und § 92a I 1 HGB 51 zuriickgegriffen werden. Für den größten Teil der Bevölkerung ist das Einkommen aus unselbständiger Arbeit die wichtigste, für viele die einzige Einnahmequelle. Dieser Teil der Bevölkerung muß von ArbG Köln AZ.: 15 G 11515/85 zitiert nach MHBzArbR/ Hanau, § 61 Rdn. 6. BAG AZ.: 5 AZR151/88 zitiert nach Lörcher, ArbuR 1991, S. 97, 101; LAG Berlin DB 1961, S. 1458; a.A.: ArbG Hagen NZA 1987, S. 610. 44 BGHZ 91, S. 55; 98, S. 174; BGH ZIP 1990, S. 496; S. 501, 505. 45 MHBzArbR/ Hanau, § 61 Rdn. 6. 46 Becker/Braasch, Arbeitnehmer, Rdn. 187; MHBzArbR/ Hanau, § 61 Rdn. 5; BAG AP Nr. 30 zu § 138 BGB. 47 ArbG Göttingen DB 1961, S. 882. 48 ArbG Hagen NZA 1987, S. 610. 49 so: MHBzArbR/Hanau, § 61 Rdn. 6. 50 vgl.: C. (zweites Kapitel). 51 vgl.: E. (zweites Kapitel). 42

43

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3. Kap.: Unmittelbar geltende Mindestarbeitsbedingungen

seinem Arbeitsentgelt seinen Lebensunterhalt bestreiten. Eine Vergütung, die nicht dazu geeignet ist die notwendigen sozialen und wirtschaftlichen Bedürfnisse der Arbeitnehmer zu befriedigen (§§ 1 II lit. b MindArbBG, 92a I 1 HGB), wird deshalb regelmäßig gegen das Anstandsgefühl dieser billig und gerecht denkenden Menschen verstoßen. Da die§§ 1 II lit. b MindArbBG, 92a I 1 HGB lediglich eine unterste bzw. untere Grenze gegen einen zu behebenden sozialen Notstand schaffen sollen, verhindert die Anwendung des Rechtsgedankens dieser Regelungen zudem, daß lediglich unangemessene Arbeitsbedingungen als sittenwidrig angesehen werden. Ein Verstoß gegen die guten Sitten ist deshalb erst anzunehmen, wenn die notwendigen sozialen und wirtschaftlichen Bedürfnisse der Arbeitnehmer aus dem Arbeitsentgelt nicht mehr befriedigt werden können. Subjektiv muß hinzukommen, daß der Handelnde die Umstände der Sittenwidrigkeit kennt oder grob fahrlässig nicht kennt. Nach ständiger Rechtsprechung kann in der Regel im Rahmen des § 138 I BGB auf die Verwerflichkeit der Gesinnung bereits aus dem Vorliegen des objektiven Mißverhältnisses geschlossen werdensz.s3. b) Überbürdung des Geschäfts- und Wirtschaftsrisikos

Ein auffälliges Mißverhältnis von Leistung und Gegenleistung kann auch vorliegen, wenn einem Arbeitnehmer ohne ausreichende Vergütung das Geschäfts- oder Wirtschaftsrisiko auferlegt wird5 4 . Denn durch die Überbürdung des Risikos kann sich das Entgelt des Arbeitnehmers erheblich minimieren oder sogar in den negativen Bereich umkehren. Unterschreitet der Verdienst des Arbeitnehmers bei Verwirklichung des Risikos die oben dargestellte Grenze von der unangemessenen Vergütung zur sittenwidrigen Vergütung, dann verstößt die Regelung gegen § 138 BGB. So können Mankoabreden 55 , eine Delkrederehaftung für die Zahlungsunfähigkeit der Kunden56, eine Verlustbeteiligung des Arbeitnehmers 57 , eine Abdingung der Rechtsprechungsgrundsätze zur Arbeitnehmerhaftung bei betrieblich veranlaBten Tatigkeiten58, ein Vergütungsausschluß für Ausschußarbeit59, übermäßig 52 BAG NZA 1986, S. 516; BAG NJW 1988, S. 2661; LAG Bremen AP Nr. 33 zu§ 138 BGB; LAG Kiel DB 1959, S. 1319; LAG Berlin DB 1961, S. 1458. 53 Darüberhinaus wird vertreten, auch allein ein besonders grobes Mißverhältnis zwischen Leistung und Gegenleistung reiche aus, um die Sittenwidrigkeit des Rechtsgeschäftes zu begründen. Auf den subjektiven Hintergrund komme es nicht an, so: MHBzArbR/ Richardi, § 44 Rdn. 19. 54 Schaub, ArbRHB, § 35 I 4; MHBzArbR/ Richardi, § 44 Rdn. 18; MHBzArbR/ Hanau, § 61 Rdn. 7; BAG EzA Nr. 24 zu § 138 BGB. 55 MHBzArbR/ Richardi, § 44 Rdn. 20; Soergel/ Hefermehl, BGB, § 138 Rdn. 158; Blechstein, DB 1971, S. 2213; BAG AP Nr. 4, 51 zu§ 611 BGB Haftung des Arbeitnehmers; BAG NJW 1974, S. 1155. 56 LG Heidelberg BB 1958, S. 7. 57 Schaub, ArbRHB, § 35 I 4. 58 Errnan/ Brox, BGB, § 138 Rdn. 65.

C. Die Vorschrift des § 138 BGB

181

hohe Vertragsstrafen60 oder die Verpflichtung des Arbeitnehmers, von ihm verursachte Unfallschäden zu ersetzen61 , gegen die guten Sitten verstoßen, wenn es an einer ausreichenden Gegenleistung des Arbeitgebers fehlt. Die Frage, ob bei der einzelnen Regelung ein auffälliges Mißverhältnis von Leistung und Gegenleistung und somit ein Sittenverstoß vorliegt, ist nach den oben dargestellten Grundsätzen unter Berücksichtigung der Rechtsgedanken der §§ 1 II lit. b, 4 IV MindArbBG, 92a I 1 HGB zu beantworten. 4. Weitere Fallgruppen

Weitere aus arbeitsrechtlicher Sicht interessante Fallgruppen sind die der übermäßigen Vertragsbindung (z. B.: überzogene Wettbewerbsverbote und Verschwiegenheitspflichten62) und der sittlich anstößigen Vertragsgestaltung (z. B.: Anstellung zum Schmuggel, zur Unzucht oder zur Vorführung des Geschlechtsverkehrs63). Die in diese Gruppen einzuordnenden Fälle, verstoßen gegen die guten Sitten. Die sittenwidrigen Regelungen bewegen sich jedoch nicht im Bereich der hier untersuchten Mindestarbeitsbedingungen. Sie sind deshalb im Rahmen dieser Arbeit nicht von Interesse.

II. Der Wuchertatbestand des § 138 II BGB Ein Sonderfall des sittenwidrigen Rechtsgeschäfts ist das wucherische Geschäft. Gemäß § 138 II BGB ist insbesondere ein Rechtsgeschäft nichtig, durch das jemand unter Ausbeutung der Zwangslage, der Unerfahrenheit, des Mangels an Urteilsvermögen oder einer erheblichen Willensschwäche eines anderen sich oder einem Dritten für eine Leistung Vermögensvorteile versprechen oder gewähren läßt, die in einem auffälligen Mißverhältnis zu der Leistung stehen. 1. Objektive Voraussetzungen

Ein wucherisches Geschäft setzt objektiv ein auffälliges Mißverhältnis von Leistung und Gegenleistung voraus. Wann ein solches Mißverhältnis vorliegt, kann 59 Schaub, ArbRHB, § 35 I 3; vgl. : BAG AP Nr. 4, 54 zu§ 611 BGB Haftung des Arbeitnehmers. 60 MHBzArbR/ Richardi, § 44 Rdn. 20; RGZ 68, S. 229; 90, S. 181. 61 ArbG Macburg BB 1969, S. 1479. 62 MHBzArbR/ Richardi, § 44 Rdn. 17; Schaub, ArbRHB, § 35 I 4; BAG AP Nr. 24 zu § 611 BGB Konkurrenzklausel. 63 Schaub, a. a. 0.; MHBzArbR/ Richardi, § 44 Rdn. 15; BGHZ 53, S. 369, 376; BAG NJW 1976, S. 1958.

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3. Kap.: Unmittelbar geltende Mindestarbeitsbedingungen

nicht einheitlich bestimmt werden64. Ausgangspunkt für die Beurteilung ist die Ermittlung und Gegenüberstellung des objektiven Wertes der beiderseitigen Leistungen65. Weiter sind aber auch sämtliche Umstände des Einzelfalles zu berücksichtigen (z. B. Risikoverteilung, Spekulationscharakter des Geschäfts, allgemeine Marktlage, Marktüblichkeit)66 . 2. Subjektive Voraussetzungen Subjektiv erfordert§ 138 li BGB, die Ausbeutung einer Zwangslage, der Unerfahrenheit, eines Mangels an Urteilsvermögen oder einer erheblichen Willensschwäche eines anderen. Über die Definitionen dieser Begriffe besteht weitgehend Einigkeit67 . Ausbeuten ist das bewußte Ausnutzen der gegebenen - meist mißlichen - Situation des Geschäftsgegners, um einen übermäßigen Gewinn zu erzielen68 . Einen fahrlässigen Wucher gibt es nicht69, wohl aber genügt Eventualvorsatz hinsichtlich desVorliegenseines der genannten Umstände70. Vereinzelt wird vertreten, das Tatbestandsmerkmal des Ausbeutens sei in einem gewissen Umfang entbehrlich, wenn das andere Tatbestandsmerkmal (auffalliges Mißverhältnis) "übererfüllt" sei, also in einem besonders starkem Maße vorliege71 • Dem kann nicht gefolgt werden. Hiergegen spricht der klare Wortlaut des Gesetzes. Zudem besteht für eine diesbezügliche Gesetzesauslegung kein Bedürfnis72• Sollte ein Rechtsgeschäfttrotz eines auffälligen Mißverhältnisses in Ermangelung der subjektiven Voraussetzungen nicht gemäߧ 138 li BGB nichtig sein, so kann es dennoch gegen die guten Sitten verstoßen und gemäß § 138 I BGB nichtig sein73 • Larenz, BGB AT, S. 451; Brox, BGB AT, Rdn. 296. Flume, BGB AT, S. 381; MüKo/ Mayer-Maly, BGB, § 138 Rdn. 118; Palandt/ Heinrichs, BGB, § 138 Rdn. 66; Ennan/ Brox, BGB, § 138 Rdn. 13 f.; Soergel/ Hefennehl, BGB, § 138 Rdn. 74; BGH LM (Ba) Nr. 1, 4, 4a; BGH WM 1969, S. 1255. 66 Soergel/ Hefennehl, BGB, § 138 Rdn. 74; Brox, BGB AT, Rdn. 296; Ennan/ Brox, BGB, § 138 Rdn. 14; BGH WM 1982, S. 1050, 1051. 67 Die Zwangslage, die Unerfahrenheit, der Mangel an Urteilsvermögen bzw. die erhebliche Willensschwäche müssen objektiv vorliegen. Deshalb wird gelegentlich die Auffassung vertreten, § 138 II BGB habe zwei objektive und ein subjektives Tatbestandselement, so: Flume, BGB AT, S. 380; MHBzArbR/ Richardi, § 44 Rdn. 21. Unterschiedliche Rechtsfolgen ergeben sich aus diesen verschiedenen Einordnungen nicht. 68 Larenz, BGB AT, S. 452; Medicus, BGB AT, Rdn. 710; Brox, BGB AT, Rdn. 297; Erman/ Brox, BGB, § 138 Rdn. 17; MüKo/ Mayer-Maly, BGB, § 138 Rdn. 129; Palandt/ Heinrichs, BGB, § 138 Rdn. 74. 69 MHBzArbR/ Richardi, § 44 Rdn. 21; Medicus, a. a. 0. 70 Medicus, a. a. 0.; Ennan/ Brox, BGB, § 138 Rdn. 17. 64

65

71

OLG Stuttgart NJW 1979, S. 2409, S. 2412.

n Medicus, BGB AT, Rdn. 711.

73 Flume, BGB AT, S. 381; Medicus, a. a. 0.; Soergel/ Hefennehl, BGB, § 138 Rdn. 73; MHBzArbR/ Richardi, § 44 Rdn. 21.

C. Die Vorschrift des§ 138 BGB

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Eine Zwangslage liegt vor, wenn wegen einer augenblicklichen dringenden meist wirtschaftlichen - Gefahrenlage ein zwingendes Bedürfnis nach Sach- oder Geldleistungen besteht74. Unerfahrenheit meint einen Mangel an Lebens- oder Geschäftserfahrung75. Ein Mangel an Urteilsvermögen besteht, wennjemandem in erheblichem Maße die Fähigkeit fehlt, sich bei seinem rechtsgeschäftliehen Handeln von vernünftigen Beweggründen leiten zu lassen oder die beiderseitigen Leistungen und die wirtschaftlichen Folgen des Geschäfts richtig zu bewerten76. Eine erhebliche Willensschwäche liegt bei einer verminderten Widerstandsfähigkeit vor77 . Auch zum Wuchertatbestand des § 138 II BGB haben sich im Laufe der Zeit typische Fallgruppen herausgebildet. Auf diese kann, wie bereits bei § 138 I BGB, nur insoweit eingegangen werden, wie sie im Zusammenhang mit der Setzung von Mindestarbeitsbedingungen von Interesse sind.

3. Arbeitsrechtliche Fallgruppen Ein Arbeitsvertrag ist nach§ 138 II BGB nichtig, wenn a) der Wert der Arbeitsleistung - gemessen an Dauer, Schwierigkeitsgrad, körperlicher und geistiger Beanspruchung78- und das Entgelt in einem auffallenden Mißverhältnis stehen und b) der Wucherer die Zwangslage, die Unerfahrenheit, einen Mangel an Urteilsvermögen oder die erhebliche Willensschwäche des Bewucherten ausbeutet79.

a) Lohnwucher

Von Lohnwucher spricht man, wenn der Arbeitnehmer verpflichtet ist, gegen eine unverhältnismäßig niedrige Vergütung zu arbeiten oder wenn er gegen eine durchschnittliche Vergütung zahlreiche Nebenpflichten übernehmen muß80. Lohn74 Brox, BGB AT, Rdn. 297; Schaub, ArbRHB, § 35 I 3; MüKo/ Mayer-Maly, BGB, § 138 Rdn. 124; Palandt/ Heinrichs, BGB, § 138 Rdn. 70; Ennan/ Brox, BGB, § 138 Rdn. 19. 75 Larenz, BGB AT, S. 452; Schaub, ArbRHB, § 35 I 3; Brox, BGB AT, Rdn. 297; Ennan/ Brox, BGB, § 138 Rdn. 20; Soergel/ Hefennehl, BGB, § 138 Rdn. 79; MüKo/ Mayer-Maly, BGB, § 138 Rdn. 125; Palandt/ Heinrichs, BGB, § 138 Rdn. 71; BGH DB 1958, S. 1241; BGH NJW 1966, S. 1451; RAGE 5, S. 52, 56; RAG JW 1930, S. 3009; BAG AP Nr. 33 zu § 138 BGB. 76 Brox, BGB AT, Rdn. 297; Ennan/ Brox, BGB, § 138 Rdn. 21; Soerge1/ Hefennehl, BGB, § 138 Rdn. 80; Palandt/ Heinrichs, BGB, § 138 Rdn. 72. 77 Brox, BGB AT, Rdn. 297; Ennan/ Brox, BGB, § 138 Rdn. 22; Pa1andt/ Heinrichs, BGB, § 138 Rdn. 73. 78 MHBzArbR/ Richardi, § 44 Rdn. 22; Schaub, ArbRHB, § 35 I 3; BAG AP Nr. 30 zu § 138 BGB. 79 Schaub, a. a. 0. 80 Schaub, a. a. 0.

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3. Kap.: Unmittelbar geltende Mindestarbeitsbedingungen

wucherische Verträge können insbesondere vorliegen, wenn der Arbeitnehmer trotz angemessener Arbeitsleistung nicht in der Lage ist, für sich und seine Familie den notwendigen Unterhalt zu verdienen 81 • Wann im Einzelfall eine lohnwucherische Entgeltabrede vorliegt, wird von Rechtsprechung und Schrifttum durchaus unterschiedlich beurteilt. Bezüglich der einzelnen hier vertretenen Ansichten und der zu dieser Frage ergangenen Rechtsprechung kann auf die Ausführungen unter C.I.3.a. (drittes Kapitel) verwiesen werden. Denn die Fallgruppe des § 138 I BGB, bei der Leistung und Gegenleistung in einem auffalligen Mißverhältnis stehen, ist hinsichtlich der objektiven Voraussetzungen mit den Fällen des Lohnwuchers i.S.v. § 138 II BGB deckungsgleich. Auch im Rahmen des § 138 II BGB ist es schwierig, die Grenze zwischen der lediglich unangemessenen und wucherischen Vergütungsregelungen zu finden. Die Höhe des Tariflohnes und die Höhe der üblichen Vergütung können hierbei Anhaltspunkte sein. Zur Beantwortung der Frage, ob die konkrete Entgeltvereinbarung wucherisch ist, ist aus den zu § 138 I BGB dargelegten Gründen82, auf die Rechtsgedanken der §§ I II lit. b, 4 IV MindArbBG83 und § 92a HGB 84 zurückzugreifen. Ein wucherisches Rechtsgeschäft liegt demnach jedenfalls dann vor, wenn die Arbeitnehmer ihre notwendigen sozialen und wirtschaftlichen Bedürfnisse aus dem Arbeitsentgelt nicht befriedigen können. In subjektiver Hinsicht fordert § 138 II BGB das Ausnutzen einer Zwangslage, der Unerfahrenheit, eines Mangels an Urteilsvermögen oder einer erheblichen Willensschwäche. Diese Begriffe wurden bereits erläutert. Im Folgenden wird auf typische arbeitsrechtliche Konstellationen eingegangen. Eine Zwangslage kann vorliegen, wenn durch ein wirtschaftliches Bedrängnis oder Umstände anderer Art für den Betroffenen ein zwingendes Bedürfnis nach Arbeit oder Gelderwerb besteht85 • Ein etwaiger Konjunkturrückgang oder eine drohende Arbeitslosigkeit allein begründen jedoch noch keine Zwangslage, da die Arbeitnehmer im Falle der Arbeitslosigkeit Anspruch auf Arbeitslosengeld bzw. Arbeitslosenhilfe gegenüber der Bundesanstalt für Arbeit haben. Zwangslagen sind nur echte finanzielle Schwierigkeiten86. Unerfahrenheit kann insbesondere bei jugendlichen Arbeitnehmern vorliegen87 . Bei der Vereinbarung komplizierter, nicht einfach zu durchschauender, VertragsSchaub, a. a. 0. vgl.: C.I.3.a. (drittes Kapitel). 83 vgl.: C. (zweites Kapitel). 84 vgl.: E. (zweites Kapitel). 85 Schaub, ArbRHB, § 35 I 3. 86 MHBzArbR/ Richardi, § 44 Rdn. 22; Schaub, a. a. 0 . 87 Schaub, a. a. 0., meint, Unerfahrenheit könne zudem "insbesondere bei Alten oder geistig Behinderten gegeben sein". Im Einzelfall mag dies zutreffen, doch grundsätzlich verfügen ältere Arbeitnehmer wohl über mehr Erfahrung als jüngere Arbeitnehmer. Sie sind somit 81

82

C. Die Vorschrift des § 138 BGB

185

bedingungen dürfte die Gefahr der Ausbeutung der Unerfahrenheit besonders groß sein. Abzustellen ist stets auf die Umstände des konkreten Einzelfalles. Grundsätzlich kann nur gesagt werden, daß von einem leitenden Angestellten eine größere Geschäftsgewandtheit als von einem Arbeiter erwartet werden

darfl8 .

b) Überbürdung des Geschäfts- und Wirtschaftsrisikos

Lohnwucher kann auch vorliegen, wenn einem Arbeitnehmer ohne ausreichende Vergütung das Geschäfts- oder Wirtschaftsrisiko auferlegt wird89 • Auch dann besteht ein auffälliges Mißverhältnis von Leistung und Gegenleistung, denn durch die Überbürdung des Risikos kann sich das Entgelt des Arbeitnehmers minimieren oder sogar in den negativen Bereich umkehren. Bezüglich einzelner denkbarer wucherischer Fallkonstellationen kann auf die Beispiele im dritten Kapitel unter C.l.3.b. verwiesen werden. Die objektiven Voraussetzungen dieser Fallgruppen sind deckungsgleich. Ob im Einzelfall ein auffälliges Mißverhältnis zwischen Leistung und Gegenleistung besteht und somit Wucher vorliegt, ist nach den unter C.l.3. und IL3. (drittes Kapitel) dargestellten Grundsätzen unter Berücksichtigung der Rechtsgedanken der §§ 1 II lit. b, 4 IV MindArbBG, 92a I 1 HGB zu ermitteln. Subjektiv muß der Wucherer wiederum einen der im Gesetz genannten Umstände des Bewucherten ausnutzen.

111. Rechtsfolgen Rechtsfolge eines Verstoßes gegen § 138 BGB ist grundsätzlich die Nichtigkeit des Rechtsgeschäftes90• Dies gilt gemäß § 139 BGB auch für den Fall, daß nur ein Teil des Rechtsgeschäftes gegen die guten Sitten verstößt (Teilnichtigkeit), wenn nicht anzunehmen ist, daß das Rechtsgeschäft auch ohne den nichtigen Teil vorgenommen worden wäre. Denn es würde dem Konzept des § 138 BGB widersprechen, dem gegen die guten Sitten Handelnden durch Reduktion der bedenklichen Regelung auf ein angemessenes Maß, einen Teilerfolg zu belassen9 1•

erfahren und nicht unerfahren. Ebenso wie bei den geistig Behinderten, ist jedoch zu prüfen, ob nicht ein Mangel im Urteilsvermögen besteht. 88 Schaub, a. a. 0 . 89 Schaub, a. a. 0. 90 Brox, BGB AT, Rdn. 287, 298; Erman/ Brox, BGB, § 138 Rdn. 23; Palandt/ Heinrichs, BGB, § 138 Rdn. 75; MüKo/ Mayer-Maly, BGB, § 138 Rdn. 133. 91 MüKo/ Mayer-Maly, a. a. 0.; OLG Celle NJW 1959, S. 1971, 1972.

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3. Kap.: Unmittelbar geltende Mindestarbeitsbedingungen

Der Grundsatz des § 139 BGB gilt im Arbeitsrecht jedoch nur eingeschränkt92·93. Einem bewucherten Arbeitnehmer wäre wenig geholfen, wenn sein Arbeitsvertrag z. B. wegen einer zu geringen Vergütung nichtig wäre. Er hätte dann gegen seinen Arbeitgeber keine vertraglichen Anspruche, insbesondere keinen vertraglichen Entgeltanspruch. Sind nur Teile von Arbeitsverträgen sittenwidrig, führt die Sittenwidrigkeit deshalb grundsätzlich nur zur Nichtigkeit des sittenwidrigen Teiles des Rechtsgeschäftes. Verstößt z. B. die Entgeltabrede gegen § 138 BGB, so ist diese nichtig, der übrige Arbeitsvertrag bleibt jedoch wirksam. Zwischen den Parteien fehlt dann lediglich eine wirksame Bestimmung über die Höhe der Vergütung. Dieser Fall ist vom Gesetzgeber in § 612 BGB geregelt. Gemäß § 612 II BGB gilt die übliche Vergütung als vereinbart, wenn die Höhe der Vergütung nicht bestimmt ist. Liegt eine nichtige Vergütungsvereinbarung vor, schuldet der Arbeitgeber dem Arbeitnehmer somit die übliche Vergütung94· 95 . Diese ist nach den im dritten Kapitel unter A.II. dargestellten Grundsätzen zu ermitteln.

IV.§ 138 BGB als taugliches Instrument zur Setzung von Mindestarbeitsbedingungen ? § 138 BGB dient nicht der Durchsetzung der Sittlichkeit im Sinne einer positiven Verwirklichung ethischer Forderungen, sondern spricht nur negativ solchen Rechtsgeschäften die Wirksamkeit ab, die im Widerspruch zu den Grundprinzipien unserer Rechts- und Sittenordnung stehen96. Im Rahmen der Priifung des § 138 BGB auf seine Geeignetheit zur Setzung von Mindestarbeitsbedingungen ist das Wort Grundprinzipien besonders zu betonen. Denn nicht jedes Rechtsgeschäft, das als unsittlich bezeichnet werden kann, ist wegen Verstoßes gegen § 138 BGB nichtig. § 138 BGB erfaßt nur die evidenten Fälle97 . Lediglich unangemessene oder unbillige Rechtsgeschäfte, die die Schwelle der Sittenwidrigkeit bzw. des Wuchers nicht überschreiten, verstoßen nicht gegen § 138 BGB98 . Unbillige Arbeitsbedingungen bewegen sich deshalb typischerweise 92 Sack, RdA 1975, S. 171, 176 f.; Lieb, ZfA 1996, S. 319, 346; BAG MDR 1960, S. 612 f.; BAG AP Nr. 33 zu§ 138 BGB; BAG NZA 1987, S. 445,447. 93 Auch außerhalb des Arbeitsrechts ist vermehrt zu beobachten, daß an diesem Grundsatz von Fall zu Fall nicht festgehalten wird, vgl.: MüKo/ Mayer-Maly, BGB, § 138 Rdn. 135 ff.; BGHZ 44, S. 158, 162. 94 Errnan/ Hanau, BGB, § 612 Rdn. 21; Kreutz, SAE 1974, S. 35, 36; BAG AP Nr. 2 zu § 138 BGB; BAG MDR 1960, S. 612 f.; BAG DB 1991 , S. 391; a.A.: Sack, RdA 1975, s. 171, 178. 95 Sollten andere· Arbeitsbedingungen wegen Verstoßes gegen § 138 BGB nichtig sein, schuldet der Arbeitgeber grundsätzlich angemessene Arbeitsbedingungen. 96 Errnan/ Brox, BGB, § 138 Rdn. 1. 97 Flume, BGB AT, S. 365; Fastricht, RdA 1997, S. 65,67 f. 98 Sack, RdA 1975, S. 171, 176.

C. Die Vorschrift des§ 138 BGB

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unterhalb der Schwelle des § 138 BGB. Damit ist§ 138 BGB nicht zur Verhinderung und Bekämpfung lediglich unbilliger Arbeitsbedingungen geeignet. Unzumutbare Arbeitsbedingungen überschreiten hingegen regelmäßig die Schwelle der Unangemessenheit bzw. Unbilligkeit zur Sittenwidrigkeit Sie verstoßen typischerweise gegen die guten Sitten. Zur Verhinderung bzw. Bekämpfung unzumutbarer Arbeitsbedingungen ist§ 138 BGB deshalb geeignet. Die Grenzziehung zwischen unangemessenen bzw. unbilligen Arbeitsbedingungen einerseits und sittenwidrigen oder wucherischen Arbeitsbedingungen andererseits kann im Einzelfall schwierig sein und ist für die Parteien nicht immer vorhersehbar. Dies zeigen auch die in diesem Kapitel unter C.l.3. skizzierten Fallbeispiele. Hierfür ursächlich ist die im Widerstreit zum Postulat der Rechtssicherheit stehende Unbestimmtheit des § 138 BGB, die dem richterlichen Ermessen einen weiten Spielraum gewährt99. Dies birgt erhebliche Unsicherheitsmomente für die Rechtsanwender in sich. Denn sie können nicht genau wissen, unter welcher Schwerpunktsetzung das angerufene Gericht die Generalklausel des Absatzes I bzw. den Wuchertatbestand des Absatzes 2 ausfüllen wird. Für das Rechtsgebiet des Arbeitsrechts hat § 138 BGB seit Inkrafttreten des BGB an Bedeutung verloren. Früher war § 138 BGB oft das einzige Mittel, um einem Arbeitnehmer den erforderlichen Schutz zu gewähren, so daß mitunter in weitem Umfang ein Sittenverstoß bejaht wurde 100 . Inzwischen wurden durch die Gesetzgebung zwingende Sonderregelungen zum Schutz der Arbeitnehmer erlassen, die sich auf die Anwendung des§ 138 BGB auswirken 101 • Gegenüber Arbeitsbedingungen kommt§ 138 BGB deshalb nur noch als Grundlage einer begrenzten Inhaltskontrolle in Betracht 102• Im Rahmen der Thematik dieser Arbeit hat § 138 BGB insbesondere noch für die Verhinderung sittenwidriger Entgelte Bedeutung. Zur Unterbindung sittenwidriger Urlaubsansprüche oder sittenwidriger Arbeitszeitgestaltungen ist § 138 BGB hingegen nicht von Relevanz. Die Mindesturlaubsansprüche der Arbeitnehmer sind im BUrlG und die maximalen Arbeitszeiten sind im ArbZG gesetzlich geregelt. Treffen die Vertragsparteien von den Vorschriften des BUrlG oder des ArbZG zu ungunsten der Arbeitnehmer abweichende Vereinbarungen, sind diese wegen Verstoßes gegen § 134 BGB - gesetzliches Verbot nichtig. Ein Rückgriff auf § 138 BGB ist nicht erforderlich. Innerhalb der klassischen, typischerweise durch Tarifverträge geregelten, Arbeitsbedingungen ist § 138 BGB damit insbesondere für die Höhe der Mindestentgelte von Bedeutung. Ist eine Entgeltvereinbarung wegen Verstoßes gegen § 138 BGB nichtig, setzt das angerufene Gericht eine für die Vertragsparteien verbindliche Vergütungshöhe fest. Der damit verbundene Eingriff in die Vertragsfreiheit und die Privatautonomie der Arbeitsvertragsparteien ist hinzunehmen. Im Fall einer sittenwidrigen EntgeltFlume, BGB AT, S. 365; Teubner; Genera1klause1n, S. 42. Soerge1/ Hefermehl, BGB, § 138 Rdn. 153. 101 Soergel/ Hefermehl, BGB, § 138 Rdn. 153- z. B.: KSchG, BUr!G, ArbZG. 102 MüKo/ Mayer-Maly, BGB, § 138 Rdn. 82.

99

100

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3. Kap.: Unmittelbar geltende Mindestarbeitsbedingungen

regeJung ist die Ordnungsfunktion der Privatautonomie offensichtlich beeinträchtigt103. Der Eingriff ist zum Ausgleich der sittenwidrigen Disparitäten erforderlich. Die vom Gericht festgesetzte Vergütung ist gemäß § 612 II BGB die übliche Vergütung. Diese ist regelmäßig mit der angemessenen Vergütung identisch 104• Dies kann zu partiellen Unbilligkeiten führen. Die unangemessene Vergütungsregelung des Arbeitnehmers A, die oberhalb der Schwelle der Sittenwidrigkeit liegt, verstößt nicht gegen § 138 BGB und ist wirksam. Die unangemessene Vergütungsregelung des Arbeitnehmers B, die unterhalb der Schwelle der Sittenwidrigkeit bzw. des Wuchers liegt, ist wegen Verstoßes gegen§ 138 BGB nichtig. In diesem Beispiel erhält Arbeitnehmer A weiterhin eine unangemessene Vergütung, während Arbeitnehmer B über§ 612 II BGB die übliche, sprich eine angemessene Vergütung erhält. Letztendlich steht der sittenwidrig behandelte Arbeitnehmer besser als der lediglich unangemessen behandelte Arbeitnehmer. Dieser Unterschied im Ergebnis ist jedoch hinzunehmen. Würde man den gegen § 138 BGB verstoßenden Arbeitgeber lediglich verpflichten, seinen Arbeitnehmern ein gerade noch zulässiges Entgelt zu zahlen, würde man den Sittenverstoß nicht sanktionieren. Die Arbeitgeber könnten gefahrlos sittenwidrige Entgelte vereinbaren, müßten sie doch lediglich befürchten, daß diese auf das niedrigste mögliche Maß angehoben würden. Eine Anhebung auch lediglich unbilliger Vergütungen auf das übliche Maß scheidet hingegen aus. Nicht jedes Rechtsgeschäft, das als unsittlich bezeichnet werden kann, ist wegen Verstoßes gegen § 138 BGB nichtig. § 138 BGB erfaßt nur die evidenten Fälle 105. Diese Zurückhaltung ist funktionsnotwendig. Jeder staatliche Eingriff schränkt die Vertragsfreiheit und die Privatautonomie ein. Privatautonomie beruht auf dem Grundsatz der Selbstverantwortung. Aus dieser kann der Vertragspartner ohne Zerstörung der Funktionsbedingungen der Privatautonomie nicht allein mit dem Argument, die vertragliche Regelung sei unangemessen, entlassen werden. Wer nicht zu unbilligen Vertragsbedingungen kontrahieren will, muß auf den Vertragsschluß verzichten und gegebenenfalls einen anderen Vertragspartner suchen, der günstigere Bedingungen bietet. Er kann nicht stattdessen den Vertrag abschließen und sich dann bei Gericht über die Konditionen beschweren 106. Die Privatautonomie wird nur durch den Extremfall der Sittenwidrigkeit begrenzt. In einer marktwirtschaftliehen Wirtschaftsordnung, in der der Staat auf die Festlegung gerechter Vertragsbedingungen weitgehend verzichtet, diese sich vielmehr nach Angebot und Nachfrage auf dem Markt richten, ist dies immanent 107 . Fastricht, RdA 1997, S. 65, 80. Vgl.: A.ll. (drittes Kapitel). 105 Flume, BGB AT, S. 365; Fastricht, RdA 1997, S. 65, 67 f. 106 Fastricht, RdA 1997, S. 65, 68. 107 Kreutz, SAE 1974, S. 35, 37- Für das Rechtsgebiet des Arbeitsrechts gilt dies nur eingeschränkt. Hier hat der Staat durch das BUr!G, das ArbZG und das KSchG wesentliche Teile der Arbeitsbedingungen einseitig zwingend geregelt. Auf die Festlegung eines gerechten Entgeltes hat der Staat jedoch verzichtet. 103

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D. Die Vergütungsregelung des § lO BBiG

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§ 138 BGB ordnet die Nichtigkeit von Arbeitsbedingungen nur im äußersten Fall, der Sittenwidrigkeit, an. Dadurch ist eine unterste Grenze festgesetzt, die nicht unterschritten werden darf.

D. Die Vergütungsregelung des§ 10 BBiG Gemäߧ 10 I S. 1 BBiG muß der Ausbildende dem Auszubildenden eine angemessene Vergütung gewähren. Im Folgenden wird der Begriff der angemessenen Vergütung näher untersucht und geklärt, inwieweit § 10 BBiG zur Verhinderung bzw. Beseitigung unzumutbarer oder unbilliger Arbeitsbedingungen geeignet ist.

I. Adressaten Adressaten der Vorschrift sind der Ausbilder als Schuldner und der Auszubildende als Gläubiger der angemessenen Vergütung. Ausbilder ist gemäß der Legaldefinition des § 3 I BBiG, wer einen anderen zur Berufsausbildung einstellt. Im Umkehrschluß ist Auszubildender, wer zur Berufsausbildung eingestellt ist. Das BBiG - und somit auch § 10 BBiG - gilt jedoch nicht für alle Ausbildungsverhältnisse. Gemäß § 2 I BBiG gilt das Gesetz nicht für Berufsausbildung, die in berufsbildenden Schulen durchgeführt wird, wenn diese den Schulgesetzen der Länder unterstehen. Gemäß § 2 II BBiG gilt das Gesetz ferner nicht ftir die Berufsausbildung in einem öffentlich-rechtlichen Dienstverhältnis und ftir die Berufsausbildung auf Kauffahrteischiffen soweit es sich nicht um Schiffe der kleinen Hochseefischerei oder der Küstenfischerei handelt. Ebenfalls keine Anwendung findet § 10 BBiG auf Fachoberschüler, die in einem Betrieb ein Praktikum absolvieren, da das Praktikum i.d.R. deren Rechtsstatus als Schüler nicht berührt 1• Für Praktikantenverhältnisse i.S.v. § 19 BBiG und Stufenausbildungsverhältnisse i.S.v. § 26 BBiG gilt§ 10 BBiG dagegen im vollem Umfang2 • Auch auf Ausbildungsverhältnisse in über- oder außerbetrieblichen Bildungseinrichtungen findet § 10 BBiG Anwendung3 . Jedoch nicht auf Fortbildungs- und Umschulungsverhältnisse4 , denn das BAG hat den Umschulungsvertrag nicht mit einem Berufsausbildungsvertrag gleichgesetzt5 . Natzel, Berufsausbildungsrecht, S. 225. Frädrich, Berufsausbildungsverhältnis, S. 113; Natzel, a. a. 0.; Herken, BBiG, § lO Rdn. 9; Schieckel/Oestreicher, BBiG, § 19 Rdn. 2; Schmidt, BB 1971, S. 313 ff.; Stuhrl Stuhr; BB 1981, S. 916,918 f . 3 Herken, BBiG, § 10 Rdn. 6; Frädrich, Berufsausbildungsverhältnis, S. II f.; Wohlgemuth, BBiG, § 10 Rdn. 1. 4 Natzel, a. a. 0.; Frädrich, Berufsausbildungsverhältnis, S. 115 ff. 5 BAG AP Nr. 2 zu § 611 BGB Ausbildungsbeihilfe. I

2

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3. Kap.: Unmittelbar geltende Mindestarbeitsbedingungen

Weiter wird vertreten, § 10 BBiG gelte nicht für staatlich nicht anerkannte Ausbildungsberufe (z. B.: Tanzlehrer, Mannequin, Reisebegleiter) 6 . Dem kann nicht zugestimmt werden 7 . Eine derartige Einschränkung des Anwendungsbereiches ist dem Gesetz nicht zu entnehmen. § 28 II BBiG untersagt nur für Jugendliche unter 18 Jahren die Ausbildung in nicht anerkannten Ausbildungsberufen. Darüber hinaus ist sie erlaubt. Zudem sind Auszubildende, die staatlich nicht anerkannte Berufe erlernen nicht weniger schutzbedürftig, als die Auszubildenden, die staatlich anerkannte Berufe erlernen. Hätte der Gesetzgeber eine derartige Differenzierung vornehmen wollen, hätte er dies ausdrücklich nonnieren müssen.

II. Angemessene Vergütung(§ 10 I S. 1 BBiG) Der Ausbilder muß dem Auszubildenden eine angemessene Vergütung gewähren(§ 10 I S. 1 BBiG). Der Begriff der angemessenen Vergütung wird vom Gesetz nicht näher erläutert. Es handelt sich um einen unbestimmten Rechtsbegriff der der Auslegung bedarfl. Ausgangspunkt bei der Auslegung des Begriffs der angemessenen Vergütung muß der Sinn und Zweck der Vorschrift sein. Nach allgemeiner Auffassung verfolgt die Vergütungsregelung des § 10 BBiG verschiedene Zwecke. Sie soll eine gewichtige und fühlbare Unterstützung zum Lebensunterhalt des Auszubildenden sein, d. h. zur Bestreitung der Lebenshaltungskosten beitragen9 . In der Begründung des Gesetzentwurfes heißt es hierzu: "Dem Auszubildenden (bzw. dessen Eltern) soll zur Durchführung der Berufsausbildung eine finanzielle Hilfe gesichert ... werden." 10• Daneben hat die Ausbildungsvergütung in gewissem Umfang auch Natzel, a. a. 0. ebenso: Herkert, BBiG, § 10 Rdn. 2b; Wohlgemuth, BBiG, § 10 Rdn. 7; LAG Frankfurt EzB Nr. 43 zu§ 10 I BBiG. s Herkert, BBiG, § 10 Rdn. 4; Götz, Berufsbildungsrecht, Rdn. 249; Weber, BBiG, § 10 Rdn. 2; Francke, Berufsausbildung, S. 198; Natzel, Berufsausbildungsrecht, S. 230; ders., DB 1992, S. 1521, 1526. 9 Götz, Berufsbildungsrecht, Rdn. 246; Francke, a. a. 0.; Gridl/Reichel, Ausbilder, S. 240; Frädrich, Berufsausbildungsverhältnis, S. 79; Weber, a. a. 0.; Knopp I Kraegeloh, BBiG, § lO Rdn. 1; Herkert, BBiG, § lO Rdn. 2; Gedon!Spiertz, BBiG, § lO Rdn. 21 ; Schaub, ArbRHB, § 174 V 1; Mundhenke!Hartge!Dästner, Berufsausbildung, S. 28; Hurtebaus, Berufsbildung, S. 103; Wohlgemuth, BBiG, § lO Rdn. 2; BAG EzB Nr. 38 zu § lO BBiG; OVG Lüneburg, EzB Nr. 25 zu§ 10 I BBiG; a.A.: Natzel, DB 1992, S. 1521, 1526 f., der meint, die finanzielle Hilfe betreffe nur die Durchführung der Berufsausbildung. Diese spiele sich in der Ausbildungsstätte ab und nicht im privaten Bereich des Auszubildenden. Lebenshaltung betreffe jedermann, Berufsausbildung nur die Parteien des Berufsausbildungsverhältnisses. Dem ist zu entgegnen, daß in der Begründung des Gesetzentwurfes an anderer Stelle ausdrücklich auf die wirtschaftlichen Bedürfnisse der Auszubildenden abgestellt wird - vgl.: D.III. (drittes Kapitel). 10 BT-Ds 5 I 4260, S. 9. 6 7

D. Die Vergütungsregelung des§ 10 BBiG

191

Entgeltcharakter für die von dem Auszubildenden erbrachte Arbeitsleistung 11 • In der Begründung des Gesetzentwurfes wird ausgeführt: ,,Sie (Die Vergütung) ist ... auch aus arbeitsrechtlichen Gesichtspunkten der Entlohnung gerechtfertigt." 12. Weiter soll mit der Vergütung die Heranbildung eines ausreichenden Nachwuchses an qualifizierten Facharbeitern und Angestellten gewährleistet werden 13 • Dieses rechtspolitische Element 14 ist für unsere Überlegungen nicht von primärem Interesse. Maßgeblich ist, daß die Vergütung ein ausbildungsbezogenes und ein leistungsbezogenes Element enthält. Sie ist somit kein Arbeitsentgelt, kein Lohn oder Gehalt 15 • Eine Vergütung ist deshalb als angemessen anzusehen, wenn sie das von Ort zu Ort unterschiedliche Mindestmaß einer Hilfe zur Bestreitung der Lebenshaltungskosten (nicht ihre Deckung) gewährleistet und zugleich Mindestentlohnung für die vom Auszubildenden erbrachte Leistung darstellt 16. Darüber, welche Vergütung im Einzelfall als angemessen anzusehen ist, gehen die Auffassungen in Rechtsprechung und Schrifttum auseinander. Die Rechtsprechung und die meisten Autoren versuchen sich dem Begriff der "angemessenen Vergütung" durch eine Bezugnahme auf einschlägige oder verwandte Tarifverträge anzunähern. So soll die in einem Tarifvertrag enthaltene Vergütungsregelung grundsätzlich auch für die nicht tarifgebundenen Auszubildenden als angemessen anzusehen sein 17 • Andere meinen, die Ausbildungsvergütung könne die tarifliche Vergütung um lO% unterschreiten 18 . Weiter wird vertreten, jedenfalls eine Unterschreitung von mehr als 20% sei unangemessenen 19 • Das BAG entschied im Fall einer Hebarnmenschülerin, für die keine entsprechende tarifliche Regelung bestand sogar, daß eine um 25% niedrigere Vergütung als die einer Lernschwester nicht unangemessen ist20. 11 Francke, a. a. 0.; Weber, a. a. 0.; Herkert, BBiG, § 10 Rdn. 2; Frädrich, a. a. 0.; GedoniSpiertz, BBiG, § 10 Rdn. 21; Götz, a. a. 0.; KnoppiKraegeloh, a. a. 0.; Gridl!Reichel, a. a. 0.; Schaub, a. a. 0 .; Hurlebaus, a. a. 0 .; Wohlgemuth, a. a. 0 .; BAG EzB Nr. 31, 38 zu § 10 I BBiG; a.A.: Natzel, DB 1992, S. 1521, 1526. 12 BT-Ds, a. a. 0. 13 BT-Ds, a. a. 0.; Gridl/Reichel, a. a. 0.; Schaub, a. a. 0.; Natzel, Berufsbildungsrecht, S. 230; ders., DB 1992, S. 1521, 1524; MundhenkeiHartgeiDästner, Berufsausbildung, S. 28; Wohlgemuth, a. a. 0.; Hurlebaus, a. a. 0. 14 Natzel, DB 1992, S. 1521, 1524. 15 Natzel, Berufsbildungsrecht, S. 227; ders., DB 1992, S. 1521, 1523 f.,; Götz, Berufsbildungsrecht, Rdn. 246; Mundhenke I HartgeI Dästner, Berufsausbildung, S. 28; Wohlgemuth, a.a.O. 16 Weber, a. a. 0.; Herkert, BBiG, § 10 Rdn. 3; GedoniSpiertz, BBiG, § 10 Rdn. 21; BAG EzB Nr. 38 zu§ 10 BBiG; OVG Lünebürg EzB Nr. 25 zu§ 10 I BBiG. 17 Gridl/ Reiche/, Ausbilder, S. 240; Natzel, Berufsbildungsrecht, S. 230; Götz, Berufsbildungsrecht, Rdn. 250; KnoppiKraegeloh, BBiG, § 10 Rdn. 2; Weber. a. a. 0.; Francke, a. a. 0 .; BAG DB 1985, S. 51. 18 Gridl/Reichel, Ausbilder, S. 241; Herkert, BBiG, § 10 Rdn. 5; VerwG Gelsenkirchen EzB Nr. 7 zu § 10 I BBiG. 19 GridliReichel, a. a. 0.; GedoniSpiertz, BBiG, § 10 Rdn. 31; VG Oldenburg GewA 1977, S. 151; OVG Lüneburg EzB Nr. 25 zu§ 10 I BBiG; BAG DB 1991, S. 1524.

192

3. Kap.: Unmittelbar geltende Mindestarbeitsbedingungen

Für den Fall des Fehlens einer tariflichen Regelung werden unterschiedliche Vorschläge zur Ermittlung der angemessenen Vergütung angeboten. Es wird vorgeschlagen, auf die branchenüblichen Sätze21 bzw. die regional branchenüblichen Sätze22 zurückzugreifen. Einige meinen, von diesen dürfte abgewichen werden, eine Abweichung von mehr als 20% sei jedoch unzulässig23 . Andere meinen, man solle sich an den tariflichen Festlegungen für vergleichbare Ausbildungsverhältnisse orientieren24 oder die Vergütung habe entsprechend der Verkehrsauffassung des betreffenden Industriezweiges zu erfolgen25 . Auch wird gefordert, die von den Handwerkskammern oder Innungen herausgegebenen Empfehlungen zur Ermittlung der angemessenen Vergütung heranziehen 26. Eine Mindermeinung will auch subjektive Kriterien, wie Art und Umfang des Betriebes und die persönlichen Verhältnisse des Auszubildenden, berücksichtigen27 . Der Vorgehensweise der h.M. und der Rechtsprechung, bei der Ermittlung dessen, was im Einzelfall angemessen ist, zunächst auf den maßgeblichen Tarifvertrag abzustellen, ist im Grundsatz zuzustimmen. Tarifvertragliche Vergütungsregelungen bieten auf Grund der Tatsache, daß sie von gleichgewichtigen Tarifpartnern ausgehandelt wurden und die Belange und Interessen beider Seiten in den Tarifvertrag eingeflossen sind, grundsätzlich die Gewähr für die Angemessenheit der Vergütungzs.z9.

BAG GewA 1987, S. 85. Natzel, Berufsbildungsrecht, S. 230; ders., DB 1992, S. 1521, 1527; Wohlgemuth, BBiG, § 10 Rdn. 5; BAG DB 1985, S. 51. 22 VerwG Oldenburg EzB Nr. 9 zu § 10 I BBiG. 23 Knigge, AR-Blattei, II C 7; Gridl/Reichel, Ausbilder, S. 241; Natzel, DB 1992, S. 1521, 1525 f.; Wohlgemuth, a. a. 0. 24 Gridl/Reichel, a. a. 0.; Weber. BBiG, § 10 Rdn. 2; Francke, Berufsausbildung, S. 198; Götz, Berufsbildungsrecht, Rdn. 250; ArbG Bochum DB 1982, S. 1675; VerwG SchleswigHolstein GewA 1974, S. 348. 25 Weber. BBiG, § 10 Rdn. 2; Francke, a. a. 0 .; Natzel, Berufsbildungsrecht, S. 230; ders., DB 1992, S. 1521, 1527; Bayer. VerwG EzB Nr. 10 zu § 10 I BBiG; VGH München DVBI. 1976, S. 722; VerwG Düsseldorf EzB Nr. 27 zu § 10 I BBiG; BAG DB 1985, S. 51. 26 Knopp/Kraegeloh, BBiG, § 10 Rdn. 2; Gedon/Spiertz. BBiG, § 10 Rdn. 24; Götz, a. a. 0.; BAG, BB 1962, S. 639; LAG Hanun DB 1983, S. 400; BAG DB 1985, S. 51. 27 Schieckel/Östreicher. BBiG, § 10 Rdn. la. 28 Götz, Berufsausbildungsrecht, Rdn. 250; Weber. BBiG, § 10 Rdn. 2; ArbG Bochum DB 1982, s. 1675. 29 Aufrund der tatsächlichen Unterschiede der tariflichen Vergütungen in den einzelnen Ausbildungsberufen, scheinen jedoch auch Zweifel daran angebracht, daß jede tarifliche Regelung stets als angemessen anzusehen ist. So bekamen 1991 Herrenschneiderlehrlinge eine monatliche Vergütung von 260,00 DM, Damenschneiderlehrlinge von 281 ,00 DM, Bankkaufleute erhielten 1.011,00 DM, Lehrlinge im Bauhauptgewerbe 1.322,00 DM, Binnenschiffer 1.538,00 DM und Gerüstbauerauszubildende sogar 1.581,00 DM (vgl.: Natzel, DB 1992, S. 1521, 1525). Ob sich diese Differenzierungen in vollem Umfang mit den branchenspezifischen Unterschieden rechtfertigen lassen, erscheint fraglich. 2o

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D. Die Vergütungsregelung des § 10 BBiG

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Auf die nicht tarifgebundenen Parteien eines Ausbildungsvertrages können diese Regelungen jedoch nicht 1 : l übertragen werden. Nichttarifgebundene Ausbilder und Auszubildende können von den tarifvertragliehen Regelungen abweichen. Wäre dies nicht möglich, würde der persönliche Geltungsbereich der Tarifverträge auch auf bisher nicht erfaßte Personen ausgeweitee0 . Die negative Koalitionsfreiheit (Art. 9 III GG) und die Vertragsfreiheit (Art. 2 I GG) der Ausbilder und der Auszubildenden wären verletzt 31 • Wieviel die Vergütung im Einzelfall nach unten abweichen darf, ist anband des Sinns und Zwecks der Vergütung zu ermitteln. Die z.T. vorgeschlagenen starren Grenzen, können nicht rational begrundet werden und sind deshalb, obwohl für sie das Gebot der Klarheit spricht32, abzulehnen. Eine direkte Bezugnahme auf die Ausführungen zu den anderen im zweiten und dritten Kapitel dargestellten Normen scheidet ebenfalls aus, weil die Ausbildungsvergütung eben gerade kein Lohn oder Entgelt ist. Ein Vergleich ist aber dennoch hilfreich. Die Vorschriften der §§ 1 II lit. b, 4 IV MindArbBG, 92a HAG sollen durch Setzung einer untersten bzw. unteren Grenze lediglich dazu beitragen, die notwendigen sozialen und wirtschaftlichen Bedürfnisse der Arbeitnehmer (bzw. der Handelsvertreter) zu befriedigen. § lO BBiG will hingegen, im Rahmen seines vom Arbeitsentgelt verschiedenen Zwecks, eine angemessene Vergütung gewähren. Bereits die im allgemeinen Sprachgebrauch für das Wort angemessen verwandten Synonyme wie sachgemäß, entsprechend, angebracht, adäquat gebührend, gerecht, gleichwertig, passend, richtig, stimmig und treffend verdeutlichen, daß der Begriff angemessen nicht eine gerade noch mögliche untere Grenze der Vergütung meint, sondern eine verkehrsübliche Vergütung. Insoweit ist § lO I BBiG im Rahmen seines vom Arbeitsentgelt verschiedenen Zwecks mit den Vorschriften der §§ 19 ff. HAG, 1 Illa AEntG vergleichbar. Zur Ermittlung der angemessenen Vergütung können deshalb auch die im zweiten Kapitel unter B.l.4. gemachten Ausführungen herangezogen werden. Fehlt ein einschlägiger Tarifvertrag, so ist zunächst auf die Vergütungsregelung eines in fachlicher, räumlicher und gewerblicher Hinsicht verwandten Tarifvertrages abzustellen. Auch ein solcher Tarifvertrag bietet eine gewisse Gewähr für eine angemessene Vergütungsregelung. Von dieser Vergütungsregelung darf aus den soeben genannten Griinden abgewichen werden. Da die Vergütungsregelungen des verwandten Tarifvertrages nicht für das zu beurteilende Ausbildungsverhältnis normiert wurden, sind hiervon auch stärkere Abweichungen als von den Regelungen eines einschlägigen Tarifvertrages zulässig. Sollte kein vergleichbarer Tarifvertrag bestehen, so ist die angemessene Vergütung anband der ortsüblichen Verkehrsanschauung zu ermitteln. Hierbei kann nicht auf die von Handwerkskammern oder Innungen herausgegebenen Empfehlungen zuriickgegriffen werden. Diese Institutionen haben keine Be30 31 32

Zu diesem Problem vgl. auch: A. (drittes Kapitel). OVG Oldenburg GewA 1977, S. 151. Natzel, a. a. 0 .

13 Andelewski

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3. Kap.: Unmittelbar geltende Mindestarbeitsbedingungen

fugnis, Vergütungen mit dem Anspruch auf Angemessenheit festzusetzen 33 . Zudem lastet auf solchen Empfehlungen die Hypothek der Einseitigkeit. Bei der Ermittlung der Höhe der angemessenen Vergütung müssen subjektive Kriterien des Auszubildenden und des Ausbilders unberücksichtigt bleiben34• Diese stehen in keinem unmittelbaren Zusammenhang mit der Durchführung des Ausbildungsverhältnisses. Bei der Berücksichtigung subjektiver Umstände des Ausbilders besteht zudem die Gefahr, daß die Höhe der Ausbildungsvergütung von der wirtschaftlichen Situation des Ausbilders abhängig gemacht wird.

111. Lebensalter und jährlicher Anstieg (§ 10 I S. 2 BBiG) Die Ausbildungsvergütung ist gemäß § 10 I S. 2 BBiG nach dem Lebensalter des Auszubildenden so zu bemessen, daß sie mit fortschreitender Berufsausbildung, mindestens jährlich, ansteigt. Die Regelung geht davon aus, daß mit fortschreitendem Alter des Auszubildenden und mit fortschreitender Ausbildung die wirtschaftlichen Bedürfnisse des Auszubildenden steigen und die Arbeitsleistungen des Auszubildenden für den Ausbildenden wirtschaftlich wertvoller werden35 . Sie schreibt deshalb einen mindestens jährlichen Anstieg der Ausbildungsvergütung vor. Berechnungsbasis ist das Lebensalter bei Ausbildungsbeginn. Die Bildung von Kategorien für mehrere Ausbildungsjahre, z. B.: Minderjährige, l8-20jährige, ist möglich 36. Die Anhebungsintervalle müssen sich am Berufsausbildungsjahr und nicht am Kaiendeijahr oder dem Lebensjahr des Auszubildenden orientieren, denn § 10 I S. 2 BBiG stellt auf den Ausbildungsstand des Auszubildenden ab37 • Wird die Ausbildung gemäߧ 14 III BBiG (Nachlehre) oder§ 29 III BBiG (Antrag des Auszubildenden) verlängert, muß während dieses Zeitraumes die Ausbildungsvergütung nicht erhöht werden38 . Hier beruht der Eintritt des neuen Berufsausbildungsjahres entweder auf dem Nichtbestehen der Abschlußprüfung oder ist 33

Wohlgemuth, BBiG, § 10 Rdn. 5; Schaub, ArbRHB, § 174 V 1; Natzel, DB 1992,

s. 1521, 1527.

Natzel, DB 1992, S. 1521, 1526. BT-Ds 5/4260, S. 9; Götz, Berufsbildungsrecht, Rdn. 252; Gedon/Spiertz, BBiG, § 10 Rdn. 33; Natzel, Berufsbildungsrecht, S. 232; Schaub, a. a. 0 .; Weiss/Marx, ArbuR 1982, S. 329, 331; Hurlebaus, Berufsbildung, S. 103; Wohlgemuth, BBiG, § 10 Rdn. 7. 36 Gedon/ Spiertz, BBiG, § 10 Rdn. 34. 37 Mundhenke I HartgeI Dästner, Berufsausbildung, S. 28; Götz, Berufsbildungsrecht, Rdn. 254; Natzel, Berufsbildungsrecht, S. 232; Knopp/ Kraegeloh, BBiG, § 10 Rdn. 2; Gedon/Spiertz, BBiG, § 10 Rdn. 35. 38 BT-Ds 5/4260, S. 9; Herkert, BBiG, § 10 Rdn. 8; Götz, Berufsbildungsrecht, Rdn. 265 f.; Gedon/Spiertz, BBiG, § 10 Rdn. 40; Natzel, Berufsbildungsrecht, S. 236; Weber, BBiG, § 10 Rdn. 5; Wohlgemuth, BBiG, § 10 Rdn. 7 f. 34

35

D. Die Vergütungsregelung des § 10 BBiG

195

erforderlich, damit der Auszubildende das Ausbildungsziel erreichen kann. In diesen Fällen hat der Auszubildende den vom Ausbildungsplan geforderten Stand der Ausbildung noch nicht erreicht. Es liegt keine fortschreitende Berufsausbildung vor39. Eine Rückstufung in der Vergütung soll jedoch nicht zulässig sein40. Wird die Ausbildungszeit verkürzt, weil gemäß § 29 I BBiG der Besuch einer berufsbildenden Schule bzw. eine bereits absolvierte Ausbildung auf die Ausbildungszeit ganz oder teilweise angerechnet wird, so ist die angerechnete Zeit vergütungsmäßig als zurückgelegte Ausbildungszeit zu werten, denn § 29 I BBiG geht davon aus, daß bestimmte Ausbildungsinhalte dem Auszubildenden bereits vermittelt wurden. Deshalb erhält z. B. ein Auszubildender, dem ein ganzes Jahr angerechnet wird, am Beginn der Ausbildung die für das zweite Jahr vorgesehene Vergütung41. Die Anrechnung einer Vorbildung i.S.v. § 29 I BBiG setzt aber stets eine berufsbezogene Unterrichtung bzw. Ausbildung voraus. Auszubildenden mit Abitur oder Realschulabschluß müssen deshalb unter dem Gesichtspunkt der §§ 10 I S. 2, 19 I BBiG keine höheren Vergütungen gewährt werden42. Ist zu erwarten, daß der Auszubildende das Ausbildungsziel in kürzerer Zeit erreicht, kann die Ausbildungszeit gemäß § 29 II BBiG verkürzt werden. Dies führt jedoch nicht zu einer vorzeitigen Anhebung der Ausbildungsvergütung, denn die Ausbildungsinhalte ändern sich nicht43 . Dem Auszubildenden werden die Ausbildungsinhalte lediglich in konzentrierter Form vermittelt. Der Auszubildende tritt im Unterschied zur Anrechnung gemäß § 29 I BBiG- jedoch nicht in ein bereits fortgeschrittenes Berufsausbildungsverhältnis ein44 . Die Verkürzung beruht lediglich auf einer für die Zukunft gehegten Erwartung, der Auszubildende werde das Ausbildungsziel in einer kürzeren Zeit als nach der Ausbildungsordnung vorgesehen, erreichen45 .

BT-Ds, a. a. 0 .; Götz, a. a. 0.; Natzel, a. a. 0.; Herkert, a. a. 0. Götz, Berufsbildungsrecht, Rdn. 262; Herkert, BBiG, § 10 Rdn. 7c; Gedon/Spiertz, BBiG, § 10 Rdn. 40; Hurlebaus, Berufsbildung, S. 106; BAG EzB Nr. 22 zu § 10 I BBiG; LAG Berlin EzB Nr. 7 zu§ 14 III BBiG. 41 Weber, BBiG, § 10 Rdn. 4; Francke, Berufsausbildung, S. 199; Natzel, Berufsbildungsrecht, S. 234; Gedon/Spiertz, BBiG, § 10 Rdn. 36; Götz, Berufsbildungsrecht, Rdn. 262; Herkert, BBiG, § to Rdn. 7a; Wohlgemuth, BBiG, § 10 Rdn. 8; Hurlebaus, Berufsbildung, S. 105; BAG EzB Nr. 28,29 zu§ to I BBiG; LAG DüsseldorfEzB Nr. 61 zu§ 10 I BBiG. 42 Gedon/Spiertz, BBiG, § 10 Rdn. 39; Herkert, BBiG, § 10 Rdn. 7d; Weber, a. a. 0. 43 Für den Fall, daß die Ausbildungszeit von drei auf zwei Jahre verkürzt wird, d. h. der Bildungsstoff z. B. für Abiturienten von drei auf zwei Jahre verdichtet wird, wird es z.T. für richtig erachtet, die Vergütungen in kürzeren Intervallen ansteigen zu lassen, so daß diese Auszubildenden auch noch in den Genuß der höchsten Vergütungsstufe kommen - Herkert, BBiG, § 10 Rdn. 7e; Francke, Berufsausbildung, S. 200; Weber, a. a. 0.; Wohlgemuth, BBiG, § 10 Rdn. 8. 44 Götz, Berufsbildungsrecht, Rdn. 263; Gedon/Spiertz, BBiG, § 10 Rdn. 39; Herkert, BBiG, § 10 Rdn. 7d; Francke, Berufsausbildung, S. 199. 45 Natzel, Berufsbildungsrecht, S. 234; Hurlebaus, a. a. 0. 39

40

196

3. Kap.: Unmittelbar geltende Mindestarbeitsbedingungen

Auch eine vorzeitige Zulassung zur Abschlußprüfung gemäß § 40 I BBiG führt nicht zu einer vorzeitigen Anhebung der Ausbildungsvergütung. Zwar führt auch das vorzeitige Ablegen der Abschlußprüfung zu einer Verkürzung der Ausbildungszeit, das Ausbildungsverhältnis endet jedoch mit Bestehen der Abschlußprüfung (§ 14 II BBiGt6 . In Ermangelung eins Ausbildungsverhältnisses kann die Vergütung dann nicht mehr angehoben werden.

IV. Anrechnung von Sachleistungen (§ 10 II BBiG) Soweit die Ausbildungsvergütung in Sachleistungen gewährt wird, können diese gemäߧ lO II BBiG mit maximal 75% der Bruttovergütung angerechnet werden. Die Vorschrift gibt dem Ausbilder kein Wahlrecht, ob er die Vergütung in Sachleistungen oder Geld gewährt, sondern eröffnet nur die grundsätzliche Möglichkeit die Vergütung in Sachleistungen zu gewähren. Ob tatsächlich anrechnet werden kann, richtet sich nach den Vereinbarungen im Ausbildungs- oder Tarifvertrag47. Der Wert der Sachbezüge wird gemäß § 17 SGB IV von der Bundesregierung durch die sogenannte Sachbezugsverordnung jährlich im voraus bundeseinheitlich bestimmt. Die hier festgesetzten Sachbezugswerte stellen eine Obergrenze für die Anrechnung dar. Eine niedrigere Anrechnung ist zulässig48 . Die am häufigsten gewährten Sachleistungen sind die zur Verfügungstellung von Wohnung, Heizung, Beleuchtung und Essen49 • Die praktische Bedeutung der Vorschrift dürfte aber eher von abnehmender Tendenz sein, denn sogar im Bereich des Handwerks, wo die häusliche Unterbringung der Auszubildenden früher üblich war50, ist sie es heute nicht mehr. In der Literatur ist zu lesen, den Auszubildenden seien mindestens 25% der Vergütung in bar auszuzahlen51 . Dies ist m.E. nicht nachvollziehbar.§ lO II BBiG eröffnet die Möglichkeit, Sachleistungen bis zu 75% der Bruttoausbildungsvergü-

46 Götz, Berufsbildungsrecht, Rdn. 264; Natzel, Berufsbildungsrecht, S. 235; Weber. BBiG, § 10 Rdn. 4. 47 Weber. BBiG, § 10 Rdn. 6; Herkert, BBiG, § 10 Rdn. 3a; Götz, Berufsbildungsrecht, Rdn. 256; Natzel, Berufsbildungsrecht, S. 238; Hurlebaus, Berufsbildung, S. 107; LAG Niedersachsen, EzB Nr. 1 zu§ 10 I BBiG. 48 Knopp/Kraegeloh, BBiG, § 10 Rdn. 3; Götz, Berufsbildungsrecht, Rdn. 257; Gedon/ Spiertz, BBiG, § 10 Rdn. 48; Natzel, a. a. 0. 49 Natzel, a. a. 0 .; Götz, Berufsbildungsrecht, Rdn. 255; Gedon/Spiertz, BBiG, § 10 Rdn. 47; Wohlgemuth, BBiG, § 10 Rdn. 13. 50 Frädrich, Berufsausbi1dungsverhältnis, S. 15; Natzel, Berufsbildungsrecht, S. 3. 51 Gedon/Spiertz, BBiG, § 10 Rdn. 46; Götz, Berufsbildungsrecht, Rdn. 257; Wohlgemuth, a. a. 0 .

D. Die Vergütungsregelung des § 10 BBiG

197

tung anzurechnen. Sachbezüge sind bei der Lohnsteuer als Arbeitseinkommen und in der Sozialversicherung bei der Beitrags- und Leistungshöhe zu berücksichtigen52. Da das Finanzamt und die Sozialkassen keine Naturalien entgegennehmen, die Steuern und Beiträge also in Geld zu zahlen sind, mindern die Sachleistungen die Bruttoausbildungsvergütung und führen zu einem geringeren Nettobetrag. Dieser kann auch unter 25% liegen53 .

V. Mehrarbeit(§ 10111 BBiG) Nach § 10 III BBiG ist eine über die vereinbarte regelmäßige tägliche Arbeitszeit hinausgehende Beschäftigung besonders zu vergüten oder durch Freizeit auszugleichen. Der Begriff der Beschäftigung ist umfassender als der Begriff der Ausbildung. Der Anspruch auf besondere Vergütung nach Absatz 3 entsteht nicht nur für den Fall einer Verlängerung der täglichen Ausbildung sondern auch, wenn der Auszubildende außerhalb der eigentlichen Ausbildung eingesetzt wird, z. B. als Hilfskraft54. Eine Beschäftigung durch den Ausbildenden liegt jedoch nicht vor, wenn der Auszubildende die Berufsschule besucht oder an Prüfungen teilnimmt55 . Vom zeitlichen Moment aus betrachtet, liegt Mehrarbeit vor, wenn die im Berufsausbildungsvertrag vereinbarte regelmäßige Dauer der täglichen Ausbildungszeit überschritten wird. Unerheblich ist es, ob der Ausbilder vom Auszubildenden die Mehrarbeit auch verlangen durfte56. Die Mehrarbeit ist besonders zu vergüten oder durch Freizeit auszugleichen. Die Entscheidung, welche Alternative anzuwenden ist, ist unter Berücksichtigung der Unternehmerischen Disposition und der persönlichen Interessen des Auszubildenden zu treffen57 . Wird die Mehrarbeit vergütet, stellt sich die Frage nach der Höhe der Vergütung, denn Absatz 3 regelt diese Frage nicht. In der Begründung des Gesetzentwurfes wird hierzu ausgeführt, daß ,.für die Bemessung der Grundsatz des Absatzes 1 Satz 1 maßgebend ist. Dies bedeutet, daß auch die besondere Vergütung für geleistete Überstunden angemessen sein muß."58 . Nach h.M. ist die Mehrarbeitsvergütung 52 Gedon!Spiertz, BBiG, § 10 Rdn. 16 f., 46; Schaub, ArbRHB, § 69 II.; vgl. auch:§§ 8 II 1 EStG, 17 SGB IV. 53 ebenso: Herkert, BBiG, § 10 Rdn. 3. 54 Natzel, Berufsbildungsrecht, S. 239; Götz, Berufsbildungsrecht, Rdn. 260. 55 Gedon!Spiertz, BBiG, § 10 Rdn. 53 f.; Götz, a. a. 0.; Natzel, Berufsbildungsrecht, s. 239 f. 56 Götz, Berufsbildungsrecht, Rdn. 259 f.; Gedon!Spiertz, BBiG, § 10 Rdn. 50; Herkert, BBiG, § 10 Rdn. 10; Knopp! Kraegeloh, BBiG, § 10 Rdn. 5. 57 Gedonl Spiertz, BBiG, § 10 Rdn. 52. 58 BT-Ds 5/4260, S. 9.

13*

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3. Kap.: Unmittelbar geltende Mindestarbeitsbedingungen

dann angemessen, wenn sie einen Zuschlag von 25% zur Ausbildungsvergütung beinhaltet59. Diese Auffassung wird auf§ 15 II AZO gestützt, der regelt(e), daß für Mehrarbeit ein Zuschlag von 25% zu zahlen ist. Soweit keine vorrangige tarifliche Regelung besteht, ist diese Auffassung nach Außerkrafttreten der AZO und Inkrafttreten des ArbZG im Jahre 1994 m.E. nicht mehr zutreffend. Das ArbZG sieht keine Überstundenzuschläge vor. Die Bezahlung regelmäßiger und außerordentlicher Arbeitszeit richtet sich ausschließlich nach den jeweils anwendbaren Tarifverträgen, Betriebsvereinbarungen und Arbeits- bzw. Ausbildungsverträgen. Sieht der Arbeits- oder Ausbildungsvertrag eine bestimmte Bezahlung für eine bestimmte Arbeitszeit vor, ist in Ermangelung einer anderen Vereinbarung zusätzliche Arbeit entsprechend aber nicht höher zu vergüten60• Die zu zahlende besondere Vergütung nach Absatz 3 entspricht deshalb der angemessenen Vergütung des Absatzes 161 • Wird die Mehrarbeit nicht vergütet, ist sie durch Freizeit auszugleichen. Dies bedeutet, daß dem Auszubildenden im Umfang der Mehrarbeit, Freizeit zu gewähren ist. Bei Auszubildenden unter 18 Jahren sind das JArbSchG und das ArbZG zu beachten. Diese Gesetze gehen davon aus, daß die Gesundheit der Arbeitnehmer I Auszubildenden möglichst durch Freizeitausgleich zu schützen ist62.

VI. § 10 BBiG als taugliches Instrument zur Setzung von Mindestarbeitsbedingungen ? Der Gesetzgeber hat in § 10 BBiG normiert, daß die vom Ausbilder zu gewährende Ausbildungsvergütung angemessen sein muß. Der Begriff der Angemessenheil wird - wie dargestellt - von den verschiedenen Zweckrichtungen der Vergütung bestimmt. Die Intentionen der Vergütungsregelung, dem Auszubildenden eine Hilfe zur Bestreitung der Lebenshaltungskosten und eine Mindestentlohnung für eine erbrachte Leistung zu garantieren sowie die Heranbildung eines qualifizierten Nachwuchses sicherzustellen63 , unterscheiden sich stark von den Motiven, die hinter den anderen im zweiten und dritten Kapitel untersuchten Vorschriften stehen. Dies erschwert einen direkten Vergleich des § 10 BBiG mit diesen Normen. Die angemessene Ausbildungsvergütung muß nicht so bemessen sein, daß die Auszubildenden von der Vergütung ihre gesamten Lebenshaltungskosten decken können. Der Begriff der angemessenen Vergütung zwingt den Ausbilder nur, dem 59 Natzel, Berufsbildungsrecht, S. 241; Götz, Berufsbildungsrecht, Rdn. 261; Gedonl Spiertz, BBiG, § 10 Rdn. 51 ; Knopp/Kraegeloh, BBiG, § 10 Rdn. 5. 60 Hanau!Adomeit, Arbeitsrecht, G.II; MüKo/ Schaub, BOB,§ 612 Rdn. 177 ff.; Schaub, ArbRHB, § 69 111; Zöllner/Loritz, ArbR, § 15 113, S. 189; Mückenberger; KJ 1985, S. 255, 265 f. ; Kehrmann, ArbuR 1999, S. 5, 9. 61 so bereits vor lnkrafttreten des ArbZG: Herkert, BBiG, § 10 Rdn. 10a. 62 Gedon/Spiertz, BBiG, § 10 Rdn. 52. 63 Vgl.: 0.11. (drittes Kapitel).

D. Die Vergütungsregelung des§ 10 BBiG

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Auszubildenden eine Hilfe zur Bestreitung der Lebenshaltungskosten zu gewähren64. § 10 BBiG ermöglicht es dem Auszubildenden somit nicht, seinen Lebensunterhalt von der Ausbildungsvergütung zu bestreiten. Die Vergütungen nach§ 10 BBiG können damit niedriger bemessen sein, als die Mindestentgelte nach §§ I II lit. b, 4 IV MindArbBG, 92a HGB. Es erscheint zunächst paradox, eine Vergütung als angemessen zu bezeichnen, die noch unter den Entgelten liegen kann, die zur Befriedigung der notwendigen sozialen und wirtschaftlichen Bedürfnisse der Arbeitnehmer erforderlich erscheinen. Dies erklärt sich jedoch aus dem von den anderen hier untersuchten Vorschriften verschiedenen Zweck des § lO BBiG. Die Ausbildungsvergütung soll zwar wie bei Arbeitnehmern auch Entlohnung für geleistete Arbeit sein, aber eben nicht ausschließlich. Im Vordergrund des Ausbildungsvertrages steht nicht die Erbringung von Arbeit durch den Auszubildenden, sondern sein Bemühen, die Fertigkeiten und Kenntnisse zu erwerben, die erforderlich sind, um das Ausbildungsziel zu erreichen (§ 9 BBiG). Die Angemessenheit der Ausbildungsvergütung wird somit mit anderen Maßstäben geprüft, als die sonstiger Vergütungen. Im Rahmen dieser anderen Maßstäbe schreibt § 10 BBiG vor, daß der Ausbilder dem Auszubildenden eine angemessene Vergütung zu gewähren hat. Bereits die im allgemeinen Sprachgebrauch für das Wort angemessen verwandten Synonyme65 verdeutlichen, daß der Begriff angemessen nicht eine gerade noch mögliche untere Grenze der Vergütung meint, sondern eine verkehrsübliche Vergütung. Insoweit ist § lO I BBiG im Rahmen seines vom Arbeitsentgelt verschiedenen Zwecks mit den Vorschriften der§§ 19 ff. HAG, 1 lila AEntG vergleichbar. Die Vorschrift des§ lO BBiG soll somit nicht nur unzumutbare, sondern auch unbillige Ausbildungsbedingungen verhindern. § 10 BBiG überläßt die Festlegung der Ausbildungsvergütung im einzelnen den Ausbildungs- und Tarifvertragsparteien66. Der Begriff der angemessenen Vergütung schreibt nur die Untergrenze der zu treffenden Vereinbarung fest. Zwar wird hierdurch auch in die Vertragsfreiheit der Parteien des Ausbildungsvertrages und in die Tarifautonomie der Koalitionen eingegriffen67, dieser Eingriff ist aber hinnehmbar, denn § lO BBiG tangiert die Tarifautonomie der Koalitionen nur in einem kleinen Bereich und nicht so stark wie die §§ 5 TVG, 19 ff. HAG, 1 AEntG. Obwohl sich der Begriff der angemessenen Vergütung an vergleichbaren tarifvertragliehen Regelungen orientiert, sind nach Rechtsprechung und h.M. individualvertraglich vereinbarte Ausbildungsvergütungen nicht bereits deshalb unangemessen, weil sie niedriger sind als entsprechende tarifliche Regelungen68 . Dies ermögVgl.: D.II. (drittes Kapitel). z. B.: sachgemäß, entsprechend, angebracht, adäquat, gebührend, gerecht, gleichwertig, passend, richtig, stimmig, treffend. 66 Gedon/Spiertz, BBiG, § 10 Rdn. 20. 67 Vgl.: B. (erstes Kapitel) und B.l. (viertes Kapitel). 68 Vgl.: D.II. (drittes Kapitel). 64

65

200

3. Kap.: Unmittelbar geltende Mindestarbeitsbedingungen

licht es den Parteien des Ausbildungsvertrages, Ausbildungsvergütungen zu vereinbaren, die niedriger sind als die im Tarifvertrag vorgesehenen Vergütungen. Solche niedrigeren Ausbildunsgvergütungen konkurrieren inhaltlich mit den angemessenen Regelungen eines Tarifvertrages. Die Attraktivität einer Gewerkschaftsmitgliedschaft wird dadurch nicht besonders gemindert, denn die Gewerkschaften werden stets versuchen für ihre Mitglieder in Tarifverträgen nicht nur die unterste Grenze der im Rahmen des § l 0 BBiG zulässigen Ausbildungsvergütung zu normieren, sondern wirklich angemessene Ausbildungsvergütungen zu vereinbaren. Auszubildende dürfen nach h.M. nicht streiken69. Damit ist ihnen das ultima ratio zur Durchsetzung von angemessenen Ausbildungsbedingungen verwehrt. Enthält man den Auszubildenden das mächtigste Arbeitskampfmittel vor, so nimmt man ihnen die Möglichkeit, selbst angemessene Arbeitsbedingungen zu erkämpfen. Die gegenüber Arbeitnehmern geschwächte Kampfkraft der Auszubildenden mußte ausgeglichen werden. Dies tat der Staat, indem er normiert hat, daß Auszubildende angemessen zu vergüten sind. Die Regelung des § 10 BBiG ist somit auch unter Paritätsgesichtspunkten geboten. Im Gegensatz zu den im zweiten Kapitel untersuchten Vorschriften, kann der Staat die Höhe der angemessenen Ausbildungsvergütung nicht selbst durch Rechtsverordnung festsetzen. Vereinbaren Ausbilder und Auszubildender eine unangemessen niedrige Ausbildungsvergütung, ist der Ausbildungsvertrag insoweit teilnichtig. Dies verhilft dem Auszubildenden aber noch nicht zu einer angemessenen Vergütung. Der Auszubildende muß die angemessene Vergütung einklagen. Die Höhe der angemessenen Vergütung setzt dann das Arbeitsgericht fest70• Die Rechtskraft des Urteiles beschränkt sich auf den entschiedenen Fall. Andere Auszubildende, die ebenfalls unangemessen vergütet werden, profitieren von dem Urteil unmittelbar nicht, selbst wenn sie von demselben Ausbilder ausgebildet werden. Das Prozeßrisiko und der Zwang zum Handeln liegt bei den unangemessen vergüteten Auszubildenden und nicht beim Staat. Insoweit bleibt der Schutz des § lO BBiG hinter den Mindestarbeitsbedingungen der§§ 5 TVG, 19 ff. HAG, 1 II lit. b, 4 IV MindArbBG, 1 AEntG, 92a HGB zurück. Die Vorgehensweise, zur Ermittlung des angemessenen Entgeltes einschlägige oder verwandte Tarifverträge heranzuziehen, stößt an ihre Grenzen, wenn solche Tarifverträge fehlen. Insbesondere bei dem hier besondere Berücksichtigung findenden Fall - der partiellen Machtlosigkeit von Arbeitnehmerkoalitionen - sind Tarifverträge nicht vorhanden. Das Suchen nach einem Vergleichsmaßstab und die Ermittlung der Angemessenheit kann dann Schwierigkeiten bereiten. Zwar kann die Höhe der angemessenen Vergütung entsprechend der unter D.II. (drittes Kapitel) dargestellten Vorgehensweise festgestellt werden. Das Ergebnis einer solchen Rechtsfindung, durch ein etwaig mit dieser Aufgabe befaßtes Gericht, ist für die Parteien jedoch schwerer vorhersehbar als bei einer Vergleichsmöglichkeit mit ei69

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Vgl.: Weiss/Marx, ArbuR 1982, S. 329 ff.; Natzel, DB 1983, S. 1488 ff. Gedon!Spiertz, BBiG, § 10 Rdn. 27.

E. Das Verbot der geschlechtsspezifischen Vergütungsdifferenzierung

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nem Tarifvertrag. Insoweit birgt die Vorschrift des § 10 BBiG für die Parteien des Berufsausbildungsvertrages ein Unsicherheitsmoment in sich. Ebenfalls kritisch anzumerken ist, daß § 10 BBiG nur die Angemessenheit der Ausbildungsvergütung regelt. Daß die sonstigen Ausbildungsbedingungen ebenfalls angemessen sein müssen, normiert das BBiG nicht. Die Anrechnungsregelung des § 10 II BBiG kann wegen der auch auf die Sachleistungen zu entrichtenden Steuern und Sozialversicherungsbeiträge dazu führen, daß die effektiv auszuzahlende Nettovergütung deutlich weniger als 20% der Bruttoausbildungsvergütung beträgt. Ob Jugendliche noch einen eigenverantwortlichen Umgang mit Geld erlernen können, wenn ihnen die Verwendung der Ausbildungsvergütung durch die Anrechnung von Sachleistungen derartig stark vorgeschrieben wird, erscheint fraglich. Auch das in der Praxis regelmäßig verwendete Ausbildungsvertragsmuster sieht eine maximale Anrechnung von gewährten Sachleistungen in Höhe von 50% der Bruttovergütung vor71 • In der Gesamtbetrachtung ist jedoch der positive Charakter des § 10 BBiG als Instrument zur Setzung angemessener Ausbildungsvergütungen festzuhalten. Historisch steht er, wie das gesamte BBiG, am Ende einer langen Entwicklung, während der der Schutz der Auszubildenden stetig verbessert wurde72. § 10 BBiG verhindert im Rahmen seines Zwecks nicht nur unzumutbare sondern auch unbillige Ausbildungsvergütungen.

E. Das Verbot der geschlechtsspezifischen Vergütungsdifferenzierung des§ 612111 BGB und des Art.141 EGV 1 In diesem und dem nächsten Abschnitt wird auf die speziellen Diskriminierungsverbote des § 612 III BGB, des Art. 141 EGV und des § 2 I BeschFG eingegangen2. 71

Hurlebaus, Berufsbildung, S. 103.

n Vgl. hierzu : Natzel, Berufsbildungsrecht, S. 3 ff.; Frädrich, Berufsausbildungsverhält-

nis, S. 15 ff. I vormals: Art. 119 EGV. 2 Diese Normen konkretisieren das Gleichbehandlungsgebot des Art. 3 II, 111 GG und den allgemeinen arbeitsrechtlichen Gleichbehandlungsgrundsatz. Sie gehen jedoch über den arbeitsrechtlichen Gleichbehandlungsgrundsatz hinaus und enthalten mehr als ein bloßes Willkürverbot Ein Rückgriff auf diese Institute ist deshalb nach h.M. nicht mehr erforderlich. Vgl. hierzu: MHBzArbR/Schüren, § 157, Rdn. 58; MüKo/Schaub, BGB, § 612 Rdn. 242; Erman/ Hanau, BGB, § 612 Rdn. 26; Soergel/ Raab, BGB, § 612 Rdn. 44; Walker, Anmerkung zu BAG AP Nr. 3 zu § 612 BGB Diskriminierung; Sowka, DB 1994, S. 1873, 1874; BAG AP Nr. 40 zu§ 2 BeschFG 1985.

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3. Kap.: Unmittelbar geltende Mindestarbeitsbedingungen

I. Das Verhältnis von § 612 111 BGB und Art. 141 EGV § 612 III BGB verbietet es, bei einem Arbeitsverhältnis für gleiche oder gleichwertige Arbeit wegen des Geschlechts der Arbeitnehmer eine geringere Vergütung zu vereinbaren als mit Arbeitnehmern des anderen Geschlechts. Art. 141 EGV verpflichtet die Mitgliedsstaaten den Grundsatz des gleichen Entgelts für Männer und Frauen bei gleicher Arbeit anzuwenden und in der Folge beizubehalten. Das Gebot der Lohngleichheit (Art. 141 EGV) ist als Bestandteil des primären Gemeinschaftsrechts in den Mitgliedsstaaten unmittelbar innerstaatlich geltendes Recht3 . Die Arbeits-, Betriebs- und Tarifvertragsparteien sind hieran ebenso gebunden wie an nationale Gesetze. Besondere Bedeutung kommt Art. 141 EGV wegen des Vorranges des Gemeinschaftsrechtes zu. Wegen dieses Vorranges kann § 612 III BGB die Vorschrift des Art. 141 EGV nicht einschränken. Soweit§ 612 III BGB mehrere Auslegungsergebnisse zuläßt, ist die Vorschrift deshalb europarechtskonfonn auszulegen4 • Inhaltlich hat§ 612 III BGB keinen wesentlich über Art. 141 EGV hinausgehenden Regelungsinhalt5 . Die Vorschriften sind hinsichtlich ihrer Voraussetzungen und ihrer Rechtsfolgen weitestgehend identisch. Beide Vorschriften sind nebeneinander anwendbar. Es besteht Anspruchskonkurrenz6 . Im Folgenden wird untersucht, inwieweit§ 612 III BGB und Art. 141 EGV zur Verhinderung bzw. Beseitigung unzumutbarer oder unbilliger Arbeitsbedingungen geeignet sind. Hierzu muß zunächst auf die Voraussetzungen der Nonnen eingegangen werden.

II. Vergütungsvereinbarung Verboten sind geschlechtsdiskriminierende Vergütungsvereinbarungen. Vergütungsvereinbarungen i. S. d. § 612 III BGB, Art. 141 EGV sind alle Arten von Abreden zwischen den Vertragsparteien, die eine Vergütungsregelung zum Inhalt ha3 Richardi, NZA 1992, S. 625, 626; Blohmeyer; NZA 1995, S. 49; Wißmann, RdA 1995, S. 193; ders., RdA 1999, S. 152, 153; Nicolai, ZfA 1996, S. 481 , 483; MüKo/ Schaub, BGB, § 612 Rdn. 242; Soergel/ Raab, BGB, § 612 Rdn. 45; Seeland, DB 1983, S. 1430, 1434; EuGH AP Nr. 20, 21,42 zu Art. 119 EWG-Vertrag; EuGH NJW 1976, S. 2068; BAG NZA 1987, S. 445, 446. 4 Hanau/Preis, ZfA 1988, S. 177, 183; Sowka, DB 1994, S. 1873, 1876; Höfer; BB 1994, S. 2139, 2140; Wißmann, RdA 1995, S. 193, 194; Soergel/ Raab, BGB, § 612 Rdn. 45; EuGH AP Nr. 2 zu§ 611a BGB; BAG AP Nr. 1 zu§ 612 BGB Diskriminierung; BAG AP Nr. 32 zu § I TVG Tarifverträge. s Soergel/ Raab, BGB, § 612 Rdn. 45. 6 Erman/ Hanau, BGB, § 612 Rdn. 25; Soergel! Raab, BGB, § 612 Rdn. 45; a.A.: Hanau/ Preis, ZfA 1988, S. 177, 184, die§ 612 III für die speziellere Rechtsgrundlage halten.

E. Das Verbot der geschlechtsspezifischen Vergütungsdifferenzierung

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ben7 . Hierzu zählen unstreitig individualvertragliche Abreden sowie nach h.M. und Rechtsprechung auch kollektivvertragliche Regelungen8 . Vergütung ist jedes Entgelt, das der Arbeitgeber mit Rücksicht auf die ihm erbrachte Arbeitsleistung gewährt9 • 10. Der Vergütungsbegriff des§ 612 III BGB entspricht dem Begriff des Entgeltes des Art. 141 II EGV 11 • Gemäß der Legaldefinition des Art. 141 II EGV sind unter "Entgelt" die üblichen Grund- oder Mindestlöhne und -gehälter sowie alle sonstigen Vergütungen zu verstehen, die der Arbeitgeber auf Grund des Dienstverhältnisses dem Arbeitnehmer mittelbar oder unmittelbar in bar oder in Sachleistungen zahlt. Der Vergütungsbegriff ist weit auszulegen 12. Erfaßt sind insbesondere sämtliche Zuschläge, Sachbezüge, Sondervergütungen, Gratifikationen, Prämien, Abfindungen, Übergangsgelder, familienbezogene Leistungen, Entgeltfortzahlungen, das Mutterschaftsgeld, allgemeine Entgelterhöhungen sowie betriebliche Ruhegeldbezüge 13 , auch wenn diese nur mittelbar über Pensions-, Unterstützungskassen oder über Lebensversicherungen erbracht werden 14. Keine Vergütungen i. S. d. § 612 III BGB, Art. 141 EGV sind demge7 MüKo/ Schaub, BGB, § 612 Rdn. 245; Soergel/ Raab, BGB, § 612 Rdn. 49; EuGH AP Nr. 21,39 zu Art. 119 EWG-Vertrag; BAG AP Nr. 1 zu§ 612 BGB Diskriminierung. 8 Däubler, ArbuR 1981, S. 193, 194 ff.; Pfarr, NZA 1986, S. 585, 588; Erman/ Hanau, BGB, § 612 Rdn. 28; Soergel/ Raab, BGB, § 612 Rdn. 49; MüKo/ Schaub, BGB, § 612 Rdn. 245; EuGH AP Nr. 21, 28, 39, 57 zu Art. 119 EWG-Vertrag; EuGH AP Nr. 25 zu§ 23a BAT; BAG AP Nr. 1 zu§ 612 BGB Diskriminierung; a.A.: Hanau/Preis, ZfA 1988, S. 177, 186; Pfarr/Bertelsmann, Diskriminierung, S. 63. Vertritt man die Auffassung, daß tarifvertragliche Regelungen nicht an § 612 III BGB, Art. 119 EGV zu messen sind, so ergeben sich daraus praktisch kaum Unterschiede. Denn die Tarifvertragsparteien sind an die Grundrechte und somit auch an den Gleichbehandlungsgrundsatz des Art. 3 GG gebunden. 9 MüKo/ Schaub, BGB, § 612 Rdn. 247; Soergel/ Raab, BGB § 612 Rdn. 50; Blohmeyer, NZA 1995, S. 49, 54. IO Zum Vergütungsbegriff vgl. auch: A.II. (drittes Kapitel). 11 MüKo/ Schaub, BGB, § 612 Rdn. 247; Soergell Raab, BGB § 612 Rdn. 50. 12 Soergel/ Raab, BGB § 612 Rdn. 50; Zuleeg, Anmerkung zu BAG AP Nr. 136 zu Art. 3 GG; BAG AP Nr. 20 zu § I BetrAVG Lebensversicherung; BAG AP Nr. 1 zu § 612 BGB Diskriminierung. 13 Gemäß dem Protokoll Nr. 2 zu Art. 119 EGVa.F. von Maastricht stellen Leistungen, die aufgrundeines betrieblichen Systems der sozialen Sicherheit gewährt werden, keine Entgelte i. S. d. Art. 141 EGV dar, sofern und soweit sie auf Beschäftigungszeiten vor dem 17. 05. 1990 zurückzuführen sind. 14 Vgl.: Pfarr/Bertelsmann, Diskriminierung, S. 63; MüKo/Schaub, BGB, § 612 Rdn. 2a, 247; Schaub, NZA 1984, S. 73, 74; Soergel/ Raab, BGB, § 612 Rdn. 50; Hunold, DB 1984, Beilage Nr. 5, S. 1, 12 ff.; Sowka, DB 1994, S. 1873, 1875; Blohmeyer, NZA 1995, S. 49,50 f.; Lieb, ZfA 1996, S. 319, 324; EuGH AP Nr. 10, 11, 20, 21, 49, 56,57 zu Art. 119 EWG-Vertrag; EuGH AP Nr. 16 zu § 1 BetrAVG Gleichbehandlung; EuGH EuZW 1996, S. 150; EuGH EzA Nr. 37 zu Art. 119 EWG-Vertrag; BAG AP Nr. 7, 23 zu § 1 BetrAVG Gleichbehandlung; BAG AP Nr. 8 zu § 1 BetrAVG Hinterbliebenenversorgung; BAG AP Nr. 20 zu § 1 BetrAVG Lebensversicherung; BAG AP Nr. 156 zu § 242 BGB Ruhegehalt; BAG AP Nr. 69, 87, 111 zu Art. 3 GG; BAG AP Nr. 39, 52 zu§ 242 BGB Gleichbehandlung; BAG NZA 1996, S. 1205.

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3. Kap.: Unmittelbar geltende Mindestarbeitsbedingungen

genüber Leistungen des Arbeitgebers an die Sozialversicherungen, denn hier folgt die Leistungspflicht des Arbeitgebers aus formalen Gesetzen, denen sozialpolitischen Erwägungen zu Grunde liegen 15 .

111. Unmittelbare Diskriminierung Verboten sind Vergütungsdifferenzierungen wegen des Geschlechts bei gleicher oder gleichwertiger Arbeit. Ob eine Diskriminierung vorliegt, ist grundsätzlich betriebsbezogen zu ermitteln 16• 1. Gleiche Arbeit

Gleiche Arbeit liegt vor, wenn auf verschiedenen Arbeitsplätzen identische oder gleichartige Arbeiten verrichtet werden 17 . Identische Arbeiten sind gegeben, wenn an verschiedenen Arbeitsplätzen die gleichen Tätigkeiten ausgeübt werden 18 • Gleichartige Arbeiten sind gegeben, wenn zwar keine identischen Tätigkeiten vorliegen, jedoch unter Beriicksichtigung der Vorkenntnisse, Ausbildung, Anstrengung, Verantwortlichkeit und Arbeitsbedingungen (Inhalt der Tätigkeit, Umstände, Ort und Zeit der Arbeitsleistung) keine ins Gewicht fallenden Unterschiede erkennbar sind 19• Setzt sich eine Tätigkeit aus mehreren Funktionen zusammen, ist unter Beriicksichtigung der Verkehrsanschauung zu beurteilen, ob eine Gleichheit der Arbeitsleistung vorliegt20. 2. Gleichwertige Arbeit

Eine gleichwertige Arbeit liegt vor, wenn sie den gleichen Arbeitswert wie die zu vergleichende Arbeit hat, also hinsichtlich der Anforderungen und Belastungen durch Arbeitsplatz und Arbeitsaufgabe gleichwertig ist21 . Ob die Arbeiten den gleichen Arbeitswert aufweisen, ist nach der Begrundung des Gesetzentwurfes zu 15

trag.

Soergel/Raab, BGB, § 612 Rdn. 51; EuGH AP Nr. 10, 49, 56 zu Art. 119 EWG-Ver-

16 Palandt/ Putzo, BGB, § 612 Rdn. 12; EuGH NZA 1994, S. 1073; a.A.: Schaub, ArbRHB, § 112111 c.; Däubler, ArbuR 1981, S. 193, 200; Löwisch, BB 1985, S. 1200, 1203; MHBzArbR/ Richardi, § 14 Rdn. 9. 11 MüKo/ Schaub, BGB, § 612 Rdn. 256; Soergell Raab, BGB, § 612 Rdn. 54.

MüKo/ Schaub, a. a. 0.; Soergel/ Raab, a. a. 0. Erman/ Hanau, BGB, § 612 Rdn. 30; Palandt/ Putzo, BGB, § 612 Rdn. 12; MüKo/ Schaub, a. a. 0.; BAG AP Nr. 227 zu Art. 3 GG. 2o MüKo/ Schaub, BGB, § 612 Rdn. 257. 21 Soergell Raab, BGB, § 612 Rdn. 55; MüKo/ Schaub, BGB, § 612 Rdn. 259. 18 19

E. Das Verbot der geschlechtsspezifischen Vergütungsdifferenzierung

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§ 612 III BGB nach objektiven Maßstäben der Arbeitsbewertung zu errnitte1n 22 . Anhaltspunkte für die Beurteilung können die Praxis der Tarifvertragsparteien und die allgemeine Verkehrsanschauung bieten23 •

IV. Mittelbare Diskriminierung § 612 III BGB und Art. 141 EGV untersagen auch eine mittelbare Diskriminierung wegen des Geschlechts24• Eine mittelbare Diskriminierung liegt vor, wenn eine Regelung geschlechtsneutral formuliert ist, also formal nicht nach dem Geschlecht differenziert, aber dennoch Arbeitnehmer eines Geschlechts tatsächlich erheblich stärker benachteiligt und diese unterschiedliche Behandlung nicht durch objektive Faktoren gerechtfertigt ist, die nichts mit einer Diskriminierung aufgrund des Geschlechts zu tun haben25 . Der EuGH und ihm folgend das BAG gehen bei der Prüfung, ob eine mittelbare Diskriminierung wegen des Geschlechts vorliegt, in drei Schritten vor. Zuerst werden Vergleichsgruppen gebildet und einander gegenübergestellt. Die den Gruppen zugeordneten Arbeitnehmer müssen gleiche oder gleichwertige Tätigkeiten ausüben. Die Gruppen müssen grundsätzlich so groß sein, daß der Statistik Aussagekraft zukommt und Zufalligkeiten ausgeschlossen sind26. Dann wird geprüft, ob von einer Regelung erheblich mehr Angehörige eines Geschlechts nachteilig betroffen sind. Hierbei kommt es nicht auf die absoluten Zahlen, sondern auf die Prozentsätze an27. Zuletzt wird gefragt, ob diese Benachteiligung auf anderen als geschlechtsspezifischen Gründen beruht und durch objektive Faktoren gerechtfertigt ist28 •29. 22 BT-Ds 8/3317, S. 10; so auch die h.M. (vgl. die Nachweise in Fußnote 17) und die Rechtsprechung (vgl.: BAG AP Nr. 227 zu Art. 3 GG). 23 Molitor, RdA 1984, S. 13, 17; BAG AP Nr. 7, 227 zu Art. 3 GG. 24 Pfarr, NZA 1986, S. 585, 586; Pfarr/Bertelsmann, Diskriminierung, S. 111 ff.; Sowka, DB 1994, S. 1873, 1876; Hirsch, RdA 1999, S. 48, 49; EuGH AP Nr. 2, 10 zu Art. 119 EWG-Vertrag; EuGH NZA 1987, S. 445, 446; BAG AP Nr. 153 zu Art. 3 GG; BAG AP Nr. 3 zu§ 612 BGB Diskriminierung mit Anmerkung Walker; BAG NZA 1987, S. 445; BAG DB 1993, S. 737. 25 Soergei/Raab, BGB § 612 Rdn. 60; Pfarr, NZA 1986, S. 585, 586 ff.; Pfarr/Bertelsmann, Diskriminierung, S. 116; Sowka, DB 1994, S. 1873, 1875; EuGH AP Nr. 10, 39 zu Art. 119 EWG-Vertrag; BAG AP Nr. 11, 51 zu Art. 119 EWG-Vertrag; BAG AP Nr. 20 zu § 1 BetrAVG Lebensversicherung. 26 EuGH AP Nr. 68 zu Art. 119 EWG-Vertrag. 27 Das BAG entschied in AP Nr. 1 zu§ 612 BGB Diskriminierung, daß ein Verstoß gegen § 612 III BGB vorliegt, wenn männliche und weibliche Arbeitnehmer mit der gleichen Arbeit beschäftigt sind und der Arbeitgeber fast die Hälfte der Männer aber nur 10% der Frauen übertariflich entlohnt. 28 Zu rechtfertigenden Gründen, vgl.: E.V. (drittes Kapitel). 29 EuGH NZA 1987, S. 445, 446 f.; BAG AP Nr. 3 zu § 612 BGB Diskriminierung mit Anmerkung Walker; vgl. auch die Nachweise in Fußnote 23.

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3. Kap.: Unmittelbar geltende Mindestarbeitsbedingungen

V. Entgeltdifferenzierung § 612 III BGB untersagt eine Entgeltdifferenzierung wegen des Geschlechts. Das Geschlecht darf somit für die Vergütungsbemessung nicht herangezogen werden30.

1. Nicht auf das Geschlecht bezogene Gründe

Andere - nicht geschlechtsbezogene - sachliche Gründe können eine Differenzierung rechtfertigen 31.32 • Gemäß § 612 III 2 BGB kommen lediglich wegen des Geschlechts erlassene besondere Arbeitnehmerschutzvorschriften als Differenzierungsgrund nicht in Betracht. So verstoßen Zulagen, die aufgrund einer Tätigkeit gezahlt werden, deren Verrichtung Frauen gesetzlich verboten ist (z. B. früher im Bereich der Nachtarbeit), nicht gegen § 612 III BGB, Art. 141 EGV. Denn Grund der Differenzierung ist nicht das Geschlecht, sondern die Tätigkeit als solche33 . Sollten Frauen jedoch entgegen dem Verbot eine untersagte Tätigkeit verrichten, haben sie dennoch Anspruch auf die Zulagen für die ihnen verbotene Tätigkeit34. Denn die Beschäftigungsverbote soJlen nur die Ausübung der Tätigkeit durch Arbeitnehmer eines bestimmten Geschlechtes verhindem und nicht diese Arbeitnehmer gegenüber Arbeitnehmern des anderen Geschlechts hinsichtlich der Vergütung benachteiligen. Auch die Zahlung von Zulagen zur Gewinnung wertvoller Arbeitskräfte kann (im Einzelfall) einen sachlichen Grund und somit eine zulässige Differenzierung darstellen 35 . Die Aussage, Männer seien nur zu höheren Entgelten als Frauen bereit Soergell Raab, BGB, § 612 Rdn. 53. Eich, NJW 1980, S. 2329, 2332; Däubler, ArbuR 1981, S. 193, 195, 199; Molitor, RdA 1984, S. 13, 15; Sowka, DB 1994, S. 1873, 1875; Schaub, BB 1994, S. 2005, 2010; Nicolai, ZfA 1996, S. 481, 491; MüKo/ Schaub, BGB, § 612 Rdn. 270; Soergell Raab, BGB, § 612 Rdn. 58, 71; Walker, Anmerkung zu BAG AP Nr. 3 zu§ 612 BGB Diskriminierung; EuGH AP Nr. 10 zu Art. 119 EWG-Vertrag; BAG AP Nr. 1 zu § 612 BGB Diskriminierung. 32 Welche Anforderungen an den sachlichen Grund im Einzelfall zu stellen sind, ist in der Jurisprudenz heftig umstritten. Auch die Rechtsprechung formuliert nicht immer einheitliche Anforderungen. Der EuGH und das BAG gebrauchen häufig die Formulierung, daß die Differenzierung "einem wirklichen Bedürfnis des Unternehmens dienen und für die Erreichung dieses Zieles geeignet und erforderlich sein muß" (vgl.: EuGH NZA 1986, S. 599; BAG AP Nr. 10, 11 zu Art. 119 EWG-Vertrag). Auf die Einzelheiten dieses Streitstandes kann im Rahmen dieser Arbeit nicht eingegangen werden. Äußerungen hierzu finden sich bei: Pfarr, NZA 1986, S. 586, 588; Hanau! Preis, ZfA 1988, S. 177, 190 ff. 33 Eich, NJW 1980, S. 2329, 2332; Däubler, ArbuR 1981, S. 193, 198 f.; Molitor, RdA 1984, S. 13, 17; Pfarr, NZA 1986, S. 585, 587; MüKo/ Schaub, BGB, § 612 Rdn. 273; BAG AP Nr. 69 zu Art. 3 GG; BAG AP Nr. 39 zu § 242 BGB Gleichbehandlung. 34 MüKo I Schaub, BGB, § 612 Rdn. 273. 35 Erman/ Hanau, BGB, § 612 Rdn. 29. 30

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E. Das Verbot der geschlechtsspezifischen Vergütungsdifferenzierung

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zu arbeiten oder Männer seien generell nicht bereit zum Tariflohn zu arbeiten, rechtfertigt eine Schlechterstellung von Frauen nach der Rechtsprechung des BAG jedoch niche6 . Das Kriterium der "muskelmäßigen Beanspruchung" bzw. der Grad der Schwere der Arbeit stellt einen zulässigen Differenzierungsgrund dar, wenn die Arbeit tatsächlich einen gewissen Einsatz an Körperkräften erfordert und das System insgesamt durch die Berücksichtigung anderer Kriterien eine Diskriminierung aufgrund des Geschlechts ausschließt37 . Dagegen liegt eine verbotene Diskriminierung vor, wenn bei der Feststellung, inwieweit eine Arbeit beanspruchend, belastend oder schwer ist, von Werten ausgegangen wird, die der durchschnittlichen Leistungsfähigkeit der Arbeitnehmer nur eines Geschlechts entspricht38 . Unzulässig sind weiter Differenzierungen aufgrund von Merkmalen, die mit der Arbeit selbst nichts zu tun haben, bei denen jedoch Arbeitnehmer eines Geschlechts typischerweise Vorteile haben. Deshalb sind z. B. Eingruppierungen in ein Vergütungssystem nach der Körpergröße oder dem Gewicht unzulässig39. 2. Geschlecht als unverzichtbare Voraussetzung (§ 611a I 2 BGB)

Gemäß § 61la I 2 BGB ist eine unterschiedliche Behandlung wegen des Geschlechts ausnahmsweise zulässig, wenn ein bestimmtes Geschlecht unverzichtbare Voraussetzung für die vom Arbeitnehmer auszuübende Tätigkeit ist. Der Begriff der unverzichtbaren Voraussetzung wird von Jurisprudenz und Rechtsprechung sehr eng ausgelegt. Will man nicht völlig konstruierte Sachverhalte bilden, bleiben für den Ausnahmetatbestand des § 61la I 2 BGB nur Berufe wie Gefängniswärter I Gefängniswärterin, Dressman I Mannequin, Schauspieler I Schauspielerin, Sänger I Sängerin, Tänzer I Tänzerin oder Modelle für Maler, Bildhauer bzw. Fotografen übrig40•41 • Hier ist das Geschlecht unverzichtbare Voraussetzung für die auszuübende Tätigkeit. Wegen des Verbotes der mittelbaren Diskriminierung rechtfertigt die Tatsache, daß das Geschlecht unverzichtbare Voraussetzung für die 36 BAG DB 1982, S. 119; a.A .. : Hunold, DB 1984, Beilage Nr. 5, S. 1, 15; kritisch zur "Arbeitsmarktzulagenrechtsprechung" des BAG: Pfarr I Bertelsmann, Diskriminierung, s. 342 ff. 37 Erman/ Haru:tu, BGB, § 612 Rdn. 31; Soergel/ Raab, BGB, § 612 Rdn. 55; Däubler; ArbuR 1981, S. 193, 196; EuGH AP Nr. 13 zu Art. 119 EWG-Vertrag. 38 Erman/ Hanau, BGB, § 612 Rdn. 31. 39 Däubler; ArbuR 1981, S. 193, 195; Göbel, M/W/G/S-BeschFG, Rdn. 214; bezüglich der Körpergröße a.A.: Molitor; RdA 1984, S. 13, 16. 40 Eich, NJW 1980, S. 2329, 2331; Seeland, DB 1983, S. 1430, 1432; Molitor; RdA 1984, s. 13, 15. 41 So auch die Beispiele in dem Ausnahmekatalog, den die Bundesregierung der Kornmission der Europäischen Gemeinschaften mitteilte, vgl. : BArbBI 11/1987, S. 40 ff.; Pfarr I Bertelsmann, Diskriminierung, S. 70.

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3. Kap.: Unmittelbar geltende Mindestarbeitsbedingungen

auszuübende Tätigkeit ist, jedoch noch nicht geringere Entgeltstaffeln für eines der Geschlechter (z. B. dürfen Schauspielerinnen nicht schlechter als Schauspieler vergütet werden). Der Ausnahmetatbestand des § 611a I 2 BGB hat für Entgeltvereinbarungen deshalb kaum praktische Bedeutung42 .

VI. Rechtsfolge einer Diskriminierung Rechtsfolge eines Verstoßes gegen das Diskriminierungsverbot ist die Nichtigkeit der dem Verbot widersprechenden Regelung (§ 134 BGB)43·44. Die übrigen Bestandteile der Regelung bleiben entgegen dem Grundsatz des § 139 BGB wirksam45. Die diskriminierten Personen haben grundsätzlich Anspruch auf die gleiche Vergütung, wie die nichtdiskriminierten Personen46·47 . Für die Vergangenheit bedeutet dies i.d.R., daß die Vergütung der diskriminierten Personen nach oben angehoben wird. Zwar schreibt das Diskriminierungsverbot keine Anhebung der Leistungen vor- es ist auch möglich, die Vergütungen der bisher begünstigten Personen auf das Niveau der benachteiligten Personen zu senken-, denn § 612 III BGB untersagt nur eine Ungleichbehandlung, schreibt aber keine bestimmte Höhe der Leistungen vor48 . Eine Anpassung nach unten und eine damit verbundene Rückforderung der an die bisher begünstigten Arbeitnehmer gewährten Leistungen scheitert für die Vergangenheit jedoch regelmäßig am Vertrauensschutz, § 818 III BGB, tarifvertragliehen Ausschlußfristen oder Verjährungsfristen49. Zu beachten ist, daß es zur Beseitigung der Ungleichbehandlung nicht ausBT-Ds 8/3317, S. 10; MüKo/ Schaub, BOB,§ 612 Rdn. 271. Pfarr/Benelsmann, Diskriminierung, S. 76, 127; MHBzArbR/ Richardi, § 14 Rdn. 33; Eich, NJW 1980, S. 2329, 2333; Soergel/ Raab, BOB,§ 612 Rdn. 83; MüKo/ Schaub, BOB, § 612 Rdn. 276 ff.; BAO AP Nr. 11 zu Art. 119 EWO-Vertrag; BAO AP Nr. 136 zu Art. 3 00 mit Anmerkung Zuleeg; BAO AP Nr. 7 zu § 1 BetrAVG Gleichbehandlung; BAG AP Nr. 20 zu§ 1 BetrAVO Lebensversicherung; BAO NZA 1987, S. 445, 446; BAG AP Nr. 2 zu § 612 BOB Diskriminierung. 44 Der EuOH formuliert demgegenüber, daß die dem Diskriminierungsverbot widersprechende Regelung nicht anzuwenden ist, vgl.: EuOH AP Nr. 21 zu Art. 119 EWO-Vertrag. 45 zur Begründung vgl.: C.III. (drittes Kapitel). 46 Eich, a. a. 0.; Däubler; ArbuR 1981, S. 193, 195, 200; Palandt/ Putzo, BOB§ 612 Rdn. 11, 14; MüKo/ Schaub, BOB,§ 612 Rdn. 277; Soergel/ Raab, BOB,§ 612 Rdn. 82; Pfarr/ Benelsmann, Diskriminierung, S. 77; BAG AP Nr. 11 zu Art. 119 EWO-Vertrag; BAO AP Nr. 7 zu§ I BetrAVO Oleichbehand1ung; BAO AP Nr. 20 zu§ I BetrAVO Lebensversicherung; BAO AP Nr. I zu§ 612 BOB Diskriminierung; BAG AP Nr. 2 zu§ 612 BOB Diskriminierung. 47 Darüberhinaus können den diskriminierten Arbeitnehmern auch Schadensersatzansprüche aus pVV oder§ 823 II BOB i.V.m. dem Diskriminierungsverbot zustehen, vgl.: Pfarr/ Bertelsmann, Diskriminierung, S. 77. 48 Soergel/ Raab, BOB,§ 612 Rdn. 82 f.; Schaub, ArbRHB, § 112 li 5 a. 49 Soergel/ Raab, BOB,§ 612 Rdn. 83; BAO AP Nr. 136 zu Art. 3 GO; BAO NZA 1986, s. 321, 323. 42 43

E. Das Verbot der geschlechtsspezifischen Vergütungsdifferenzierung

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reichen würde, nur einen Teil der gegen das Diskriminierungsverbot verstoßenden Vergütungen erfolgreich zurückzufordern50• Gesetzestechnisch folgt die Rechtsfolge der Vergütungsanpassung aus § 612 II BGB51 . Ist eine Vergütungsregelung wegen Verstoßes gegen§ 612 111 BGB nichtig, fehlt es an einer wirksamen Vergütungsregelung. In diesem Fall gilt gemäß § 612 II BGB die übliche Vergütung als vereinbart- als üblich ist regelmäßig die Vergütung der nichtdiskriminierten Arbeitnehmer anzusehen. Für die Zukunft kann der Arbeitgeber hingegen (regelmäßig erfolgreich) versuchen, die Gleichbehandlung durch eine Anpassung nach unten herzustellen, indem er die Leistungen der bisher begünstigten Arbeitnehmer auf das Niveau der bisher benachteiligten Arbeitnehmer kürzt52. Hierzu stehen ihm die Mittel des individuellen und kollektiven Arbeitsrechts zur Verfügung. Nimmt er jedoch keine Anpassung nach unten vor, haben die diskriminierten Arbeitnehmer Anspruch auf die gleiche (höhere) Vergütung wie die bisher begünstigten Arbeitnehmer53 . Diese Aussage gilt uneingeschränkt für individualvertragliche Regelungen und grundsätzlich für Tarifverträge und Betriebsvereinbarungen, die gegen das Diskriminierungsverbot verstoßen. Im Fall der Unwirksamkeit kollektivvertraglicher Regelungen stellt sich die Frage, ob insbesondere unter dem Gesichtspunkt des Vertrauensschutzeseine Begrenzung der Rückwirkung (Anhebung nach oben) vorzunehmen ist. Relevant geworden ist diese Frage im Zusammenhang mit diskriminierenden Regelungen der betrieblichen Altersversorgung. Hier divergieren die Rechtsprechung des BAG und die des EuGH. Das BAG hat einen solchen Vertrauensschutz für mehrere Fälle der mittelbaren Diskriminierung abgelehnt54. Der EuGH hat für den Anwendungsbereich des Art. 141 EGV hingegen einen Vertrauensschutzgrundsätzlich bejaht und die Rückwirkung eingeschränkt55 ·56. Er meint, der Grundsatz der Rechtssicherheit verbiete es, in der Vergangenheit abgeschlossene Rechtsverhältnisse in Frage zu stellen, wenn die Betroffenen im guten Glauben an die Rechtmäßigkeit der Vereinbarungen gehandelt hätten und ohne die Beschränkung der Rückwirkung die Gefahr schwerwiegender Störungen bestehe57 . Zuleeg, Anmerkung zu BAG AP Nr. 136 zu Art. 3 GG. BAG AP Nr. 2 zu § 612 BGB Diskriminierung; Schaub, meint hingegen, es bestünde eine Regelungslücke, die nach den Grundsätzen der ergänzenden Vertragsauslegung zu schließen sei, MüKo/ Schaub, § 612 Rdn. 278; Schaub, ArbRHB, § 112 II 5 a. 52 Soergell Raab, BGB, § 612 Rdn. 84. 53 Höfer, BB 1994, S. 2139, 2141. 54 Vgl.: BAG AP Nr. 11 zu Art. 119 EWG-Vertrag; BAG AP Nr. 5, 7, 8 zu§ I BetrAVG Gleichbehandlung; BAG AP Nr. 20 zu§ 1 BetrAVG Lebensversicherung; BAG AP Nr. 8 zu § 1 BetrAVG Hinterbliebenenversorgung. 50

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55 Vgl.: EuGH AP Nr. 20, 49, 56, 57, 58 zu Art. 119 EWG-Vertrag; EuGH AP Nr. 16 zu § 1 BetrAVG Gleichbehandlung. 56 Gegen eine Rückwirkung sprechen sich auch Lieb, ZfA 1996, S. 319 ff., und Nicolai, ZfA 1996, S. 481 ff., aus. 57 grundlegend: EuGH AP Nr. 20 zu Art. 119 EWG-Vertrag. 14 Andelewski

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3. Kap.: Unmittelbar geltende Mindestarbeitsbedingungen

Zumindest für Tarifverträge läßt sich diese Argumentation auch auf die materielle Gesetzeskraft der Tarifverträge stützen. Denn Tarifverträge haben die gleiche Wirkung wie Gesetze. Sie gelten für tarifgebundene Arbeitnehmer und Arbeitgeber unmittelbar und zwingend (§ 4 I TVG). Für Gesetze ist das Verbot der echten Rückwirkung anerkannt58• Sollte ein Gesetz unwirksam sein, gesteht das BVerfG dem Gesetzgeber häufig sogar großzügige Übergangsfristen zu. Tarifverträge stellen zudem für die Arbeitgeber die maßgebliche Kalkulationsgrundlage für den Kostenfaktor Arbeit dar59. Sie schaffen i.d.R. einen gerechten Interessenausgleich und können grundsätzlich als angemessen angesehen werden60. Zu beriicksichtigen ist weiter, daß neben dem Arbeitgeber oder seinem Verband auch Gewerkschaften für die diskriminierende tarifverträgliche Regelung verantwortlich sind. Die Tarifunterworfenen können deshalb grundsätzlich auf die Wirksamkeit der Tarifverträge vertrauen61 • Dies muß erst recht gelten, wenn die beanstandeten Regelungen nach der bisherigen Rechtsprechung wirksam waren und sich die Unwirksamkeit erst aus einem Wandel der Rechtsprechung zu einer bestimmten Rechtsfrage ergibt62. Denn es ist anerkannt, daß ein schützenswerter Vertrauenstatbestand nicht nur vorliegt, wenn sich die Betroffenen auf eine eindeutige ständige Rechtsprechung oder normative Regelung zu einer Frage verlassen haben, sondern auch, wenn sich Rechtsanschauungen infolge gesellschaftlicher Veränderungen wandeln und zur Herausbildung neuer Rechtsinstitute führen63 . Diese Gesichtspunkte stärken die Rechtsansicht des EuGH. Die Einschränkung der Rückwirkung muß m.E. jedoch auf die extremsten Ausnahmefälle beschränkt bleiben64. Sonst besteht die Gefahr, daß über das Rückwirkungsverbot den diskriminierten Arbeitnehmern die Leistungen, die den begünstigten Arbeitnehmern gewährt werden, gänzlich vorenthalten werden. Denn für die Zukunft ist eine Anpassung nach unten zulässig. Verneint man auch für die Vergangenheit eine Anpassung nach oben, besteht die Gefahr, daß die diskriminierten Arbeitnehmer im Ergebnis völlig leer ausgehen. Eine Diskriminierung bliebe für den Arbeitgeber folgenlos. Darüberhinaus besteht die Gefahr, daß die Berufung auf den Vertrauensgrundsatz nicht auf Fälle der betrieblichen Altersversorgung beschränkt bleibt. So ss Jarass, J/P-GG, Art. 20 Rdn. 51; BVerfGE 13, S. 261, 272; 45, S. 142, 173; 72, S. 200, 257 f. 59 Lieb, ZfA 1996, S. 319, 338; Nicolai, ZfA 1996, S. 481,488,490,494. 60 Vgl.: BT-Ds 10/2102, S. 26; BR-Ds 394/ 84; MHBzArbR/ Schüren, § !57 Rdn. 67; Drittes Kapitel: D.II. Nachweise in Fußnote 28. 61 Nicolai, ZfA 1996, S. 481,494 ff. 62 Die Rechtsfigur der mittelbaren Diskriminierung fand erst in den siebziger Jahren Eingang in die arbeitsrechtliche Rechtsprechung. 63 Griebling, RdA 1992, S. 373, 376; Lieb, ZfA 1996, S. 319, 340; Soergel I Raab, BGB, § 612 Rdn. 86. 64 Ein denkbarer Fall ist der, daß die Aufnahme einer erheblichen Zahl diskriminierter Arbeitnehmer in ein in sich geschlossenes System der Altersversorgung aufgrund der finanziellen Ausstattung des Systems zu einem Zusammenbruch des gesamten Systems führen würde. Denn dann wäre weder den begünstigten noch den diskriminierten Arbeitnehmern geholfen.

E. Das Verbot der geschlechtsspezifischen Vergütungsdifferenzierung

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fordert Nicolai bereits jetzt eine Anwendung des Vertrauensgrundsatzes zu Gunsten des Arbeitgebers auch auf andere Regelungen in Verbands-, Finnentarifverträgen, Betriebsvereinbarungen und sogar auf Gesamtzusagen und allgemeine Arbeitsbedingungen65 .

VII. § 612 111 BGB und Art. 141 EGV als taugliche Instrumente zur Setzung von Mindestarbeitsbedingungen ? Inhaltlich ist Art. 141 EGV seit 1958 in Kraft. § 612 III BGB wurde 1980 zusammen mit den §§ 61la, 6llb, 612a und einer Änderung des § 613a in das BGB eingefügt. Die Vorschrift des§ 612 III BGB setzt Art. 141 EGV und die Richtlinie 75 I 117 EWG (Grundsatz des gleichen Entgelts für Männer und Frauen) in innerstaatliches Recht um. Sie soll den inhaltlich bereits in§ 6lla I 1 BGB enthaltenen Lohngleichheitssatz durch eine eigenständige Regelung besonders hervorheben und damit die Gleichbehandlung von Männem und Frauen auf dem besonders sensiblen Gebiet der Arbeitsvergütung verwirklichen66. Der Grundsatz der Lohngleichheit war allerdings bereits vor dem lokrafttreten des § 612 III BGB in der Rechtsprechung des BAG anerkannt67 • Im Bereich der Entgeltgleichheit schreibt § 612 III BGB nur die bisherige Rechtsprechung fest, sodaß die Einfügung der Nonn in das BGB kaum eine Veränderung mit sich brachte68. Die tatsächlichen Lohnunterschiede zwischen Männem und Frauen waren friiher drastisch. Im Jahre 1974 verdiente ein Angestellter monatlich durchschnittlich 2.141 DM, eine Angestellte dagegen 1.344 DM (62,8%). Der Durchschnittslohn eines Arbeiters lag bei 1.660 DM, der einer Arbeiterin bei 1.095 DM (66,0%) 69 . Im Jahre 1994 verdiente ein Angestellter durchschnittlich 5.976 DM, eine Angestellte hingegen nur 4.012 DM (67,1 %). Der Durchschnittsstundenlohn eines Arbeiters in der Industrie betrug 25,56 DM, der einer Arbeiterin 19,03 DM (74,2%)70 • Die Zahlen belegen, daß die schon seit Jahrzehnten bestehenden Entgeltabstände weitgehend gleich geblieben sind71 • Ursächlich hierfür sind aber nicht arbeitsrechtliche Geschlechtsdiskriminierungen beim Entgelt, sondern vor allem Unterschiede in der Tätigkeit, der Qualifikation und der Anzahl der BerufsNicolai, ZfA 1996,S. 481,494ff. BT-Ds 8/3317, S. 16. 67 Vgl.: BAG AP Nr. 4, 7, 16, 117 zu Art. 3 GG; BAG AP Nr. 53 zu§ 242 BGB Gleichbehandlung. 68 Bertels11Ulnn, BB 1983, S. 1805, 1806; Hunold, DB 1984, Beilage Nr. 5, S. I, 4; Molitor, RdA 1984, S. 13, 16. 69 Angaben nach: Däubler, ArbuR 1981, S. 193, 194; Weitere Angaben zu den Durchschnittsverdienstenausgewählter Jahre finden sich bei: Seeland, DB 1983, S. 1430. 70 Angaben nach: Lorenz, DB 1996, S. 1234. 11 Lorenz, a. a. 0. 65

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3. Kap.: Unmittelbar geltende Mindestarbeitsbedingungen

jahrebei Männem und Frauen72 . So führt die geringe Qualifikation von Frauen dazu, daß die unteren Entgeltgruppen überproportional mit Frauen besetzt sind73 . Hinzu kommt, daß ein hoher Anteil von teilzeitbeschäftigten Frauen deren statistisches Durchschnittseinkommen drückt. Zudem arbeiten Frauen häufiger als Männer in Branchen, die traditionell schlecht vergütet werden, wie dem Dienstleistungsgewerbe, dem Handel oder der Gebäudereinigung74. Die Ungleichheit im statistischen Durchschnittsverdienst von Männem und Frauen ist somit primär Folge einer ungleichen Positionierung auf dem Arbeitsmarkt75 . Diese faktische Benachteiligung vermögen weder§ 612 III BGB und Art. 141 EGV noch die Arbeitgeber auszugleichen, denn die Arbeitgeber sind nicht gezwungen allgemeine gesellschaftliche Defizite durch besondere Vergütungsregelungen zu kompensieren76. Den Schwerpunkt der rechtlichen Gleichbehandlungsentscheidungen bilden heute Fälle der mittelbaren Diskriminierung77 • Fälle der unmittelbaren Diskriminierung haben in der deutschen Rechtsordnung stark abgenommen 78 . Insgesamt läßt sich die Aussage treffen, daß die Diskriminierungsverbote des § 612 III BGB und des Art. 141 EGV durchaus Wirkung gezeigt haben und im betrieblichen Alltag kaum noch augenfällige Ungleichbehandlungen zu verzeichnen sind. Der Gleichbehandlungsgrundsatz hat in bezug auf das Geschlecht inzwischen allerdings so viele normative Prägungen erfahren, daß die Gefahr droht, den Blick für das Wesentliche zu verlieren79•80. In der Jurisprudenz wird sogar die Berechtigung des § 612 III BGB und des Art. 141 EGV in Frage gestellt und gefragt, wieso der allgemeine arbeitsrechtliche Gleichbehandlungsgrundsatz nicht auch für die gerechte Behandlung der Frau im Arbeitsleben ausreichen soll81 . Denn das Diskriminierungsverbot wegen des Geschlechts setzt zwar den Grundsatz, daß alle Menschen gleich sind durch, führt im Ergebnis aber dazu, daß einige Menschen gleicher sind als andere 82 . Denn die Diskriminierungsverbote verhindem keine Diskrin Wank, RdA 1985, S. 1, 20; Lorenz, a. a. 0. Däubler; ArbuR 1981, S. 193, 196; Lorenz, a. a. 0. Däubler; a. a. 0.; Lorenz, a. a. 0. 75 Lorenz, a. a. 0. 76 Sieg, SAE 1982, S. 260, 261; Hunold, DB 1984, Beilage Nr. 5, S. I, 14; Wank, RdA 1985, S. I, 20; Hanau/Preis, ZfA 1988, S. 177, 186. 77 Diese sind häufig auch im Zusammenhang mit dem Diskriminierungsverbot des § 2 I BeschFG zu sehen. Denn Frauen üben in einem weit überdurchschnittlichen Maße Teilzeitarbeit aus - vgl.: F.V. Nachweise in Fußnote 39 (drittes Kapitel). 78 Wank, a. a. 0 .; Schaub, BB 1994, S. 2005,2010. 79 Sieg, a. a. 0.; Hunold, DB 1984 Beilage Nr. 5, S. I, 12. 80 So hat das BAG die personelle Differenzierung zwischen Innen- und Außendienstmitarbeitern trotzder ins Auge springenden Unterschiede in der Tätigkeits- und Vergütungsstruktur für unzulässig erklärt (BAG AP Nr. l zu § l BetrAVG). Kritisch hierzu: Lieb, ZfA 1996, S.3l9ff. 81 Hunold, a. a. 0. 73

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E. Das Verbot der geschlechtsspezifischen Vergütungsdifferenzierung

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minierung innerhalb des jeweiligen Geschlechts. Werden z. B. Zulagen nur bestimmten männlichen Arbeitnehmern gewährt, anderen männlichen Arbeitnehmern hingegen nicht, geben § 612 III BGB und Art. 141 EGV den diskriminierten Arbeitnehmern keinen Anspruch auf Gleichbehandlung. Der grundsätzlich betriebsbezogen anzustellende Vergleich der Vergütungen kann dazu führen, daß selbst Ungleichbehandlungen zwischen Arbeitnehmern verschiedener Geschlechter sanktionslos bleiben83 . Die im Betrieb X zu einem Gehalt von 3.500 DM beschäftigte technische Zeichnerio A hat Anspruch auf ein Gehalt in Höhe von 3.800 DM, wenn dies die Vergütung ihrer männlichen Kollegen im Betrieb X ist. Die im Betrieb Y zu einem Gehalt von 3.300 DM arbeitende technische Zeichnerio B hingegen nicht. Und dies grundsätzlich selbst dann nicht, wenn die Betriebe X und Y zu demselben Unternehmen gehören. Die Diskriminierungsverbote des§ 612 III BGB und des Art. 141 EGV beziehen sich nur auf gleiche oder gleichwertige Arbeit. Sie können deshalb diejenigen gesellschaftlichen Mechanismen nicht erfassen, die Frauen häufiger als Männer daran hindem gut vergütete berufliche Positionen zu erlangen. Denn geringere Bildungschancen, eine Doppelbelastung aus Familie und Beruf, ein Ausscheiden aus dem Erwerbsleben wegen Kindererziehung werden von § 612 III BGB und Art. 141 EGV nicht erfaßt84• Die Diskriminierungsverbote können deshalb nur einen Ausschnitt aus dem Gesamtbereich der geschlechtsspezifischer Diskriminierung bekämpfen85 . Für den Bereich der Vergütung setzen die Diskriminierungsverbote des § 612 III BGB und des Art. 141 EGV dennoch Mindestarbeitsbedingungen. Die Vorschriften verbieten nämlich, Arbeitnehmer wegen ihres Geschlechts zu diskriminieren und zu einem geringeren Entgelt als Arbeitnehmer des anderen Geschlechts zu beschäftigen. Durch dieses Verbot wird eine geschlechtsbezogene Untergrenze der zulässigen Vergütung festgelegt. Wie hoch oder niedrig diese Grenze ist, steht jedoch nicht von vornherein fest, sondern ergibt sich erst aus einem Vergleich mit den Entgelten der Arbeitnehmer des anderen Geschlechts. Die von§ 612 III BGB und Art. 141 EGV vorgegebene Untergrenze der zu zahlenden Arbeitsvergütung kann stark variieren. Werden die zum Vergleich heranzuziehenden Arbeitnehmer zu unangemessenen Entgelten beschäftigt, garantieren § 612 III BGB und Art. 141 EGV den Arbeitnehmern des anderen Geschlechts auch nur eine Beschäftigung zu diesen unangemessenen Entgelten. Denn die Arbeitnehmer dürfen lediglich wegen ihres Geschlechts nicht diskriminiert werden. Einen Anspruch auf angemessene Vergütung begründet das Diskriminierungsver82 Das wirklich Problematische an jeder Verpflichtung zur Gleichbehandlung ist jedoch, daß absolute Gleichheit stets Gleichheit auf niedrigstem Niveau und deshalb zwangsweise Anpassung nach unten bedeutet. 83 Däubler, ArbuR 1981, S. 193,200. 84 Däubler, ArbuR 1981, S. 193. 85 Däubler, ArbuR 1981, S. 193, 194.

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3. Kap.: Unmittelbar geltende Mindestarbeitsbedingungen

bot nicht86. Die Vorschriften verfolgen auch nicht das formale Ziel einer möglichst hohen Vergütung87 . Erhalten die zum Vergleich heranzuziehenden Arbeitnehmer dagegen neben einem Tarifentgelt noch außer- oder übertarifliche Zulagen, so stellt die sich aus der Summe der Tarifvergütung, der Zulagen und sonstigen Zuwendungen ergebende Vergütung die Untergrenze dar, unterhalb derer Arbeitnehmer des anderen Geschlechts nicht beschäftigt werden dürfen. Die durch § 612 III BGB und Art. 141 EGV garantierten Entgelte können damit im Einzelfall sogar oberhalb einer angemessenen Vergütung liegen. In Deutschland werden ca. 90% aller Arbeitnehmer zu Entgelten beschäftigt, die denen der jeweils einschlägigen Tarifverträge entsprechen88 . Da diese Vergütungen im Regelfall auch angemessen sind89, stellen § 612 III BGB und Art. 141 EGV faktisch sicher, daß Arbeitnehmer in ihrer Mehrzahl nicht wegen ihres Geschlechts zu unangemessenen Entgelten beschäftigt werden. In diesen Fällen verpflichten § 612 III BGB und Art. 141 EGV den Arbeitgeber indirekt, seine Arbeitnehmer nicht wegen ihres Geschlechts zu unangemessen Vergütungsbedingungen zu beschäftigen, und verhindern so nicht nur unzumutbare sondern auch unbillige Vergütungsbedingungen. Sollten die vergleichbaren Arbeitnehmer des anderen Geschlechts jedoch selbst zu unbilligen Entgelten beschäftigt werden, geben § 612 III BGB und Art. 141 EGV den Arbeitnehmern nur einen Anspruch auf diese unbilligen Entgelte. § 612 III BGB und Art. 141 EGV können dann die unbillige Vergütung von Arbeitnehmern nicht verhindern. Ausdrücklich festzuhalten ist, daß § 612 III BGB und Art. 141 EGV nur eine Ungleichbehandlung hinsichtlich der vom Arbeitgeber zu zahlenden Vergütung verbietet. Zweifellos ist damit der praktisch wichtigste Fall gesetzlich geregelt. Ungleichbehandlungen bei anderen Arbeitsbedingungen werden von den Vorschriften jedoch nicht erfaßt. Insoweit bleiben § 612 III BGB und Art. 141 EGV hinter den Diskriminierungsverboten der §§ 2 I BeschFG90; 285 I 1 Nr. 3; 286 I 1 Nr. 2 SGB III91 zurück. Eine geschlechtsspezifische Diskriminierung führt für die Vergangenheit grundsätzlich zu einer Anpassung der Vergütung nach oben92 • Die hierdurch bewirkte Spirale nach oben ist zwar für die diskriminierten Arbeitnehmer erfreulich, vom Gleichbehandlungsgrundsatz aber nicht gefordert und zudem problematisch93 . Denn die schematische Anhebung der Vergütung läßt dem Arbeitgeber keine Möglichkeit, sein gesamtes Vergütungssystem für die Vergangenheit an die bestehende 86 87

88 89 90 91

92

93

Soergel/ Raab, BGB, § 612 Rdn. 83. BAG NZA 1987, S. 445,448. Nachweise in Fußnote 1 der Einleitung. vgl.: A.ll., III., D.II. Nachweise in Fußnote 28 (drittes Kapitel). vgl.: F. (drittes Kapitel). vgl.: G. (drittes Kapitel). vgl.: E.VI. (drittes Kapitel). Soergel/ Raab, BGB, § 612 Rdn. 83.

E. Das Verbot der geschlechtsspezifischen Vergütungsdifferenzierung

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Rechtslage anzupassen94. Auf den Arbeitgeber kommen meist außerordentliche Belastungen zu95 . Besonders getroffen werden Arbeitgeber, wenn sie wegen diskriminierender und deshalb unwirksamer Tarifvertragsklauseln Nachzahlungen leisten müssen. Denn in diesem Fall hatten sie keinen direkten Einfluß auf das Zustandekommen der diskriminierenden Regelung und diese deshalb nicht zu verantworten96. Die Rechtsfolge- Anpassung nach oben für die Vergangenheit- kann aber auch ft.ir andere Arbeitnehmer negative Folgen haben. Durch die Ausweitung des Begünstigtenkreises muß z. B. im Fall der Betriebsrentensysteme regelmäßig der Dotierungsrahmen ausgeweitet werden oder die Ansprüche der Arbeitnehmer müssen gekürzt werden. Einen Teil der Last tragen deshalb auch die künftigen Arbeitnehmergenerationen97. Denn die Minderung bereits bestehender Rechte oder Anwartschaften ist nur sehr eingeschränkt möglich98. Problematisch an der rückwirkenden Anpassung der Vergütung nach oben ist zudem, daß die bisher diskriminierten Arbeitnehmer Leistungen in einer Höhe erhalten, die sie mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht erhalten hätten, wenn der Arbeitgeber oder die Partner der kollektiven Vereinbarungen den Gleichbehandlungsgrundsatz von vomherein beachtet hätten99. Denn die Urheber der diskriminierenden Regelung haben mit einem bestimmten Dotierungsrahmen kalkuliert. Dieser Rahmen wird durch die rückwirkend entstanden Leistungsansprüche der bisher benachteiligten Arbeitnehmer bei gleichbleibenden Leistungsansprüchen aller Arbeitnehmer höchstwahrscheinlich gesprengt, so daß die Leistungsansprüche aller Arbeitnehmer für die Zukunft gesenkt werden müssen. Wäre der Gleichbehandlungsgrundsatz von Anfang an beachtet worden, wären aber auch die Leistungsanspüche aller Arbeitnehmer (inklusive der Diskriminierten) für die Vergangenheit niedriger ausgefallen 100• Verstößt die Regelung eines Tarifvertrages oder einer Betriebsvereinbarung gegen das Diskriminierungsverbot, so ist die Rechtsfolge des Verstoßes, die Anpassung nach oben, unter dem Gesichtspunkt der Betriebes- und insbesondere der Tarifautonomie nicht unbedenklich 101 . Denn durch die Angleichung nach oben wird den Partnern der kollektiven Verträge das Recht genommen den relativen Wert der Arbeitskraft selbst festzulegen 102• Dieser Eingriff ist jedoch hinzunehmen. Denn 94

MüKo/ Schaub, BGB, § 612 Rdn. 279.

95 Sieg, SAE 1982, S. 260, 262; Lieb, ZfA 1996, S. 319,342. 96 Nicolai, ZfA 1996, S. 481,488.

97 Höfer, BB 1994, S. 2139, 2140 ff.; Lieb, ZfA 1996, S. 319, 320, 342; Nicolai, ZfA 1996,8.481, 482,493,497. 98 Vgl.: EuGH NZA 1994, S. 1073, 1075; 1126, 1127; BAG NZA 1987, S. 445,448. 99 Lieb, ZfA 1996, S. 319, 343. 100 Lieb, a. a. 0. 101 Dies gilt auch für die durch die Vertragsfreiheit, ausführlicher hierzu unter F. V. (drittes Kapitel). 102 Vgl.: Däubler, ArbuR 1981, S. 193, 196 f.; Nicolai, ZfA 1996, S. 481,487.

216

3. Kap.: Unmittelbar geltende Mindestarbeitsbedingungen

soweit er zwingende Wirkung hat, ist er nur vorübergehender Natur. Den Tarifvertragsparteien bleibt es unbenommen, für die Zukunft eine neue - nicht diskriminierende- Regelung zu treffen 103 . Weiter ist zu bedenken, daß wenn man alles beim alten belassen würde, der Grundsatz der Lohngleichheit ein Opfer der Tarifautonomie würde 104 . Nach dem Grundsatz der praktischen Konkordanz 105 muß die Verfassung jedoch als Einheit verstanden werden, deren einzelne Wertentscheidungen möglichst umfassend zu realisieren sind. Deshalb wird der mit einer Anpassung nach oben regelmäßig einhergehende Eingriff in die Tarif- bzw. Betriebsautonomie als zulässig angesehen 106•107 . Der Grundsatz der Lohngleichheit kann nicht nur von den diskriminierten Arbeitnehmern im Klageweg durchgesetzt werden. Auch dem Betriebsrat obliegt es gemäߧ§ 75 I, 87, I Nr. 10, 99 BetrVG Diskriminierungen von Arbeitnehmern zu verhindern. Die praktische Bedeutung der Mitbestimmungsrechte des Betriebsrates ist nicht zu unterschätzen, denn bei diskriminierten aber noch im Betrieb beschäftigten Arbeitnehmern ist die Bereitschaft die ihnen zu unrecht verwehrte Vergütung einzuklagen regelmäßig gering ausgeprägt 108 . Für den wegen Diskriminierung klagenden Arbeitnehmer gilt gemäߧ 612 III 3 BGB die Beweiserleichterung des§ 611a I 3 BGB. Der Arbeitnehmer muß darlegen und beweisen, daß mit ihm eine geringere Vergütung vereinbart wurde, als mit einem Arbeitnehmer des anderen Geschlechts, der gleiche oder gleichwertige Arbeit verrichtet. Weiter muß der Arbeitnehmer glaubhaft machen, daß im Fall der unmittelbaren Diskriminierung das Geschlecht für die Ungleichbehandlung ursächlich ist und im Fall der mittelbaren Diskriminierung ein Zusammenhang zwischen dem tatsächlichen Nachteil und der Geschlechtszugehörigkeit besteht. Gelingt dies dem Arbeitnehmer, trägt der Arbeitgeber die volle Beweislast dafür, daß die Differenzierung nicht wegen des Geschlechts erfolgte 109. Diese Beweiserleichterung verbessert die prozessuale Position des Arbeitnehmers nachhaltig. Denn der diskriminierte Arbeitnehmer befindet sich typischerweise in BeweisschwierigkeiSchüren, RdA 1990, S. 18, 23. Däubler, ArbuR 1981, S. 193, 196; Pfarr/Bertelsnumn, Diskriminierung, S. 312. 105 Vgl.: Erstes Kapitel C.III.3. 106 Soergel/ Raab, BGB, § 612 Rdn. 82; Schüren, a. a. 0.; EuGH AP Nr. 21, 25, 57, 58 zu Art. 119 EWG-Vertrag. 107 Insoweit besteht eine Divergenz zur früheren Rechtsprechung des BAG. Danach war eine Anpassung nach oben nur für die Vergangenheit vorzunehmen. Für die Zukunft sollte eine solche Anpassung hingegen ausscheiden, weil sie einen Eingriff in die Tarif- bzw. Betriebsautonomie darstellen würde. Die diskriminierende Regelung wurde gemäß § 134 BOB als insgesamt nichtig angesehen, mit der Folge, daß für die Zukunft kein Arbeitnehmer mehr Rechte aus ihr herleiten konnte, vgl.: BAG AP Nr. 136 zu Art. 3 GG; BAG AP Nr. I zu § 1 BetrAVG Besitzstand. Diese Rechtsprechung führte bis zu einer Neuregelung durch die Tarifoder Betriebspartner für die Zukunft stets zu einer Anpassung nach unten. 108 Däubler, ArbuR 1981, S. 193,201- Hier werden auch statistische Angaben gemacht. 109 Soergel/ Raab, BGB, § 612 Rdn. 92 f.; Molitor, RdA 1984, S. 13, 17. 103

104

F. Das Diskriminierungsverbot des § 2 I BeschFG

217

ten. Dem Arbeitgeber fällt es demgegenüber aufgrund seiner größeren Sachnähe und des vorhandenen Gesamtüberblickes leichter alle relevanten Informationen zusammenzutragen 110. Zur praktischen Durchsetzung des § 612 III BGB trägt auch die Auslegungsbzw. Aushangpflicht der Norm bei, zu der gemäß Art. 2 des EG-Anpassungsgesetzes vom 13. 08. 1980111 Arbeitgeber verpflichtet sind, die in ihrem Betrieb i.d.R. mehr als fünf Arbeitnehmer beschäftigen. In der Gesamtbetrachtung bleibt festzuhalten, daß die Vorschriften des§ 612 III BGB und des Art. 141 EGV maßgeblich zu einer Beseitigung geschlechtsspezifischer Vergütungsdifferenzierungen beigetragen haben, so daß im betrieblichen Alltag kaum noch augenfällige Ungleichbehandlungen zu verzeichnen sind.

F. Das Diskriminierungsverbot des § 2 I BeschFG § 2 I BeschFG verbietet es, teilzeitbeschäftigte Arbeitnehmer wegen der Teilzeitarbeit gegenüber vollzeitbeschäftigten Arbeitnehmern unterschiedlich zu behandeln. Im Folgenden wird untersucht, inwieweit § 2 BeschFG zur Verhinderung bzw. Beseitigung unzumutbarer oder unbilliger Arbeitsbedingungen geeignet ist. Hierzu muß zunächst auf die Voraussetzungen der Normen eingegangen werden.

I. Adressaten Adressaten der Vorschrift sind die teilzeitbeschäftigten Arbeitnehmer, deren Arbeitgeber, die Partner kollektiver betrieblicher Vereinbarungen sowie nach h.M. und Rechtsprechung auch die Tarifvertragsparteien 1 . Teilzeitbeschäftigt sind nach der Legaldefinition des § 2 II BeschFG Arbeitnehmer, deren regelmäßige Wochenarbeitszeit kürzer ist, als die regelmäßige Wochenarbeitszeit vergleichbarer vollzeitbeschäftigter Arbeitnehmer des Betriebes. Die Bindung der Betriebsparteien an § 2 I BeschFG ergibt sich aus einem Umkehrschluß aus § 6 I BeschFG2 • Gemäß § 6 I BeschFG kann durch Tarifvertrag u. a. von dem Diskriminierungsverbot des§ 2 BeschFG (auch) zuungunsten der ArbeitIIO Pfarr/Bertelsmann, Diskriminierung, S. 73; Eich, NJW 1980, S. 2329, 2332; Däubler; ArbuR 1981, S. 193, 198; BAG AP Nr. 110 zu Art. 3 GG. III BGBI. 1980 I, S. 1308. I Pfarr, NZA 1986, S. 586, 588; Amdt, NZA 1989, Beilage Nr. 3, S. 8; MHBzArbR/ Schüren, § 157 Rdn. 62; vgl. auch die Nachweise in Fußnote 6. 2 MHBzArbR/ Schüren,§ 157 Rdn. 63.

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3. Kap.: Unmittelbar geltende Mindestarbeitsbedingungen

nehmer abgewichen werden. Den Betriebspartnern ist dies nicht erlaubt, ihnen ist eine Disposition über die Vorschrift des§ 2 I BeschFG somit verwehre. Ob die Tarifpartner an das Diskriminierungsverbot gebunden sind, ist trotz des eindeutigen Wortlautes des § 6 I BeschFG umstritten. In der Begründung zum Gesetzentwurf ist nachzulesen, "daß die Tarifvertragsparteien von den§§ 2 bis 5 auch zuungunsten der Arbeitnehmer abweichen können", weil "bei tarifvertragliehen Vereinbarungen über Teilzeitarbeit und deren Sonderformen davon ausgegangen werden kann, daß die Tarifvertragsparteien sachlich gerechtfertigte Ausnahmebestimmungen zu den gesetzlichen Regelungen, insbesondere branchenspezifische Regelungen, besser als der Gesetzgeber treffen können und dabei die Schutzinteressen der Arbeitnehmer ausreichend berücksichtigen"4 . Die Rechtsprechung5 und die h.M. 6 verneinen demgegenüber eine Tarifdisposität des § 2 I BeschFG, weil nicht einzusehen sei, aus welchen Gründen den Tarifvertragsparteien die Befugnis zukommen soll, teilzeitbeschäftige Arbeitnehmer zu diskriminieren. Das BAG meint sogar, die Tarifdisposität des § 2 I BeschFG beruhe auf einem Redaktionsversehen des Gesetzgebers7 •8 .

II. Verbot der Ungleichbehandlung § 2 I BeschFG untersagt die Ungleichbehandlung von Teilzeitarbeitnehmern und Vollzeitarbeitnehmern wegen der Teilzeitarbeit Anknüpfungspunkt des Diskriminierungsverbotes ist die regelmäßige Wochenarbeitszeit9 des jeweiligen Betriebes. 3 BT-Ds 10/2102, S. 26; MHBzArbR/ Schüren,§ 157 Rdn. 63; Amdt, NZA 1989, Beilage Nr. 3, S. 8, 12. 4 BT-Ds 10/2102, S. 26; BR-Ds 394/84, S. 27. s BAG AP Nr. 6 zu § 2 BeschFG 1985. 6 Riester, Deregulierung, S. 51; Göbel, MIW /G/S-BeschFG, Rdn.165; Pfarr, NZA 1986, S. 586, 588; Wildschütz, NZA 1991, S. 925, 928; Richardi, NZA 1992, S. 625, 630; Schüren, Anmerkung zu BAG AP Nr. 6 zu § 2 BeschFG 1985; ders., RdA 1990, S. 18, 22; MHBzArbR/ Schüren, § 157 Rdn. 12 mit weiteren Nachweisen in Fußnote 96; a.A.: Rosenfelder, BeschFG, S. 59; Ha/bach, BeschFG, S. 41; Löwisch, BB 1985, S. 1200, 1203; Pfarr, NZA 1986, S. 585, 589; Hanau/Preis, ZfA 1988, S. 177, 184; Amdt, NZA 1989, Beilage Nr. 3, S. 8; Linnenkohl I Kilz/ Reh, BB 1990, S. 2038, 2042 f. 7 BAG AP Nr. 6 zu § 2 BeschFG mit Anmerkung Schüren; ebenso: Berger-Delhey, Anmerkung zu BAG AP Nr. 2 zu§ 2 BeschFG 1985; a.A.: Schüren, Anmerkung zu BAG AP Nr. 6 zu§ 2 BeschFG 1985. s Im Ergebnis hat dieser Streit wohl nur selten Auswirkungen. Denn die Tarifvertragsparteien sind an Art. 3 GG gebunden, ebenso: v.Hoyningen-Huene, NJW 1985, S. 1801, 1803; Sowkil, DB 1994, S. 1873, 1874. Den im ersten Kapitel dargestellten Grundsätzen und dem Subsidiaritätsprinzip entspricht allerdings eine weitgehende Zurückhaltung des Gesetzgebers, so daß mir ein am Wortlaut orientiertes Verständnis des § 6 I BeschFG geboten erscheint. 9 Die Woche wurde als Bezugszeitraum gewählt, weil die Wochenarbeitszeit die gebräuchlichste Form der Arbeitszeitbestimmung ist. Haben Arbeitszeitvereinbarungen von Teilzeit-

F. Das Diskriminierungsverbot des § 2 I BeschFG

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Der Vergleich zwischen den Voll- und Teilzeitbeschäftigten ist somit betriebs- und nicht unternehmensbezogen anzustellen, selbst wenn ein Unternehmen aus mehreren Betrieben besteht 10. Dies ergibt sich aus§ 2 II BeschFG. Denn hier werden die teilzeitbeschäftigten Arbeitnehmer als Arbeitnehmer definiert, die zu einer geringeren regelmäßigen Wochenarbeitszeit als vergleichbare vollzeitbeschäftigte Arbeitnehmer des Betriebes arbeiten. Verglichen werden können stets nur gleiche oder gleichartige Tätigkeiten 11 • Insoweit kann auf die Voraussetzungen im dritten Kapitel unter E.III. verwiesen werden. § 2 I BeschFG verbietet nach seinem Wortlaut nur eine Ungleichbehandlung von teilzeitbeschäftigten Arbeitnehmern gegenüber vollzeitbeschäftigten Arbeitnehmern. Nach Rechtsprechung 12 und h.M. 13 untersagt§ 2 I BeschFG dariiberhinaus auch Ungleichbehandlungen innerhalb der Gruppe der Teilzeitbeschäftigten, z. B. zwischen geringfügig Beschäftigten und Teilzeitbeschäftigten mit einer erheblich höheren WochenstundenzahL Inhaltlich erlaßt das Gleichbehandlungsgebot sämtliche Arbeitsbedingungen und jegliches rechtserhebliche Handeln des Arbeitgebers, egal ob dies auf vertraglichen Vereinbarungen oder einseitigen Maßnahmen des Arbeitgebers beruht 14• Verboten sind sowohl unmittelbare als auch mittelbare Diskriminierungen 15• 16•

111. Differenzierungen § 2 BeschFG verbietet nur die unterschiedliche Behandlung wegen der Teilzeitarbeit Differenzierungen aus anderen Griinden, als dem unterschiedlichen Arbeitsoder Vollzeitbeschäftigten einen anderen Bezugszeitraum oder ist in Fällen der Anpassung der Arbeitszeit an den Arbeitsanfall (variable Arbeitszeit) das Arbeitszeitvolumen nicht im Arbeitsvertrag bestimmt, ist die regelmäßige Wochenarbeitszeit auf der Basis einer Jahresdurchschnittsberechnung zu ermitteln. So die Begründung des Gesetzentwurfes, BT-Ds 10/ 2102, s. 25. IO Schaub, ArbRHB, § 44 II 1; Ha/bach, BeschFG, S. 37; Löwisch, BB 1985, S. 1200, 1203. 11 Ha/bach, a. a. 0. 12 BAG AP Nr. 6, 11 zu§ 2 BeschFG 1985. 13 Sowka, DB 1994, S. 1873, 1874; a.A.: MHBzArbR/ Schüren,§ 157 Rdn. 76 f.; Löwisch, BB 1985, S. 1200, 1203. 14 MHBzArbR/ Schüren, § 157 Rdn. 78; Löwisch, a. a. 0.; Richardi, NZA 1992, S. 624, 626; Sowka, a. a. 0 .; BAG AP Nr. 2, 4, 6 zu § 2 BeschFG 1985; BAG AP Nr. 18 zu § 1 BetrAVG. 15 Pfarr; NZA 1986, S. 586, 588. 16 Vgl.: E.III. und IV. (drittes Kapitel).

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3. Kap.: Unmittelbar geltende Mindestarbeitsbedingungen

umfang, sind erlaubt 17. Darüberhinaus gestattet § 2 I BeschFG eine unterschiedliche Behandlung wegen der Teilzeitarbeit, wenn dies durch sachliche Gründe gerechtfertigt ist 18. Das BAG hat darauf hingewiesen, daß die Grenze zwischen diesen Fallgruppen fließend ist 19. 1. Differenzierungen aus anderen Gründen als der Teilzeitarbeit

Erlaubt sind Differenzierungen aus anderen Gründen, als dem unterschiedlichen Arbeitsumfang20. Hierzu zählen nach der Begründung des Gesetzentwurfes u. a. die Arbeitsleistung, Qualifikation, Berufserfahrung, die soziale Lage oder unterschiedliche Arbeitsplatzanforderungen 21 . Diese Aufzählung ist nicht abschließend22. So entschied das BAG z. B., daß auch Gründe des Arbeitsschutzes eine unterschiedliche Behandlung rechtfertigen können 23 . 2. Differenzierungen aus sachlichen Gründen

Auch wegen der Teilzeitarbeit läßt § 1 I BeschFG eine unterschiedliche Behandlung zu, wenn sachliche Gründe sie rechtfertigen 24 . Die Begründung des Gesetzentwurfes nennt hierfür als Beispiele Fälle des beruflichen Aufstiegs oder der Versetzung, wenn die auf einem bestimmten Arbeitsplatz zu erfüllenden Aufgaben nicht durch einen teilzeitbeschäftigten Arbeitnehmer wahrgenommen werden können, sowie Fälle bei denen besondere Leistungen des Arbeitgebers durch einen bestimmten Mindestumfang der Beschäftigung gerechtfertigt sind. Ausdrücklich aufgeführt sind die Vergabe von Werksmietwohnungen, Zusatzleistungen wegen Krankheit oder der Beendigung des Beschäftigungsverhältnisses sowie die betriebliche Altersversorgung25 . hierzu unter F.III.l. (drittes Kapitel). hierzu unter F.III.2. (drittes Kapitel). 19 BAG AP Nr. 4 zu§ 2 BeschFG 1985; BAG DB 1994, S. 994. 2o BT-Ds 10/2102, S. 24; Sowka, a. a. 0.; Göbel, MIW /G/S-BeschFG, Rdn. 162; Wildschütz, NZA 1991, S. 925; Richardi, NZA 1992, S. 625, 626. 21 BT-Ds 10/2102, S. 24; ebenso: Halbach, BeschFG, S. 38. 22 BAG AP Nr. 4 zu § 2 BeschFG 1985. 23 BAG, a. a. 0.; In dem vorliegenden Fall urteilte das BAG, daß die Entscheidung des Arbeitgebers, keinen Arbeitnehmer länger als 20 Stunden pro Woche an einem Bildschirmgerät arbeiten zu lassen, auch dann rechtmäßig ist, wenn dies dazu führt, daß Teilzeitbeschäftigte prozentual gesehen länger am Bildschirm arbeiten als Vollzeitbeschäftigte. Das BAG, a. a. 0., wies auch darauf hin, daß in dem Beweggrund des Gesundheitsschutzes zugleich ein sachlicher Grund im Sinne der Ausnahmebestimmung des Gesetzes gesehen werden kann. 24 BT-Ds 10/2102, S. 24; Wildschütz, NZA 1991, S. 925; Sowka, a. a. 0 .; Richardi, a. a. 0.; Göbel, MIW /G/S-BeschFG, Rdn. 162. 25 BT-Ds 10/2102, S. 24. 17 18

F. Das Diskriminierungsverbot des § 2 I BeschFG

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Hinsichtlich des sachlichen Grundes und der an ihn zu stellenden Anforderungen ist vieles umstritten. Besonderes Interesse erfährt die Frage, ob Teilzeitbeschäftigte bereits für Mehrarbeit, die die vereinbarte Arbeitszeit übersteigt, Überstundenzuschläge beanspruchen können oder ob Überstundenzuschläge für Teilzeitbeschäftigte erst für Arbeitszeiten zu zahlen sind, die die regelmäßige Arbeitszeit der Vollzeitbeschäftigten übersteigt26. Auf Einzelheiten bezüglich des sachlichen Grundes i. S. d. § 2 I BeschFG und der an ihn zu stellenden Anforderungen soll hier nicht eingegangen werden27 • Hinzuweisen sei nur darauf, daß selbst in der Rechtsprechung des BAG völlig entgegengesetzte Entscheidungen zu finden sind. So entschied das BAG hinsichtlich der Problematik der Teilzeitbeschäftigung im Nebenerwerb, daß die Unterrichtsetteilung durch einen nebenberuflich tätigen teilzeitbeschäftigten Lehrer einen sachlichen Grund für eine geringere Vergütung darstellt, wenn der Teilzeitbeschäftigte in einem (Vollzeit-)Beamtenverhältnis oder einem dem Beamtenverhältnis ähnlichen (Vollzeit-)Dienstverhältnis steht, weil der Teilzeitarbeitnehmer eine gesicherte Existenzgrundlage habe. 28. An dieser Rechtsprechung hielt das BAG nicht fest und urteilte später: "Teilzeitarbeit darf nicht deswegen schlechter bezahlt werden als Vollzeitarbeit, weil der Teilzeitarbeitnehmer einen Hauptberuf ausübt29 (oder Altersruhegeld bezieht30) und dadurch eine gesicherte Existenzgrundlage hat."31 •

IV. Rechtsfolgen einer Ungleichbehandlung Rechtsfolge eines Verstoßes gegen das Diskriminierungsverbot ist die Nichtigkeit der dem Verbot widersprechenden Regelung(§ 134 BGB)32 . Die übrigen Bestandteile der Regelung bleiben entgegen dem Grundsatz des § 139 BGB wirksam33. Die diskriminierten Teilzeitbeschäftigten haben grundsätzlich Anspruch auf die gleichen Arbeitsbedingungen, wie die nichtdiskriminierten Arbeitnehmer. Bezüglich der hierbei möglicherweise auftretenden Probleme (z. B. bei der rückwir26 Das BAG vertritt letztere Ansicht, vgl.: BAG AP Nr. 56 zu § 2 BeschFG 1985; ebenso: v.Hoyningen-Huene, NJW 1985, S. 1801, 1802; Amdt, NZA 1989, Beilage Nr. 3, S. 8, 10; Sowka, DB 1992, S. 2030, 2032; a.A.: Schüren, RdA 1990, S. 18 ff.; ders., NZA 1993, S. 529 ff.; MHBzArbR/ Schüren,§ 158 Rdn. 101 ff. 27 Beispiele für sachliche Gründe sind bei Rosenfelder, BeschFG, S. 47 ff., und Göbel, MI W/G/S-BeschFG, Rdn. 162 ff., zu finden. Eine umfassende Untersuchung liefern MHBzArbR/ Schüren,§ 158 Rdn. 68 ff.; Wank, RdA 1985, S. I, 13 ff. 28 BAG AP Nr. 8 zu§ 2 BeschFG 1985; vgl. auch BAG AP Nr. 23 zu§ 2 BeschFG 1985. 29 BAG AP Nr. 45 zu§ 2 BeschFG 1985; vgl. auch BAG AP Nr. 12 zu§ 2 BeschFG 1985. 30 BAG AP Nr. 46 zu§ 2 BeschFG 1985. 31 Nachweise in den Fußnoten 29 und 30. 32 Marholdl Beckers, ArbR-Blattei, S.D. 800.1 Rdn. 97; MHBzArbR/ Schüren, § 157 Rdn. 88; Sowka, DB 1994, S, 1873, 1875; BAG AP Nr. 2 zu§ 2 BeschFG 1985. 33 zur Begründung vgl.: C.III. (drittes Kapitel).

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3. Kap.: Unmittelbar geltende Mindestarbeitsbedingungen

kenden Anhebung der Arbeitsbedingungen) kann auf die Ausführungen im dritten Kapitel unter E. VI. verwiesen werden. Die diskriminierten Arbeitnehmer haben Anspruch darauf, so wie die Vollzeitbeschäftigten oder die begünstigten Teilzeitbeschäftigten behandelt zu werden 34 . Für den Vergütungsbereich bedeutet dies, daß an die Stelle der nach§ 134 BGB nichtigen Vergütungsvereinbarung gemäߧ 612 II BGB die übliche Vergütung tritt35• 36. Üblich ist das dem Verhältnis der Arbeitszeit entsprechende Entgelt der nichtdiskriminierten Arbeitnehmer37 . Sollte sich die Diskriminierung auf andere Arbeitsbedingungen als das Entgelt erstrecken, haben die diskriminierten Teilzeitarbeitnehmer auch in diesem Fall Anspruch auf die gleichen Arbeitsbedingungen wie die nicht diskriminierten Arbeitnehmer38 .

V. § 2 I BeschFG als taugliches Instrument zur Setzung von Mindestarbeitsbedingungen? Der Anteil der teilzeitbeschäftigten Arbeitnehmer an der Gesamtzahl der abhängig Beschäftigten ist seit 1970 stetig angestiegen39. Mit der Zunahme der Teilzeitarbeitsverhältnisse trat auch der Aspekt der Gleichbehandlung von Voll- und Teilzeitarbeitnehmem in das Interesse der Öffentlichkeit und führte schließlich 1985 zur Normierung des§ 2 I BeschFG. Bei den Teilzeitbeschäftigten handelt es sich ganz überwiegend um Frauen40. Eine Teilzeitarbeitnehmer benachteiligende Regelung benachteiligt deshalb vor allem Frauen. Das Problem der Diskriminierung teilzeitbeschäftigter Arbeitnehmer ist somit meist auch ein Problem der Diskriminierung von Frauen. Aus arbeitsrechtlicher Sicht ist dies deshalb von Interesse, weil die Frauendominanz bei der MHBzArbR/ Schüren, a. a. 0.; Sowka, a. a. 0. Berger-Delhey, Anmerkung zu BAG AP Nr. 2 zu § 2 BeschFG 1985; Sowka, a. a. 0.; BAG AP Nr. 2, 9, 29 zu§ 2 BeschFG 1985; BAG AP Nr. 2 zu§ 612 BOB Diskriminierung; a.A.: MHBzArbR/ Schüren, a. a. 0. 36 Zur üblichen Vergütung vgl.: A.II. (drittes Kapitel). 37 Sowka, a. a. 0.; BAG AP Nr. 2, 3, 4, 7 zu§ 2 BeschFG 1985. 38 Schüren meint, dieser Anspruch folge unmittelbar aus § 2 I BeschFG. Dies gelte auch für Diskriminierungen im Entgeltbereich- vgl.: MHBzArbR I Schüren, § 157 Rdn. 88, § 158 Rdn. 67. 39 Sie betrug 1970 9,6%, 1976 11, 5%, 1984 12, 8%, 1988 13,6%, 1990 16% - Angaben nach MHBzArbR/ Schüren, § 157 Rdn. 12; Amdt, NZA 1989, Beilage Nr. 3, S. 8; Sowka, DB 1994, S. 1873; Richardi, NZA 1992, S. 624. 40 Der Frauenanteil bei den teilzeitbeschäftigten Arbeitnehmern beträgt ca. 90% - Angaben nach: v.Hoyningen-Huene, NJW 1985, S. 1801, 1802; Mückenberger; KJ 1985, S. 255, 260; Hanau/Preis, ZfA 1988, S. 177, 194; Zachert, ArbuR 1988, S. 129, 134; MHBzArbR/ Schüren, § 157 Rdn. 12; Amdt, a. a. 0 .; Pfarr/ Bertelsmann, Diskriminierung, S. 214; Sowka, a. a.O. 34 35

F. Das Diskriminierungsverbot des § 2 I BeschFG

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Teilzeitarbeit zu einer Überschneidung der Diskrimierungsverbote der §§ 2 I BeschFG, 612 III BGB und Art. 141 EGV führt. Wegen dieser Schnittstellen kann hinsichtlich der Ausführungen zur Frage der Tauglichkeit des § 2 I BeschFG zur Setzung von Mindestarbeitsbedingungen auch weitgehend auf die Ausführungen im dritten Kapitel unter E. VII. verwiesen werden. § 2 I BeschFG setzt für teilzeitbeschäftigte Arbeitnehmer Mindestarbeitsbedingungen. Denn die Untergrenze der für Teilzeitarbeitnehmer zulässigen Arbeitsbedingungen entspricht den Arbeitsbedingungen der vergleichbaren Vollzeitarbeitnehrner. Wie hoch oder niedrig diese Grenze ist, steht jedoch nicht von vomherein fest, sondern ergibt sich erst aus einem Vergleich der konkreten Arbeitsbedingungen. Wie in diesem Kapitel zur geschlechtsspezifischen Diskriminierung unter E.VII. dargelegt, kann dies dazu führen, daß die Teilzeitbeschäftigten nur Anspruch auf weniger als angemessene Arbeitsbedingungen oder sogar auf mehr als angemessene Arbeitsbedingungen haben. Da ca. 90% aller Arbeitnehmer zu Arbeitsbedingungen beschäftigt werden, die den jeweils einschlägigen Tarifverträgen entsprechen41 , stellt § 2 I BeschFG jedoch faktisch sicher, daß Arbeitnehmer in ihrer Mehrzahl nicht wegen der Teilzeitarbeit zu unangemessenen Arbeitsbedingungen beschäftigt werden und verhindert so nicht nur unzumutbare sondern auch unbillige Arbeitsbedingungen. Sollten die vergleichbaren Vollzeitarbeitnehmer jedoch selbst zu unbilligen Arbeitsbedingungen beschäftigt werden, gibt § 2 I BeschFG den Teilzeitarbeitnehmern nur einen Anspruch auf diese unbilligen Arbeitsbedingungen. § 2 I BeschFG kann dann unbillige Arbeitsbedingungen der Teilzeitarbeitnehmern nicht verhindern.

Im direkten Vergleich des § 2 I BeschFG mit § 612 III BGB und Art. 119 EGV bietet § 2 I BeschFG den umfassenderen Schutz vor Ungleichbehandlung. Denn das Diskriminierungsverbot des § 2 I BeschFG ist - im Gegensatz zu § 612 III BGB und Art. 141 EGV- nicht auf den Entgeltbereich beschränkt sondern erfaßt sämtliche Arbeitsbedingungen. Einen vollkommenen Schutz vor Ungleichbehandlung teilzeit- und vollzeitbeschäftigter Arbeitnehmer kann aber auch § 2 I BeschFG nicht bieten. Zum einen bleiben Differenzierungen aus anderen Griinden als der Teilzeitarbeit und sogar aus sachlichen Griinden wegen der Teilzeitarbeit zulässig42 . Bei fehlender restriktiver Auslegung dieser Ausnahmen kann das Diskriminierungsverbot dadurch leicht ausgehöhlt werden. Zum anderen gilt das Diskriminierungsverbot nur betriebsbezogen. Ungleichbehandlungen zwischen Arbeitnehmern verschiedener Betriebe bleiben sanktionslos43 • Die im Betrieb X zu einem Stundenlohn von 17,- DM arbeitende teilzeitbeschäftigte A hat Anspruch auf einen Stundenlohn von 19,- DM, wenn dies die Vergütung ihrer vollzeitbeschäftigten Kollegen im Betrieb X ist. Die Nachweise in Fußnote 1 der Einleitung. v.Hoyningen-Huene, NJW 1985, S. 1801, 1802, hält den mit dem Benachteiligungsverbot erreichten Schutz der Teilzeitbeschäftigten deshalb für nicht sehr weitgehend. 43 MHBzArbR/ Schüren, § 157 Rdn. 65. 41

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3. Kap.: Unmittelbar geltende Mindestarbeitsbedingungen

im Betrieb Y zu einem Stundenlohn von 16,- DM arbeitende teilzeitbeschäftigte B hingegen nicht. Und dies grundsätzlich selbst dann nicht, wenn die Betriebe X und Y zu demselben Unternehmen gehören. Zu beachten ist weiter, daß § 2 I BeschFG im umgekehrten Fall der Diskriminierung, nämlich dann, wenn vollzeitbeschäftigte Arbeitnehmer gegenüber teilzeitbeschäftigten Arbeitnehmern benachteiligt werden, die vollzeitbeschäftigten Arbeitnehmer nicht vor einer Diskriminierung schützt44. § 2 I BeschFG zwingt nur zur formalen Gleichbehandlung von Teil- und Vollzeitbeschäftigten. An den gesellschaftlichen Mechanismen, die Frauen häufiger als Männer dazu zwingen eine Teilzeitbeschäftigung auszuüben, kann das Diskriminierungsverbot nichts ändern. Auch daran, daß Teilzeitarbeitsverhältnisse vor allem in unterdurchschnittlich vergüteten Branchen, wie dem Dienstleistungsgewerbe und hier insbesondere dem Handel vereinbart werden45 -mit der Folge daß die durchschnittliche Stundenvergütung aller Teilzeitbeschäftigten unter der durchschnittlichen Stundenvergütung aller Vollzeitbeschäftigten liegt46 - kann § 2 I BeschFG nichts ändern. Denn die Arbeitgeber sind nicht gezwungen, allgemeine gesellschaftliche Defizite durch besondere Vergütungsregelungen zu kompensieren47. Das Diskriminierungsverbot bekämpft deshalb nur einen Ausschnitt aus dem Gesamtbereich der Diskriminierung. § 2 I BeschFG ist nicht abdingbar48 . Ein Verzicht auf das Gleichbehandlungsgebot ist nicht möglich49•50. Unter dem Gesichtspunkt des beabsichtigten Schutzes der teilzeitbeschäftigten Arbeitnehmer ist dies positiv. Zugleich wird aber auch die Befugnis der Arbeitsvertragsparteien, über die inhaltliche Ausgestaltung des Arbeitsverhältnisses privatautonom zu entscheiden, beschnitten und hinsichtlich der zu vereinbarenden Arbeitsbedingungen die Vertragsfreiheit eingeschränkt51 . Dieser Eingriff in die Privatautonomie ist jedoch hinzunehmen. Denn stellte man § 2 I

44 Mir ist zwar kein so gelagerter Fall bekannt. Da die Beschäftigung von teilzeitbeschäftigten Arbeitnehmern für den Arbeitgeber aber mit geringeren Kosten verbunden sein kann, ist eine Bevorzugung der Teilzeitbeschäftigten gegenüber den Vollzeitbeschäftigten nicht auszuschließen. 4S Sowka, DB 1994, S. 1873. 46 Zutreffend ist aber auch, daß der durch Teilzeitarbeit erzielte Verdienst in vielen Familien nur ein Zubrot darstellt- Richardi, NZA 1992, S. 625. 47 Sieg, SAE 1982, S. 260, 261; Hunold, DB 1984, Beilage Nr. 5, S. 1, 14; Wank, RdA 1985, S. 1, 20; Hanau!Preis, ZfA 1988, S. 177, 186. 48 Zum Streit um die Tarifdisposität des§ 2 I BeschFG vgl.: F.I. (drittes Kapitel). 49 MHBzArbR/Schüren, § 157 Rdn. 62; Halbach, BeschFG, S. 41; a.A.: v.HoyningenHuene, NJW 1985, S. 1801, 1803. so Insoweit geht das Diskriminierungsverbot über den allgemeinen arbeitsrechtlichen Gleichbehandlungsgrundsatz hinaus- vgl. hierzu J. (drittes Kapitel). SI Richardi, NZA 1992, S. 625, 626, meint sogar, es "wird der Sache nach ein Stück Kontrahierungszwang eingeführt".

F. Das Diskriminierungsverbot des § 2 I BeschFG

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BeschFG zur Disposition der Vertragsparteien, würde das Diskriminierungsverbot für Teilzeitbeschäftigte ein Opfer der Vertragsfreiheit Die in diesem Kapitel unter E.VII. geäußerten Bedenken gegenüber § 612 III BGB und Art. 119 EGV wegen ihres Eingriffs in die Tarif- und Betriebsautonomie sowie wegen der mit der rückwirkenden Anpassung der Vergütung in Gang gesetzten Spirale nach oben und einer etwaigen Überschreitung des Dotierungsrahmens können wegen der identischen Rechtsfolgen der Diskriminierungsverbote der§§ 2 I BeschFG, 612 III BGB und des Art. 141 EGV auch gegenüber§ 2 I BeschFG vorgebracht werden. Insoweit wird auf obige Ausführungen verwiesen. Der mit § 2 I BeschFG verbundene Eingriff in die Tarifautonomie läßt sich zusätzlich zu den unter B.III.5.f dargelegten Gründen auch mit einem besonderem Schutzbedürfnis der teilzeitbeschäftigten Arbeitnehmer rechtfertigen. Teilzeitbeschäftigte Arbeitnehmer sind in einem geringeren Maße gewerkschaftlich organisiert, als vollzeitbeschäftigte Arbeitnehmer52. Dies macht gesetzliche Regelungen zum Schutz von Teilzeitarbeitnehmern verständlich. Denn eine geringere Organisationsstärke schwächt die Verhandlungskraft der Gewerkschaften. Damit dies nicht zu einer Benachteiligung der Teilzeitbeschäftigten führt, gleicht § 2 I BeschFG dieses Defizit aus53 ·54. Im Arbeitsgerichtsprozeß obliegt es dem Arbeitnehmer die Ungleichbehandlung darzulegen und gegebenenfalls zu beweisen. Der Arbeitgeber muß das Vorliegen eines die Differenzierung rechtfertigenden Grundes beweisen55 . Diese Beweisverteilung verbessert die prozessuale Position des Arbeitnehmers. Denn dem diskriminierten Arbeitnehmer fehlt typischerweise der erforderliche Gesamtüberblick, um substantiiert zu den Differenzierungsgründen des Arbeitgeber vortragen zu können. Insgesamt ist festzustellen, daß § 2 I BeschFG die Rechtslage der teilzeitbeschäftigten Arbeitnehmer verbessert hat. Besonders deutlich wird dies an einem Urteil des BAG, welches im Jahre 1976- vor Inkrafttreten der§§ 612 III BGB, 2 I BeschFG - erging. Das BAG56 entschied damals auf der Grundlage des Art. 3 I GG, daß eine Differenzierung zwischen Voll- und Teilzeitarbeitnehmern nicht willkürlich sei, weil Teilzeitarbeitnehmer arbeitszeitlich geringer in Anspruch genom52 Schüren, Anmerkung zu BAG AP Nr. 6 zu § 2 BeschFG 1985; MHBzArbR/ Schüren, § 157 Rdn. 19. 53 Die Untersuchung von 530 Tarifverträgen durch Pfarr I Bertelsmann, Diskriminierung, S. 229 ff., hat gezeigt, daß (zumindest früher) Teilzeitbeschäftigte durch Tarifverträge be-

nachteiligten wurden. 54 Schüren, Anmerkung zu BAG AP Nr. 6 zu§ 2 BeschFG 1985, meint sogar, daß "von einer einigermaßen konsequenten Interessenvertretung der Teilzeitbeschäftigten durch die Gewerkschaften nicht die Rede sein kann." 55 Rosenfelder, BeschFG, S. 50; Schaub, ArbRHB, § 44 3 I d; Pfarr, NZA 1986 S. 585, 588. 56 BAG AP Nr. 2 zu § 62 BAT. 15 Andelewski

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3. Kap.: Unmittelbar geltende Mindestarbeitsbedingungen

men würden. Dieses Urteil könnte heute so nicht mehr ergehen. Denn, daß lediglich Teilzeitbeschäftigung geleistet wird, ist Element des Tatbestandes der Diskriminierung und kann nicht zugleich Rechtfertigungsgrund sein57.

G. Die Vorschriften der §§ 285 I 1 Nr. 3 und 286 I 1 Nr. 2 SGB III Zwei weitere Vorschriften zur Setzung von Mindestarbeitsbedingungen finden sich im Recht der Ausländerbeschäftigung. Gemäß § 284 I 1 SGB III dürfen Ausländer- sofern nicht einer der Ausnahmetatbestände des Satzes 2 eingreift- eine Beschäftigung in der Bundesrepublik nur mit Genehmigung des Arbeitsamtes ausüben und von Arbeitgebern nur beschäftigt werden, wenn sie eine solche Genehmigung besitzen. Die Genehmigung kann als Arbeitserlaubnis oder als Arbeitsberechtigung erteilt werden. Eine Arbeitsberechtigung wird gemäß § 286 I 1 Nr. 2 SGB III nur erteilt und eine Arbeitserlaubnis kann gemäß § 285 I 1 Nr. 3 SGB III nur erteilt werden, wenn der Ausländer nicht zu ungünstigeren Arbeitsbedingungen als vergleichbare deutsche Arbeitnehmer beschäftigt wird. Im Folgenden wird untersucht, inwieweit die §§ 285 I 1 Nr. 3 und 286 I 1 Nr. 2 SGB III zur Verhinderung bzw. Beseitigung unzumutbarer oder unbilliger Arbeitsbedingungen geeignet sind.

I. Adressaten Adressaten der Vorschrift sind alle in Deutschland beschäftigten und Beschäftigung suchenden Ausländer sowie deren (potentielle) Arbeitgeber, sofern nicht einer der Ausnahmetatbestände des § 284 I 2 SGB III auf sie zutrifft.

1. In Deutschland beschäftigte Ausländer

Ausländer sind alle Personen, die nicht Deutsche i. S. d. Art. 116 I GG sind 1• Insoweit kann auf die Legaldefinition des § 1 II AusiG zurliekgegriffen werden. Wer Deutscher ist, ergibt sich aus Art. 116 I GG und dem Reichs- und Staatsangehörigkeitsgesetz2. Danach ist vorbehaltlich anderweitiger gesetzlicher Regelungen Deutscher, wer die deutsche Staatsbürgerschaft besitzt oder als Flüchtling oder Hanau/Preis, ZfA 1988, S. 177, 196. Schaub, ArbRHB, § 27 II 4; MHBzArbR I Buchner, § 35 Rdn. 15; Nieseil Düe, SGB III, § 284 Rdn. 18; Becker-Schaffner, ArbuR 1977, S. 76; Schönefelder!Kranz /Wanka, AFG, § 19 Rdn. 5. 2 RGB11913 I, S. 583. 57 I

G. Die Vorschriften der§§ 285 I 1 Nr. 3 und 286 I 1 Nr. 2 SGB III

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Vertriebener deutscher Volkszugehörigkeit oder als dessen Ehegatte oder Abkömmling in dem Gebiet des Deutschen Reiches nach dem Stande vom 31. 12. 1937 Aufnahme gefunden hat (sog. Statusdeutscher)3 . Beschäftigung meint jede Art von abhängiger Tatigkeit4 • Umstritten ist, ob für diese Tätigkeit ein Entgelt vereinbart oder zumindest den Umständen nach zu erwarten sein muß5 . Dieser Frage soll nicht vertieft nachgegangen werden. Der Wortlaut der Vorschrift setzt eine Entgelterzielungsabsicht jedenfalls nicht voraus. Zu bedenken ist weiter, daß auch unentgeltliche Beschäftigungen den Zweck der Bestimmungen der Aus1änderbeschäftigung, den Vermittlungs- und Beschäftigungsvorrang deutscher und ihnen gleichgestellter Arbeitnehmer sicherzustellen6 , beriihren7 . Unbestritten ist, daß insbesondere ein Arbeitsverhältnis eine abhängige Tatigkeit i. S. d. § 284 SGB III darstellt. Auch Berufsausbildungs- Praktikantenund Volontärverhältnisse zählen hierzu8 . Selbständige Tatigkeiten werden hingegen von den Vorschriften der §§ 284 ff. SGB III nicht erfaßt9 . 2. Ausnahmen gemäß § 284 I 2 SGB III Ausländer, die in ihrer Person einen der Ausnahmetatbestände des § 284 I 2 SGB III verwirklichen, bedürfen keiner Genehmigung. Sie sind deshalb nicht Adressaten der Vorschriften der§§ 285 und 286 SGB III. a) Ausnahmen gemäß § 284 I 2 Nr. I SGB Ili

Hierzu zählen gemäß § 284 I 2 Nr. 1 SGB III Ausländer, denen nach den Rechtsvorschriften der Europäischen Gemeinschaften oder nach dem Abkommen über den Europäischen Wirtschaftsraum Freizügigkeit zu gewähren ist. Staatsangehörige der Staaten der Europäischen Union genießen innerhalb der Union gemäß Art. 39 EGV Freizügigkeit 10• Die Freizügigkeit umfaßt die AbschafW IPIEI Bartz, SGB III, § 284 Rdn. 10; Niesel/Düe, a. a. 0. MHBzArbRIBuchner, § 35 Rdn. 32; GK-SGB IIIISprung, § 284 Rdn. 7; WIPIEI Banz, SGB III, § 284 Rdn. 32. 5 so: Nieself Düe, SGB III, § 284 Rdn. 13; a.A.: W I PI EI Bartz, SGB III, § 284 Rdn. 33. 6 BT-Ds 1314941, S. 206; Bubeck!Schneider, Arbeitsförderungsrecht, S. 46; Hennig/ Theuerkauf, SGB 111, § 285 Rdn. I; Engels, RdA 1976, S. 165, 166; Schönefelder/Kranz/ Wanka, SGB 111, zu § 284. 7 W I PIE I Banz. SGB III, § 284 Rdn. 33. 8 Becker!Braasch, Arbeitnehmer, Rdn. 86; GK-SGB IIIISprung, a. a. 0.; Niesel/Düe, SGB III, § 284 Rdn. 15; W I PIE/ Banz, SGB III, § 284 Rdn. 32, 39; MHBzArbR/ Buchner, § 35 Rdn. 32; BSG SozR 4100 § 19 Nr. 8. 9 Bubeck I Schneider, Arbeitsförderungsrecht, S. 48; W /P /E/ Bartz, SGB 111, § 284 Rdn. 35; Niesel/Düe, SGB III, § 284 Rdn. 13 f. 3

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15*

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3. Kap.: Unmittelbar geltende Mindestarbeitsbedingungen

fung jeder auf der Staatsangehörigkeit beruhenden unterschiedlichen Behandlung der Arbeitnehmer der Mitgliedstaaten in bezug auf Beschäftigung, Entlohnung und sonstige Arbeitsbedingungen (Art. 39 II EGV). Sie gibt den Arbeitnehmern insbesondere das Recht, sich um tatsächlich angebotene Stellen zu bewerben und sich zu diesem Zweck im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen sowie sich in einem Mitgliedstaat aufzuhalten, um dort nach den für alle geltenden Rechtsund Verwaltungsvorschriften eine Beschäftigung auszuüben (Art. 39 III EGV) 11 • EU-Ausländer sind insoweit gegenüber anderen Ausländern privilegiert und benötigen zur Aufnahme einer Erwerbstätigkeit keine Genehmigung 12. Durch das Abkommen vom 02. 05. 1992 über den Europäischen Wirtschaftsraum13 werden die ratifizierenden Staaten (EFfA/EWR-Staaten) wie Mitgliedsstaaten der EU behandelt. Deshalb benötigen auch die Staatsbürger Islands, Norwegens und Lichtensteins zur Ausübung einer Erwerbstätigkeit in der Bundesrepublik keine Genehmigung 14. Nach Art. 11 EWG-VO 1612/68 benötigen auch Ehepartner von Staatsangehörigen eines Mitgliedsstaates der EU oder des EWR, die selbst nicht Staatsbürger eines dieser Staaten sind, keine Arbeitsgenehmigung, solange der unmittelbar befreite Partner eine selbständige oder unselbständige Tätigkeit im Bundesgebiet ausübt. Dasselbe gilt für Kinder, die noch nicht 21 Jahre alt sind oder denen Unterhalt gewährt wird 15.

b) Ausnahmen gemäß § 284 12 Nr. 2 SGB lil Ebenfalls nicht unter die Vorschriften der §§ 285, 286 SGB III fallen Ausländer, die eine unbefristete Aufenthaltserlaubnis (§§ 15, 24 AuslG) oder eine Aufenthaltsgenehmigung (§ 27 AuslG) besitzen (§ 284 I 2 Nr. 2 SGB III). Diese beiden Aufenthaltstitel geben ein rechtlich verfestigtes, nicht an einen Aufenthaltszweck gebundenes und auch bei Wegfall der Erteilungsvoraussetzungen nicht nachträglich beschränkbares (§ 12 II AuslG) Aufenthaltsrecht, das erst nach langjährigem 10 Zum Gleichbehandlungsgebot von Staatsbürgern aus EU-Staaten, vgl. die Ausführungen unter H. in diesem Kapitel. II Becker I Broosch, Arbeitnehmer, Rdn. 50; W I PIE I Banz, SGB III, § 284 Rdn. 17. 12 Becker/Braasch, Arbeitnehmer, Rdn. 95; Bubeck/Schneider, Arbeitsförderungsrecht, S. 47; GK-SGB IIIISprung, § 284 Rdn. 27; Niesel/Düe, SGB III, § 284 Rdn. 20; Hennig/ Theuerkauf, SGB III, § 284 Rdn. 3. 13 EWR-Abkommen, BGBI. 1993 II, S. 166 i.d.F. des Anpassungsprotokolls v. 17. 3. 1993, BGBI. 1993 II, S. 1294, Bekanntmachung vom 16. 12. 1993, BGBI. 1993, S. 2436. 14 GK-SGB Illl Sprung, § 284 Rdn. 29; W I P lEI Bartz, SGB III, § 284 Rdn. 20; Nieseil Düe, SGB 111, § 284 Rdn. 21; Hennig/Theuerkauf, SGB III, § 284 Rdn. 3. 15 ßVlker, GIT IE-EGV, Art. 48 Rdn. 76; Niesel/Düe, SGB III, § 284 Rdn. 22; GK-SGB IIII Sprung, § 284 Rdn. 29; W IPIEI Bartz, SGB III, § 284 Rdn. 19; MHBzArbRI Buchner, § 35 Rdn. 41; Wollenschläger, RdA 1994, S. 193, S. 199.

G. Die Vorschriften der§§ 285 I I Nr. 3 und 286 I I Nr. 2 SGB III

229

Inlandsaufenthalt begründet werden kann(§§ 24 I Nr. 1, 27 II Nr. 1 AuslG) 16• Im Hinblick auf die persönlichen Belastungen und den Verwaltungsaufwand wird es für sachwidrig gehalten, diese Personen der Genehmigungspflicht zu unterwerfen17.

c) Ausnahmen gemäߧ 284 I 2 Nr. 3 SGB III

Weiterhin benötigen gemäß § 284 I 2 Nr. 3 SGB III Ausländer keine Genehmigung, wenn dies in zwischenstaatlichen Vereinbarungen, auf Grund eines Gesetzes oder durch Rechtsverordnung bestimmt ist. Solche zwischenstaatlichen Vereinbarungen sollen gegenwärtig nicht bestehen 18• Bartz und Wollenschläger verweisen hingegen auf Vereinbarungen, die die Bundesrepublik mit Polen, Ungarn und den Philippinen geschlossen hat. Nach diesen Vereinbarungen benötigen bestimmte Arbeitnehmergruppen für in diesen Vereinbarungen festgelegte Tatigkeiten keine Arbeitsgenehmigung 19• Die zahlreichen Vereinbarungen mit mittel- und osteuropäischen Staaten über die Beschäftigung von Arbeitnehmern zur Ausführung von Werkverträgen sowie die mit diesen Staaten abgeschlossenen Gastarbeitnehmer-Vereinbarungen entbinden nicht von der Genehmigungspflicht, sondern räumen lediglich einen Anspruch auf Erteilung der Genehmigung ein20. Ein Gesetz i. S. d. Vorschrift stellt das HAuslG dar21 . Gemäß § 17 HAuslG sind heimatlose Ausländer2 bezüglich der Ausübung einer nichtselbständigen Tatigkeit deutschen Staatsangehörigen gleichgestellt. Weitere Ausnahmen von der Genehmigungspflichtigkeit regelt § 9 Nr. 1-13 AEV023 . Wegen des Umfangs dieser Norm kann auf die Ausnahmen nicht umfassend eingegangen werden. Verallgemeinemd läßt sich sagen, daß es sich um SachGK-SGB III/ Sprung,§ 284 Rdn. 30; Niesel/Düe, SGB III, § 284 Rdn. 23. n Nieseil Düe, SGB 111, § 284 Rdn. 24. 18 Bubeck/Schneider; Arbeitsförderungsrecht, S. 46; GK-SGB III/ Sprung, § 284 Rdn. 31; Niesel/Düe, SGB III, § 284 Rdn. 25. 19 Vgl.: Wollenschläger; RdA 1994, S. 193, 199 Fußnote 91; WIPIE/Bartz, SGB III, § 284 Rdn. 23 ff. 2o W /PIE/ Bartz, SGB III, § 284 Rdn. 26. 21 Becker I Baarsch, Arbeitnehmer, Rdn. 96; Bubeck I Schneider; Arbeitsförderungsrecht, S. 47 f.; Niesel/Düe, SGB III, § 284 Rdn. 26; GK-SGB III/ Sprung,§ 284 Rdn. 31. 22 Heimatlose Ausländer i. S. d. HAus!G sind fremde Staatsangehörige oder Staatenlose, die am 30. 05. 1950 ihren gewöhnlichen Aufenthalt im Bundesgebiet hatten (diesen Aufenthalt behalten und keine neue Staatsbürgerschaft angenommen haben, § 2 HAuslG) und als Flüchtlinge oder verschleppte Personen in Obhut der Internationalen Flüchtlingsorganisation der Vereinten Nationen standen (§ I I HAuslG), sowie bestimmte Verwandte dieser Personen (§ I III HAusiG). 23 Abgedruckt z. B. bei Nieset, SGB III, Anhang I zu § 288. 16

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3. Kap.: Unmittelbar geltende Mindestarbeitsbedingungen

verhalte handelt, von denen nur geringe Wirkungen auf den Arbeitsmarkt ausgehen und bei denen ein öffentliches Interesse an der ungehinderten Durchführung der Tätigkeit besteht. Dieses Interesse ergibt sich entweder aus der unmittelbaren Notwendigkeit der Arbeiten (z. B. die Belange der Wirtschaft (Nr. I 2. Alt., Nr. 3, Nr. 10) oder des Verkehrs (Nr. 2)) oder im Hinblick auf die Förderung der Wissenschaft (Nr. 6), Kultur (Nr. 4, 5) oder des Sports (Nr. 4, 10)24. Die Erlaubnisfreiheit nach Nr. 3, 4 und 12 ist zeitlich auf drei Monate begrenzt. Relative zeitliche Beschränkungen bestehen bezüglich der Nr. 5 und 7.

II. Arbeitserlaubnis (§ 285 SGB 111) und Arbeitsberechtigung (§ 286 SGB 111) Die§§ 284 ff. SGB III sind als allgemeines Beschäftigungsverbot mit Genehrnigungsvorbehalt25 ausgestaltet26. Die Genehmigung kann in Form einer Arbeitserlaubnis (§ 285 SGB III) oder einer Arbeitsberechtigung (§ 286 SGB III) erteilt werden. Die Arbeitserlaubnis ist die nichtprivilegierte Form der Arbeitsgenehrnigung. Sie entscheidet regelmäßig über die erstmalige Zulassung von Ausländern zum deutschen Arbeitsmarkt27 . Sie ersetzt begrifflich die friihere sog. allgemeine Arbeitserlaubnis (§ 1 AEVOl8 , behält aber inhaltlich ihre Struktur bei 29. Der Erteilung oder Versagung geht eine Ermessensentscheidung des Arbeitsamtes voraus 30 . Hierbei sind die in § 285 SGB III aufgeführten Kriterien zu beriicksichtigen. Die Arbeitsberechtigung ersetzt begrifflich die bisherige besondere Arbeitserlaubnis (§ 2 AEV0)31 • Die Erteilung der Arbeitsberechtigung ist auf Ausländer beNieself Düe, SGB III, § 284 Rdn. 27. Auch Erlaubnisvorbehalt genannt. 26 Bubeck/Schneider, Arbeitsförderungsrecht, S. 45; Becker!Braasch, Arbeitnehmer, Rdn. 86; GK SGB III I Sprung, § 284 Rdn. 2; W I PIE I Bartz, SGB III, § 284 Rdn. 4; LI MI S-B/ Mayer, SGB III, § 284 Rdn. 2; Wollenschläger, RdA 1994, S. 193, 199; BSGE 45, S. 153 =BSG SozR 4100 § 19 AFG Nr. 8. 27 Wollenschläger, a. a. 0 .; L/M!S-B!Mayer, SGB III, § 285 Rdn. 1; Bubeck / Schneider, Arbeitsförderungsrecht, S. 49. 28 Hennig/Theuerkauf, SGB III, § 284 Rdn. 8; GK-SGB III/Sprung, vor§ 284 Rdn. 1; Schönefelder/Kranz /Wanka, SGB III, zu§ 284; LIMIS-B/Mayer, SGB III, § 285 Rdn. 1; Wollenschläger, a. a. 0. 29 Auf die einzelnen Voraussetzungen einer Arbeitserlaubniserteilung und die Möglichkeiten der Ausgestaltung der Arbeitserlaubnis kann im Rahmen dieser Arbeit nicht eingegangen werden. 30 Becker-Schaffner, ArbuR 1977, S. 76; LIMIS-B!Mayer, SGB III, § 285 Rdn. I; GKSGB III I Sprung, vor § 284 Rdn. 2; Hennig /Theuerkauf, SGB III, § 285 Rdn. I . 31 Schönef elder I Kranz /Wanka, SGB III, zu § 284; LI MI S-B I Mayer, SGB III, § 286 Rdn. 1; Hennig/Theuerkauf, SGB III, § 284 Rdn. 8; GK-SGB III/ Sprung, vor§ 284 Rdn. I. 24

2s

G. Die Vorschriften der§§ 285 I 1 Nr. 3 und 286 I 1 Nr. 2 SGB III

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schränkt, deren Aufenthalt in der Bundesrepublik besonders verfestigt ist32 • Gesetzestechnisch kommt dies dadurch zum Ausdruck, daß die Erteilung der Arbeitsberechtigung den Besitz einer Aufenthaltserlaubnis oder einer Aufenthaltsbefugnis voraussetze 3 . Erfüllt der Ausländer die Voraussetzungen des§ 286 SGB III, hat er einen Rechtsanspruch auf Erteilung der Arbeitsberechtigung34. Zwischen Arbeitserlaubnis und Arbeitsberechtigung besteht gemäß § 284 IV SGB III ein Rangverhältnis. Liegen die Voraussetzungen des § 286 SGB III vor, ist eine Arbeitsberechtigung zu erteilen. Ist dies nicht der Fall, kommt "nur" eine Arbeitserlaubnis in Betracht35 .

111. Keine ungünstigeren Arbeitsbedingungen Arbeitserlaubnis bzw. Arbeitsberechtigung können gemäߧ§ 285 I 1 Nr. 3, 286 I 1 Nr. 2 SGB III nur erteilt werden, wenn der Ausländer nicht zu ungünstigeren Arbeitsbedingungen als vergleichbare deutsche Arbeitnehmer beschäftigt wird. Zu klären ist, welcher Vergleichsmaßstab bei der Gegenüberstellung der Arbeitsbedingungen anzulegen ist und wann im Einzelfall ausländische Arbeitnehmer zu ungünstigeren Arbeitsbedingungen als vergleichbare deutsche Arbeitnehmer beschäftigt werden. In dem zu dieser Frage übersichtlichen Schrifttum differieren die Auffassungen hierzu nicht all zu sehr. Bei bestehenden Tarifverträgen soll nach allgemeiner Auffassung zum Vergleich auf diese zuriickzugreifen sein36. Eine Ungleichbehandlung soll insbesondere dann vorliegen, wenn der Arbeitgeber bei einer bestehenden Tarifbindung oder einer individualvertraglichen Vereinbarung von Tariflohn, den ausländischen Arbeitnehmer schlechter als nach Tarif vergüten wi11 37. Sollte im Betrieb keine Bezahlung nach Tarif erfolgen, so soll eine ungünstigere Behandlung ausländischer Arbeitnehmer dann vorliegen, wenn diese tatsächlich zu schlechteren Arbeitsbedingungen als deutsche oder andere bevorrechtigte Arbeitnehmer beschäftigt werden38 . Hierbei soll auf die Arbeitsbedingungen abzustellen sein, die ein deutscher oder bevorrechtigter Arbeitnehmer auf einem gleichen oder weitestgehend ähnlichen Arbeitsplatz bei einer Einstellung vorfindet. Wenn mög32 Auf die einzelnen Voraussetzungen einer Arbeitsberechtigungserteilung kann im Rahmen dieser Arbeit nicht eingegangen werden. 33 GK-SGB IIII Sprung, vor§ 284 Rdn. 2. 34 Becker/Braasch, Arbeitnehmer, Rdn. 107; Wollenschläger, a. a. 0.; GK-SGB IIII Sprung, vor § 284 Rdn. 2. 3~ Niesei I Düe, SGB III, § 284 Rdn. 32. 36 Fuchs, Ausländerbeschäftigung, S. 43; Gage/, AFG, § 19 Rdn. 26; Niesel/Düe, SGB III, § 285 Rdn. 13; W I PIE I Bartz. SGB III, § 285 Rdn. 28. 37 W IPIEI Bartz, a. a. 0.; Gage/, a. a. 0 . 38 Gage/, a. a. 0 .; W I PIE I Bartz, SGB III, § 285 Rdn. 29.

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3. Kap.: Unmittelbar geltende Mindestarbeitsbedingungen

lieh, sollen zur Gegenüberstellung die unmittelbar vergleichbaren, tatsächlich bestehenden Arbeitsbedingungen herangezogen werden 39. Geht es um die Besetzung eines Arbeitsplatzes, der bisher im Betrieb nicht vorhanden ist, soll zum Vergleich auf die Arbeitsbedingungen an den betriebsüblichen Arbeitsplätzen abzustellen sein40. Eine ungünstigere Behandlung ausländischer Arbeitnehmer soll ebenfalls bestehen, wenn Betriebe, Betriebsabteilungen oder Lohngruppen, die fast ausschließlich mit Ausländern besetzt sind, schlechter gestellt sind als vergleichbare mit deutschen oder anderen bevorrechtigten Arbeitnehmern besetzte Betriebe oder Gruppen41 . Zu dem Verhältnis von regionalüblichen zu betriebsüblichen Arbeitsbedingungen wird vertreten, daß auf die Verhältnisse in dem einstellungsbereiten Betrieb abzustellen sei. Die Arbeitsbedingungen dort sollen auch dann maßgeblich sein, wenn sie hinter den ansonsten in der Region oder Branche üblichen Niveau zurückbleiben42 . An diesen Äußerungen ist zunächst einmal zutreffend, daß es theoretisch möglich ist, zum Vergleich auf tarifliche, regionale oder betriebliche Arbeitsbedingungen abzustellen. Die in Tarifverträgen normierten Arbeitsbedingungen sind grundsätzlich als angemessen anzusehen43 . Wird ein ausländischer Arbeitnehmer zu tarifvertragliehen Arbeitsbedingungen beschäftigt, ist deshalb davon auszugehen, daß er angemessen vergütet wird und daß auch seine sonstigen Arbeitsbedingungen angemessen sind. Der Vergleich der Arbeitsbedingungen des ausländischen Arbeitnehmers mit den tariflichen Arbeitsbedingungen hat deshalb den Vorteil, daß grundsätzlich eine Beschäftigung des ausländischen Arbeitnehmers zu angemessenen Arbeitsbedingungen sichergestellt ist. Die tariflichen Arbeitsbedingungen sind aber nicht immer mit den tatsächlichen Arbeitsbedingungen identisch44 • Je größer die Zahl der Außenseiter ist, desto größer ist die Zahl der Arbeitnehmer, die nicht entsprechend dem Tarif sondern untertariflich vergütet werden45 • Zwar wird häufig individualvertraglich auf Tarifverträge Bezug genommen, so daß auch Außenseiter entsprechend den tarifvertragliehen Regelungen vergütet werden, eine solche Bezugnahme erfolgt jedoch nicht in allen Arbeitsverträgen. In Zeiten wirtschaftlicher Konjunktur und in Branchen mit Arbeitskräftemangel liegen die Tarifentgelte dagegen oft unter den tatsächlich gezahlten Vergütungen46. Dann ist es üblich, eine über dem Tarifvertrag liegende 39 40 4t

42 43 44 45

Nieseil Düe, SGB III, § 285 Rdn. 13 f. Nieseil Düe, SGB III, § 285 Rdn. 14. W /PIE/ Bartz, SGB III, § 285 Rdn. 30; Gage/, a. a. 0. NieseiiDüe, SGB III, § 285 Rdn. 14. Vgl.: A.II., III. und D.II. Nachweise in Fußnote 28 (drittes Kapitel). Vgl.: A.II. (drittes Kapitel). Rick, ArbuR 1960, S. 369, 370.

G. Die Vorschriften der§§ 285 I 1 Nr. 3 und 286 I 1 Nr. 2 SGB III

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Vergütung zu zahlen. Dies entspricht auch dem Wesen der Tarifsätze, die ja nur Mindestsätze sein wollen47 . Der ausschließliche Vergleich der Arbeitsbedingungen des ausländischen Arbeitnehmers mit den tariflichen Arbeitsbedingungen stellt deshalb nicht sicher, daß der ausländische Arbeitnehmer nicht zu ungünstigeren Arbeitsbedingungen als vergleichbare deutsche Arbeitnehmer beschäftigt wird. Dies gilt insbesondere für den Fall, daß der Arbeitgeber tarifgebunden ist. Denn dann würden etwaig gezahlte über- oder außertarifliche Zulagen in den Vergleich nicht miteinbezogen. Der "nur" entsprechend den tariflichen Arbeitsbedingungen vergütete Arbeitnehmer würde zu schlechteren Arbeitsbedingungen als vergleichbare deutsche Arbeitnehmer beschäftigt. Im umgekehrten Fall- der Beschäftigung von deutschen Arbeitnehmern zu untertariflichen Arbeitsbedingungen - führt der Rückgriff auf tarifliche Arbeitsbedingungen hingegen zu einer Besserstellung der ausländischen Arbeitnehmer gegenüber deutschen Arbeitnehmern. Der (Teil-)Zweck der Vorschriften der §§ 285, 286 SGB III, eine Benachteiligung ausländischer Arbeitnehmer zu verhindern48 , wäre überkompensiert und ins Gegenteil verkehrt. Tarifliche Arbeitsbedingungen sind deshalb nicht zur Klärung der Frage geeignet, ob ausländische Arbeitnehmer zu ungünstigeren Arbeitsbedingungen als deutsche Arbeitnehmer beschäftigt werden sollen. Sie können aber - wie auch bei der Ermittlung der üblichen Vergütung i. S. d. § 612 II BGB49 , der ortsgebräuchlichen Vergütung i. S. d. § 59 S. 1 HGB 50 oder der angemessenen Ausbildungsvergütung i.S.v. § 10 I BBiG51 -ein wichtiges Indiz sein. Der richtigerweise anzuwendende Vergleichsmaßstab läßt sich nur unter Beriicksichtigung des Zwecks der§§ 285 I 1 Nr. 3, 286 I 1 Nr. 2 SGB III finden. Nach der Begrundung des Gesetzentwurfes bezwecken die Vorschriften, "Lohndumping zu verhindern; zum einen zum Schutz der Ausländer vor ausbeutenscher Beschäftigung selbst, zum anderen, um Verdrängungseffekte zuungunsten der bevorrechtigten Arbeitssuchenden zu verhindern"52 . Die§§ 285 I 1 Nr. 3, 286 I 1 Nr. 2 SGB III zielen somit nicht allgemein darauf ab, die Arbeitsbedingungen ausländischer Arbeitnehmer zu verbessern, sondern sollen - ähnlich wie das AEntG53 - Wettbe46 Hueck/Nipperdey, ArbR I, S. 265 Fußnote 14; Rick, a. a. 0.; HaTUJu!Rolfs, JZ 1993, S. 312, 323; BAG JZ 1993, S. 319,320. 47 Vielhaber, BB 1950, S. 170, 171; Hanau/Rolfs, a. a. 0. 48 BT-Ds 13/4941, S. 206; Niesel/Düe, SGB III, § 284 Rdn. 13; LIMIS-T!Mayer, SGB III, § 285 Rdn. 4; Hennig/Theuerkauf, SGB III, § 285 Rdn. 5; Wollenschläger, RdA 1994, S. 193, 198; Schönefelder/Kranz/Wanka, SGB III, zu§ 284. 49 vgl.: A.II. (drittes Kapitel). 50 vgl.: B.III. (drittes Kapitel). 51 vgl.: D. (drittes Kapitel). 52 BT-Ds 13/4941, S. 206. 53 Zum AEntG vgl.: B.II.4 - zum Zweck des AEntG vgl. insbesondere D.VI. (zweites Kapitel).

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3. Kap.: Unmittelbar geltende Mindestarbeitsbedingungen

werbsverzerrungen zwischen ausländischen und deutschen Arbeitnehmern verhindern54. Diese Wettbewerbsverzerrungen treten zunächst auf betrieblicher Ebene und erst danach auf regionaler Ebene auf. Denn der Wettbewerb zwischen einem ausländischen Arbeitnehmer und einem deutschen Arbeitnehmern findet um einen konkreten Arbeitsplatz statt. Bezugspunkt der vergleichenden Betrachtung müssen deshalb die Arbeitsbedingungen sein, die ein deutscher bzw. bevorrechtigter Arbeitnehmer in dem einstellungsbereiten Betrieb auf einem gleichen oder weitestgehend ähnlichen Arbeitsplatz bei der Einstellung vorfindet. Hierbei ist grundsätzlich auf die unmittelbar vergleichbaren, tatsächlich bestehenden Arbeitsbedingungen abzustellen. Diese sind auch dann maßgeblich, wenn sie hinter den in der Region oder Branche üblichen Arbeitsbedingungen zurückbleiben. Die Grenze bildet lediglich die Vorschrift des§ 138 BGB 55 . Sollte in dem Betrieb kein vergleichbarer Arbeitsplatz vorhanden sein, ist zum Vergleich auf die nächst höhere Ebene, die regional üblichen Arbeitsbedingungen, abzustellen56. Denn der Wettbewerb zwischen deutschen und ausländischen Arbeitnehmern findet dann nicht mehr nur auf betrieblicher sondern auf überbetrieblicher Ebene statt. Etwaige betriebliche Besonderheiten hinsichtlich der zu erwartenden Arbeitsbedingungen, sind aber auch hier zu berücksichtigen. Ein Indiz bei der Prüfung, ob ein ausländischer Arbeitnehmer zu ungünstigeren Arbeitsbedingungen als vergleichbare deutsche Arbeitnehmer beschäftigt werden soll, kann eine Zustimmungsverweigerung des Betriebsrates zur Einstellung oder Umgruppierung des ausländischen Arbeitnehmers sein57 . Denn der Betriebsrat kann seine Zustimmung zur Einstellung bzw. Umgruppierung gemäß § 99 II Nr. 1 BetrVG verweigern, wenn die personelle Maßnahme gegen ein Gesetz, eine Bestimmung in einem Tarifvertrag oder eine Betriebsvereinbarung verstößt. Weiter kann der Betriebsrat seine Zustimmung gemäß § 99 II Nr. 4 BetrVG verweigern, wenn der betroffene Arbeitnehmer durch die personelle Maßnahme benachteiligt wird, ohne daß dies aus betrieblichen oder in der Person des Arbeitnehmers liegenden Gründen gerechtfertigt ist. Diese Verweigerungsgründe des § 99 II Nr. 1, 4 BetrVG können bei einer beabsichtigten Beschäftigung eines Ausländers zu ungünstigeren Arbeitsbedingungen als die vergleichbarer deutscher Arbeitnehmer vorliegen.

Nieseil Düe, SGB III, § 285 Rdn. 14. V gl.: C. (drittes Kapitel). 56 Diese Vorgehensweise entspricht dem im ersten Kapitel unter C.III.3. dargestellten Subsidiaritätsprinzip. Der Vergleichsmaßstab wird zunächst innerhalb des kleinst möglichen Rechtskreises gesucht. Läßt sich innerhalb dieses Verbandes kein geeigneter Vergleichsmaßstab finden, ist auf der nächst höheren Ebene nach einem geeigneten Vergleichsmaßstab zu suchen. Vgl. auch die Vorgehensweise bei der Ermittlung der üblichen Vergütung unter A.ll. (drittes Kapitel). 57 W I PIE I Bartz, SGB III, § 285 Rdn. 30; Gagel, a. a. 0 . 54

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G. Die Vorschriften der§§ 285 I 1 Nr. 3 und 286 I 1 Nr. 2 SGB 111

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IV. §§ 285 I 1 Nr. 3 und 286 I 1 Nr. 2 SGB III als taugliche Instrumente zur Setzung von Mindestarbeitsbedingungen ? Die §§ 284 ff. SGB 111 sind in der derzeitigen Fassung erst seit 01. 01. 1998 in Kraft. Der Inhalt der vorliegend besonders interessierenden Vorschriften der §§ 285 I 1 Nr. 3, 286 I 1 Nr. 2 SGB III war bis zu diesem Zeitpunkt in dem wortgleichen § 6 I Nr. 3 AEVO - also nur auf Rechtsverordnungsebene - geregelt. Nach der Begründung des Gesetzentwurfes, sollen durch die "Änderungen des Arbeitserlaubnisrechts die Möglichkeiten der Arbeitsämter verbessert werden, den gesetzlichen Vermittlungs- und Beschäftigungsvorrang deutscher Arbeitssuchender und diesen gleichgestellten Ausländer in der Praxis wirksamer zu gewährleisten und Ausländerbeschäftigung und Aufnahmefähigkeit des Arbeitsmarktes stärker in Einklang zu bringen.... Die Übernahme der Regelung der Nummer 3 aus dem Verordnungsrecht in das Gesetz hebt die Bedeutung hervor, Lohndumping zu verhindern; zum einen zum Schutz der Ausländer vor ausbeutefiseher Beschäftigung selbst, zum anderen, um Verdrängungseffekte zuungunsten der bevorrechtigten Arbeitssuchenden zu verhindern" 58 . Dem Gesetz liegt somit das klassische Bemühen der Arbeitsmarktpolitik zu Grunde, einen Unterbietungswettbewerb auf dem deutschen Arbeitsmarkt durch ausländische Arbeitskräfte zu verhindern 59• Die soziale Absicherung bzw. die Arbeitsbedingungen ausländischer Arbeitnehmer zu verbessern ist - wie auch beim AEntG60 - nicht primäres Anliegen der hier untersuchten Vorschriften61 . Die Intentionen des Gesetzgebers sind damit andere, als die Gesetzeszwecke, die der Gesetzgeber mit den §§ 5 TVG, 19, 21, 22 HAG, 1 II, 4 IV, MindArbBG, 92a HGB, 10 I BBiG verfolgt. Trotz des beschriebenen Anliegens der§§ 284 ff. SGB III, setzten die§§ 285 I 1 Nr. 3, 286 I l Nr. 2 SGB III auch für in Deutschland beschäftigte ausländische Arbeitnehmer, soweit diese eine Arbeitsgenehmigung benötigen, Mindestarbeitsbedingungen62. Sie verbieten nämlich, ausländische Arbeitnehmer zu diskriminieren und zu ungünstigeren Arbeitsbedingungen als vergleichbare deutsche Arbeitnehmer zu beschäftigen. Durch dieses Verbot wird eine Untergrenze der für Ausländer zulässigen Arbeitsbedingungen festgelegt. Wie hoch oder niedrig diese Grenze ist,

BT-Ds 13/4941, S. 206. LI MIS-T I Mayer; SGB III, § 286 Rdn. 3; Nieseil Düe, SGB 111, § 285 Rdn. 14. 60 Vgl.: D.VI. (zweites Kapitel). 61 Nieseil Düe, a. a. 0 . 62 Ausdrücklich sei darauf hingewiesen, daß dies nicht für Arbeitnehmer gilt, die gemäß § 284 I 2 SGB 111 keine Arbeitsgenehmigung benötigen. Die §§ 285 I 1 Nr. 3, 286 I I Nr. 2 SGB 111 untersagen den Arbeitgebern nicht, diese Arbeitnehmer zu ungünstigeren Arbeitsbedingungen als vergleichbare deutsche Arbeitnehmer zu beschäftigen. Diese Arbeitnehmer können jedoch unter das Gleichbehandlungsgebot des Art. 7 der EWG-VO Nr. 1251170 i.V.m. Art. 711 EWG-VO Nr. 1612/68 fallen. 58

59

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3. Kap.: Unmittelbar geltende Mindestarbeitsbedingungen

steht nicht von vornherein fest, sondern ergibt sich erst aus einem Vergleich mit den tatsächlichen betrieblichen Arbeitsbedingungen der deutschen Arbeitnehmer. Die von den §§ 285 I 1 Nr. 3, 286 I 1 Nr. 2 SGB III vorgegebene Untergrenze der zulässigen Arbeitsbedingungen kann stark variieren. Werden die zum Vergleich heranzuziehenden deutschen Arbeitnehmer zu unangemessenen Arbeitsbedingungen beschäftigt, garantieren die §§ 285 I 1 Nr. 3, 286 I 1 Nr. 2 SGB III den ausländischen Arbeitnehmern auch nur eine Beschäftigung zu diesen unangemessenen Arbeitsbedingungen. Denn die Ausländer dürfen lediglich nicht zu ungünstigeren Arbeitsbedingungen als vergleichbare deutsche Arbeitnehmer beschäftigt werden. Erhalten die zum Vergleich heranzuziehenden deutschen Arbeitnehmer dagegen neben einem Tarifentgelt noch außer- oder übertarifliche Zulagen, so stellen die sich aus der Summe der Tarifvergütung, der Zulagen und sonstigen Zuwendungen ergebenden Arbeitsbedingungen die Untergrenze dar, unterhalb derer ausländische Arbeitnehmer nicht beschäftigt werden dürfen. Die Untergrenze der durch die §§ 285 I 1 Nr. 3, 286 I 1 Nr. 2 SGB III garantierten Arbeitsbedingungen kann damit im Einzelfall sogar oberhalb der angemessenen Arbeitsbedingungen liegen. In Deutschland werden ca. 90% aller Arbeitnehmer zu Arbeitsbedingungen beschäftigt, die denen der jeweils einschlägigen Tarifverträge entsprechen63.64. Da diese Arbeitsbedingungen im Regelfall auch angemessen sind65 , stellen die§§ 285 I 1 Nr. 3, 286 I 1 Nr. 2 SGB III faktisch sicher, daß ausländische Arbeitnehmer in ihrer Mehrzahl zu angemessenen Arbeitsbedingungen beschäftigt werden. In diesen Fällen verpflichten die §§ 285 I 1 Nr. 3, 286 I 1 Nr. 2 SGB III den Arbeitgeber indirekt, die ausländischen Arbeitnehmer zu angemessen Arbeitsbedingungen zu beschäftigen, und verhindem so nicht nur unzumutbare sondern auch unbillige Arbeitsbedingungen. Sollten die vergleichbaren deutschen Arbeitnehmer jedoch selbst zu unbilligen Arbeitsbedingungen beschäftigt werden, geben die §§ 285 I 1 Nr. 3, 286 I 1 Nr. 2 SGB III den ausländischen Arbeitnehmern nur einen Anspruch auf diese unbilligen Arbeitsbedingungen. Die §§ 285 I 1 Nr. 3, 286 I 1 Nr. 2 SGB III können dann die Beschäftigung ausländischer Arbeitnehmer zu unbilligen Arbeitsbedingungen nicht verhindern. Primär regeln die §§ 285, 286 SGB III die Voraussetzungen für die Erteilung einer Arbeitsgenehrnigung. Teilt ein Arbeitgeber dem Arbeitsamt auf dessen Anfrage (§ 284 III SGB III) mit, daß er beabsichtigt, einen ausländischen Arbeitnehmer zu ungünstigeren Arbeitsbedingungen als deutsche Arbeitnehmer zu beschäftigen, verwehrt das Arbeitsamt dem Ausländer die Arbeitsgenehmigung. Rechtsfolge ist, daß der Ausländer nicht beschäftigt werden darf. Der Ausländer kann dann kein Entgelt aus einer unselbständigen Tätigkeit erzielen. Einem deutschen Arbeitnehmer ist es hingegen nicht verwehrt, zu ungünstigeren Arbeitsbedingungen als 63 Praktisch ist für Arbeitnehmer besonders relevant, daß sie entsprechend dem einschlägigen Tarifvertrag vergütet werden. 64 Nachweise in Fußnote 2 der Einleitung. 65 Vgl.: A.II., III. und D.II. Nachweise in Fußnote 28 (drittes Kapitel).

G. Die Vorschriften der§§ 285 I 1 Nr. 3 und 286 I 1 Nr. 2 SGB III

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seine deutschen Kollegen zu kontrahieren. Insoweit schränken die §§ 285 I 1 Nr. 3, 286 I 1 Nr. 2 SGB III die Vertragsfreiheit ausländischer Arbeitnehmer stärker ein als die Vertragsfreiheit deutscher Arbeitnehmer. Die in den Vorschriften enthaltene formelle Ausübungsschranke der allgemeinen Handlungsfreiheit ist jedoch gerechtfertigt. Das Grundrecht des Art. 2 I GG ist insbesondere bei Bestehen eines öffentlichen Interesses beschränkbar66. Vorliegend besteht ein öffentliches Interesse an der Verhinderung nachteiliger Auswirkungen und Störungen des inländischen Arbeitsmarktes durch unkontrollierte Zuwanderung ausländischer Arbeitnehmer67. Dieses Interesse wird durch die Genehmigungspflicht und die damit verbundene kontrollierte Zulassung ausländischer Arbeitnehmer auf den deutschen Arbeitsmarkt durchgesetzt. Das Arbeitsamt muß die Arbeitsgenehmigung auch dann verweigern, wenn der Ausländer zu angemessenen Arbeitsbedingungen beschäftigt werden soll, seine deutschen Kollegen aber - z. B. durch Zulagen - mehr als angemessen vergütet werden. Auch dann ist - wie dargestellt - eine Beschäftigung des Arbeitnehmers zu ungünstigeren Arbeitsbedingungen beabsichtigt. Soweit der Zweck der§§ 285 I 1 Nr. 3, 286 I 1 Nr. 2 SGB III darauf abzielt, den ausländischen Arbeitnehmer vor Sozialdumping zu schützen68, wird der Schutz in diesem Fall überkompensiert und ins Gegenteil verkehrt. Berücksichtigt man zudem noch, daß die Arbeitsbedingungen (insbesondere die Entgelte) in vielen Ländern unter dem deutschen Niveau liegen69 und es deshalb für einen Ausländer auch attraktiv sein kannzu-nach deutschen Maßstäben - unangemessenen Arbeitsbedingungen zu kontrahieren, läßt die isolierte Betrachtung des Gesichtspunktes des sozialen Schutzes des Ausländers, die Regelungen unverständlich erscheinen. Der soziale Schutz des Ausländers ist aber nur ein Aspekt der §§ 285 I 1 Nr. 3, 286 I 1 Nr. 2 SGB III. Im Vordergrund steht der Schutz deutscher Arbeitnehmer vor Sozialdumping durch ausländische Arbeitnehmer und die Verhinderung von Wettbewerbsverzerrungen70. Der Vergleich der Arbeitsbedingungen des einzustellenden ausländischen Arbeitnehmers mit den betriebsüblichen Arbeitsbedingungen kann zudem zu scheinbar paradoxen Ergebnissen führen. Hierzu zwei Beispiele: Arbeitnehmer A soll als Schlosser im Betrieb des X zu einem Stundenlohn von 16,00 DM beschäftigt werden. Der bei X betriebsübliche Stundenlohn für Schlosser beträgt 16,00 DM. Arbeitnehmer B soll als Schlosser im Betrieb des Y zu einem Stundenlohn von 18,00 DM beschäftigt werden. Der bei Y betriebsübliche Stundenlohn für Schlosser beträgt 21,00 DM. In den Beispielen soll A zu den gleichen Arbeitsbedingun66 67

Jarass, J IP-GG, Art. 2 Rdn. 37; BVerfGE 10, S. 150; 65, S. 1, 44; 78, S. 77, 85. W I PIE I Bartz, SGB III, § 284 Rdn. 6.

68 BT-Ds 1314941, S. 206; Wollenschläger; RdA 1994, S. 193, 198; Nieself Düe, SGB III, § 285 Rdn. 13; LIMIS-T I Mayer; SGB III, § 285 Rdn. 4 ; Schönefelder/Kranz/Wanka, SGB III, zu§ 284; Hennig/Theuerkauf, SGB III, § 285 Rdn. 5. 69 Wollenschläger; a. a. 0 . 1o Nieself Düe, SGB III, § 285 Rdn. 14.

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3. Kap.: Unmittelbar geltende Mindestarbeitsbedingungen

gen und B zu ungünstigeren Arbeitsbedingungen wie die betrieblich vergleichbaren Arbeitnehmer beschäftigt werden. Die Arbeitsgenehmigung für A ist zu erteilen. Für B ist sie zu versagen, obwohl er zu günstigeren Arbeitsbedingungen beschäftigt worden wäre als Arbeitnehmer A. Dieses scheinbar paradoxe Ergebnis ist jedoch hinzunehmen. Es erklärt sich aus dem dargestellten Zweck der §§ 285 I 1 Nr. 3, 286 I 1 Nr. 2 SGB III, Lohndumping und Wettbewerbsverzerrungen zu verhindern. Zweck der Vorschriften ist es hingegen nicht, gleiche Arbeitsbedingungen für vergleichbare Tätigkeiten ausländischer Arbeitnehmer zu gewährleisten. Positiv an den Vorschriften der§§ 285 I 1 Nr. 3, 286 I 1 Nr. 2 SGB III ist anzumerken, daß sie sämtliche Arbeitsbedingungen erfassen7 1• Die ausländischen Arbeitnehmer dürfen insbesondere hinsichtlich des Arbeitsentgeltes, der Arbeitszeit, des Urlaubes und der Zusatzleistungen nicht ungünstiger behandelt werden als vergleichbare deutsche Arbeitnehmer. Insoweit gehen die Vorschriften über die Regelungen des AEntG, der§§ 612 III BGB, 10 I BBiG und des Art. 141 EGV hinaus. Denn§ 612 III BGB, Art. 141 EGV verhindem nur diskriminierende Vergütungen, das AEntG trifft nur Regelungen über Entgelte und Urlaub und § 10 I BBiG verpflichtet den Ausbilder nur, den Auszubildenden angemessen zu vergüten. Über sonstige Arbeitsbedingungen treffen diese Vorschriften keine Aussage. Die Auskunftspflicht des Arbeitgebers (§ 284 III SGB III) versetzt das Arbeitsamt in die Position, eine beabsichtigte Ungleichbehandlung ausländischer Arbeitnehmer zu erkennen und durch Versagung der Arbeitsgenehmigung zu verhindem bzw. durch Widerruf der Genehmigung zu beenden. Die Vorschrift des § 284 III SGB III trägt damit zur Verhinderung der Beschäftigung von Ausländern zu ungünstigeren Arbeitsbedingungen als deutsche Arbeitnehmer bei72 . In der Praxis erweist sich die Kontrolle der Einhaltung der den Ausländern zugesagten Arbeitsbedingungen aber als schwierig. Die dem Arbeitsamt genannten Arbeits- und Entgeltbedingungen stimmen oft mit den tatsächlichen Verhältnissen nicht überein. Ausländische Arbeitnehmer erhalten häufig einen geringeren als den gegenüber dem Arbeitsamt angegebenen Lohn, der gelegentlich auch noch in heimischer Wahrung ausbezahlt wird, und müssen zu schlechteren Arbeitsbedingungen arbeiten 73 • Auf diese Weise verschaffen sich einzelne Unternehmen Wettbewerbsvorteile. Bei den Konkurrenzunternehmen verursacht dies einen enormen Wettbewerbsdruck, der seinerseits zu Lohndruckerei und Methoden der illegalen Beschäftigung führen kann74.

71

Niese LI Düe, SGB III, § 285 Rdn. 13.

n Mayer verweist zurecht darauf, daß die Entlohnungspraxis der Arbeitgeber verstärkt

überwacht werden muß, denn eigentlich wird den Ausländern eine Lohnpolitik angelastet, die (auch) die Arbeitgeber zu verantworten haben, vgl.: LIMIS-B/Mayer, SGB III, § 286 Rdn. 3. 73 Wo/lenschläger, a. a. 0.; Düwell, ArbuR 1998, S. 149, 151. 74 Wo/lenschläger, a. a. 0.

G. Die Vorschriften der §§ 285 I l Nr. 3 und 286 I l Nr. 2 SGB III

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Die §§ 284 ff. SGB III sind nur auf unselbständig Beschäftigte anwendbar75 • Auf Ausländer, die nach Deutschland einreisen um hier selbständig tätig zu sein, finden die Vorschriften des Arbeitserlaubnisrechts keine Anwendung. Die§§ 284 ff. SGB III können deshalb keine Beschäftigung ausländischer (Schein-)Selbständiger zu ungünstigeren Arbeitsbedingungen als vergleichbare deutsche Arbeitnehmer oder deutsche (Schein-)Selbständige verhindern. Für ausländische (Schein-)Selbständige setzen die §§ 285 I I Nr. 3, 286 I I Nr. 2 SGB III keine Mindestarbeitsbedingungen fest. Für die Tarifautonomie stellen die §§ 285 I 1 Nr. 3, 286 I 1 Nr. 2 SGB III keine große Gefahr dar. Zwar schwächt das Vorhandensein jeder staatlichen Regelung die Tarifautonomie und kann den Abschluß von Tarifverträgen erschweren76. Auch verringern staatlich festgesetzte Arbeitsbedingungen die Attraktivität einer Gewerkschaftsmitgliedschaft oder lassen sie gar entbehrlich erscheinen. Die §§ 285 I 1 Nr. 3, 286 I l Nr. 2 SGB III geben den ausländischen Arbeitnehmern jedoch keinen Anspruch auf tarifliche Arbeitsbedingungen. Dies ist nur dann der Fall, wenn die Arbeitsbedingungen vergleichbarer deutscher Arbeitnehmer (zufällig) mit den tariflichen Arbeitsbedingungen identisch sind. Wollen die ausländischen Arbeitnehmer in den Schutz tariflicher Regelungen kommen, müssen sie grundsätzlich einer Gewerkschaft beitreten(§ 3 I TVG). Nach einer längeren Konsolidierungsphase bei der Ausländerbeschäftigung haben sich seit 1988 das ausländische Erwerbspersonal, wie auch die Zahl der ausländischen Erwerbstätigen kräftig erhöht. Maßgeblich hierfür war die starke Zuwanderung aus Staaten außerhalb der EU. Diese Entwicklung steht im Widerspruch zu den arbeitsmarkt- und beschäftigungspolitischen Zielen, die mit dem seit I973 bestehenden Anwerbestopp verfolgt werden. Insbesondere wird der Vermittlungs- und Beschäftigungsvorrang deutscher Arbeitssuchender und ihnen am Arbeitsmarkt gleichgestellter Ausländer in Frage gestellt77 . Deshalb wird seit Anfang 1993 die Arbeitserlaubniserteilung restriktiver gehandhabt78 • Die bis zu diesem Zeitpunkt hohe Anzahl an erteilten Arbeitserlaubnissen sei, so ein Runderlaß der Bundesanstalt für Arbeit vom 05. 03. 1993 "angesichts der hohen Arbeitslosigkeit und der sich abzeichnenden weiteren Verschlechterung der Arbeitsmarktlage nicht länger hinzunehmen ...". Arbeitserlaubnisse seien für nichtprivilegierte Ausländer nur noch zu erteilen, "wenn es trotz Ausschöpfung aller Möglichkeiten des inländischen Arbeitsmarktes nicht gelingt, einen freien Arbeitsplatz mit einem bevorrechtigten Arbeitnehmer zu besetzen"79• Grundsätzlich werden Arbeitserlaubnisse nicht mehr erteilt, wenn die Arbeitslosenquote im Arbeitsamtsbezirk im DurchNachweise in Fußnote 9. Vgl.: C. (erstes Kapitel)- Insbesondere die Ausführungen in den Fußnoten 46 bis 49 und unter C.III. (erstes Kapitel). 77 BT-Ds 13/4941, S. 206; Schönefelder/Kranz/Wanka, SGB III, zu§ 285. 78 Wollenschläger, RdA 1994, S. 193, 199. 79 zitiert nach: Wollenschläger, a. a. 0 . 75

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240

3. Kap.: Unmittelbar geltende Mindestarbeitsbedingungen

schnitt der letzten sechs Monate mindestens 30% über der Arbeitslosenquote für das gesamte Bundesgebiet gelegen hat80. Dies konnte dazu führen, daß selbst langjährige Beschäftigungsverhältnisse mit nichtprivilegierten ausländischen Arbeitnehmern nicht fortgesetzt werden konnten und bestehende Arbeitsplatzchancen für nichtprivilegierte Ausländer immer häufiger vereitelt wurden. Insgesamt kann festgestellt werden, daß seit 1993 an nichtbevorrechtigte Ausländer Arbeitserlaubnisse nur noch unter erschwerten Umständen erteilt werden 81 . Abschließend ist festzuhalten, daß es, obwohl -so Konzen- ausländische Arbeitnehmer zu den Stiefkindern der bundesdeutschen Industriegesellschaft gehören und ihre Unkenntnis der deutschen Arbeits- und Lebensbedingungen sowie ihre wirtschaftliche Notlage ihre Schutzbedürftigkeit steigern82, nicht primäres Anliegen der §§ 285 I I Nr. 3, 286 I I Nr. 2 SGB III ist, gesetzliche Mindestarbeitsbedingungen für ausländische Arbeitnehmer zu normieren. Neben den bereits dargestellten Gesetzeszwecken verdeutlicht dies auch die Rechtsfolge einer Ausländerbeschäftigung ohne die gemäß §§ 284 ff. SGB III erforderliche Genehmigung. Beschäftigt ein Arbeitgeber einen ausländischen Arbeitnehmer zu ungünstigeren Arbeitsbedingungen als vergleichbare deutsche Arbeitnehmer, führt dies nicht zur Nichtigkeit des Arbeitsvertrages gemäß § 134 BGB83 oder zumindest zur Unwirksamkeit der für den Arbeitnehmer nachteiligen Vertragsbestandteile, mit der denkbaren Rechtsfolge, daß der Arbeitgeber im Falle einer nichtigen Vergütungsregelung die übliche Vergütung schuldet(§ 612 II BGB)84. Die fehlende Arbeitsgenehmigung führt lediglich zu einem öffentlich-rechtlichen Beschäftigungsverbot Die Gültigkeit des Arbeitsvertrages wird durch die fehlende Genehmigung nicht berührt85. Sowohl Arbeitgeber als auch Arbeitnehmer haben deshalb das Recht, die gegen die §§ 284 ff. SGB III verstoßende Tätigkeit einzustellen, da die fehlende Genehmigung zur rechtlichen Unmöglichkeit (§ 275 BGB) der Arbeitsleistung führt 86. Der zu ungünstigeren Arbeitsbedingungen als seine deutschen Kollegen beschäftigte ausländische Arbeitnehmer hat jedoch, außerhalb der Grenzen des § 138 BGB87 , keinen Anspruch auf mit seinen deutschen Kollegen vergleichbare Arbeitsbedingungen. Das Diskriminierungsverbot der §§ 285 I 1 Nr. 3, 286 I 1 Nr. 2 SGB III ist somit nicht mit den echten Diskriminierungsverboten der Fuchs, Ausländerbeschäftigung, S. 45; Fuchs, a. a. 0 .; Wollenschläger, RdA 1994, S. 193, 199 f. 82 Konzen, Anmerkung zu BAG AP Nr. 30 zu § 138 BGB. 83 MHBzArbR/ Buchner, § 35 Rdn. 36; Bubeck/Schneider, Arbeitsförderungsrecht, S. 56; Engels, RdA 1976, S. 165, 167 ff.; Wollenschläger, RdA 1994, S. 193, 205; Becker/Braasch, Arbeitnehmer, Rdn. 150; a.A.: Becker-Schaffner, ArbuR 1977, S. 76. 84 vgl.: A. und C.III. (drittes Kapitel). 85 Engels, RdA 1976, S. 165, 175; Becker!Braasch, a. a. 0 .; Wollenschläger, a. a. 0.; BAG AP Nr. 2, 4 zu§ 19 AFG; LAG Harnm, DB 1976, S. 872; LAG Frankfurt ArbuR 1983, S. 280; a.A.: Becker-Schaffner, a. a. 0.; BAG AP Nr. 4 zu§ 35 AVAVG. 86 Becker/Braasch, a. a. 0.; Wollenschläger, a. a. 0.; Engels, RdA 1976, S. 165, 170. 87 vgl.: C. (drittes Kapitel). 80

81

H. Das Diskriminierungsverbot des Art. 39 II EGV

241

§§ 612 III BGB, 2 I BeschFG und Art. 39, 141 EGV vergleichbar. Diese Vorschriften sprechen den ungleichbehandelten Arbeitnehmer die ihnen vorenthaltenen Arbeitsbedingungen zu88. Auch deshalb sind die Vorschriften der §§ 285 I I Nr. 3, 286 I 1 Nr. 2 SGB III nur partiell zur Setzung von Mindestarbeitsbedingungen geeignet.

H. Das Diskriminierungsverbot des Art. 39 II EGV1

Wie soeben dargestellt, sind die Vorschriften der§§ 285 I 1 Nr. 3, 286 I 1 Nr. 2 SGB III nicht auf Staatsbürger aus Mitgliedstaaten der EU anwendbar. Sie können Ungleichbehandlungen dieses Personenkreises nicht verhindem und ftir EU-Ausländer keine Mindestarbeitsbedingungen setzen. Staatsbürger aus Staaten der EU sind aber gegenüber anderen Ausländern nicht weniger geschützt. Gemäß Art. 39 II EGV umfaßt die Freizügigkeit der Arbeitnehmer die Abschaffung jeder auf der Staatsangehörigkeit beruhenden unterschiedlichen Behandlung der Arbeitnehmer der Mitgliedstaaten in bezug auf Beschäftigung, Entlohnung und sonstige Arbeitsbedingungen. Im Folgenden wird untersucht, inwieweit Art. 39 II EGV zur Verhinderung bzw. Beseitigung unzumutbarer oder unbilliger Arbeitsbedingungen geeignet ist. Hierzu muß zunächst auf die Voraussetzungen der Norm eingegangen werden.

I. Adressaten Art. 39 EGV wendet sich - wie der gesamte Vertrag - zunächst an die Mitgliedstaaten, darüber hinaus aber auch an Dritte. Denn das Diskriminierungsverbot des Art. 39 II EGV ist- wie auch Art. 141 EGV2 - , unmittelbar innerstaatlich geltendes Reche. Adressaten des Diskriminierungsverbotes sind deshalb auch die Arbeitsvertragsparteien (Arbeitgeber und Arbeitnehmer4 , der Staatsangehöriger eines vgl.: E., F. und H. (drittes Kapitel). Vormals: Art. 48 II EGV. 2 Vgl.: E.I. (drittes Kapitel). 3 Schweitzer/Hummer; Europatecht, Rdn. 1159; Oppermann, Europatecht, Rdn. 1417; Geiger; EGV, Art. 48 Rdn. 4, 16. 4 Der gemeinschaftsrechtliche Arbeitnehmerbegriff ist weiter gefaßt als der deutsche Arbeitnehmerbegriff. Gemeinschaftsrechtlich ist jede Person Arbeitnehmer, die während einer bestimmten Zeit für einen anderen unter dessen Leitung Arbeitsleistungen gegen Entgelt erbringt- Geiger; EGV, Art. 48 Rdn. 6; EuGH Slg. 1988, S. 3205- Brown; 1991 I, S. 5531 Le Manior; 1992 I, S. 1054 - Raulin. Auch Beamte sind Arbeitnehmer i. S. d. Art. 39 EGV Geiger; a. a. 0 . 88

I

16 Andelewski

242

3. Kap.: Unmittelbar geltende Mindestarbeitsbedingungen

EU-Staates ist5 ) und die Partner kollektiver betrieblicher und tariflicher Vereinbarungen (Arbeitgeber, Arbeitgeberverbände, Gewerkschaften und Betriebs- und Personalräte)6•7.

II. Pflicht zur Inländergleichbehandlung Art. 39 li EGV verpflichtet die Adressaten zur Inländergleichbehandlung8•9 . Verboten ist jede auf der Staatsangehörigkeit beruhende unterschiedliche Behandlung der Arbeitnehmer der Mitgliedstaaten in bezug auf Beschäftigung, Entlohnung und sonstige Arbeitsbedingungen. Der Begriff der Arbeitsbedingungen ist weit auszulegen. Zu ihnen zählen alle Vergünstigungen, die mit dem Arbeitsverhältnis in Beziehung stehen 10• Art. 39 li EGV untersagt sowohl unmittelbare als auch mittelbare Diskriminierungen 11 •12• Verboten sind deshalb auch Ungleichbehandlungen, die nicht unmittelbar an die Staatsangehörigkeit anknüpfen aber tat5 Gemäß Art. 10 f. EWG-VO Nr. 1612/68 i.V.m. Art. 7 EWG-VO Nr. 1251170 besteht die Pflicht zur Inländergleichbehandlung in bezug auf die Arbeitsbedingungen auch gegenüber den Familienangehörigen der EU-Ausländer. Vgl. auch: Wlker, G/T/E-EGV, Art. 48, Rdn. 51, 88 f. und G.I.2.a. (drittes Kapitel). 6 Bleckmann, Europarecht, Rdn. 1563; Oppennann, Europarecht, Rdn. 1430; Randelzhofer, G/H-EGV, Art. 48 Rdn. 1 ff., 29.; Geiger, EGV, Art. 48 Rdn. 16; OOlker, G/T/E-EGV, Art. 48 Rdn. 16. 7 Der Geltungsbereich des Diskriminierungsverbotes ist - wie der gesamte EGV - gemäß Art. 227 I EGV a.F. grundsätzlich auf das Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten beschränkt. Für berufliche Tatigkeiten, die teilweise oder vorübergehend außerhalb des Hoheitsgebietes eines Mitgliedstaates ausgeübt werden, hat der EuGH festgestellt, daß Personen, die diese Tatigkeiten ausüben, die Eigenschaft von im Hoheitsgebiet beschäftigten Arbeitnehmern besitzen, wenn das Arbeitsverhältnis einen räumlichen Bezug zum Gebiet der Gemeinschaft oder doch eine hinreichend enge Verbindung mit diesem Gebiet aufweist, EuGH, Slg. 1974, S. 1405Walrave; 1984, S. 3153- Prodest; 1989, S. 2989, 3005, 3010- Maria Lopes da Veiga. Auf dieser Rechtsprechung aufbauend, entschied das BAG, daß das Diskriminierungsverbot des Art. 39 II EGVauch auf ein dauerhaftes Arbeitsverhältnis eines EU-Ausländers (hier: belgischer Staatsbürger) mit einer deutschen Botschaft, die außerhalb der EU (hier: Algier) liegt, anwendbar ist, BAG EuZW 1997, S. 351. s Bleckmann, Europarecht, Rdn. 1561; Schweitzer/Hummer, Europarecht, Rdn. 1157; Oppennann, Europarecht, Rdn. 1426; Geiger, EGV, Art. 48 Rdn. 12. 9 Gemeinschaftsrechtlich konkretisiert Art. 39 II EGV das allgemeine Diskriminierungsverbot des Art. 6 EGVa.F., Oppennann, Europarecht, Rdn. 1428; Randelzhofe r, G/H-EGV, Art. 48 Rdn. 26; Geiger, EGV, Art. 48 Rdn. 12; Wlker, G/T/E-EGV, Art. 48 Rdn. 14. 10 Oppennann, Europarecht, Rdn. 1431; Bleckmann, Europarecht, Rdn. 1584. II In der europarechtlichen Literatur wird von versteckten oder indirekten Diskriminierungen gesprochen, vgl.: Bleckmann, Europarecht, Rdn. 1563; Schweitzer/Hummer, Europarecht, Rdn. 1157; Oppennann, Europarecht, Rdn. 1428; Geiger, EGV, Art. 48 Rdn. 15; Wölker, G/T/E-EGV, Art. 48 Rdn. 13. 12 Zur unmittelbaren und mittelbaren Diskriminierung vgl. auch: E.III., IV., F.ll. (drittes Kapitel).

H. Das Diskriminierungsverbot des Art. 39 II EGV

243

sächlich diskriminierend wirken, wie z. B. Anknüpfungen an den Wohn- oder Herkunftsort13 • Inländische Arbeitnehmer können typischerweise aus dem Diskriminierungsverbot des Art. 39 II EGV keine Rechte herleiten, denn sie sind zunächst der nationalen Gesetzgebung unterworfen. Sofern jedoch auch bei den Inländern der erforderliche gemeinschaftsrechtliche Bezug vorliegt, gewährt Art. 39 II EGV nicht nur den EU-Ausländern das Recht auf Gleichbehandlung sondern verbietet auch eine Schlechterstellung von Inländern gegenüber EU-Ausländern bzw. anderen inländischen Arbeitnehmern 14. Kein Verstoß gegen das Diskriminierungsverbot soll jedoch vorliegen, wenn Inländer, die in Drittstaaten gearbeitet haben, gegenüber anderen Inländern, die in einem anderen Mitgliedstaat gearbeitet haben, besser gestellt werden 15 •

111. Auswirkungen des Art. 39 IV EGV Gemäß Art. 39 IV EGV findet Art. 39 EGV und damit auch das Diskriminierungsverbot keine Anwendung auf Beschäftigung in der öffentlichen Verwaltung. Hiermit sind Tätigkeiten bzw. Stellen gemeint, die eine unmittelbare oder mittelbare Teilnahme an der Ausübung hoheitlicher Befugnisse mit sich bringen oder die die Wahrnehmung von Aufgaben beinhalten, die auf die Wahrung der allgemeinen Belange des Staates oder anderer Körperschaften des öffentlichen Rechts gerichtet sind 16. Für die Setzung von Mindestarbeitsbedingungen hat die Vorschrift des Art. 39 IV EGV jedoch keine Bedeutung. Denn vertritt man die Auffassung, daß Art. 39 IV EGVals Ausnahmevorschrift vom Freizügigkeitsgrundsatz eng auszulegen ist 17 und auf seinen konkreten Zweck, der darin besteht, es den Mitgliedstaaten zu ermöglichen, Ausländern den Zugang zu den oben näher beschriebenen Tätigkeiten zu verwehren, zu beschränken ist, gilt in der öffentlichen Verwaltung das Gleichbehandlungsgebot gegenüber dem einmal eingestellten EU-Ausländer in Bezug auf Vergütung und sämtliche anderen Arbeitsbedingungen genauso wie außerhalb der öffentlichen Verwaltung 18 . Ist man demgegenüber der Auffassung, das gesamte Oppermann, Europarecht, Rdn. 1428; Geiger, EGV, Art. 48 Rdn. 15. Randelzhofer, G/H-EGV, Art. 48 Rdn. 27; Wölker, G/T/E-EGV, Art. 48 Rdn. 9; Oppermann, Europarecht, Rdn. 1429. 1s Geiger, EGV, Art. 48 Rdn. 12; EuGH Slg. 20. 10. 1993 - Baglieri. 16 Bleckmann, Europarecht, Rdn. 1579; Geiger, EGV, Art. 48 Rdn. 45; Randelzhofer, GI H-EGV, Art. 48 Rdn. 64; EuGH Slg. 1987, S. 2625 - Kommission/Italien; Slg. 1989, S. 1591, 1601- Pilar Allue u. a./Universita degli Studi Venedig. 17 Randelzhofer, G/H-EGV, Art. 48 Rdn. 59; Wölker, G/T/E-EGV, Art. 48 Rdn. 125; EuGH Slg. 1987, S. 2625, 2638 - Kommission/Italien. 18 so: Wölker, G/T/E-EGV, Art. 48 Rdn. 125; Bleckmann, Europarecht, Rdn. 1579; unter Berufung auf EuGH Slg. 1974, S. 153, 162 f. - Sotgiu/Deutsche Bundespost; Slg. 1980, 13

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3. Kap.: Unmittelbar geltende Mindestarbeitsbedingungen

Freizügigkeitsgebot des Art. 39 EGV gelte nicht ftir die öffentliche Verwaltung 19, berechtigt dies den Staat nicht dazu, die ausländischen Arbeitnehmer aus Staaten der Europäischen Union zu diskriminieren. Denn der Staat - und somit auch die öffentliche Verwaltung - ist an Art. 3 111 GG gebunden. Dieser verbietet ausdrücklich jegliche Benachteiligung (und eine Bevorzugung) wegen der Abstammung, Rasse, Heimat und Herkunft.

IV. Rechtsfolgen Rechtsfolge eines Verstoßes gegen das Diskriminierungsverbot ist die Nichtigkeit der dem Verbot widersprechenden Regelung(§ 134 BGB)20. Die übrigen Bestandteile der Regelung bleiben entgegen dem Grundsatz des § 139 BGB wirksam21. Die diskriminierten Arbeitnehmer haben grundsätzlich Anspruch auf die gleichen Arbeitsbedingungen wie die nichtdiskriminierten Arbeitnehmer. Für den Vergütungsbereich folgt dies aus § 612 II BGB. Bezüglich der Rechtsfolgen und der in diesem Zusammenhang möglicherweise auftretenden Probleme (z. B. bei der rückwirkenden Anhebung der Arbeitsbedingungen) kann auf die Ausführungen im dritten Kapitel unter E.VI. und F.IV. verwiesen werden.

V. Art. 39 II EGV als taugliches Instrument zur Setzung von Mindestarbeitsbedingungen ? Die Freizügigkeit der Arbeitnehmer bildet eine der Grundlagen der Gemeinschaft. Sie dient der Verwirklichung der Freiheit des Personenverkehrs (eine der vier Grundfreiheiten) 22 . Das Diskriminierungsverbot des Art. 39 II EGV hilft, das Recht der Arbeitnehmer auf Freizügigkeit effektiv durchzusetzen. Dies ist auch erforderlich, denn innerhalb der Europäischen Union arbeiten ca. 5. Mill. Staatsbürger aus Mitgliedstaaten in anderen Mitgliedstaaten23 ·24. Bereits diese Zahl verdeutlicht die soziale und politische Dimension des Art. 39 EGV25 . S. 3881 - Kommission/Belgien; Slg. 1982, S. 1845 - Kommission/Belgien; Slg. 1987, S. 2625- Kommission/Italien. 19 so: Lecheler, Die Verwaltung, 1989, S. 137, 138; Geiger, EGV, Art. 48 Rdn. 45. 2o ß0lker, G/T/E-EGV, Art. 48 Rdn. 16. 21 zur Begründung vgl.: C.III. (drittes Kapitel). 22 ß0lker, GI TI E-EGV, vor Art. 48 Rdn. 1. 23 Oppermann, Europarecht, Rdn. 1409. 24 Die Wanderarbeiter kommen meist aus den wirtschaftlich schwächeren Mitgliedstaaten (Süditalien, Irland, Griechenland, Portugal und Spanien) und arbeiten in den wirtschaftlich stärkeren Mitgliedstaaten (Deutschland, Frankreich, Großbritannien), Oppermann, Europarecht, Rdn. 1409. 2s Oppermann, a. a. 0.

H. Das Diskriminierungsverbot des Art. 39 II EGV

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Wie die Gleichbehandlungsvorschriften der §§ 612 III BGB, 2 I BeschFG, Art. 141 EGV und der allgemeine arbeitsrechtliche Gleichbehandlungsgrundsatz ist auch das Diskriminierungsverbot des Art. 39 II EGV abstrakt und enthält keine inhaltliche Festlegung eines Mindestschutzes der Arbeitnehmer. Art. 39 II EGV setzt aber dennoch Mindestarbeitsbedingungen. Denn er verbietet Staatsbürger aus Mitgliedstaaten der EU zu diskriminieren und zu ungünstigeren Arbeitsbedingungen als vergleichbare inländische Arbeitnehmer zu beschäftigen. Durch dieses Verbot wird eine Untergrenze der für EU-Ausländer zulässigen Arbeitsbedingungen festgelegt. Wie hoch oder niedrig diese Grenze ist, steht jedoch nicht von vornherein fest, sondern ergibt sich erst aus einem Vergleich mit den tatsächlichen Arbeitsbedingungen der inländischen Arbeitnehmer. Wegen der neunzigprozentigen Tarifbindung in Deutschland26, sorgt das Diskriminierungsverbot des Art. 39 II EGV jedoch faktisch dafür, daß EU-Ausländer zu angemessenen Arbeitsbedingungen beschäftigt werden. Er verhindert somit nicht nur unzumutbare sondern auch unbillige Arbeitsbedingungen. Zwingend ist dies jedoch nicht, denn werden inländische Arbeitnehmer zu unangemessenen bzw. unbilligen Arbeitsbedingungen beschäftigt, gibt Art. 39 II EGV den Arbeitnehmern aus Staaten der EU auch nur Anspruch auf diese Arbeitsbedingungen27 . Art. 39 EGV kann nicht alle natürlichen - z. B. durch Sprachschwierigkeiten auftretende - Ungleichbehandlungen verhindern. Im Bereich der Freizügigkeit sind Arbeitnehmer aus fremden Staaten deshalb i.d.R. insoweit benachteiligt, als sie die entsprechenden Diplome, Prüfungen usw. nur schwerer erwerben können als Staatsangehörige des betreffenden Staates28 . In der Literatur wird deshalb bedauert, daß Art. 39 EGV keine dem Art. 57 EGV a.F. (Richtlinien zur gegenseitigen Anerkennung von Diplomen und Zeugnissen) entsprechende Regelung enthält29. Das Diskriminierungsverbot wirkt ausschließlich zu Gunsten von Staatsbürgern aus Mitgliedstaaten der EU. Arbeitnehmer aus Drittstaaten, Staatenlose, Flüchtlinge und Asylbewerber, die in einem Mitgliedstaat wohnen, gehören nicht zu dem durch Art. 39 EGV geschützten Personenkreis30. Für diese Arbeitnehmer kann Art. 39 II EGV keine Mindestarbeitsbedingungen setzen3 1. Art. 39 EGV ist weiter nicht auf Sachverhalte anwendbar, die einen Mitgliedstaat rein intern betreffen. Deshalb können sich diskriminierte inländische Arbeitnehmer bei Fallkonstellationen, denen der erforderliche Bezug zu einem der TatbeNachweise in Fußnote 1 der Einleitung. Auf diese Problematik wurde bereits ausführlich im Rahmen der anderen Gleichbehandlungsvorschriften eingegangen, vgl.: Drittes Kapitel- E.VII. F.V. G.IV. J.III. 28 Bleckmann, Europarecht, Rdn. 1563. 29 Bleckmann, a. a. 0. 30 Oppermann, Europarecht, Rdn. 1418; Geiger; EGV, Art. 48 Rdn. 9. 31 Auf diesen Personenkreis können jedoch die Vorschriften der §§ 285 I I Nr. 3, 286 I 1 Nr. 2 SGB III anwendbar sein. 26 27

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3. Kap.: Unmittelbar geltende Mindestarbeitsbedingungen

stände des Europäischen Gemeinschaftsrechts fehlt (sog. Inländerdiskrirninierungen), nicht auf die Gleichbehandlungsvorschrift des Art. 39 II EGV berufen32. Für diesen Personenkreis setzt Art. 39 II EGV direkt keine Mindestarbeitsbedingungen33. Dies kann zu einem Laien nicht erklärbaren Fallkonstellationen führen. Besonders schwer vermittelbar wird es, wenn es um den Vergleich von Arbeitsbedingungen von Arbeitnehmern und Beamten geht. Der Arbeitnehmerbegriff des Art. 39 EGV ist nämlich weiter als der deutsche Begriff des Arbeitnehmers. Europarechtlieh werden insbesondere auch Beamte von dem Diskriminierungsverbot des Art. 39 II EGV erfaßt34. Der (deutsche) arbeitsrechtliche Gleichbehandlungsgrundsatz ist hingegen nicht auf Beamte und Arbeitnehmer anwendbar35 . Ein konkretes Beispiel: Der Angestellte A ist Staatsbürger eines Mitgliedstaates der EU. Er arbeitet in Deutschland im öffentlichen Dienst und verrichtet die gleiche Tätigkeit wie der Beamte B, der deutscher Staatsbürger ist. Auf Grund von beamtenrechtlichen Vorschriften ist es A verwehrt verbeamtet zu werden. Sollten die auf das Arbeitsverhältnis von A anzuwendenden Vorschriften des BAT für A ungünstiger sein, als die auf das Dienstverhältnis von B anzuwendenden beamtenrechtlichen Vorschriften, wäre dies ein Verstoß gegen Art. 39 II EGV und A hätte Anspruch auf die gleichen Arbeitsbedingungen, wie B. Der Angestellte C hingegen ist deutscher Staatsbürger. Auch er verrichtet die gleichen Tätigkeiten wie A und B. Er kann sich wegen des fehlenden gemeinschaftsrechtlichen Bezuges nicht auf Art. 39 II EGV berufen. Da auch der arbeitsrechtliche Gleichbehandlungsgrundsatz36 im Verhältnis Beamte und Arbeitnehmer nicht anwendbar ist37 , hat C keinen Anspruch auf etwaig günstigere Arbeitsbedingungen des B. Dadurch, daß Art. 39 II EGV eine Beschäftigung von EU-Ausländern zu ungünstigeren Arbeitsbedingungen als inländische Arbeitnehmer untersagt, verhindert er dennoch ein Absinken der Arbeitsbedingungen der Inländer, das sonst durch einen Unterbietungswettbewerb inländischer und ausländischer Arbeitnehmer ausgelöst werden könnte. Der EuGH führte hierzu aus: "Das vorbehaltlose Verbot unter32 Oppennann, Europarecht, Rdn. 1423; Geiger, EGV, Art. 48 Rdn. 2; l-W.ilker, G /T /EEGV, Art. 48 Rdn. 10; Weis, NJW 1983, S. 2721, 2723; EuGH Slg. 1992 I, S. 2102- Batista; 1992 I, S. 353- Stehen/Deutsche Bundespost. Umfassend zur Problematik der Inländerdiskriminierung: Weiss, NJW 1983, S. 2721 ff. 33 Soweit das Gemeinschaftsrecht Inländerdiskriminierungen von seinem Anwendungsbereich ausnimmt, ist es Sache der innerstaatlichen Gleichheitssätze, hier Abhilfe zu schaffen, Randelzhofe r, G/H-EGV, Art. 48 Rdn. 59. Arbeitnehmer, die vom Anwendungsbereich des Art. 39 II EGV ausgenommen sind, können sich deshalb auf die Gleichbehandlungsvorschriften der§§ 612 III BGB, 2 I BeschFG, Art. 119 EGV und den allgemeinen arbeitsrechtlichen Gleichbehandlungsgrundsatz berufen. 34 Zum gemeinschaftsrechtlichen Arbeitnehmerbegriff vgl.: die Ausführungen in Fußnote 4. 35 Drittes Kapitel J .1.2. - Fußnote 7. 36 Vgl.: J. (drittes Kapitel). 37 Drittes Kapitel J.I.2. - Fußnote 7.

J. Der allgemeine arbeitsrechtliche Gleichbehandlungsgrundsatz

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schiedlicher Behandlung im Sinne von Art. 48 Absatz 2 des EWG-Vertrages (a.F.) hat nicht bloß den Zweck, in jedem Mitgliedstaat den Angehörigen der übrigen Mitgliedstaaten gleichen Zugang zu den Arbeitsplätzen zu verschaffen, sondern darüberhinaus auch, Inländer vor den Nachteilen zu bewahren, die sich daraus ergeben können, daß Angehörige anderer Mitgliedstaaten ungünstigere Arbeitsbedingungen oder Entlohnung anbieten oder annehmen, als das geltende nationale Recht sie vorsieht. " 38. Die im dritten Kapitel unter E.VII. und F.V. geäußerten Bedenken gegenüber §§ 2 I BeschFG, 612 111 BGB und Art. 141 EGV wegen dem mit der rückwirkenden Anpassung der Arbeitsbedingungen (insbesondere der Vergütung) einhergehenden Eingriff in die unternehmecisehe Disposition, der in Gang gesetzten Spirale nach oben und einer etwaigen Überschreitung des Datierungsrahmens können wegen der identischen Rechtsfolgen der§§ 2 I BeschFG, 612 III BGB, und der Art. 39 II, 141 EGV auch gegenüber Art. 39 II EGV vorgebracht werden. Insoweit wird auf obige Ausführungen verwiesen. Positiv ist anzumerken, daß Art. 39 II EGV im direkten Vergleich mit§ 612 III BGB, Art. 141 EGV, § 2 I BeschFG und dem allgemeinen arbeitsrechtlichen Gleichbehandlungsgrundsatz den umfassenderen Schutz vor Ungleichbehandlung bietet. Denn das Diskriminierungsverbot des Art. 39 II EGV ist - im Gegensatz zu § 612 III BGB und Art. 141 EGV- nicht auf den Entgeltbereich beschränkt sondern erlaßt sämtliche Arbeitsbedingungen. Eine Abweichung kann nicht - wie bei § 612 III BGB, Art. 141 EGV, § 2 I BeschFG und dem arbeitsrechtlichen Gleichbehand1ungsgrundsatz - durch sachliche Gründe gerechtfertigt werden. Auf die Einhaltung des Art. 39 II EGV kann nicht - wie beim arbeitsrechtlichen Gleichbehandlungsgrundsatz - verzichtet werden und er ist auch nicht gegenüber individualvertraglichen Vereinbarungen nachrangig.

J. Der allgemeine arbeitsrechtliche Gleichbehandlungsgrundsatz Obwohl die dogmatische Begründung 1 und die Reichweite des arbeitsrechtlichen Gleichbehandlungsgrundsatzes umstritten sind, besteht in Literatur und Rechtsprechung Einigkeit darüber, daß der Gleichbehandlungsgrundsatz zu den tragenden Ordnungsprinzipien des Arbeitsrechts gehört. Der arbeitsrechtliche Gleichbehandlungsgrundsatz verpflichtet den Arbeitgeber, bei einheitlichen RegeEuGH Slg. 1974, S. 359,360- Kommission/Französische Republik. Auf die dogmatische Begründung des Gleichbehandlungsgrundsatzes kann hier nicht eingegangen werden. Die Rechtsprechung hat diese Frage stets offen gelassen. In der Literatur wurden hierzu eine beträchtliche Anzahl an Theorien entwickelt. Eine umfassende Darstellung findet sich bei Marhold/ Heckers, ArbR-Blattei S.O. 800.1. Rdn. 11 ff. 38 I

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3. Kap.: Unmittelbar geltende Mindestarbeitsbedingungen

Iungen diejenigen Arbeitnehmer bzw. Arbeitnehmergruppen gleich zu behandeln, die sich in einer vergleichbaren Lage befinden. Sachlich gerechtfertigte Differenzierungen sind jedoch zulässig2 . Für den hier untersuchten Bereich der Mindestarbeitsbedingungen bedeutet dies, daß es dem Arbeitgeber verwehrt ist, einzelne Arbeitnehmer oder Gruppen von Arbeitnehmern ohne sachlichen Grund von allgemeinen begünstigenden Regelungen auszunehmen oder schlechter zu stellen3 . Im Folgenden wird untersucht, inwieweit der allgemeine arbeitsrechtliche Gleichbehandlungsgrundsatz zur Verhinderung bzw. Beseitigung unzumutbarer oder unbilliger Arbeitsbedingungen geeignet ist. Hierzu muß zunächst auf die Voraussetzungen des Gleichbehandlungsgrundsatzes eingegangen werden.

I. Voraussetzungen 1. Einheitliche Regelung Der Gleichbehandlungsgrundsatz untersagt nur die Schlechterstellung einzelner Arbeitnehmer oder Arbeitnehmergruppen gegenüber anderen aufgrund einer einheitlichen Regelung begünstigten Arbeitnehmern. Voraussetzung ist somit das Bestehen einer bestimmten Ordnung - eines einheitlichen Tatbestandes auf Seiten der Begünstigten -, die über individuelle, auf der Grundlage der Vertragsfreiheit ausgehandelte, Einzelverhältnisse hinaus für alle oder eine Gruppe von Arbeitnehmern gilt4 • Fehlt es an einer solchen einheitlichen Regelung und werden Arbeitnehmer lediglich im Verhältnis zu einzelnen vom Arbeitgeber herausgestellten Arbeitnehmern ungleich behandelt, ist der arbeitsrechtliche Gleichbehandlungsgrundsatz nicht anwendbar5 . 2. Vergleichbare Lage der Arbeitnehmer Die Pflicht zur Gleichbehandlung erstreckt sich auf Arbeitnehmer, die sich in einer vergleichbaren Lage befinden6 . Eine solche liegt vor, wenn bei einer ord2 MHBzArbR/ Richardi, § 14 Rdn. 1; Marhold/Beckers, ArbR-Blattei S.D. 800.1. Rdn. 1, 47, 65. 3 Hunold, DB 1984 Beilage Nr. 5, S. 1, 3; BAO DB 1980, S. 1650 ff.; BAO AP Nr. 39 zu § 242 BOB Oleichbehandlung. 4 Schaub, ArbRHB, § 120 II 3; Hunold, a. a. 0 .; MHBzArbR/ Richardi, § 14 Rdn. 4; Bittner, NZA 1993, S. 161, 164. s Hunold, a. a. 0.; ders., DB 1991, S. 1670. 6 Schaub, ArbRHB, § 120 Rdn. 1a; ders., NZA 1984, S. 73, 74; MHBzArbR/ Richardi, § 14 Rdn. 20; Marhold/Beckers, ArbR-Blattei S.D. 800.1. Rdn. 47; BAO AP Nr. 4, 102, 112 zu§ 242 BOB Oleichbehandlung; BAO AP Nr. 10 zu§ 1 BetrAVO Zusatzversorgungskassen.

J. Der allgemeine arbeitsrechtliche Gleichbehandlungsgrundsatz

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nungsgemäßen Gruppenbildung innerhalb der Arbeitnehmer die zu vergleichenden Arbeitnehmer7 in dieselbe Gruppe einzuordnen sind. Die Gruppenbildung kann nach der Zeit, z. B. nach einem Stichtag, oder nach Merkmalen, z. B. nach der Art der zu verrichtenden Tätigkeit erfolgen 8 . Hierbei ist zu beachten, daß es eine vollkommene Gleichheit zwischen mehreren Arbeitnehmern nie geben wird. Ausreichend ist es deshalb, wenn die Sachverhalte bzw. Sachlagen wesentlich übereinstimmen9. Inhaltlich erstreckt sich die Pflicht zur Gleichbehandlung nicht nur auf freiwillige Sozialleistungen sondern grundsätzlich auf alle durch einheitliche Regelungen gewährten Leistungen des Arbeitgebers und das Direktionsrecht 10•

3. Ungleichbehandlung Eine Ungleichbehandlung kann sowohl bei einer willkürlichen Schlechterstellung einzelner Arbeitnehmer innerhalb einer Gruppe als auch bei einer sachfremden Gruppenbildung vorliegen. Denn wäre dem Arbeitgeber jedwede Differenzierung bei der Gruppenbildung gestattet, wäre der Gleichbehandlungsgrundsatz eine inhaltsleere Hülse ohne praktische Relevanz 11 • Ob eine Ungleichbehandlung vorliegt ist nach h.M. und Rechtsprechung durch einen betriebsbezogeqen Vergleich zu ennitteln 12• ·

4. Rechtfertigung von Differenzierungen Eine Differenzierung verstößt nicht gegen den Gleichbehandlungsgrundsatz, wenn sie sachlich gerechtfertigt ist. Dies ist der Fall, wenn sie aus vernünftigen und sachgerechten Gründen unter Berücksichtigung der vom Arbeitsrecht anerkannten Wertungen getroffen wird 13• Auf Einzelheiten bezüglich der sachlichen 7 Zu vergleichen ist stets nur die Lage der Arbeitnehmer untereinander, vgl.: Marhold/ Beckers, ArbR-Blattei S.D. 800.1. Rdn. 54. Das BAG hat die Anwendung des Gleichbehandlungsgrundsatzes auf Beamte und Arbeitnehmer abgelehnt, BAG AP Nr. 23 zu § 611 Diskriminierung. 8 Schaub, a. a. 0. 9 Marhold/ Beckers, ArbR-Blattei S.D. 800.1. Rdn. 48; Schaub, ArbRHB, § 112 II 1a. 10 MHBzArbR/ Richardi, § 14 Rdn. 11; Marhold/Beckers, ArbR-Blattei S.D. 800.1. Rdn. 134; Eine übersichtliche Fallgruppenbildung findet sich bei Marhold/ Beckers, ArbR-Blattei S.D. 800.1. Rdn. 135 ff.; Hunold, DB 1984 Beilage Nr. 5, S. 1, 4 ff.; ders., DB 1991, S. 1670 ff. 11 MHBzArbR/ Richardi, § 14 Rdn. 13; Marhold/Beckers, ArbR-Blattei S.D. 800.1. Rdn. 50 f. 12 Marhold/Beckers, ArbR-Blattei S.D. 800.1. Rdn. 122; Tschöppe, DB 1994, S. 40 ff.; BAG AP Nr. 12, 54 zu § 242 BOB Gleichbehandlung; BAG AP Nr. 4 zu § 242 BOB Ruhegehalt; BAG AP Nr. 115 zu §§ 22, 23 BAT 1975; a.A.: Schaub, ArbRHB, § 112 II 1c; MHBzArbR/ Richardi, § 14 Rdn. 9. 13 Marhold!Beckers, ArbR-Blattei S.D. 800.1. Rdn. 65; Tschöppe, DB 1994, S. 40.

250

3. Kap.: Unmittelbar geltende Mindestarbeitsbedingungen

Rechtfertigung und auf die an die Gründe zu stellenden Anforderungen kann hier nicht eingegangen werden 14. Auf jeden Fall unzulässig sind jedoch Differenzierungenaufgrund von Merkmalen, deren Berücksichtigung nach Art. 3 GG und§§ 75 BetrVG, 67 BPersVG (absolute Differenzierungsverbote) untersagt ist 15.

5. Vertragsfreiheit Der arbeitsrechtliche Gleichbehandlungsgrundsatz wird durch die Vertragsfreiheit begrenzt. Er ist deshalb insbesondere bei individuell ausgehandelten Arbeitsbedingungen nicht anwendbar 16. Das BAG führte zutreffend aus: "Ein Arbeitnehmer, dem kraft einzelvertraglicher Regelung ein bestimmter Lohnanspruch zusteht, kann nicht deshalb einen höheren Lohn fordern, weil anderen Arbeitnehmern der höhere Lohn kraft einer mit diesen getroffenen Vereinbarung gewährt wird." 17 . Der Gleichbehandlungsgrundsatz untersagt dem Arbeitgeber somit nicht die Begünstigung einzelner Arbeitnehmer 18. Hauptanwendungsfälle des Gleichbehandlungsgrundsatzes sind freiwillige Leistungen des Arbeitgebers, wie Gratifikationen, Versorgungszusagen, außer- und übertarifliche Zulagen sowie andere Sozialleistungen, deren Regelung der einseitigen Gestaltungsmacht des Arbeitgebers unterliegt19. Aber auch hier ist eine Gleichbehandlung nicht zwingend. Denn den Vertragsparteien ist es möglich, auf die Einhaltung des Gleichbehandlungsgrundsatzes zu verzichten 20. Die Grenze des Verzichts bilden lediglich die zwingend festgelegten Differenzierungsverbote21 .

14

74 ff.

Eine ausführliche Darstellung liefern Marhold/Beckers, ArbR-Blattei S.D. 800.1. Rdn.

15 Schaub, ArbRHB, § 120 II 3b; ders., NZA 1984, S. 73, 75; MHBzArbR/ Richardi, § 14 Rdn. 22. 16 Marhold/ Beckers, ArbR-B1attei S.D. 800.1. Rdn. 60; MHBzArbR/ Richordi, § 14 Rdn. 2; Schaub, ArbRHB, § 112 III 1; Hunold, DB 1984 Beilage Nr. 5, S. 1, 4; ders., DB 1991, S. 1670; BAG AP Nr. 2 zu§ 21 MTL II. 17 BAG AP Nr. 32 zu§ 242 BGB Gleichbehandlung. 18 Marhold/Beckers, ArbR-Blattei S.D. 800.1. Rdn. 59; Hunold, DB 1984 Beilage Nr. 5, S. 1, 12; BAG AP Nr. 4, 5, 35 zu § 242 BGB Gleichbehandlung; BAG AP Nr. 3 zu § 2 KSchG 1969. 19 Marhold/ Beckers, ArbR-Blattei S.D. 800.1. Rdn. 58; Schaub, ArbRHB, § 112 III 4. 20 MHBzArbR/ Richardi, § 14 Rdn. 32; Schaub, ArbRHB § 120 II 4; Marhold/ Beckers, ArbR-Blattei S.D. 800.1. Rdn. 239; Bittner, NZA 1993, S. 161, 164 f. Durch diesen Verzicht wird nicht der Gleichbehandlungsgrundsatz als solcher abgedungen, sondern nur auf seine Anwendung im Einzelfall verzichtet, Marhold/Beckers, a. a. 0.; Bittner, NZA 1993, S. 161, 165. 21 Marhold/Beckers, ArbR-Blattei S.D. 800.1. Rdn. 239; MHBzArbR/ Richardi, § 14 Rdn. 33; Hierzu zählen auch die in diesem Kapitel unter J.I.4. erwähnten absoluten Differenzierungsverbote.

J. Der allgemeine arbeitsrechtliche Gleichbehandlungsgrundsatz

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II. Rechtsfolgen Die Rechtsfolgen einer Verletzung des Gleichbehandlungsgrundsatzes sind von der zugefügten Ungleichbehandlung (z. B. der fehlerhaften Ausübung des Direktionsrechtes oder dem Vorenthalten einer begünstigenden Leistung) abhängig. Im Rahmen dieser Arbeit sind nur die Rechtsfolgen eines ungerechtfertigten Vorenthaltens einer begünstigenden Leistung von Interesse. In diesem Fall ist unstreitig, daß der ungerechtfertigte Ausschluß der diskriminierten Arbeitnehmer unwirksam ist und die benachteiligten Arbeitnehmer einen Anspruch auf die vorenthaltenen Leistungen haben 22' 23 • Die dogmatische Begründung dieses Anspruches ist allerdings umstritten und hängt eng mit der von den jeweiligen Autoren vertretenen dogmatischen Begründung des arbeitsrechtlichen Gleichbehandlungsanspruches zusarnmen24. Da die Geltung des arbeitsrechtlichen Gleichbehandlungsgrundsatzes anerkannt ist, erscheint es mir praktikabel, eine gegen den Gleichbehandlungsgrundsatz verstoßende Maßnahme des Arbeitgebers als unwirksam und gemäߧ 134 BGB nichtig anzusehen 25 • Sollte die Maßnahme aus mehreren Teilen bestehen, bleiben die übrigen Bestandteile der Regelung entgegen dem Grundsatz des § 139 BGB wirksam26. Verstößt z. B. die Verteilung freiwilliger übertariflicher Zulagen gegen den Gleichbehandlungsgrundsatz , so ist der sachlich nicht gerechtfertigte Ausschluß einzelner Arbeitnehmer oder Arbeitnehmergruppen nichtig (§ 134 BGB). Es fehlt eine wirksame Bestimmung über die Einbeziehung der diskriminierten Arbeitnehmer. Soweit es sich bei den Zulagen um Vergütungen handelt, ist dieser Fall vom Gesetzgeber in § 612 BGB geregelt. Gemäߧ 612 II BGB gilt die übliche Vergütung als vereinbart, wenn die Höhe der Vergütung nicht bestimmt ist. Liegt ein nichtiger Ausschluß einzelner Arbeitnehmer oder Arbeitnehmergruppen vor, schuldet der Arbeitgeber den Arbeitnehmern die übliche Vergütung27 , also die Einbeziehung in den Kreis der Begünstigten28 • Handelt es sich bei den zu unrecht vorenthaltenen Leistungen nicht um Vergütungen, schuldet der Arbeitgeber ebenfalls die Einbeziehung der Benachteiligten in den Kreis der Begünstigten, mit der Folge, daß die Benachteiligten dieselben Ansprüche wie die bisher Begünstigten erlangen. Dieser Fall ist allerdings nicht geMarhold/Beckers, ArbR-Blattei S.D. 800.1. Rdn. 230; Schaub, NZA 1984, S. 73. Bezüglich der hierbei möglicherweise auftretenden Probleme (z. B. bei der rückwirkenden Anhebung der Arbeitsbedingungen) kann auf die Ausführungen im dritten Kapitel unter E.VI. verwiesen werden. 24 Vgl. hierzu: Marhold/Beckers, ArbR-Blattei S.D. 800.1. Rdn. 230 ff. und die Ausführungen und Nachweise in Fußnote 28. 25 Marhold/Beckers, ArbR-Blattei S.D. 800.1. Rdn. 230; BAG NZA 1986, S. 321. 26 zur Begründung vgl.: C.III. (drittes Kapitel). 27 Erman/ Hanau, BOB, § 612 Rdn. 21 ; Kreutz, SAE 1974, S. 35, 36; BAG AP Nr. 2 zu § 138 BOB; BAG MDR 1960, S. 612 f.; BAG DB 1991, S. 391; a.A.: Sack, RdA 1975, S. 171, 178. 28 Schaub, a. a. 0.; Marhold/ Beckers, a. a. 0. 22 23

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3. Kap.: Unmittelbar geltende Mindestarbeitsbedingungen

setzlieh geregelt. Die Begründung des Anspruches ist deshalb umstritten. Auf die einzelnen hierzu vertretenen Ansichten kann im Rahmen dieser Arbeit nicht eingegangen werden, zumal sie sich auch meist im Ergebnis nicht unterscheiden 29•30•

111. Der allgemeine arbeitsrechtliche Gleichbehandlungsgrundsatz als taugliches Instrument zur Setzung von Mindestarbeitsbedingungen ? Zweck des allgemeinen arbeitsrechtlichen Gleichbehandlungsgrundsatzes ist es nicht, eine etwaig gestörte Vertragsparität auszugleichen oder eine Billigkeitskontrolle einzelner Arbeitsbedingungen zu ermöglichen. Der Gleichbehandlungsgrundsatz dient - wie auch die Vorschriften der Art. 39 II, 141 EGV und der §§ 612 III BGB, 2 I BeschFG, 285 I 1 Nr. 3, 286 I 1 Nr. 2 SGB III- der Verwirklichung austeilender Gerechtigkeit (iustitia distributiva) zielt aber nicht auf die Verwirklichung ausgleichender Gerechtigkeit (iustitia commutativa) ab31 . Das Gebot austeilender Gerechtigkeit ist abstrakt und enthält keine inhaltliche Festlegung eines Mindestschutzes der Arbeitnehmer32 • Der arbeitsrechtliche Gleichbehandlungsgrundsatz setzt aber dennoch Mindestarbeitsbedingungen. Denn er verbietet es, Arbeitnehmer von einheitlichen (begünstigenden) Regelungen ohne sachlichen Grund auszuschließen. Die Untergrenze der im Einzelfall zulässigen Arbeitsbedingungen entspricht den aufgrund einer einhei~lichen Regelung gewährten Arbeitsbedingungen. Wie hoch oder niedrig diese Grenze ist, steht jedoch nicht von vornherein fest, sondern ergibt sich erst aus der kollektiven Regelung. Wie in diesem Kapitel zur geschlechtsspezifischen Diskriminierung unter E. VI. und VII. dargelegt, kann dies dazu führen, daß die diskriminierten Arbeitnehmer nur Anspruch auf weniger als angemessene Arbeitsbedingungen oder sogar auf mehr als angemessene Arbeitsbedingungen haben. Da die Hauptanwendungsfälle des 29 Mehrheitlich wird der Anspruch der Diskriminierten mit einer ergänzenden Vertragsauslegung begriindet. Hierbei wird nicht zwischen Vergütungen und sonstigen Arbeitsbedingungen differenziert, vgl.: Marhold/ Beckers, ArbR-Blattei S.D. 800.1. Rdn. 230; Schaub, NZA 1984, S. 73, 75. Die einzige auch zu einem anderen Ergebnis führende Meinung vertreten Birk und Richardi. Sie meinen, die Rechtsfolge einer Verletzung des Gleichbehandlungsgrundsatzes bestünde für die Vergangenheit in einem Schadensersatzanspruch des Arbeitnehmers gegen den Arbeitgeber- Birk, Anmerkung zu BAG AP Nr. 39 zu § 242 BGB Gleichbehandlung; MHBzArbR/ Richardi, § 14 Rdn. 36. Diese Auffassung ist abzulehnen, sie macht den Anspruch des Arbeitnehmers auf Gleichbehandlung von einem Verschulden des Arbeitgebers abhängig und so sehr ungewiß. 30 Hat der Arbeitgeber den Gleichbehandlungsgrundsatz schuldhaft verletzt, kommen darüberhinaus auch Schadensersatzansprüche des Arbeitnehmers gegen den Arbeitgeber in Betracht, vgl.: Marhold/ Beckers, ArbR-Biattei S.D. 800.1. Rdn. 233; Schaub, ArbRHB, § 112 II 5b. 31 MHBzArbR/ Richardi, § 14 Rdn. 3 f.; Bittner; NZA 1993, S. 161, 166. 32 Bittner; a. a. 0 .

J. Der allgemeine arbeitsrechtliche Gleichbehandlungsgrundsatz

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Gleichbehandlungsgrundsatzes noch immer freiwillige soziale Leistungen des Arbeitgebers sind33 , geht es in den Gleichbehandlungsfällen inhaltlich jedoch regelmäßig nicht um das Minimum der dem Arbeitnehmer zu gewährenden Arbeitsbedingungen sondern um angemessene oder sogar mehr als angemessene Arbeitsbedingungen34. Insoweit verhindert der arbeitsrechtliche Gleichbehandlungsgrundsatz faktisch nicht nur unzumutbare sondern auch unbillige Arbeitsbedingungen. Dies ist jedoch nicht zwingend. Wie dargestellt, ist die Untergrenze der im Einzelfall zulässigen Arbeitsbedingungen von den einheitlich gewährten Arbeitsbedingungen abhängig. Diese können aus Sicht des Arbeitnehmers auch ungünstig sein. Der arbeitsrechtliche Gleichbehandlungsgrundsatz läßt somit auch eine gleich schlechte Behandlung der Arbeitnehmer zu35 . Aber auch in den Fällen, in denen es um die Vorenthaltung des "Sahnehäubchens" geht, ist der arbeitsrechtliche Gleichbehandlungsgrundsatz nur begrenzt zur Setzung von Mindestarbeitsbedingungen geeignet. Ursächlich hierfür ist seine Disposität und die ausschließliche Geltung in Bezug auf einheitliche (kollektive) Regelungen. Dies zeigt sich insbesondere bei der Bestimmung der Höhe des Entgeltes. Kein Arbeitnehmer kann bei der Vereinbarung seines Entgeltes unter Bezugnahme auf den Gleichbehandlungsgrundsatz ein höheres Entgelt verlangen, weil der Arbeitgeber anderen Arbeitnehmern für gleiche oder vergleichbare Arbeit ein höheres Entgelt zahlt. Sofern keine betriebliche Einheitsregelung vorliegt, findet der Grundsatz der Gleichbehandlung somit im eigentlichen Kernbereich der Lohnfindung, bei der Bestimmung der Höhe des Entgeltes, keine Anwendung. Die praktische Anwendbarkeit des Gleichbehandlungsgrundsatzes und seine Auswirkungen auf die primäre Festsetzung von Entgelten sind deshalb gering36. Doch selbst wenn der Gleichbehandlungsgrundsatz anwendbar ist, weil eine einheitliche (kollektive) Regelung vorliegt, ist es dem Arbeitnehmer möglich, die Ungleichbehandlungen zu akzeptieren und den Gleichbehandlungsgrundsatz im Einzelfall abzudingen. Da der Arbeitnehmer sich typischerweise in der schlechteren Verhandlungsposition befindet, ist es vorstellbar, daß dies auf einen gewissen (noch zulässigen) Druck des Arbeitgebers geschieht. Anspruche kann der Arbeitnehmer dann aus dem arbeitsrechtlichen Gleichbehandlungsgrundsatz nicht mehr herleiten. Der arbeitsrechtliche Gleichbehandlungsanspruch bleibt insoweit deutlich hinter den Diskriminierungsverboten der Art. 39, 141 EGV und der§§ 612 III BGB, 2 I BeschFG, 285 I I Nr. 3, 286 I I Nr. 2 SGB III zuriick.

vgl.: 1.1.5. (drittes Kapitel). In LAGE (Köln) Art. 9 GG Arbeitskampf ging es um eine Flasche "Pommery", einen Blumenstrauß, ein Mittagessen und eine Tasse Kaffee, in AP Nr. 137 zu § 242 BGB Gleichbehandlung um eine Abfindung, in AP Nr. 138 zu§ 242 BGB Gleichbehandlung um ein 13. Monatseinkommen und in AP Nr. 160 zu § 242 BGB Gleichbehandlung um ein Job-Ticket. 35 Bittner, a. a. 0 . 36 Hunold, DB 1984 Beilage Nr. 5, S. 1, 5. 33

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3. Kap.: Unmittelbar geltende Mindestarbeitsbedingungen

Eine weitere Grenze des Gleichbehandlungsgrundsatzes bildet die nach h.M. und Rechtsprechung nur betriebsbezogene Anwendbarkeit des Gleichheitssatzes. Ungleichbehandlungen zwischen Arbeitnehmern verschiedener Betriebe können nicht verhindert werden, selbst wenn diese Betriebe zu demselben Unternehmen gehören37 • Die im dritten Kapitel unter E. VII. und F. V. geäußerten Bedenken gegenüber §§ 2 I BeschFG, 612 III BGB und Art. 141 EGV wegen dem mit der rückwirkenden Anpassung der Arbeitsbedingungen (insbesondere der Vergütung) einhergehenden Eingriff in die unternehmensehe Disposition, der in Gang gesetzten Spirale nach oben und einer etwaigen Überschreitung des Dotierungsrahmens können wegen der identischen Rechtsfolgen der§§ 2 I BeschFG, 612 III BGB, des Art. 141 EGV und des arbeitsrechtlichen Gleichbehandlungsanspruches auch gegenüber dem Gleichbehandlungsanspruch vorgebracht werden38 . Insoweit wird auf die dortigen Ausführungen verwiesen. Positiv ist anzumerken, daß es nicht nur den Vertragsparteien sondern gemäß §§ 75 I, 87 I Nr. 8, 10 BetrVG auch dem Betriebsrat obliegt, auf die Einhaltung des Gleichbehandlungsgrundsatzes zu achten und Diskriminierungen zu verhindern. Die praktische Bedeutung der Mitbestimmungsrechte des Betriebsrates ist nicht zu unterschätzen, denn bei diskriminierten aber noch im Betrieb beschäftigten Arbeitnehmern ist die Bereitschaft die ihnen zu unrecht verwehrten Arbeitsbedingungen einzuklagen regelmäßig gering ausgepräge9 . In der Gesamtbetrachtung ist festzuhalten, daß der arbeitsrechtliche Gleichbehandlungsgrundsatz die tatsächliche und rechtliche Gleichheit der Arbeitnehmer nur sehr unvollkommen verwirklicht. Der Gleichbehandlungsgrundsatz ist in erster Linie Verhaltensmaßstab für den Arbeitgeber40.

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Vgl. hierzu auch die Ausführungen in diesem Kapitel unter E. VII. und G .IV. Ausdrücklich für den Gleichbehandlungsgrundsatz: Bauschke, RdA 1985, S. 72, 75. Däubler; ArbuR 1981, S. 193, 201- Hier werden auch statistische Angaben gemacht. Marhold/ Beckers, ArbR-Blattei S.O. 800.1. Rdn. l.

Viertes Kapitel

Analyse der staatlichen Handlungsmöglichkeiten zur Setzung von Mindestarbeitsbedingungen A. Die gesetzlichen Regelungen zur Setzung von Mindestarbeitsbedingungen unter speziellen verfassungsrechtlichen Gesichtspunkten In diesem Abschnitt werden die im zweiten und dritten Kapitel behandelten Normen auf ihre Vereinbarkeit mit der Tarifautonomie (Art. 9 III GG) und dem Gleichheitssatz des Art. 3 I GG untersucht.

I. Die gesetzlichen Regelungen und die Tarifautonomie der Koalitionen (Art. 9 111 GG) Auf das Verhältnis von staatlicher Gesetzgebungskompetenz und Tarifautonomie wurde ausführlich im ersten Kapitel eingegangen. Im folgenden wird untersucht, ob der Gesetzgeber bei der Normierung der im zweiten und dritten Kapitel dargestellten Vorschriften die im ersten Kapitel herausgearbeiteten Grundsätze beachtet hat 1• Zur Erinnerung: M.E. ist der staatliche Gesetzgeber im Verhältnis zu den Tarifvertragsparteien bei der Normierung von Arbeitsbedingungen im Grundsatz nur subsidiär zuständig. Der Schutz der Grundrechte oder anderer mit Verfassungsrang ausgestatteter Rechtsgüter erlaubt jedoch ein Tätigwerden des Gesetzgebers. Der hierbei auftretende Konflikt der gesetzlichen Regelung mit Art. 9 III GG ist nach dem Grundsatz der praktischen Konkordanz zu lösen. 1. Unbedenkliche Regelungen

a) Die Vorschriften des MindArbBG

Das MindArbBG steht im Einklang mit den im ersten Kapitel herausgearbeiteten Grundsätzen, denn das MindArbBG versucht konsequent, jede Verminderung I Die Prüfung erfolgt unter dem speziellen Gesichtspunkt der Vereinbarkeit der staatlichen Regelung mit der durch Art. 9 111 GG geschützten Tarifautonomie. Auf andere verfassungsrechtliche Fragen wird nicht eingegangen.

256

4. Kap.: Analyse der staatlichen Handlungsmöglichkeiten

des Anreizes zum Abschluß von Tarifverträgen durch den Erlaß staatlicher Regelungen zu vermeiden2 • Besonders deutlich wird dies an der ausdrücklich normierten Subsidiarität des Gesetzes (§§ 1 I, 8 Il MindArbBG), den strengen Voraussetzungen des § 1 Il MindArbBG und dem Umfang der Mindestarbeitsbedingungen. Die Setzung von Mindestarbeitsbedingungen ist nämlich erst zulässig, wenn Gewerkschaften oder Arbeitgeberverbände nicht bestehen, bzw. nur eine Minderheit repräsentieren, die Festsetzung zur Befriedigung notwendiger sozialer und wirtschaftlicher Bedürfnisse erforderlich ist und keine Allgemeinverbindlicherklärung eines Tarifvertrages erfolgt ist (§ 1 li MindArbBG). Insbesondere die 1. und 3. Voraussetzung schließen eine Konkurrenz von tariflichen und gesetzlichen Arbeitsbedingungen aus. Auch inhaltlich konkurrieren die festgesetzten Arbeitsbedingungen nicht mit tariflichen Regelungen, denn gemäß § 4 IV MindArbBG stellen die festgesetzten Mindestarbeitsbedingungen nur die unterste Grenze der Entgelte und sonstigen Arbeitsbedingungen in einem Wirtschaftszweig oder einer Beschäftigungsart dar. Tarifliche Arbeitsbedingungen sind hingegen grundsätzlich angemessen und gewähren den Arbeitnehmern mehr als nur eine unterste Grenze. Das MindArbBG tangiert die Tarifautonomie der Koalitionen damit nur peripher. Zwar schwächt jede staatliche Regelung von Arbeitsbedingungen die Verbände und deren Tarifautonomie3 , dies wird jedoch soweit wie möglich zu verhindem versucht. Hierzu trägt auch die Möglichkeit von Arbeitnehmern und Arbeitgebern bei, die festzusetzenden Arbeitsbedingungen durch ihre Vertreter im Hauptausschuß (§ 2 MindArbBG) und den Fachausschüssen (§ 4 MindArbBG) zu beeinflussen. b) Die Vorschrift des § 92a HGB

Eine Beeinträchtigung der Tarifautonomie durch § 92a HGB ist bereits deshalb ausgeschlossen , weil die Tarifparteien für den von § 92a HGB geschützten Personenkreis keine Arbeitsbedingungen normieren können. Zudem ist der Umfang der Mindestarbeitsbedingungen auf die untere Grenze der vertraglichen Leistungen des Unternehmers beschränkt und die betroffenen Verbände müssen vor Erlaß der Rechtsverordnung angehört werden. c) Die Allgemeinverbindlicherklärung gemäߧ 5 TVG

Auch das Rechtsinstitut der Allgemeinverbindlicherklärung beachtet die im ersten Kapitel herausgearbeiteten Grundsätze, die an staatliches Handeln zu stellen sind. Obwohl der Geltungsbereich tariflicher Regelungen durch einen staatlichen Akt auf bisher nicht tarifgebundene Arbeitnehmer und Arbeitgeber erstreckt wird, verbleibt das Initiativrecht hierfür und die inhaltliche Gestaltung der Normen bei 2

3

Fitting, RdA 1952, S. 5, 9. vgl.: Drittes Kapitel B.l.2. und B.II.3.

A. Die gesetzlichen Regelungen zur Setzung von Mindestarbeitsbedingungen

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den Tarifparteien 4 • Nicht dem Staat, sondern ausschließlich den Tarifparteien steht es zu, das Verfahren der Allgemeinverbindlicherklärung durch einen Antrag in Gang zu setzen. Der Bundesminister kann den Antrag zwar ablehnen, der positive Akt der Normsetzung ist ihm jedoch nur im Einvernehmen mit dem Tarifausschuß möglich, in dem er kein Stimmrecht besitzt. Dadurch wird das Übergehen der Interessen der Arbeitnehmer bzw. Arbeitgeber weitgehend ausgeschlossen, denn das Einvernehmen im Tarifausschuß kann nicht gegen den geschlossenen Willen einer Seite hergestellt werden. Der Bundesminister kann zudem den normativen Inhalt des für allgemeinverbindlich zu erklärenden Tarifvertrages nicht ändern. Dieser wird ihm, wie auch das Ende der Allgemeinverbindlichkeit, von den Tarifparteien vorgegeben5 . Diese weitgehende Zurückhaltung entspricht der gebotenen Subsidiarität staatlichen Handelns. Denn den aus freien Stücken getroffenen Abmachungen wird - indem bisher nicht erreichbare Personengruppen einbezogen werden - lediglich eine größere Wirkung beigemessen. Den Koalitionen bleibt der maßgebliche Einfluß vorbehalten. Lediglich der die Außenseiter bindende Geltungsbefehl obliegt dem Staat6 . Die mit der Allgemeinverbindlichkeit verbundenen negativen Auswirkungen auf die Tarifautonomie sind hingegen durch den beabsichtigten Schutz anderer Rechtsgüter gerechtfertigt. Zwar fördert die Allgemeinverbindlicherklärung die weitere Entsolidarisierung der Arbeitnehmer und begünstigt den Mitgliederschwund der Gewerkschaften, schwächt also die kollektiven Interessenvertretungen der Arbeitnehmer und kann letztlich sogar die positive Koalitionsfreiheit bedrohen7. Denn kommen die Arbeitnehmer durch die Allgemeinverbindlicherklärung (gemäߧ 5 TVG) in den Genuß der Geltung eines Tarifvertrages, so ist eine Gewerkschaftsmitgliedschaft nicht erforderlich um eine Tarifbindung (gemäß § 3 I TVG) herbeizuführen. Dies kann eine Gewerkschaftsmitgliedschaft aus Arbeitnehmersicht entbehrlich erscheinen lassen, verringert jedoch zumindest deren Attraktivität. Diesen Gesichtspunkten stehen aber die positiven Seiten der Allgemeinverbindlicherklärung gegenüber. Insbesondere in Zeiten nachlassender Konjunktur und gef