Staat und Religion: Abhandlungen aus den Jahren 1974-2017. Hrsg. v. Ansgar Hense [1 ed.] 9783428555918, 9783428155910

Lebenswelten sind nicht selten durch religiöse Bindungen geprägt. Die meisten Verfassungen verfolgen keine strikte Trenn

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Staat und Religion: Abhandlungen aus den Jahren 1974-2017. Hrsg. v. Ansgar Hense [1 ed.]
 9783428555918, 9783428155910

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JOSEF ISENSEE

Staat und Religion Abhandlungen aus den Jahren 1974–2017

Herausgegeben von Ansgar Hense

Duncker & Humblot . Berlin

JOSEF ISENSEE

Staat und Religion

Staatskirchenrechtliche Abhandlungen Herausgegeben von Otto Depenheuer · Ansgar Hense · Alexander Hollerbach Josef Isensee · Matthias Jestaedt · Paul Kirchhof · Joseph Listl (†) Wolfgang Loschelder (†) · Hans Maier · Paul Mikat (†) · Stefan Muckel Sebastian Müller-Franken · Wolfgang Rüfner · Christian Starck Markus Stoffels · Arnd Uhle

Band 59

JOSEF ISENSEE

Staat und Religion Abhandlungen aus den Jahren 1974–2017

Herausgegeben von

Ansgar Hense

Duncker & Humblot · Berlin

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, für sämtliche Beiträge vorbehalten © 2019 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Druck: Das Druckteam Berlin Printed in Germany ISSN 0720-7247 ISBN 978-3-428-15591-0 (Print) ISBN 978-3-428-55591-8 (E-Book) ISBN 978-3-428-85591-9 (Print & E-Book) Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706

Internet: http://www.duncker-humblot.de

In dankbarer Erinnerung an

Joseph Listl (1929 – 2013) eine Gründerfigur des deutschen Staatskirchenrechts und Ius Publicum Ecclesiaticum

Vorwort Der Titel „Staat und Religion“ ist für das staatskirchenrechtliche Werk Josef Isensees konstitutiv und programmatisch. Der vorliegende Sammelband ergänzt den von Otto Depenheuer herausgegebenen Band „Staat und Verfassungen. Gesammelte Abhandlungen zur Staats- und Verfassungstheorie“ (2018). Der Staat und der Sinn für das Staatliche werden allgemein und genuin mit dem Denken und Schreiben Isensees verbunden. Ebenso aber auch die Themen Kirche und Religion. Die Aufsätze des vorliegenden Sammelbandes, dessen Zusammenstellung und Gliederungskonzeption auf den Autor selbst zurückgehen, widmen sich dem Gegenüber dieser beiden institutionellen Potenzen: Staat und Religion. Die Bipolarität von Staat und Religion ist aufgehoben in einem Ordnungszusammenhang, der die „iusta autonomia“ der beiden Pole konstituiert. Staat und Kirche unterscheiden sich zwar, stehen aber nicht unverbunden nebeneinander. Die Sakralität des Religiösen muss einen Unterschied machen zur Säkularität des Staates, der die Wahrheitsfrage um seiner Funktion als Handlungs- und Wirkungseinheit willen suspendiert hat. Dies setzt voraus, dass Religion als Religion, Kirche als Kirche wahrnehmbar ist. In den verschiedenen Abhandlungen dieses Bandes wird immer wieder deutlich, dass es Isensee nicht zuletzt darum geht. Hier gilt es für religiöse und kirchliche Akteure, verschiedensten Versuchungen Stand zu halten. Die sozialstaatlichen „goldenen Zügel“ und der vermeintliche „Mitmachzwang“ sind nur zwei Beispiele für diese Herausforderung. Im Kontext Grundrechtsvoraussetzungen und Verfassungserwartungen könnte man eine Verbindung zum Philosophen Hermann Krings schlagen, dessen Vortrag auf den Salzburger Hochschulwochen 1978 zum Thema „Preis der Freiheit“ sich an Isensees Postulat zu – auch und insbesondere kirchlicher – Selbstpositionierung und -profilierung freiheitsphilosophisch anschließen lässt: „Der Preis der Freiheit – in welcher Bedeutung auch immer man nun das Wort ‚Preis‘ nehmen mag – der Preis der Freiheit ist die Treue. Wer frei sein will, muss treu sein. Der Freie steht zu der von ihm autonom gesetzten Verbindlichkeit und in eben dieser Standhaftigkeit bewährt sich die Freiheit. Damit ist das Wort vom Preis der Freiheit umkehrbar: der Preis, den der Treue gewinnt, ist die Freiheit“. Die Treue zu den eigenen religiösen Fundamenten ist nicht nur institutionelle Vitalitätsvoraussetzung, sondern auch Voraussetzung dafür, Freiheitsrechte und verfassungsrechtliche Gewährleistungen wirklich wahrnehmen zu können. Das Herausgebervorwort will aber keine umfassende Würdigung sein. Es möchte aber noch auf zwei weitere Facetten des staatskirchenrechtlichen Wirkens Josef Isensees aufmerksam machen, die im Kontext dieses Sammelbandes stehen:

VIII

Vorwort

Josef Isensee als Gutachter und Prozessbevollmächtigter sowie als Diskutant. Einige staatskirchenrechtliche Prozessvertretungen finden ihren Niederschlag in den wissenschaftlichen Abhandlungen und korrespondierenden gerichtlichen Entscheidungen: die Frage des Schulgebets (S. 703 – 712, hier erstmals veröffentlicht) BVerfGE 52, 232, Grund und Grenzen des kirchlichen Arbeitsrechts (S. 741 – 754) BVerfGE 70, 138 oder das Glockenläuten im sog. „Hollerbach’schen Taufkirchenfall“ (S. 543 – 567) BVerwGE 68, 62. Die Antragsschrift der, gemeinsam mit Fritz Ossenbühl vertretenen, Normenkontrolle gegen das Brandenburger Schulgesetz in Sachen „LER“ als einem „zivilreligiösen Unterrichtssurrogat“ ist nicht publiziert und das Verfahren bemerkenswerterweise auch durch das Gericht im Vergleichswege beendet worden (BVerfGE 104, 305; 106, 210). Als ganz aktuelles Kabinettsstück schul- und staatskirchenrechtlicher Rechtsberatung ist Isensees „Rechtsgutachten zum bekenntnisgebunden islamischen Religionsunterricht, der an hessischen Schulen in Kooperation mit dem DITIB-Landesverband Hessen erteilt wird“ aus dem Jahr 2017 zu nennen, welches auf der Internetpräsenz des Hessischen Kultusministeriums publiziert ist. Zu dem Reigen wissenschaftlicher Rechtsberatung auf dem Feld des Staatskirchenrechts, die nicht in diesem Band Aufnahme fand, gehört zudem das Rechtsgutachten „Kirchenautonomie und sozialstaatliche Säkularisierung in der Krankenpflegeausbildung“ vom Mai 1980. Darüber hinaus war Josef Isensee nicht nur langjähriger Vorsitzender des Wissenschaftlichen Beirats des „Instituts für Staatskirchenrecht der Diözesen Deutschlands“ – einer Einrichtung, die für immer mit dem Namen ihres Gründungsdirektors Joseph Listl SJ (1929 – 2013) verbunden sein wird –, sondern regelmäßig als staatskirchenrechtlicher Berater und Gesprächspartner tätig (etwa in konkordatsrechtlichen Fragen nach der Wiedervereinigung). Vorwort

Zum Kontext dieses Sammelbandes gehören schließlich die Diskussionsbeiträge von Josef Isensee insbesondere bei den „Essener Gesprächen zum Thema von Staat und Kirche“. Isensee war hier nicht nur zwei Mal Referent (vgl. in diesem Band S. 211 – 254 sein Referat zum Silbernen Jubiläum der Essener Gespräche), sondern regelmäßiger Diskutant. Dank des speziellen Formats der Essener Gespräche analog zu den Staatsrechtslehrertagungen sind diese mündlichen Interventionen schriftlich publiziert und lohnen sich nachzulesen. Dieses – in Summe dann recht umfangreiche – Seitenstück wäre einer eigenen Darstellung wert. Diese Diskussionsbeiträge zeigen Josef Isensee nicht nur als sprachmächtigen Rhetor oder Begriffsbildner (z. B. Umnutzung bzw. Konversion kirchlicher Gebäude und die Gefahr „objektiver Blasphemie“, in: EssGespr. 44, 137 f.). Wie in einem Brennglas finden sich hier pointierte Kurzformeln dessen, was Isensee an dem Staat-Kirche-Verhältnis beschäftigt und welche Entwicklungen er an der Kirche kritisiert. Es soll an dieser Stelle ausdrücklich ermuntert werden, gerade auch diese Diskussionsbeiträge einmal zu lesen – und etwa mit den Beiträgen dieses Bandes in Beziehung zu setzen. Erwähnt seien zudem Isensees Interventionen

Vorwort

IX

auf zwei Staatsrechtslehrertagungen, die den einschlägigen Themen „Staat und Religion“ bzw. „Religiöse Freiheit als Gefahr“ galten (VVDStRL 59, 323 – 327; VVDStRL 68, 97 f.). Die Beiträge in diesem Band beschränken sich auf den Zeitraum 1974 – 2017. In neuer Nachbarschaft arrangiert bieten sie Einblick in Kontinuitäts- und Entwicklungslinien des staatskirchenrechtlichen Denkens von Josef Isensee in einem Umfeld gravierenden Wandels. Möchte man die 1970/80er Jahre als eine Zeit staatskirchenrechtlicher Prosperität apostrophieren, scheinen seit der Milleniumswende – nicht zuletzt befördert durch mehr als Nadelstiche europäischer Rechtssetzung und Rechtsprechung – Erosionstendenzen zuzunehmen, die auch von unterschiedlichen Dimensionen einer Kirchenkrise geprägt werden. Einerseits ganz gegenwärtig und zeitgenössisch, wahren Isensees Beiträge doch auch Distanz, die es ihm ermöglicht, die Zeitläufte wahrzunehmen und in ihren jeweiligen Herausforderungen zu erfassen. Liest man heute ältere Texte Isensees, frappiert nicht selten manch hellsichtige Analyse kirchlicher Selbstgefährdung. Dass nun dieser Band als vorläufige, repräsentative Summa des staatskirchenrechtlichen Denkens Josef Isensees der Öffentlichkeit übergeben werden kann, ist das Verdienst einiger. Die Hauptlast insbesondere der computertechnischen Texterfassung bewältigte Herr Assessor Harald Erkens. Ihm gebührt besonderer Dank für Engagement und Sorgfalt, die das Erscheinen dieses Sammelbandes erst ermöglicht haben. In den Dank einzuschließen sind die Herren Rechtsanwälte Stephan Mager und Martin Eimer, die an dieser Arbeit beteiligt waren. Für sorgfältige Korrekturen der Druckfahnen gilt ein weiterer Dank Frau Heidrun Renken und Frau Monika Wildfeuer, die sich ebenfalls um die Erstellung der Verzeichnisse (insbesondere Personen- und Sachwortregister) verdient gemacht haben. Zu danken ist schließlich Frau Anja Baues und Herrn Dr. Markus Schulten, deren verlässliche Unterstützung beim Zustandekommen dieses Werks in allen Phasen wesentlich war. Und zum guten Schluss ist zu danken Josef Isensee: nicht zuletzt für vielfach guten Rat. Es ist eine große persönliche und wissenschaftliche Freude, mit ihm im Gespräch zu sein! Bonn, im Juli 2019

Ansgar Hense

Inhaltsübersicht Inhaltsübersicht

I.  Christentum und Moderne Christliches Erbe im organisierten Europa. Phobie und Legitimationschance (2015)  .. 3 Der lange Weg zu „Dignitatis humanae“. Konvergenzen und Divergenzen von kirch­lichem Wahrheitsanspruch und verfassungsstaatlichem Freiheitsverständnis (2014)  .. 29 Keine Freiheit für den Irrtum. Die Kritik der katholischen Kirche des 19. Jahrhunderts an den Menschenrechten als staatsphilosophisches Paradigma (1987)  . . . . . . . . . . . . . . . . 67 Versteckter Dissens. Der unvollständige Ausgleich der katholischen Kirche mit der menschenrechtlichen Moderne (2017)  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103 II.  Die Säkularität des Staates und die Realität der Religion Rekurs des Verfassunggebers auf Gott. Invocatio dei und provocatio ad deum in der Verfassung des säkularen Staates (2000)  .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 141 Bildersturm durch Grundrechtsinterpretation. Der Kruzifix-Beschluss des Bundesver­ fassungsgerichts (1996)  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 163 Die Säkularisierung der Kirche als Gefährdung der Säkularität des Staates (1986)  .. . . 179 Zivilreligion in der Demokratie (2010)  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 191 III.  Grundverhältnis zwischen Staat und Kirche Verfassungsstaatliche Erwartungen an die Kirche(1991)  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 211 Die Zukunftsfähigkeit des deutschen Staatskirchenrechts. Gegenwärtige Legitimationsprobleme (1999)  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 255 Kirche und Staat am Anfang des 21. Jahrhunderts. Bewährung und Entwicklung des überkommenen Rechtsgefüges (2006)  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 281 Neue Anfragen an eine vermeintlich eingespielte Beziehung (2015)  . . . . . . . . . . . . . . . . . 321 Cooperatio ad malum? Das moralische Risiko der Zusammenarbeit von Kirche und Staat (2015)  .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 347 IV.  Die Freiheit kirchlichen Wirkens Die Garantie des Religionsunterrichts im Grundgesetz (2000)  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 377 Die karitative Betätigung der Kirchen und der Verfassungsstaat (1995)  . . . . . . . . . . . . . . 403

XII

Inhaltsübersicht

Das katholische Krankenhaus und die Verfassung des sozialen Rechtsstaats (1982)  .. 489 Anstaltsseelsorge und Diakonie in den Kirchenverträgen des Freistaates Sachsen (2016)  509 Res sacrae unter kircheneigenem Denkmalschutz. Substitution staatlicher durch kirchliche Normen aufgrund des Denkmalschutzgesetzes Baden-Württembergs (1997)  .. . . 531 Rechtsschutz gegen Kirchenglocken. Rechtsweg und Rechtsqualifikation bei Nachbarklagen auf Unterlassung kirchlicher Immissionen (1983)  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 543 V.  Finanzen der Kirche Die Finanzquellen der Kirchen im deutschen Staatskirchenrecht. Rechtsgrundlagen und Legitimationsgedanken (1980)  .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 571 Staatsleistungen an die Kirchen und Religionsgemeinschaften (1994)  .. . . . . . . . . . . . . . . 589 Zwischen Ablösungsauftrag und Bestandsgarantie. Die historischen Staatsleistungen an die Kirchen (2013)  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 643 Gefangen im ewigen Dilemma. In der „Weltbild“-Debatte offenbaren sich die Schwierigkeiten, die eine Entweltlichung der katholischen Kirche zur Folge hätte (2011)  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 649 VI. Islam Integration des Islam (2016)  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 655 Grundrechtseifer und Amtsvergessenheit. Der Kampf um das Kopftuch (2004)  . . . . . . 667 Private islamische Bekenntnisschulen. Zur Ausnahme vom Verfassungsprinzip der für alle gemeinsamen Grundschule (2003)  .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 673 VII. Grundrechtskonflikte Schulgebet im Spannungsfeld zwischen positiver und negativer Religionsfreiheit. Zur Zulässigkeit eines freiwilligen überkonfessionellen Schulgebets außerhalb des Religionsunterrichts in einer nicht bekenntnisfreien Gemeinschaftsschule (1974)  . . . . 703 Grundrechtliche Konsequenz wider geheiligte Tradition. Der Streit um die Beschneidung (2013)  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 713 Kirchliche Loyalität im Rahmen des staatlichen Arbeitsrechts. Verfassungsrechtliche Aspekte des kirchlichen Arbeitsverhältnisses (1986)  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 741 Meinungsfreiheit im Streit mit der Religion. „Gotteslästerung“ heute (2010)  . . . . . . . . . 755 Personenverzeichnis  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 783 Sachwortregister  .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 786

Inhaltsverzeichnis Inhaltsverzeichnis

I.  Christentum und Moderne Christliches Erbe im organisierten Europa Phobie und Legitimationschance  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3 I.

Vom Zweckverband zur Wertegemeinschaft: die EU  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3

II.

1. Geruch der Christophobie  .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3 2. Supranationaler Funktionalismus  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4 3. Die Gretchenfrage  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6 Säkularität der Union  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7

1. Säkularität und Religionsfreiheit  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 2. Gottesklauseln in säkularen Verfassungstexten  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 3. Politisches Christentum der USA  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10 4. Religion als soziale Realität  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11 5. Semantische Christlichkeitsprüderie  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14 III. Christliche Einheit des alten Kontinents  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15 1. Divergenz von Staatenverbund und Erdteil  .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15 2. Christliche Gründung  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16 3. Umwertung christlicher Werte  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 18 IV. Christliche Prämissen der Moderne  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 18

V.

1. Aufklärung  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 18 2. Lebensgefühl  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20 3. Staat und Rechtskultur  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21 4. Menschenbild und Menschenrechte  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23 Das lebendige Erbe des Christentums  .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 26

Der lange Weg zu „Dignitatis humanae“ Konvergenzen und Divergenzen von kirchlichem Wahrheitsanspruch und verfassungsstaatlichem Freiheitsverständnis  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29 I.

Das widerspruchsvolle Bild der Geschichte  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29

II.

1. Sic et non: Ideen von 1789, Menschenrechte, Demokratie  . . . . . . . . . . . . 29 2. Das theologische Dilemma  .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 33 3. Differenzierende Sicht der Staats- und Verfassungstheorie – Fünf Thesen  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 34 Der Verfassungsstaat als Derivat des Christentums  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35 1. Politische Wirkung  .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35

Inhaltsverzeichnis

XIV

2. Wechselwirkungen zwischen Christentum und politischer Umwelt – Ausstrahlung und Rezeption  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 37 3. Ambivalenz des Christentums  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 39 a) Distanz zum Staat und Umgestaltung des Staates  . . . . . . . . . . . . . . . . . 39 b) Rechtfertigung und Relativierung des Staates  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 41 4. Christliches Menschenbild und Menschenrechte  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 41 5. Aktivität und Rationalität  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 44 6. Das Prinzip des Amtes  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 45 III. Das Christentum als soziokulturelle Voraussetzung des Verfassungsstaates  46 1. Fortdauernde Bedeutung der christlichen Ursprungsbedingungen  .. . . 46 2. Universalisierbarkeit des Verfassungsstaates als Problem  . . . . . . . . . . . . 48 3. Das Europäische der Europäischen Gemeinschaft  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 49 IV. Die historische Abwehrhaltung der katholischen Kirche gegen die politische Moderne  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 50

V.

1. Konservierung des Ideals der vormodernen Einheitswelt wider den modernen Staat  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 50 2. Universalismus versus Individualismus  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 52 3. Parteinahme für das monarchische Prinzip  .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 55 4. Keine menschenrechtliche Freiheit für den Irrtum  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 56 Allmähliche Annäherung und Aussöhnung  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 58

1. Verbürgerlichung der Kirche  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 58 2. Peripetie unter Leo XIII.  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 59 3. Innerkirchliche Kräfte des Ausgleichs  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 60 4. Die Auflösung des Widerspruchs in „Dignitatis humanae“  .. . . . . . . . . . 61 VI. Gefahren der Identifikation von kirchlichem Auftrag und politischer Aufklärung  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 63 1. Gefahren für die Kirche  .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 63 2. Gefahren für den Verfassungsstaat  .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 64 Keine Freiheit für den Irrtum Die Kritik der katholischen Kirche des 19. Jahr­­hunderts an den Menschenrechten als staatsphilosophisches Paradigma  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 67 I.

Der historische Wandel der päpstlichen Lehre  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 67

II.

1. Die konträren Positionen  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 67 2. Drei Perioden der geschichtlichen Entwicklung  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 68 Die Konstitution des Themas  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 69

1. Der zeitliche Rahmen, die gegenständliche Reichweite  .. . . . . . . . . . . . . . 69 2. Das Objekt der Kritik: nicht die Menschenrechte schlechthin  . . . . . . . . 70 III. Geschichtliche Bedingtheit und bleibende staatsphilosophische Bedeutung der päpstlichen Position  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 72 1. Zeitgebundene Anlässe  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 72

Inhaltsverzeichnis

XV

2. Die historische Konfrontation mit dem Liberalismus  . . . . . . . . . . . . . . . . . 72 3. Versuche der historischen Relativierung und der rückwirkenden Harmonisierung  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 74 4. Kirchliche Identität in der Geschichte  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 76 5. Das staatsphilosophische Paradigma  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 77 IV. Die philosophischen Prämissen  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 78 V.

Das theonome Weltbild der Päpste  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 78

1. Die wahre Freiheit: der Gehorsam gegen die von Gott vorgegebene Ordnung  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 78 2. Das Autonomiebegehren: Rebellion gegen Gott  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 81 VI. Wahrheit als Ordnungsprinzip  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 82 1. Keine Freiheit für den Irrtum  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 82 2. Der sichere Besitz der Wahrheit  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 84 3. Freiheits-Pessimismus  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 86 4. In dubiis libertas  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 87 5. Unzulängliche Unterscheidung von Legalität und Moralität  . . . . . . . . . . 88 VII. Die Staatslehre  .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 88 1. Der Staat der christlichen Wahrheit – Theorie und politische Folge  .. . 88 2. Der säkulare Staat als Gegentypus  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 92 3. Vormodernität des Staatsbildes  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 93 4. Das ungeschichtliche, unpolitische Staatsdenken  .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 94 5. Universalistisch-organische Staatslehre  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 95 6. Die Staatsform  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 96 VIII. Die Gleichheit der Kinder Gottes und die Ungleichheit der Erdenbürger  .. 97 IX. Die Ambivalenz der Menschenwürde  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 98 X.

Nach der kopernikanischen Wende  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 100

Versteckter Dissens Der unvollständige Ausgleich der katholischen Kirche mit der menschenrechtlichen Moderne  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103 I.

Das Bild der Harmonie  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103

1. Der historische Friedensschluß  .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103 2. Begriffliches vorab  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 104 3. Komplementäre Aufgaben von Kirche und säkularem Staat  . . . . . . . . . . 106 4. Prämissen der Kompatibilität  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 108 II. Widersprüche  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 109 1. Praktische Reibungen im Binnenraum der Kirche  .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 109 2. Ambivalenz der Moderne in den Menschenrechten  . . . . . . . . . . . . . . . . . . 111 a) Säkularität .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 112 b) Relativismus .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 114

Inhaltsverzeichnis

XVI

c) Rationalismus .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 115 d) Individualismus .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 116 aa) Basis der Legitimation  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 116 bb) Das rechtsstaatliche Verteilungsprinzip  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 119 e) Subjektivismus .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 122 f) Inkurs: Mehrerlei Ehe  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 124 g) Humanität .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 127 h) Fortschrittsdrang .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 129 III. Identifikation der Kirche mit den Menschenrechten  .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 130 1. Der sanfte Druck des Staates  .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 130 a) Der Preis der Kooperation  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 130 b) Politische Wunsch-Ökumene  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 132 2. Selbstsäkularisierung  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 133 IV. Widersprüche offen austragen und aushalten  .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 135 II.  Die Säkularität des Staates und die Realität der Religion Rekurs des Verfassunggebers auf Gott Invocatio dei und provocatio ad deum in der Verfassung des säkularen Staates  . . . . . . . 141 I.

Gott mit Alternative – ein Novum in der Verfassung Polens  . . . . . . . . . . . . . . 141 1. 2. 3. 4. 5.

II.

Religiöse oder areligiöse Legitimationsgründe der Verfassung  . . . . . . . 141 Gott oder „andere Quellen“  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 142 Christliches Erbe und „allgemeinmenschliche Werte“  .. . . . . . . . . . . . . . . 143 Der eigenwillige Kompromiß der Präambel  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 143 Der allgemeineuropäische Kontext der polnischen Kompromiß­formeln  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 146 Verfassungsstaat und Religion – Ambivalenz der Beziehung  .. . . . . . . . . . . . . 146

1. Säkularität des Staates und Entstaatlichung der Religion  . . . . . . . . . . . . . 146 2. Positive Bedeutung der Religion für den Verfassungsstaat  . . . . . . . . . . . 148 3. Religion als Identitätsfaktor der Kultur und der Nation  .. . . . . . . . . . . . . . 149 III. Nennung des Wortes „Gott“ in Verfassungsgesetzen  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 151 1. „Ehrfurcht vor Gott“ als Erziehungsziel  .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 151 2. ,,So wahr mir Gott helfe“ – religiöse Beteuerung beim Eid  . . . . . . . . . . . 152 3. Legitimation der Verfassung  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 152 IV. Berufung des Verfassunggebers auf Gott – Textbeispiele und Typologie  .. 153

V.

1. Invocatio dei  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 153 2. Provocatio ad deum  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 156 Gründe für die Berufung des Verfassunggebers auf Gott  . . . . . . . . . . . . . . . . . 158

VI. Polarität zwischen Gottesbezug und Religionsfreiheit  .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 161

Inhaltsverzeichnis

XVII

Bildersturm durch Grundrechtsinterpretation Der Kruzifix-Beschluß des Bundesverfassungsgerichts  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 163 I.

Verdikt über ein Symbol  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 163

II.

Unklares im Vorfeld: Zulässigkeit und Redaktion  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 164

III. Religionsfreiheit als Prüfungsmaßstab  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 166 IV. Schutzbereich der Religionsfreiheit  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 167

V.

1. Schutz vor einem mißliebigen Anblick  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 167 2. Kein Grundrecht zur einseitigen Verfügung über die Umwelt  . . . . . . . . 169 3. Subjektivierende Betrachtungsweise  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 170 Der Eingriff  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 171

1. Staatliches oder grundrechtliches Kreuz?  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 171 2. Materielle Freiheitsbeschränkung  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 172 3. Appell durch ein Symbol?  .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 172 VI. Rechtfertigung des Eingriffs  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 174 1. Schulföderalismus  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 174 2. Zeichen für Voraussetzungen des Verfassungsstaates  . . . . . . . . . . . . . . . . 175 3. Konfliktlösung im Grenzfall  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 176 VII. Irritationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 177 Die Säkularisierung der Kirche als Gefährdung der Säkularität des Staates  . . . . . 179 I.

Das Reich Gottes von dieser Welt  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 179

II.

Die Säkularität und rechtliche Unabhängigkeit des Staates von der Religion  .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 181

III. Die Religionsfreiheit als einseitiges Interventionsverbot zu Lasten des Staates  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 182 IV. Das moralische Mandat der Kirche im freiheitlichen Gemeinwesen  . . . . . . . 184 V.

Die Transzendenzausrichtung der Kirche als Voraussetzung für die Freiheitlichkeit des Staates  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 185

VI. Der heilspolitische Totalitarismus und die christliche Gewaltenteilung  .. . . 187 Zivilreligion in der Demokratie  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 191 I.

Theonomer oder autonomer Grund des bürgerlichen Gehorsams  . . . . . . . . . . 191

II.

Rousseau: Religion zum Nutzen des Staates  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 193

III. „God’s chosen nation“: die Weltmacht USA  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 195 IV. Kooperation des säkularen Staates mit den Kirchen  .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 196 V.

Selbstsäkularisierung der Kirchen  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 198

VI. Lessings Ringparabel als zivilreligiöses Evangelium  .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 198 VII. Nationalismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 201 VIII. Politische Erbsünde und Bußrituale  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 201 IX. Verfassungspatriotismus .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 203 X.

Verfassungsstaatliche Wurzeln in Gemüt und Gewissen  . . . . . . . . . . . . . . . . . . 206

Inhaltsverzeichnis

XVIII

III.  Grundverhältnis zwischen Staat und Kirche Verfassungsstaatliche Erwartungen an die Kirche  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 211 I.

Sicht des Kulturstaates: Kulturprägung durch Christentum und Kirche  . . . 211

II.

1. Blickpunkt jenseits von Glauben und Unglauben  .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 211 2. Christentum als Kulturphänomen  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 213 3. Kirche als Instanz kultureller und sittlicher Erziehung  . . . . . . . . . . . . . . . 215 4. Kulturstaatliche Legitimation des Religionsunterrichts  . . . . . . . . . . . . . . 216 Ort der Kirche im Koordinatensystem des Verfassungsstaates  . . . . . . . . . . . . 218

1. Grundrechtliche Legitimation der Kirche  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 218 2. Das Raster von Staat und Gesellschaft  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 220 3. Relativität der Gemeinwohlperspektiven  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 221 4. Selbstbehauptung der Kirche in der offenen Gesellschaft  . . . . . . . . . . . . 222 III. Staatskirchenrecht unter Legitimationsdruck  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 224 IV. Verfassungserwartungen als Kategorie  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 226

V.

1. Negative Grundrechtsfreiheit und positiver Gemeinwohlbedarf  . . . . . . 226 2. Umkehr der juristischen Fragestellung  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 228 3. Positivrechtlich definierte Erwartungen des Staates an die Kirche  . . . 228 4. Keine Instrumentalisierung der Kirche  .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 230 5. Legitimation der staatskirchenrechtlichen Institutionen  . . . . . . . . . . . . . . 231 Typologie der verfassungsstaatlichen Erwartungen  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 231

1. Affirmative und kritische Dienste, Mittleraufgaben der Kirche  . . . . . . 232 2. Staatskompatible und -inkompatible Leistungen der Kirche  . . . . . . . . . . 233 3. Verfassungsimmanente und verfassungstranszendente Leistungen der Kirche  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 236 VI. Das Dilemma Kirche und Politik  .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 237 1. 2. 3. 4.

Das Politische als Aufgabenfeld und als Gefahrenzone  . . . . . . . . . . . . . . . 237 Die Schwierigkeit, grundrechtliche Freiheit zu handhaben  . . . . . . . . . . . 241 Besondere deutsche Befindlichkeit  .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 242 Die besondere staatskirchenrechtliche Voraussetzung: Freistellung der Kirche vom Interessenkampf  .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 243 5. Theologische Kompensation fachlicher Inkompetenz  . . . . . . . . . . . . . . . . 245 6. Verfassungsstaatliche Erwartungen an das politische Engagement der Kirche  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 245 VII. Staatsethische Dienste der Kirche am Verfassungsstaat  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 246 VIII. Religiöse Dienste der Kirche am Verfassungsstaat  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 248 IX. Kirche und Aufklärung  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 250

X.

1. Das fragmentarische Konzept des Verfassungsstaates  .. . . . . . . . . . . . . . . 250 2. Die christliche Gewaltenteilung  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 252 Knappheit der religiösen Ressourcen  .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 253

Inhaltsverzeichnis

XIX

Die Zukunftsfähigkeit des deutschen Staatskirchenrechts Gegenwärtige Legitimationsprobleme  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 255 I.

Legitimationsbedarf in Permanenz  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 255

II.

Historisch geprägtes Recht in geschichtsvergessener Gegenwart  . . . . . . . . . . 258

III. Nationales Eigenrecht unter supranationalem Anpassungsdruck  . . . . . . . . . . 260 IV. Sozialstaatliche Säkularisierung  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 263 V.

Von freiwilliger Kooperation zum Mitmachzwang  .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 265

VI. Affekt gegen Institutionen  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 266 VII. Bedeutungsschwund von Christentum und Kirche in der Gesellschaft  . . . . 268 VIII. „Rechtstreue“ kirchlicher Körperschaften  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 270 IX. Sekten – Islam – Fundamentalismus  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 273 X.

Selbstsäkularisierung der Kirche  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 278

Kirche und Staat am Anfang des 21. Jahrhunderts Bewährung und Entwicklung des überkommenen Rechtsgefüges  .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 281 I.

II.

Ausgleich von Kirche und Moderne  .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 281 1. Der historische Widerspruch  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 281 2. Säkularität des modernen Staates und Freiheit des Individuums  .. . . . . 282 3. Religiöse Wahrheit und menschenrechtliche Freiheit  . . . . . . . . . . . . . . . . . 284 Grundrechtliche und institutionelle Elemente der Beziehung von Staat und Kirche  .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 285

1. Zwei verfassungsrechtliche Ebenen  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 285 2. „Organische Ganzheit“ aus disparaten Details  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 287 III. Akzeptanzschwierigkeiten des Staatskirchenrechts  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 290 1. Stabilität und Wandel  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 290 2. Akzeptanzbedarf von Normen  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 291 3. Schwäche einer traditionalen Legitimation  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 292 4. Affekt gegen Institutionen  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 293 IV. Beziehungsdreieck Staat – Ortskirche – Weltkirche  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 294

V.

1. Völkerrechtliche Dimension  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 294 2. Innerkirchliche Dimension  .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 295 Unabhängigkeit und Kooperation  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 296

1. Keine trennscharfe Abgrenzung der Sphären  .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 296 2. Nutzen und Kosten der Kooperation  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 297 3. Sozialstaatliche Säkularisierung  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 299 VI. Selbstbehauptung der Kirche in der Gesellschaft  .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 301 1. Selbstsäkularisierung  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 301 2. Schwächung der Volkskirchen  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 302 VII. Modernitätsresistente Religion  .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 303 1. Sekten  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 303

Inhaltsverzeichnis

XX

2. Islam  .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 306 a) Brisanz des Religionsimports  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 306 b) Kopftuch – Zeichen des Widerspruchs  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 308 c) Gottesfrevel – Grundrechtsfreiheit nach Maßgabe der Scharia  .. . . . 310 d) Ein Staatskirchenrecht für den Islam?  .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 315 Neue Anfragen an eine vermeintlich eingespielte Beziehung  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 321 I.

Das tradierte deutsche Staatskirchenrecht: coincidentia oppositorum  . . . . . 321

II.

Alte Affekte und neue Erwartungen  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 323

III. Grundlagen .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 324 1. Soziologie der Kirchenauszehrung  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 324 2. Religiöse Voraussetzungen des säkularen Staates?  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 325 3. Kompatibilität von Kirche und Verfassungsstaat  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 327 4. Sakralisierung der Verfassung?  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 328 IV. „Staatskirchenrecht“ oder „Religionsverfassungsrecht?“  . . . . . . . . . . . . . . . . . 329 V. Problemfelder  .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 331 1. Blasphemie  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 331 2. Kirchliches Arbeitsrecht  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 333 3. Beschneidung  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 335 4. Kirchensteuer  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 338 5. Islam  .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 341 VI. Das Sammelwerk  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 345 Cooperatio ad malum? Das moralische Risiko der Zusammenarbeit von Kirche und Staat  .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 347 I.

Die moraltheologische Figur der cooperatio ad malum  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 347

II.

1. Exempel: Beratung in Schwangerschaftskonflikten  . . . . . . . . . . . . . . . . . . 347 2. Tatbestand  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 349 a) Partner .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 350 b) Cooperatio .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 350 c) … ad malum  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 351 3. Rechtfertigungszwang  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 354 4. Prämissen  .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 356 Divergenzen und Konvergenzen zwischen Kirche und Moderne  . . . . . . . . . . 358

1. Die unvollkommene Versöhnung  .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 358 2. Die katholische Verspätung  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 361 III. Freiheitsgarantien und Kooperationsangebote des Staates  .. . . . . . . . . . . . . . . . 362 1. Teilnahme am allgemeinen Rechtsverkehr  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 363 2. Staatsunabhängiges Wirken  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 365 3. Förderung durch den Staat – Kooperation mit dem Staat  . . . . . . . . . . . . . 367

Inhaltsverzeichnis

XXI

a) Das Konzept  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 367 b) Formen und Gegenstände der Förderung und Zusammenarbeit  . . . . 369 IV.  Die Freiheit kirchlichen Wirkens Die Garantie des Religionsunterrichts im Grundgesetz  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 377 I. Verfassungstext  .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 377 II.

Coincidentia oppositorum  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 377

III. Kondominium Staat – Kirche  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 379 1. Der staatliche Part: die Form des ordentlichen Lehrfaches  . . . . . . . . . . . 379 2. Der kirchliche Part: der Lehrinhalt der Religion  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 381 3. Quis interpretabitur?  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 384 IV. Die Akteure des Religionsunterrichts und ihre Rechtsbeziehungen  . . . . . . . 386

V.

1. Staat  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 386 2. Religionsgemeinschaft  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 387 3. Schüler und Eltern  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 388 4. Religionslehrer  .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 389 Alternativunterricht: Ethik und Philosophie  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 391

VI. Verfassungsrechtlicher Grundsatzkonflikt: L-E-R in Brandenburg  . . . . . . . 392 1. Das Konzept des Brandenburgischen Schulgesetzes  .. . . . . . . . . . . . . . . . . 392 2. Schulhoheit des Landes und grundgesetzlicher Föderalismus  . . . . . . . . 394 3. Ausnahmefall der bekenntnisfreien Schule  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 395 4. Verfassungswandel?  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 398 5. Bremer Klausel  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 399 VII. Vorrechtliche Voraussetzungen des Religionsunterrichts und Verfassungs­ erwartungen  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 400 Die karitative Betätigung der Kirchen und der Verfassungsstaat  . . . . . . . . . . . . . . . . . 403 A. Caritas als genuine Aufgabe der Kirche  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 403 I.

Das kirchliche Selbstverständnis  .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 403

II.

1. Grundfunktion der Kirche  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 403 2. Nächstenliebe als Legitimationsgrund  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 404 3. Ökumenische Konvergenz  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 405 Nächstenliebe durch kirchliche Organisation  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 407

1. Steigerung der Wirksamkeit  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 407 2. Gefahren der Organisation  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 408 III. Externe Funktionsvoraussetzungen der Caritas  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 409 1. Sachgesetzliche Standards  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 409 2. Arbeitsbedingungen für kirchliche Mitarbeiter  .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 410 3. Finanzieller Bedarf  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 411

XXII

Inhaltsverzeichnis

4. Ausblick: Folgerungen für das staatliche Recht  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 412 IV. Interne Kirchlichkeitsvoraussetzungen der Caritas  .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 412

V.

1. Identifikation mit dem Christentum  .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 412 2. Institutionelle Verflechtung mit der Kirche  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 416 3. Kirchenloyalität der Mitarbeiter und Dienstgemeinschaft  . . . . . . . . . . . . 418 4. Ausblick: Folgerungen für das staatliche Recht  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 420 Kirchliche Vitalität als Bedingung und Grenze  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 421

B. Ortsbestimmung der Caritas im verfassungsstaatlichen System  . . . . . . . . . . . . . . . . . . 424 I.

Der kirchliche Gegenstand der staatskirchenrechtlichen Regelungen  .. . . . . 424

II.

Überschneidungsbereich der Wirkungskreise von Staat und Kirche  . . . . . . . 424

1. Säkularer Horizont des Staates  .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 424 2. Konkurrierende Staatsaufgaben  .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 425 3. Kooperation kein Ersatz für rechtliche Gewährleistung  . . . . . . . . . . . . . . 426 4. Relative Homogenität staatlicher und kirchlicher Belange  .. . . . . . . . . . . 427 III. Grundrechtliche Legitimation der Caritas  .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 428 IV. Keine Grundrechtsbindung der Caritas  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 428

V.

1. Träger, nicht Adressat der Grundrechte  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 428 2. Beleihung mit Staatsfunktionen  .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 429 a) Familienrechtliche Maßnahmen  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 429 b) Durchführung von Sozialhilfe und Jugendhilfe  .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 430 c) Staatliche Zuwendungen  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 431 3. Karitative Monopole – „soziale Macht“ der Kirche  .. . . . . . . . . . . . . . . . . . 431 4. Öffentliche Aufgabe – öffentlicher Status  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 432 Bedeutung des sozialen Staatsziels  .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 434

1. Caritas – Agentur des Sozialstaats?  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 434 2. Marginale Bedeutung der Sozialstaatsklausel in der Judikatur des Bundesverfassungsgerichts  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 436 3. Keine gegenständliche Kongruenz des Karitativen und Sozialen  . . . . . 437 4. Resümee: Soziales Staatsziel nach Maßgabe der Grundrechte  .. . . . . . . 439 C. Verfassungsrechtliche Grundlagen der karitativen Betätigung  .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 440 I.

Unspezifische Grundrechte  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 440 1. Berufsfreiheit  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 440 a) Schutzbereich und Schranken  .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 440 b) Gemeinnützigkeit als Beruf  .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 442 c) Schutz der Kostendeckung – Problemfall Krankenhausfinanzierung  442 2. Eigentumsgarantie  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 444 3. Vereinsfreiheit  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 446 4. Allgemeine Handlungsfreiheit  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 447 5. Grundrechtsstandard der freien Träger als Mindeststandard der kirchlichen Träger  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 448

Inhaltsverzeichnis II.

XXIII

Religionsspezifische Gewährleistungen  .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 450

1. Religionsfreiheit  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 450 a) Problematische Grundrechtsqualifikation der Wohltätigkeit des Einzelnen  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 450 b) Caritas als Gegenstand der korporativen Religionsfreiheit  .. . . . . . . . 451 c) Grundrechtsfähigkeit .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 453 d) Schutzbereich der korporativen Religionsfreiheit  . . . . . . . . . . . . . . . . . 454 e) Schranken der korporativen Religionsfreiheit  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 456 2. Kirchenautonomie  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 457 a) Verknüpfung von Kirchenautonomie und Religionsfreiheit  . . . . . . . . 457 b) Caritas als Gegenstand der Kirchenautonomie  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 458 c) Institutionelle Selbstbestimmung und geistliches Proprium  .. . . . . . . 459 d) Teilhabe mittelbar kirchlicher Träger an der Kirchenautonomie  . . . 459 e) Eigene Angelegenheiten der Kirche im karitativen Bereich  .. . . . . . . 461 f) Schrankenregime des für alle geltenden Gesetzes  . . . . . . . . . . . . . . . . . 463 aa) Abstrakte Kriterien  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 463 bb) Konkrete Kollisionen  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 464 cc) Exemplarischer Konflikt: „Asylmißbrauch“  . . . . . . . . . . . . . . . . . 467 3. Kirchengutsgarantie  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 468 D. Grundrechtliche Reibungsflächen  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 468 I.

Grundrechtliche Koordination zwischen Leistungsdestinataren und Leistungsträgern  .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 468

II.

Grundrechtlicher Schutz der freien Träger vor staatlicher Konkurrenz – Subsidiaritätsprinzip  .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 470 1. 2. 3. 4.

Thema des Subsidiaritätsprinzips  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 470 Grundrechte als Schutz vor staatlicher Konkurrenz  . . . . . . . . . . . . . . . . . . 472 Keine grundrechtsrelevante Sonderstellung der Kommunen  . . . . . . . . . 473 Grundrechtlicher Rechtfertigungszwang für öffentliche Leistungs­ konkurrenz  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 474 III. Staatliche Finanzierung  .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 475 IV. Grundrechtsausübung in Kooperation mit dem Staat  .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 478 V. Zwangszusammenschluß  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 479 E. Anhang: Caritas als Gegenstand des staatlichen Rechts – Übersicht über die Rechtsquellen  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 480 I.

Verfassungsrechtliche Bestimmungen  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 480

1. Grundgesetz  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 480 2. Verfassungen der Länder  .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 480 II. Einigungsvertrag  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 481 III. Verträge zwischen Staat und Kirche  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 482 IV. Gesetzesrecht  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 483

XXIV

Inhaltsverzeichnis 1. Sozialrecht  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 483 a) Allgemeine Bestimmungen  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 483 b) Gesetzliche Krankenversicherung (SGB V) und Pflegeversicherung (SGB XI)  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 483 c) Kinder- und Jugendhilfe (SGB VIII)  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 484 d) Sozialhilfe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 485 e) Heimgesetz .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 485 f) Krankenhauswesen .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 486 2. Steuerrecht  .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 486

Das katholische Krankenhaus und die Verfassung des sozialen Rechtsstaats   . . . . 489 I.

Das Maß legitimer Freiheit  .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 489

II.

Die zwei Fundamente der Caritas im Verfassungssystem  . . . . . . . . . . . . . . . . . 489

III. Der Wechselbalg des Staatskirchenrechts: das für alle geltende Gesetz  . . . 492 1. Die Divergenz der Freiheitsgarantien  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 493 2. Vom liberalen zum sozialen Gesetzesstaat  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 494 3. Freiheitssicherung durch die Jedermann-Formel  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 494 4. Die allseitige Relativierung der Rechtsgarantie durch Güterabwägung  496 IV. Das kirchliche Krankenhaus im Spannungsfeld säkularer und religiöser Forderungen  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 498

V.

1. Säkularer Anpassungsdruck und Notwendigkeit religiöser Selbst­ behauptung  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 498 2. Organisationsfreiheit als Grundlage zur Bergung und zur Entfaltung der religiösen Substanz  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 499 3. Kirchliche Dienstgemeinschaft oder gewerkschaftliche Arbeitnehmer­ gesellschaft  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 500 Sozialmonopol des Staates oder Pluralismus sozialer Dienste?  . . . . . . . . . . . . 502

1. Freiheitsgrundrechte als Schutz gegen den totalen Sozialstaat  .. . . . . . . 502 2. Sozialethische Harmonieformeln kein Ersatz für rechtliche Freiheits­ ausgrenzung  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 503 VI. Schafft an, wer zahlt?  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 504 1. Leistungsdirigismus durch Krankenhausförderung  . . . . . . . . . . . . . . . . . . 504 2. Das gesetzliche Täuschungskonzept  .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 506 VII. Legitimation durch Leistung  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 507 Anstaltsseelsorge und Diakonie in den Kirchenverträgen des Freistaates Sachsen  509 I.

Trennung – Eigenständigkeit – Vertrag  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 509

II.

Anstaltsseelsorge und Diakonie  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 512

1. Themen des Landesrechts  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 512 2. Ausschließliche und konkurrierende Aufgaben  .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 513 III. Gefängnisseelsorge als Beispiel der Anstaltsseelsorge  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 513

Inhaltsverzeichnis

XXV

1. Gegenstand der Kirchenverträge  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 513 2. Grundrechtliche Ausgangslage der Gefängnisseelsorge  . . . . . . . . . . . . . . 514 3. Aufgabenteilung zwischen Staat und Kirche  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 516 IV. Diakonie (Caritas)  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 519 1. Wesentliche Aufgabe der Kirche  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 519 2. Perspektiven von Diakonie und Staat  .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 521 3. Kirchliches Proprium im sozialstaatlichen System  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 522 a) Der sichtbare Glaube  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 522 b) Das diakonische Personal  .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 524 aa) Loyalitätsobliegenheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 524 bb) „Dritter Weg“  .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 528 4. Die religiöse Kapazität  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 529 Res sacrae unter kircheneigenem Denkmalschutz Substitution staatlicher durch kirchliche Normen aufgrund des Denkmalschutzgesetzes Baden-Württembergs  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 531 I.

Praktische Konvergenz der Belange von Staat und Kirche im Denkmalschutz  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 531

II.

Gesetzliche Formen des Interessenausgleichs  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 533

III. Heteronomer oder autonomer Denkmalschutz in Baden-Württemberg  . . . . 534 IV. Friktionen der Praxis  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 536 V.

Verfassung als Schranke des staatlichen Denkmalschutzes  . . . . . . . . . . . . . . . 536

VI. Verfassungsrechtlicher Unterschied zwischen staatlich-heteronomem und kirchlich-autonomem Denkmalschutz  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 538 VII. Voraussetzungen einer kirchenautonomen Regelung  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 540 VIII. Fazit  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 541 Rechtsschutz gegen Kirchenglocken Rechtsweg und Rechtsqualifikation bei Nachbarklagen auf Unterlassung kirchlicher Immissionen  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 543 I.

Die Frage des Rechtsweges  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 543

II.

Der Meinungsstand: Positionen und Argumente in der Rechtswegfrage  . . . 544

1. Der Ausschluß jedweden Rechtsweges  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 544 2. Die öffentlich-rechtliche Betrachtung: Zulässigkeit des Verwaltungs­ rechtsweges  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 545 3. Die privatrechtliche Betrachtung: Zulässigkeit des ordentlichen Rechtsweges  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 546 4. Der staatskirchenrechtliche Sondercharakter der Rechtswegfrage  . . . . 548 III. Die Vorfrage: Die staatliche Gerichtsbarkeit in einer Rechtssache mit Kirchenbezug  .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 548 IV. Das Erfordernis der Qualifikation kirchlicher Akte nach staatlichen Rechtskriterien  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 549

XXVI

V.

Inhaltsverzeichnis Rechtsform und verfassungsrechtliche Legitimation: Privatrecht als einzig mögliche Form der Grundrechtsausübung – öffentliches Recht als ausschließliche Form des Staatshandelns?  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 551

1. Die grundrechtliche Legitimation der Kirchen  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 551 2. Grundrechtsausübung in hoheitlicher Form – Beispiele: Universität und Rundfunk  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 552 3. Folgerung  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 555 VI. Der Rechtsweg bei Immissionsabwehrklagen gegen die staatliche Verwaltung  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 555 1. Die Abgrenzungsschwierigkeit  .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 555 2. Das Unterscheidungskriterium  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 556 VII. Rechtsformgarantie der Verfassung für kirchliche Körperschaften  . . . . . . . . 557 1. Sinnwandel und Formidentität des Körperschaftsstatus  . . . . . . . . . . . . . . 557 2. Reichweite und Effektivität der verfassungsrechtlichen Formgarantie  558 VIII. Die Rechtsweg-Relevanz des öffentlichen Sachstatus der Kirchenglocken  . 561 IX. Fazit .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 561 X.

Rechtsvergleichende Anmerkung  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 562 1. Zur Problemlage in Österreich  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 562 2. Zur Problemlage in Frankreich  .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 565 V.  Finanzen der Kirche

Die Finanzquellen der Kirchen im deutschen Staatskirchenrecht Rechtsgrundlagen und Legitimationsgedanken  .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 571 I.

Charakter des staatskirchenrechtlichen Finanzsystems  .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 571

II.

1. Dritter Weg zwischen Staatskirchentum und laizistischem Trennungs­ modell  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 571 2. Leitgedanken  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 572 Typologie der Finanzquellen  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 573

III. Einnahmen der Kirchen ohne spezifische Unterstützung des Staates  .. . . . . 574 1. Verfassungsgarantie des Kirchenguts  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 574 2. Steuerliche Privilegierung der kirchlichen Einkünfte  . . . . . . . . . . . . . . . . 575 IV. Die staatliche Subvention  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 576 V.

Die Staatsleistung  .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 578

VI. Die Kirchensteuer  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 580 1. Beleihung der Kirchen mit Steuerhoheit  .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 580 2. Gläubiger und Schuldner der Kirchensteuer  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 581 3. Steuergegenstand und Steuermaßstab  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 584 4. Steuersatz  .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 585 5. Einziehung der Kirchensteuer  .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 586 6. Kirchliche Unabhängigkeit durch Kirchensteuer  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 586

Inhaltsverzeichnis

XXVII

Staatsleistungen an die Kirchen und Religionsgemeinschaften  .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 589 A. Zum historischen und teleologischen Verständnis der Verfassungsentscheidung über die Staatsleistungen  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 589 I.

II.

Staatsleistungen als Säkularisations-Ausgleich  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 589 1. Rechtsbegründung aus der Geschichte  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 589 2. Legitimationsprobleme  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 592 Die zwiespältige Verfassungsentscheidung: Ablösungsauftrag und Bestandsgarantie  .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 595

B. Das Rechtsinstitut der Staatsleistung  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 597 I. Begriff  .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 597 1. Objekt der Ablösung  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 597 2. Abgrenzung zur Subvention  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 599 II. Arten  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 601 1. Verwendungszwecke  .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 601 2. Rechtsform  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 602 3. Natural- und Geldleistungen  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 602 4. Betrags- und Bedarfsleistungen – insbesondere Kirchenbaulasten  . . . 602 5. Positive und negative Staatsleistungen  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 603 III. Rechtsgrundlagen  .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 606 1. Erfordernis eines Rechtstitels  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 606 2. Gesetz  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 606 3. Besondere Rechtstitel  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 607 C. Die Subjekte der Leistungsbeziehungen  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 609 I. Leistungsträger  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 609 1. Bund und Länder  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 609 2. Kommunale Gebietskörperschaften  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 610 II. Leistungsempfänger  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 612 D. Der Auftrag zur gesetzlichen Ablösung  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 613 I.

Gegenstand und Wirkweise der Ablösung  .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 613

II.

Modalitäten der Abfindung  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 614

III. Zuständigkeit und Verfahren  .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 616 1. Die Gesetzgebung der Länder  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 616 2. Die Grundsätze des Bundes  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 617 3. Das „freundschaftliche Einvernehmen mit den Betroffenen“  . . . . . . . . . 620 IV. Geltung der Verfassungsdirektive  .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 621 E. Der Bestandsschutz  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 622 I.

Authentische Feststellung über Verfassungsmäßigkeit und Fortbestehen  .. 622 1. Neutralität des Staates  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 623 2. Rechtsgleichheit und konfessionelle Parität  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 623

XXVIII

II.

Inhaltsverzeichnis 3. Gesellschaftlicher Wandel – Wegfall der Geschäftsgrundlage?  . . . . . . . 624 Status-quo-Garantie auf Widerruf und vertragliche Ablösung  . . . . . . . . . . . . 626

III. Verfassungsrechtlicher Bestandsschutz außerhalb des Art. 138 Abs. 1 WRV (Art. 140 GG)  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 629 1. Kirchengutsgarantie  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 629 2. Eigentumsgrundrecht  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 629 3. Landesverfassungsrechtliche Garantien  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 630 F. Die Rechtslage in den neuen Bundesländern  .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 630 I.

Sowjetische Besatzungszone und Deutsche Demokratische Republik  . . . . . 631

II.

Verfassungen der neuen Bundesländer  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 632

III. Rechtsschicksal einzelner Leistungstitel  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 633 G. Begründung neuer Staatsleistungen  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 634 I.

Verfassungsrechtliche Sperre?  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 634

II.

Neue Unterhaltszuwendungen  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 635

III. Neue Ausgleichsleistungen  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 637 IV. Förderung säkularer Gemeinwohldienste der Kirche und Förderung der Religion  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 637 Anhang: Auswahl-Bibliographie zum Recht der Staatsleistungen  .. . . . . . . . . . . . . . 640 1. Schrifttum 1919 – 1945  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 640 2. Schrifttum nach 1945  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 640 Zwischen Ablösungsauftrag und Bestandsgarantie Die historischen Staatsleistungen an die Kirchen  .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 643 Gefangen im ewigen Dilemma In der „Weltbild“-Debatte offenbaren sich die Schwierigkeiten, die eine Entweltlichung der katholischen Kirche zur Folge hätte  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 649 VI. Islam Integration des Islam  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 655 Grundrechtseifer und Amtsvergessenheit Der Kampf um das Kopftuch  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 667 Private islamische Bekenntnisschulen Zur Ausnahme vom Verfassungsprinzip der für alle gemeinsamen Grundschule  . . . . . . 673 I.

Eine vergessene staatskirchenrechtliche Option: Art. 7 Abs. 5 GG  . . . . . . . . 673

II.

Grundlagen und Grenzen der Privatschulfreiheit im Grundgesetz  . . . . . . . . 674

1. Ersatz- und Ergänzungsschulen (Art. 7 Abs. 4 GG)  . . . . . . . . . . . . . . . . . . 674 2. Private Volksschulen  .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 675 III. Der verfassungsrechtliche Vorrang der öffentlichen Grundschule  . . . . . . . . . 677

Inhaltsverzeichnis

XXIX

1. Der Weimarer Schulkompromiß  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 677 a) Bildung „durch öffentliche Anstalten“  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 677 b) „Für alle gemeinsame Grundschule“  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 677 2. Der grundsätzliche Vorrang der öffentlichen Grundschule unter dem Grundgesetz  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 679 3. Verfassungsstaatlicher Sinn des Vorrangs der öffentlichen Grund­schule  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 680 4. Politische Tendenz zur Ausweitung der Grundschulzeit  . . . . . . . . . . . . . . 681 IV. Die Ausnahmetatbestände des Art. 7 Abs. 5 GG im System der Verfassung  682 V.

Die private Bekenntnisschule im Lichte der Judikatur  .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 684

1. Antrag der Erziehungsberechtigten  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 684 2. Projekt einer Bekenntnisschule  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 685 a) Prägung durch ein Bekenntnis  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 685 b) Formale Strukturen des Bekenntnisses und seiner Organisation  . . . 687 aa) Was ist ein Bekenntnis?  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 687 bb) Organisatorische Konsistenz des Bekenntnisses  . . . . . . . . . . . . . 688 cc) Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 690 VI. Kompatibilität der islamischen Bekenntnisschule mit dem Konzept des Ausnahmetatbestandes nach Art. 7 Abs. 5 GG  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 692 1. Grundrechtliche Öffnung des Schulartikels?  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 692 a) Deutung aus der Religionsfreiheit  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 692 b) Institutioneller Überhang des Art. 7 Abs. 5 GG  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 694 2. Historische Reduktion  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 695 3. Staatskirchenrecht unter Kulturvorbehalt  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 696 4. Private Grundschulen unter Integrationsvorbehalt  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 698 VII. Grundrechtskonflikte Schulgebet im Spannungsfeld zwischen positiver und negativer Religionsfreiheit Zur Zulässigkeit eines freiwilligen überkonfessionellen Schulgebets außerhalb des Religionsunterrichts in einer nicht bekenntnisfreien Gemeinschaftsschule  . . . . . . . . . . . . 703 I.

II.

Der Anteil der grundrechtsgebundenen Öffentlichen Gewalt an der Veranstaltung des Schulgebets  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 703 1. Zur Qualifikationsfrage  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 703 2. Zur Identifikationsfrage  .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 704 Mögliche Eingriffe in den Schutzbereich der Religionsfreiheit  . . . . . . . . . . . . 705

1. Zwang zur Teilnahme am Schulgebet?  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 705 2. Eingriff in das „Recht auf Schweigen“?  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 709 3. Verletzung des Übermaßverbotes?  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 711 4. Diskriminierung?  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 711 III. Ergebnis .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 712

XXX

Inhaltsverzeichnis

Grundrechtliche Konsequenz wider geheiligte Tradition Der Streit um die Beschneidung  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 713 I.

Ein Strafurteil als Skandalon  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 713

II.

Prämissen des grundrechtlichen Diskurses  .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 716

1. Sichtweise und Sinngebung der Beschneidung  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 716 2. Das grundrechtliche Koordinationssystem  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 717 III. Grundrechte der Beteiligten  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 718 1. Die abwehrrechtliche Position des Beschneiders  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 718 2. Die abwehrrechtliche Position der Eltern  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 718 3. Schutz der körperlichen Unversehrtheit des Kindes  . . . . . . . . . . . . . . . . . . 720 a) Tatbestandliche Körperverletzung  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 720 b) Rechtfertigung der Körperverletzung  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 722 c) Das religiöse Argument  .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 723 IV. Grundrechtlicher Sonderstatus religiös begründeten Handelns?  .. . . . . . . . . . 727 1. Individualrechtlicher Ansatz  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 727 2. Institutioneller Ansatz  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 728 V. Traditionsvorbehalt  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 730 VI. Zulassung der Beschneidung durch Gesetz  .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 732 1. Freigabe unter Kautelen  .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 732 2. Mohel-Klausel  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 736 3. Ergebnis  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 738 VII. Tabuvorbehalt praeter constitutionem?  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 738 Kirchliche Loyalität im Rahmen des staatlichen Arbeitsrechts Verfassungsrechtliche Aspekte des kirchlichen Arbeitsverhältnisses  . . . . . . . . . . . . . . . . . . 741 I.

Exemplarische Konfliktfälle  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 741

II.

Die Auszehrung der Privatautonomie im Sozialstaat  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 743

III. Das kirchliche Selbstbestimmungsrecht als Reservat der Privatautonomie  743 IV. Die arbeitsvertragliche Begründung der kirchlichen Loyalität  . . . . . . . . . . . . 744 V.

Die arbeitsrechtliche und die verfassungsrechtliche Dimension des Loyalitätskonflikts  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 745

VI. Keine Verfügungsmacht des Staates über die Kirchenloyalität  . . . . . . . . . . . . 747 VII. Staatliche Entscheidungsvorbehalte gegenüber dem kirchlichen Selbstverständnis  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 749 VIII. Folgerungen für die Arbeitsgerichte im Fall des Kirchenaustritts  . . . . . . . . . 752 Meinungsfreiheit im Streit mit der Religion „Gotteslästerung“ heute  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 755 I. Problemfeld  .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 755 II.

Ausschluß physischer Gewalt  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 758

Inhaltsverzeichnis

XXXI

III. Die abwehrrechtliche Position des Verletzers  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 761 IV. Religiöse Belange als Schranken der Meinungsfreiheit  .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 763

V.

1. Vorbehalt des Gesetzes  .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 764 2. Mögliche Schutzgüter  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 766 a) Name und Ehre Gottes  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 766 b) Religiöse Gefühle und religiöses Selbstverständnis  . . . . . . . . . . . . . . . 767 c) Religion als gesellschaftliche Potenz  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 769 d) Religionsfreiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 770 e) Voraussetzungen der Religionsausübung  .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 772 aa) Raum, Funktion, Atmosphäre  .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 772 bb) Klima der „Angstfreiheit“  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 773 f) Persönliche Ehre des Gläubigen – korporative Ehre der Glaubens­ gesellschaft  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 775 g) Auswärtige Belange und innere Sicherheit  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 778 Folgerungen für die Rechtspraxis  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 779

1. Genügen des geltenden Rechts  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 779 2. Potential der polizeilichen Generalklausel  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 780 VI. Kontrastfolie Zivilreligion  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 781 Personenverzeichnis  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 783 Sachwortregister  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 786

Abkürzungsverzeichnis a.

articulus

Abg.

Abgeordnet(e, er)

ABl. Amtsblatt ABl. EKD

Amtsblatt der evangelischen Kirche in Deutschland

AcP

Archiv für die civilistische Praxis

AEUV

Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union

AfP

Archiv für Presserecht: Zeitschrift für das gesamte Medienrecht (früher: Archiv für Presserecht: Zeitschrift für Medien- und Kommunikationsrecht)

AG Amtsgericht AO Abgabenordnung AöR

Archiv des öffentlichen Rechts

AP

s. BAG AP

Apg Apostelgeschichte ArchKathKR

Archiv für katholisches Kirchenrecht

ARSP

Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie

AS

Amtliche Sammlung

AVR

Richtlinien für Arbeitsverträge in den Einrichtungen des Deutschen Caritasverbandes

Bad.-Württ.Verf.

Baden-Württembergische Verfassung

BAG Bundesarbeitsgericht BAG AP

Nachschlagewerk des Bundesarbeitsgerichts (vorher: Arbeitsrechtliche Praxis)

BauGB Baugesetzbuch BayK

Bayerisches Konkordat

BayVBl.

Bayerische Verwaltungsblätter

BayVerf.

Verfassung des Freistaats Bayern

BayVerfGHE

Entscheidungen des Bayerischen Verfassungsgerichtshofes

BayVGH

Bayerischer Verwaltungsgerichtshof

BB

Betriebs-Berater

BbgSchulG

Gesetz über die Schulen des Landes Brandenburg

BbgVerf.

Verfassung des Landes Brandenburg

Abkürzungsverzeichnis

XXXIII

BetrVerfG Betriebsverfassungsgesetz BFHE

Entscheidungen des Bundesfinanzhofs

BGB

Bürgerliches Gesetzbuch

BGBl. Bundesgesetzblatt BGHSt

Entscheidungen des Bundesgerichtshofes in Strafsachen

BGHZ

Entscheidungen des Bundesgerichtshofes in Zivilsachen

BHO Bundeshaushaltsordnung BK

Bonner Kommentar zum Grundgesetz

BKU

Bund Katholischer Unternehmer

BPolG Bundespolizeigesetz BrandenbVerf.

Verfassung des Landes Brandenburg

BRD

Bundesrepublik Deutschland

BReg. Bundesregierung BremVerf.

Verfassung des Landes Bremen

BRRG

Rahmengesetz zur Vereinheitlichung des Beamtenrechts

BSHG Bundessozialhilfegesetz BT-Dr(s). Bundestagsdrucksache(n) BVerfG Bundesverfassungsgericht BVerfGE

Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts

BVerfGG Bundesverfassungsgerichtsgesetz BVerfGK

Kammerentscheidungen des Bundesverfassungsgerichts

BVerwG

Bundesverwaltungsgericht

BVerwGE

Entscheidungen des Bundesverwaltungsgerichts

B-VG

Bundes-Verfassungsgesetz vom 19. Dezember 1945 (Österreich)

BW

Baden-Württemberg

BWG

Berufsgenossenschaft für Gesundheitsdienst und Wohlfahrtspflege

B-WVerf.

Verfassung des Landes Baden-Württemberg

can. canon Cap. Capitulum CIC

Codex Iuris Canonici

Clem

Clemensbrief

CONV

Diskussionen im Convent 2003

DCV

Deutscher Caritasverband

DDP

Deutsche Demokratische Partei

DDR

Deutsche Demokratische Republik

Abkürzungsverzeichis

XXXIV

DF

Deutscher Forschungsdienst

DITIB

Türkisch-Islamische Union der Anstalt für Religion e. V.

DJZ

Deutsche Juristenzeitung

DÖV

Die Öffentliche Verwaltung

DSchG

Denkmalschutzgesetz

DSchG BW

Denkmalschutzgesetz des Landes Baden-Württemberg

DSchG-NRW

Denkmalschutzgesetz des Landes Nordrhein-Westfalen

DSchG-Sachsen

Denkmalschutzgesetz des Freistaates Sachsen

DVBl.

Deutsches Verwaltungsblatt

DVP

Deutsche Volkspartei

EGBGB

Einführungsgesetz zum Bürgerlichen Gesetzbuch

EGMR

Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte

EKD

Evangelische Kirche in Deutschland

EKKPS

Evangelische Kirche der Kirchenprovinz Sachsen

EKL

Evangelisches Kirchenlexikon. Internationale theologische Enzyklopädie. Hrsg. v. E. Fahlbusch et alii, 5 Bde., 3. Aufl., Göttingen 1986–1998

EMRK

Europäische Menschenrechtskonvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten vom 4. November 1950

Eph

Brief des Apostels Paulus an die Epheser

ErbStG

Erbschaftssteuer- und Schenkungssteuergesetz

EssGespr.

Essener Gespräche

EStG Einkommensteuergesetz ESVGH

Entscheidungssammlung des Hessischen Verwaltungsgerichtshofs und des Verwaltungsgerichtshofs Baden-Württemberg mit Entscheidungen des Staatsgerichtshofs des Landes Hessen und des Verfassungsgerichtshofs für das Land Baden-Württemberg

EuGRZ

Europäische Grundrechte-Zeitschrift

EUV

Vertrag über die Europäische Union

EV

Vertrag zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik über die Herstellung der Einheit Deutschlands

EvSeelsorgeV

Evangelische Seelsorgeverordnung

Festg. Festgabe FS Festschrift Gal Galaterbrief Gen

Genesis

Abkürzungsverzeichnis

XXXV

GewStG Gewerbesteuergesetz GG

Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland

GG-Alt.-Komm.

Kommentar zum Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, Reihe Alternativkommentare

GmbH

Gesellschaft mit beschränkter Haftung

GMBl. Saar

Gemeinsames Ministerialblatt des Saarlands

GRCh

Grundrechtecharta der Europäischen Union

GS

Gedenkschrift, Gedächtnisschrift

GTK

Gesetz über Tageseinrichtungen für Kinder

GVG Gerichtsverfassungsgesetz GVOBl. MV

Gesetz- und Verordnungsblatt des Landes Mecklenburg-Vorpommern

HAStenBer.

Stenographische Berichte der Verhandlungen des Hauptausschusses

HdbBayStKirchR

O. Voll, Handbuch des Bayerischen Staatskirchenrechts, München 1985

HdbStKirchR

Handbuch des Staatskirchenrechts der Bundesrepublik Deutschland, hrsg. v. J. Listl u. D. Pirson, 2 Bde., 2. Auflage, Berlin 1994 /  1995

HdbStKirchR¹

Handbuch des Staatskirchenrechts der Bunderepublik Deutschland, hrsg. v. E. Friesenhahn, U. Scheuner und J. Listl, 2 Bde., 1. Auflage, Berlin 1974/1975

HdbVerfR

Handbuch des Verfassungsrecht der Bundesrepublik Deutschland, hrsg. von E. Benda et alii, 2. Aufl., Berlin / New York 1995

HessKV

Hessischer Kirchenvertrag

HessStGH

Hessischer Staatgerichtshof

HessVerf., HV

Verfassung des Landes Hessen

HessVGH

Hessischer Verfassungsgerichtshof

HGR

Handbuch der Grundrechte in Deutschland und Europa, hrsg. von D. Merten und H.-J. Papier, 12 Bde., Heidelberg 2011

HGrG Haushaltsgrundsätzegesetz HK

Herder Korrespondenz

HStR

Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, hrsg. von J. Isensee und P. Kirchhof, Heidelberg ab 1987

Joh

Evangelium nach Johannes

JöR

Jahrbuch des öffentlichen Rechts der Gegenwart

JRP

Journal für Rechtspolitik

JuS

Juristische Schulung

Abkürzungsverzeichnis

XXXVI

JW

Juristische Wochenschrift

JWG

Jugendwohlfahrtsgesetz (heute: SGB VIII)

JZ

Juristen Zeitung

Kan. Abt.

Kanonistische Abteilung

KAS

Konrad-Adenauer Stiftung

KHG

Krankenhausfinanzierungsgesetz – Gesetz zur wirtschaftlichen Sicherung der Krankenhäuser und zur Regelung der Krankenhauspflegesätze

KirchE

Entscheidungen in Kirchensachen, begründet v. C. Hering u. H. Lentz, seit 1946 Berlin

KNA

Katholische Nachrichtenagentur

Kol

Brief des Paulus an die Kolosser

Kor

Brief des Paulus an die Korinther

KritVj

Kritische Vierteljahresschrift für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft

KSchG

Kündigungsschutzgesetz

KStG

Körperschaftssteuergesetz

KuR

Kirche und Recht

KV

Kirchenvertrag

LG Landgericht lib. liber Lk

Evangelium nach Lukas

LKHG BW

Landeskrankenhausgesetz Baden-Württemberg

LKV

Landes- und Kommunalverwaltung, Fachzeitschrift für Verwaltungsrecht

LT-Drucks./Drs. Landtagsdrucksache(n) LVG Landesverwaltungsgericht Meckl.-Vorp. KV

Kirchenvertrag Mecklenburg-Vorpommern

Meckl.-Vorp. Verf.

Landesverfassung Mecklenburg-Vorpommern

MedR Medizinrecht Mt

Evangelium nach Matthäus

NatVers. Nationalversammlung NiedersK

Niedersächsisches Konkordat

NiedersKV

Niedersächsischer Kirchenvertrag

NJW

Neue Juristische Wochenschrift

NRW Nordrhein-Westfalen NRWVerf.

Verfassung für das Land Nordrhein-Westfalen

Abkürzungsverzeichnis NStZ

Neue Zeitschrift für Strafrecht

NStZ-RR

Neue Zeitschrift für Strafrecht – Rechtsprechungsreport

NVwZ

Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht

XXXVII

NW Nordrhein-Westfalen NWVBl

Nordrhein-Westfälisches Verwaltungsblätter

NWVerf.

Verfassung für das Land Nordrhein-Westfalen

NZA

Neue Zeitschrift für Arbeitsrecht

NZS

Neue Zeitschrift für Sozialrecht

ÖArchKR

Österreichisches Archiv für Kirchenrecht

öArr

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OBG NRW

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OGZ

Oberstes Gericht der DDR in Zivilsachen

OLG Oberlandesgericht OVG Oberverwaltungsgericht OVGE

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PAG Thür

Polizeiaufgabengesetz Thüringen

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Philemonbrief

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preußisch(e, er, es)

pr. ALR

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PrVBl.

Preußisches Verwaltungsblatt

PSchG Privatschulgesetz PStG Personenstandsgesetz RdJB

Recht der Jugend und des Bildungswesens

RG Reichsgericht RGBl. Reichsgesetzblatt RGG

Die Religion in Geschichte und Gegenwart. Hrsg. v. K. Galling. 6 Bde., 3. Auflage., Tübingen 1957 – 1962

RGZ Rheinl.-Pfälz. KV

Entscheidungen des Reichsgerichts in Zivilsachen Rheinland-Pfälzischer Kirchenvertrag

Abkürzungsverzeichnis

XXXVIII

Rh-PfVerf /  Rheinl.-PfalzVerf.

Verfassung für das Land Rheinland-Pfalz

RK Reichskonkordat Röm

Brief des Paulus an die Römer

RuPrVBl.

Reichsverwaltungsblatt und Preußisches Verwaltungsblatt

RVO Reichsversicherungsordnung RW

RECHTSWISSENSCHAFT – Zeitschrift für rechtswissenschaft­ liche Forschung

SaarVerf.

Landesverfassung des Saarlandes

Sachs.-Anh. KV

Sachsen-Anhaltischer Kirchenvertrag

Sachs.-Anh. Verf.

Landesverfassung Sachsen-Anhalts

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SächsVBl.

Sächsisches Verwaltungsblatt

Sächs. Verf.

Verfassung des Freistaats Sachsen

sc. scilicet Schl.Prot. Schlussprotokoll Schlesw.-Holst. KV

Schleswig-Holsteinischer Kirchenvertrag

SCHURA

Rat islamischer Gemeinschaften

SGB Sozialgesetzbuch StdZ

Stimmen der Zeit

Sten. Ber. d. NatVers.

Stenographische Berichte der Verhandlungen der Verfassungsgebenden Deutschen Nationalversammlung

StGB

Strafgesetzbuch

StGG

Staatsgrundgesetz vom 21. Dezember 1867 (Österreich)

StGH Staatsgerichtshof StL

Staatslexikon. Recht, Wirtschaft, Gesellschaft, hrsg. von der Görres-Gesellschaft. 7. Aufl., 11 Bde. Freiburg i. Br., Basel, Wien 1985 – 1993

StV St. Germain

Staatsvertrag von Saint-Germain-en-Laye vom



10. September 1919

ThürKV

Kirchenvertrag Thüringen

ThürOVG

Thüringisches Oberverwaltungsgericht

ThürVerf.

Landesverfassung Thüringen

Tim

Brief des Apostels Paulus an Timotheus

Abkürzungsverzeichnis

XXXIX

TRE

Theologische Realenzyklopädie, hrsg. v. G. Müller, H. Balz, G. Krause, 36 Bde., Berlin 1976–2004

U-G

Die katholische Sozialdoktrin in ihrer geschichtlichen Entwicklung, hrsg. v. A. Utz, B. von Galen, Aachen 1976

UN

United Nations

VBlBW

Verwaltungsblätter für Baden-Württemberg

Verf.

Verfassung

VerfGH NW

Verfassungsgerichtshof für das Land Nordrhein-Westfalen

VerwArch. Verwaltungsarchiv VfGH. – Erk.

Erkenntnisse des Verfassungsgerichtshofs (Österreich)

VfSlg.

Ausgewählte Entscheidungen des Verfassungsgerichtshofs (Österreich)

VG Verwaltungsgericht VIKZ

Verband der islamischen Kulturzentren

VStG Vermögenssteuergesetz VVDStRL

Veröffentlichung der Vereinigung der deutschen Staatsrechtslehrer

VwGO Verwaltungsgerichtsordnung VwVfG

Verwaltungsverfahrensgesetz

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Verfassung des Deutschen Reichs vom 11. August 1919 (Weimarer Reichsverfassung)

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ZevKR

Zeitschrift für evangelisches Kirchenrecht

ZfA

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ZfL

Zeitschrift für Lebensrecht

ZfP

Zeitschrift für Politik

ZIP

Zeitschrift für Wirtschaftsrecht

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Zeitschrift für Parlamentsfragen

ZPO Zivilprozessordnung ZRG Kan. Abt.

Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte, Kanonistische Abteilung

ZRP

Zeitschrift für Rechtspolitik

ZStW

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I.  Christentum und Moderne

Christliches Erbe im organisierten Europa Christliches Erbe im organisierten Europa

Phobie und Legitimationschance* Christliches Erbe im organisierten Europa. Phobie und Legitimationschance

Seit das organisierte Europa danach strebt, über den gemeinsamen Binnenmarkt hinaus sich zur politischen Gemeinschaft zu entwickeln, erhebt sich die Frage nach der europäischen Identität. Diese ergibt sich nicht zuletzt aus der gemeinsamen Verfassungssubstanz der Mitgliedstaaten, aus Menschenrechten und Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und sozialer Gerechtigkeit. Diese, auf universale Geltung angelegten Prinzipien sind nicht zufällig auf dem Boden Europas geboren. Sie sind Kinder des europäischen Geistes, der seinerseits zutiefst vom Christentum geprägt ist. Gleichwohl neigt die EU dazu, die religiöse Herkunft Europas zu verdrängen. Die offene Affirmation würde jedoch den säkularen Charakter der supranationalen Organisation geradezu bestätigen. Diese versäumt eine Chance, Legitimation zu gewinnen, die über bloße Nützlichkeit hinausweist.

I.  Vom Zweckverband zur Wertegemeinschaft: die EU 1.  Geruch der Christophobie Die Europäische Union steht im Geruch der Christophobie.1 Der Geruch haftet ihr an, seit sie sich den Forderungen widersetzte, einen Bezug auf Gott in ihren am Ende gescheiterten Verfassungsvertrag aufzunehmen und das Christentum als eine ihrer historischen Grundlagen zu nennen.2 Der politische Diskurs in dieser Sache fand breite Aufmerksamkeit über die politische Klasse hinaus. Die europapolitischen Verhandlungen erfuhren für einen Augenblick einen Anhauch dessen, was ihnen sonst versagt bleibt: europäische Öffentlichkeit.3

*  Erstveröffentlichung in: Juristenzeitung 2015, S. 745 – 754. 1 Vorwurf der Christophobie: Joseph H. H. Weiler, Ein christliches Europa, 2004, S. 75 ff. et passim. 2 Darstellung und Analyse: Wolfgang M. Schröder, Gott im europäischen Projekt rechtsstaatlicher Demokratie, in: Walter Fürst/Joachim Drumm/Wolfgang M. Schröder (Hrsg.), Ideen für Europa, 2004, S. 343 ff.; Peter Altmaier, Unterwegs zu einem europäischen Verfassungsvertrag, ebd., S. 95 (109 ff.); Helmut Goerlich/Wolfgang Huber/Karl Kardinal Lehmann, Verfassung ohne Gottesbezug?, 2004. 3  Schröder (Fn. 2), S. 344. Ähnliche Beobachtungen im Streit um die Gottes-Klausel bei der Totalrevision der Schweizer Verfassung von 1999: Jörg Paul Müller, Geschichtliche Grundlagen, Zielsetzungen und Funktionen der Grundrechte, in: Handbuch der

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Christliches Erbe im organisierten Europa

Vertragspolitische Forderungen und Enttäuschungen solcher Art sind noch jung. In den Anfängen der europäischen Einigung wären sie undenkbar gewesen. Die sechs Gründerstaaten hatten genug damit zu tun, das rechtliche Gerüst für Montanunion, Wirtschaftsgemeinschaft und Euratom aufzubauen, auch wenn sie darüber hinaus plakative Bekenntnisse zu Weltfrieden, Zivilisation, Völkergemeinschaft und Freiheit in die Vertragstexte aufnahmen. Betrachtungen über geistige Gründe und Hintergründe standen nicht auf der Tagesordnung, als die alten Nationalstaaten zu neuen, übernationalen Ufern aufbrachen. Hier waren politische Intuition und Tatkraft, technische Kompetenz und organisatorische Phantasie gefragt, nicht philosophisch-historisches Raisonnement. Mancher Träumer von einem christlichen Abendland erlitt einen Kälteschock, als er das Europa seiner Ideenwelt abgestürzt sah in die Realien von Kohle und Stahl.4 Freilich bedurfte es damals auch nicht eines Bekenntnisses zu den christlichen Wurzeln Europas, weil die christliche Fundierung weithin noch als selbstverständlich galt. Die sechs Gründerstaaten waren ihrer religiösen Herkunft nach relativ homogen, fünf davon katholisch; die drei Gründergestalten der europäischen Einigung, Schuman, Adenauer, De Gasperi: alle Christdemokraten, alle bekennende Katholiken. Das allein genügte aber auch damals, um den antirömischen Affekt zu wecken. Laikale sozialistischer wie liberaler Couleur wie prä-ökumenische Protestanten witterten hinter dem europäischen Projekt ultramontanes Abendländlertum und ein neues Karolingerreich, zumal die Fläche der sechs Gründerstaaten der des Reichs Karls des Großen tatsächlich in etwa entsprach. Unbeeindruckt von solchen Sentiments und Ressentiments geriet das Projekt Europa zur Tat. Es wuchs und erstarkte. Die Homogenität des Anfangs dünnte jedoch im Laufe der Jahrzehnte aus und verlor sich mit der Ausdehnung von sechs auf 28 Mitgliedstaaten. 2.  Supranationaler Funktionalismus Das organisierte Europa stellt sich heute als Zweckverband dar, der notwendige und nützliche Leistungen für die Mitgliedstaaten erbringt, die sie als einzelne nicht oder jedenfalls nicht ebenso wirksam erbringen könnten. Die Synergieeffekte ergeben sich aus einer grosso modo erfolgreichen Aufgabenverteilung nach dem Subsidiaritätsprinzip.5 In dieser Sicht erscheint die Union als technischer Apparat, den man nutzt und für den man zahlt, dem man aber keinen Dank desGrundrechte (= HGR), Bd. VII/2, 2007, § 202 Rn. 43. Allgemein: Otfried Höffe, Wahl- und Pflichteuropa, in: Fürst/Drumm/Schröder (Fn. 2), S. 59 (87 ff.). 4 Beispiel einer Gegenüberstellung: Reinhold Schneider, Europa als Lebensform (1957), in: ders., Gesammelte Werke, Bd. 8, 1977, S. 420 ff. 5  Zur Subsidiarität in Europa: Josef Isensee, Subsidiaritätsprinzip und Verfassungsrecht, 2. Aufl. 2001, S. 355 ff.; Höffe (Fn. 3), S. 77 ff.

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halb schuldet, weil er funktioniert, und dem man keinen moralischen Vorwurf macht, wenn er einmal gestört ist.6 Ein solches Gebilde rührt nicht an das Gemüt, erzeugt keinen Bürgersinn, und es begründet keine Solidarität. Es gleicht den Stadtwerken, auf deren Leistungen an Strom, Gas, Wasser, Verkehr und Müllentsorgung jedermann angewiesen ist, ohne darüber zum Lokalpatrioten zu werden. Lokalpatriotismus, wo es ihn gibt, richtet sich nicht auf die Stadtwerke, sondern auf die Stadt. Patriotismus aber, wo er heute lebendig ist, gilt Land und Leuten, wie sie im Staat geerdet und verbunden sind. Er ist die klassische Bürgertugend des Nationalstaates, die sich nicht auf intellektuelle Surrogate wie die Verfassung oder ein Wertesystem transferieren läßt7 aber auch nicht auf das zweckrationale Konstrukt der supranationalen Maschinerie. „Ein Zollverein ist kein Vaterland“, so Ernest Renan 1882 in seiner berühmten Akademierede über das Wesen der Nation.8 Doch die EU-Maschinisten wollen geliebt werden. Sie wollen sich nicht in der Maschinerie genügen. Seit den Tagen von Jacques Delors suchen sie nach einer Seele für den Apparat. Sie sind sich aber nicht einig, was die Seele ausmachen und wer sie einhauchen soll. Im übrigen haben die europäischen Nationen bislang eine supranationale Seele nicht vermißt, die, wenn es sie gäbe, sie alle zu einer europäischen Nation verschmelzen und sie damit auflösen könnte.9 Die Kennzeichnung als Technokratie griff freilich von Anfang an zu kurz, wenn man unter Technokratie die „entpolitisierte Herrschaft der Sachgesetzlichkeit“ versteht, weil in offenen Gesellschaftssystemen „die tatsächliche Entwicklung, statt durch Experten, durch Marktprozesse, durch die öffentliche Meinung und die in ihr sich bildenden entscheidungskompetenten Mehrheiten gesteuert“ werden.10 Das Defizit an supranationalen Steuerungskräften wird durch nationale

6  Das entspricht dem Bild des technischen Staates, wie Helmut Schelsky es zeichnet (Der Mensch in der wissenschaftlichen Zivilisation, 1961, S. 22 ff.). Vergleichbar auch die Metapher vom Staat als Maschine. Dazu Andreas Anter, Max Webers Theorie des modernen Staates, 3. Aufl. 2014, S. 215 ff. – Kritische Auseinandersetzung mit der Technokratie als politisches Leitbild oder als Vorstellung von Realität: Hermann Lübbe, Technokratie (1998), in: ders., Politik nach der Aufklärung, 2001, S. 11 ff. 7 Zum traditionellen Patriotismus und zur akademischen Kunstfigur eines Verfassungspatriotismus: Josef Isensee, Die Verfassung als Vaterland (1986), in: ders., Recht als Grenze – Grenze des Rechts, 2009, S. 251 ff.; Donate Kluxen-Pytha, Nation und Ethos, 1991; Otto Depenheuer, Integration durch Verfassung?, in: DÖV 1995, S. 854 ff.; Volker Kronenberg, Patriotismus in Deutschland, 2. Aufl. 2006, S. 147 ff. (Nachw.). 8  Ernest Renan, Que’est-ce qu’une nation? (1882), dt. in: ders., Was ist eine Nation?, 1995, S. 41 (55). 9  Josef Isensee, Europa der Nationen oder europäische Nation – Von Grund und Ziel europäischer Integration, in: Festschrift für Roman Herzog, 2009, S. 131 ff. 10  Lübbe (Fn. 6), S. 33.

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mehr als kompensiert. Doch das organisierte Europa will dieses Defizit durch Zuwachs an eigener Kompetenz und Integrationskraft ausgleichen. 3.  Die Gretchenfrage Bisher auf Staaten und Märkte bezogen, will die Union nunmehr auch die Bürger erfassen. Der Verbund nationaler und supranationaler Exekutiven erweitert sich um ein supranationales Parlament, das zunehmend Mitsprache einfordert. Die ihrer Stellung nach bürgerfernste Organisation des Kontinents strebt laut Vertragspräambel nach dem Unmöglichen: Bürgernähe ihrer Entscheidungen. Das organisierte Europa will sich über die fest etablierte Wirtschaftsgemeinschaft hinaus zu einer Wertegemeinschaft erheben, um am Ende den Status einer politischen Gemeinschaft zu erreichen. Jetzt kommt der Plan eines Verfassungsvertrages auf, der dem organisierten Europa staatsgleiche rechtliche Festigkeit und Dauer verschaffen soll – nach Jahrzehnten permanenter Häutung der Institutionen, eiliger Änderung der Verträge, Wechsel sogar der Namen. Jetzt wird es notwendig, daß die supranationale Organisation sich ihrer Identität vergewissert jenseits aller technischen Kompetenz- und Verfahrensnormen. Eine Wertegemeinschaft muß ihre Werte nennen. Damit stellt sich ihr die Gretchenfrage: Nun sag, wie hast du‘s mit der Religion? Die Antwort, so meint mancher, laute: ganz und gar nichts. Man kann und mag nichts Positives heraushören aus der Grundrechte-Charta, aus dem NizzaVertrag, aus dem Europäischen Verfassungsvertrag, der gescheitert, wie aus dem Lissaboner Vertrag, der am Ende zustande gekommen ist. Denn die Vorstöße, die Aufnahme einer Gottes-Klausel in einem der Verträge zu erreichen wie auch eine Anerkennung des christlichen Erbes, brechen sich am Widerspruch Frankreichs, das auf seine laïcité pocht.11 Frankreich enthält sich in seiner eigenen Verfassung geflissentlich jedes religiösen Hinweises, freilich mit der einen (aber eben nur scheinbaren) Ausnahme, daß es in der fortgeltenden Erklärung der Menschenund Bürgerrechte von 1789 sich auf „das höchste Wesen“ bezieht. Doch dieses „Être suprême“ ist eine transzendenz-unverdächtige, rhetorische Wortblase, die weiter nichts bezeugt als das politische Selbstbewußtsein der einstigen Nationalversammlung, welche die Gegenwart und den Schutz des Allerhöchsten für ihr revolutionäres Werk in Anspruch nahm.

11 Zum französischen Modell: Axel Frhr. von Campenhausen, Staat und Kirche in Frankreich, 1962; ders./Heinrich de Wall, Staatskirchenrecht, 4. Aufl. 2006, S. 345 ff.; Jean-Paul Durand, Das französische Trennungsgesetz von 1905 und seine Folgen, in: Essener Gespräche 40 (2007), S. 5 ff.

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II.  Säkularität der Union 1.  Säkularität und Religionsfreiheit Unter den disparaten, zuweilen auch weithergeholten Argumenten, die in den europäischen Gremien des 21. Jahrhunderts wider religiöse Bezüge ins Feld geführt wurden, findet sich neben dem Kinderschreck eines europäischen Gottesstaates12 der ernstzunehmende Gedanke, daß sich für die EU als säkularer Organisation eine Gottes-Klausel oder der Hinweis auf den christlichen Ursprung verbiete. Die Prämisse stimmt. Die Union ist eine Veranstaltung ihrer Mitgliedstaaten zur Verwirklichung gemeinsamer weltlicher Zwecke. Doch auch die Mitgliedstaaten dienen nur weltlichen Zwecken. Sie kümmern sich um das irdische Heil ihrer Bürger, nicht aber – wie ein vormals christlicher Staat – um ihr Seelenheil, und sie verstehen sich nicht als weltlicher Arm einer Kirche, auch dann nicht, wenn diese wie in England oder Dänemark als Staats- oder Volkskirche anerkannt ist. Säkulare Staaten sind weder gläubig noch ungläubig, weder christlich noch heidnisch. Sie sind noch nicht einmal skeptisch. Es wäre verfehlt, sie agnostisch zu nennen,13 weil sie Gott weder erkennen noch an seiner Erkennbarkeit zweifeln können. Die transzendente Wahrheit liegt jenseits ihres Wahrnehmungs- und Handlungshorizonts. Die Säkularität des Staates ist eine Folge der Glaubensspaltung des lateinischen Europas. Doch sie ist kein Verdienst der Reformation, wie kulturprotestantische Kirchenhistoriker lehren. Im Gegenteil: die Reformation hatte nicht die Liberalisierung, sondern die Konfessionalisierung Europas herbeigeführt, offene Glaubensfragen zu Kontroversen ausdefiniert und politisch aufgeladen, die Universaleinheiten von Kaiser und Reich aufgesprengt zugunsten verfeindeter Religionsparteien.14 West- und Mitteleuropa mußte das Blutbad der konfessionellen Bürger- und Staatenkriege durchwaten, bis die Staaten lernten, sich aus den für sie unlösbaren Fragen nach der ewigen Wahrheit herauszuhalten, um wenigstens den Frieden im Diesseits herstellen zu können und sich damit zu bescheiden, für das allgemeine Wohl auf Erden zu sorgen.15 12 

Beispiele und Kritik: Schröder (Fn. 2), S. 351, 353 ff. Weiler (Fn. 1), S. 41, 48. 14 Zutreffend Christian Hillgruber, Staat und Religion, 2007, S. 7 ff., 16 ff. 15  Zu Begrifflichkeit und Geschichte der Säkularisation: Herbert Krüger, Allgemeine Staatslehre, 1. Aufl. 1964, S. 32 ff.; Hermann Lübbe, Säkularisierung, 2. Aufl. 1975; ErnstWolfgang Böckenförde, Die Entstehung des Staates als Vorgang der Säkularisation, 1967, in: ders., Staat, Gesellschaft, Freiheit, 1976, S. 42 ff.; Helmut Quaritsch, Staat und Souveränität, Bd. I, 1970, S. 284 ff.; Martin Heckel, Säkularisierung (1980), in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. II, 1989, S. 773 ff.; ders., Weltlichkeit und Säkularisierung (1983), ebd., 13 

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Säkular im normativen Sinne ist nur der Staat, nicht sein Gegenüber, die Gesellschaft als der Inbegriff grundrechtlicher Freiheit. Diese steht säkularen wie religiösen Kräften offen. Soweit die religiösen ausfallen sollten, wäre sie säkular nur in einem empirischen, nicht einem normativen Verständnis. Dem objektiven Prinzip der Säkularität des Staates korrespondiert das subjektive, der Religionsfreiheit der Bürger. Während der „moderne“ Staat16 keine Kompetenz hat, sich mit einer religiösen Wahrheit zu identifizieren, steht es dem Bürger frei, die Wahrheit zu suchen, zu bekennen, zu lehren oder dahinstehen zu lassen. Der Staat aber gründet seine Einheit nicht auf die Wahrheit, sondern auf die Freiheit der Religion, einer Freiheit, die positiv wie negativ zu verstehen ist: als Freiheit zur Religion wie als Freiheit von der Religion. Die Freiheit umfaßt Zuwendung wie Abwendung, Wahl wie Abwahl. Doch schließt sie Zwang wie Vormundschaft des Staates aus. Ein gleicher grundrechtlicher Mindeststandard für alle Religionen, Konfessionen und Weltanschauungen ist allen Mitgliedstaaten gemeinsam, und über diese der Union, die Fleisch von ihrem Fleische ist. In den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten geht die Religionsfreiheit ein in die allgemeinen Grundsätze des Unionsrechts.17 Überdies wird die Religionsfreiheit gleich doppelt positivrechtlich fundiert: durch eigenes EU-Recht in der Charta der Grundrechte18 sowie durch regionales Völkerrecht in der EMRK.19 Ob mehrfach genäht besser hält als einfach, stehe dahin. Jedenfalls gehört die Religionsfreiheit zu den Werten, auf denen die Union gründet und die sie im Fall schwerer Gefährdung gegen die Mitgliedstaaten verteidigt.20 Die grundrechtliche Gewähr der Religionsfreiheit bieten heute auch jene Mitgliedstaaten, die eine Staatskirche vorsehen.21 Die englische Königin ist weiterhin das Oberhaupt der anglikanischen Kirche und präsentiert sich auf den Münzen als „F.D.“, also Fidei Defensor. Sie schmückt sich in unfreiwilliger Ironie mit jenem Ehrentitel, den einst Papst Leo X. ihrem Vorgänger Heinrich VIII. verliehen hatte S. 913 ff.; Hillgruber (Fn. 14), S. 7 ff.; Klaus Ferdinand Gärditz, Säkularität und Verfassung, in: Otto Depenheuer/Christoph Grabenwarter (Hrsg.), Verfassungstheorie, 2010, § 5. 16 Zu Begriff und Typus: Otto Hinze, Wesen und Wandlung des modernen Staates (1931), in: ders., Staat und Verfassung, 2. Aufl. 1962, S. 470 ff.; Krüger (Fn. 15), S. 1 ff., 85 ff.; Stephan Skalweit, Der „moderne Staat“, 1975; Anter (Fn. 6), S. 19 ff., 166 ff. 17  Art. 6 Abs. 3 EUV. 18  Art. 10 GRCh, Art. 6 Abs. l-3 EUV. 19  Art. 6 Abs. 2 EUV. 20  Art. 7 EUV. 21  Zum Staatskirchentum Englands: Stefan Mückl, Europäisierung des Staatskirchenrechts, 2005, S. 78. ff.; David McClean, Kirche und Staat im Vereinigten Königreich, in: Essener Gespräche 40 (2007), S. 13 ff. Zum Staatskirchentum Griechenlands: Theodora Antoniou, Das Verhältnis von Staat und Kirche in Griechenland, ebd., S. 157 ff.

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für seine Verteidigung des päpstlichen Primats und des sakramentalen Charakters der Ehe, bevor der König beides aufkündigte und den Widerspruch zu beiden auslebte. Doch das alles beeinträchtigt heute nicht die religiöse Freiheit und Gleichheit der Muslime und Hindus, die im Vereinigten Königreich leben, noch nicht einmal die der Katholiken. – Die lutherische „Volkskirche“ Dänemarks haftet nicht für die Karikaturen des Propheten Mohammed, die den islamischen Mob von Indonesien bis Marokko zu gewalttätigem Zorn entflammen. Sie liefert auch kein Argument dafür, daß die dänische Regierung sich für die Karikaturen hätte entschuldigen müssen. Denn die Karikaturen sind nicht der Regierung zuzurechnen, sondern dem Zeichner und der Zeitung, und diese berufen sich zu Recht auf ihre grundrechtliche Kunst-, Meinungs- und Medienfreiheit. Für diese Freiheitsrechte braucht sich kein Rechtsstaat zu entschuldigen. Er darf es noch nicht einmal um seiner Selbstachtung willen. Dänemark hat sich auch nicht entschuldigt. 2.  Gottesklauseln in säkularen Verfassungstexten Wenn Irland sein Verfassungsgesetz „im Namen der Allerheiligsten Dreifaltigkeit“ beginnt, ähnlich auch Griechenland, braucht sich kein Ire und kein Grieche dem Bekenntnis und dem Glaubenssatz zu beugen. Niemandem droht heute noch das Schicksal des spanischen Arztes und Theologen Michel Servet, der, weil er die Lehre der Trinität in seinen theologischen Schriften bekämpft hatte, 1553 in der calvinistischen Religionsrepublik Genf unter aktiver Beteiligung Calvins und Zustimmung auswärtiger zwinglianischer und lutherischer Autoritäten wegen Gotteslästerung zum Tode verurteilt und verbrannt wurde. Der Genfer Scheiterhaufen, der letzte in Europa, der zur Verteidigung eines christlichen Dogmas angezündet wurde, ist vor Jahrhunderten erloschen. Die Anrufung Gottes in der Präambel der irischen, griechischen, schweizerischen Verfassung (invocatio dei) wie auch der Bezug auf Gott (provocatio ad deum) im Bonner Grundgesetz („Im Bewußtsein seiner Verantwortung vor Gott und den Menschen“) stellen die Säkularität des Staates nicht in Frage.22 Im Gegenteil: sie bestätigen den säkularen Charakter der Verfassung als bloßes Menschenwerk. Aber sie entsagen auch demokratischen Allmachtsphantasien, wie sie sich oftmals an die Doktrin der verfassunggebenden Gewalt heften. Die Verfassung soll nicht das Produkt souveräner Laune des Volkes jenseits von Gut und Böse und das Volk kein irdischer Gott sein. Vielmehr sieht sie sich einem vorge22  Beispiele und Analysen: Peter Häberle, „Gott“ im Verfassungsstaat?, in: Festschrift für Wolfgang Zeidler, Bd. I, 1987, S. 3 ff.; Alexander Hollerbach, Grundlagen des Staatskirchenrechts, in: Josef Isensee/Paul Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland (= HStR), Bd. VI, 1. Aufl. 1989, § 138 Rn. 81; Josef Isensee, Rekurs des Verfassunggebers auf Gott, in: Festschrift für Remigiusz Sobanski, 2000, S. 177 ff.; ders., Die Legitimation des Grundgesetzes, in: HStR XII, 3. Aufl. 2014, § 254 Rn. 40 ff.

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gebenen, potentiell auch religiös fundierten Ethos verpflichtet und bekennt sich zu ihrer Verantwortung. Die Verfassung öffnet sich der Transzendenz. Die rechtliche Öffnung ist der baulichen Öffnung des römischen Pantheon vergleichbar, das an seiner höchsten Stelle, im Zentrum der Kuppel, ein Rund ausspart und so den Blick in den Himmel freigibt. Das Bauwerk in seiner architektonischen Vollkommenheit will nicht vollständig sein. Das Höchste, was Baukunst erreicht, verweist auf ein Höheres, das sich der Baukunst entzieht. Die Krönung der Architektur ist ihre Selbstbescheidung. Die Immanenz verweist auf die Transzendenz. Die Positivisten unter den Verfassungsinterpreten mögen in der Transzendenzoffenheit des Grundgesetzes nichts weiter erkennen als ein Loch im säkularen System, das sie eilends mit der Plane einer systemimmanenten Exegese zuzudecken versuchen. Für den historischen Verfassunggeber dagegen ist der Gottesbezug Ausdruck der Demut und des Respekts vor den unverfügbaren geistigen Mächten der Religion und der Sittlichkeit, die er nicht zu verdrängen und nicht zu ersetzen vermag. Gottesklauseln enthalten keinen Normbefehl. Sie haben überhaupt keine unmittelbar praktische Relevanz. Nicht zufällig ist ihr Standort im Verfassungstext die Präambel. In ihr bringt der Verfassunggeber sein Selbstverständnis zur Geltung. Hier wirbt er Legitimation ein und nutzt eine Legitimationschance. Die Union ringt sich nicht durch zu der Demutsgeste des Gottesbezugs, und sie schlägt leichtfertig die Chance aus, sich – auch – auf das christliche Erbe des Kontinents zu stützen. Auf das Prinzip der Säkularität kann sie sich in dieser Hinsicht jedenfalls nicht berufen. Überhaupt bedeutet Säkularität nicht berührungsängstliche Ausklammerung der Religion aus dem staatlichen Sektor des Gemeinwesens. Das zeigt das Beispiel der Vereinigten Staaten von Amerika. 3.  Politisches Christentum der USA Die USA, die auf strikte Trennung von Staat und Religion bestehen, die niemals eine Staatsreligion und eine Staatskirche kannten, finden zu nationaler Einheit über ein christliches Religionsdestillat, eine Immanenz und Transzendenz verknüpfende Zivilreligion des Volkes, das sich von Gott erwählt fühlt und seine göttliche Erwähltheit kraft seines calvinistischen Prädestinationsglaubens bestätigt sieht durch seinen irdischen Erfolg als Weltmacht.23 Tocqueville beobachtete schon vor zwei Jahrhunderten, daß in der amerikanischen Demokratie ein christliches Ethos die rechtlichen Garantien der Freiheit überlagere und deren Ausübung steuere. „Erlaubt also das Gesetz dem amerikanischen Volk, alles zu 23  Rechtslage und deren Genese: Thomas Gerrit Funke, Die Religionsfreiheit im Verfassungsrecht der USA, 2006; Christian Walter, The „Wall of Separation between Church and State“, in: Christoph Grabenwarter/Norbert Lüdecke (Hrsg.), Standpunkte im Kirchen- und Staatskirchenrecht, 2002, S. 235 ff.; v. Campenhausen/de Wall (Fn. 11), S. 347 ff.

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tun, so hindert die Religion es, alles auszuüben, und verbietet ihm, alles zu wagen. Darum muß die Religion, die sich bei den Amerikanern niemals unmittelbar in die Regierung der Gesellschaft einmischt, als die erste ihrer politischen Einrichtungen gelten.“ Wenn vielleicht auch nicht alle Amerikaner an ihre Religion glaubten, so hielten diese doch alle zur Erhaltung der republikanischen Einrichtungen für nötig.24 „One nation under God“, so heißt es seit 1954 in dem Fahneneid, der bei öffentlichen Anlässen sowie in den Schulen gesprochen wird. „In God We Trust“, so lautet der Leitspruch der Vereinigten Staaten. Nach dem amerikanischen Bürgerkrieg löste er das vormalige Motto ab, das lediglich säkular föderale Bedeutung hatte: „E Pluribus Unum“. „In God We Trust“, so steht es geschrieben auf den Dollarscheinen. Gottvertrauen stützt Geldvertrauen. Selbst die US-Währung sucht und findet sakralen Rückhalt. Bisher ist noch kein Fall bekannt geworden, daß irgendwo in der Welt ein religionskontaktscheuer Laizist aus Gewissensgründen die Annahme einer Dollarnote verweigert hätte. Seit jeher gehören Gebet, religiöses Bekenntnis und religiöses Ritual zur Selbstdarstellung des Staates. Auszüge aus dem Protokoll der Amtseinführung des Präsidenten Obama zum 21. Januar 2009: [17:50 Uhr] Der Geistliche Rick Warren spricht das Vaterunser. [18:05 Uhr] Der Präsident wird vereidigt, die Hand auf einer Bibel, die schon Abraham Lincoln 1861 bei seiner Amtseinführung verwendet hat; wie seine Vorgänger fügt er der Eidesformel hinzu: „So help me God.“ [18:26 Uhr] Präsident Obama beendet seine Rede zur Amtseinführung mit den Worten „God bless you and God bless the United States of America“. [18:30 Uhr] Reverend Joseph E. Lowery segnet den neuen US-Präsidenten.

4.  Religion als soziale Realität Der säkulare Staat hat kein Sensorium für die Wahrheit der Religion. Das heißt aber nicht, daß er blind wäre für die Wirklichkeit der Religion und daß er nicht die Notwendigkeit begriffe, sich auf diese Wirklichkeit einzustellen. Die Mitgliedstaaten haben aus ihren jeweiligen Gegebenheiten und Erfahrungen, Traditionen und aktuellen Bedürfnissen heraus ihre Position gegenüber der Religion und den Religionsgemeinschaften festgelegt und ihre Beziehungen zu ihnen rechtlich geregelt. In den religionsrechtlichen Regelungen vergewissert sich der Staat in wesentlicher Hinsicht seiner Identität. Das ist ein staatsrechtliches Thema, das seinen angemessenen Ort in der Verfassung findet.25 Der Staat grenzt seine säku24  Alexis de Tocqueville, De la démocratie en Amérique (1835 – 40), dt., Über die Demokratie in Amerika, hrsg. von Jacob P. Mayer, 1976, S. 39. 25  Josef Isensee, Staat und Verfassung, in: HStR II, 3. Aufl. 2004, § 15 Rn. 188 f.

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lare Sphäre ab von der sakralen, stellt seine Forderungen und macht seine Angebote. Ob und wie weit die religiösen Potenzen, zumal die Kirchen, die Angebote annehmen und den Forderungen genügen, ob ihre Sicht der seinen kompatibel ist, entscheiden sie jeweils für sich. Doch wirkt sich ihre Entscheidung aus auf die Konsistenz des Gemeinwesens, seine Spannungen wie seinen inneren Frieden. Jeder Staat hat sein eigenes Religionsrecht. Gleichwohl lassen sich in Europa drei idealtypische Konzepte erkennen: das traditionelle Modell der Staatskirche (England), das laikale Trennungsmodell (Frankreich) und das Kooperationsmodell (Deutschland).26 Doch gibt es gemeinsame Prinzipien. Alle gehen von der individuellen wie kollektiven Religionsfreiheit aus und arrangieren sich auf institutioneller Ebene mit den Kirchen und Religionsgemeinschaften.27 Der Staat sieht sich als säkulare Organisation, die sich zu religiösen Fragen, doch nicht zu den Realien neutral verhält. Er läßt zwischen den Kirchen und Religionsgemeinschaften Parität walten, eine Parität, die nach deren realer Bedeutung, nicht aber nach dem Inhalt des Glaubens gewichtet ist.28 Er erkennt sie nicht nur in ihrem geistlichen, sondern auch in ihrem sozialen und kulturellen Wirken an.29 Laut Vertrag über ihre Arbeitsweise pflegt die Union mit den Kirchen sowie den Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften „in Anerkennung ihrer Identität und ihres besonderen Beitrags einen offenen, transparenten und regelmäßigen Dialog“.30 Darin erkennt sie diese als reale Größen an, als Machtfaktoren innerhalb der Zivilgesellschaft, gelöst von der eigentlichen, geistlichen Mission, und geht mit ihnen ebenso um wie mit Gewerkschaften und Unternehmensverbänden. Kraft desselben Vertragsartikels achtet die Union „den Status, den Kirchen und religiöse Vereinigungen oder Gemeinschaften in den Mitgliedstaaten nach deren Rechtsvorschriften genießen“, und beeinträchtigt ihn nicht.31 Damit wird kein eigenes europäisches Religionsrecht begründet,32 vielmehr die Möglichkeit eines solchen geradezu verworfen. Die Materie liegt in der ausschließlichen Kompetenz der Mitgliedstaaten. In deutscher Sicht gehört sie zu deren in26 

Stefan Mückl, Europäisierung des Staatskirchenrechts, 2005, S. 59 ff., 554 ff. Mückl (Fn. 26), S. 555. 28  Martin Heckel, Die religionsrechtliche Parität, in: Joseph Listl/Dietrich Pirson (Hrsg.), Handbuch des Staatskirchenrechts der Bundesrepublik Deutschland, 1. Bd., 2. Aufl. 1994, S. 589 ff.; Mückl (Fn. 26), S. 233 ff., 557 ff. 29  Mückl (Fn. 26), S. 558. 30  Art. 17 Abs. 3 AEUV. 31  Art. 17 Abs. 1 AEUV. Dazu Stefan Mückl, Grundlagen des Staatskirchenrechts, in: HStR VII, 3. Aufl. 2009, § 159 Rn. 47 ff. 32  Ein solches nehmen aber an: Rudolf Streinz, in: ders. (Hrsg.), EUV/AEUV Kommentar, 2. Aufl. 2012, Art. 17 AEUV Rn. 2, 5; Florian Schmidt, in: Jürgen Schwarze (Hrsg.), EU-Kommentar, 3. Aufl. 2012, Art. 17 AEUV Rn. 12 („europäisches Religionsverfassungsrecht“). 27 

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tegrationsresistentem Hausgut. Nach Auffassung des Bundesverfassungsgerichts berühren Entscheidungen zum Status von Kirchen, Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften wie Entscheidungen über die Einbeziehung des Transzendenten in das öffentliche Leben „in besonderem Maße gewachsene Überzeugungen und Wertvorstellungen, die in spezifischen kirchlichen Traditionen und Erfahrungen verwurzelt sind. Demokratische Selbstbestimmung erfordert hier, daß die jeweilige durch solche Traditionen und Überzeugungen verbundene politische Gemeinschaft das Subjekt demokratischer Legitimation bleibt“.33 Anders gewendet: Der Kompetenzvorbehalt schützt die religionsrechtliche Eigenständigkeit der Mitgliedstaaten und sichert so einen Faktor ihrer nationalen Identität.34 Er dient nicht dem Schutz der Kirchen und Religionsgemeinschaften. Sie erhalten hier kein supranationales Grundrecht, wohl aber einen möglichen Rechtsreflex.35 Dennoch werden die Beziehungen zwischen Staat und Kirche nicht vollständig aus dem Geltungsbereich des Europarechts herausgenommen. Soweit das staatliche Recht die Teilhabe der Religionsgemeinschaften und ihrer karitativen und sonstigen Einrichtungen am Markt begünstigt, aktualisieren sich für sie die europarechtlichen Bestimmungen des Wettbewerbsrechts, das Beihilfe- und das Diskriminierungsverbot, der Datenschutz, die Grundfreiheiten. Allerdings werden sie in der Regel abgefangen durch die Achtung, welche die EU dem mitgliedstaatlichen Status der Kirchen schuldet (Art. 17 Abs. 1 EUV) und die Achtung der nationalen Identität (Art. 4 Abs. 2 EUV).36 Doch das Ergebnis steht nicht von vornherein fest. Es geht aus Abwägungen hervor, die immer unsicher sind, und von subjektiven Einschätzungen derer abhängen, die darüber entscheiden, ob und wieweit ein katholischer Kindergarten oder ein evangelisches Krankenhaus als wirtschaftliches Unternehmen zu behandeln und wie die in ihnen institutionalisierte Religionsausübung gegenüber den supranationalen Regulierungs-, Sozialund Egalisierungsinteressen zu gewichten ist. Die latente Gefahr besteht, daß die 33  BVerfGE 123, 267 (363) = JZ 2009, S. 890 (dazu Klaus Ferdinand Gärditz/Christian Hillgruber, JZ 2009, S. 872 und Claus Dieter Classen, JZ 2009, S. 881). 34  Art. 4 Abs. 2 S. 1 EUV. Dazu Markus Heintzen, Die Kirchen im Recht der Europäischen Union, in: Festschrift für Joseph Listl, 1999, S. 29 (35 ff.); Sebastian MüllerFranken, Staatliche Religionsförderung und Europarecht, in: Matthias Pulte/Ansgar Hense (Hrsg.), Grund und Grenzen staatlicher Religionsförderung, 2014, S. 185 (193 f.). 35  Christoph Grabenwarter, Die Kirchen in der Europäischen Union, in: ders./Lüdecke (Fn. 23), S. 60 ff.; Hans Michael Heinig, Die Stellung der Kirchen und Religionsgemeinschaften in der europäischen Rechtsordnung, in: Peter-Christian Müller-Graff/Heinrich Schneider (Hrsg.), Kirchen und Religionsgemeinschaften in der Europäischen Union, 2003, S. 125 (139 f.); Hermann Reichold, Verfassungs- und europarechtliche Fragen der Kirchenautonomie im Arbeitsrecht, in: Katharina Ebner et alii (Hrsg.), Staat und Religion, 2014, S. 111 (115 ff.). 36  Müller-Franken (Fn. 34), S. 191 ff.

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säkulare Regulierungswalze über religiöse Besonderheiten hinwegrollt und das geistliche Proprium zerquetscht, das ihr erzieherisches und karitatives Wirken leitet und ihr Dienstrecht prägt.37 5.  Semantische Christlichkeitsprüderie Es ist geradezu ein Ausreißer, daß der Lissabon-Vertrag neben nicht weiter definierten „religiösen“ Vereinigungen und Gemeinschaften ausdrücklich die Kirchen nennt,38 also spezifisch christliche Organisationen. Ansonsten hält er sich auf unverfänglicher Abstraktionshöhe, wenn er sich überhaupt auf das heikle Thema Religion einläßt, was er allerdings beim Grundrecht der Religionsfreiheit und beim Verbot der Diskriminierung aus Gründen der Religion nicht vermeiden kann.39 Hier verwendet er einen inhaltsoffenen, säkularen Rahmenbegriff der Religion. Wenn die EU die einschlägigen Normen anwendet, muß sie auch definieren, was sie unter Religion versteht. Was sie nicht definieren kann, das kann sie auch nicht achten und nicht schützen.40 Der Kampf um die Wörter beginnt im Jahr 1999 mit dem Versuch, die Berufung auf das „christliche Erbe“ in die Präambel der Grundrechte-Charta einzubringen. Schließlich kommt ein Kompromiß heraus, die Formel des „geistig-religiösen und sittlichen“ Erbes. Doch auch das Beiwort „religiös“ ist eine eigenwillige Zutat der deutschen Fassung, die in den anderen Fassungen fehlt. In der englischen steht schlicht „spiritual and moral“, in der französischen „spirituel et moral“. Dagegen überwindet der Lissaboner Vertrag die semantische Berührungsangst und sagt von sich in der Präambel, daß er „aus dem kulturellen, religiösen und humanistischen Erbe Europas“ schöpfe, ohne aber das religiöse Erbe näher zu spezifizieren. Das hatte dagegen zuvor ein erster Formulierungsvorschlag für den Verfassungsvertrag zu leisten versucht und Quellen der Überlieferung angeführt: am Anfang die griechische und die römische Zivilisation, am Ende die Philosophie der Aufklärung, dazwischen aber die namenlose Nebelzone eines diffusen „geistigen Strebens“, von dem Europa durchdrungen gewesen sei und das in seinem Erbe fortlebe.41 Aus Scheu, das Kind beim Namen zu nennen, eine mühsame

37 Näher Stefan Mückl, in: HStR VII (Fn. 31), § 159 Rn. 50 ff.; von Campenhausen/ de Wall (Fn. 11), S. 360 ff.; Gregor Thüsing, Grund und Grenzen der besonderen Loyalitätspflichten des kirchlichen Dienstes, in: Essener Gespräche Bd. 46 (2012), S. 129 (132 ff.); Christian Walter, Kirchliches Arbeitsrecht vor den Europäischen Gerichten, in: ZevKR 57 (2012), S. 233 ff.; Reichold (Fn. 35), S. 111 (115 ff.); Heinig (Fn. 35), S. 129 ff. 38  Art. 17 Abs. 1 und 3 AEUV. 39  Art. 10 Abs. 1 und Art. 23 GRCh sowie Art. 10 AEUV. 40  Josef Isensee, Wer definiert die Freiheitsrechte?, 1980, S. 23 ff. 41  CONV 777/03. Diskussion im Konvent am 4. 6. 2003, CONV 779/03.

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sprachliche Verrenkung. Der Vorschlag landete allerdings im Mülleimer der Vertragsmaterialien. Der Verfassungsvertrag selbst erwies sich als Totgeburt. Geblieben ist jedoch die Tendenz der europäischen Verträge, dem Christlichen keinen eigenen Platz im Gedächtnis der Union zuzuerkennen, es als mögliches historisches Legitimationsargument auszuscheiden und als Identitätsmerkmal Europas zu verleugnen. Der türkische Ministerpräsident Erdogan trifft die Europäische Union an der empfindlichen Stelle ihrer Christlichkeitsprüderie, wenn er ihr vorhält, daß, falls sie sich dem Beitrittsverlangen der Türkei widersetze, sie ein „Club der Christen“ sein wolle. Doch – da sei Gott vor, den die EU nicht nennen darf – das will sie nie und nimmer sein.

III.  Christliche Einheit des alten Kontinents 1.  Divergenz von Staatenverbund und Erdteil Was ist das Europäische an der Europäischen Union? Und was ist am Europäischen christlich? Im heutigen Sprachgebrauch steht der Name Europa für die Europäische Union. Das ist ein politischer Erfolg, doch auch eine Sinnverkürzung und Sinnverschiebung. Die Identifikation des Wortes mit der supranationalen Organisation versteckt die ursprüngliche Bedeutung als Kontinent. Sie bürgert die Schweiz, Norwegen und so manches andere Land, das ihr nicht angehört, semantisch aus. An sich besteht Klarheit darüber, daß die EU sich nicht zu globaler Einheit entwickeln, sondern eine kontinentale Einheit verbleiben möchte. Doch das löst nicht die Frage nach den Grenzen. Vielmehr wirft es die Frage gerade auf. Sie wird praktisch, seit Beitrittsverhandlungen mit der Türkei geführt werden und Georgien wie die Ukraine Beitritt begehren. Sind gerade einmal fünf Prozent des Staatsgebietes der Türkei diesseits des Bosporus Grund, sie in die EU aufzunehmen? Reicht Europa künftig bis an die Quellen des Tigris, nach Transkaukasien und über das sogenannte „europäische“ Rußland hinaus bis an das Japanische Meer? Die EU, die sich in den Grundsatzbestimmungen ihrer Verträge so redselig gibt, scheut sich, ihre geographischen Grenzen zu bestimmen, aus Sorge, sich in ihrem Erweiterungsdrang selbst zu behindern und den Kreis der möglichen Beitrittsprätendenten vorzeitig einzudämmen. Die Hemmung der EU hat einen subkutanen Zusammenhang mit der Hemmung, die christlichen Wurzeln offenzulegen. Wenn es eine europäische Identität der Union geben soll, muß sich Europa definieren lassen. Ohne Grenzen keine Identität. Doch Europa, diese westliche Halbinsel der eurasischen Landmasse, hat keine „natürliche“ Ostgrenze, und auch die vermeintlich „natürlichen“ Grenzen sind Kunstprodukte, von menschlicher Willkür bei der Vermessung des Planeten gezogen. Europa bildet überhaupt keine geographische Einheit, sondern eine geistige: den Raum, den

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das Selbstbewußtsein der Europäer für sich selbst bestimmt und gegen andere Räume abgrenzt. Europa ist der einzige Kontinent, der sich selbst definiert, indes alle anderen vom europäischen Standort her definiert werden. Europa ist Subjekt und Objekt zugleich, die anderen nur seine Objekte. Europa, das die politische Weltherrschaft verloren hat, beansprucht weiterhin die Weltherrschaft über die Begriffe, welche die Welt aufteilen und ordnen.42 2.  Christliche Gründung Ist der Geist, der diesen Kontinent konstituiert, ein christlicher Geist? Diese Frage stöbert ganze Schwärme von Nein-Antworten auf, mit den Stich- und Schlagworten von Säkularität, Pluralismus, Individualismus, Subjektivismus, Modernität, Toleranz, Menschenrechten, Freiheit; das alles verbunden mit einem Sündenregister des Christentums von Kreuzzügen, Glaubenskriegen, Inquisition, Intoleranz. Die Werte des modernen Europa, so ein geläufiges Klischee, seien geradezu Ausdruck der Emanzipation vom Christentum. Vorab: das Christentum ist keine genuin europäische Religion, und es will auch keine sein. Sein Ursprung liegt in Vorderasien wie der des Judentums und des Islam auch. Es hat von Anfang an, die Beschränkung auf ein auserwähltes Volk und auf ein gelobtes Land hinter sich lassend, in orbem universum gestrebt und sich an die ganze Menschheit gerichtet. Dennoch hat das Christentum Europa nachhaltig geprägt. Seit Kaiser Konstantins Staatsreligion im Römischen Reich, hat es dessen Untergang im Westen wie im Osten überlebt, sich über den Limes hinaus bis Irland und Skandinavien verbreitet und eine geistlich-kulturelle Einheit hergestellt, die alle Unterschiede der Sprachen und Völker, alle politischen Gegensätze und Machtkämpfe überlagert. Bis heute bezeugen die Klosterkirchen der Benediktiner und Zisterzienser von Montecassino bis Hildesheim, von Alcobaça bis Doberan die Einung des alten Europa im christlichen Glauben. Auf der anderen Seite bewirkten die Spaltungen des Glaubens auch Spaltungen Europas als Kontinent des Geistes; am tiefsten vor einem Jahrtausend das Schisma zwischen dem lateinischen und dem griechischen Christentum, das den Graben zwischen West und Ost aufgerissen hat, der das Baltikum von Rußland, Ungarn von Rumänien, Kroatien von Serbien trennt, die Ukraine durchzieht und hier – unter nationalistischen Vorzeichen – Bürgerkrieg entfacht und auswärtige Intervention auslöst. Die Reformation ein halbes Jahrtausend später hat das lateinische Europa in Nord und Süd geteilt, mitten durch Deutschland hindurch. Doch die alte lateinische Einheit hat sich dadurch nicht aufgelöst, sondern ausdifferenziert. Der Islam hat ungewollt die innere Einheit Europas gestärkt und der Christenheit Grenzen aufgezwungen, als er mit der Eroberung Nordafrikas die mit42  Josef Isensee, Europa – die politische Erfindung eines Erdteils, in: ders. (Hrsg.), Europa als politische Idee und als rechtliche Form, 1993, S. 103 (113 ff.).

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telmeerische Gegenküste zu Europa besetzte. Wo Augustinus, Vater der Kirche und Vater des Abendlandes, gewirkt hatte, erlosch das Christentum. Abendland fiel an Morgenland. Okzident verwandelte sich in Orient. Später wurde der Islam seinerseits vom spanischen Boden vertrieben, um dem Christentum Platz zu machen. Doch während der Islam Granada räumte, eroberte er Konstantinopel. Nun fiel er über den Balkan her und brach sich erst an den Wällen Wiens. Angesichts der Bedrohung durch den Islam wurden sich die verfeindeten Völker und Konfessionen Europas ihrer christlichen Einheit bewußt. „Europa verdankt seinen Feinden fast ebensoviel wie seiner eigenen Kraft“, schreibt Reinhold Schneider. Was die Türken und Araber wider ihren Willen zur Erweckung und Festigung europäischen Bewußtseins und Gemeinschaftsgefühls getan hätten, sei kaum zu ermessen.43 Nach dem Ende der Türkenherrschaft sind islamische Inseln auf dem Balkan zurückgeblieben. Auf dem Balkan stoßen heute Islam, orthodoxes und katholisches Christentum in ihren staatlichen Formatierungen aufeinander, immer noch unversöhnte Widersprüche. Von westeuropäischer Warte werden diese Konflikte hochnäsig als Symptome der historischen Verspätung der Balkanvölker gesehen, indes hierzulande die Aufklärung längst das religiöse Gewaltpotential entschärft, und an seine Stelle den Verfassungsfrieden von Menschenrechten und Demokratie gestellt habe. In Westeuropa hat sich das Christentum nach langen Konflikten mit der Aufklärung versöhnt und mit Menschenrechten und Demokratie Freundschaft geschlossen. Die apokalyptischen Züge seines Ursprungs haben sich verloren. Der Glaube an die Transzendenz ist weithin dem Drang zur Selbstverwirklichung im Diesseits gewichen, die Sorge um das Seelenheil der Sorge um irdisches Wohlergehen. Die christliche Religion befindet sich auf dem Rückzug und dünnt aufklärerisch aus zu Lebenshilfe und Kontingenzbewältigung. Allen Austrittswellen zum Trotz sind die Kirchen gleichwohl eindrucksvolle Institutionen geblieben.44 Der Kirchenglaube geht allerdings immer mehr über in selektive, subjektive Privatüberzeugungen derer, die sich für Christen halten. Dagegen drängen Sekten aller Art in den entkirchlichten religiösen Leerraum, mehr aber noch der Religionsimport eines glaubenskräftigen Islam. In einem neuartigen Nebeneinander der Religionen lassen sich auch Tendenzen neuartiger religiöser und religiös-ethischer Profilierung beobachten.45 43  Reinhold Schneider, Der Friede der Welt (1956), in: ders., Gesammelte Werke, Bd. 8, 1977, S. 361 (366 f.). 44 Soziologische Bestandsaufnahme und Deutung: Andreas Püttmann, Gesellschaft ohne Gott, 2010; Franz-Xaver Kaufmann, Kirchen, Religion und sozialer Wandel, in: Katharina Ebner et alii (Fn. 35), S. 7 ff. 45 Zu religionspolitischen Trends in „nachaufgeklärten Modernisierungsprozessen“: Hermann Lübbe, Politik und Religion nach der Aufklärung, in: ders., Politik nach der Aufklärung, 2001, S. 39 (60 ff.).

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Die Probleme, die der Islam heute Europa bereitet, kommen nicht von außen, sondern von innen: aus der Präsenz von Millionen muslimischer Zuwanderer, von denen viele an ihrer Herkunftsreligion und -kultur festhalten, eine Diaspo­ ramentalität entwickeln, ihre Umwelt feindselig betrachten und sich hartnäckig weigern, die Spielregeln der offenen, pluralistischen Gesellschaft anzuerkennen. Sie reiben sich nicht an den christlichen Kirchen, sondern an der westlichen Lebenswelt und wehren sich gegen die Zumutungen der Moderne. Deshalb lassen sie sich auch nicht mit der Moderne versöhnen, wenn das Christentum genötigt wird, sein religiöses Proprium im Namen der Toleranz preiszugeben und seinen Wahrheitsanspruch zu relativieren. Vollends fördert Europa nicht die Integration der Muslime, wenn es die religiösen Elemente seiner Herkunft verdrängt und das Christentum aus seinem Gedächtnis verbannt. 3.  Umwertung christlicher Werte Kann unter solchen Umständen das Christentum mehr als akademischhistorische Aufmerksamkeit erwarten? Ist sein Nachlaß nicht längst zerfallen und verschleudert? Sind seine Lehren und Werte nicht längst abgelöst durch politische Werte, wie sie der Vertrag über die Europäische Union katalogisiert, also Menschenwürde und Menschenrechte, Freiheit, Gleichheit, Demokratie, Rechtsstaatlichkeit?46 Bilden diese nicht anstelle des Christentums die neue Weltmission, die der Westen heute mit politischer Predigt, Entwicklungshilfe und humanitärer Intervention betreibt?47 Darf das Christentum heute noch auf Anerkennung als geistige Grundlage Europas hoffen? Die Antwort: es darf. Denn selbst der religiös unmusikalische Zeitgenosse, der sich mit dem Wertekatalog der EU abfindet, kommt nicht um die Erkenntnis herum; daß diese Werte nicht zufällig auf dem christlich imprägnierten Boden Europas gewachsen, daß sie in einem hohen Grade durch das Christentum vorgeprägt sind; und daß selbst die vorchristlichen Einflüsse des Judentums, der griechischen Philosophie und der römischen Institutionen durch das Christentum vermittelt und ihm anverwandelt worden sind.

IV.  Christliche Prämissen der Moderne 1.  Aufklärung Die Geschichte des Christentums ist von Anfang an ein Prozeß der Aufklärung. Sie ergibt sich schon aus dem jüdisch-christlichen Gottesbild: Da Gott sich als Geist offenbart, hat die Dingwelt nicht göttlichen Charakter. Sie ist weltlich 46  47 

Art. 2 S. l EUV. Josef Isensee (Hrsg.), Menschenrechte als Weltmission, 2009.

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und so dem Zugriff des Menschen verfügbar. Das Christentum bannt die magische Angst vor der Natur, entzaubert die Erde und lädt den Menschen ein, sie sich untertan zu machen. Wenn der Blitz nicht mehr von einem Gewittergott Zeus oder Donar geschleudert wird, sondern ein physikalischer Akt ist, bildet der Glaube kein Hindernis, den Blitzableiter zu erfinden und die Feuerversicherung einzuführen. Indem das Christentum die Baum- und Quellnymphen, die Erdund Luftgeister, den Sonnengott und die Mondgöttin vertreibt, bleiben lediglich Sachen zurück, über die der Mensch ohne religiöse Hemmungen verfügen kann. Schiller trauert den Göttern Griechenlands nach und beklagt die Verödung der Welt durch den einen, den aufklärerisch-christlichen Gott: „Alle jene Blüten sind gefallen Von des Nordes schauerlichem Wehn, Einen zu bereichern unter allen, Mußte diese Götterwelt vergehn. Traurig such‘ ich an dem Sternenbogen, Dich, Selene, find‘ ich dort nicht mehr; Durch die Wälder ruf‘ ich, durch die Wogen, Ach! sie widerhallen leer.“48

Am Anfang steht nicht die Natur, sondern der Logos. Das Reich Gottes, das Christus verkündet, ist nicht von dieser Welt, aber es entbindet Zuwendung zur Welt im Handeln wie im Erkennen, Aktivität und Rationalität. Es legitimiert Kritik an dieser Welt, an allem Vorfindlichen, auch der vorgefundenen Religion. Das Christentum setzt sich ab vom Pharisäerwesen und übt Kritik am äußerlichen, verkrusteten Verständnis des Gesetzes. Seine hohen Forderungen nach Entweltlichung richten sich auch gegen sich selbst, seine Neigungen zu Weltlichkeit. Die Wirklichkeit von Religion und Kirche, deren Pragmatismus und Kompromißhaftigkeit unterliegen der permanenten innerchristlichen Selbstkritik. Selbst die Auslegung der Heiligen Schrift folgt der Vernunft. Die kanonischen Texte gelten zwar als von Gott inspiriert, doch nicht von Gott verfaßt – im Unterschied zum Koran, dessen Worte nach muslimischem Glauben von Allah unmittelbar oder mittelbar über den Erzengel Gabriel dem Propheten diktiert worden sind. Der Koran ist angelegt auf Rezitation, nicht auf Interpretation, jedenfalls nicht auf methodische, wissenschaftliche Interpretation. Die Evangelien und die Apostelbriefe sind dagegen selbst bereits Interpretationen des Wirkens und der Botschaft Jesu, und sie ziehen weitere Interpretationen nach sich, entbinden wissenschaftliche Exegese und Textkritik.

48 

Friedrich Schiller, Die Götter Griechenlands (Erstfassung 1788, Verse 153 – 160).

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Das Christentum enthält keine politische und keine soziale Botschaft: Vom Reich Gottes her gesehen ist es gleichgültig, ob jemand Herr ist oder Sklave, reich oder arm, wenn er nur Gottes Gebot erfüllt.49 Gott kennt kein Ansehen der Person.50 Alle politischen Mächte und sozialen Ordnungen werden zunichte vor Jesus, der die Gewaltigen vom Thron stößt und die Niedrigen erhöht, der die Hungrigen mit Gütern füllt und die Reichen leer ausgehen läßt.51 Dennoch hat das Christentum, wie Jacob Burckhardt feststellt, den „größten Umschlag“ bewirkt, der jemals vorgekommen ist.52 Im Lichte des Reiches Gottes werden alle irdischen Reiche relativiert. Jede menschliche Ordnung gerät unter Rechtfertigungszwang vor einer transzendenten Ordnung, die ihr unverfügbar vorgegeben ist. Der Christ akzeptiert den Staat, wie immer er verfaßt ist, nur deshalb, weil er seine Gewalt von Gott empfängt. Er leistet ihm den bürgerlichen Gehorsam, doch nicht aus Furcht vor dessen Sanktionen, sondern aus Einsicht in die Anordnung Gottes.53 Diese aber ist nicht nur Grund, sondern auch Grenze der Staatsgewalt. Daß der Geist der Aufklärung, der alles Vorfindliche, Traditionen und Institutionen in Frage stellt und ihre Legitimation einfordert, auf das Christentum zurückgeht, stellt Nietzsche fest: „In der Tat hat erst das Christentum das Individuum herausgefordert, sich zum Richter über alles und jedes aufzuwerfen, der Größenwahn ist ihm beinahe zur Pflicht gemacht: es hat ja ewige Rechte gegen alles Zeitliche und Bedingte geltend zu machen! Was Staat! Was Gesellschaft! Was historische Gesetze! Was Physiologie! Hier redet ein Jenseits des Werdens, ein Unwandelbares in aller Historie, hier redet etwas Unsterbliches, etwas Göttliches: eine Seele!“54 2.  Lebensgefühl Das Christentum prägt die säkulare Mentalität. Das wird deutlich im Kontrast zum Hinduismus. Wenn im Glauben an die Wiedergeburt das Leben als wiederholbar erscheint, entsteht eine Seelenverfassung des Gleichmuts und der Gleichgültigkeit angesichts der Daseinsprobleme, eine lethargische Kultur der stehenden Zeit in der ewigen Wiederkehr des Gleichen. Der christliche Glaube an die Einzigkeit des Lebens als diesseitige Bewährung für das ewige Heil gibt 49 

1 Kor 7,20 – 24; Eph 6,5 – 9; Kol 3,22 – 4,1; 1 Tim 6,1.2; Phlm 1 – 25. Frage der Gleichheit aller Menschen in frühchristlicher Theologie und Praxis Ernst Dassmann, „Ohne Ansehen der Person“, in: FS für Paul Mikat, 1989, S. 475 ff. 51  Lk 1,52, 53. 52 Zitat: Jacob Burckhardt, Weltgeschichtliche Betrachtungen (1905), Ausgabe von Rudolf Stadelmann, 1949, S. 149. 53  Röm 13. 54  Friedrich Nietzsche, Aus dem Nachlaß der Achtziger Jahre, in: ders., Werke, hrsg. v. Karl Schlechta, 3. Bd., 1963, S. 822. 50  Zur

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das Kairós-Bewußtsein. Die knappe, rasch und unwiederbringlich verrinnende Lebenszeit ist hier und heute optimal zu nutzen: als Anstrengung des Läufers in der Rennbahn, als Vorsorge des Bauern für den Tag der Ernte – alles freilich im Blick auf das transzendente Ziel, nicht aber auf die irdischen Güter, die Rost und Motten verzehren. Doch jenseitsorientierte Aktivität, Werkfrömmigkeit und Spiritualität wandeln sich in der Moderne in Entdeckungsdrang, Initiative, Arbeitsethos, innerweltliche Askese.55 „Man lebt nur einmal“: Dem Bewußtsein seiner unwiederbringlichen, einzigen Zeit entspricht die Verantwortung, die der Mensch vor Gott für die Nutzung der ihm zugemessenen Zeit trägt. Dieser zeitbezogenen Verantwortung korrespondiert die organisierte Verantwortung, die Amtsträger für die Erfüllung ihrer politischen Aufgaben tragen.56 Die christliche Einsicht, daß auf Erden kein Paradies herstellbar ist, bedeutet nicht Resignation und heiligt nicht Quietismus. Sie hebt die Pflicht des Christen nicht auf, sich hier und heute in der Welt, wie sie ist, zu bewähren, wohl aber läutert sie die irdischen Hoffnungen und Enttäuschungen, wenn sie zeigt, daß das Ziel der Vollkommenheit im Diesseits niemals erreicht werden kann. Die soziokulturelle Prägekraft des Christentums hat nicht nur Gemeinsamkeit hergestellt, sondern auch Differenz, so die zwischen dem lateinischen Westen und dem griechischen Osten Europas. Selbst die konfessionellen Unterschiede wirken im säkularen Kontext nach. Sie zeigen sich in Arbeitsethos und Unternehmergeist, Parteipräferenz und Wahlverhalten, Sinnlichkeit und Lebensart, Küche und Karneval. 3.  Staat und Rechtskultur Die mittelalterliche Kirche, die sich in einem hohen Grad als Rechtskirche entfaltet, wird zum Prototyp rationaler Herrschaftsorganisation, für Max Weber die erste Anstalt im Rechtssinne überhaupt.57 Sie entwickelt Strukturen, die zum Vorbild für den modernen Staat der Neuzeit werden sollen: hierarchische Entscheidungseinheit, umfassende Gesetzgebungsgewalt, Verwaltungsapparat.58 55 Dazu Max Weber, Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus, 1934, S. 84 ff.; ders., Wirtschaft und Gesellschaft (1922), Studienausgabe von Johannes Winkelmann, 1964, S. 413 ff., 447 ff. 56 Näher Hans Maier, Christentum und Staat: Modelle des Rechts, Entwicklungsphasen der Geschichte, in: Christian Hillgruber (Hrsg.), Das Christentum und der Staat, 2014, S. 31 (47 ff.). 57  Max Weber, Rechtssoziologie, hrsg. von Johannes Winkelmann, 1960, S. 236 ff. (238). Vgl. auch Wolfgang Reinhard, Geschichte der Staatsgewalt, 2. Aufl. 2000, S. 260 f. 58  Ernst-Wolfgang Böckenförde, Zum Verhältnis von Kirche und moderner Welt, in: Reinhard Koselleck (Hrsg.), Studien zum Beginn der modernen Welt, 1977, S. 154 (159 ff.); Peter Landau, Die Bedeutung des kanonischen Rechts für die Entwicklung einheitlicher Rechtsprinzipien, in: Heinrich Scholler (Hrsg.), Die Bedeutung des kanonischen Rechts

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Der moderne Staat, der die mittelalterliche Grundherrschaft ablöst, übernimmt von der katholischen Kirche das Prinzip des Amtes, das diese ihrerseits dem republikanischen Erbe Roms entnommen und sich anverwandelt und schöpferisch fortentwickelt hat.59 Im Amt verwandelt sich die Macht der Organisation in die rechtliche Pflicht des Inhabers zu ihrer treuhänderischen Wahrnehmung. Die Institution löst sich ab von der Person, die für sie handelt. An das Prinzip des Amtes knüpfen die rechtsstaatliche Bindung der Staatsgewalt, die föderale Kompetenzverteilung, die demokratische Legitimation.60 Mit dem Amtsgedanken vermittelt die Kirche antikes Staatsethos, daß staatliche Herrschaft nicht im Eigeninteresse des Herrschenden ausgenützt werden darf und das gute Gemeinwesen durch das Gemeinwohl konstituiert wird: res publica res populi. Die Kirche ist nicht nur Vorbild der weltlichen Macht, sondern auch ihre Widersacherin. Diese emanzipiert sich von deren universalem Supremat und gelangt dadurch zu nationaler Souveränität. In der mittelalterlichen Kirche verwirklicht sich erstmals die Idee der Herrschaft des Rechts. Das kanonische Recht, „das erste moderne westliche Rechtssystem“,61 prägt nachhaltig die Rechtskultur des lateinischen Europa. Aus der Kanonistik entspringt die westliche Jurisprudenz.62 Das corpus iuris canonici, „welches die Erbschaft des römischen Rechts mit weisen Einschränkungen angetreten hatte“,63 ist dem weltlichen Recht des Mittelalters an juridischer Form und Rationalität überlegen. Es wirkt als Vorbild in Stil, Duktus, Systematik, Abstraktion von Rechtsprinzipien aus kontingenter Kasuistik,64 wie auch in seinen ethischen Standards, welche die iustitia durch caritas und misericordia anreifür die Entwicklung einheitlicher Rechtsperspektiven 1996, S. 23 ff.; Reinhard (Fn. 57), S. 259 ff.; Horst Dreier, Kanonistik und Konfessionalisierung, in: JZ 2002, S. 1 (4 ff.). 59 Dazu Max Weber (Fn. 57), S. 237; Hans Hattenhauer, Geschichte des deutschen Beamtentums, 2. Aufl. 1993, S. 11 ff.; Reinhard (Fn. 57), S. 261; Josef Isensee, Das Amt als Medium des Gemeinwohls in der freiheitlichen Demokratie, in: Gunnar Folke Schuppert/ Friedhelm Neidhard (Hrsg.), Gemeinwohl – Auf der Suche nach Substanz, 2002, S. 241 (243 ff.); Dreier (Fn. 58), S. 4 f. 60 Zu Tradition und aktueller verfassungsrechtlicher Bedeutung des Amtsprinzips: Wilhelm Hennis, Amtsgedanke und Demokratieprinzip, in: Festschrift für Rudolf Smend, 1962, S. 51 ff.; Krüger (Fn. 15), S. 253 ff.; Wolfgang Loschelder, Vom besonderen Gewaltverhältnis zur öffentlich-rechtlichen Sonderbindung, 1982, S. 227 ff.; Peter Graf Kielmansegg, „Die Quadratur des Zirkels“, in: Ulrich Matz (Hrsg.), Aktuelle Herausforderungen der repräsentativen Demokratie, 1985, S. 9 ff.; Josef Isensee, Gemeinwohl und öffentliches Amt, 2014, S. 141 ff. 61  Harold J. Berman, Recht und Revolution, 1991, S. 327. Vgl. auch Landau (Fn. 58), S. 45. 62  Berman (Fn. 61), S. 199 ff., 272 ff., 327 ff., 371 ff. 63  Rudolph Sohm, Kirchengeschichte, 13. Aufl. 1902, S. 105. 64  Berman (Fn. 61), S. 410 ff.; Landau (Fn. 58), S. 24 ff., 32 ff.

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chern, aber auch die Rechtssicherheit stärken, zumal den Vertrauensschutz bei Rückwirkung von Gesetzen. Im kanonischen Recht bringt sich ein differenziertes Verständnis von Normativität zur Geltung: die Abänderbarkeit des positiven Gesetzes für die Zukunft, sein Vorrang vor dem Gewohnheitsrecht, sein Nachrang gegenüber dem natürlichen und göttlichen Recht, die Relativierung des Gesetzesbefehls durch die ratio legis (cessante ratione legis cessat ipsa lex)65 und durch ein Notstandsrecht.66 Nachhaltig beeinflußt das kanonische Recht das staatliche Eherecht,67 das Eigentums- wie das Erbrecht.68 Impulse der Rationalität wirken auf den Zivil- und Strafprozeß ein.69 Im kanonischen Recht liegen die Ursprünge zu den rechtsstaatlichen Geboten des „Ne bis in idem“ und des „In dubio pro reo“.70 4.  Menschenbild und Menschenrechte Der Universalitätsanspruch des Christentums ist heute übergegangen auf die politischen Ideen, die europäischem Boden entstammen, aber der gesamten Menschheit zugedacht sind: Menschenrechte und Demokratie. Im Menschenbild des Christentums, das auf Schöpfung und Erlösung gründet, sind wesentliche Züge der modernen Menschenrechte angelegt: die Einheit des Menschengeschlechts, das auf einen gemeinsamen Ursprung zurückgeht, die Gleichheit aller, die von Gott erschaffen sind, die Einmaligkeit jedes einzelnen Menschen, in dem sich ein Gedanke Gottes verkörpert, seine Personalität und Eigenverantwortung. Die Schöpfungs- und Erlösungslehre begründet die Würde des Menschen, und zwar nicht nur für das Abstraktum Menschheit, sondern für jeden einzelnen, der geschaffen und erlöst, zum ewigen Heile berufen und deshalb zu irdischer Bewährung gehalten ist.71 Die dignitas humana kommt dem Menschen als Person zu. Im jüdisch-christlichen Glauben ist er das Ebenbild Gottes, der ihn geschaf65 Dazu Hermann Krause, Cessante causa, cessat lex, in: ZRG Kan. Abt. 46 (1960), S. 81 (83 ff.). 66  Landau (Fn. 61), S. 36. 67  Berman (Fn. 61), S. 372 ff.; Andreas Thier, Kanonisches Recht, in: Jürgen Basedow et alii (Hrsg.), Handwörterbuch des Europäischen Privatrechts, Bd. I, 2009, S. 920 (923 f.). 68  Berman (Fn. 61), S. 378 ff., 387 ff. 69  Landau (Fn. 61), S. 29 ff. 70  Landau (Fn. 61), S. 29 f., 36 f.; Dreier (Fn. 58), S. 2 ff. 71  Zum christlichen Menschenbild und seinem Einfluß auf die modernen Menschenrechte: Walter Kasper, Wahrheit und Freiheit, 1988, S. 14 ff.; Frank-Lothar Hossfeld, Grundzüge des biblischen Menschenverständnisses, in: Anton Rauscher (Hrsg.), Christliches Menschenbild und soziale Orientierung, 1993, S. 9 ff.; Hans Maier, Überlegungen zu einer Geschichte der Menschenrechte, in: Festschrift für Peter Lerche, 1993, S. 43 (48 ff.); ders., Demokratischer Verfassungsstaat ohne Christentum – was wäre anders?, in: Manfred Brocker/Tine Stein (Hrsg.), Christentum und Demokratie, 2006, S. 15 ff.; Henning

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fen hat. Die von seinem Schöpfer verliehene Würde erneuerte sich in der Menschwerdung Gottes.72 Das christliche Ethos der Nächstenliebe, das in der kirchlichen Diakonie erste organisierte Form annimmt, wird Impuls und Vorbild für den Sozialstaat, der die Sache des Schwachen als die Sache der Allgemeinheit begreift. Die Entsprechung des christlichen Menschenbildes mit den modernen Menschenrechten darf jedoch nicht als Kongruenz verstanden werden. Das Christentum zeigt den Menschen in seiner Beziehung zu Gott. Diese aber präjudiziert nicht ohne weiteres die Beziehung zur Staatsgewalt. Die Theologie der Willensfreiheit zieht nicht die Anerkennung grundrechtlicher Willens- und Handlungsfreiheit nach sich, wie auch die Prädestinationslehre kein Argument zugunsten einer autokratischen Staatsform abgibt. Dennoch liegt die Analogie von transzendenten auf immanente Vorstellungen nahe. Die individualistischen und die egalitären Momente, welche die Beziehung zu Gott prägen, strahlen auf die innerweltlichen Beziehungen aus. Wer, vom Glauben an die Freiheit des Christenmenschen durchdrungen, sich von Gott als Person ernstgenommen und zu eigenverantwortlichem Handeln berufen fühlt, wird seine irdische Freiheit gegenüber politischen Mächten verteidigen und sich nicht zum Objekt ihrer Launen hergeben. Vor Gott enden alle menschlichen Unterscheidungen, und damit werden sie auch rechtlich relativiert.73 Die mittelalterlichen Bilder des Jüngsten Gerichts zeigen Hoch und Niedrig, Mann und Frau, Papst und Kaiser, Mönch und Bürger gleichermaßen zur Rechten wie zur Linken des Weltenrichters. Der Glaube an die Gleichheit aller Menschen vor Gott entzündet im Lauf der Geschichte die Forderung an die Gleichheit aller Menschen vor irdischen Autoritäten. Niemand hat das schroffer ausgesprochen als Nietzsche in seinem „Fluch auf das Christentum“: „Die ,Gleichheit der Seelen vor Gott‘, diese Falschheit, dieser Vorwand für die rancunes aller Niedriggesinnten, dieser Sprengstoff von Begriff, der endlich Revolution, moderne Idee und Niedergangs-Prinzip der ganzen Gesellschafts-Ordnung geworden ist – ist christlicher Dynamit.“74 Der „verrückte“ christliche Begriff der Gleichheit habe sich tief ins Fleisch der Moderne vererbt. „… man hat die Menschheit den Satz von der Gleichheit erst religiös stammeln gelehrt, man hat ihr später eine Moral daraus gemacht: was Wunder, daß der Mensch damit endet, ihn ernst zu nehmen,

Ottmann, Athen und Jerusalem – eine Umwertung antiker Werte durch das christlichjüdische Denken?, ebd., S. 29 ff. 72  Josef Isensee, Würde des Menschen, in: Detlef Merten/Hans-Jürgen Papier (Hrsg.), HGR IV, 2011, § 87 Rn. 55 ff., 58 ff. 73  Belege aus alttestamentarischer und frühchristlicher Theologie: Dassmann (Fn. 50), S. 477 ff. 74  Friedrich Nietzsche, Der Antichrist, n. 62 (1888), in: ders., Sämtliche Werke, hrsg. von Giorgio Colli/Massimo Montinar, Bd. 6, 1999, S. 165 (252).

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ihn praktisch zu nehmen! – will sagen politisch, demokratisch, sozialistisch, entrüstungspessimistisch.“75 Bereits in der mittelalterlichen Staat-Kirche-Polarität wird der christliche Dualismus geschichtsmächtig: zwischen Immanenz und Transzendenz, zwischen Profanem und Sakralem, Gesetz und Gewissen.76 Die Unterscheidungen bringen in der Neuzeit weitere, analoge Unterscheidungen hervor: zwischen Recht und Moral, zwischen Institution und Gesinnung, zwischen Natur und Innerlichkeit, zwischen Objektivität und Subjektivität. Die Entzweiung, die vom Christentum ausgeht, führt in ihren politischen Wirkungen das Prinzip Gewaltenteilung herauf, zunächst in der Beziehung von Staat und Kirche, sodann in der von Staat und Gesellschaft, schließlich im Innenbereich der Staatsorganisation zwischen ihren verschiedenen Funktionen. Die Gewaltenteilung setzt die Herrschaft des Rechts als Idee voraus und bringt sie zu praktischer Wirksamkeit. Diese Differenzierung vollzieht sich freilich nicht im ganzen Wirkungskreis des Christentums, sondern allein in seiner westlichen, der lateinischen Hemisphäre Europas. Sie erfaßt nicht die östliche Hemisphäre, die griechische und die russische Orthodoxie. In Konstantinopel wie in Moskau, im zweiten wie im dritten Rom, tritt an die Stelle der heidnischen Imperialreligion die christliche Imperialreligion des Cäsaropapismus. Der religiöse Inhalt wechselt, die politische Struktur bleibt: die monolithische Einheit des Staatswesens, das sich die Kirche einverleibt und das sie als Gegenstand wie als Instrument der Herrschaft behandelt. Aller Bibelexegese und Religionskritik, allen Agnostizismen und Atheismen zum Trotz, läßt sich die christliche Vorprägung Europas nicht verbergen. „Solange man ein atheistisches Frankreich noch als kulturell ,katholisch‘ und ein atheistisches Schweden als kulturell ,protestantisch‘ charakterisieren wird, solange also eine ungläubig gewordene Gesellschaft sich in ihren Lebensgewohnheiten, Wertvorstellungen und ästhetischen Maßstäben aus dem kulturellen Fundus der Religion ernährt, ist ihr moralisches Eigengewicht noch nicht feststellbar.“77

Die Säkularisierung ist kein Gegenargument, sondern geradezu die Bestätigung der christlichen Prägung. Denn die Säkularität ist ihrerseits ein Derivat des Christentums. In dem Rahmen der anderen Weltreligionen lassen sich vergleichbare Vorgänge und Erscheinungen nicht finden. Der säkulare Staat strebt, die Bürger auf eine Zivilreligion einzuschwören und im Bekenntnis zu Menschenrechten, Demokratie und sozialer Gerechtigkeit zu integrieren. Noch nicht einmal darin verleugnet er seine Herkunft. Die europäische Kultur ist „im Guten wie im Bösen auf Dauer vom Christentum und der 75 

Nietzsche (Fn. 54), S. 822. Zum Dualismus des Christentums: Böckenförde (Fn. 58), S. 159 ff. 77  Martin Mosebach, Einleitung, in: Gilbert Keith Chesterton, Orthodoxie, 2011, S. 7 (9). 76 

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Kirche geprägt, auch wo man das nicht wahrhaben will (…), mit der Folge, daß der europäische Staat im Gegensatz zu anderen Arten von Gemeinwesen selbst in seiner säkularsten Variante religiösen Charakter hat“.78

V.  Das lebendige Erbe des Christentums Das christliche Erbe ist kein Steinblock, der, von der Aufklärung zur Statue gemeißelt, seine endgültige Form gefunden hätte. Es ist auch keine fossile Ener­ gie, die mit der Erzeugung der Menschenrechte verbraucht wäre. Vielmehr ist es eine lebendige Quelle, die Hoffnungen, Motivation und Ethos der Menschen nährt. Der säkulare Staat stiftet keinen Lebenssinn und sättigt nicht die transzendenten Bedürfnisse des Menschen. Eben deshalb vermag die Religion ihn zu ergänzen und ihn in seiner Begrenztheit geradezu zu stabilisieren. Denn sie vermag Grundbedürfnisse des Menschen zu stillen, die über den säkularen Horizont hinausgehen auf einen Frieden, der höher ist als alle Vernunft. Hier liegen jene vielberufenen Ressourcen, aus denen der säkulare, freiheitliche Staat lebt, ohne sie um der Freiheitlichkeit willen erzwingen zu können.79 Vitale Religion stärkt den Staat gegen die Versuchung, sich als Ersatzkirche zu betätigen, ganzheitliche Sinnangebote zu machen, auf totale Politisierung auszugehen und zivilreligiösem Missionierungsdrang zu folgen. Das Bundesverfassungsgericht konstatiert, der christliche Glaube und die christlichen Kirchen seien, wie immer man ihr Erbe heute beurteilen möge, von überragender Prägekraft gewesen. Die darauf zurückgehenden Denktraditionen, Sinnerfahrungen und Verhaltensmuster könnten dem Staat nicht gleichgültig sein.80 In der Tat, was der säkulare, freiheitliche Staat nicht erzwingen darf, das kann er im Rahmen seiner verfassungsrechtlichen Handlungsmöglichkeiten, unter Wahrung seiner Neutralitäts- und Paritätspflichten, fördern. Eben das sieht das deutsche Staatskirchenrecht vor: daß der Staat religiöse Aktivitäten als gemeindienlich anerkennt und unterstützt, und daß er mit den Kirchen, in Achtung vor ihrer Unabhängigkeit und Verschiedenheit, auf wichtigen Feldern des Gemeinwesens wie Erziehung, Caritas, Kultur-, Denkmalpflege zusammenarbeitet und so das christliche Erbe für alle, gleich, ob sie glauben oder nicht glauben, fruchtbar macht. Das organisierte Europa braucht sich zu solcher Kooperation nicht aufzuraffen. Denn praktische religionsrechtliche Agenden liegen außerhalb seiner Zu78 

Reinhard (Fn. 57), S. 259. Böckenförde (Fn. 58), S. 69; ders., Der Staat als sittlicher Staat, 1978, S. 36 f.; Josef Isensee, Grundrechtsvoraussetzungen und Verfassungserwartungen an die Grundrechtsausübung, in: HStR IX, 3. Aufl. 2011, § 190 Rn. l95 ff. 80  BVerfGE 93, 1 (22) = JZ 1995, S. 942 (dazu Jörg Müller-Volbehr JZ 1995, S. 996) – Kruzifix-Beschluß, der freilich seiner eigenen Prämisse spottet. 79 Dazu

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ständigkeit. Innerhalb seiner Kompetenz läge es aber, sich auf das christliche Erbe zu besinnen, es anzunehmen, sich zu ihm zu bekennen wie zum Erbe der griechisch-römischen Antike, des Humanismus, der Aufklärung, und mit den Namen Augustinus und Franziskus ebenso unbefangen-affirmativ umzugehen wie mit den Namen Sokrates und Erasmus. Das wäre kein rechtlicher, sondern ein symbolischer Akt: eine legitimatorische Neubegründung. Diese täte der EU gut, seit sie sich immer weniger über eine Kosten-Nutzen-Rechnung empfehlen kann und immer mehr auf die nicht erzwingbare Solidarität der Mitgliedstaaten und Bürger bauen muß. Wenn das organisierte Europa sich mit dem lebendigen Geist des alten Kontinents verbände, könnte es vielleicht zu dem gelangen, was ihm bisher mangelt und was ein erfolgreicher Binnenmarkt, eine eifrige Normenproduktion und vertraglich katalogisierte Werte ihr nicht zuführen: Seele.

Der lange Weg zu „Dignitatis humanae“ Der lange Weg zu „Dignitatis humanae“

Konvergenzen und Divergenzen von kirchlichem Wahrheitsanspruch und verfassungsstaatlichem Freiheitsverständnis* Der lange Weg zu „Dignitatis humanae“. Konvergenzen und Divergenzen von kirchlichem Wahrheitsanspruch und verfassungsstaatlichem Freiheitsverständnis

I.  Das widerspruchsvolle Bild der Geschichte 1.  Sic et non: Ideen von 1789, Menschenrechte, Demokratie „Der römische Papst kann und soll sich mit dem Fortschritt, mit dem Liberalismus und mit der modernen Zivilisation aussöhnen und abfinden“, so spricht Papst Pius IX. im Jahre 1861,1 freilich nicht in der Absicht, ein Ziel seines Pontifikats zu verkünden, sondern eine Gefahr zu benennen, gegen die er ankämpft, und einen Zeitirrtum zu definieren, den er verurteilt. Die Definition geht ein in den „Syllabus complectens praecipuos nostrae aetatis errores“ von 1864, als letzter der 80 lehramtlich katalogisierten „hauptsächlichen Zeitirrtümer“.2 Nimmt man die Textstelle des Syllabus beim Wort, wie es die Zeitgenossen taten,3 unter Vernachlässigung aller exegetischen Überlagerungen durch die seit* Erstveröffentlichung in: Christian Hillgruber (Hrsg.), Das Christentum und der Staat, 2014, S. 51 – 89. 1  „Romanus Pontifex potest ac debunter.et cum progressu, cum liberalismo et cum recenti civilitate sese reconciliare et componere“ (Ansprache „Iamdudum cernimus“, 18. 3. 1861). 2  Pius IX., Syllabus als Anhang der Enzyklika „Quanta cura“ vom 8. 12. 1864. Zitiert wird nach der Quellensammlung von A. F. Utz/B. Gräfin von Galen (Hrsg.), Die katholische Sozialdoktrin in ihrer geschichtlichen Entwicklung, 1976 (= U-G), Bd. I, S. 52 f. Im Referenztext von 1861 heißt es genau; „Ac primi postulant, ut Romanus Pontifex cum Progressu, cum liberalismo, uti vocant, ac recenti civilitate se reconciliet et componat.“ Zitiert nach Pii IX. Pontificis Maximi Acta, Poes prima, Vol. III (1864), S. 220. 3  Das Wortverständnis deckt sich nicht mit dem, was der Papst an sich meint. Im originalen Kontext der Rede vom 18. 3. 1861, aus dem der Satz 80 stammt, versteht der Papst unter „moderner Zivilisation und Liberalismus“ Maßnahmen gegen die Klöster, Quälereien der Geistlichen, Unterstützung der Feinde der Kirche, kurz: ein „System, dazu angetan, die Kirche zu schwächen oder zu stürzen“. Dieser an sich beinahe unverfängliche Text, aus dem Zusammenhang gerissen und als selbständige Sentenz publiziert, ändert im Syllabus seine Bedeutung und wird zur grundsätzlichen Kampfansage an Fortschritt, Liberalismus und moderne Zivilisation. Er provoziert den Spott der antiklerikalen Gazetten, daß der Papst, der Fortschritt und Zivilisation verdamme, im Kirchenstaat Eisenbahnen, Dampfmaschinen und Gasbeleuchtungen verbieten wolle (vgl. R. Aubert, Der Syllabus von 1864, in: StdZ 175 [1965], S. 1 [S. 16]).

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herige Beschwichtigungstheologie, so mag man die These wagen, daß just der von Pius IX. verurteilte „Zeitirrtum“ in weitem Maße das Papsttum der Gegenwart leitet: im Aggiornamento an die moderne Zivilisation und in der Zuwendung zu den politischen Ideen des Liberalismus, zu Menschenrechten und Demokratie. Papst Johannes Paul II. begrüßt in seiner Enzyklika „Centesimus annus“ den Sieg der liberalen Ideen, der im Jahre 1989 in den Ländern Mittel- und Osteuropas seinen Höhepunkt erreicht, aber auch im Zusammenbruch von Diktaturen anderer Weltgegenden sichtbar wird. Mit Genugtuung stellt der Papst fest, daß „einen wichtigen, ja entscheidenden Beitrag“ dabei die Kirche in ihrem Einsatz „für die Verteidigung und die Förderung der Menschenrechte“ erbracht habe.4 Er verwirft den Totalitarismus, zumal in seiner marxistisch-leninistischen Ausprägung, und bekennt sich zum Prinzip der Freiheit, zu den Menschenrechten, zur Demokratie (freilich mit Vorbehalten gegenüber manchen ihrer realen Erscheinungen und ideologischen Begründungen), zur Gewaltenteilung und zum Rechtsstaat, in dem das Gesetz herrscht und nicht die Willkür des Menschen.5 Der Sache nach bekennt sich der Papst damit zum Konzept des Verfassungsstaates, in dem menschenrechtliche und staatsorganisatorische Prinzipien, zentriert um die subjektive Freiheit des Individuums, sich zu integraler Einheit verbinden: die demokratische Begründung der Staatsgewalt und ihre rechtsstaatliche Begrenzung, ihre Strukturierung durch Gewaltenteilung und ihre Bindung an Grundrechte.6 Der Verfassungsstaat, im gängigen Sprachgebrauch die freiheitliche Demokratie, ist das politische Werk der Aufklärung des 18. Jahrhunderts. Überhaupt sind die verhängnisvollen Konflikte, die der Syllabus errorum zwischen Kirche und Welt und zwischen innerkirchlichen Kräften („liberalen“ und „ultramontanen“) ausgelöst hat, teilweise das Ergebnis von Mißverständnissen, die sich aus der unseligen Zitiertechnik und der scheinbaren Klarheit der Zitate ergeben. Zur Geschichte des Syllabus und seiner Wirkungen: R.Aubert, (Fn. 3), S. 17 ff.; ders.,Vaticanum I, (dt.) 1965, S. 25 ff.; ders., Die Religionsfreiheit von „Mirari vos“ bis zum Syllabus, in: Concilium 1 (1965), S. 588 ff.; K. Schatz, Vaticanum I 1869 –1870, Bd. I, 1992, S. 29 ff. Neuere Apologien des Syllabus: J. Listl, Kirche und Staat in der neueren katholischen Kirchenrechtswissenschaft, 1978, S. 139 ff.; J. Ratzinger, Wie entscheidet die Kongregation für die Glaubenslehre?, dt. in: Deutsche Tagespost v. 11. 9. 1986/Nr. 109, S. 7. 4  Enzyklika „Centesimus annus“ vom 1. 5. 1991, n. 22 (dt. Ausgabe des Sekretariats der Deutschen Bischofskonferenz, 1991, S. 26). 5  „Centesimus annus“ (Fn. 4), n. 44 – 48 (S. 52 ff.). 6  Zu den Leitgedanken neuerer päpstlicher Staatslehre, vor allem der Wahrung von Freiheit und Menschenwürde, damit den Grundrechten, und dem sozialen Staatsziel: H. Schambeck, Zur Staatsordnung, in: GS für Anton Burghardt, 1982, S. 95 (97 ff., 100 ff.). – Zum Idealtypus des Verfassungsstaates: J. Isensee, Staat, in: Staatslexikon, hrsg. von der Görres-Gesellschaft (= StL), Bd. 5, 7. Aufl. 1989, Sp. 133 (140 f., 150 ff.). Zur Realisierung des Idealtypus in Deutschland: ders., Staat und Verfassung, in: Josef Isensee/Paul Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland (= HStR), Bd. II, 3. Aufl. 2004, § 15 Rn. 166 ff.

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Das historische Geburtsereignis auf kontinentaleuropäischem Boden ist die französische Revolution. Jedoch ergibt diese kein eindeutiges Paradigma. Sie steht für die Menschenrechte und für deren Perversion zu Jakobinerphrasen, für die liberale Demokratie und für deren Umschlag in Totalitarismus. Die historischen Umstände der französischen Revolution, in der sich der Verfassungsstaat in Kontinentaleuropa Bahn brach, irritieren jedoch den heutigen Papst nicht. Im Gegenteil: bei seinem Besuch in Frankreich bekundet er seine Achtung den Revolutionsidealen der Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit als im Grunde christlichen Ideen, auch wenn er wisse, daß jene, die diese Ideale formulierten, sich nicht auf das Bündnis des Menschen mit der Ewigen Weisheit berufen hätten. Der Papst hält ihnen zugute, daß sie zum Wohle der Menschheit hätten handeln wollen.7 Auf dieser Linie liegt es, daß die katholische Kirche heute Abstand hält zu politischen Kräften, die gegen die Ideen von 1789 angehen, und darauf Bedacht nimmt, sich nicht von Integristen vereinnahmen zu lassen. Im September 1993 hält sie sich zurück bei der Gedenkfeier für den Aufstand der Vendée und an die Greuel seiner Niederwerfung. Der Erzbischof von Paris, Kardinal Jean Marie Lustiger, verhindert, daß am 21. Januar 1993 ein Requiem für König Ludwig XVI. in der Kathedrale Notre Dame zelebriert wird, am Todestag des Königs, 200 Jahre nach seiner Hinrichtung.8 Vergessen scheint heute, daß die katholische Kirche die Hinrichtung als Frevel gegen den christlichsten König, den Gesalbten des Herrn, verdammt und die Revolution als Empörung gegen die gottgewollte Ordnung des Staates verworfen und gegen sie in der Allianz mit den alten Mächten angekämpft hat. Heute geht die Kirche schweigend darüber hinweg, daß sie unter der Verfolgung der Revolution furchtbar hat leiden müssen und ihre Getreuen gewaltigen Blutzoll erbracht haben, von denen viele sogar zur Ehre der Altäre erhoben worden sind, zuerst im Jahre 1906 die 16 Karmeliterinnen von Compiègne, zuletzt 1955 die 16 Märtyrer von Laval.9 Die Sympathie, die Johannes Paul II. den Ideen der Revolution bekundet, und die Gelassenheit gegenüber deren realer Erscheinung steht in schroffem Kontrast zu dem leidenschaftlichen Abwehrkampf der Päpste des 19. Jahrhunderts gegen die Ideen von 1789. Die Revolution war das ungeheure Trauma der Kirche, prägend wie kein anderes seit der Reformation. Repräsentativ ist das Urteil, das sich noch 1895 im Staatslexikon der Görres-Gesellschaft findet: „Die Lobredner der großen Revolution scheinen unempfindlich gegen ihre Gräßlichkeiten zu sein. 7  Die Äußerungen bei einem Besuch Frankreichs 1980 werden zitiert nach A. Grosser, Der schmale Grat der Freiheit, 2. Aufl. 1982, S. 16. 8 Dazu J. Altwegg, Der verdrängte Vatermord, in: FAZ v. 21. 1. 1993, Nr. 17, S. 27. 9  Die Namen der in sieben Proklamationen zwischen 1906 und 1955 seliggesprochenen „Märtyrer von Frankreich“: O. Wimmer/H. Melzer, Lexikon der Namen und Heiligen, 5. Aufl. 1984, S. 894 ff.

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Der unsägliche Jammer des französischen Volkes rührt sie nicht. … Die Tugend verfällt dem Martyrium, und das Laster wird gekrönt; aber die Apologeten der Revolution merken nichts, nicht einmal von ihrer eigenen Einfalt und Charakterlosigkeit. Sie fahren fort im Lobe der großen Revolution“.10 Joseph de Maistre, der die katholische Negation zu äußerster Schärfe zuspitzt, erkennt in der Revolution den „satanischen“ Charakter: „Elle est satanique dans son essence“.11 Als der Papst erstmals nach Ausbruch der Revolution das Wort ergreift – Pius VI. 1791 in seinem Breve „Quod aliquantum“, herausgefordert durch die kirchenfeindlichen Maßnahmen der Nationalversammlung im Zuge der Zivilkonstitution12 –, verurteilt er den neuen Freiheitsgedanken als völlig absurde, aus der Luft gegriffene Doktrin („absurdissimum eius libertatis commentum“), als Widerspruch gegen göttliches Recht und Naturrecht und gegen die Lehre der Kirche, als Frevel, erneut vom Baum der Erkenntnis des Guten und Bösen zu essen. Dem politischen Emanzipationsdrang und dem Willen zu demokratischer Selbstbestimmung stellt er die Gehorsamspflicht gegen die gottgewollte, monarchische Obrigkeit entgegen, unter Berufung auf Paulus (Röm. 13) und auf Augustinus: „Generale quippe pactum est societatis humanae obedire regibus suis“.13 Der Papst verwirft die Gedanken- und Handlungsfreiheit, wie sie die Nationalversammlung der Natur des Menschen zuschreibt, vor allem die Religionsfreiheit, jene aus der Gleichheit aller Menschen und aus ihrer natürlichen Freiheit abgeleitete „wahre Ungeheuerlichkeit“ („quae sane monstra“), daß kein Mensch in der Ausübung seiner Religion behindert werde, und daß jeder selbst darüber befinde, was er über religiöse Fragen denke, rede, schreibe, publiziere. Die Prinzipien der Freiheit und Gleichheit liefen auf nichts anderes hinaus als darauf, die katholische Religion zu vernichten.14 Mit dem Widerspruch, den der Papst gegen die neuen Freiheits- und Gleichheitsrechte sowie gegen die Demokratie erhebt, tritt die Kirche in prinzipielle Opposition zu den politischen Bestrebungen, aus denen der Verfassungsstaat hervorgeht. Der Widerspruch macht kirchengeschichtliche Epoche. Die Nachfolger Pius’ VI. nehmen ihn auf und vertiefen ihn. Der Ton, der im Jahre 1791 angestimmt wird, hallt durch das 19. Jahrhundert bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts. Sein Nachklang ist noch vernehmbar in den Debatten des Zweiten Vatikanischen 10  G. E. Haas, Revolution, in: StL, 4. Bd., 1. Aufl. 1895, Sp. 915 (922). Keine Spur von dieser Polemik findet sich nunmehr in der ausgewogenen, distanzierten und relativierenden Bewertung der Revolution in der jüngsten Auflage des Staatslexikons: E. Schmitt, Französische Revolution, in: StL, Bd. 2, 7. Aufl. 1986, Sp. 664 (667 f.). 11  J. de Maistre, Du Pape, 2. Aufl. 1821, S. XXIII. Vgl. auch ders., Considérations sur la France, 1795, S. 66. 12  Pius VI., Breve „Quod aliquantum“ v. 10. 3. 1791, in: U-G III, S. 2652 (2662 ff.). 13  Zitiert nach Pius VI. (Fn. 12, S. 2664). 14  Pius VI. (Fn. 12), S. 2662 ff.

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Konzils; er verstummt erst, als 1965 die Erklärung über die Religionsfreiheit („Dignitatis humanae“) zustande kommt. 2.  Das theologische Dilemma Die Theologie hat derzeit ihre liebe Not, das „Sic et non“ der Päpste zum verfassungsstaatlichen Erbe der Aufklärung, darin den Verfassungsideen der französischen Revolution, zu bewältigen.15 Der Wahrheitsanspruch der Kirche wehrt sich gegen geschichtliche Relativierung. Sie will sich der Identität ihrer Lehre im Wechsel der Zeiten vergewissern. Das gilt sogar dort, wo ihre Essenz als Kirche allenfalls am Rande berührt wird, wie in den Aussagen zur legitimen Staatsform und zu der Freiheit des Bürgers gegenüber der Staatsgewalt. Die Kirche verschmäht alle bequemen Auswege, die der Zeitgeist offenhält. Sie distanziert sich vom Relativismus und vom Historismus. Sie ergreift auch nicht die Option der Philosophie Hegels, daß sich die Wahrheit im dialektischen Prozeß der Geschichte enthüllt und entfaltet. Schwierigkeiten ergeben sich auch daraus, daß es nicht zum Stil der Kurie gehört, frühere Stellungnahmen förmlich zurechtzurücken oder ausdrücklich zu widerrufen. Im Gegenteil: wenn das Lehramt sich von bisherigen Äußerungen abkehrt und zu neuen Aussagen vorstößt, neigt es in besonderem Maße dazu, sich auf die Tradition zu berufen und auf den Hort der immer schon vorhandenen Erkenntnisse. So versteht sich die Erklärung des Zweiten Vaticanum zur Religionsfreiheit nicht etwa als Wende oder als Neuerung, sondern als Kontinuum. Das Konzil will Antwort geben auf die heute herrschenden Bestrebungen und befragt „die heilige Tradition und Lehre der Kirche, aus denen es immer Neues hervorholt, das mit dem Alten in Einklang steht“.16 Die jüngere Verlautbarung ersetzt nicht die ältere, sondern legt sich über sie. Schicht lagert auf Schicht. Die obere wirkt auf die untere ein, die untere auf die obere zurück, eine Art Kompostierungsprozeß. Die Theologen, die sich heute mit Eifer der neuen Thematik der Menschenrechte und der Demokratie widmen, zeigen wenig Neigung, sich mit den sperrigen Positionen des Lehramtes aus vorkonziliarer Zeit, zumal aus dem 19. Jahr15  Näher zur Interpretation der päpstlichen Verlautbarungen zu den Menschenrechten und ihren Problemen: J. Isensee, Keine Freiheit für den Irrtum, in: ZRG Kan. Abt. LXXIII (1987), S. 296 (299 ff., 302 ff.). 16 Vaticanum II, Declaratio de libertate religiosa („Dignitatis humanae“) n. 1, v. 7. 12. 1965 (zitiert nach K. Rahner/H. Vorgrimler, Kleines Konzilskompendium, 1966, S. 661 f.). Dem Kontinuitätsanspruch dieser Deklaration stimmt zu W. Kasper, Wahrheit und Freiheit, 1988, S. 14 ff. (37). Ablehnend E.-W. Böckenförde, Einleitung zur Textausgabe der Erklärung über die Religionsfreiheit (1968), in: H. Lutz (Hrsg.), Zur Geschichte der Toleranz und Religionsfreiheit, 1977, S. 401 (416 f.). Differenzierend J. Fuchs ,Kontinuität kirchlicher Morallehre?, in: StdZ 1987, S. 242 ff.

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hundert, auseinanderzusetzen und zu entscheiden, ob hier Kontinuität oder Diskontinuität waltet.17 Soweit sie an das Problem rühren, zumeist nur beiläufig, neigen sie überwiegend dazu, Kontinuität anzunehmen und darzutun, daß die heutige Affirmation der Menschenrechte und der Demokratie einer durchgehenden Leitlinie kirchlicher Staatslehre entspricht.18 Die Äußerungen der Päpste, von Pius VI. über Pius IX. bis Pius XII., werden im Lichte der heutigen Auffassungen gedeutet und dabei nicht selten rückwirkend harmonisiert, als zeitbedingt und obsolet beiseite geschoben oder schlicht verdrängt. Die herrschende Tendenz geht dahin, die heutige Position der Kirche historisch zu fundieren und aufzuweisen, daß die Quellen des Verfassungsstaates – auch – im Christentum liegen und daß die Kirche in Lehre wie Praxis den Menschenrechten von jeher zugetan war.19 Auch für diese Sicht gibt die Geschichte Argumente und Belege in Fülle. 3.  Differenzierende Sicht der Staats- und Verfassungstheorie – Fünf Thesen Die theologische Auflösung der Widersprüche ist hier nicht das Thema. Vielmehr geht es um ihre Deutung aus der Sicht der säkularen Staats- und Verfassungslehre. Dabei ist von Anfang an Unterscheidung geboten zwischen den lehramtlichen Äußerungen der katholischen Kirche und der Wirkungsgeschichte des Christentums. Die historischen wie die aktuellen Wirkungen aber, nach denen hier gefragt wird, sind nicht die religiösen Kräfte als solche, sondern ihre politischen und soziokulturellen Folgen für die Genese und für das Leben des Verfassungsstaates. Damit aber wird der Weg frei zu differenzierender Betrachtung. Im Wechsel der Perspektiven ergeben sich folgende Thesen: 1. Die Menschenrechte sind geschichtliches Derivat des Christentums. 2. Die christliche Vorprägung der Gesellschaft, mag sie auch vielfach säkular gebrochen und vermittelt sein, ist heute eine soziokulturelle Voraussetzung für den Verfassungsstaat. 3. In seiner geschichtlichen Entwicklung stieß der Verfassungsstaat auf prinzipiellen Widerstand der katholischen Kirche, der sich gegen wesentliche seiner 17 Analyse: R. Sebott, Religionsfreiheit und Verhältnis von Kirche und Staat, 1972, S. 194 ff. – Literaturbericht: P. Huizing, Über Veröffentlichungen und Themenstellungen zur Frage der Religionsfreiheit, in: Concilium 2 (1966), S. 621 (627). 18 Vgl. J. Ratzinger (Fn. 3), S. 7; J. Punt, Die Idee der Menschenrechte, 1987, S. 209 ff.; W. Kasper (Fn. 16), S. 8 ff.; A. F. Utz, Vom Sinn religiöser Toleranz, in: Deutsche Tagespost v. 18. 4. 1987/Nr. 46, S. 23 f. Dagegen konstatiert J. Fuchs eine „konziliare Wende“ (Fn. 16, S. 248 ff.). 19  Theologische Tiefendimension: W. Kasper (Fn. 16), S. 14 ff., 36 ff. Historisches Material: J. Punt (Fn. 18), S. 17 ff., 87 ff., 175 ff. Kritik an der Harmonisierungstendenz: E.-W. Böckenförde (Fn. 16), S. 416 f.

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Elemente richtete: gegen die souveräne Friedens- und Entscheidungseinheit des Staates und gegen seine Säkularität, gegen Volkssouveränität und Demokratie, gegen die Freiheitsrechte der Meinung, der Presse und der Wissenschaft, vornehmlich aber wider die Religions- und Gewissensfreiheit. 4. Die katholische Kirche hat in langem historischen Prozeß zum Ausgleich mit den Menschenrechten wie überhaupt mit dem Verfassungsstaat gefunden und das in ihnen verkörperte Erbe der Aufklärung sich anverwandelt und zu eigen gemacht. 5. Heute regen sich in der Kirche Bestrebungen, sich dem säkularen Verfassungsstaat in Form wie Inhalt anzupassen, ihre Botschaft auf das der Aufklärung kompatible Maß zurückzuschneiden und so ihre genuin religiöse Sendung aufzugeben. Doch in dieser Anpassung würde die Kirche eine Erwartung des Verfassungsstaates enttäuschen, die sich auf sie als komplementäre Kraft richtet: daß sie darauf hinwirkt, seine religiösen und sittlichen Grundlagen zu festigen, die er, säkular, religiös neutral und grundrechtsgebunden, wie er von Verfassungs wegen ist, nicht sicherstellen kann. Die Thesen bedürfen der Erläuterung.

II.  Der Verfassungsstaat als Derivat des Christentums 1.  Politische Wirkung Der Verfassungsstaat entwickelt sich im Kulturraum des Christentums: Europa und Nordamerika. Hier, und nur hier, treibt er tiefe Wurzeln, zeigt er Lebenskraft, erlangt er Dauer. Das ist kein Werk des Zufalls, sondern Ergebnis vielfältiger geschichtlich wirkender Faktoren. Einer von diesen ist das Christentum.20 Das bedeutet jedoch nicht, daß die Botschaft des Christentums sich auf die Prinzipien des Verfassungsstaates richtete oder daß es einen direkten Ableitungszusammenhang, sei er theologischer oder sei er juridischer Art, zwischen biblischer Verkündigung und menschenrechtlich-demokratischer Staatsverfassung gäbe. Das Evangelium enthält kein staatspolitisches Programm und kein sozialethisches System. Die wenigen neutestamentarischen Aussagen über den Staat ergeben kein Konzept über seine richtige Verfassung. Das Reich, das im Evangeli20 Zu den christlichen Voraussetzungen des Verfassungsstaates: E.-W. Böckenförde, Zum Verhältnis von Kirche und Moderner Welt, in: R. Koselleck (Hrsg.), Studien zum Beginn der modernen Welt, 1977, S. 154 ff.; ders., Kirche und modernes Bewußtsein, in: Communio 15 (1986), S. 153 ff.; ders., Religionsfreiheit, 1990, S. 73 ff., 113 ff.; E.-W. Böckenförde/R. Spaemann (Hrsg.), Menschenrechte und Menschenwürde, 1987; J. Schwartländer (Hrsg.), Modernes Freiheitsethos und christlicher Glaube, 1981; M. Kriele, Befreiung und politische Aufklärung, 1980, S. 248 ff.; A. Uhle, Freiheitlicher Verfassungsstaat und kulturelle Identität, 2004, S. 120 ff.; ders., Staat – Kirche – Kultur, 2004, S. 65 ff.

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um verkündet wird, ist das Reich Gottes.21 Und dieses Reich ist nicht von dieser Welt. Vor ihm versinken die diesseitigen Dinge, die politischen Probleme und die rechtlichen Unterscheidungen ins Wesenlose. Ob einer Herr oder Sklave ist, erweist sich aus eschatologischer Sicht als gleichgültig. Es zählt allein, daß der von Christus erlöste Mensch, sei er Herr oder Sklave, den Willen Gottes erfüllt.22 Es kommt auch nicht darauf an, ob das jüdische Volk frei ist oder ob es dem römischen Kaiser Steuer zahlen muß. Entscheidend ist, ob es Gott gibt, was Gottes ist (Mt 22, 21). Das Evangelium verkündet nicht den idealen Staat und nicht die optimale Verfassung. Es will nicht das Paradies irdischer Gerechtigkeit heraufführen. Die menschlichen Maßstäbe der Gerechtigkeit werden im Reich Gottes gerade aufgehoben, so daß die Arbeiter im Weinberg des Gleichnisses, wie unterschiedlich auch Arbeitszeit und Arbeitsanstrengung des einzelnen gewesen sind, am Ende alle den gleichen Lohn erhalten; das Prinzip rechenhafter Äquivalenz von Leistung und Gegenleistung sub specie aeternitatis gilt nicht mehr (Mt 20, 1– 16). Vom Inhalt der Offenbarung muß unterschieden werden die Wirkungsgeschichte. Wenn das Neue Testament auch keine Staatslehre enthält, so zeitigt es doch Wirkungen auf das staatliche Denken und Handeln. „Das Evangelium ist nicht soziale Botschaft, aber es wirkt als soziale Forderung. … Dieses Evangelium verlangt Entscheidung über alle Weltverhältnisse hinweg. Es setzt sich als Botschaft von einer anderen Welt aufs stärkste ab von dieser Welt; es fordert, nicht um die Welt nach Möglichkeit zu verbessern, sondern um den Menschen für das Reich zu wandeln. Dem Evangelium eignet also unbedingte Aktualität; es enthält radikale ‚Kritik und radikale Forderung‘.“23 Keine politische Theorie und kein geschichtliches Ereignis hat das Staatsbewußtsein und die Staatsrealität so grundstürzend verändert wie das Christentum, das doch seinem Ursprung nach gar nicht auf solche Änderung ausgeht. Seine Wirkungen sind indirekter Natur, in praktischen Folgerungen aus der religiösen Botschaft, in Auseinandersetzung mit der vorgefundenen staatlichen und kulturellen Umwelt und Aneignung ihrer Gehalte, in philosophischer Reflexion und naturrechtlicher Deduktion. Die Wirkungen vollziehen sich im Prozeß der Säkularisierung: der Mutation religiöser Substanz in innerweltliche Denkweisen und Handlungsmuster.24 Säkularisierung aber ist eine Eigentümlichkeit des Christen21 Dazu

H. Merklein, Jesu Botschaft von der Gottesherrschaft, 1983. Aufschlußreich der Fall des Onesimus im Philemon-Brief. Zu der Stellung des Christentums zur Sklaverei: J. Höffner, Christentum und Menschenwürde, 1947, S. 60 ff., 195 f. 23  M. Dibelius, Das soziale Motiv im Neuen Testament, in: ders., Botschaft und Geschichte, Bd. II, 1953, S. 178 ff. Zur neutestamentarischen Sicht auch E. Troeltsch, Die Soziallehren der christlichen Kirchen und Gruppen, 3. Neudruck der Ausgabe 1922, 1977, S. 16 ff. 24  Zum Begriff und zum Phänomen der Säkularisierung: M. Heckel, Säkularisierung (1980), in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. II, 1989, S. 773 ff., bes. 822 ff.; H. Blumenberg, Säkularisierung und Selbstbehauptung, 2. Aufl. 1983, S. 9 ff. 22 

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tums; für Hegel bedeutet die Verweltlichung des Christentums geradezu seine Sinnerfüllung durch Realisierung in der Welt.25 Vergleichbare Säkularisierungsprozesse gehen von anderen Weltreligionen wie dem Islam nicht aus. Geschichtliche Wirkungen müssen nicht den Absichten derer entsprechen, welche die geschichtlichen Ursachen setzen. Sie entziehen sich ihrer Herrschaft und können sich sogar gegen sie kehren. So kann das Christentum in seinen historischen Wirkungen die Entstehung und Anerkennung der Menschenrechte begünstigen, obwohl das Lehramt der Kirche sich ihnen in einer bestimmten historischen Situation widersetzt. Auch in den Beziehungen zwischen Verfassungsstaat und Kirche waltet Hegel’sche List der Vernunft. Ein der Moderne gnädiger Gott schreibt gerade auf den krummen Linien päpstlicher Enzykliken. Die These, daß der Verfassungsstaat ein Derivat des Christentums ist, bedeutet nicht, daß diese politische Form die einzig mögliche, die zwingende Konsequenz des Christentums sei. Die Geschichte kennt andere politische Derivate des Christentums; und manche davon sind inkompatibel mit dem Verfassungsstaat, so die Symbiose von russischer Autokratie und Orthodoxie. Vielmehr sagt die These nur, daß das Christentum zu seinen historischen Ursachen gehört. Der Verfassungsstaat ist auf dem Kulturboden des Christentums entstanden. Nur hier ist seine Entstehung möglich gewesen. 2.  Wechselwirkungen zwischen Christentum und politischer Umwelt – Ausstrahlung und Rezeption Weltgeschichtlich gesehen, liegen in der „unpolitischen“ Botschaft des Christentums die Keime zu zahlreichen politischen Entwicklungen. Die eschatologischen Offenbarungsgehalte werfen Schatten in der Realität der Welt. So ist im Glaubenssatz von der Erlösung und der endzeitlichen Verantwortung des Menschen der Schluß auf die weltimmanente Personalität des Menschen angelegt, auf seine rechtliche Würde und Freiheit. Aus dem existentiellen Gebot der Nächstenliebe lassen sich institutionelle Folgerungen ableiten, daß das Gemeinwesen die Not des Schwächsten als die Sache der Allgemeinheit begreift und Solidarität übt. Die Botschaft des Neuen Testaments verweist den Christen auf die konkretindividuelle Lage, in welcher er den Anruf Gottes erfährt. Sie verweist damit auf die Geschichte. Aus offenbarungstheologischer Sicht ist das Christentum offen zur geschichtlichen Welt, wenn es sich um eine gerechte Ordnung im politischgesellschaftlichen Bereich bemüht. 25  G. W. F. Hegel, Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie, Der Geschichte der Philosophie zweiter Theil, Philosophie des Mittelalters (zuerst gehalten 1805/6), in: ders., Sämtliche Werke (Jubiläumsausgabe in zwanzig Bänden, hrsg. von H. Glockner), 19. Bd., 3. Aufl. 1959, S. 107.

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Da das Christentum kein eigenes Staatskonzept mitbringt, ist es beweglich und vermag, sich den unterschiedlichen staatlichen Ordnungen, die es in seiner Ausbreitung über die Erde und im Gang durch die Geschichte vorfindet, einzufügen, ohne sich mit einer von ihnen zu identifizieren oder sich vorbehaltlos anpassen zu müssen. Es findet seinen Ort im römischen Imperium der Spätantike wie im Reich des Mittelalters, im Feudalismus wie im Absolutismus, in Monarchien wie in Republiken und in autoritären (jedoch nicht totalitären) Regimen wie in der freiheitlichen Demokratie. Die geistige Auseinandersetzung mit der vorgefundenen säkularen Umwelt kann es nicht allein mit Hilfe der Offenbarungstheologie bestreiten, die auf die Fragen nach Staatsform, Staatszweck und Stellung des Bürgers, wenn überhaupt, dann keine abschließende Antwort gibt. Damit ist es verwiesen auf die natürliche Vernunft als Erkenntnisquelle und auf das Gespräch mit der „Welt“. Die Kirche öffnet sich der Welt, auf die sie einwirken will. Die Entwicklung christlicher Staatsauffassungen vollzieht sich durch Annahme und Aneignung vor- und außer-christlicher Gehalte. Wichtig wird vor allem die Rezeption naturrechtlicher Lehren durch die Kirche. Am Anfang der christlichen Staatslehre steht die Rezeption des stoischen Naturrechts, als die Kirche in die spätantike Gesellschaft hineinwächst und die Reflexion über diese Gesellschaft notwendig wird.26 Die stoische Vorstellung von einem goldenen Zeitalter der Tugend, seinem Zerfall durch die Leidenschaftlichkeit der Menschen, dem weltbürgerlichen Menschheitsziel, der universalen Weltvernunft lassen sich mit der christlichen Offenbarung verbinden: mit der Lehre vom paradiesischen Urzustand, von Sündenfall und Erlösung, von der göttlichen Lenkung des Weltgeschehens. Die Grundstrukturen dieser Naturrechtskonzeption bleiben für die christliche Staatsphilosophie offen oder latent wirksam, nicht minder für ihre säkularen Ableger in der Neuzeit bei Hobbes, Locke, Rousseau. Ihre höchste Reife erlangt die kirchliche Sozialphilosophie im Mittelalter, als Thomas von Aquin die aristotelische Philosophie aufnimmt und in ein universales System einschmilzt, in dem biblisch-stoische Tradition, römische und germanische Rechtsvorstellungen, kirchliche, imperiale wie feudale Institutionen, patriarchalisches Staatsdenken auf der Grundlage von Autorität und Pietät, ständisches Ethos von Treue und Fürsorge sowie das christliche Liebesgebot zusammenfinden. Die Rezeption säkularer Gehalte ist allerdings nur einer der Vorgänge in der Symbiose von Christentum und Welt. Beide Seiten geben und nehmen. Vorrangige Aufmerksamkeit fordert der Einfluß des Christentums auf die Welt, wie er beschrieben wird im Gleichnis vom Sauerteig, der den ganzen Teig durchsäuert.

26  Unübertroffene Darstellung, ungeachtet aller kulturprotestantischen Patina: E. Troeltsch (Fn. 23), bes. S. 148 ff., 178 ff.

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3.  Ambivalenz des Christentums a)  Distanz zum Staat und Umgestaltung des Staates Wenn das Reich, das Christus verkündet, nicht von dieser Welt ist, kann kein irdischer Staat beanspruchen, die Verheißung zu erfüllen und das endzeitliche Reich des Heils zu sein. Zwischen der diesseitigen Welt und dem Reich Gottes besteht eine unaufhebbare Differenz, die keine Analogie zuläßt. Die Botschaft des Neuen Testamentes ist weder konservativ noch progressiv. Sie dient weder dazu, die bestehende Ordnung zu rechtfertigen, noch dazu, die Revolution zu heiligen. Dennoch wirkt das Christentum, so wie es in der Spätantike politische Wirksamkeit erlangt, kraft seines geistlichen Anspruchs auf die bestehende staatliche Ordnung ein und verwandelt diese von Grund auf. Es sprengt die staatlich-religiöse Einheit, innerhalb deren Religion und Kult im Dienst des Imperiums stehen, und unterwirft die staatliche Herrschaft dem Wort des Christentums: „der größte Umschlag, der jemals vorgekommen“.27 Die Revolution vollzieht sich freilich nicht im ganzen Wirkungskreis des Christentums, sondern allein in seiner westlichen, der lateinischen Hemisphäre. Sie erfaßt nicht die östliche Hemisphäre, die griechische und die russische Orthodoxie. In Konstantinopel wie in Moskau, im Zweiten wie im Dritten Rom, tritt an die Stelle der heidnischen Imperialreligion die christliche Imperialreligion des Cäsaropapismus. Der religiöse Inhalt wechselt, die politische Struktur bleibt: die monolithische Einheit des Staatswesens, das sich die Kirche einverleibt und das sie als Gegenstand wie als Instrument der Herrschaft behandelt. Auch die lateinische Welt hält an der staatlich-kirchlichen Einheit des Corpus Christianum fest. Doch die Einheit differenziert sich aus zur Polarität von Imperium und Sacerdotium, lädt sich auf mit innerer Spannung, die in der Krise des Investiturstreites dazu führt, daß Kaiser und Papst ihre Sphären unterscheiden und die Reichweite des weltlichen wie des geistlichen Schwertes abgrenzen müssen. Thomas betrachtet zwar wie Aristoteles den Staat als societas perfecta; aber er relativiert die Deutung, indem er dem Staat die Kirche, ihrerseits als societas perfecta, an die Seite stellt und die eine vollkommene Gemeinschaft dem natürlichen, die andere dem übernatürlichen Bereich zuordnet.28 Damit setzen Entwicklungen ein, die in der Neuzeit, als die Glaubenseinheit zerbricht, zum Rückzug des Staates aus der Sphäre der Religion führt, zur Beschränkung auf innerweltliche Aufgaben, kurz: zu seiner Säkularisierung.29 27 Zitat: J. Burckhardt, Weltgeschichtliche Betrachtungen (1905), Ausgabe von R. Stadelmann 1949, S. 149. 28  Zur Societas-perfecta-Lehre J. Listl (Fn. 3), S. 104 ff. (Nachw.). 29  Zur Säkularisierung als Geburtsakt des modernen Staates: E.-W. Böckenförde, Die Entstehung des Staates als Vorgang der Säkularisation (1967), in: ders., Staat – Gesell-

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Doch bereits in der mittelalterlichen Staat-Kirche-Polarität wird der christliche Dualismus geschichtsmächtig: zwischen Immanenz und Transzendenz, Profanem und Sakralem, Gesetz und Gewissen.30 Die Unterscheidungen treiben in der Neuzeit weitere, analoge Unterscheidungen hervor: zwischen Recht und Moral, zwischen Institution und Geist. Die Entzweiung, die vom Christentum ausgeht, führt in ihren politischen Wirkungen das Prinzip Gewaltenteilung herauf, zunächst in der Beziehung von Staat und Kirche, sodann in der von Staat und Gesellschaft, schließlich im Innenbereich der Staatsorganisation zwischen ihren verschiedenen Funktionen. Die Entwicklung mündet schließlich ein in den Verfassungsstaat: den Typus des sektoralen, säkularen, gewaltenteiligen Staates. Von jeher akzeptiert die katholische Kirche nur den in seinen Zielen und Mitteln begrenzten Staat. In alle politischen Epochen bringt sie das Postulat ein von vorgegebenen Grenzen der Staatsgewalt. Seit dem Jakobinerterror wird sie immer wieder mit politischen Totalitärismen konfrontiert, die, jedwede Gewaltenteilung aufhebend, Staat und politische Kirche zugleich, auf den ganzen Menschen zugreifen, auf Verhalten wie auf Gesinnung. Dagegen stellt die Kirche ihren Anspruch auf spirituelle und auf institutionelle Selbstbehauptung. Sie bleibt sich im Wandel der Zeiten treu. Wenn sie auch zuweilen Sukkurs sucht bei einem autoritären Staat, so erkennt sie den totalitären Staat in allen seinen Erscheinungen als ihren Feind, der, unbegrenzt in seinen Zielen, hemmungslos in seinen Mitteln, jedwede Gewaltenteilung rückgängig macht, auf den ganzen Menschen zugreift und selber Kirche sein will, Kirche einer politischen Heilslehre.31 Noch einmal: Die Entwicklung zur Gewaltenteilung erfaßt nicht die ganze Welt der Christenheit. Der Osten, der Raum der Orthodoxie, nimmt nicht daran teil. Nur in der lateinischen Welt ereignen sich Renaissance und Aufklärung, die Geburt der Moderne und die Inkubation des Verfassungsstaates. Doch brechen sich diese Entwicklungen nicht an den konfessionellen Grenzen, wie sie seit der Reformation bestehen. In ihrer säkular-politischen Dimension wahrt die lateinische Christenheit über die konfessionelle Spaltung hinweg ein hohes Maß an Gemeinsamkeit.32 schaft – Freiheit, 1976, S. 42 ff.; H. Quaritsch, Staat und Souveränität, Bd. I, 1970; A. Uhle, Staat – Kirche – Kultur, 2004, S. 67 ff.; C. Hillgruber, Staat und Religion, 2007, S. 7 ff. 30  Zum Dualismus des Christentums: E.-W. Böckenförde, Zum Verhältnis von Kirche (Fn. 20), S. 159 ff.; M. Rhonheimer, Christentum und säkularer Staat, 2012, S. 33 ff. 31 Vgl. H. Maier, Das totalitäre Zeitalter und die Kirchen, in: Historisches Jahrbuch 112 (1992), S. 383 ff.; J. Isensee (Fn. 15), S. 324 f. Zu Begriff und Sache des Totalitarismus: K. D. Bracher, Zeitgeschichtliche Kontroversen, 2. Aufl. 1976, S. 33 ff.; B. Seidl/S. Jenkner (Hrsg.), Wege der Totalitarismus-Forschung, 3. Aufl. 1974. 32  Auf reformatorischer Seite weist die geschichtliche Entwicklung deutliche Parallelen zur katholischen auf: von der Ablehnung der Menschenrechte und der Demokratie zu ihrer Annahme. Dazu: M. Heckel, Die Menschenrechte im Spiegel der reformatorischen Theologie (1987), in: ders. (Fn. 24), Bd. II, S. 1122 ff. (Nachw.). Freilich verbleiben durch

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b)  Rechtfertigung und Relativierung des Staates Mit dem Christentum gerät jede irdische Ordnung unter Rechtfertigungszwang vor einer transzendenten Ordnung, die ihr unverfügbar vorgegeben ist. Der Christ akzeptiert den Staat, wie immer er verfaßt ist, nur deshalb, weil er seine Gewalt von Gott empfängt. Er leistet ihm den bürgerlichen Gehorsam, doch nicht aus Furcht vor dessen Sanktionen, sondern aus Einsicht in die Anordnung Gottes (Röm 13). Diese aber ist nicht nur Grund, sondern auch Grenze der Staatsgewalt. Die bürgerlichen Pflichten enden am Widerstandsrecht, das der Christ sich vorbehält, weil er Gott mehr gehorchen muß als den Menschen (Apg 5,29). In der Transzendenzperspektive gewinnt der Christ geistige Freiheit gegenüber der diesseitigen Autorität. Er akzeptiert sie nicht, weil sie es will, sondern weil Gott es will. Die christliche Rechtfertigung des Staates bedeutet seine Relativierung. Der Christ gehorcht ihm, indem er zu ihm auf Distanz geht. Der christliche Letztvorbehalt gegenüber menschlichen Normen, wie er in der Clausula Petri (Apg 5, 29) aufscheint, ist theonom begründet. In der Geschichte war es lange Zeit die Kirche, die der Obrigkeit und dem Bürger interpretierte, was Gottes Wille, mithin was Staats- und was Bürgerpflicht sei, wann Normalfall und wann Widerstandsfall bestehe. Doch nach christlicher Lehre spricht Gott auch unvermittelt zum Einzelnen im Anruf des Gewissens. In der theonomen Rechtfertigung des Staates liegt der Keim zu seiner säkular-autonomen Rechtfertigung aus der Subjektivität des Individuums. 4.  Christliches Menschenbild und Menschenrechte Im Menschenbild des Christentums, das auf Schöpfung und Erlösung gründet, sind wesentliche Züge der modernen Menschenrechte angelegt: die Einheit des Menschengeschlechts, das auf einen gemeinsamen Ursprung zurückgeht, die Gleichheit aller, die von Gott erschaffen sind, die Einmaligkeit jedes einzelnen Menschen, in dem sich ein Gedanke Gottes verkörpert, seine Personalität und Eigenverantwortung.33 alle Säkularisierung hindurch konfessionstypische Unterschiede der politischen Mentalität und des sozialen Verhaltens. Aufschlußreich: G. Schmidtchen, Protestanten und Katholiken, 1973; A. Püttmann, Ziviler Ungehorsam und christliche Bürgerloyalität. Zum Zusammenhang von Konfession und Staatsgesinnung in der grundgesetzlichen Demokratie, 1994, S. 169 ff., 315 ff. 33  Zum christlichen Menschenbild und seinem Einfluß auf die modernen Menschenrechte: W. Kasper (Fn. 16), S. 14 ff.; M. Heckel (Fn. 32), S. 1122 ff.; F.-L. Hossfeld, Grundzüge des biblischen Menschenverständnisses, in: A. Rauscher (Hrsg.), Christliches Menschenbild und soziale Orientierung, 1993, S. 9 ff.; H. Maier, Überlegungen zu einer Geschichte der Menschenrechte, in: FS für P. Lerche, 1993, S. 43 (48 ff.); A. Uhle (Fn. 20) Freiheitlicher Verfassungsstaat, S. 126 ff., 153 ff.; A. Angenendt, Toleranz und Gewalt, 2009, S. 110 ff., 190 ff. – Exegetische Kritik an kurzschlüssigen Deduktionen: K. Berger,

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Die Schöpfungs- und Erlösungslehre begründet die Würde des Menschen, und zwar nicht nur für das Abstraktum Menschheit, sondern für jeden einzelnen, der geschaffen und erlöst, zum ewigen Heile berufen und deshalb zu irdischer Bewährung gehalten ist.34 Die dignitas humana kommt dem Menschen als Person zu. Die dignitas gründet im göttlichen Ursprung des Menschen als Gottes Ebenbild und in der Menschwerdung Gottes. Die Papst Leo dem Großen zugeschriebene Weihnachtsoration der römischen Meßliturgie faßt die christliche Begründung großartig in Worte: „Deus, qui humanae substantiae dignitatem et mirabiliter condidisti et mirabilius reformasti: da, quaesumus, nobis Jesu Christi filii tui divinitatis esse consortes, qui humanitatis nostrae fieri dignatus est particeps.“35 Dagegen vermag die Verfassung, die Würde des Menschen, ihr oberstes Prinzip, nur anzunehmen, nicht aber zu begründen. Die Philosophie des säkularen Staates kann sie postulieren, nicht aber ableiten, weil die Würde, die dem Menschen unverlierbar, unverfügbar und unabwägbar eigen ist, innerhalb des säkularen Horizonts kein höheres Prinzip über sich kennt. Die Entsprechung des christlichen Menschenbildes zu den modernen Menschenrechten darf jedoch nicht als Kongruenz verstanden werden. Das Christentum zeigt den Menschen in seiner Beziehung zu Gott. Diese aber präjudiziert nicht ohne weiteres die Beziehung des Menschen zur Staatsgewalt; aber sie bereitet sie vor. Daß Gott den Menschen als sein Bild und Gleichnis geschaffen hat,36 zeitigt schon im Kontext der Genesis ethische Reflexe in dem Verbot, Menschen zu töten: „Wer Menschenblut vergießt, des Blut soll auch durch Menschen vergossen werden, denn Gott hat den Menschen ja zu seinem Bilde gemacht.“37 Die Gottesebenbildlichkeit des Menschen macht den Mord zu einem Sakraldelikt. Das Leben des einen entzieht sich der Macht des anderen, weil es Gott gehört. Dem Menschen ist Verfügung über die niedere Kreatur gegeben, nicht aber über seinesgleichen. Die Analogie von transzendenten auf immanente Vorstellungen liegt nahe, und sie hat sich in der Geschichte realisiert. Die individualistischen Beziehungen zu Gott strahlen aus auf die innerweltlichen Beziehungen und beeinflussen das Die Wahrheit ist Partei, 2007, S. 149 ff. – Position der Irrelevanz des Christentums für die Genese der Menschenrechte und ihr heutiges Verständnis: H. Hofmann, Methodische Probleme der juristischen Menschenwürdeinterpretation, in: I. Appel/G. Hermes (Hrsg.), Mensch – Staat – Umwelt, 2008, S. 47 (54 ff.); H. Dreier, in: ders. (Hrsg.), Grundgesetz, Bd. I, 2. Aufl. 2004, Art. 1 Abs. 1 Rn. 5 ff. 34  Zur Bedeutung des Christentums für das Verständnis der Menschenwürde im säkularen Verfassungsrecht: J. Isensee, Würde des Menschen, in: D. Merten/H.-J. Papier (Hrsg.), Handbuch der Grundrechte, Bd. IV, 2011, § 87 Rn. 58 ff. 35  Text in: E. Moeller (Hrsg.), Corpus orationum 2, 1993, S. 361 (1692a). 36  Gen 1, 27. 37  Gen 9, 6.

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gesellschaftliche Klima. Eine tatsächliche Affinität des Christentums zur Demokratie amerikanischer Art wird schon von Tocqueville festgestellt: Christen, deren religiöses Gemüt von Wahrheiten des Jenseits zehre, erwärmten sich „für die Freiheit des Menschen, die Quelle aller sittlichen Größe. Das Christentum, das alle Menschen vor Gott gleich werden ließ, wird sich nicht dagegen sträuben, daß alle Bürger vor dem Gesetz gleich werden“.38 Vor Gott gilt kein Unterschied zwischen Freien und Sklaven. Damit tritt das Christentum in tiefen Widerspruch zur antiken Gesellschaft, die, auf einem mächtigen Fundament von Sklaven aufbauend, nur einer kleinen Schicht das volle Bürgerrecht vorbehielt und nur den wenigen Großen die volle Entfaltung des Menschseins zuerkannte: „Humanum paucis vivit genus.“39 Gleichwohl will das Christentum deshalb nicht die bestehende Gesellschaftsordnung abschaffen. Nicht diese ist sein Thema, sondern ein Reich, das nicht von dieser Welt ist. Dennoch führt die christliche Botschaft auf indirektem Wege zur Delegitimation der Sklaverei. Sie löst einen historischen Prozeß aus, der im 16. Jahrhundert zu ihrem Verbot durch Papst Paul III. und schließlich auch zu ihrer Abschaffung führt.40 Der Glaube, daß es vor Christus nicht Jude noch Grieche, nicht Sklave noch Freier, nicht Mann noch Frau gibt, sondern in ihm alle eins sind,41 bereitet der allgemeinen Rechtsgleichheit den Boden. Eben darum wird Nietzsche das Christentum verfluchen: „Die ‚Gleichheit der Seelen vor Gott’, diese Falschheit, dieser Vorwand für die rancunes aller Niedriggesinnten, dieser Sprengstoff von Begriff, der endlich Revolution, moderne Idee und Niedergangs-Prinzip der ganzen Gesellschaftsordnung geworden ist – ist christlicher Dynamit.“42 Das Christentum hat sich im Mittelalter mit patriarchalischen Gewaltverhältnissen und mit universalistischem Staatsdenken verbunden. Erst in der Neuzeit bricht sich der Individualismus politische Bahn, und der Einzelne begreift seine Freiheit, Gleichheit und Würde als Recht, sich von hergebrachten Autoritäten und aus tradierten Ordnungen zu emanzipieren. Die Rolle der Kirche in der Wirkungsgeschichte der Freiheitsidee ist ambivalent. Sie hat den Entwicklungsprozeß der Menschenrechte behindert, und sie hat ihn gefördert. Das Urteil wechselt mit dem jeweils gewählten Abschnitt der Geschichte. Doch auch dort, wo sie, bei unhistorischer Rückprojektion heutiger Maßstäbe, sich im krassesten Widerspruch zu 38  A. de Tocqueville, De la démocratie en Amérique (1835– 40), (dt.) Über die Demokratie in Amerika (hrsg. von J. P. Mayer), 1976, I. Teil Einleitung (S. 14). 39  Lucanus, Bellum civile („Pharsalia“), 5, 343 – Julius Cäsar in den Mund gelegt. 40  Dazu bereits J. de Maistre, Du Pape, Tome Second, Lyon, 1836, S. 118 ff. (liberté civile des hommes). Heutige Sicht J. Höffner (Fn. 22), S. 60 ff., 195 f. 41  Gal 3, 28. Vgl. auch Kol 3, 11; Röm 10, 12; 1. Kor 12, 13. 42  F. Nietzsche, Der Antichrist (1888), in: ders., Sämtliche Werke (Ausgabe Colli/Montinari), 6. Bd., 1999, S. 252.

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den Menschenrechten befand, als sie dem Häretiker weder die Gewissensfreiheit zuerkannte noch das Recht auf Leben und ihn in den Feuertod stieß, achtete sie die geistliche Essenz seiner Person, maßte sie sich nicht an, über sein ewiges Heil zu verfügen und dem Spruch Gottes vorzugreifen. Wenn nach Thomas die staatliche wie die kirchliche Autorität den häretischen oder den abtrünnigen Christen (nicht jedoch den Heiden oder den Juden) zwingen durften, auch mit Drohung der Todesstrafe, ihr einmal gegebenes Taufversprechen zu erfüllen,43 also insoweit die Berufung auf das Gewissen nicht half, so erkannte Thomas dennoch dem Gewissen, sogar dem schuldlos irrenden Gewissen, sittliche Letztverbindlichkeit zu. Im Konflikt mit dem staatlichen oder dem kirchlichen Gebot gehe das Gebot des Gewissens vor, auch auf die Gefahr der Exkommunikation hin.44 Wer im Gewissen überzeugt sei, der Glaube an Christus sei etwas Schlechtes, sei auch kraft seines Gewissen verpflichtet, sich diesem Glauben fernzuhalten.45 Gewissensfreiheit im menschenrechtlichen Sinne war das nicht. Vor dem Ketzergericht bot die Berufung auf die Gewissenspflicht keinen Rechtfertigungsgrund. Doch sie wies auf die Rechtfertigung vor Gott. Darin aber ist der Kern des christlichen und der Keim des staatsethischen Individualismus bezeichnet: Der Einzelne steht, kraft seines Gewissens, wenn es um die letzten Dinge geht, unmittelbar zu Gott. Er ist insoweit nicht auf Vermittlung durch irdische Instanzen angewiesen. Dem Gewissen vermag selbst der Scheiterhaufen nichts anzuhaben. Es bildet den unzerstörbaren und den unverfügbaren Grund der Person. Auf diesem religiösen Grund erwächst der Anspruch auf sittliche und auf rechtliche Autonomie gegenüber den Institutionen des Diesseits.46 5.  Aktivität und Rationalität Die jüdisch-christliche Religion enthält in sich vielfache Kräfte der Aufklärung. Sie ergeben sich schon aus dem Gottesbild. Da Gott sich als Geist offenbart, hat die Dingwelt nicht göttlichen Charakter. Sie ist weltlich und so dem Zugriff des Menschen verfügbar. Die Religion bannt die magische Angst vor der Natur, entzaubert die Erde und fordert den Menschen auf, sie sich untertan zu machen. Sie entbindet Zuwendung zur Welt im Handeln wie im Erkennen, Aktivität und 43 Summa theologica, II 2 qu. 10, 8 und qu. 11, 3 ad 3. Dazu und zum Folgenden H. Welzel, Naturrecht und materiale Gerechtigkeit, 4. Aufl. 1962, S. 63 ff. Zu Häretikerbehandlung und Inquisition: A. Angenendt (Fn. 33), S. 245 ff., 263 ff. 44  Summa theologica, II 2 qu. 104, 1 ad 1; De veritate XVII 5 ad 4. 45  Summa theologica, II 1 qu. 19, 5. 46  H. Welzel deutet die thomasische Gewissenslehre als „einen Höhepunkt im Entwicklungsprozeß um die Herausbildung des auf sittliche Autonomie gegründeten Persönlichkeitsbegriffs“ (Fn. 43), S. 63. Vgl. auch E.-W. Böckenförde, Zum Verhältnis von Kirche (Fn. 20), S. 162.

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Rationalität. Aufklärerisch ist auch die neutestamentarische Kritik am äußerlichen, verkrusteten Verständnis des Gesetzes. Aktivität und Rationalität sind Wesenszüge des modernen Staates, der dazu organisiert und mit Blankovollmacht ausgestattet ist, daß er den jeweiligen Erfordernissen des Gemeinwohls situationsgemäß und wirksam Genüge tut.47 Dennoch ist seine Kompetenz, die Leistungen zu erbringen, die das Gemeinwohl erfordert, nur subsidiär. Die primäre Gemeinwohlkompetenz fällt den Bürgern und freien Verbänden zu. Das Gemeinwesen, das seinen Bestand wie sein Gedeihen auf die private und die politische Freiheit seiner Bürger gründet, baut auf ihre Initiative, Leistungsbereitschaft und Tüchtigkeit und vertraut auf ihre praktische Vernunft. Der Wille zur Aktivität des Individuums und das Vertrauen in seine Rationalität leiten denn auch den Emanzipationsdrang, der die politische Moderne kennzeichnet.48 6.  Das Prinzip des Amtes Der moderne Staat, der das mittelalterliche Feudalwesen ablöst, übernimmt von der katholischen Kirche das Prinzip des Amtes.49 Das Amt umfaßt einen rechtlich definierten Ausschnitt von staatlichen Befugnissen, die ihrem Inhaber zur treuhänderischen Ausübung im ausschließlichen Dienst und Interesse der Allgemeinheit überantwortet werden, unter Ausschluß des privaten Eigennutzes des Inhabers und seiner subjektiven Eigenmacht. Im Amt verwandelt sich die Handlungsmacht der Organisation in die persönliche Pflicht des Inhabers. Potestas wird officium. Das Amt ist der kleinste Baustein der verfassungsstaatlichen Organisation. An das Prinzip des Amtes knüpft die rechtsstaatliche Bindung der Staatsgewalt, die föderale Kompetenzverteilung, die demokratische Legitima­ tion.50 47  Zu Rationalismus und Aktivität als Merkmalen des modernen Staates: H. Krüger, Allgemeine Staatslehre, 2. Aufl. 1966, S. 53 ff., 62 ff. Vgl. auch M. Weber, Wirtschaft und Gesellschaft (1922), Studienausgabe von J. Winckelmann, 2. Hbb. 1964, S. 1034 ff. – Zum Einfluß des Christentums, zumal dem des Katholizismus auf die okzidentale Rationalität: G. Eisermann, Max Weber und die Nationalökonomie, 1993, S. 159 ff. 48  Zu diesen Verfassungserwartungen: J. Isensee, Grundrechtsvoraussetzungen und Verfassungserwartungen an die Grundrechtsausübung: in: HStR IX, 3. Aufl. 2011, § 190 Rn. 223 ff., 233, 277 ff. 49  Zu den Ursprüngen E. Dassmann, Ämter und Dienste in den frühchristlichen Gemeinden, 1994. – Zur staatlichen Rezeption des Ämterprinzips H. Hattenhauer, Geschichte des deutschen Beamtentums, 2. Aufl. 1993, S. 11 ff. Vgl. auch E.-W. Böckenförde, Zum Verhältnis von Kirche (Fn. 20), S. 166 f. 50 Zu Tradition und aktueller verfassungsrechtlicher Bedeutung des Amtsprinzips: W. Hennis, Amtsgedanke und Demokratieprinzip, in: FS für R. Smend, 1962, S. 51 ff.; W. Loschelder, Vom besonderen Gewaltverhältnis zur öffentlichrechtlichen Sonderbindung, 1982, S. 227 ff.; P. Graf Kielmansegg, „Die Quadratur des Zirkels“, in: U. Matz

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Die mittelalterliche Kirche kämpft im Investiturstreit um die Unabhängigkeit der Stellenbesetzung und der Amtsführung von der weltlichen Gewalt. Sie kämpft auch um die Lauterkeit, die Sachlichkeit, die hierarchische Loyalität des Amtes in der Abwehr von Simonie und Nepotismus. Der Zölibat fordert die vorbehaltlose Hingabe an die Sachaufgabe; er schließt die Erblichkeit des Amtes aus, damit private Verfügbarkeit. Mit dem Amtsgedanken übernimmt die Kirche antikes Staatsethos, daß Herrschaft nicht im Eigeninteresse des Herrschenden ausgenützt werden darf und das gute Gemeinwesen durch das Gemeinwohl konstituiert wird: res publica res populi. Die Res-publica-Tradition wird über die katholische Kirche dem neuzeitlichen Staat vermittelt, wie sie ihm denn auch sonst antikes Erbe, etwa das römische Recht, weitergibt. Sie sichert europäische Kontinuität und wirkt mit, das staatsethische Fundament des modernen Staates zu legen: daß legitim nur die staatliche Herrschaft für das Volk ist. Dieses republikanische Prinzip geht dem demokratischen Prinzip voraus, daß legitim ist nur die Herrschaft durch das Volk.51 Der moderne Staat findet in der Kirche auch sein Organisationsmodell: die zweckrationale, hierarchisch strukturierte Anstalt.

III.  Das Christentum als soziokulturelle Voraussetzung des Verfassungsstaates 1.  Fortdauernde Bedeutung der christlichen Ursprungsbedingungen Zwischen Christentum und Verfassungsstaat besteht nicht allein ein historischer, sondern auch ein aktueller Wirkungszusammenhang. Der Verfassungsstaat lebt weiter auf dem europäischen Kulturboden, in dem er entstanden ist, aus dem Humus seiner Geschichte, und er zehrt von seinen Substanzen, zu denen das Christentum gehört, das diesen Boden im Laufe der Jahrhunderte durchdrungen und geprägt hat. Hier kommt es nicht darauf an, wie weit sich die Gesellschaft von der Religion ihrer Herkunft gelöst hat. Die Herkunft aus dem Christentum ist ihr unablöslich mitgegeben, auch ohne daß sie sich deren erinnern und sich zu ihr bekennen müßte. Säkularisiert und vielfältig vermittelt, wirken christliche Momente in Psyche und Verhalten der Gesellschaft, in Ethos und Normen. Damit aber wirken sie auch auf die Institutionen des Verfassungsstaates ein. Mehr als jeder andere Staatstypus ist er abhängig von Voraussetzungen, die sei-

(Hrsg.), Aktuelle Herausforderungen der repräsentativen Demokratie, 1985, S. 9 ff.; O. Depenheuer, Das öffentliche Amt, in: HStR III, 3. Aufl. 2005, § 36; J. Isensee, Kanonistisches Erbe im säkularen Staat, in: FS für R. Sobánski, 2000, S. 113 ff. 51  Zum Res-publica-Prinzip: J. Isensee, Staat (Fn. 6), Sp. 141 f.; R. Gröschner, Die Republik, in: HStR II, 3. Aufl. 2004, § 23 Rn. 13 ff., 53 ff.

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nem Zugriff nicht unterliegen.52 Er gründet auf der Freiheit der Bürger, und, was ihm an Ordnungsmacht zukommt, geht aus ihren Leistungen hervor, die er, aufs Ganze gesehen, nicht erzwingen und nicht ersetzen kann. Daher steht und fällt er damit, daß die Bürger, wenn nicht in der Absicht, so doch im Effekt, von ihrer Freiheit einen gemeinwohlförderlichen Gebrauch machen. Seine Erwartungen richten sich auf Aktivität, Tüchtigkeit, Ethos der Bürger, auf Potenzen der Moral und der Religion, in ihnen auf das christliche Erbe. Doch das Erbe wäre rasch verbraucht, wenn es sich nicht stetig erneuerte und mehrte und wenn die religiöse Quelle versiegte, aus deren Aufkommen der säkulare Staat schöpft. Damit richtet sich auf das Christentum eine Erwartung des säkularen Verfassungsstaates, die nicht seiner eigentlichen, religiösen Botschaft gilt, sondern deren säkularen, gemeinwohldienlichen Nebenwirkungen.53 Diese werden von den Theoretikern des Verfassungsstaates von jeher aufmerksam beobachtet. Nach Tocqueville rufen auch die Anhänger des modernen Freiheitsgedankens, „deren Blicke mehr auf die Erde als zum Himmel gerichtet sind“, die Religion eilig um Hilfe; „denn sie müssen wissen, daß man das Reich der Freiheit nicht ohne die guten Sitten zu errichten und die guten Sitten nicht ohne den Glauben zu festigen vermag.“54 Montesquieu untersucht die verschiedenen Religionen der Welt auf den Nutzen hin, den der Staat aus ihnen zieht, und zwar gleich, ob es sich um eine Religion handele, die ihren Ursprung im Himmel habe, oder um die vielen anderen, die auf der Erde wurzelten. Er stellt fest, daß eine gemäßigte, freiheitliche Regierung gerade der christlichen Religion entspreche und daß diese, indem sie den Menschen befehle, einander zu lieben, auch darauf hinwirke, daß jedes Volk die besten politischen und bürgerlichen Gesetze habe. „Es ist wunderbar: die christliche Religion, die nur auf die Glückseligkeit des Jenseits zu zielen scheint, beschert uns auch das Glück im irdischen Leben.“55

52 Dazu E.-W. Böckenförde (Fn. 29), S. 69; ders., Der Staat als sittlicher Staat, 1978, S. 36 f.; J. Isensee (Fn. 48), § 190 Rn. 195 ff. 53 Näher J. Isensee, Verfassungsstaatliche Erwartungen an die Kirche, in: Essener Gespräche Bd. 25 (1991), S. 105 ff. (bes. S. 136 ff.). S. auch E.-W. Böckenförde (Fn. 29), S. 60 f. 54  A. de Tocqueville (Fn. 38), S. 14. 55  C. de Montesquieu, De l’esprit des Lois (1748), XXIV, 1, 3 (dt. von E. Forsthoff, 2. Aufl. 1992, S. 160 f., 163). Zur Instrumentalisierung der Religion für Zwecke der Aufklärung: C. Link, Christentum und moderner Staat, in: L. Lombardi Vallauri/G. Dilcher (Hrsg.), Christentum, Säkularisation und modernes Recht, 1981, S. 853 (854, 858 ff. – „natürliche Religion“ als Gebot der Staatsraison); H. Lübbe, Religion nach der Aufklärung, 1986, S. 219 ff.

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2.  Universalisierbarkeit des Verfassungsstaates als Problem Der Verfassungsstaat strebt nach weltweiter Verbreitung.56 Sein Erfolg ist heute größer denn je, seit sein wichtigster Rivale im 20. Jahrhundert, der totalitäre Staat des Sozialismus, politisch am Boden liegt, ökonomisch und moralisch diskreditiert. Unter den Staatstypen der Gegenwart hat der Verfassungsstaat des Westens die ideelle Hegemonie erlangt. Die Idee, die er verkörpert, erweist sich heute als die mächtigste aller politischen Ideen: die Freiheit in ihrer zwiefachen Ausprägung als grundrechtliche Selbstbestimmung des Individuums und als demokratische Selbstbestimmung des Volkes, die aus der Mitbestimmung des Bürgers hervorgeht. Die Menschenrechte, ihrer Intention nach angelegt auf universale Geltung, für einen jeden, der Menschenantlitz trägt, werden weltweit anerkannt in Staatsverfassungen wie in internationalen Deklarationen und Pakten. Nahezu kein Staat, der sich nicht als demokratisch deklarierte. Neuerlich mehren sich auch die Bekenntnisse zu Rechtsstaat, Gewaltenteilung und Parlamentarismus. Alle Welt erweist den Gedanken des Verfassungsstaates zumindest semantische Reverenz. Freilich handelt es sich weitgehend auch nur um Semantik, wenn sie außerhalb ihres europäisch-amerikanischen Herkunftsraumes Zustimmung finden. Der Konsens im Namen der Menschenrechte und der Demokratie ist vielfach Formelkonsens, der den Dissens in der Sache verschleiert. Menschenrechte und Demokratie erweisen sich in der babylonischen Sprachenverwirrung, die in der Staatenwelt herrscht, als sinnvariabel. Hier wirkt sich der unterschiedliche Verständnishorizont der Kultur aus, und in dieser die Religion. In Asien und Afrika ist es im wesentlichen die europäisierte Oberschicht, welche die genuin europäischen Staatsgedanken aufnimmt. Die Oberschicht aber ist dünn und fragil. Noch steht der Nachweis aus, ob der Verfassungsstaat tiefere Wurzeln treiben kann, ob etwa in Indien die „Westminster“-Demokratie den ganzen Demos erreicht oder ob die Menschenrechte unter heterogenen soziokulturellen Voraussetzungen effektive Wirksamkeit erlangen, etwa in einer afrikanischen oder asiatischen Gesellschaft, der emanzipatorische Bestrebungen fremd sind, die nicht auf die Freiheit des Individuums sieht, sondern auf seine Einbindung in Familie, Sippe, 56  Zu den Universalisierungstendenzen der Menschenrechte: C. Tomuschat, Probleme des Menschenrechtsschutzes auf weltweiter Ebene, in: T. Berberich/W. Holl/K.-J. Maaß (Hrsg.), Neue Entwicklungen im öffentlichen Recht, 1979, S. 9 ff.; ders., Human Rights in a World-Wide Framework, in: ZaöRV 45 (1985), S. 547 ff.; L. Kühnhardt, Die Universalität der Menschenrechte, 1987, bes. S. 107 ff. (Nachw.); J. Isensee, Staat (Fn. 6), Sp. 139 f., 141 f.; W. v. Simson, Überstaatliche Menschenrechte, in: FS für K. J. Partsch, 1989, S. 47 ff.; K. Stern, Idee der Menschenrechte und Positivität der Grundrechte, in: HStR V, 2. Aufl. 2000, § 108 Rn. 45 ff., 54 ff.; B. Fassbender, Idee und Anspruch der universalen Menschenrechte in der Gegenwart, in: J. Isensee (Hrsg.), Menschenrechte als Weltmission, 2009, S. 11 ff.

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Orts- oder Stammesgemeinschaft. Zunehmend regen sich Zweifel daran, ob der Islam, dem die Trennung von Staat und Religion fremd ist, jemals zu einem modus vivendi wird finden können mit dem säkularem Verfassungsstaat, mit der Religionsfreiheit wie überhaupt mit individuellen Freiheits- und Gleichheitsrechten.57 Aus dem Islam wie aus anderen außereuropäischen Kulturkreisen erhebt sich prinzipielle Kritik am „Eurozentrismus“ der Menschenrechte.58 Die Kritik läßt sich nicht leichter Hand abtun, indem man sich auf ein kosmopolitisches Menschenbild beruft. Denn die Menschenrechte wie auch die demokratischen Rechte kommen den Menschen zu, wie sie kraft ihrer kulturellen Herkunft und ihrer sozialen Umwelt tatsächlich sind, und sie können nur Wirksamkeit verlangen, wenn sie sich mit den autochthonen Kulturen vertragen. Die Frage, ob die europäischen Staatsgedanken tatsächlich universalisierbar sind, also über den christlich-europäischen Kulturkreis hinauswachsen können, läßt sich heute noch nicht beantworten. Das Experiment der Universalisierung läuft. Immerhin ist schon die weltweit verbreitete Semantik der Menschenrechte und der Demokratie ein Hoffnungszeichen für einen erfolgreichen Ausgang des Experiments. Die Geschichte gerade der jüngsten Zeit zeigt: Das Wort kann der Sache den Weg bereiten. 3.  Das Europäische der Europäischen Gemeinschaft Die Frage der soziokulturellen Fundierung des Verfassungsstaates gewinnt praktische Bedeutung für die Europäische Union, wenn sie sich zu entscheiden hat, welchem Beitrittsbegehren weiterer Staaten sie sich öffnen soll. Die Entscheidung stellt sich gegenüber der Türkei und den osteuropäischen Staaten. Der Staatenverein mit seiner wachsenden Kompetenzausstattung und Integrationsdichte und der zunehmenden Reichweite des Mehrheitsprinzips ist auf Homogenität seiner staatlichen Mitglieder angewiesen.59 Diese ergibt sich wesentlich aus ihren Verfassungen, doch nicht aus der verbalen Übereinstimmung der Verfassungs-

57 Dazu

M. Rhonheimer (Fn. 30), S. 38 f., 328 ff. Dazu mit Nachw. L. Kühnhardt (Fn. 57), S. 107 ff.; O. Depenheuer, Risiken und Nebenwirkungen menschlicher Universalität, in: J. Isensee (Fn. 57), S. 81 ff. Ein Dokument des (halb verdeckten) Dissenses: Die „Allgemeine Islamische Menschenrechtserklärung“ von 1981. Dazu A. Frhr. v. Campenhausen, Religionsfreiheit, in: HStR VII, 3. Aufl. 2009, § 57 Rn. 46. Vgl. auch A. Uhle (Fn. 29), S. 155 ff. 59 Dazu H. P. Ipsen, Über Verfassungs-Homogenität in der Europäischen Gemeinschaft, in: FS für G. Dürig, 1990, S. 159 ff. Näher J. Isensee, Europa – die politische Erfindung eines Erdteils, in: ders. (Hrsg.), Europa als politische Idee und als rechtliche Form, 1993, S. 103 (122 ff.). – Zur europäischen Identität P. Häberle, Europäische Verfassungslehre, 6. Aufl. 2009, S. 53 ff.; A. Uhle, Freiheitlicher Verfassungsstaat (Fn. 20), S. 505 ff.; ders. (Fn. 29), S. 125 ff., 150 ff. 58 

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texte, sondern aus der substantiellen Gemeinsamkeit der rechtlichen Grundordnungen. Diese aber hängen ab von soziokulturellen Voraussetzungen. Kultur und gesellschaftliches Ethos sind nicht nur mittelbar bedeutsam im Hinblick auf die Verfassungen. Sie sind letztlich die Sache selbst: das Europäische an der Europäischen Union. Europa ist keine Einheit der physischen Geographie, sondern eine Einheit des in langer Geschichte gewachsenen und gereiften sittlichen und kulturellen Bewußtseins.60 Dieser Kontinent des Geistes ist wesentlich geformt durch das Christentum, genauer: durch das lateinische Christentum, das der Ort übernationaler säkularer Erfahrung ist, wie sie sich in Renaissance und Barock, Aufklärung und in der wissenschaftlich-technischen Epoche vollzogen hat. Das ostkirchliche Europa hat diese Entwicklung nicht mitvollzogen. Im politischen Bewußtsein reicht „Europa“ nicht bis zum Ural, sondern nur bis Finnland und zum Baltikum, bis Polen und Ungarn, Slowenien und Kroatien – aber nicht darüber hinaus. Auf dem Balkan stoßen die religiös vorgeformten Elemente des Erdteils aufeinander: das lateinische Element, das orthodoxe und das islamische.

IV.  Die historische Abwehrhaltung der katholischen Kirche gegen die politische Moderne Mit einigem Recht, wie wir gesehen haben, darf man die Menschenrechte und die Demokratie, darin allgemein den Verfassungsstaat, als Kinder des Christentums bezeichnen. Doch, in geschichtlicher Hinsicht, sind sie illegitime Kinder, gezeugt ohne den Segen der Kirche, von ihr verleugnet und verstoßen. Spät erst kommt es zur legitimatio per matrimonium subsequens. 1.  Konservierung des Ideals der vormodernen Einheitswelt wider den modernen Staat Der prinzipielle Gegensatz zwischen Katholizismus und politischer Moderne reißt auf, als sich im Zeitalter der konfessionellen Bürgerkriege des 16. und 17. Jahrhunderts der moderne Staat herausbildet, und zwar vorerst im Verfassungsgewande der absolutistischen Monarchie.61 Sein primäres Ziel ist die Herstellung eines Gesamtzustandes der inneren Sicherheit. Der Weg dazu führt über Entwaffnung der potentiellen Bürgerkriegsparteien und Entmachtung der alten Feudalherren zur Aufrichtung der staatlichen Souveränität nach innen wie nach außen, auch gegen Kirche und Papst. Am Ende erhebt sich der moderne Staat als machtbewehrte, gewaltmonopolistische Friedenseinheit und als souveräne Entscheidungseinheit im Horizont säkularer Zwecke. Er löst das Dilemma, das der 60 Näher

J. Isensee (Fn. 51), S. 107 ff. (110 ff.). Zur Entstehung des modernen Staates H. Quaritsch (Fn. 29), S. 243 ff., 395 ff.; H. Krüger, Allgemeine Staatslehre, 2. Aufl. 1966, S. 32 ff.; E.-W. Böckenförde (Fn. 9), S. 42 ff. 61 

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Zerfall der übernationalen Glaubenseinheit in der Reformation heraufführte: daß der Glaube, bisher Grundlage der staatlichen Einheit, sich in deren Sprengstoff verwandelt, indem er zunächst die konfessionelle Einheit auf seinem Territorium erzwang, er sich am Ende jedoch – unter dem Einfluß der Aufklärung – mit keiner Religion identifizierte und auf innerweltliche Aufgaben zurückzog.62 Der Verfassungsstaat übernimmt die Grundstruktur der Staatlichkeit von der absolutistischen Monarchie, gibt ihr die demokratische Legitimation und steckt ihr die rechtsstaatlichen Ziele und Grenzen.63 Doch er teilt diese Grundstruktur mit allen Staatsformen der Gegenwart. Sie bildet den gemeinsamen Nenner der Staatlichkeit, auf dem die universale Ordnung des Völkerrechts aufbaut. Die Kirche stellt sich der Entwicklung des souveränen Staates von Anfang an entgegen. Die Souveränität tastet die Existenz der geistlichen Stände an. Sie trifft die politische Superiorität des Papstes. Die Kirche sieht den modernen Staat als generelle Gefährdung ihrer Unabhängigkeit; mit Grund fürchtet sie, daß er sie für seine Zwecke instrumentalisieren will. In erster Linie sind freilich ihre außergeistlichen Belange gefährdet. In den prinzipiellen Absagen der Päpste an die politische Moderne schwingt denn auch die Sorge um die Temporalien mit. Für Pius VI. ist im Jahre 1791 die Zivilkonstitution der französischen Nationalversammlung Anlaß zur Abrechnung mit den Ideen der Revolution im Breve „Quod aliquantum“. Für Pius IX. geht es 1864 in seiner Kampfansage an die „freigeisterischen Irrlehren“ in der Enzyklika „Quanta cura“ mitsamt ihres Syllabus-Anhangs auch um den Bestand der weltlichen Herrschaft des Papstes im römischen Kirchenstaat.64 Die Kirche verwirft die Säkularität des modernen Staates, weil diese die Abkehr von der Wahrheit bedeute, die sich in dem – allein wahren – christlichen Glauben verkörpere. Der Staat entziehe sich dem Heilsauftrag, der ihm obliege wie der Kirche, wenn sie beide ihn auch jeweils auf ihrer Ebene und mit den ihnen eigenen Mitteln erfüllten, er indirekt, sie direkt, aber doch in gemeinsamer Verantwortung, einander zugeordnet wie Leib und Seele. Ein Staat ohne Gott oder ein Staat, der sich zu allen Religionen neutral verhält und sie ohne Unterscheidung auf ihren Wahrheitsgehalt als gleichberechtigt anerkennt, stellt sich nach Leo XIII. in Widerspruch zu Gerechtigkeit und Vernunft.65 Wenn der Staat 62  S. o. Fn. 29. – Zur Säkularität des heutigen Staates: A. Uhle, Staat – Kirche – Kultur, 2004, S. 54 ff., 120 ff.; C. Hillgruber (Fn. 29), S. 7 ff.; E.-W. Böckenförde, Der säkularisierte Staat, 2006, S. 11 ff.; K. F. Gärditz, Säkularität und Verfassung, in: O. Depenheuer/ C. Grabenwarter (Hrsg.), Verfassungstheorie, 2010, S. 153 ff.; M. Rhonheimer (Fn. 30), S. 195 ff., 419 ff. 63 Dazu J. Isensee, Staat (Fn. 6), Sp. 135 ff. 64  Ausdrücklich thematisiert im Syllabus n. 113– 115 (Fn. 2), U-G Bd. I, S. 50 f. 65  Leo XIII., Enzyklika „Libertas praestantissimum“ v. 20.  6. 1888 (U-G Bd. I, S. 200 ff., 210 f.). Vgl. auch ders., Enzyklika „Immortale dei“ v. 1. 11. 1885 (U-G Bd. III, S. 2134 ff.). Dazu P. Tischleder, Die Staatslehre Leos XIII., 1925, S. 282 ff.

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das Wohl seiner Bürger klug und zweckdienlich fördern wolle, müsse er auch die Kirche erhalten und schützen, wie diese ihrerseits die staatliche Ordnung festige und ihr Schutz biete vor den Gefahren von Revolution und Reaktion.66 Eine Trennung von Kirche und Staat wird daher verworfen.67 Die versunkene Einheitswelt des Mittelalters erscheint in der Rückschau als die gottgewollte, wahre Ordnung. Sie stellt sich nun dar als das politische Ideal. Die Kirche hält an ihm fest, obwohl die religiösen und politischen Fundamente längst zerborsten sind. Was beim Aquinaten das ideale Abbild der zeitgenössischen Wirklichkeit gewesen ist, gerät jetzt zu deren kritischem Gegenbild, um sich am Ende zu verklären zum romantischen Traumbild vom verlorenen Paradiese. Eine Staatslehre, die sich mit dem Aquinaten erhoben hatte wie ein gotischer Dom über Markt und Giebelhäuser, über die ganze mittelalterliche Lebenswelt, wirkt nunmehr, in der Fortschreibung und Nachahmung des 19. und 20. Jahrhunderts, wie eine neugotische Vorstadtkirche im Ensemble der Werkhallen und Fabrikschlote; sie steht da als rührender Atavismus, wie die pseudomittelalterliche New Yorker St. Patricks-Kathedrale inmitten der Wolkenkratzer. 2.  Universalismus versus Individualismus Die altständische Ordnung gibt die historische Folie für die Deutung des Staates als Organismus. Hier findet ein jeder seinen sicheren Ort, seine vorbestimmte Aufgabe, seine Pflichten.68 Der Einzelne gliedert sich ein in das Ganze. Das Ganze aber ist vor dem Teil. An dem christlich adaptierten Universalismus aus der Schule des Aristoteles bricht sich der moderne Individualismus. Der Teil und das Ganze stehen einander nicht als Rechtssubjekte gegenüber. Der Teil hat kein Eigenrecht gegen das Ganze, da er doch um des Ganzen willen da ist. Zwischen den verschiedenartigen Gliedern des Organismus gibt es keinen Ansatz für abstraktes Gleichheitsdenken und unter dem Gesetz der Funktionsnotwendigkeit der Glieder keinen Ansatz für ein abstraktes Prinzip der Freiheit. Das einseitige Bild des Menschen in seiner Vereinzelung, von dem die liberalen Freiheitsrechte ausgehen, fordert den Widerspruch der Kirche heraus. Papst Pius VI. verwirft die Gedanken- und Handlungsfreiheit, die von der französischen Nationalversammlung proklamiert werden, mit dem Argument, daß die Menschen nicht nur einzeln, um ihrer selbst willen, geschaffen worden sind, sondern auch um ihrer Mitmenschen willen und zu ihrer Unterstützung. „In ihrer natürlichen Schwäche bedürfen sie

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Leo XIII., „Libertas“ (Fn. 66), S. 204 f. Weit. Nachw. J. Isensee (Fn. 15), S. 323 f. Pius IX., Syllabus n. 2 (Fn. 2), U-G Bd. I, S. 46 f. 68  Zum Folgenden näher mit Nachw. J. Isensee (Fn. 15), S. 309 ff., 322 ff. Zu der weitgehend parallel laufenden Entwicklung im Bereich der evangelischen Kirche: M. Heckel (Fn. 32); C. Link (Fn. 56), S. 868 ff. 67 Ausdrücklich

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zu ihrer Erhaltung der gegenseitigen Hilfeleistung“69 – die vorgegebene Grundpflicht zur Solidarität also als Einwand gegen den liberalen Freiheitsentwurf. Die Kirche beschwört die organische Einheit des Ständewesens gegen den Pluralismus der offenen Gesellschaft, die Statik und Geschlossenheit der vormodernen Welt gegen Unruhe, Wettbewerb, Antagonismus. Noch im Jahre 1931 baut Pius XI. darauf, daß ein modernisiertes Ständemodell von berufsgemeinschaftlichen „ordines“ den Klassenkampf überwinden und die innere Ruhe des Gemeinwesens wiederherstellen könne.70 Auch nach ihrem epochalen Bekenntnis zum Subsidiaritätsprinzip zeigt die Kirche wenig Gespür für die Selbststeuerungskräfte einer offenen, pluralistischen Gesellschaft. Sie vertraut lieber auf obrigkeitlich regulierte Solidarität als auf die gemeindienlichen Wirkungen des freien Wettbewerbs. Insbesondere mißtraut sie dem Markt, den gemeindienlichen Wirkungen des wirtschaftlichen Eigennutzes im freien Ausgleich von Angebot und Nachfrage. Sie hält sich lieber an altruistische Modelle und hat daher eher eine Affinität zu sozialistischer Zwangsmoral der Wirtschaft als zum liberalen Ethos des marktgerechten Verhaltens. Mit noch größerer Verspätung als die Öffnung zum Verfassungsstaat vollzieht sich die Öffnung zur Marktwirtschaft, obwohl diese sein freiheitliches Pendant ist. Der enge und schiefe, marxistoide Dualismus von Kapital und Arbeit bestimmt die Perspektive Johannes Paul II. in „Laborem exercens“ und verstellt die Sicht auf die Marktpolarität von Angebot und Nachfrage. Nach der Implosion der real-sozialistischen Staaten findet der Papst in „Centesimus annus“ zwar ein gutes, doch sehr kurzes Wort für die Marktwirtschaft, hingegen sehr viele Worte für deren Mängel, Grenzen, Korrekturbedarf, im Ergebnis für einen ausgedehnten staatlichen und überstaatlichen Interventionismus.71 Noch immer tut sich die Kirche schwer mit der Rahmenordnung der Freiheit. Das organische Staatsdenken entspricht dem unpolitischen Intellektualismus der Kirche: daß die richtige Ordnung des Gemeinwesens in ehernen Prinzipien des Gemeinwohls und der Gerechtigkeit schon vorgegeben sei und nur erkannt und umgesetzt werden müsse. Hier ist kein Ort für voraussetzungslose politische Entscheidung und für die Souveränität des Volkswillens. Der staatliche Organismus ist gewachsen. Er wird nicht gemacht. Just das aber ist Ziel der politischen Moderne, seitdem die Renaissance den „Staat als 69 

Pius VI. (Fn. 12), S. 2662 f. Pius XI., Enzyklika „Quadragesimo anno“ v. 15. 5. 1931, n. 81– 95 (U-G Bd. I, S. 602 ff.). Zu diesem vieldeutigen Modell: A. Merkl, Der staatsrechtliche Gehalt der Enzyklika „Quadragesimo anno“, in: Zeitschrift für Öffentliches Recht XIV (1934), S. 208 ff.; E. Voegelin, Der autoritäre Staat, 1936, S. 206 ff., 226 ff.; G. Gundlach, Fragen um eine berufsständische Ordnung, in: StdZ 125 (1933), S. 217 ff.; A. Rauscher, Sozialphilosophische und ökonomische Realität, in: Ordo XII (1960/61), S. 433 ff. 71  Johannes Paul II., „Centesimus annus“, n. 30 ff. (Fn. 4, S. 35). 70 

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Kunstwerk“72 begreift. Von der Machbarkeit des Staates gehen die verfassungspolitischen Bewegungen aus, die ihn als Gegenstand des Planens und Gestaltens begreifen. Auf dieser Prämisse gründet seit Thomas Hobbes die Philosophie, die ihn als Produkt menschlicher Vernunft rechtfertigt. Sie versteht ihn auch nicht als Organismus, vielmehr als Mechanismus. Allerdings bezieht sie sich nur auf den Staat im engeren Sinne, auf die Staatsorganisation als das Gegenüber der Gesellschaft, also nur auf einen Teil des Gemeinwesens, indes der weitere Staatsbegriff gerade das Gemeinwesen umgreift und das Ganze meint, das noch nicht geschieden ist in Regierung und Regierte, in Ämterwesen und Gesellschaft. Der engere Staatsbegriff bezeichnet den Adressaten der Grundrechte sowie das Substrat der rechtsstaatlichen Freiheitsgarantien. Die Kirche aber meint das Gemeinwesen in seiner Ganzheit und Fülle als societas perfecta et completa, wenn sie vom Staat spricht.73 Der Verfassungsstaat aber ist seiner Intention nach imperfekt und inkomplett: fragmentarische und subsidiäre Rahmenordnung der Freiheit. Schon im Staatsbegriff waltet Dissens zwischen Kirche und moderner Welt. Sie reden aneinander vorbei. Die Verständigung wird erschwert durch die scholastische Begrifflichkeit, deren sich die katholische Staats- und Soziallehre bedient bis tief in das 20. Jahrhundert hinein und mit der sie sich abschottet gegen den modernen Geist und seine Sprache, gegen die philosophischen Gründe des Verfassungsstaates und gegen seine juridischen Formen. Die prinzipielle Abwehrhaltung wird eindrucksvoll dokumentiert durch förmliche Bücherverbote. Der Index Romanus führt nahezu alle Klassiker der politischen Moderne auf: Machiavelli, Guicciardini und Bodin, Hobbes, Locke und Pufendorf, Montesquieu, Rousseau und Kant.74 72  J. Burckhardt, Die Kultur der Renaissance in Italien (1860), Überschrift des Ersten Abschnitts (Ausgabe 1981, S. 27). 73  Ein engerer Staatsbegriff liegt allerdings der Lehre zugrunde von den Pflichten des Untertanen gegen die Obrigkeit („potestas“ im Sinne von Röm. 13). Zu den verschiedenen Staatsbegriffen J. Isensee, Staat (Fn. 6), Sp. 144 ff.; ders., Gemeinwohl im Verfassungsstaat, in: HStR IV, 3. Aufl. 2006, § 71 Rn. 20 ff. 74  Ausweislich des Index librorum prohibitorum aus dem Jahre 1835 (Ausgabe: Index librorum prohibitorum iuxta exemplar romanum iussu sanctissimi domini nostri, Mechliniae (Mecheln) 1838; vgl. auch Index Romanus. Verzeichnis sämtlicher auf dem römischen Index stehenden deutschsprachlichen Bücher, desgleichen aller wichtigen fremdsprachlichen Bücher seit dem Jahre 1750, hrsg. von A. Sleumer, 11. Aufl. 1956) waren verboten (in Klammern der Zeitpunkt des Verbotes): N. Machiavelli, Opera omnia (1564); J. Bodin, De Republica libri VI (1592); ders., De Magorum Daemonomania (1594); ders.,Methodus ad facilem Historiarum cognitionem (1596); ders., Universae Naturae Theatrum (1633); ­F. Guicciardini, La Historia d’Italia con le postille in margine delle cose più notabili, con la vita dell’Autore di nuovo riveduta, e corretta per Francesco Sansovino, con l’aggiunta di quattro libri lascati addietro dall’Autore (1627); ders., Loci duo ob rerum, quas continent, gravitatem cognitione dignissimi, ex ipsius Historiarum libris tertio et quarto dolo malo detracti, nunc ab interitu vindicati (1603); ders., Historiam sui temporis libri XX, ex Italico

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3.  Parteinahme für das monarchische Prinzip Im politischen Konflikt, der mit der französischen Revolution in Europa aufflammt, steht die katholische Kirche im Lager der alten Mächte. Sie nimmt Partei wider die demokratische Bewegung, für die monarchische Ordnung. Der Papst begrüßt im Jahre 1814 die Restauration des Königtums der Bourbonen in Frankreich mit besonderer Freude darüber, daß nunmehr wieder ein Nachkomme aus dem Geschlecht des heiligen Königs Ludwig dazu berufen sei, die französische Nation zu regieren. Die Freude werde allerdings dadurch getrübt, daß der Entwurf der neuen Verfassung die Religions- und Gewissensfreiheit allen Konfessionen ohne Rücksicht auf Wahrheit oder Irrtum zugestehe, und daß er die Pressefreiheit gewährleiste, die größte Gefahren für Sitte und Glauben heraufbeschwöre.75 Die Absage an die Demokratie wird theologisch untermauert durch die Ableitung der Staatsgewalt aus dem Willen Gottes (Röm 13), die eine Ableitung aus dem Willen des Volkes ausschließe. Das Prinzip der Volkssouveränität wird somit verworfen. Der Gehorsam, den der Christ nach Paulus der – nicht durch eine besondere Staatsform spezifizierten – „potestas“ schuldet, wird gedeutet als dynastische Treupflicht.76 Die Absage an die Volkssouveränität wirkt lange nach im politischen Katholizismus, der mit der demokratischen Grundnorm, daß alle Staatsgewalt vom Volke ausgeht, seine Glaubensnot hat, obwohl dieser Satz nur die innerweltliche Legitimation der Staatsgewalt zum Thema hat, die Negation der Autokratie, indes die Frage der religiösen theonomen Begründung jenseits des säkularen Verfassungshorizontes liegt. Das Problem löst noch im Jahre 1948 bei der Beratung des Grundgesetzes im Parlamentarischen Rat eine Debatte aus.77

in latinum sermonem conversi. Coelo Secundo Curione interprete (1596); T. Hobbes, Opera omnia (1703); J. Locke, An essay concerning human understanding (1734); ders., The reasonableness of christianity as delivered in the Scriptures (1737); C. de Montesquieu, De l’esprit des lois (1751); ders., Lettres persanes (1762); S. v. Pufendorf, Einleitung zu der Historie der vornehmsten Reiche und Staaten in Europa (1692, in latein. Sprache: 1736); ders., De iure naturae et gentium, libri VIII (1711); ders., De officio hominis et civis iuxta legem naturalem, libri II (1751); ders., De statu imperii germanici liber I, notis ad praesens saeculum accomodatis auctus a. Jo. Godofr. Schaumburg (1753); J.-J. Rousseau, Du contrat social, ou principes du droit politique (1766); I. Kant, Critica della Ragione pura (1827). 75  Pius VII., Litterae Apostolicae „Post tam diuturnas“ v. 29. 4. 1814 (in: U-G Bd. I, S. 462 ff.). 76 Vgl. Pius VI. (Fn. 12), S. 2664 f.; Gregor XVI. (Fn. 81), S. 150 ff.; Leo XIII., Enzyklika „Diuturnum illud“ v. 29. 6. 1881 (in: U-G Bd. III, S. 2094 f.). Dazu: P. Tischleder (Fn. 66), S. 208 ff. 77  Dazu Nachw. in JöR n.F. 1 (1951), S. 198 f.; H. v. Mangoldt, Das Bonner Grundgesetz, 1. Aufl. 1953, Art. 20 Anm. 5 (S. 136).

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4.  Keine menschenrechtliche Freiheit für den Irrtum Als sich in der französischen Revolution das moderne Freiheitsbegehren radikal und geschichtsmächtig entlädt, tritt ihm der Papst schroff und prinzipiell entgegen. Er sieht in ihm die Hybris und den Abfall Luzifers, das unheilige „Non serviam“78, die Rebellion gegen jenes Gebot, mit dem Gott schon im Paradiese die Freiheit der ersten Menschen beschränkt hat: nicht den Apfel vom Baum der Erkenntnis zu essen.79 Im Griff nach der Gewissensfreiheit und der Meinungsfreiheit vollzieht sich der Höllensturz der modernen Gesellschaft; Gregor XVI. gibt in seiner Enzyklika „Mirari vos“ eine apokalyptische Vision.80 Dem negativen Freiheitsentwurf der liberalen Menschenrechte, der Abwesenheit von staatlichem Zwang, setzt die Kirche ihren eigenen, positiven Freiheitsentwurf entgegen: die Freiheit als Fähigkeit des Menschen, den Willen Gottes zu tun und darin das eigene Wesensgesetz zu erfüllen. Dieses Verständnis von Freiheit ist ausgerichtet auf die Wahrheit, und sie erhält aus dieser ihr Recht. Der Mensch hat nicht die Freiheit, die Wahrheit zu mißachten, den Irrtum zu verbreiten, das Böse zu tun. Gregor XVI. beruft sich auf Augustinus, daß es keine Freiheit für den Irrtum gebe: „At quae peior mors animae quam libertas erroris.“81 Auf dieser Linie liegt die Auffassung Leos XIII., daß das liberale Postulat der Freiheit der Lehre dazu angetan sei, von Grund auf die Hirne zu verkehren, wenn jeder glaube, nach Belieben zu lehren, was ihn gutdünke; eine solche Zügellosigkeit dürfe die Staatsgewalt den Bürgern nicht gewähren.82 Die katholische Kirche, die das Recht der Wahrheit einfordert, ist sich sicher, im Besitz der Wahrheit zu sein. Als höchste und sicherste Lehrerin der Völker fördere sie die menschliche Freiheit, weil nach dem Wort Christi der Mensch durch die Wahrheit frei werde.83 Hier werden zwei heterogene Begriffe von Freiheit verknüpft: einerseits die heilsgeschichtliche Freiheit von Unglauben und Sünde („et veritas liberabit vos“, Joh 8, 32), andererseits die grundrechtliche Freiheit von den Vorgaben des staatlichen Rechts. Das moderne Dilemma, daß die Wahrheit ungewiß ist, ein Ziel des Suchens, eine Ursache des Streits, erschüttert die Päpste des 19. Jahrhunderts nicht, weil sie kraft ihres Lehramtes die Wahrheit bereithalten. Sie verwerfen die menschenrechtliche Lösung des Verfassungsstaates, sich der Entscheidung über die Wahrheitsfrage zu enthalten und sie den Individuen zuzuweisen. Sie trauen diesen nicht 78  Leo XIII., „Libertas“ (Fn. 66), S. 194 f. Zur Abwehrhaltung der Päpste des 19. Jahrhunderts: J. Isensee (Fn. 15), S. 296 ff.; R. Uertz, Vom Gottesrecht zum Menschenrecht, 2005, S. 33 ff., 193 ff., 363 ff.; M. Rhonheimer (Fn. 30), S. 134 ff. 79 So Pius VI. (Fn. 12), S. 2662 f. 80  Gregor XVI., Enzyklika „Mirari vos“ v. 15. 8. 1832, in: U-G Bd. I, S. 148 f. 81  Augustinus, psal. contra part. Donat. Zitiert von Gregor XVI. (Fn. 80), S. 148 f. 82  Leo XIII., „Libertas“ (Fn. 66), S. 206 f. 83  Leo XIII., „Libertas“ (Fn. 66), S. 208 f.

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zu, die Wahrheit unter den Bedingungen subjektiver Freiheit zu finden. Denn sie teilen nicht den naiv-aufklärerischen Glauben an das Gute im Menschen. Vielmehr stellen sie ab auf die durch Erbsünde verderbte Natur. Diese aber bedarf der Autorität des Staates. Daß nicht nur die menschenrechtliche Freiheit, sondern auch die Autorität erbsündigen Menschen anvertraut ist, bedeutet keinen inneren Widerspruch, jedenfalls solange die staatliche Autorität über die kirchliche Autorität den Konnex mit der ewigen Wahrheit hält. In den modernen Freiheitsrechten reißt dieser Zusammenhang ab. Gregor XVI. prophezeit die Folgen: „Denn wenn der Zügel zerrissen ist, mit dem die Menschen auf den Pfaden der Wahrheit gehalten werden, dann stürzt ihre ohnehin zum Bösen geneigte Natur rasend schnell in den Abgrund.…Die Erfahrung bezeugt es, und seit uralter Zeit weiß man es: Staatswesen, die in Reichtum, Macht und Ruhm blühten, fielen durch dieses eine Übel in sich zusammen, nämlich durch zügellose Meinungsfreiheit, Redefreiheit, Neuerungssucht“.84 Die Kirche verwirft auch den Rückzug des Verfassungsstaates auf die Legalität, seinen Verzicht darauf, Moralität zu erwirken, und seine Selbstbescheidung darin, nur das ethische Minimum zu gewährleisten. Dieser Begrenzung der Staatsgewalt entspricht der negative Freiheitsentwurf der liberalen Grundrechte, die der Wahrheit wie dem Irrtum offenstehen und den guten wie den bösen, den verständigen wie den törichten Gebrauch ermöglichen.85 Die alte Position meldet sich ein letztes Mal 1962, zu Beginn der Beratungen des Zweiten Vatikanischen Konzils: Wenn die Mehrheit der Menschen in einem Staat katholisch sei, dann müsse auch der Staat katholisch sein. Für die Angehörigen eines anderen Glaubens gebe es kein Recht, ihren Glauben öffentlich zu bekennen. Der Staat könne und müsse aber unter Umständen aus Gründen des Gemeinwohls ihr Bekenntnis dulden. Sei dagegen die Mehrheit nicht katholisch, so müsse sich der Staat nach dem Naturrecht richten, d. h. er habe sowohl den einzelnen Katholiken als auch der katholischen Kirche alle Freiheit zu lassen.86 Aus der säkular-menschenrechtlichen Sicht der Religionsfreiheit erscheint die Position in sich unstimmig: Recht nach zweierlei Maß. Doch die traditionelle Position stützt sich nicht auf die Religionsfreiheit, sondern auf das Recht der Wahrheit, und dieses sieht zweierlei Maß vor: das eine für die Wahrheit, das andere für den Irrtum.87 84  Gregor XVI., „Mirari vos“ (Fn. 81), S. 148 f. – Zum Freiheitsbegriff der Päpste: J. Isensee (Fn. 15), S. 310 ff. (Nachw.). 85  Zu den Freiheitsbegriffen des Verfassungsstaates J. Isensee, Was heißt Freiheit?, in: FS für E. Schmidt-Jortzig, 2011, S. 269 ff. (insbes. S. 282 f.). 86  IX. Kapitel des Entwurfs „Über die Kirche“, zitiert nach K. Rahner/H. Vorgrimler, Kleines Konzilskompendium, 1966, S. 655. 87  In diesem Sinne A. Ottaviani, Rede vom 2. 3. 1953 (zitiert nach F. Heer, Die dritte Kraft, 1959, S. 597). Vgl. auch A. Ottaviani, Institutiones iuris publici ecclesiatici,Vol. II, Ecclesia et status, 4. Aufl. 1960, S. 46 f., 55 f., 66 f.

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V.  Allmähliche Annäherung und Aussöhnung Zwischen der Verwerfung, die das verfassungsstaatliche Werk der Aufklärung nach 1789 durch die Päpste erfuhr, und der Zuwendung, die ihm heute der Papst bekundet, liegt eine kopernikanische Wende. Diese vollzieht sich nicht uno actu. Vielmehr verläuft sie in einem langen, schwierigen Prozeß, der sich durch zwei Jahrhunderte hinzieht. Er bewegt sich auf vielen, oft verschlungenen und unsichtbaren Wegen. Die Annäherung erfolgt schrittweise. Der Konfliktstoff wird nach und nach entschärft. Immerhin läßt sich der historische Zeitpunkt klar bestimmen, an dem die Kirche ihren letzten Dissens mit dem Verfassungsstaat amtlich beilegt, den Dissens über die Religionsfreiheit. Das Datum ist der 7. Dezember 1965, als das Zweite Vatikanische Konzil die Erklärung „Dignitatis humanae“ annimmt. 1.  Verbürgerlichung der Kirche Vor jeder lehramtlichen Annäherung vollzieht sich die soziologische Anpassung der Kirche an das bürgerliche Zeitalter, das sich mit der französischen Revolution in Europa etabliert hat. Seit sie ihre weltliche Herrschaft in der Säkularisation eingebüßt hat, rekrutiert sie ihr Führungspersonal kaum noch aus dem Adel, sondern überwiegend aus dem Bürgertum; es sind nicht zuletzt Handwerker- und Bauernsöhne, die nun die Bischofsstühle besetzen. Damit löst sich die hergebrachte Verflechtung der Kirche mit den regierenden Häusern und der Aristokratie. Die äußere Anpassung an das Bürgertum wird begleitet durch die innere Verbürgerlichung der Kirche. Sie öffnet sich zunehmend bürgerlichen Wertvorstellungen und macht sich bürgerliche Tugenden, ein moralisches Erbe der Aufklärung, zu eigen: Arbeitsamkeit, Pünktlichkeit, Ordnungssinn, Sauberkeit, Sittsamkeit. Joseph Haydn, Katholik dörflicher Herkunft und barockhöfischer Berufsprägung, seufzt noch, als ihm sein aufklärerischer Librettist und Mentor van Swieten zumutet, ein „Lob des Fleißes“ für das Oratorium der „Jahreszeiten“ (1801) zu komponieren.88 Eine Generation später wird die Trägheit als Sünde im Beichtspiegel aufgeführt. Folgenschwer für die Kirche wird die Übernahme der bürgerlichen Sexualmoral, wie sie in der Aufklärung Gestalt angenommen hatte. Das Bürgertum hatte sich gerade in seiner Sittenstrenge abgesetzt von der Frivolität des Rokoko und von der Verderbtheit des ancien régime. Lessings „Emilia Galotti“ ist hier literarisches Zeugnis. Die Kirche, im Barockzeitalter selbst einbezogen in die höfische Kultur der Sinnlichkeit, geht nun dazu über, die bürgerliche Moral mit eigenen Traditionen paulinischen, manichäischen, cluniazensischen Ursprungs zu verbinden, sie zu verinnerlichen und zu überhöhen. 88 Dazu

H. E. Jacob, Joseph Haydn, 1954, S. 340.

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Literarisches Zeugnis sind hier Manzonis „I promessi sposi“. Die Beichtmoral des katholischen Volkes fixiert sich zunehmend auf das sechste Gebot, das vom Verbot des Ehebruchs zum Verbot der Unkeuschheit mutiert und sich mit absoluter Todsünden-Sanktion für alles, was in Gedanken, Worten und Werken „unkeusch“ ist, bewehrt. Die verbürgerlichte Kirche gewinnt an Spiritualität. Aber sie nimmt auch anämische Züge an. Die alte Symbiose der katholischen Lebenswelt mit der Kultur, die den süddeutschen Barock hervorgebracht hat und noch in Haydn und Mozart lebendig ist, zerfällt. Der Katholizismus zieht sich in ein Kulturghetto zurück, das ihn von den herrschenden geistigen Bestrebungen der Zeit abschirmt. Erst im 20. Jahrhundert tritt er zögernd aus ihm heraus. Es ist eine merkwürdige Fügung der Geschichte, daß, als der Katholizismus sein Ghetto vollends niedergelegt hat und die Kirche ihren letzten Vorbehalt gegen das politische Erbe der Aufklärung zurücknimmt, in den sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts, die bürgerliche Welt samt bürgerlicher Sexualmoral in der Kulturrevolution zusammenbricht. Während die Konzilserklärung zur Religionsfreiheit eine Mauer zur modernen Welt niederlegt, richtet die Enzyklika Pauls VI. „Humanae vitae“ eine neue, naturrechtlich fundierte Mauer auf, obwohl sie nur die bisherige Morallehre der Kirche fortschreibt, nunmehr jedoch nicht mehr mit bürgerlicher Rückendeckung, und führt in eine innerkirchliche Gehorsams- und Glaubwürdigkeitskrise, wie sie keine lehramtliche Verlautbarung des 19. Jahrhunderts ausgelöst hat, weder der Syllabus noch das Unfehlbarkeitsdogma. 2.  Peripetie unter Leo XIII. Der Abwehrkampf, den die Päpste seit Pius VI. gegen die Ideen der französischen Revolution führen, findet seinen Höhepunkt unter Leo XIII. Tiefer und differenzierter als seine Vorgänger begründet er das Recht der Wahrheit. Aber gerade in seiner Differenziertheit leitet er die Wende ein, die auf Dauer zu Annäherung und Ausgleich führen wird. Er öffnet den Freiheitsrechten wenigstens einen Spalt breit die Tür, indem er anerkennt, daß in Ermessensfragen, die Gott den Menschen anheimgegeben habe, die Meinungs- und Pressefreiheit nicht zur Unterdrückung der Wahrheit verleite, sondern gerade deren Entdeckung und Offenlegung bewirken könne,89 also: in dubiis libertas. Echte grundrechtliche libertas fordert der Papst in den Bereichen des Elternrechts, der Vereinigungsfreiheit, des Privateigentums. Leo XIII. kündigt das Bündnis der Kirche mit der Monarchie auf, erklärt die Neutralität in der Frage der Staatsform und findet so einen modus vivendi mit der Republik und der Demokratie. Pius XII. wird sich in seiner Weihnachts-Rundfunkbotschaft vom 24. Dezember 1944, ungeachtet 89 

Leo XIII., „Libertas“ (Fn. 66), S. 206 f., 209 ff.

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grundsätzlicher Vorbehalte, aktiv und positiv der modernen Demokratie zuwenden. Leo XIII. erkennt die Lösung der sozialen Frage – mithin die Bewältigung der Folgeprobleme des Liberalismus – als Aufgabe des Staates. Die sozialstaatliche Dimension, die dem Verfassungsstaat im 19. Jahrhundert zuwächst, findet von Anfang an die Zustimmung und den Zuspruch der Kirche. Der Hiatus zwischen Kirche und moderner Welt bleibt auch nach Leo XIII. gewaltig, zumal in den Fragen der liberalen Menschenrechte, die dem Individuum die Letztkompetenz zur Entscheidung der Wahrheitsfrage geben, der Religionsund Gewissensfreiheit, der Meinungsfreiheit, der Presse- und der Lehrfreiheit. Gleichwohl setzt nun ein, wenn auch vielfach verzögerter Prozeß der Annäherung ein, der von Indifferenz zu Zuwendung führt, von pragmatischer Duldung zu lehramtlicher Annahme. 3.  Innerkirchliche Kräfte des Ausgleichs Der Annäherungs- und Rezeptionsprozeß kann nicht nur in der externen Beziehung zwischen Kirche und moderner Welt gesehen werden, sondern auch in den innerkirchlichen Strömungen. Das „weltliche“ Gedankengut dringt aus dem Kirchenvolk über die unteren Stufen der Hierarchie in die Kirche ein, bis es sich im Abklärungsprozeß der innerkirchlichen Kontroversen von unten nach oben durchsetzt. Ehe Momente des Liberalismus ihre Aufnahme in die Lehrschreiben Papst Leos XIII. finden, vergeht fast ein Jahrhundert, in dem der katholische Liberalismus um einen Platz in der Kirche kämpfen muß. Am Anfang der Entwicklung, die mit „Diuturnum illud“, dem Friedensschluß der Kirche mit den modernen Staatsformen, ihren Abschluß findet, stehen französische Bewegungen einer „démocratie chrétienne“ sowie der tragische Vermittlungsversuch des Abbé Lamennais.90 Die päpstlichen Lehrverlautbarungen bilden in zweierlei Richtung ein Resümee: Sie resümieren Bewegungen, die extra muros ihren Ursprung haben, und solche, die intra muros wirken. Dieses Resümee kann nur vorsichtig gedeutet werden, weil die autoritative Kraft und der universale Adressatenkreis Zurückhaltung gebieten. Es kann auch zeitlich nur in einer Phasenverschiebung gegenüber der allgemeinen Entwicklung erfolgen, weil es nicht darum geht, mit dem Anspruch der Originalität politische Initialzündungen zu geben und sozialtheoretische Pionierleistungen zu erbringen, sondern aus der Distanz heraus, wie sie eine verfestigte, alte Tradition ermöglicht, das Beharrende der naturrechtlichen Ordnungsvorstellungen im Wechsel der Zeitströmungen geltend zu machen. Kräftiger als alle doktrinären Öffnungsversuche ist der pragmatische Ausgleich mit dem Verfassungsstaat über die tatsächliche Nutzung der Freiheitsrechte durch kirchliche Verbände und Parteien, über die Partizipation der katholischen 90 Dazu

H. Maier, Revolution und Kirche, 3. Aufl. 1973.

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Bevölkerung an der Demokratie, über den Genuß rechtsstaatlichen Schutzes, kurz: über die Erfahrung mit dem Verfassungsstaat, die gerade nicht die apokalyptischen Ängste bestätigt, wie sie Päpste des 19. Jahrhunderts heimsuchen. In der angelsächsischen Welt arrangiert sich der Katholizismus von Anfang an zwanglos mit der liberalen Demokratie. Tocqueville berichtet mit Erstaunen, daß Amerika das demokratischste Gebiet der Erde sei und gleichzeitig das Land, in dem die katholische Religion den größten Fortschritt aufweise.91 Die angelsächsische Welt realisiert ihrerseits ein pragmatisches Modell des Verfassungsstaates, das, anders als das französische, keinen geschlossenen Weltentwurf darstellen und keine politische Religion inaugurieren will. Darin eben ruft die französische Revolution den Widerstand der katholischen Kirche auf den Plan.92 Der Fundamentalkonflikt spielt sich auch nur im Wirkungsfeld dieser Revolution ab, vornehmlich also auf dem europäischen Kontinent. Er greift nicht über auf die angelsächsische Demokratie, in der die Katholiken ohnehin eine Minderheit bilden und auf menschenrechtlichen Schutz angewiesen sind. Gerade aus dem amerikanischen Katholizismus kommen wichtige Impulse, die im 20. Jahrhundert zum Ausgleich führen. Dagegen hat die neuscholastisch operierende katholische Soziallehre keinen nennenswerten Beitrag zur verfassungsstaatlichen Wende der Kirche geleistet. Menschenrechte, Gewaltenteilung und Demokratie lassen sich nicht aus abstrakten Gemeinwohl- und Gerechtigkeitsprinzipien einer ungeschichtlichen Naturrechtsdoktrin deduzieren. Jene sind konkrete Antworten auf geschichtliche Erfahrung, auf Unterdrückung des Humanum, Vorkehrung gegen Gefahr, Entwurf politischer Hoffnung. Das praktische Interesse ist ein wirksameres Vehikel der Menschenrechte als die philosophische Spekulation. Ein politisches Bedürfnis der Kirche, den Zugriff des Staates auf die Erziehung zurückzudrängen, leitete ihren eigenen schöpferischen Beitrag zu den Menschenrechten: die Entwicklung des Elternrechts, im verfassungsrechtlichen Ergebnis ein liberales Grundrecht, das die Erziehung und die Entscheidung über deren Ziele den Eltern, gleich, ob Christen oder Nichtchristen, überantwortet.93 4.  Die Auflösung des Widerspruchs in „Dignitatis humanae“ Der Widerstreit zwischen kirchlichem Wahrheitsanspruch und modernem Freiheitsanspruch kulminiert in den Auseinandersetzungen des Zweiten Vatikanischen Konzils über die Religionsfreiheit. Das Konzil löst den Konflikt, aber nicht dadurch, daß es sich einseitig für die eine oder die andere Position entschei91 

A. de Tocqueville (Fn. 38), II. Teil, 6. Kapitel, S. 513. H. Maier, Kirche und Demokratie, 1979, S. 84 ff. 93 Dazu: J. Isensee, Elternrecht, in: StL, Bd. 2, 7. Aufl. 1986, Sp. 222 ff. 92 Dazu

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det, sondern sachgerecht differenziert. Die Differenzierung aber ist vollkommen ausgereift. Das Konzil nimmt die Unterscheidungen auf, die dem Menschenrecht der Religionsfreiheit zugrunde liegen. Sie richtet sich nicht gegen die Religion, sondern gegen staatlichen Zwang in Fragen der Religion. Der Staat selbst hat keine Religion, und er entscheidet auch nicht, was wahre Religion ist, was nicht. Die Entscheidung trifft ein jeder für sich. Die Frage nach der wahren oder falschen Religion stellt sich also für das Menschenrecht nicht. Sie beantwortet ein jeder selbst. Seine höchstpersönliche Sache ist es, was er glaubt oder nicht glaubt, ob und wie er seinen Glauben bekennt und lebt. Die Religionsfreiheit tastet die religiösen Pflichten nicht an, die im Gewissen begründet sind. Das Zweite Vaticanum nimmt diese Distinktion auf, wenn es die Religionsfreiheit als Abwehrrecht gegen den Staat anerkennt, den heteronomen Zwang zur Wahrheit verwirft, aber die autonome religiös-moralische Pflicht zur Wahrheit um so deutlicher hervorhebt: daß die Menschen im Gewissen gehalten sind, die Wahrheit zu suchen, besonders über Gott und die Kirche, die erkannte Wahrheit aufzunehmen und zu bewahren und das Leben nach den Forderungen der Wahrheit zu ordnen. Über die Wende in der Menschenrechtsfrage hinaus wahrt die Kirche ihre Identität, wenn sie auf der Pflicht zur Wahrheit beharrt. „Da nun die religiöse Freiheit, welche die Menschen zur Erfüllung der pflichtgemäßen Gottesverehrung beanspruchen, sich auf die Freiheit von Zwang in der staatlichen Gesellschaft bezieht, läßt sie die überlieferte katholische Lehre von der moralischen Pflicht der Menschen und der Gesellschaften gegenüber der wahren Religion und der einzigen Kirche Christi unangetastet.“94 Das Dekret über die Religionsfreiheit geht aus von der Würde der menschlichen Person, die, von jeher Thema kirchlicher Verkündung, sich nun unter neuem Aspekt darstellt: als Forderung nach Freiheit von gesellschaftlichen Zwang, insbesondere nach religiöser Freiheit. Diese Freiheit wird abgeleitet aus der Menschenwürde, „so wie sie durch das geoffenbarte Wort Gottes und durch die Vernunft selbst erkannt wird.“95 Die Religionsfreiheit ist daher keine kontingente Gunst des positiven Rechts, sondern eine Vorgabe des ius divinum und ius naturale. Das Konzil entfaltet die Religionsfreiheit als Recht der Individuen wie als Recht der Religionsgemeinschaften, in Reichweite und Schranken, als Gleichheit aller Religionsgemeinschaften und als Schutz vor Diskriminierung – das alles genauer, vollständiger und folgerichtiger als je eine staatliche Verfassung oder völkerrechtliche Konvention es vorgemacht hat. Das Konzil beschreibt auch die innere Schranke, den Mißbrauch der Religionsfreiheit: daß Religionsgemeinschaften in ihrem Wirken den Anschein erwecken, als handele es sich um Zwang 94  95 

„Dignitatis humanae“ (Fn. 16), n. 1, 2, 3, 11. „Dignitatis humanae“ (Fn. 16), n. 2.

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oder um unehrenhafte oder ungehörige Überredung, zumal im Umgang mit weniger Gebildeten und Armen.96 Der Staatsgewalt obliegt der Schutz und die Förderung der Religionsfreiheit wie der Menschenrechte überhaupt. Er hat für die rechtlichen und außerrechtlichen Voraussetzungen zu sorgen, „damit die Bürger wirklich in der Lage sind, ihre religiösen Rechte auszuüben und die religiösen Pflichten zu erfüllen“.97 Damit entsagt das Konzil allen Vorstellungen, daß der Staat als bracchium saeculare der Kirche fungieren könne. Die Wahrheit des Glaubens hat auch keinen weltlichen Arm nötig. Das Konzil bekennt sich dazu, „daß die Pflichten die Menschen in ihrem Gewissen berühren und binden, und anders erhebt die Wahrheit nicht Anspruch als kraft der Wahrheit selbst, die sanft und zugleich stark den Geist durchdringt.“98 Diese Linie der Distanzierung der Kirche von äußerer Macht zieht Papst Benedikt XVI. weiter aus, wenn er die Säkularisierungen der Geschichte, wie die Enteignung von Kirchengütern und die Streichung der Privilegien, als heilsame Entweltlichung der Kirche deutet, als „Anspruch einer Armut, die sich zur Welt geöffnet hat, um sich von ihren materiellen Bindungen zu lösen“ und in ihrem missionarischen Handeln wieder glaubhaft zu werden.99

VI.  Gefahren der Identifikation von kirchlichem Auftrag und politischer Aufklärung 1.  Gefahren für die Kirche Wenn die Kirche am Ende des 20. Jahrhunderts sich für Menschenrechte und Demokratie gegen totalitäre und autoritäre Despotie einsetzt, kann sie breiter Zustimmung sicher sein. Seit dem Zusammenbruch der totalitär-sozialistischen Systeme steht sie jedoch in Ost und West nicht mehr vor der Aufgabe, für die Freiheit zu kämpfen, sondern die verfassungsstaatlich etablierte Freiheit zu nutzen. Damit aber gerät sie in ein Dilemma neuer Art. Nach einer historischen Phase, in der sie das politische Werk der Aufklärung verworfen, nach einer weiteren Phase, in der sie mit ihm zum Ausgleich gefunden hat, scheint nun die Phase gekommen zu sein, daß sie sich mit ihm identifiziert und in ihm aufgeht, sich damit auf Religion in den Grenzen der bloßen Vernunft 96 

„Dignitatis humanae“ (Fn. 16), n. 4. „Dignitatis humanae“ (Fn. 16), n. 6. 98  „Dignitatis humanae“ (Fn. 16), n. 1. 99  Benedikt XVI., Ansprache am 25. 9. 2011 in Freiburg i. Br., in: Verlautbarungen des Apostolischen Stuhls Nr. 189, Apostolische Reise Seiner Heiligkeit Papst Benedikt XVI. nach Berlin, Erfurt und Freiburg 22.-25. September 2011, S. 145 (149). 97 

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reduziert, die ihr die Aufklärung von jeher zugestanden hat. Auf dieser Linie liegen kirchliche Bekenntnisse zu den Menschenrechten, zur Demokratie, zu den jeweils aktuellen Staatszielen wie soziale Gerechtigkeit und Umweltschutz. Alter kirchlicher Übung gemäß werden die verfassungsrechtlichen und politischen Kategorien verinnerlicht und überhöht: bei den Menschenrechten genüge nicht die Anerkennung des „Buchstaben“, es bedürfe der Aufnahme ihres „Geistes“; Demokratie dürfe nicht nur „formal“ verstanden werden, sondern „material“, sie sei nicht bloß triviale Staats- und Regierungsform, sondern tief und umfassend zu begreifende „Lebensform“. Auf dieser Linie liegt es, wenn die Kirche sich auf solche Dienstleistungen beschränkt, die säkularen Interessen kompatibel sind: soziale, volkspsychiatrische und volkspädagogische Aufgaben, Entwicklungshilfe, Kulturpflege, Denkmalschutz. Eine dergestalt aufklärungskompatible Kirche relativiert ihre Rolle als Dienstleister, Sinnanbieter, Moralvermittler, eine unter vielen Organisationen dieser Art auf dem pluralistischen Markt der Beliebigkeiten. Die vorbehaltlose Hingabe an die Aufklärung wird gefördert durch die Phobie der Kirche, sich das Stigma des Fundamentalismus zuzuziehen. Im Ergebnis ist aber die unkritische Anpassung für die Kirche nicht minder verhängnisvoll als vormals die unkritische Verwerfung. Mit der Selbstsäkularisation gibt sie die wesentliche Substanz der christlichen Offenbarung preis.100 Es kann nicht ihr Ziel sein, in der Aufklärung aufzugehen, sondern sich mit ihr auseinanderzusetzen, sich in ihr zu läutern und anzureichern, letztlich aber durch sie hindurchzugehen, weil sie durch andere Epochen der Kulturgeschichte hindurchgegangen ist. 2.  Gefahren für den Verfassungsstaat Die Selbstsäkularisation der Kirche gefährdet auch den Verfassungsstaat.101 Da er eingebunden ist durch ein System von Beschränkungen, da sich ihm die grundrechtliche Freiheit der Bürger nur negativ, als Abwehr gegen hoheitliche 100  Zu diesen Gefahren unter verschiedenen Aspekten: G. Schmidtchen, Was den Deutschen heilig ist, 1979, S. 194 ff.; M. Kriele, Befreiung und politische Aufklärung, 1980, S. 218 ff.; W. Weber, Wenn aber das Salz schal wird …, der Einfluß sozialwissenschaftlicher Lehrbilder auf theologisches und kirchliches Reden und Handleln, 1984; R. Hofmann, Zur neuen Ökumene von Christen und Marxisten, in: Münchener Theologische Zeitschrift 35 (1984), S. 218 ff.; ders., Die eschatologische Versuchung, in: Die neue Ordnung 1986, S. 54 ff.; ders., Politik als Religion, in: FS für H. Kuhn, 1989, S. 77 ff.; W. Ockenfels, Politisierter Glaube?, 1987; F. Hilterhaus/M. Zöller (Hrsg.), Kirche als Heilsgemeinschaft – Staat als Rechtsgemeinschaft, 1993; O. Depenheuer, Religion als ethische Reserve der säkularen Gesellschaft, in: ders. et alii (Hrsg.), Nomos und Ethos, 2002, S. 3 (4 ff., 14 ff.). 101 Dazu H. Lübbe (Fn. 56), S. 257 ff.; M. Kriele (Fn. 101), S. 248 ff.; J. Isensee, Die Säkularisierung der Kirche als Gefährdung der Säkularität des Staates, in: G. W. Hunold/W. Korff (Hrsg.), Die Welt für morgen, 1986, S. 164 ff.; ders. (Fn. 48), § 115 Rn. 258 ff.

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Eingriffe, darstellt, richtet sich seine Erwartung auf nicht entsprechend eingebundene gesellschaftliche Potenzen wie die Kirche, die auf den positiven, den gemeinwohldienlichen Gebrauch der grundrechtlichen Freiheit hinwirken können. Die Kirche leistet nicht darin dem Staat einen unentbehrlichen Dienst, daß sie ihn über die Grundrechte der Religions- und Gewissensfreiheit belehrt, sondern dadurch, daß sie christliche Religion ausübt und im Volke lebendig hält, und dadurch, daß sie das Gewissen der Menschen schärft und ihnen sittliche und religiöse Maßstäbe vermittelt. Der Verfassungsstaat, seiner Anlage nach nur sektorale Ordnung, kann und will nur den Bürger erfassen, nicht aber den ganzen Menschen. Und selbst seine begrenzte Aufgabe kann nur glücken, wenn auch die anderen Dimensionen des Menschen sich entfalten. Auf die Kirche richtet sich die Verfassungserwartung, daß sie gerade dem Bedürfnis des Menschen Genüge tut, vor dem der säkulare Staat versagt: dem religiösen Streben nach dem Absoluten. Solange die Menschen die absolute Wahrheit in der Transzendenz suchen, werden die Probleme der Immanenz relativiert, wird Politik von absoluter Heils- und Unheilsgewißheit entlastet, und es bleibt jenes gemäßigte Klima erhalten, auf das die liberale Demokratie angewiesen ist, mit offenem Diskurs, Kompromißzwang, Mehrheitsentscheid und Minderheitenschutz. Der Transzendenzglaube schützt vor der Flucht in die innerweltlichen Heilsreligionen, ihren politischen Absolutheitsansprüche und ihren totalitären Neigungen. Die aufklärungsoffene Religion, die fides und intellectus vereint, sich aber nicht in aufklärerischer Intellektualität erschöpft, verhindert, daß die Religiosität sich in voraufklärerische Primitivformen flüchtet, in Sektiererwesen, Schwarmgeisterei, Obskurantentum und daß just das gefördert wird, was eine aufklärungseifrige Kirche vermeiden will: aufklärungsfeindlicher Fundamentalismus. Die Kirche leistet dem Verfassungsstaat die wertvollsten Dienste als komplementäre Größe. Deshalb aber muß sie in die pluralistische Gesellschaft die meta-aufklärerische Substanz einbringen. Diese Verfassungserwartung formuliert schon Tocqueville bei der Betrachtung der ersten modernen Massendemokratie: „Was mich betrifft, so bezweifle ich, daß der Mensch jemals völlige religiöse Unabhängigkeit und totale politische Freiheit ertragen kann; und ich bin geneigt, zu denken, daß er, wenn er nicht gläubig ist, hörig werden, und wenn er frei ist, gläubig sein muß.“102

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A. de Tocqueville (Fn. 38), S. 506.

Keine Freiheit für den Irrtum Keine Freiheit für den Irrtum

Die Kritik der katholischen Kirche des 19. Jahrhunderts an den Menschenrechten als staatsphilosophisches Paradigma* Keine Freiheit für den Irrtum. Die Kritik der katholischen Kirche des 19. Jahrhunderts an den Menschenrechten als staatsphilosophisches Paradigma

I.  Der historische Wandel der päpstlichen Lehre 1.  Die konträren Positionen Das Bekenntnis, das die katholische Kirche heute für die Menschenrechte in aller Welt ablegt, erscheint den Zeitgenossen, wie immer sie auch zur Kirche stehen, als etwas Normales. Es stellt sich als sinnvolle, vielleicht sogar als notwendige Konsequenz des christlichen Glaubens und des kirchlichen Auftrags dar. So konnte denn Papst Johannes Paul II. 1979 in seiner Enzyklika „Redemptor hominis“ erklären, die Kirche brauche nicht zu betonen, wie sehr das Problem der weltweiten Verwirklichung der Menschenrechte mit ihrer Sendung in der Welt von heute verbunden sei und daß sie die Freude über die Errungenschaft, welche die internationale Anerkennung unverletzlicher Bürgerrechte bedeute, mit allen Menschen guten Willens, mit allen Menschen, welche die Gerechtigkeit und den Frieden wirklich liebten, teile und mit ihnen darüber besorgt sei, ob die Erklärung der Menschenrechte und die Annahme ihres „Buchstabens“ auch überall die Verwirklichung ihres „Geistes“ bedeuteten.1 Es erregte kein Aufsehen, daß der Papst ein Jahr danach bei einem Besuch in Frankreich in einer Predigt den Ideen der französischen Revolution Achtung bezeugte: Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit seien im Grunde christliche Ideen. Er sage das in vollem Bewußtsein, daß jene, die diese Ideale zum ersten Mal formuliert, sich nicht auf das Bündnis des Menschen mit der Ewigen Weisheit berufen hätten. Trotzdem hätten sie zum Wohle der Menschen handeln wollen.2 Aus historischer Sicht besteht hier Grund zum Staunen. Zwischen der katholischen Lehre und dem Geist der Revolution, so schien es lange Zeit, klaffe ein unversöhnlicher Widerspruch. Der Kampf hatte sich an den kirchenfeindlichen Maßnahmen der französischen Nationalversammlung entzündet, war jedoch *­  Erstveröffentlichung in: Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte. Kanonistische Abteilung LXXIII, 1987, S. 296 – 336. 1  Johannes Paul II., Enzyklika „Redemptor hominis“ v. 4. 3. 1979, n. 17. Zu den Motiven der kirchlichen Zuwendung zu den Menschenrechten: Jozef Punt, Die Idee der Menschenrechte, 1987, S. 175 – 247 (Nachw.). 2 Dazu Alfred Grosser, Der schmale Grat der Freiheit, 21982, S. 16.

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rasch zur Höhe des Prinzipiellen aufgeflammt. Papst Pius VI., der in seinem Breve „Quod aliquantum“ von 1791 die Constitution civile du clergé verurteilte, sprach dabei auch die schlechthinnige Absage an die Leitgedanken der Revolution aus: Die Ideen der Freiheit und der Gleichheit sowie die aus ihnen abgeleitete Religionsfreiheit des Individuums seien unvereinbar mit der Vernunft und der Offenbarung. Pius VI. bot naturrechtliche wie biblische Argumente auf, er rief kirchengeschichtliche Präzedenzien zu Hilfe, um die „absurde Freiheitslüge“ (absurdissimum eius libertatis commentum) zu entlarven und zu widerlegen. Die Gleichheit und die Freiheit liefen auf nichts anderes hinaus als darauf, die katholische Religion zu vernichten.3 Im Jahre 1814 – soeben war das Königtum der Bourbonen wiederhergestellt – bekundete Pius VII. in einem Apostolischen Brief an den Bischof von Troyes Trauer, die seine Freude über die Rückkehr der alten Dynastie trübe: Trauer über die Nachricht, daß der Entwurf der neuen Verfassung den Katholizismus nicht als Staatsreligion anerkenne, die katholische Kirche mit Schweigen übergehe und noch nicht einmal den Namen Gottes erwähne, durch den doch die Könige regierten und die Fürsten herrschten. Schlimmer noch: der Verfassungsentwurf enthalte die allgemeine Kultus- und Gewissensfreiheit. „Dadurch, daß man allen Konfessionen ohne Unterschied die gleiche Freiheit zugesteht, verwechselt man die Wahrheit mit dem Irrtum und stellt die heilige und makellose Braut Christi, die Kirche, ohne die es kein Heil geben kann, auf die gleiche Stufe wie die häretischen Sekten oder die treulosen Juden. Indem man den häretischen Sekten und ihren Predigern Gunst und Beistand gewährt, werden nicht nur ihre Personen, sondern auch ihre Irrtümer toleriert und begünstigt.“ Protest erhob der Papst auch gegen die geplante Garantie der Pressefreiheit: diese setze die Sitten und den Glauben den größten und verderblichsten Gefahren aus. Die Erfahrungen der Vergangenheit lehrten, daß auf diesem Wege die Sitten der Völker zerrüttet und Wirren und Revolten entfacht würden. Diese schweren Übel seien wegen der Bosheit der Menschen auch künftig zu befürchten, wenn es, was Gott verhüten möge, jedem erlaubt sein sollte, alles zu drucken, was ihm beliebe.4 2.  Drei Perioden der geschichtlichen Entwicklung Die frühen Verlautbarungen sind kennzeichnend für den Widerstand, den das Papsttum gegen die Ideen von 1789 leistet und gegen ihre politischen Verfechter im 19. Jahrhundert, gegen die liberale wie die demokratische Bewegung. Es baut 3  Pius VI., Enzyklika „Quod aliquantum“ v. 10. 3. 1791. Zugrunde gelegt wird die Quellensammlung von Arthur F. Utz und Brigitta Gräfin von Galen (Hrsg.), Die katholische Sozialdoktrin in ihrer geschichtlichen Entwicklung, 1976 (im folgenden abgekürzt: U-G), Bd. III, S. 2663 – 67, Rn. 10 – 13. 4  Pius VII., Litterae Apostolicae „Post tam diuturnas“ v. 29. 4. 1814, U-G I, S. 463 – 467, Rn.  57 – 60.

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eine eindrucksvolle lehramtliche Bastion auf und umgürtet sie mit vielen Schutzwällen. Unter den Lehräußerungen heben sich ihrer Substanz und ihrer Wirkung wegen hervor die Enzyklika „Mirari vos“ Gregors XVI. von 1832, die Enzyklika „Quanta cura“ Pius’ IX. von 1864 mit ihrem spektakulären Anhang über die wichtigsten Zeitirrtümer, dem „Syllabus complectens praecipuos nostrae aetatis errores“, sowie die Enzyklika „Libertas praestantissimum“ Leos XIII. von 1888. Die antiliberale Epoche des Papsttums erreicht ihren Höhepunkt wie ihre Peripetie unter Leo XIII. Seine Lehrschreiben enthalten die philosophisch tiefste, scharfsinnigste, gedankenreichste und differenzierteste Kritik am liberalen Freiheitskonzept. In dieser Differenziertheit leiten sie aber zugleich eine neue Epoche ein: die Annäherung und die Aussöhnung der Kirche mit den Freiheitsrechten. Leo XIII. räumt die längst unhaltbare Position im Kampf um die richtige Staatsform, geht auf Distanz zu der bisher allein akzeptierten Monarchie und stellt einen modus vivendi her mit den Formen der Volksherrschaft, die sich im Gefolge der Revolution etablieren, mit Demokratie und Republik. Leo XIII. wendet sich der sozialen Frage zu. Hier, da es um die fatalen Folgeprobleme des Liberalismus geht, beweist das Papsttum den Sinn für die drängendste Not der Zeit. Es soll ein langsamer und schwieriger Prozeß werden, bis die Kirche lernt, sich mit den Freiheitsrechten abzufinden. Es gibt mancherlei retardierende Momente, vor allem im Pontifikat Pius’ X. Das letzte der klassischen Menschenrechte, mit dem die Kirche ihren Frieden macht, ist die Religionsfreiheit. Das Friedensdokument ist die Erklärung des Zweiten Vatikanischen Konzils „Dignitatis humanae“ von 1965. Hier endet die zweite Periode, die der Aussöhnung. Die Kirche läßt es nicht mit Toleranz und Indifferenz in der Menschenrechtsfrage bewenden. Sie identifiziert sich nunmehr mit ihnen und setzt sich für sie ein. Sie sind Gegenstand ihrer Botschaft. Das ist das Merkmal der dritten Periode, in der wir uns derzeit befinden. Diese Periode überschneidet sich allerdings mit der zweiten. Die Rezeption der Menschenrechte beginnt schon vor dem Vaticanum II. Die Konzilserklärung zur Religionsfreiheit ist nicht nur Hinnahme dieses vormals verpönten Menschenrechts, sondern auch Bekenntnis zu ihm. Die Hinwendung zu den Menschenrechten wird schon 1963 sichtbar in der Friedensenzyklika Johannes’ XXIII. „Pacem in terris“. Ansätze lassen sich bis zu Pius XI. und sogar zu Leo XIII. zurückverfolgen.

II.  Die Konstitution des Themas 1.  Der zeitliche Rahmen, die gegenständliche Reichweite Zwischen dem Menschenrechtsverständnis des 19. Jahrhunderts und dem der Gegenwart liegt eine kopernikanische Wende. Thema der vorliegenden Studie ist es, die ältere Position, also gleichsam das ptolemäische Menschenrechtsbild

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der Kirche, darzustellen und zu analysieren. Thema ist die erste, die von Pius VI. bis zu Leo XIII. reichende Periode, also – im epochalen, nicht im kalendarischen Sinne verstanden – das 19. Jahrhundert. Gegenstand der Untersuchung ist die Lehre der Päpste. Darin liegt eine wesentliche thematische Beschränkung. Die Spitze der Hierarchie ist eben nur die Spitze und nicht das Ganze der Kirche. Auch in der relativ homogenen Kirche des 19. Jahrhunderts regten sich vielfältige und gegenläufige Bestrebungen, darunter jene, die sich späterhin im innerkirchlichen Wandlungsprozeß von unten nach oben durchsetzen sollten. Der politische Katholizismus bot in den verschiedenen Ländern sein besonderes, von nationaler Eigenart geprägtes Bild, in Deutschland ein anderes als in Spanien, in den USA ein anderes als in Ecuador. Was katholische Denker wie de Maistre, Chateaubriand oder Lamennais in Frankreich, Görres oder von Ketteler in Deutschland, Donoso Cortés in Spanien, Newman in England vertraten, wurde nicht durch römische Lehrschreiben repräsentiert.5 Desgleichen spiegelten sie allenfalls gebrochen die tatsächlichen Beziehungen zwischen der Kirche und den einzelnen Staaten. Ihre Absage an die liberale Ideologie war kein Hindernis, die neuen Freiheitsrechte als praktische Chance zu ergreifen und zu nutzen, zumal in Ländern wie den USA, in denen die Katholiken nur eine Minderheit bildeten. Die Lehrschreiben erlauben auch nicht ohne weiteres Rückschlüsse auf die politische Praxis der Päpste selbst. Die Praxis war nicht selten elastischer und behutsamer als die Doktrin. So schroff, streng und unnachgiebig Papst Gregor XVI. theologisch in der Menschenrechtsfrage argumentierte, so gab er dem Drängen bestimmter Kreise nicht nach, die junge belgische Verfassung von 1831 zu verurteilen, obwohl diese Verfassung just jene Freiheitsrechte enthielt, die er in seiner Enzyklika „Mirari vos“, an der er damals arbeitete, so heftig verdammte.6 2.  Das Objekt der Kritik: nicht die Menschenrechte schlechthin Die Menschenrechte besitzen während des 19. Jahrhunderts nicht jenen Stellenwert, der ihnen – bei umgekehrten Vorzeichen – jetzt in den päpstlichen Lehrschreiben zukommt. Die Menschenrechte als solche sind überhaupt noch kein Thema. Sie werden nicht als philosophische Ganzheit, als Inbegriff politischer Forderungen oder als Inhalt einer positivrechtlichen Deklaration behandelt. Die 5  Zu den frühen Versuchen, den Katholizismus mit der liberalen Demokratie zu verbinden: Hans Maier, Revolution und Kirche, 31973. – Material: Bernhard Stangl, Untersuchungen zur Diskussion um die Demokratie im Deutschen Katholizismus unter besonderer Berücksichtigung ihrer Grundlagen und Beurteilungen in den päpstlichen und konziliaren Erklärungen und Stellungnahmen, phil. Diss. Passau 1984. 6 Dazu Roger Aubert, Das Problem der Religionsfreiheit in der Geschichte des Christentums, in: Lutz (Hrsg.), Zur Geschichte der Toleranz und Religionsfreiheit, 1977, S. 438.

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Lehrschreiben halten sich entweder auf abstrakterer oder auf konkreterer Ebene als die der Menschenrechte. Abstrakter: Themen sind die liberale Ideologie, der die Menschen- und die Bürgerrechte entstammen, wie sie 1789 deklariert wurden, die Ideen von Freiheit und Gleichheit, Geist und Wirklichkeit der Revolution, die moderne Welt überhaupt. Aber auch konkreter: Die Lehrschreiben behandeln einzelne Freiheitsrechte, vornehmlich die Religionsfreiheit, die Gewissensfreiheit, die Meinungs-, Presse-, Lehrfreiheit. Diese geistigen Freiheiten sind das Objekt fundamentaler Kritik. Die Kritik richtet sich vor Leo XIII. auch gegen die Demokratie, die als Staatsform mit den liberalen Menschenrechten politisch und ideologisch verknüpft ist. Nicht alle Menschenrechte, die der Liberalismus verficht, sind betroffen. Nicht berührt ist jenes Institut, das dem Liberalismus ebenso heilig ist wie die Freiheit: das Privateigentum. Nicht berührt ist auch das ehrwürdige Habeas corpus-Grundrecht, zu dem sich die Deklaration von 1789 bekennt. Vollends liegen außerhalb des Blickfeldes jene Menschenrechte, die in der alten bürgerlichen Staatenwelt noch kein Thema waren und die erst im 20. Jahrhundert schreckliche Aktualität gewinnen sollen: der Schutz des Lebens, der körperlichen Unversehrtheit, der Privatsphäre. Andererseits wurden viele Gebote der Menschlichkeit, die heute unter der Flagge der Menschenrechte segeln, vom Papsttum schon in Jahrhunderten vertreten, in denen die Menschenrechte als säkulare Kategorie noch nicht existierten. Beispielhaft seien genannt die Verwerfung der Folter und der Sklaverei, die Würde der Menschen aller Rassen, die Anerkennung unterschiedlicher Kulturen, die Ablehnung von Zwangsbekehrungen. Ein Menschenrecht, das seiner Substanz nach liberal ist, wurde im 19. Jahrhundert vom politischen Katholizismus eingefordert und im 20. Jahrhundert erfolgreich durchgesetzt: das Elternrecht. Von einer pauschalen Absage an die Menschenrechte kann also nicht die Rede sein. Objekt der Kritik, das sei zusammengefaßt, ist der liberale Freiheitsentwurf in seiner ideologischen Dimension und in jenen Rechten der geistigen Freiheit, die für die hergebrachten Ordnungen der Religion, der Sittlichkeit und des Staates bedrohlich erscheinen. Das Drei-Perioden-Modell der Entwicklung des kirchlichen Menschenrechtsverständnisses bedarf daher der Modifikation: Das Objekt der Ablehnung im 19. Jahrhundert und das der Zuwendung im 20. Jahrhundert decken sich nur teilweise. Die Zuwendung gilt den Menschenrechten en bloc; die Fundamentalkritik dagegen beschränkte sich auf bestimmte, freilich wesentliche Einzelrechte und die liberale Ideologie, in der sie wurzeln.

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III.  Geschichtliche Bedingtheit und bleibende staatsphilosophische Bedeutung der päpstlichen Position 1.  Zeitgebundene Anlässe Die Lehrschreiben haben ihre konkreten Anlässe und zeitbezogenen Ziele. Das gilt schon für die erste thematisch einschlägige Äußerung eines Papstes, das Breve „Quod aliquantum“ Pius’ VI. von 1791. Dieses Schreiben an jene Erzbischöfe und Bischöfe Frankreichs, die der Nationalversammlung angehörten, war die Reaktion auf die kirchenpolitischen Beschlüsse der Versammlung, die Constitution civile du clergé. Es ging um die Abwehr dieser Maßnahmen. Die Absage an die Religionsfreiheit und an die Gleichheit war nicht mehr als ein Argument zur Verteidigung der kirchlichen Unabhängigkeit gegen den Zugriff des Staates, also nur ein obiter dictum. Detailfragen der Kirchenorganisation, der innerkirchlichen Disziplin, der Kirchengüter, nicht zuletzt die Verurteilung des Bischofs von Autun (Talleyrand), erfuhren umfangreichere Behandlung als die Themen von Freiheit und Gleichheit. – Selbst die prinzipiell und abstrakt gehaltenen Äußerungen der Enzyklika „Mirari vos“ zur Meinungs-, Presse- und Gewissensfreiheit, zum Bücherverbot und zur Trennung von Kirche und Staat hatten ihre persönlichen Adressaten. Diese wurden freilich nicht beim Namen genannt: Lamennais und die Herausgeber des „Avenir“, die auf den Ausgleich zwischen Katholizismus und Liberalismus hinarbeiteten.7 Überdies bildete die Enzyklika Gregors XVI. (ebenso wie manche Äußerung seines Nachfolgers Pius’ IX. zu Grundfragen der Staatslehre) die indirekte Erwiderung auf konkrete kirchenpolitische Vorgänge im Königreich Sardinien-Piemont.8 2.  Die historische Konfrontation mit dem Liberalismus Die Position der Päpste ist geprägt vom Trauma der französischen Revolution. Die Revolution hatte in ihrem geschichtlichen Verlauf mehr als genug dafür getan, um die hehren Ideale, in deren Namen sie angetreten war, zu desavouiren und die düstere Prognose, die Pius VI. im Jahre 1791 abgegeben hatte, zu bestätigen, daß die Prinzipien von Freiheit und Gleichheit effektiv darauf hinausliefen, die katholische Religion zu vernichten.9 Die Ideen der Revolution, die politischen Bewegungen, die sie ausgelöst hatte, die Institutionen, die aus ihr hervorgegangen waren: all dies mußte als Gefahr für den katholischen Glauben und für den 7 Dazu Aubert, Die erste Phase des katholischen Liberalismus, in: Jedin (Hrsg.), Handbuch der Kirchengeschichte Bd. VI/1, 1971, S. 326 – 347; ders. (Fn. 6), S. 437 f.; Maier (Fn. 5), S. 192 f. 8 Vgl. Joseph Listl, Kirche und Staat in der neueren katholischen Kirchenrechtswissenschaft, 1978, S. 136 f. 9  Pius VI., Enzyklika „Quod aliquantum“ (Fn. 3), U-G III, S. 2666, Rn. 13.

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kirchlichen Gehorsam erscheinen. Hinzu kam die irdische, allzu irdische Sorge um den Kirchenstaat,10 der, solange er bestand, von laizistischen wie von nationalistischen Kräften bedroht war, die ihrerseits ideologische Abkömmlinge der französischen Revolution waren. Das Papsttum, als politische Institution mit dem ancien régime tief verflochten und in seinen Sturz hineingerissen, setzte im Restaurationszeitalter seine Hoffnung auf die Mächte des europäischen Konservativismus, welche die legitime alte Ordnung gegen den Ansturm der liberalen und demokratischen, später auch der sozialistischen Bewegungen verteidigten.11 Die Menschen- und Bürgerrechte, die zum Programm des Liberalismus gehörten, wurden in den politischen Konflikt hineingezogen. Politische wie weltanschauliche Faktoren wirkten zusammen. Es dürfte sich niemals mit hinlänglicher Gewißheit ausmachen lassen, welche der Triebkräfte die letztlich stärkeren waren. Dem Antiliberalismus der Päpste korrespondierte der antikirchliche, der antirömische Affekt des Liberalismus. Seine Parteigänger, zumal in der Intelligenzija und Semi-lntelligenzija, trugen viel dazu bei, das Mißtrauen der Kirche gegen die liberalen Postulate zu schüren und ihren Widerstand zu provozieren: durch aggressiven Atheismus, intransingenten Antiklerikalismus, verbohrt doktrinären Individualismus, der neben dem freien Individuum und dem souveränen Staat keine intermediäre Korporation duldete (Unduldsamkeit, die auch die aufkommenden Gewerkschaften zu spüren bekamen), kulturkämpferische Unterdrückung der katholischen Kirche im Namen der Toleranz, freiheits- und gleichheitszelotisches Jakobinertum. Die Schizophrenie des realen Liberalismus wurde denn auch von Leo XIII. aufgewiesen, wenn er feststellte, dessen Anhänger dehnten die Freiheit für sich und das Staatswesen so weit aus, daß sie bedenkenlos jeder verkehrten Meinung Tür und Tor öffneten, daß sie andererseits der Kirche vielfache Hindernisse in den Weg legten und ihre Freiheit weitestmöglich einschränkten, obwohl die Lehre der Kirche keinerlei Nachteil für das Gemeinwesen, im Gegenteil: nur Nutzen nach sich ziehe.12 10 Zur lehramtlichen Legitimation des Kirchenstaates durch Pius IX.: Listl (Fn. 8), S.  134 – 136 (Nachw.). 11  „Es wird immer bis zu einem gewissen Grad unerklärbar bleiben, wie sich im Sinne der Ursächlichkeit eine gewisse Präferenz der Katholiken für überlieferte und bestehende staatliche Ordnungssysteme und die oft genug zu konstatierende massiv antikirchliche und auch antichristliche Tönung der Veränderungsbewegungen zueinander verhalten“ (Karl Forster, Christentum und Liberalismus, 1979, in: Forster, Glaube und Kirche im Dialog mit der Welt von heute, 2. Bd., 1982, S. 334). 12  Leo XIII., Enzyklika „Libertas praestantissimum“ v. 20. 6. 1888 (U-G I, S. 211, Rn. 61). – Beispiele aus der Fülle der kontroverstheologischen Literatur zum Liberalismus: Wilhelm-Emmanuel Freiherr von Ketteler, Freiheit, Autorität und Kirche. Erörterungen über die großen Probleme der Gegenwart, 21892; H. Gruber, Liberalismus, in: Wetzer und Weltes Kirchenlexikon, Bd. VII, 21891, Sp.  1898 – 1944.

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Die päpstlichen Lehrschreiben entstammten im wesentlichen dem politischen Erfahrungshorizont der romanischen Staatenwelt, vornehmlich Frankreich und Italien. Hier lag das Epizentrum der politischen Erdbeben des Zeitalters. Hier hatte der Liberalismus seine antikirchlichen und ersatzreligiösen Züge angenommen. Hier war die Idee der Freiheitsrechte verstrickt in die weltanschaulichen und kirchenpolitischen Feindbeziehungen. Außerhalb des päpstlichen Blickfeldes lag der (protestantisch dominierte) angelsächsische Kulturkreis: damit die Erfahrung staatlicher Stabilität, innerhalb deren sich die Liberalisierung und die Demokratisierung vollzogen, sowie die pragmatische Sicht der Menschenrechte, die den Streitstoff philosophischer Grundsätzlichkeiten beiseite ließ.13 3.  Versuche der historischen Relativierung und der rückwirkenden Harmonisierung Wie abhängig sind die päpstlichen Verlautbarungen zu den Menschenrechten von ihren kontingenten geschichtlichen Voraussetzungen? Sind sie gegenstandslos geworden, seit sich die politischen Fronten des 19. Jahrhunderts aufgelöst haben? Manche Theologen aus der kleinen Gruppe jener, die sich heute noch mit der Materie befassen, neigen dazu, päpstliche Äußerungen, die sich nicht in die heutige Menschenrechtslehre fügen, historisch zu relativieren und als ausschließlich zeitbedingt auszuweisen. Doch es hieße, den Texten Gewalt antun, wenn man sie mit ihren historischen Anlässen identifizieren, also das Breve „Quod aliquantum“ als Anti-Talleyrand, die Enzyklika „Mirari vos“ als Anti-Lamennais, den Syllabus als Anti-Savoyen hinunterinterpretieren und die prinzipiell gehaltenen Lehräußerungen als naturrechtliche Begründungsexzesse abtun wollte. Gleichwohl läßt sich nicht verkennen, daß in manchem der Lehrschreiben rabies theologica waltet. Nicht immer haben die Päpste der weisen Mahnung ihres Vorgängers Gregor des Großen Rechnung getragen, daß die Wechselfälle der Zeiten sorgfältig bedacht werden müßten, damit die Zunge nicht dort von unnötigen Worten überfließe, wo sie gezügelt werden sollte. Pius VI. zitiert übrigens dieses Wort, um zu erklären, warum er gegenüber den kirchenfeindlichen Aktionen der französischen Nationalversammlung lange (nämlich mehr als ein Jahr bis zum 10. März 1791) Zurückhaltung gewahrt habe; er habe zunächst geglaubt, schweigen zu sollen, damit die Unbesonnenen durch die Stimme der Wahrheit nicht noch mehr gereizt, zu noch Schlimmerem hingerissen würden (ne ipsi veritatis

13  Karl Forster weist darauf hin, daß nicht die pragmatisch-angelsächsische, sondern die französisch-philosophische Konzeption der Menschenrechte als dogmatische Konkurrenz zum Glauben der Kirche empfunden wurde (Die Menschenrechte – aus katholischer Sicht, 1981, in: Forster, Glaube [Fn. 11], 539 – 542).

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voce magis irritati ad multo deteriora adhuc proruerent).14 Der Widerspruch, den Pius VI. nun, wie er meint, spät aber doch, erhebt, soll den historischen Abwehrkampf der Päpste gegen den liberalen Freiheitsentwurf eröffnen. Auch für die päpstlichen Lehrschreiben gilt, daß die Wirkung sich nicht notwendig deckt mit der Absicht des Autors. Die verhängnisvolle Polarisierung, die der Syllabus errorum auslöste, war so nicht gewollt und so auch nicht vom Text her gerechtfertigt, der keine eigenständige Botschaft enthielt, sondern lediglich Sätze früherer Äußerungen, aus dem Zusammenhang herausgerissen, zusammenfaßte.15 Im authentischen Zusammenhang wirkte manche Verurteilung weniger umfassend, weniger schroff, weniger aggressiv, so auch die Verurteilung des „Zeitirrtums“, daß der römische Papst sich mit dem Fortschritt, mit dem Liberalismus und mit der modernen Bildung aussöhnen wie verständigen wolle und könne.16 Die Wirkungsgeschichte konnte durch den Aufweis der ursprünglichen Intention nicht aufgehalten, sie kann auch nicht rückgängig gemacht werden. Die historisierende Verdrängungsmethode wird begleitet von der harmonisierenden: Die Texte des 19. Jahrhunderts werden im Licht der heutigen Menschenrechtslehre umgedeutet. Die in mancher Hinsicht widersprüchliche Tradition wird selektiv ausgewertet. „Konservative“ Theologen neigen heute dazu, solche Zeugnisse hervorzuheben, welche Kontinuität in der Menschenrechtsfrage belegen können, indes sie vor der „Wende“ sich vornehmlich an die gegenwirksamen Dokumente hielten. Umgekehrt dagegen die Argumentationstaktik „progressiver“, kirchenkritischer Theologen: Vor der Konzilserklärung über die Religionsfreiheit versuchten sie, durch einseitige Berufung auf die menschenrechtsfreundlichen Elemente der Tradition die Annahme der Religionsfreiheit zu erleichtern; seither jedoch heben sie die Widersprüche zwischen der älteren und der neueren Lehre hervor, um die Hierarchie zu diskreditieren und um zu belegen, daß die Häresie von heute die Orthodoxie von morgen sein könne.17 14 

Pius VI., Enzyklika „Quod aliquantum“ (Fn. 3), U-G III, S. 2652 f., Rn. 1. Geschichte und Rezeption des Syllabus: Roger Aubert, Die Religionsfreiheit von „Mirari vos“ bis zum „Syllabus“, in: Concilium 1 (1965) S. 588 – 591. Apologie des Syllabus: Listl (Fn. 8), S. 139 – 141; Joseph Ratzinger, Wie entscheidet die Kongregation für die Glaubenslehre? Gespräch mit Renato Farina, dt. übers. in: Deutsche Tagespost v. 11. 9. 1986/Nr. 109, S. 7. 16  Pius IX., Syllabus v. 8. 12. 1864, n. 80, U-G I, S. 52 f., Rn. 119. 17  Zu diesem Umgang mit der Tradition: Reinhold Sebott, Religionsfreiheit und Verhältnis von Kirche und Staat, Rom 1977, S. 200 f. Kritik an den aktuellen Methoden, kirchengeschichtliche „Widersprüche“ als Argument gegen die kirchliche Lehrautorität (auch die des Konzils) auszuspielen: Ratzinger (Fn. 15), S. 7. Belege, ob in der Frage der Religionsfreiheit Bruch oder Kontinuität besteht, und Auseinandersetzung: Sebott, Religionsfreiheit, a. a. O. S. 194 – 215 und passim. Vgl. auch den einschlägigen Literaturbericht von Petrus Huizing, Über Veröffentlichungen und Themenstellungen zur Frage der Religionsfreiheit, in: Concilium 2 (1966), S. 627. Grundsätzliche Kritik an der harmonisierenden 15 Zu

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4.  Kirchliche Identität in der Geschichte Es ist eine fundamentale Notwendigkeit für die Kirche, sich der Identität ihrer Lehre in Vergangenheit wie Gegenwart zu versichern. Sie scheut es, eine Neuerung oder einen Wandel als ebensolchen auszuweisen, auch wenn es sich um eine für ihre Identität letztlich irrelevante Frage handelt wie die der Menschenrechte. Hier wie durchwegs auch sonst vermeidet sie, die überholte Position formell zu widerrufen oder ausdrücklich zurückzunehmen. Das Alte wird nicht beseitigt, nicht durch das Neue ersetzt, sondern von ihm überlagert. Die Folge ist in der kirchengeschichtlichen Realität nicht selten, daß die älteren, die nie endgültig abgestorbenen Schichten der Lehre, die jüngeren, überlagernden durchsäuern – eine Art Kompostierungseffekt. Je weiter die gegenwärtige Stellungnahme sich von der vergangenen absetzt, desto größer das Bedürfnis, sich auch aus der Tradition zu legitimieren und damit ihrer Kontinuität zu vergewissern. Die aktuelle Lehre gilt als Entfaltung dessen, was schon immer, wenn auch vielleicht nur einschlußweise, Lehre der Kirche gewesen ist. Das Zweite Vatikanische Konzil beruft sich denn auch in seiner epochalen Wende zur Religionsfreiheit ausdrücklich auf die Tradition und die Lehre der Kirche, aus denen es immer Neues hervorhole, das mit dem Alten in Einklang stehe.18 Die Kirche ist ihrem Selbstverständnis nach Hüterin der unwandelbaren, übergeschichtlichen Wahrheit im Gang der Geschichte. Daher weigert sie sich, ihre gegenwärtige Verkündung historisch relativieren zu lassen. Sie verschmäht es auch, die hegelianische Option zu ergreifen, Wahrheit und Geschichtlichkeit zu verknüpfen.19 Sie sucht ihre Identität nicht in der Dialektik historischer Widersprüche, aber auch nicht in einzelnen, isoliert interpretierten Texten. Nach Joseph Ratzinger hat es die rein verbalistische Identität in der Kirchengeschichte nie gegeben. Chalcedon habe Ephesus überschritten und ergänzt, wie die späteren christologischen Konzilien des 6. Jahrhunderts Chalcedon ausgeweitet und an Ephesus rückgebunden hätten. Die Geschichte des christlichen Dogmas sei „nicht eine Geschichte einer ehernen Buchstabenidentität, noch weniger die Geschichte fortlaufender Widersprüche“, sondern „die Geschichte fortlaufender Einheit in einer organischen Entwicklung“. „Wer Entwicklung nicht sehen kann oder will, kann den Katholizismus nicht begreifen. Es ist nicht verwunderlich, daß solche Entwicklungen auch Mißverständnisse und Leiden miteinschließen. Aber wer daraus eine Tendenz in der Frage der Religionsfreiheit: Ernst-Wolfgang Böckenförde, Einleitung zur Textausgabe der „Erklärung über die Religionsfreiheit“, Nachdruck in: Lutz (Hrsg.), Zur Geschichte der Toleranz und Religionsfreiheit, 1977, S. 416 f. 18  Vaticanum II, Declaratio de libertate religiosa („Dignitatis humanae“) v. 7. 12. 1965, n. 1 (U-G I, S. 470 f., Rn. 65.). 19  Zur mangelnden Reflexion der Geschichtlichkeit: Böckenförde (Fn. 17), S. 417 f.; ders., Kirche und modernes Bewußtsein, in: Communio 15 (1986), S. 165.

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posthume Kanonisierung aller Irrlehren und Irrlehrer herausliest, macht es sich entschieden zu einfach.“ So bestehe denn auch zwischen den Lehren Pius’ IX. und dem Konzilsdekret über die Religionsfreiheit kein unüberbrückbarer Gegensatz. Pius IX. habe gegen einen kämpferischen, kirchenfeindlichen, relativistischen Liberalismus Stellung nehmen müssen. „Daß in dieser Stellungnahme noch nicht die Unterscheidungen von morgen vorweggenommen waren und daß sie daher im Licht der weitergehenden Entwicklung als einseitig und ungenügend betrachtet werden muß, ändert nichts an ihrer geschichtlichen Notwendigkeit und an der Wahrheit dessen, worum es im wesentlichen ging.“20 So erscheinen denn in Ratzingers Deutung die Gegensätze, die mehr als anderthalb Jahrhunderte die Menschen und die Institutionen bewegt haben, am Ende als versöhnt. Doch die concordantia oppositorum zeigt sich nur in der ekklesiologischen Jahrtausendperspektive. 5.  Das staatsphilosophische Paradigma Die thematische Perspektive der vorliegenden Untersuchung setzt niedriger an: bei den Texten und den Positionen im Rahmen eines historischen Konflikts. Es geht um ein bescheidenes Thema: die philosophische Substanz und die philosophischen Voraussetzungen der Positionen in der Menschenrechtsfrage. Die staatstheoretischen Identitäten und Widersprüche, die hier zu behandeln sind, berühren nicht die Identität kirchlicher Lehre. Für sich genommen, sperren sich die Texte gegen eine rückwirkend harmonisierende Auslegung. Ihre philosophische Aussage läßt sich nicht ins historisch Kontingente auflösen. Die prinzipielle Antithese, welche die Päpste dem liberalen Freiheitsentwurf entgegenstellen, hebt sich von den zeitbedingten Anlässen und Ursachen ab. Sie verdient ernst genommen zu werden, und das nicht nur aus historischem Interesse, sondern auch und vornehmlich wegen der exemplarischen staatstheoretischen Bedeutung, die ihr bleibt, solange der liberale Freiheitsentwurf aktuell ist. Die Antithese ist innerhalb ihrer philosophischen Prämissen stimmig und konsequent. Der Konflikt, der im 19. Jahrhundert ausgetragen wird, hat seine staatsphilosophische Logik und Notwendigkeit. Die geschichtlich erledigte Position der Päpste bleibt für die Theorie der Menschenrechte eine Herausforderung, der sie sich stellen und standhalten muß, wenn sie überleben will.

20  Ratzinger (Fn. 15), S. 7. – Zum katholischen Verständnis von Wahrheit und Geschichte: Karl Rahner, Überlegungen zur Dogmenentwicklung (1957), in: ders., Schriften zur Theologie Bd. IV, 41964, S. 11 – 50. Zur relativen Kontinuität in der Frage der Religionsfreiheit s. Arthur F. Utz, u. a., in: ders. Ethische und soziale Existenz, 1983, S. 310 – 319.

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IV.  Die philosophischen Prämissen Die päpstliche Kritik an den Menschenrechten gründet auf philosophischen Prämissen, die konträr sind zu den Voraussetzungen des liberalen Freiheits­ entwurfs. Es stehen sich gegenüber: Theonomie



Autonomie

ungeschichtliches Naturrecht



Historismus

Vorgegebenheit

– Aufgegebenheit der staatlichen Ordnung

Intellektualismus



Voluntarismus

Traditionalismus



Rationalismus

Universalismus



Individualismus

organisches Staatsdenken aristotelischthomistischer Observanz



mechanisches, utilitaristisches Staatsdenken hobbesianischer Observanz

der christliche, vormoderne Staat



der „moderne“, säkulare Staat

religiöse Homogenität von Staat und Kirche



Trennung von Staat und Kirche

Einheit von Recht und Moral



Trennung von Legalität und Moralität

Integration des Individuums in die Gemeinschaft



Absonderung des Individuums

Dominanz der Rechtspflichten und Tugenden



Dominanz des subjektiven Rechts

ständische Differenzierung



Rechtsgleichheit

Paternalismus



Emanzipation

Der Gegensatz der Konzeptionen bedarf der näheren Darstellung.

V.  Das theonome Weltbild der Päpste 1.  Die wahre Freiheit: der Gehorsam gegen die von Gott vorgegebene Ordnung Gott, der Schöpfer und Lenker aller Dinge, hat den Menschen sein ewiges Gesetz gegeben. Dieses wird durch die kirchlichen und staatlichen Autoritäten vermittelt, die, von Gott eingesetzt, in seinem Namen handeln. Der Mensch, der beansprucht, kraft seiner subjektiven Vernunft sich selbst das Gesetz zu geben, ist Rebell gegen Gott. Die Ordnung der Welt ist vorgegeben. Sie wird interpretiert, nicht gestaltet. Sie ist ein aristotelisch-thomistischer Kosmos, in dem alle Wesenheiten ihren bestimmten Platz finden und sich ihrem immanenten Ziel gemäß entfalten, alle Ziele aber auf das höchste und letzte Ziel hin, Gott, zugeordnet sind. Die Freiheit des Menschen besteht darin, seine Wesensbestimmung zu erfüllen und auf Gott hin zu leben. „Darin besteht ja die wahre Vollendung aller Wesen, daß sie nach

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ihrem Ziele streben und es erreichen; das höchste Ziel aber, dem die menschliche Freiheit entgegenstreben soll, ist Gott“.21 Freiheit läßt sich daher nicht – wie es der menschenrechtlichen Freiheit im status negativus des Individuums entspricht – negativ verstehen: als Freiheit vom heteronomen Gesetz, sondern positiv: als Freiheit zur Erfüllung des eigenen Wesensgesetzes, das mit dem Willen Gottes übereinstimmt. Wahre Freiheit ist der Gehorsam gegen Gott. Gott gibt auf Erden seinen Willen zu erkennen über die geistlichen und weltlichen Autoritäten, die er eingesetzt hat und die, für ihren jeweiligen Bereich, in seinem Namen handeln. Die Identifikation der Freiheit des Menschen mit seinem Gehorsam gegen Gott geht auf – freilich nicht ohne Rest – in deren Identifikation mit dem Gehorsam gegen die kirchliche und staatliche Obrigkeit. Leo XIII.: „So ist denn die Notwendigkeit, einer höchsten und ewigen Vernunft zu gehorchen, die nichts anderes ist als die Autorität Gottes, die gebietet und verbietet, mit dem Wesen der menschlichen Freiheit zugleich gegeben; es gilt dies sowohl für den Einzelnen wie für die Gesellschaft, für jene, die befehlen so gut wie für die, die gehorchen. Und weit entfernt, daß durch diese höchst gerechte Oberherrschaft Gottes die Freiheit aufgehoben oder irgendwie geschmälert würde, findet sie vielmehr darin ihren Schutz und ihre Vollendung“.22 Analogien zum Freiheitsverständnis Hegels sind unverkennbar, wenngleich bei diesem die Freiheit schon im Staat ihren Schutz und ihre Vollendung findet. Allerdings bedarf es für den deutschen Philosophen, der von einem Als-obSubjektivismus in transzendentalpädagogischer Absicht ausgeht, der mäandrischen Umwege der Dialektik, bis die subjektive Freiheit des Einzelnen in die objektive Richtigkeit und staatliche Wirklichkeit einmündet. Derartige Denkwege sind den Päpsten seiner Zeit fremd. Doch so oder so geht die Freiheit letztlich auf in ihrer wahren Bestimmung, die durch Institutionen gewährleistet wird. Die vorgegebene Ordnung gründet nicht auf subjektiven Rechten, sondern auf Pflichten, und zwar wechselseitigen Pflichten der Regierenden und der Regierten. Diese sind nicht das Werk willkürlicher Setzung des Menschen, sondern Ableitungen aus dem Willen Gottes, den die irdische Autorität innerhalb ihres Wirkungskreises verbindlich interpretiert und entfaltet. Wie es keine inhaltsleere, formale Freiheit des Einzelnen gibt, so gibt es keine inhaltsleere, formale Souveränität des 21  Leo XIII., Enzyklika „Libertas praestantissimum“ (Fn. 12), U-G I, S. 192 f., Rn. 48, S. 218 f., Rn. 71. An anderer Stelle definiert der Papst die Freiheit, welche die Kirche fördere und schütze, als „das vernunftgemäße Recht, überall ungehindert, nach den Normen des Ewigen Gesetzes das Gute zu wirken – worin gerade die Freiheit bestehen müsse, wenn sie des Menschen würdig sein und der Gesellschaft nützen solle“ (Litterae Apostolicae, „Porvenuti all’anno“ v. 19. 3. 1902, U-G III, S. 2582 f., Rn. 54). Vgl. auch Enzyklika „Immortale dei“ v. 1. 11. 1885, U-G III, S. 2134 – 2145, Rn. 33 – 42. – Zur naturrechtlichen Lehre von der Freiheit: Peter Tischleder, Die Staatslehre Leos XIII., 1925, S. 18 – 41. 22  Leo XIII., Enzyklika „Libertas praestantissimum“ (Anm. 12), U-G I, S. 192 f., Rn. 48.

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Staates. Der Einzelne wie der Staat sind in die materiale Pflichtenordnung einbezogen, die der Hierarchie der Autoritäten entspricht. Die niedere Instanz ist dazu berufen, der höheren zu gehorchen, die höhere, die niedere zu leiten; jede aber ist damit berufen, Gott zu dienen. Leo XIII. sieht die gemeinsame Norm für die Freiheit des Einzelnen wie für die Freiheit des Gemeinwesens im Grunde auf dem Ewigen Gesetz Gottes ruhen: „In der menschlichen Gesellschaft besteht darum die Freiheit nicht darin, daß jeder tut, was ihm beliebt, woraus dem Staatswesen nur größte Unordnung und zerstörerische Verwirrung erwüchsen, sondern darin, daß wir durch die Staatsgesetze wirksamer den Geboten des Ewigen Gesetzes nachleben können. Die Freiheit derer aber, welche regieren, besteht nicht darin, daß sie ohne Grund und nach Willkür befehlen können, was ebenso schändlich wäre und dem Staatswesen zum größten Verderben gereichen müßte; die Wirkkraft der menschlichen Gesetze muß vielmehr darin bestehen, daß ihr Ursprung aus dem Ewigen Gesetz klar erhellt und sie nichts verordnen, was nicht in diesem als dem Ausgangspunkte des gesamten Rechts enthalten ist.“23 In der geschichtlichen Wirklichkeit begründet die Pflichtenphilosophie eine patriarchalische Ordnung. Für diese aber ist das Emanzipationsbegehren der modernen Welt eine tödliche Gefahr. Die Vernunft bestätigt, daß der Mensch zum Gehorsam geboren ist. Pius VI.: „Da es nun des Menschen Pflicht ist, seine Vernunft so zu gebrauchen, daß er seinen Schöpfer nicht nur erkenne, sondern auch verehre, bewundere und alles auf ihn beziehe, und da er notwendigerweise von Geburt an seinen Vorgesetzten gehorchen muß, um von ihnen geführt und belehrt zu werden und so sein Leben entsprechend der Norm der Vernunft, der Menschlichkeit und der Religion einzurichten verstehe, so ist vom Ursprung des Menschen her klar, daß die verbreiteten Vorstellungen von Gleichheit und Freiheit zum Scheitern verurteilt und prahlerisch sind.“24 Noch einmal: Die Verfassung des Gemeinwesens ist dem Menschen vorgegeben, nicht, wie es modernem Denken entspräche, aufgegeben. Der Mensch nimmt sie an, er verfügt nicht über sie. Sie ist aber seiner Vernunfterkenntnis zugänglich. Die Vernunft vermittelt die Einsicht in das Richtige und Notwendige. Dieser intellektualistische Optimismus ist gegen praktische Enttäuschung gefeit, weil die Vernunft, soweit es um politisch relevante Fragen geht, in Ämtern organisiert ist und die Hierarchie der Interpretationsautoritäten unlösbare Konflikte über das, was richtig und notwendig ist, nicht aufkommen läßt.

23  24 

Leo XIII., Enzyklika „Libertas praestantissimum“ (Fn. 12), U-G I, S. 190 f., Rn. 47. Pius VI., Enzyklika „Quod aliquantum“ (Fn. 3), U-G III, S. 2664 f., Rn 13.

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2.  Das Autonomiebegehren: Rebellion gegen Gott Das Autonomiestreben der modernen Welt stellt sich letztlich nicht als bloß politisches Aufbegehren dar, sondern als religiöses: als Selbstüberhebung des Menschen und als Empörung gegen Gott. Der Mensch kündigt Gott den Gehorsam auf, weil er sein eigener Gott sein will. Leo XIII. sieht in der Anhängerschaft einer Freiheit ohne Bindung an das göttliche Gesetz die Nachfolge Lucifers, der das frevelhafte Wort gesprochen habe: „Ich will nicht dienen.“25 Gregor XVI. deutet die Neigung zu Gewissens- und Meinungsfreiheit als Höllensturz der modernen Gesellschaft: „Denn wenn der Zügel zerrissen ist, mit dem die Menschen auf den Pfaden der Wahrheit gehalten werden, dann stürzt ihre ohnehin zum Bösen geneigte Natur rasend schnell in den Abgrund, und Wir sehen wahrhaftig den Höllenpfuhl offen, aus dem Johannes den Rauch aufsteigen sah, der die Sonne verfinsterte und aus dem Heuschrecken hervorgingen und sich über die ganze Erde verbreiteten.“26 Die Freiheit, deren luciferischer Mißbrauch beklagt wird, liegt an sich völlig jenseits jener staatsrechtlichen Ebene, auf der um die Gewährleistung menschenrechtlicher Freiheit gekämpft wird.27 Gleichwohl wird eine Analogie zwischen den Beziehungen des Menschen zu Gott und jenen zu den irdischen Autoritäten hergestellt. Mit der Selbstverständlichkeit, wie sie das feste theonome Weltbild ermöglicht, wendet Pius VI. gegen die Liberté der französischen Revolution ein, daß Gott bereits dem Menschen im Paradies die Freiheit beschränkt habe durch das Verbot, vom Baum der Erkenntnis zu essen.28 Das Neuheidentum des Jahrhunderts wie alle die -ismen, die der päpstliche Bannstrahl trifft (Rationalismus, Naturalismus, Idealismus, Materialismus, Indifferentismus, Modernismus, Liberalismus, Sozialismus usw.), haben den einen Ursprung: die Hybris menschlicher Vernunft, die sich zur Richterin über alle Wahrheit aufwirft.29 Die verhängnisvolle Entwicklung habe ihren geschichtlichen Anfang genommen mit den Reformatoren des 16. Jahrhunderts und ihren Vorläufern, jenen, „die einem jeden Menschen das natürliche Recht zusprachen, über die gottgegebene Lehre nach dem Ermessen der eigenen Vernunft zu urteilen und zu entscheiden, ohne Rücksicht auf die Kirche und den römischen Papst, denen allein es nach Gottes Anordnung und gnädiger Fügung zusteht, diese Leh25 

Leo XIII., Enzyklika „Libertas praestantissimum“ (Fn. 12), U-G I, S. 194 f. Rn. 51. Gregor XVI., Enzyklika „Mirari vos“ v. 15. 8. 1832, in: U-G I, S. 148 f., Rn. 14. 27 Zur Unterscheidung der staatsrechtlich-menschenrechtlichen Freiheitsebene von der anthropologischen und der theologischen: Josef Isensee, Menschenrechte – Staatsordnung – sittliche Autonomie, in: Schwartländer (Hrsg.), Modernes Freiheitsethos und christlicher Glaube, 1981, S. 76 – 79. 28  Pius VI., Enzyklika „Quod aliquantum“ (Fn. 3), U-G III, S. 2662 f., Rn. 10. 29  Leo XIII., Enzyklika „Libertas praestantissimum“ (Fn. 12), U-G I, S. 194 ff., Rn. 52. 26 

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re zu bewahren, weiterzugeben und irrtumsfrei über sie zu urteilen“.30 Von nun an habe sich die abschüssige Bahn aufgetan, alles zu leugnen und zu verwerfen, was über die Dingwelt und die menschliche Fassungskraft hinausgehe.31 Dem Historiker mag die Herleitung des neuzeitlichen Autonomiestrebens von der Reformation gewaltsam erscheinen. Dennoch entspricht sie auch einem protestantischen Geschichtsverständnis, wie es sich bei Lessing, Herder, Hegel oder Treitschke manifestiert – dort jedoch in ganz anderem, günstigem Licht.

VI.  Wahrheit als Ordnungsprinzip 1.  Keine Freiheit für den Irrtum Das Gegenprinzip, das die Päpste dem liberalen Freiheitsentwurf entgegensetzen, ist die Wahrheit. Wahrheit verstanden als die durch Vernunft und Offenbarung gegebene Erkenntnis über die religiöse und sittliche Bestimmung des Menschen, über die Gerechtigkeit und das Gemeinwohl. Die Wahrheit, um die es hier geht, ist absolut. Sie steht nicht unter dem Vorbehalt der Vorläufigkeit oder der Falsifizierbarkeit, der geschichtlichen Bedingtheit oder der wissenschaftlichen Evolution.32 Man kann sie nicht relativieren und nicht egalisieren. Sie ist nicht diskutabel und nicht abstimmbar. Die Wahrheit läßt sich nicht auf Kompromisse mit dem Irrtum ein. Sie akzeptiert den Irrtum nicht als gleichwertigen Konkurrenten. Sie unterwirft sich nicht gemeinsamen Spielregeln des Rechts. Es gibt keine Freiheit für den Irrtum. „At quae peior mors animae quam libertas erroris!“ sagt Augustinus, und Gregor XVI. beruft sich auf diesen Satz, um die zeitgenössischen Forderungen nach Gewissens- und Meinungsfreiheit zu verdammen.33 Freiheit zieht ihr Recht und ihren Sinn aus der Wahrheit. Die subjektive Freiheit integriert sich in das objektive Gesetz Gottes. Neben dieser wahren 30  Leo XIII., Brief „Officio sanctissimo“ an die Erzbischöfe und Bischöfe Bayerns v. 22. 12. 1887, in: U-G III, S. 2538 f., Rn. 17. Vgl. auch „Immortale dei“ (Fn. 21), U-G III, S. 2134 f., Rn. 33. – Mit markigen Worten geißelt Gregor XVI. den Zusammenhang der modernen Freiheitsbewegungen mit den Reformatoren und ihren spätmittelalterlichen Vorläufern: „Nec alia profecto ex causa omnes vires intendunt veteratores isti, nisi ut cum Luthero ovantes gratulari sibi possint, liberos se esse ab omnibus“ („Mirari vos“, [Fn. 26], U-G I, S. 154 f,. Rn. 19). Vgl. Pius VI., „Quod aliquantum“, U-G III, S. 2664 ff., Rn. 12 f. 31  Leo XIII., „Officio sanctissimo“ (Fn. 30) , U-G III, S. 2538 f., Rn. 17. 32  Leo XIII. verwirft die Möglichkeit einer Dogmenentwicklung: Epistula „Testem benevolentiae“ v. 22. 1. 1899, U-G I, S. 312 ff., Rn. 222 f. – im Anschluß an Vaticanum I, Const. De fide cath., c. IV. – Zum Geschichtlichkeitsproblem der Dogmen und der Modernisierungsfrage: Rahner (Fn. 20), S. 11 – 50. 33  Augustinus, psal. contra part. Donat. – Zitiert von Gregor XVI., Enzyklika „Mirari vos“ (Fn. 26), U-G I, S. 148 f., Rn. 14.

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Freiheit, das Rechte zu tun, bleibt kein Platz für die formale, negative Freiheit, die indifferent ist gegenüber Wahr und Falsch, Gut und Böse. Doch dieser negative Freiheitsbegriff ist es, der den liberalen Menschenrechten zugrunde liegt.34 Das Wahre und das Gute bilden eine unlösbare Einheit im Horizont der scholastischen Wesensphilosophie. Sie sind konvertible Werte. Omne ens est unum, verum, bonum. Erkennen und Handeln folgen demselben Gesetz. Der vor-aufklärerische Erkenntnisoptimismus wird nicht heimgesucht von transzendentalphilosophischer Reflexion. Er setzt sich unbefangen über den Abgrund hinweg, der für Kant zwischen (empirischem) Sein und (ethischem) Sollen, zwischen theoretischer und praktischer Vernunft klafft. Das Wahre und das Gute machen das eine Ziel aus, auf das hin die Freiheit angelegt ist, damit sich die Wesensnatur des Menschen erfülle. Das Wahre und das Gute unterliegen nicht menschlicher Willkür. Sie sind dauerhaft, unteilbar und unwandelbar. Libertas, ut quae virtus est hominem perficiens, debet in eo quod verum sit, quodque bonum, versari: boni autem verique ratio mutari ad hominis arbitrium non potest, sed manet semper eadem, neque minus est, quam ipsa rerum natura, incommutabilis.35 Leo XIII. zieht die rechtliche Folgerung für das liberale Postulat der Lehrfreiheit: „Da es keinem Zweifel unterliegen kann, daß nur die Wahrheit in den Geist eindringen soll, in welcher die mit Verstand begabten Wesen ihr höchstes Gut, ihr Ziel und ihre Vollendung finden, so soll auch der Unterricht nur Wahrheit verkünden, mag er sich nun an Ungebildete oder an Gelehrte wenden. […] Darum ist es vornehmlich die Pflicht des Lehrers, den Geist vom Irrtum zu befreien und falschen Meinungen gegenüber durch feste Grundsätze zu schützen. Hieraus erhellt, wie unvernünftig diese ebengenannte Freiheit (sc. der Lehre) ist, und dazu angetan, von Grund auf die Geister zu verkehren, wenn jeder glaubt, nach Belieben, was ihm dünkt, lehren zu dürfen; eine solche Zügellosigkeit kann die Staatsgewalt ohne Pflichtverletzung den Bürgern nicht gewähren. Und dies um so weniger im Hinblick darauf, daß die Autorität des Lehrers einen großen Einfluß auf die Zuhörer ausübt, und der Schüler für sich allein nur sehr selten imstande ist zu prüfen, ob sein Lehrer Wahres oder Falsches vorträgt.“ Die Lehre der Kirche, welche die höchste und sicherste Lehrerin der Völker sei, fördere die menschliche Freiheit, weil nach dem Wort Christi der Mensch durch die Wahrheit frei werde.36 34 

Dazu näher Isensee (Fn. 27), S. 95 – 103. Leo XIII., Enzyklika „Immortale dei“ (Fn. 21), U-G III, S. 2138 f. Rn. 38. 36  Beispiel der politischen Exegese von Joh. 8,32 in der Kontroverstheologie zum Liberalismus: „[…] Tatsächlich ist aber gerade die Unterwerfung unter die religiöse Wahrheit die wichtigste und unerläßlichste Vorbedingung der wahren Freiheit, Würde und Wohlfahrt des Menschen auf allen Gebieten, auch auf dem staatlichen, gemäß den Worten Christi: Veritas vos liberabit (Joh. 8,32). Je tiefer gewurzelt im Einzelnen und in der Gesellschaft die religiösen Wahrheiten sind, je williger und vollkommener sie befolgt werden, desto 35 

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Hier ist anzumerken, daß der Papst zwei heterogene Freiheitsbegriffe in eins setzt: die grundrechtliche Freiheit von der Herrschaft des Staates, um die der Liberalismus kämpft, und die geistliche Freiheit von der Knechtschaft der Sünde, auf die sich das Wort Christi bezieht: Die Wahrheit wird Euch frei machen (et veritas liberabit vos). Im Kontext von Joh. 8,32 religiöser Verheißung, entbindet das Wort nun eine politische Utopie. Die letzte Ursache aller politischen Verwirrung werde entfallen, die staatliche Herrschaft ihren Stachel verlieren und der Raum bürgerlicher Freiheit sich von selbst weiten, wenn alle, Regierende wie Regierte, die Wahrheit des Christentums annähmen.37 Die innerweltliche Heilsvision begleitet die Deutung des innerweltlichen Unheils: Da sich die Menschen von der Wahrheit abwendeten, sei die Ordnung des Gemeinwesens pervertiert, walte die Zügellosigkeit, welche die Unterdrückung nach sich ziehe. 2.  Der sichere Besitz der Wahrheit Wer das Recht der Wahrheit38 einfordert, muß sicher sein, die Wahrheit zu besitzen. Die katholische Kirche des 19. Jahrhunderts ist sich sicher. Die relativistische Toleranzmoral der Ringparabel Nathans geht sie nicht an, weil ihr Ring der echte ist und sie die Echtheit nicht erst im Wettstreit beweisen muß. Sie findet sich daher nicht damit ab, daß ihr der Staat die gleiche Freiheit gewährleistet wie beliebigen anderen Religionen und Weltanschauungen, die nicht im Vollbesitz der Wahrheit sind. Der Staat darf der Wahrheitsfrage nicht ausweichen und sie zur Privatsache erklären, weil er selbst im Dienst der Wahrheit steht. Damit ist die Gegenverfassung gekennzeichnet zum liberalen Staatsentwurf, der seine Einheit nicht auf der Wahrheit, sondern auf der Freiheit baut, der sich, um der Freiheit der Bürger willen, nicht mit der Wahrheit identifiziert, dessen eigene weltanschauliche Position die Frage des Pilatus ist: was ist Wahrheit? In der Pilatus-Position aber diskreditiert sich der Liberalismus für den Christen.39 mehr steigt die Freiheit und die Menschenwürde auf allen Gebieten, sowohl im Privat- als im Familien- und gesellschaftlichen Leben; desto mehr kann der individuellen Freiheit, da Mißbrauch derselben weniger zu befürchten ist, Spielraum gelassen werden, desto weniger braucht durch gesetzlichen Zwang nachgeholfen zu werden.“ (Gruber, [Fn. 12], Sp. 1935). Auch von Ketteler gründet auf der geistlichen Freiheit im Sinne von Joh. 8,32 die wahre politische Freiheit (Fn. 12, S. 20 – 22). 37  Leo XIII., Enzyklika „Libertas praestantissimum“ (Fn. 12), U-G I, S. 206 f., Rn. 60. – Zur Wahrheit, der die Kirche verpflichtet ist, und zu der Freiheit, die nach Joh. 8,32 aus ihr fließt: Johannes Paul II., Enzyklika „Redemptor hominis“ (Fn. 1), n. 12. 38  Böckenförde stellt das „Recht der Wahrheit“ dem „Recht der Person“ gegenüber (Fn. 17), S. 407. 39  Kritik an der Position der Pilatusfrage aus konservativ-protestantischer Sicht: Friedrich-Julius Stahl, Die gegenwärtigen Parteien in Staat und Kirche, 21868, S. 97. Konträr, aus relativistisch-demokratischer Perspektive Hans Kelsen, Vom Wesen und Wert der Demokratie, 21929, S.  98 – 104.

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Da die katholische Kirche sich im Besitz der Wahrheit weiß, kann sie für sich: ihre Lehre, ihr Wirken, ihre Ämter Freiheit vom Staat fordern. Sie verlangt im 19. Jahrhundert Freiheit auch von Rechten des Staates zur Einwirkung in ihre inneren Angelegenheiten.40 In dieser Hinsicht ergreift die emanzipatorische Grundtendenz des Jahrhunderts auch das Papsttum, das nun darauf ausgeht, die Bevormundung der politischen Gewalt abzuschütteln. Ein Dokument bildet gerade Pius’ IX. Enzyklika „Quanta cura“, die mit dem Syllabus-Annex, vordergründig gesehen, nur eine Kampfansage an die liberale Bewegung darstellt.41 Im Kampf um ihre Unabhängigkeit macht die Kirche auch nicht halt vor traditionsgeheiligten Rechtstiteln. Sie wehrt sich gegen jede Intervention des Staates, mag sie unvordenklichem Herkommen entstammen oder moderner Souveränitätsdoktrin. Hier endet der Respekt der Kirche vor politischer Tradition, der an sich ihre Staatslehre im 19. Jahrhundert leitet. Die Freiheit, auf der die Kirche gegenüber dem Staat besteht, deckt sich nicht mit der menschenrechtlichen Religionsfreiheit, auch wenn sie sich mit ihr in einem Punkte berührt. Sie ist nicht Freiheit der Individuen, sondern Freiheit der Kirche als Institution. Sie beschränkt sich auch auf die eine, die katholische Kirche. Anderen Religionen kommt sie grundsätzlich nicht zu.42 Die Kirche besteht in Ländern mit überwiegend katholischer Bevölkerung auf einem Monopol- oder Vorzugsstatus. Sie tritt hier für den religiös geschlossenen Staat ein, auch um den Preis, daß andere Religionen unterdrückt oder benachteiligt werden. Dagegen beansprucht sie in Ländern, in denen die Katholiken in der Minderheit sind, für sich die Religionsfreiheit. Sie zieht sich deshalb den Vorwurf der Widersprüchlichkeit zu: sie verurteile hier, was sie dort selbst wolle; sie wäge mit zweierlei Maß und zweierlei Gewicht. Kardinal Ottaviani, der die Lehre Gregors XVI. und Pius’ IX. bis zum Zweiten Vaticanum verficht, hält entgegen: „In der Tat, man muß zweierlei Maß und Gewicht nehmen: eines für die Wahrheit, eines für den Irrtum. Als Menschen, die wir uns im sicheren Besitz 40  Dazu mit Nachw. Listl (Fn. 8), S. 139 – 158. Vgl. auch Martin Heckel, Korrolarien zur Säkularisierung, 1981, S. 17 – 19. 41 Vgl. Pius IX., Enzyklika „Quanta cura“ v. 8. 12. 1864, U-G I, S. 170 f., Rn. 32; Syllabus n. 19, 26, 28, 30 – 33, 41, 42, 44 – 54 (Fn. 16), U-G I, S. 39 – 47. Leo XIII., Enzyklika „Immortale dei“ (Fn. 21), U-G III, S. 2140 f., Rn. 38; Enzyklika „Libertas praestantissimum“ (Fn. 12), S. 208 f., Rn. 61 (Lehrfreiheit der Kirche). Zu Leo XIII.: Tischleder (Fn. 21), S. 270 – 282 (Nachw.). 42  Zur individuellen Religionsfreiheit: Pius VI., Enzyklika „Quod aliquantum“ (Fn. 3), U-G III, S. 2663 – 2667, Rn. 10 – 13; Pius VII., Litterae Apostolicae „Post tam diuturnas“ (Fn. 4), U-G I, S. 463 f., Rn. 59; Gregor XVI., Enzyklika „Mirari vos“ (Fn. 26), U-G I, S. 148 f., Rn. 14; Pius IX., Enzyklika „Quanta cura“ (Fn. 41), U-G I, S. 164- 167; Syllabus n. 15, 77 – 79 (Fn. 16), U-G I, S. 38 f., 52 f. ; Leo XIII., Enzyklika „Immortale dei“ (Fn. 21), U-G III, S. 2138, Rn. 37; Enzyklika „Libertas praestantissimum“ (Fn. 12), U-G I, S. 210 – 215, Rn. 62 – 64. Darstellung der differenzierten Lehre Leos XIII.: Tischleder (Fn. 21), S. 187 – 198 (Nachw.). Vgl. auch Sebott (Fn.  17), S.  72 – 94, 195 – 215; Böckenförde (Fn. 17), S. 402 – 404.

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der Wahrheit und Gerechtigkeit wissen, vergleichen wir uns nicht mit anderen.“43 Die Position ist in sich folgerichtig. Sie gründet auf dem Recht der Wahrheit. Das ist ihr allgemeines Gesetz, ihr kategorischer Imperativ. Die Argumentation läßt sich nicht mit formalen Maximen widerlegen. Ein Selbstwiderspruch könnte nur konstatiert werden, wenn man die Freiheit als das allgemeine Prinzip voraussetzte und infolgedessen die kirchliche Lehre nach einem Maßstab beurteilte, den sie ausdrücklich verwirft. 3.  Freiheits-Pessimismus Die Sicherheit der katholischen Kirche, im Besitz der Wahrheit zu sein, korrespondiert mit dem apriorischen Mißtrauen gegen die Fähigkeit der modernen Welt, die Wahrheit auf den Wegen der Freiheit zu finden. Die Freiheit wird einseitig sub specie ihres Mißbrauchs und ihres Versagens gesehen. Sie erscheint als Willkür und als moralische Hemmungslosigkeit. Ihre gesellschaftlichen Folgen werden·in schwärzesten Farben gemalt. Gregor XVI. stellt die Freiheitsrechte dar als Quelle des moralischen, religiösen und politischen Unheils. „Von dort kommen die geistige Labilität, von dort die immer größere Verderbnis der Jugend, von dort geht ins Volk die Verachtung der Heiligtümer, der heiligsten Dinge und Gesetze, von dort fließt mit einem Wort eine Seuche, die für das öffentliche Leben gefährlicher ist als jede andere. Die Erfahrung bezeugt es und seit uralter Zeit weiß man es: Staatswesen, die in Reichtum, Macht und Ruhm blühten, fielen durch dieses eine Übel erbärmlich zusammen, nämlich durch zügellose Meinungsfreiheit, Redefreiheit, Neuerungssucht.“44 In den einschlägigen päpstlichen Dokumenten des 19. Jahrhunderts findet sich wenig von der christlichen Toleranztradition, die ausgeht vom neutestamentarischen Unkraut-und-Weizen-Gleichnis (Mt 13, 24 – 30, 36 – 43). Es fehlt die Gelassenheit, vorerst, bis zum Tag der Ernte, mit dem Weizen auch das Unkraut wachsen zu lassen. Der biblische Skrupel, daß, wenn das Unkraut schon jetzt gejätet würde, zugleich Weizen ausgerissen werden könnte, wiegt geringer als die Befürchtung, daß der Weizen Schaden nehme, wenn das Unkraut ungehindert weiterwüchse.45 Gregor XVI. verwirft mit scharfen Worten die optimisti43  Alfredo Ottaviani, Rede v. 2. 3. 1953, in: Ecclesia (Madrid) v. 25. 4. 1953 (zitiert nach Friedrich Heer, Die dritte Kraft, 1959, S. 597). Vgl. auch Ottaviani, Institutiones iuris publici ecclesiatici, Vol. II: Ecclesia et status, 41960, S. 46 f., 55 f., 66 f. – Grundsätzliche Kritik an der traditionellen, „integralistischen“ Position: Heer, a. a. O., S. 590 ff., bes. S. 596 – 598. – Zur Geschichte: Joseph Lecler, Geschichte der Religionsfreiheit im Zeitalter der Reformation, 2 Bde., 1965. 44  Gregor XVI., Enzyklika „Mirari vos“ (Fn. 26), U-G I, S. 48 f., Rn. 14. 45  „[…] numquam enim materia substrahetur erroris, nisi pravitatis facinorosa elementa in flammis combusta depereant.“ So Clemens XIII. 1766, zustimmend zitiert in „Mirari vos“ (U-G I, S. 150 f., Rn. 16).

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sche Prognose, die Flut der Irrtümer, die aus der Pressefreiheit hervorgehe, werde übergenug wettgemacht durch irgendein Buch, das inmitten dieses Sturmes der Verkehrtheiten zur Verteidigung der Religion und der Wahrheit herausgegeben werde. Etwas Böses könne nicht gerechtfertigt werden über die Hoffnung, daß aus ihm etwas Gutes hervorgehen werde. Welcher vernünftige Mensch werde denn je sagen, es dürfe Gift frei ausgestreut, öffentlich verkauft, privat gehalten und sogar gebraucht werden nur deshalb, weil vielleicht einmal der Gebrauch als Heilmittel vom Tode retten könnte?46 Die Gift-Metapher – gewissermaßen das konträre Bild zum Gleichnis vom Unkraut – ist noch im 20. Jahrhundert die stereotype Begründung für die Absage an die Freiheit des Buches und der Presse, für die Rechtfertigung der staatlichen Zensur und des kirchlichen Index. Die Päpste glauben nicht wie die Erzväter des Wirtschaftsliberalismus an die unsichtbare Hand, die aus der subjektiven Willkür der Individuen am Ende das allgemeine Beste hervorgehen läßt. Sie verlassen sich lieber auf die sichtbare Hand des Staates. Oder – um die Metapher Adam Smiths gegen ein Bild von Robert Bellarmin auszuwechseln – auf den weltlichen Arm der Kirche, d. h. den Staat als das bracchium saeculare der kirchlich interpretierten Wahrheit. 4.  In dubiis libertas Zur kirchlichen Tradition gehört die Maxime in dubiis libertas. Diese Maxime scheint lange Zeit keine Bedeutung für das Freiheitsproblem der Menschenrechte zu besitzen, weil keine Zweifel möglich sind, wenn die ewige Wahrheit ihr Recht geltend macht und unbezweifelbare Prinzipien auf dem Spiel stehen. Gleichwohl konzediert Leo XIII., daß die Voraussetzung nicht überall zutrifft. Er sieht offene Probleme, die der Meinungs- und Pressefreiheit zugänglich sind: Wo es sich um Ermessensfragen handele, die Gott der Prüfung des Menschen anheimgegeben habe, möge ein jeder die Meinung hegen, die ihm als die beste erscheine, und aussprechen, was er denke; eine solche Freiheit verleite die Menschen nicht zur Unterdrückung der Wahrheit, vielmehr bewirke sie oft die Entdeckung und Offenlegung der Wahrheit: talis enim libertas numquam homines ad opprimendam veritatem, saepe ad indagandam ac patefaciendam deducit.47 Die freie Diskussion also nicht als Gefahr, sondern als Chance für die Wahrheit. Also doch: in dubiis libertas. Freilich erscheint der Anwendungsbereich dieser Freiheit schmal und unbedeutend. Es wird aber erkennbar, unter welchen Voraussetzungen ein pragmatischer Ausgleich mit den Freiheitsrechten möglich ist: daß

46 

Gregor XVI., Enzyklika „Mirari vos“ (Fn. 26), U-G I, S. 148 – 151, Rn. 15. Leo XIII., Enzyklika „Libertas praestantissimum“ (Fn. 12), U-G I, S. 206 f., Rn. 59 – zu Rede- und Pressefreiheit. Vgl. auch ebd., S. 209 ff., Rn. 61 – zur Lehrfreiheit. 47 

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die Wahrheit sich verhüllt, der Zweifel legitim obwaltet und die richtige Lösung den Menschen nicht vorgegeben, sondern aufgegeben ist. 5.  Unzulängliche Unterscheidung von Legalität und Moralität Der Widerspruch zwischen Wahrheit und Freiheit fällt in der päpstlichen Lehre deshalb so schroff aus, weil sie die Unterscheidung zwischen Legalität und Moralität, wie sie sich seit der Aufklärung durchgesetzt hat, nur unzulänglich erfaßt. Der Rückzug des staatlichen Rechts aus der Wahrheitsfrage gilt undifferenziert als Absage an die Wahrheit. Die Freiheit von positivrechtlichen Pflichten wird vorschnell gleichgestellt der Befreiung von jedweder, also auch von sittlicher und religiöser Verpflichtung. Die Kirche hat eine lange Lehrzeit zu absolvieren, bis sie einsieht, daß Religionsfreiheit nicht notwendig verknüpft ist mit Atheismus, Indifferentismus, Agnostizismus, daß rechtliche Freiheit nicht moralische Anarchie bedeutet und autonome Pflichten bestehen bleiben, wenn heteronome zurückgenommen werden. Auch der liberale Freiheitsentwurf ist offen zur Wahrheit. Jedem Einzelnen bleibt aufgegeben, die Wahrheit zu suchen. Dem Staat aber ist verwehrt, ihm das Ziel und den Weg vorzuschreiben. Erst das Zweite Vaticanum vollzieht in der Erklärung über die Religionsfreiheit die Unterscheidung zwischen Legalität und Moralität – und das folgerichtig und klar. Die Religionsfreiheit wird nunmehr bejaht, aber auch nur als das, was sie von Staats wegen sein kann, als Freiheit von staatlichem Rechtsgebot. Die moralische Pflicht zur Wahrheit jedoch bleibt unberührt. Die Menschen sind in ihrem Gewissen gehalten, die Wahrheit zu suchen, besonders über Gott und die Kirche, die erkannte Wahrheit aufzunehmen und zu bewahren und das Leben nach den Forderungen der Wahrheit zu ordnen. Die Wahrheit macht ihr Recht nicht anders geltend als „durch die Macht der Wahrheit selbst, die sanft und stark zugleich den Geist durchdringt.“48 Im Beharren auf dieser moralischen Grundpflicht bleibt sich die Kirche treu über ihre Wende in der Menschenrechtsfrage hinaus.

VII.  Die Staatslehre 1.  Der Staat der christlichen Wahrheit – Theorie und politische Folge Es ist den Päpsten des 19. Jahrhunderts nicht möglich, die Freiheitsrechte als bloß staatsinterne Angelegenheit zu betrachten und die Kirche aus den politischen Konflikten, die der Liberalismus auslöst, herauszuhalten. Staat und Kirche sind unlösbar verbunden durch den Glauben. Diese Bindung aber wird durch die

48  Vaticanum II, „Dignitatis humanae“ n. 1, 2 (Fn. 18), U-G I, S. 472 f., Rn. 67, 69. – Dazu Böckenförde (Fn. 17), S. 409 – 412.

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Freiheitsrechte gekappt. Der liberale Freiheitsentwurf bildet einen Angriff auf das Ganze. Staat und Kirche haben zwar jeweils ihren spezifischen Auftrag und ihren eigenen Wirkungskreis. Aber die Aufträge ergänzen einander, die Wirkungskreise überschneiden sich, gehören als integrale Teile des Ganzen zusammen. Der Staat hat nicht bloß für die zeitlichen Güter und die äußeren Angelegenheiten zu sorgen, sondern auch für das geistliche Wohl. „Wenngleich er zu seinem nächsten Zweck die Aufgabe hat, die diesseitige Wohlfahrt zu fördern, so soll er doch den Einzelnen die Erreichung jenes höchsten und letzten Gutes, das die ewige Seligkeit ausmacht, nicht erschweren, sondern erleichtern.“49 Der Staat dient mittelbar, die Kirche unmittelbar demselben Heilsziel. Und es sind dieselben Menschen, denen sie dienen. Sie haben im Rahmen ihrer unterschiedlichen Verantwortung Hand in Hand zu arbeiten. Sie gehören zusammen wie Leib und Seele. Trennung von Kirche und Staat kann nicht sein.50 Die weltliche Gewalt bekennt sich zur wahren Religion. Diese ist notwendig Staatsreligion. Staat und Kirche, beide in ihrem Bereich eine societas perfecta,51 sind einander rechtlich gleichgestellt. Die Kirche ist jedoch, aufgrund ihres höheren Heils­ auftrags, dem Staat sittlich übergeordnet. Ihr kommt Lehr- und Jurisdiktionskompetenz über den Staat als potestas indirecta zu dadurch, daß sie verbindlich den Inhalt der Offenbarung wie des natürlichen Sittengesetzes interpretiert und gegebenenfalls ihre Verletzung durch das staatliche Recht feststellt.52 So schwierig und so dunkel das System der einander ergänzenden wie überlagernden Kompetenzen von Staat und Kirche in der Gesamtverfassung beider auch ist, so klar ist die Frage beantwortet, auf die es dem Juristen im Kompetenzkonflikt letztlich ankommt: Quis iudicabit? Der Staat zerstörte seine eigentliche Legitimationsgrundlage, wenn er sich indifferent zum wahren Glauben verhielte und jedermann die Religionsfreiheit, ohne Rücksicht auf die Wahrheit der Religion, zuerkennte. „Ein Staat ohne Gott oder auch, was schließlich auf dasselbe hinausläuft, ein Staat, der […] gegen alle Religionen sich gleichgültig verhält und sie ohne Unterschied als gleichberechtigt anerkennt, stellt sich in Gegensatz zur Gerechtigkeit und Vernunft. – Da also der Staat notwendig die Einheit des religiösen Bekenntnisses fordert, hat er sich zu 49  Leo XIII., Enzyklika „Libertas praestantissimum“ (Fn. 12), U-G I, S. 202 f., Rn. 57; vgl. auch ebd., S. 200 f., Rn. 55. – Zur Nichtbeschränkung des Staates auf die materielle Wohlfahrt: Tischleder (Fn. 21), S. 181 – 189 (Nachw.). 50 Vgl. Leo XIII., Enzyklika. „Immortale dei“ (Fn. 21), U-G III, S. 2136  – 2147, Rn. 34 – 43, S. 200 f., Rn. 65; ders., „Libertas praestantissimum“ (Fn. 12), U-G I, weit. Nachw.: Tischleder (Fn. 21), S. 282 – 342. 51  Zur Societas-perfecta-Lehre bei Pius IX. und Leo XIII.: Listl (Fn. 8), S. 134 – 190 (Nachw.). 52 Dazu: Tischleder (Fn. 21), S. 294 – 306 (Nachw.).

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der allein wahren Religion, der katholischen nämlich, zu bekennen. Diese als solche zu erkennen, namentlich in katholischen Staaten bietet keine Schwierigkeit, weil sie die Merkmale der Wahrheit an sich trägt. Die Regierenden haben sie daher zu erhalten und zu schützen, wenn ihnen, wie es ihre Pflicht ist, etwas daran liegt, klug und zweckdienlich das Wohl der Bürger zu fördern.“53 Die Kirche leistet ihrerseits der staatlichen Ordnung nützliche Dienste dadurch, daß sie als Lehrerin der Wahrheit die Pflichten der Regierenden wie der Regierten anmahnt, die rechtlichen Beziehungen verinnerlicht und vertieft, so die staatliche Ordnung stabilisiert und vor den Gefahren der Revolution und der Reaktion schützt.54 Die päpstliche Staatslehre bedeutet unter den politischen Fronten des 19. Jahrhunderts Parteinahme für die Legitimität der alten monarchischen Mächte wider die Revolution und die Bewegungen, die aus ihr entspringen. Die Kirche ruft den Staat auf, im Bündnis mit ihr, sich den Bestrebungen der Gesellschaft entgegenzustemmen, die auf religiöse und weltanschauliche Pluralisierung, Emanzipation aus traditioneller Kirchenbindung, Selbstbestimmung hinauslaufen. Er soll die sich nicht mehr natürlich regenerierende Glaubenseinheit künstlich durch Rechtszwang aufrechterhalten. Damit wird ihm zugemutet, Minderheiten der Gesellschaft, unter Umständen sogar die Mehrheit, zu unterdrücken und sich zu entfremden. Der Graben zwischen Staat und Gesellschaft wird vertieft. Die Kirche, auf derselben Seite des Grabens wie der Staat, fordert ihn auf, sich auf die Wahrheit zu stützen, unabhängig von Volkswillen und gesellschaftlichem Konsens, praktisch also: im Konfliktfall autoritär zu herrschen. Hier liegt der Grund für eine gewisse politische Neigung der Kirche zum autoritären Staat.55 Doch gilt diese nicht dem autoritären Staat in jedweder Erscheinung, sondern nur dem, der sich in den Dienst der Glaubenswahrheit stellt, und nur solange, wie seine Normen mit dem Gesetz Gottes vereinbar sind. Der 53 

Leo XIII., Enzyklika „Libertas praestantissimum“ (Fn. 12), U-G I, S. 202 f., Rn. 57. Leo XIII. zum Nutzen der Religion: „Da sie den Ursprung aller Gewalt auf Gott zurückführt, erteilt sie den Fürsten die ernste Mahnung, ihrer Pflicht eingedenk zu sein, keine ungerechten und harten Gebote zu geben, mit Milde und gewissermaßen mit der Liebe eines Vaters ihre Völker zu regieren. Ebenso fordert sie von den Bürgern, daß sie der rechtmäßigen Gewalt gleich Gottes Dienerin untergeben seien. So verknüpft sie Regierung und Regierte nicht bloß durch das Band des Gehorsams, sondern auch durch das der Ehrfurcht und Liebe (verecundia et amore coniungit); sie wehrt dem Aufruhr und allen Machenschaften, die die öffentliche Ordnung und Ruhe stören könnten und darum Anlaß zu einer größeren Einschränkung der bürgerlichen Freiheit geben“ („Libertas“, o. Fn. 12, U-G I, S. 204 f., Rn. 58.). Zur moralischen Stabilisierungsfunktion der Kirche für das Gemeinwesen auch: Leo XIII., Enzyklika „Diuturnum illud“ v. 29. 6. 1881, U-G III, S. 2092 – 2115; Enzyklika „Cum multa sint“ v. 8. 12. 1882, U-G III, S. 220 f., Rn. 2. 55 Es wäre jedoch kurzschlüssig, Theorien des autoritären Staates, wie sie Donoso Cortés oder andere katholische Denker vertraten, der Lehre der Päpste zu unterschieben. 54 

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Gehorsam, den der Christ um des Gewissens willen der staatlichen Obrigkeit schuldet (Röm 13), steht unter dem Vorbehalt des Widerstandsrechts. Der Gehorsam endet, wenn das Gebot des Staates dem Gottes offensichtlich widerspricht.56 Auch das Widerstandsrecht ergibt sich aus dem Recht der Wahrheit. Die Wahrheit, vermittelt durch die Lehre der Kirche, ist ein fester Legitimationsgrund für die Ausübung der Staatsgewalt und für die Erfüllung der Gehorsamspflicht des Untertanen. Aber sie bildet auch die deutliche Grenze. Das Recht der Wahrheit steht nicht notwendig auf Seiten des Staates, obschon die (widerlegliche) Vermutung dafür spricht, daß das staatliche Gesetz legitim ist. Das staatstheoretische Axiom Hobbes’ auctoritas non veritas facit legem wird verworfen. Die praktische Maxime aber gilt, daß die auctoritas die größere Gewähr der veritas bietet als die libertas. Die Kirche verwirft den Anspruch des Staates auf Allzuständigkeit und totale Herrschaft. Die Totalität staatlicher Herrschaft ist unvereinbar mit der Unabhängigkeit und dem Wirkungsanspruch der Kirche, unvereinbar aber auch mit dem Eigenrecht der kleineren Lebensbereiche, vor allem der Familie, innerhalb des staatlichen Organismus. In der Lehre Leos XIII. ist das Subsidiaritätsprinzip bereits angelegt, das im 20. Jahrhundert von Pius XI. klassisch definiert wird. In diesem Grundsatz konvergiert die päpstliche Lehre von der Begrenztheit des Staatszwecks mit der liberalen Doktrin von den Grenzen der Wirksamkeit des Staates.57 Die Schranken der Staatsgewalt liegen nicht in subjektiven Rechten der Individuen, sondern in objektiven Ordnungsgesetzen. Entscheidend ist aber: die katholische Kirche akzeptiert den Staat immer nur als kompetenzbeschränkte, pflichtgebundene Gewalt. Von der antirevolutionären, legitimistischen Spielart der katholischen Staatslehre des 19. Jahrhunderts führt keine Brücke zum totalitären Staat des 20. Jahrhunderts. Der Widerspruch ist unversöhnlich. Der totalitäre Staat weist sich als Werkzeug einer absoluten Wahrheit aus, um in deren Namen unbeschränkte Macht über den Menschen zu beanspruchen. Er ist selbst säkulare Heilsanstalt, Kirche im Dienste einer innerweltlichen Befreiungs- und Erlösungsreligion, wie sie prototypisch der Marxismus verkörpert. Der totalitäre Wahrheitsstaat hebt die christliche Gewaltenteilung auf, die aus dem Dualismus aller geistlichen und weltlichen Gewalt, der transzendenten und der immanenten Legitimation hervor-

56  Leo XIII., Enzyklika „Libertas praestantissimum“ (Fn. 12), U-G I, S. 194 f., Rn. 50, S. 210 – 212, Rn. 62. 57  Dazu mit Nachw.: Josef Isensee, Subsidiaritätsprinzip und Verfassungsrecht, 1968, S. 18 – 70. Im Ansatz findet sich das Subsidiaritätsprinzip auch schon in Kettelers Thesen zur Selbstverwaltung und Vereinsfreiheit (o. Fn. 12, S. 36 – 38).

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geht und die allen säkular-staatsrechtlichen Machtbegrenzungstechniken vorausund zugrunde liegt.58 2.  Der säkulare Staat als Gegentypus Der christliche Charakter des Staates, den die Päpste des 19. Jahrhunderts fordern, steht im Gegensatz zu der Säkularität, die zum Typus des „modernen“ Staates der Neuzeit gehört.59 Der moderne Staat entsagt a priori jedem transzendenten Heilsauftrag und verzichtet darauf, sich eine bestimmte Religion zu eigen zu machen. Damit ermöglicht er eine säkulare Friedensordnung, in der alle Religionen Raum finden. Er akzeptiert die religiöse Zerklüftung der Gesellschaft als unabwendbar und macht aus der Not der Uneinigkeit die Tugend, daß kein Rechtszwang zur Glaubenseinheit stattfindet. Seine Identität liegt nunmehr nicht im Glauben, sondern in der allgemeinen Freiheit des Glaubens. Die Religion hat ihren Ort außerhalb des Staatlichen in der Gesellschaft. Hier kann sie sich nach ihrer Façon auf der Grundlage rechtlicher Freiheit und Gleichheit entfalten. Der Staat greift nicht ein, aber er steht auch nicht als weltlicher Arm zur Verfügung. Die Religion ist auf die Mittel geistiger Selbstbehauptung angewiesen. Die christliche Legitimationseinheit des Mittelalters ist damit zerrissen. Der Staat legitimiert sich nunmehr allein aus innerweltlichen, praktischen Zwecken, indes er der Kirche die Freiheit gewährleistet, wie eh und je sich aus der transzendenten Wahrheit zu legitimieren. Nunmehr steht sie ihm als schlechthin wesensverschiedene Größe gegenüber. Während er zu jedweder Religion Distanz hält, verkörpert sie eine bestimmte Religion. Sie ist daher auch nicht wie der Staat an die Religionsfreiheit gebunden. Vielmehr hat sie, über die Menschenrechte ihrer Mitglieder, an der Religionsfreiheit teil. Sie ist der Ort, in der das Grundrecht seine mögliche Erfüllung findet. Die Säkularisierung des Staates zieht nicht notwendig die Säkularisierung der Kirche nach sich. Die Verwirklichung des Gemeinwohls ist nunmehr zu einem guten Teil Aufgabe der Grundrechtsträger. Sie hängt also ab von ihrer Aktivität und ihrer Einsicht – Faktoren, die sich dem Rechtszwang entziehen. Der Verfassungsstaat, der den Bürgern die negative, subjektive Freiheit gewährleistet, baut darauf, daß, aufs Ganze gesehen, diese Freiheit gemeinwohlgemäß gebraucht wird. Er zehrt von moralischen Ordnungsfaktoren, die sich weithin seiner Verfügungsmacht entziehen. Die Verfassung der Freiheit kennt keine Alternative für den Fall, daß diese Substanz nicht (mehr) den Erfordernissen des Gemeinwohls genügt. Der Ver58  Josef Isensee, Die Säkularisierung der Kirche als Gefährdung der Säkularität des Staates, in: Hunold/Korff (Hrsg.), Die Welt für morgen, 1986, S. 164 – 178. 59 Dazu: Herbert Krüger, Allgemeine Staatslehre, 21966, S. 32 – 53; Ernst-Wolfgang Böckenförde, Die Entstehung des Staates als Vorgang der Säkularisation (1967), in: Böckenförde, Staat, Gesellschaft, Freiheit, 1976, S. 42 – 64.

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fassungsstaat meidet das alte Dilemma der Wahrheit und gerät in das neue der Freiheit. 3.  Vormodernität des Staatsbildes Die Päpste verteidigen die ewige Wahrheit gegen die grassierenden Irrtümer der Zeit, das Alte gegen das Neue. Das Neue steht von vornherein unter dem Verdacht, falsch und umstürzlerisch zu sein. Die Absage an die Ideen der Freiheit und Gleichheit verbindet sich mit der Absage an die Neuerungssucht des Zeitalters: perniciosa illa ac deploranda rerum novarum studia.60 Ihre Staatslehre blickt zurück auf ein idealisiertes Mittelalter, in dem der Ordnungsbau noch intakt war, der jetzt Ruine ist. Die alten Baupläne gelten als die einzig richtigen, obwohl die Bodenverhältnisse, die Regeln der Baukunst und die Bedürfnisse der Menschen, die als Bewohner in Betracht kommen, sich verändert haben. Die rückwärts gewandte politische Utopie bewahrt die Einheit und die Statik des Gemeinwesens, den Traditionalismus des Rechtsdenkens,61 das ständische Verfassungsprinzip. Sie erhebt sich damit zur romantischen Fluchtburg, die Schutz bieten soll vor der modernen Welt in ihrem aufs Irdische gerichteten Aktivismus, ihrem Antagonismus und Pluralismus, ihrer verlorenen intellektuellen Unschuld. Der romantische Konservatismus verschließt sich nicht nur der modernen Kultur- und Wirtschaftsgesellschaft, sondern auch dem modernen Staat.62 Fremd und feindselig erscheinen ihm seine Aktivität, der keine Tradition und kein Besitzstand dauerhaft standhält, seine Zweckrationalität, die auf irdische Nützlichkeit ausgeht, die Offenheit seiner Aufgaben und Mittel, die der Offenheit der Lagen entspricht, in denen er sich zu behaupten hat, seine Souveränität.63 Ohne den modernen Staat sind auch die Menschenrechte nicht zu verstehen, die seine Gegen60  Leo XIII., Enzyklika „Immortale dei“ (Fn. 21), U-G III, S. 2134 f. Rn. 33. Vgl. auch Gregor XVI., Enzyklika „Mirari vos“ (Fn. 26), U-G I S. 148 f., Rn. 14; vgl. auch ebd. S. 144, Rn. 10 (gegen die Forderung nach Erneuerung der Kirche). 61 Vgl. Ernst -Wolfgang Böckenförde, Zum Verhältnis von Kirche und moderner Welt, in: Studien zum Beginn der modernen Welt, Industrielle Welt, Bd. 20, 1977, S. 154 – 177; ders., Kirche (Fn. 19), S. 153 – 168. 62  Zu Wesen und Genese des „modernen Staates“: Krüger (Fn. 59); ders., Die Modernität des Modernen Staates, in: Verfassung und Recht in Übersee, 1973, S. 5 – 19; Helmut Quaritsch, Staat und Souveränität I, 1970; Stephan Skalweit, Der „moderne Staat“ – Ein historischer Begriff und seine Problematik, 1975. 63  Zur Klarstellung: Die Päpste argumentieren nicht historisch, auch wenn sie im politischen Effekt den alten Mächten Legitimation zuführen. Es handelt sich nicht um traditionale Legitimation im Sinne Max Webers. Die Staatslehre ist vielmehr rational. Es handelt sich aber nicht um die Rationalität der Aufklärung, sondern um jene der scholastischen Methode.

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struktur bilden. Auf den nicht a priori definierten Machtanspruch des Staates antwortet der ebenfalls nicht a priori definierte Freiheitsanspruch des Bürgers.64 4.  Das ungeschichtliche, unpolitische Staatsdenken Die Elastizität und Formalität, die dem modernen Staats- und Freiheitsbegriff eigen sind, entsprechen der Unberechenbarkeit der realen Verhältnisse, die das politische Handeln herausfordern und determinieren. Das Geschichtlich-Individuelle liegt außerhalb des naturrechtlichen Blickfeldes der katholischen Staatslehre. Das Naturrecht stellt auf die allgemeine, unwandelbare Wesenheit der Dinge ab, nicht auf ihre kontingente, individuelle Erscheinung in der Geschichte. Individuum est ineffabile. Das mittelalterliche Naturrechtsdenken hat sich seine Orientierungssicherheit im Horizont seiner Allgemeinbegriffe bewahrt, weil es „vom Apfel historisierender Erkenntnis“ nicht gegessen, den „Sündenfall des Historismus“ nicht mitgemacht hat.65 Die ungeschichtliche, naturrechtliche Staatslehre der Päpste ist (im Unterschied zu ihrer kirchenpolitischen Praxis) blind für die Welt des Politischen, für das Wesen der politischen Entscheidung und für die Bedingungen, unter denen politische Entscheidung fällt: die Abhängigkeit von wechselnden Lagen und widerstreitenden Interessen, die Ungewißheit in der Einschätzung der Vorgegebenheiten, die Unabsehbarkeit der Folgen und Nebenfolgen. Erst mit Leo XIII. beginnt die Doktrin, sich vorsichtig den politischen Notwendigkeiten zu öffnen, das Opportunitätsprinzip als Maxime der Klugheit anzuerkennen, das geringere gegen das größere Übel abzuwägen und zu unterscheiden zwischen dem naturrechtlichen Ideal und der unter den gegebenen Umständen pragmatisch hinnehmbaren Lösung.66 So unterentwickelt wie der Sinn für das Politische ist auch der für das positive Recht, das den Niederschlag politischer Entscheidung bildet. (Das gilt freilich nur für das positive Recht des Staates. Das kanonische Recht baut seit jeher auf handfesten Positivismus und erweist sich gefeit gegen naturrechtliche Anfechtungen.) Das naturrechtliche Denken verharrt auf der Abstraktionshöhe von Prinzipien wie dem des Gemeinwohls und senkt sich nicht hinab zu den rechtspraktischen 64 

Isensee (Fn. 27), S. 79 – 92. Friedrich Meinecke, Die Idee der Staatraison, in: Werke I, 1957, S. 500 – zum christlich-mittelalterlichen Naturrecht. – Zum ungeschichtlich-abstrakten Charakter des kirchlichen Naturrechts und seinen politischen Folgen: Ernst-Wolfgang Böckenförde, Kirchliches Naturrecht und politisches Handeln, in: Böckle/Böckenförde (Hrsg.), Naturrecht in der Kritik, 1973, S. 96 – 125. Vgl. auch August M. Knoll, Katholische Kirche und scholastisches Naturrecht, 1962. 66  Leo XIII., Enzyklika „Libertas praestantissimum“ (Fn. 12), U-G I, S. 211 – 215, Rn. 64. Weit. Nachw.: Tischleder (Fn. 21), S. 329 – 334 und passim. 65 Zitate:

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Umsetzungen und Anwendungen. Im übrigen läßt sich nicht jede positivrechtliche Vorschrift auf einen Naturrechtssatz zurückführen. Das wird von Leo XIII. erkannt.67 5.  Universalistisch-organische Staatslehre Ein staatsphilosophisches Hindernis, den Zugang zu den Freiheitsrechten zu finden, liegt in der universalistisch-organischen Staatskonzeption, die, von Aris­ toteles entworfen, von Thomas adaptiert, die päpstliche Lehre prägt, vor allem die Leos XIII., die mit der von ihm selbst initiierten Thomas-Renaissance zusammentrifft. Die Individuen sind Glieder des staatlichen Organismus, haben Leben und Sinn nur im Zusammenhang mit dem Ganzen. Sie erfüllen ihre menschliche Bestimmung darin, dem Ganzen zu dienen. Ihr persönliches Wohl ist aufgehoben im Gemeinwohl.68 Die organische Betrachtungsweise geht von der staatlichen Ganzheit aus, nicht vom Individuum. Ihre universalistische Perspektive ist die entgegengesetzte zu der des Individualismus seit Thomas Hobbes. Sie stellt ab auf die zentripetalen Kräfte des Gemeinwesens, nicht auf die zentrifugalen. Ihr kommt es auf Integration an, nicht auf Ausgrenzung. Eben deshalb vernachlässigt die Integrationstheorie der aristotelischen Tradition (ähnlich wie die spätere Theorie Smends) die Momente der Staatlichkeit, an die der liberale Freiheitsentwurf anknüpft: das Eigenrecht des Individuums gegenüber dem Staat, die rechtliche Absonderung des Staates als juristischer Person gegenüber den natürlichen Personen, die ihn tragen, die Unterscheidung von Staat und Gesellschaft. Nur aus diesen Distinktionen heraus wird aber das subjektive öffentliche Recht des Individuums, das Menschenrecht in seinem Anspruchscharakter, denkmöglich. Der Organismustheorie entsprechen dagegen Tugenden und Pflichten, die den Gliedern gegenüber dem Ganzen, nach Maßgabe ihres jeweiligen Gliedstatus, obliegen.69 Das organische Staatsdenken erkennt überzeitliche Wachstumsgesetze der Gemeinschaft und des Menschen, dessen Wesensnatur in der societas perfecta seine Vollendung findet. Es vermag den Staat nicht als geschichtliches Menschenwerk zu erfassen, das sich in seiner vorgefundenen Form jeweils erneut auf seine Zweckmäßigkeit hin überprüfen und gegebenenfalls verändern lassen muß; nur

67 

Leo XIII., „Libertas praestantissimum“ (Fn. 12), U-G I, S. 190 f. Rn. 47. Tischleder (Fn. 21), S. 64 – 132; Robert Linhardt, Die Sozialprinzipien des hl. Thomas von Aquin, 1923, S. 123 – 173; Ernst Troeltsch, Die Soziallehren der christlichen Kirchen und Gruppen, Ges. Schriften Bd. I, 31923, S. 279 – 303. Weitere Nachweise Isensee (Fn. 57), S. 24 – 28. 69  Zur politischen Pflichten- und Tugendlehre Leos XIII., Enzyklika „Libertas praestantissimum“, U-G I, S. 192 f., Rn. 48. 68 Dazu:

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ein solcher Staat aber bedarf einer geschriebenen Verfassung, und nur ein solcher macht die Positivierung von Menschenrechten nötig. Den Menschenrechten korrespondiert die mechanistische Sicht des Staates als Organisation, die sich den Bürgern gegenüber verselbständigt, als Zweckveranstaltung zum Nutzen der Individuen, als juristische Person. Die Menschenrechte dienen dazu, die Gefährlichkeit dieser Machtapparatur zu bannen, den Leviathan zu zähmen. Nur unter diesem Aspekt der Staatlichkeit kann der Rechtsstaat gedacht werden, auf den die liberale Grundrechtsjurisprudenz abstellen muß. Im System Hegels gilt der Rechtsstaat lediglich als Not- und Verstandesstaat. Dieser bildet die niedere Ebene der Staatlichkeit, die Hegel in Richtung auf die höhere des objektiven Geistes – die sittliche und wirkliche Integrationsgemeinschaft aller Glieder des Gemeinwesens – transzendiert. Die päpstliche Staatslehre setzt dort erst ein, wo die Hegels aufhört, mit dem integrierten Gemeinwesen, der societas perfecta, um dann ihrerseits zu höherer Transzendenz aufzubrechen und den Erdenhorizont zu überschreiten. 6.  Die Staatsform So abstrakt, übergeschichtlich und metapolitisch die Päpste auch argumentieren, in der politischen Realität ihrer Zeit bedeutet die Lehre Parteinahme für das monarchische wider das demokratische Prinzip. Die Ableitung der Staatsgewalt von Gott her, die Paulus lehrt (Röm 13), ist schon 1791 für Pius VI. ein Argument gegen die demokratischen Ansprüche der französischen Nationalversammlung. Diese erscheinen nicht als Änderung einer bestimmten Staatsform, sondern als Angriff auf die Staatsgewalt überhaupt, die mit dem Königtum identifiziert wird.70 Wenn Paulus ganz allgemein die potestas – welche es auch sei – auf Gottes Anordnung zurückführt, so kommt die Legitimation jetzt den bestehenden (später auch den wiederherzustellenden) Monarchien zugute. Die religiöse Legitimation konvergiert mit der säkular-traditionalen, wie sie der Legitimismus des 19. Jahrhunderts vertritt. Der Gehorsam, den der Christ nach Paulus der Obrigkeit schuldet, konkretisiert und erweitert sich zur dynastischen Treupflicht. Das Papsttum verbündet sich mit den alten Mächten Europas. Die theologische Grundlegung der Staatsgewalt in Gott schließt die politische Grundlegung im Volkswillen aus, sei es in einer demokratischen Verfassung, sei es in einer philosophischen Gesellschaftsvertrags-Konstruktion. Die Ableitung der Staatsgewalt aus der Krone, die in demselben säkularen Horizont erfolgt, findet keinen entsprechenden Widerspruch. Das Prinzip der Volkssouveränität 70  Pius VI., Enzyklika „Quod aliquantum“ (Fn. 3), U-G III, S. 2664 f., Rn. 11. Auf dieser Linie: Gregor XVI., Enzyklika „Mirari vos“ (Fn. 26), U-G I, S. 150 ff., Rn. 17 – 19.

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wird verworfen.71 Freilich ist zu beachten, daß das Prinzip der staatlichen Souveränität überhaupt der päpstlichen Staatslehre fremd ist.72 Erst unter Leo XIII. löst sich die Kirche aus ihrem Bündnis mit der Monarchie; sie geht über zur Neutralität in der Staatsformfrage.73

VIII.  Die Gleichheit der Kinder Gottes und die Ungleichheit der Erdenbürger Die Idee der Gleichheit aller Menschen gehört zur christlichen Lehre. „Die Rechtsgleichheit aller und die wahre Brüderlichkeit unter den Menschen hat Jesus Christus zuerst von allen verkündet; und es war nur ein Widerhall seiner Worte, wenn die Apostel predigten, es sei kein Jude mehr, noch Grieche, noch Barbar, noch Skythe, sondern alle seien Brüder in Christus.“74 Doch die Gleichheit der Kinder Gottes ist nicht die Rechtsgleichheit der Menschenrechte, auch nicht die Égalité der liberalen Demokratie. Sie tastet die gottgewollte politische Ungleichheit zwischen Fürsten und Volk nicht an. Immerhin wird die Ungleichheit gemildert, weil die Religion beide Seiten dem gemeinsamen Gesetz unterwirft und eine geistige Einheit herstellt. „Nach der Lehre des Evangeliums liegt die Gleichheit der Menschen darin, daß alle die gleiche Natur empfangen haben, daß alle zu derselben hocherhabenen Würde der Kinder Gottes berufen worden sind, daß allen ein und dasselbe Ziel bestimmt ist und daß alle nach demselben Gesetze gerichtet werden, um Strafe oder Lohn nach Verdienst zu empfangen. Doch die Ungleichheit im Recht und in der Macht stammt vom Urheber der Natur selbst her, von dem ‚jede Vaterschaft im Himmel und auf Erden ihren Namen hat‘. Fürsten und Untertanen aber sind nach katholischer Lehre und Vorschrift durch wechselseitige Pflichten und Rechte so der Gesinnung nach untereinander verbunden, daß die Herrschsucht gemäßigt und die Pflicht des Gehorsams erleichtert, gefestigt und in höchster Weise geadelt wird.“75 Hier kommt das organische Staatsdenken zur Geltung, das auf die differenzierte Gliederung

71 Vgl. Leo XIII., Enzyklika „Diuturnum illud“ (Fn. 54), U-G III, S. 2094 f., Rn. 3; Enzyklika „Immortale dei“ (Fn. 21), U-G III, S. 2134, Rn. 33, S. 2138 f., Rn. 36; Enzyklika „Libertas praestantissimum“ (Fn. 12), U-G I, S. 194 ff., Rn. 52 f. 72  Pius IX., Syllabus n. 36 (Fn. 16), U-G I, S. 42 f., Rn. 76. 73  Leo XIII., Enzyklika „Diuturnum illud“ (Fn. 54), S. 2094 ff., Rn. 4. – Zur Staatsformfrage: Tischleder (Fn. 21), S. 243 – 261 (Nachw. ); Hans Maier, Die Kirche und die Menschenrechte – eine Leidensgeschichte?, in: Communio 10 (1981). S. 509 – 511. 74  Leo XIII., Enzyklika „Libertas praestantissimum“ (Fn. 12), U-G I, S. 192 f., Rn. 49. 75  Leo XIII., Enzyklika „Quod apostolici muneris“ v. 28. 12. 1778, U-G I, S. 60, Rn. 124 – gegen die sozialistische Doktrin.

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des Gemeinwesens abstellt,76 ferner die Nachwirkung des mittelalterlichen Ständewesens, das auf der legitimen korporativen Ungleichheit gründete. Die Päpste nehmen auch die soziale Ungleichheit hin, die sich aus der Ungleichheit des Besitzes ergibt. Die legitime Ungleichheit unter den Menschen, „die von Natur aus im Hinblick auf die Kräfte des Körpers und des Geistes verschieden sind“, wird auch auf die Eigentumsverhältnisse erstreckt. Die Kirche gebietet, „daß das Recht des Eigentums und des Besitzes, das in der Natur selbst gründet, einem jeden gegenüber unantastbar und unverletzlich sei“.77 In der Anerkennung des Privateigentums stimmen die Päpste weithin mit dem Liberalismus überein. Das Eigentum gehört zur objektiven Ordnung des Naturrechts, ist dort aber – anders als im individualistischen Konzept des liberalen Menschenrechts – von vornherein gemeinschaftsgebunden und sozialpflichtig. Leo XIII. verteidigt das Eigentum gegen die Angriffe des Sozialismus, ohne damit jedoch zum partiellen Verbündeten des Liberalismus zu werden. Er sieht das soziale Dilemma seiner Zeit, aber er verwirft das sozialistische Programm der Expropriation der Besitzenden. Der Ausgleich der sozialen Gegensätze soll ohne zwangsweise Neuverteilung der Güter auf außerrechtlichem, moralischem Wege erfolgen.78

IX.  Die Ambivalenz der Menschenwürde Die Würde des Menschen, die heute von der deutschen Staatsrechtslehre wie von der Lehre der katholischen Kirche als Grundlage der Menschenrechte erkannt wird, liegt geschichtlich wie philosophisch allen Menschenrechtsdeklarationen voraus. Sie ist unmittelbares Derivat des Christentums, von jeher Lehre der Kirche. Die klassische Begründung der Würde des Menschen als Schöpfungs- und Erlösungswerk Gottes enthält das Opfergebet der tridentinischen Messe: Deus, qui humanae substantiae dignitatem mirabiliter condidisti et mirabilius reformasti: da nobis per huius aquae et vini mysterium, eius divinitatis esse consortes, qui humanitatis nostrae fieri dignatus est particeps, Iesus Christus, Filius tuus, Dominus noster. Die dignitas humana hat keine andere Begründung als den Glauben. Eine transzendenzlose Philosophie vermag sie nicht zu leisten. Außerhalb der Religion kann die Personwürde, wie Kant es tut, postuliert, nicht aber weiter abgeleitet 76 Vgl. Leo XIII., Enzyklika „Libertas praestantissimum“ (Fn. 12), U-G I, S. 197, Rn. 52. 77  Leo XIII., Enzyklika „Quod apostolici muneris“ (Fn. 76), U-G I, S. 66 f., Rn. 128; vgl. auch Enzyklika „Rerum novarum“ v. 15. 5. 1891, U-G I, S. 500 ff., Rn. 5 – 12, S. 530 f., Rn. 30. 78  Leo XIII., Enzyklika „Quod apostolici muneris“ (Fn. 76), U-G I, S. 66 f., Rn. 128.

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und begründet werden, was Kant auch gar nicht versucht. Wenn die Würde weiter nichts ist als ein Prädikat, das der Mensch sich selbst gibt, ein Moment seines Selbstverständnisses, eine freie Setzung seiner (transzendentalen) Vernunft, unterliegt sie seiner Disposition. Er kann sie umdefinieren, ablegen, aber auch einzelnen Gruppen der Menschheit aberkennen. Die Würde des Menschen ist unlöslich verknüpft mit der Idee der Einheit des Menschengeschlechts. Die Einheitsidee wurzelt ihrerseits in der jüdisch-christlichen Schöpfungslehre. Wäre sie nicht mehr als eine biologische Hypothese oder eine humanitäre Ideologie, wäre sie widerlegbar für die Wissenschaft und interpretierbar für die Tagesmoral – Einheit unter politischem Kündigungsvorbehalt. – Für die zeitgenössische Pluralismustheorie mag es provozierend klingen: Die säkulare Deutung der Menschenwürde als der ethischen Konsensbasis der Gesellschaft zehrt von der christlichen Restsubstanz. Hier zeigt sich auch die besondere Aufgabe, die dem Christentum, genauer, der verbleibenden Gruppe von Christen in der pluralistischen Gesellschaft zufällt: mit dem Glauben auch die religiösen Quellen zu bewahren, die dem nachchristlichen, säkularen Gemeinwesen lebensnotwendige Substanz zuführen.79 Die Idee der Menschenwürde, historisch älter, philosophisch prinzipieller als die Menschenrechte, führt nicht mit logischer Konsequenz zum liberalen Freiheitsentwurf. Vielmehr ist dieser unter den gesellschaftlichen Bedingungen der Gegenwart ihre geschichtliche Konsequenz. Dieser Konsequenz aber versagen sich die Päpste des 19. Jahrhunderts. Auch sie gehen von der dignitas humana aus. Aber ihre Folgerungen sind konträr denen des Liberalismus. Leo XIII.: Die Freiheit verleihe dem Menschen eine solche Würde, daß er Macht über seine Handlungen besitze. Doch es komme darauf an, ob der Mensch der Vernunft gehorche oder abirre und zugrunde gehe.80 Verstand und Wille, die falschen Meinungen folgten und das Böse wählten, verlören ihre angeborene Würde (excidunt dignitate naturali) und stürzten ins Verderben.81 Das Argument der Menschenwürde schlägt gegen die Freiheitsrechte aus. Die dignitas folgt der veritas. In der Tat ist das Argument der Menschenwürde ambivalent. Es kann Unverfügbarkeit des Menschen für die staatliche Macht bedeuten, aber auch Unverfügbarkeit des Menschen für sich selbst.82 Im ersten Verständnis setzt das Argument Selbstbestimmung frei, im zweiten Schutz vor sittlicher Selbsterniedrigung. Hier 79 Vgl. Hermann Lübbe, Staat und Zivilreligion, in: Lübbe/Luhmann u. a., Legitimation des modernen Staates, in: ARSP, Beiheft Nr. 15, 1981, S. 64; Martin Kriele, Befreiung und politische Aufklärung, 1980, S. 253; Isensee (Fn. 58), S. 164 – 178. 80  Leo XIII., Enzyklika „Libertas praestantissimum“ (Fn. 12), U-G I, S. 180 f., Rn. 40. 81  Leo XIII., Enzyklika „Immortale dei“ (Fn. 21), U-G III, S. 2138 f., Rn. 38. 82  Ein aktuelles Problem der deutschen Rechtsprechung besteht darin, ob die freiwillige Entwürdigung der Frau zum Objekt einer Peep-Show ihre Menschenwürde verletzt und den Staat zum Eingreifen ermächtigt, die Menschenwürde also als Schranke der Freiheit

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begrenzt, dort fordert es den Staat. Die Folgerung Leos XIII., daß die Individualfreiheit durch die Menschenwürde beschränkt werde, ist ebenso plausibel wie die des Zweiten Vaticanum, daß die Menschenwürde die Individualfreiheit konstituiere. Das Konzilsdekret „Dignitatis humanae“ leitet aus der Würde der menschlichen Person die individuelle Religionsfreiheit ab. Es handelt sich denn auch nicht um naturrechtliche Deduktionen aus dem Prinzip Menschenwürde, wenn einzelne, konkrete Forderungen der Päpste an den Staat, ungeachtet der theologischen und philosophischen Begründung, im praktischen Ergebnis mit den Freiheitsrechten übereinstimmen. Vielmehr, wie es auch sonst für die Geschichte der Menschenrechte typisch ist, geht es um politischen Widerstand gegen geschichtlich erfahrene Bedrohung humaner Werte. Zu praktischer Konvergenz mit den liberalen Menschenrechten kommt Leo XIII. in seinem Einsatz für die Vereinigungsfreiheit der Arbeitnehmer83 und für das Elternrecht.84 Die Geschichte des Elternrechts ist besonders aufschlußreich. Die Kirche argumentiert mit dem Elternrecht, um ihren Einfluß auf das Schulwesen zu verteidigen gegen den Anspruch des Staates auf das Schulmonopol. Es gehört zu den historischen Widersprüchen des politischen Liberalismus, daß gerade er in seinem antiklerikalen Affekt für die Ausschaltung der nichtstaatlichen Erziehungsfaktoren kämpft. Und es gehört zu den menschenrechtlichen Paradoxien, daß die katholische Kirche im Kampf gegen den Liberalismus sich des liberalen Freiheitsentwurfs bedient und als Medium ihrer schulpolitischen Interessen ein Menschenrecht kreiert, das seiner Substanz nach liberal ist. Doch es ist kein einmaliger Vorgang in der neueren Geschichte, daß im Streit der Interessen die List menschenrechtlicher Vernunft wirksam wird.

X.  Nach der kopernikanischen Wende Wenn sich in der Einstellung der Kirche zu den Menschenrechten auch die kopernikanische Wende ereignet hat, so ist unverrückt der Horizont der Ungeschichtlichkeit: vormals standen die ewigen Naturrechtsprinzipien den Menschenrechten entgegen. Nun sind diese selbst unter die ewigen Prinzipien erhoben worden und werden als solche weltweit vertreten. Die Menschenrechte werden wirkt (so BVerwGE 64, 274 [280]). Belege über den Meinungsstreit: Christian Starck, in: v. Mangoldt/Klein, Das Bonner Grundgesetz, Bd. I, 31985, Art. 1 Rn 75, Anm. 211. 83  Leo. XIII., Enzyklika „Rerum novarum“ (Fn. 78), U-G I, S. 540 ff., Rn. 36 – 44. 84  Leo XIII., Enzyklika „Sapientiae christianae“ v. 10. 1. 1890, U-G III, S. 2286 f., Rn. 78. Vorausgegangen war eine (gescheiterte) Initiative W. E. von Kettelers zugunsten des Elternrechts bei den Verfassungsberatungen der Paulskirche: Stenographischer Bericht über die Verhandlungen der deutschen konstitutionellen Nationalversammlung zu Frankfurt, 8. Sitzung v. 18. 9. 1848, S. 2182 f. Vgl. auch Tischleder (Fn. 21), S. 84 – 90, 117 – 122; Josef Isensee, Elternrecht, in: Staatslexikon, Bd. 2, 71986, Sp. 223.

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heute ebensowenig geschichtlich relativiert wie zuvor ihr Gegenideal. Vernachlässigt wird insbesondere ihre europäische Bedingtheit durch Christentum, Renaissance und Aufklärung. Die Kirche begleitet die Menschenrechte auf ihrem gegenwärtigen Siegeszug um die Welt, bei dem sie ständig neue Hoffnungen und Verheißungen auf sich ziehen, bei dem sie an Inhalten, an Geltungsweisen, aber auch an inneren Widersprüchen zunehmen. Die liberalen Freiheitsrechte, die immer noch den Kern der Menschenrechte bilden, kollidieren nun mit säkularen, politischen Wahrheitsansprüchen von Staaten und von gesellschaftlichen Gruppen: dem Recht der sozialistischen Wahrheit, der ökologistischen Wahrheit, der pazifistischen und sonstigen Wahrheiten, die dem Absolutheitsbedarf transzendenzentfremdeter Gesellschaften zeitweilig Genüge tun. In den Staaten des Westens, welche die tiefste Tradition der Menschenrechte und deren stärkste Rechtsverankerung aufweisen, mehren sich Erscheinungen, daß Strukturen des modernen Staates als Entscheidungs- und Friedenseinheit sich auflösen, daß die neuzeitliche Fortschrittsmotorik ermüdet und der Freiheitsglaube von Zweifeln heimgesucht wird, daß neue Demut vor der Natur und vor den moralischen Vorgaben der Machbarkeit aufkommt, daß vormoderne Werte, an denen die Kirche dem Geist des 19. Jahrhunderts zum Trotz festgehalten hatte, rehabilitiert werden. Hat sie etwa ihren Frieden mit der modernen Welt just zu der Zeit geschlossen, in der die Postmoderne schon anbricht?

Versteckter Dissens Versteckter Dissens

Der unvollständige Ausgleich der katholischen Kirche mit der menschenrechtlichen Moderne* Versteckter Dissens. Der unvollständige Ausgleich der katholischen Kirche mit der menschenrechtlichen Moderne

I.  Das Bild der Harmonie 1.  Der historische Friedensschluß Zwei Jahrhunderte hatte die katholische Kirche angekämpft wider die Menschenrechte und den Geist der Moderne, der sich in ihnen verkörpert, ehe sie Schritt für Schritt bis zum letzten, entscheidenden Schritt, der Anerkennung der Religionsfreiheit durch das Zweite Vatikanische Konzil, zum Ausgleich mit ihnen gelangte und ihren Frieden machte.1 Zuvor aber hatte sie einen fundamentalen Widerspruch gesehen und alles aufgeboten, um ihn in seiner vollen Grundsätzlichkeit auszutragen. Wider die Ideen, die in der französischen Revolution aufflammen, brachte sie Argumente der Offenbarung wie des scholastischen Naturrechts in Stellung und verdammte die Menschenrechte als luziferische Hybris des Seinwollens wie Gott („non serviam!“) und als Höllensturz der modernen Gesellschaft. Wider die Irrtümer der Zeit verteidigte sie die ewige, die absolute Wahrheit.2 Wer, historisch unbefangen, heute den Syllabus errorum liest, den Papst Pius IX. seiner Enzyklika „Quanta cura“ (1864) anhängte, könnte den Eindruck gewinnen, daß es sich nicht um einen Katalog der hauptsächlichen Zeitirrtümer der liberalen Moderne handelte, sondern um einen Katalog der Irrtümer der Päpste des 19. Jahrhunderts. So hatte Pius IX. es freilich nicht gemeint. Den nunmehrigen Friedensschluß begreift die Kirche nicht als Bruch mit ihren bisherigen Positionen.3 Vielmehr relativiert, historisiert und verdrängt sie die *  Ergänzte Fassung der Erstveröffentlichung in: Elmar Nass/Wolfgang H. Spindler/ Johannes H. Zabel (Hrsg.), Festschrift für Wolfgang Ockenfels, 2017, S. 104 – 137. 1 

Erklärung Dignitatis humanae über die Religionsfreiheit vom 7. Dezember 1965. mit Nachw. Josef Isensee, Keine Freiheit für den Irrtum, in: ZRG, Kan. Abt. 104 (1987), S. 296 ff.; Rudolf Uertz, Vom Gottesrecht zum Menschenrecht, 2005. – Zu der in dieser Hinsicht ähnlichen Entwicklung im Protestantismus Martin Heckel, Die Menschenrechte im Spiegel der reformatorischen Theologie (1987), in: ders., Gesammelte Schriften Bd. II, 1989, S. 1122 ff. (Nachw.). 3  Papst Benedikt XVI. lehnt eine „Hermeneutik des Bruchs“ ab (Weihnachtsansprache vor dem Kardinalskollegium am 22. Dezember 2005). Dazu näher Eberhard Schockenhoff, Das Recht, ungehindert die Wahrheit zu suchen, in: Jan-Heiner Tück (Hrsg.), Erinnerung 2  Dazu

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früheren Stellungnahmen als zeitbedingte Absage an kirchenfeindliche Fehlentwicklungen des Liberalismus und an Mißverständnisse des wahren Sinns der Menschenrechte, der sich nun endlich zu erkennen gebe. Die Verdammungsurteile in den Lehrschreiben der Päpste von Pius VI. über Gregor XVI. und Pius IX. bis Leo XIII. werden nicht etwa widerrufen (das widerspräche dem Umgang des Lehramts mit seinen Texten). Vielmehr werden sie nachträglich entschärft und ad acta gelegt, so daß sie, wenn die Zeit einmal reif sein wird, wieder hervorgeholt werden können. So beruft sich das zweite Vatikanische Konzil in der Erklärung zur Religionsfreiheit auf die ewigen Maßstäbe der Wahrheit und Gerechtigkeit und befragt „die heilige Tradition und die Lehre der Kirche, aus denen es immer Neues hervorholt, das mit dem Alten in Einklang steht“.4 Heute besinnt sich die Kirche auf die christlichen Wurzeln der Freiheits- und Gleichheitsrechte, wie überhaupt auf die Bedingtheit der Moderne durch das Christentum.5 Die Kirche findet in den Menschenrechten ihre eigenen, freilich illegitim erzeugten Kinder wieder und erkennt sie spät, aber doch, an. Sie findet in der Wende zu den Menschenrechten geradezu die Kontinuität ihrer Lehre bestätigt, und sie wahrt ihr Selbstverständnis, Hüterin der unverrückbaren, ewigen Wahrheit zu sein.6 Seither begnügt sie sich nicht damit, die vormals verdammten Menschenrechte zu tolerieren. Vielmehr macht sie diese zu ihrer eigenen Sache, überhöht sie theologisch, unterlegt sie moralisch, setzt sich nach Kräften praktisch für ihre Durchsetzung ein und verteidigt sie gegen die Mächte, die sie unterdrücken. Sie beteiligt sich am Diskurs über das richtige Verständnis der Menschenrechte und deren praktische Folgen. Ein wesentliches Thema ist für sie die Würde des Menschen, die, wenn auch in ihrer verfassungsrechtlichen Garantie positives Recht, in ihrem Inhalt aber dem positiven Recht vorgegeben und in wesentlicher Hinsicht christlich vorgeprägt ist.7 2.  Begriffliches vorab Thema sind hier allein die liberalen Menschenrechte sowie die ihnen korrespondierenden Grundrechte, und unter diesen gerade jene Rechte, an denen sich an die Zukunft. Das Zweite Vatikanische Konzil, 22013, S. 701 (703, 727 f.). Vgl. auch Joseph Ratzinger, Wie entscheidet die Kommission für die Glaubenslehre?, in: Deutsche Tagespost v. 11. 9. 1986 /Nr. 109, S. 7. 4  Dignitatis humanae (Fn. 1), n. 1, 2, 3, 14. Zum Kompostierungs-Effekt katholischer Lehren Isensee (Fn. 2), S. 307. 5  Dazu mit Nachw. Martin Rhonheimer, Christentum und säkularer Staat, 2012, S. 33 f; Josef Isensee, Christliches Erbe im organisierten Europa, in: JZ 2015, S. 745 (751 ff.). Kritisch Fabian Wittreck, Christentum und Menschenrechte, 2013. 6 Repräsentativ Walter Kasper, Wahrheit und Freiheit, 1988, S. 8 ff. Differenzierend Schockenhoff (Fn. 3), S. 317 f. 7  Dazu mit Nachw. Wolfgang Ockenfels, Politisierter Glaube?, 1987, S. 86 ff.

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die Kirche lange gerieben hat, nämlich die Religions- und Gewissensfreiheit, die Meinungs-, die Presse- und die Wissenschaftsfreiheit. In diesem Kontext unproblematische Rechte wie das Briefgeheimnis oder die Eigentumsgarantie bleiben außer Betracht.8 Vollends werden die sozialen Menschen- und Grundrechte ausgeklammert, die von der Kirche niemals von Grund auf bestritten worden sind. Zum Sprachgebrauch: „Menschenrechte“ haben überstaatlichen Charakter, entweder als Naturrecht oder als positives Völkerrecht. „Grundrechte“ dagegen sind positives staatliches Recht, ausgestattet mit Verfassungsrang.9 Im Folgenden wird vornehmlich auf die normativ stärker verfestigten und inhaltlich genauer umschriebenen Grundrechte abgestellt. Die Menschenrechte, zumal ihre positiv-staatsrechtliche Verfestigung zu Grundrechten, sind in erster Linie auf das Verhältnis des Einzelnen zum Staat zugeschnitten. Dem Individuum kommt die Berechtigung zu, dem Staat die korrespondierende Verpflichtung. An der Berechtigung der Individuen haben die Organisationen teil als Medien individueller Freiheit. Zu diesen gehören die kirchlichen Organisationen. Die korporative grundrechtliche Freiheit der Kirche wird im deutschen Grundgesetz ergänzt durch institutionelle Gewährleistungen wie Religionsunterricht und Körperschaftsstatus. Der „Staat“ als Adressat der Grundrechte ist im engen Sinne zu verstehen als die Herrschaftsinstitution, die der „Gesellschaft“ als dem Inbegriff der sich verwirklichenden Freiheit gegenübersteht.10 Der grundrechtliche Platz der Kirche ist in der „Gesellschaft“.11 Die begriffliche Einheit von „Staat“ und „Gesellschaft“ ist das Gemeinwesen, das den „Staat“ im weiten, umfassenden Sinn der Staatsphilosophie oder die „Gesellschaft“ im weiten, umfassenden Sinn der Soziologie ausmacht oder aber in der Sprache der aristotelisch-thomasisch geprägten katholischen Soziallehre die „politische Gemeinschaft“ (communitas politica), die um der Verwirklichung des Gemeinwohls willen besteht.12 8 Differenzierung nach den Gegenständen der kirchlichen Kritik Isensee (Fn. 2), S. 301 f. 9  Die (zumindest derzeit) noch unstaatliche Europäische Union flaggt „Grundrechte“ aus (Charta der Grundrechte vom 12. Dezember 2007) und läßt damit erkennen, daß sie sich auf dem Wege zur Staatlichkeit oder doch dem staatlichen Status nahe sieht. 10 Zur Unterscheidung des engen Staatsbegriffs (Herrschaftsinstitution) vom weiten (Gemeinwesen) Josef Isensee, Staat und Verfassung, in: ders./Paul Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland (= HStR), Bd. II, 32004, § 15 Rn. 137 ff., 145 ff. 11 Zur Kirche im Koordinatensystem des Verfassungsstaates Josef Isensee, Verfassungsstaatliche Erwartungen an die Kirche, in: Essener Gespräche 25 (1991), S. 104 (111 ff.). 12 Pastoralkonstitution des Zweiten Vatikanischen Konzils „gaudium et spes“ vom 7. Dezember 1965, n. 74. – Aus der theologischen Kontroverse um den engen oder weiten Staatsbegriff: Hans Barion, „Weltgeschichtliche Machtform“? (1958), in: ders., Kirche und

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3.  Komplementäre Aufgaben von Kirche und säkularem Staat Im grundrechtlichen Koordinatensystem bieten Kirche und Staat ein Bild der Harmonie. Beide sind rechtlich voneinander geschieden und halten zueinander Distanz. Sie sind aber, soweit sich ihre Wirkungskreise überschneiden, bereit, miteinander zu kooperieren. Der Staat beschränkt sich auf innerweltliche Aufgaben des praktischen Lebens, und er legitimiert sich aus Gründen des säkularen Gemeinwohls. Die Kirche entsagt allen weltlichen Herrschaftsprätentionen und nimmt den Staat nicht als bracchium saeculare in Anspruch. Auf der anderen Seite hält sich der Staat aus Fragen der religiösen Wahrheit heraus. Er ist weder gläubig noch ungläubig. Er ist noch nicht einmal skeptisch. Vielmehr ist die Wahrheit der Religion nicht sein Thema. Eben darum rührt er nicht an den Wahrheitsanspruch der Religion, und er läßt sich nicht ein auf die Streitigkeiten, die dieser auslöst. „Das Recht auf den religiösen Irrtum ist die Grundlage des bisher modernen Verfassungsrechts geworden.“13 Die Religionsfreiheit bildet gleichsam ein Passepartout, das unterschiedliche Religionen mitsamt ihren Orthodoxien und Häresien aufnehmen kann. Die Kirche achtet die Freiheit des Einzelnen, sich ihrem Wahrheitsanspruch zu öffnen oder zu verschließen, den kirchlichen Weg zur Wahrheit oder einen anderen Weg zu gehen. Freilich besteht sie auf der Pflicht des Gläubigen, an der einmal erkannten Wahrheit festzuhalten.14 Doch handelt es sich um eine religiöse Gewissenspflicht, nicht um eine Rechtspflicht, die sich mit Hilfe des Staates erzwingen ließe. Im Gegenteil: der Staat verbannt jedweden Zwang aus dem Verhältnis der Kirche zu ihren Mitgliedern. Er gewährleistet mit der Religionsfreiheit auch das Recht des Einzelnen, sich von der kirchlichen Lehre zu distanzieren und seine Religionszugehörigkeit zu wechseln. Der Kirche gewährleistet er die (korporative) Religionsfreiheit, die Mitgliedschaft sowie den Status, die Rechte und die Pflichten der Mitglieder theologisch zu qualifizieren (etwa gemäß dem sakramentalen Verständnis der Taufe oder der Ehe) und kirchenrechtlich zu sanktionieren, doch ohne daß er sich selber zum Richter über geistliche Fragen erhöbe. Freilich kommt auch der säkulare Staat unter bestimmten Umständen nicht umhin, Kollisionen zwischen der individuellen Religionsfreiheit der Kirchenmitglieder und der korporativen Religionsfreiheit der Kirchenorganisationen aufzulösen15 und so seine von Kant ausformulierte rechtsstaatliche Aufgabe zu

Kirchenrecht, 1984, S. 599 (621 ff.); Wolfgang Spindler, „Humanistisches Appeasement“?, 2011, S. 269 ff. 13  Carl Schmitt, Glossarium, 1991, S. 6 (Eintragung 29. 8. 1947). 14  Dignitatis humanae (Fn. 1). 15  Zur grundrechtlichen Perspektive der Taufe, des Kirchenaustritts und des Kirchenübertritts Stefan Mückl, Kirchliche Organisation, in: HStR VII, 32009, § 160 Rn. 25 ff.

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erfüllen, dafür zu sorgen, daß die Freiheit des einen neben der Freiheit des anderen nach verallgemeinerungsfähigen Kriterien bestehen kann. Freilich besteht sie nur unter der Bedingung, daß jeder, der an ihr teilhat, auf physische Gewalt verzichtet. Das versteht sich für die Religionsfreiheit nicht von selbst, weil sich der Absolutheitsanspruch der Religion zu Aggressivität aufladen kann. Europa lernte aus den Religionskriegen, die mit der Glaubensspaltung entbrannten, daß die irdische Friedensordnung nicht durch den Absolutheitsanspruch religiöser Wahrheit in Frage gestellt werden darf, und daß der Staat der berufene Hüter dieser Friedensordnung ist. Die Religionsfreiheit rührt nicht an das staatliche Gewaltmonopol. Dieses bildet ihre institutionelle Voraussetzung. Der Rechtsstaat erzwingt nur die Rechtmäßigkeit des äußeren Verhaltens seiner Normunterworfenen, nicht aber rechtskonforme Gesinnung. Um der Freiheit willen ist das forum internum für ihn tabu. Er fordert allein Legalität, nicht aber Moralität. Der Rechtsstaat geht nicht darauf aus, den Menschen in seiner Ganzheit zu erfassen, und er verlangt nicht, daß dieser in seiner Rolle als Staatsbürger aufgeht. Sein Ehrgeiz ist es nicht, die societas perfecta et completa im Sinne der aristotelischen Tradition zu verkörpern. Vielmehr ist er unvollständig nach Plan: sektoraler Staat.16 Das aber bedeutet nicht, daß er sich als sozialer Torso selbst genügen könnte. Vielmehr lebt er in hohem Maße aus Energien, die ihm aus nichtstaatlichen Quellen zufließen, über die er nicht verfügen und die er um der Freiheit willen auch nicht rechtlich regulieren kann: die vitalen und die ökonomischen, die kulturellen und die ethischen Kräfte – nicht zuletzt die religiösen.17 Die Kirche sieht darin eine zeitgemäße Legitimationschance und nimmt sie als hochwillkommen an: die ethischen Ressourcen des Gemeinwesens (wenn auch nicht allein, sondern im Zusammenwirken mit anderen gesellschaftlichen Potenzen) zu erneuern sowie die religiösen Bedürfnisse der Menschen zu stillen und zugleich – wichtig angesichts eines entfesselten Fundamentalismus – in friedlichen Bahnen zu halten.18 Kirche und Staat übernehmen somit komplementäre Aufgaben. In gegenseitiger Anerkennung ihrer Verschiedenheit können sie einander ergänzen und zum Wohl des

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Isensee (Fn. 10), § 15 Rn. 75 ff. der vielzitierten Formel Ernst-Wolfgang Böckenfördes handelt es sich um Voraussetzungen, die der freiheitliche, säkularisierte Staat selbst nicht garantieren kann (Die Entstehung des Staates als Vorgang der Säkularisation [1967], in: ders., Recht, Staat, Freiheit, 1991, S. 92 [112]). Aus der unübersehbaren Anschlußliteratur: Jürgen Habermas, Vorpolitische Grundlagen des demokratischen Rechtsstaates?, in: ders./Joseph Ratzinger, Dialektik der Säkularisierung, 2005, S. 15 (16 ff.). 18  Folgerungen für die Kirche in eschatologischen, ethischen und ekklesiologischen Dimensionen Wolfgang Ockenfels, Politische Theologie und Theologie der Befreiung, in: Anton Rauscher (Hrsg.), Handbuch der Katholischen Soziallehre, 2008, S. 193 (196 f.). 17 Nach

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Gemeinwesens kooperieren.19 Wenn das Zusammenspiel glückt, können beide dazu beitragen, etwas von der verlorenen Ganzheit des Gemeinwesens zurückzugewinnen. 4.  Prämissen der Kompatibilität Das Christentum hat seinen eigenen Begriff von Freiheit, zumal ihre theonome Begründung. Daraus ergibt sich kein Widerspruch zur grundrechtlichen Freiheit, die, auf menschliche Autonomie gegründet, zum staatlichen Recht gehört und nur im säkular-staatlichen Horizont Geltung beansprucht. Die Geltung der Grundrechte hängt nicht ab vom Transzendenzglauben derer, die sie anwenden. Aber sie bieten jedermann Raum, seine je eigene Sicht in den offenen Legitimationsdiskurs einzubringen. Die grundrechtliche Freiheit wird negativ bestimmt: als Abwesenheit von staatlichem Zwang. Dagegen versteht die Kirche Freiheit positiv: als Fähigkeit zum guten Handeln.20 Dem grundrechtsgebundenen Staat geht es darum, alle Handlungsmöglichkeiten offenzuhalten, ohne nach ihrer moralischen oder ethischen Qualität zu fragen. Die grundrechtsberechtigte Kirche aber müht sich, die bestmögliche Handlungsoption zu verwirklichen. Das positive Verständnis der Freiheit setzt das negative voraus und bildet dessen Erfüllung. Die Kirche selbst kann ihre Lehre nur verkünden, wenn sie nicht durch äußeren Zwang gehindert wird. Der katholischen Ethik (Moraltheologie wie Soziallehre) und den Menschenrechten gemeinsam ist die Berufung auf ein Naturrecht, das, allem positiven Recht vorausliegend, universale Geltung beansprucht.21 Das Christentum erkennt Gebote, die Christen wie Heiden gleichermaßen „ins Herz geschrieben“ sind (Röm 2, 14 f.). Die Scholastik bringt Naturrechtslehren hervor, die unmittelbar auf der menschlichen Vernunft gründen, ohne sich ausdrücklich auf die Offenbarung zu beziehen, auch wenn diese indirekt das Vorverständnis über das „von Natur aus Gerechte“ leitet.22 Eine gewisse religiöse Imprägnierung ist auch den 19 Dazu Josef Isensee, Cooperatio ad malum? Das moralische Risiko der Zusammenarbeit von Kirche und Staat, in: Michael Rosenberger/Walter Schaupp (Hrsg.), Ein Pakt mit dem Bösen?, 2015, S. 125 ff. 20  Ockenfels (Fn. 7), S. 90 ff. (Nachw.). 21 Repräsentativ für die heute gängige Harmonisierung von kirchlicher Ethik und Menschenrechten über das Medium des Naturrechts Markus Graulich, Naturrecht – Menschenrecht – positives Recht, in: Anton Rauscher (Hrsg.), Handbuch der Katholischen Soziallehre, 2008, S. 787 ff. Dagegen kritisch zurückhaltend Christoph Schönberger, Positivität des Rechts und Naturrecht im katholischen Staatsdenken, ebd., S. 801 ff. 22  Grundsatzkritik an den neuscholastischen Naturrechtslehren Joseph Ratzinger, Naturrecht, Evangelium und Ideologie in der katholischen Soziallehre, in: Klaus von Bismarck/Walter Dirks (Hrsg.), Christlicher Glaube und Ideologie, 1964, S. 24 ff. Zuvor be-

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Rekursen auf die Natur des Menschen eigen, die sich in den frühen Menschenrechts-Deklarationen des 18. Jahrhunderts finden. Die Menschenrechte stellen sich vor als „von Natur aus“ allen Menschen gegeben, als „angeboren“, als allen Generationen unverfügbar und durch keinen Staat entziehbar.23 Sie wollen sich nicht der politischen Willkür derer verdanken, die sie proklamieren. Vielmehr beanspruchen sie, immer schon gegolten zu haben, doch dem Vergessen anheimgefallen zu sein. Nun aber bringen sie sich der gesetzgebenden wie der ausübenden Gewalt und allen Bürgern nachhaltig in Erinnerung.24 Diese formalen Übereinstimmungen haben aber nicht ausgereicht, um den historischen Konflikt zwischen Kirche und Menschenrechten zu verhindern. Sie haben auch nicht dazu beigetragen, den Widerspruch abzubauen. Unter dem Dach des Naturrechts versammeln sich heterogene und unverträgliche Inhalte.25 Was sie zusammenführt, ist lediglich die Funktion, das geltende Recht zu rechtfertigen oder zu kritisieren, ihm Legitimation zu verschaffen oder zu entziehen. 26 Die Legitimationsgründe sind in ihrem Inhalt verschieden. Von diesen her wird zu prüfen sein, ob und wieweit der praktische Konsens, der heute zwischen Kirche und Menschenrechten besteht, naturrechtlich fundiert ist oder nicht.

II.  Widersprüche 1.  Praktische Reibungen im Binnenraum der Kirche Der Frieden, den die katholische Kirche im Zeichen der Menschenrechte mit der modernen Welt geschlossen hat, verhindert nicht, daß sich in der Praxis Reibungen ergeben und daß Grundrechtskonflikte sogar in den Binnenraum der Kirche eindringen. Exemplarisch sind Konflikte zwischen der kirchlichen Führung und kirchlichem Personal, die letztlich das staatliche Gericht zu entscheiden hat. Wider die grundrechtlich gewährleistete korporative Autonomie der Kirche streitet die Meinungs- und die allgemeine Handlungsfreiheit des Religionslehrers, wenn die zuständige kirchliche Stelle ihm die missio canonica entzieht, weil sie an dessen Unterricht oder Lebenswandel Anstoß nimmt;27 die Freiheit der Forschung und Lehre des Hochschullehrers, wenn sie das Nihil obstat verweireits August Maria Knoll, Katholische Kirche und scholastisches Naturrecht (1962), in: ders., Glaube zwischen Herrschaftsordnung und Heilserwartung, 1996, S. 48 ff. 23  Repräsentativ Section 1 Virginia Bill of Rights v. 12. Juni 1776. 24  Präambel der Déclaration des droits de l’homme et du citoyen v. 26. August 1789. 25  „Versuch einer Orientierung“: Erik Wolf, Das Problem der Naturrechtslehre, 31964, S. 27 ff., 125 ff. 26 Grundlegend Wolf (Fn. 25), S. 193 ff. 27 Dazu Stefan Mückl, Freiheit kirchlichen Wirkens, in: HStR VII, 32009, § 161 Rn. 32 ff., 42 ff.

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gert oder widerruft;28 die Meinungs- und Gewissensfreiheit des am katholischen Krankenhaus beschäftigten Assistenzarztes, wenn sie ihm kündigt, weil dieser öffentlich für die Freigabe der Abtreibung eintritt;29 oder der Schutz der Ehe des gewählten Direktors einer katholischen Fachhochschule, wenn sie sich weigert, ihn zu ernennen, weil dieser nach staatlich geschiedener, aber in kirchlicher Sicht weiter bestehenden Ehe ein zweites Mal, diesmal nur standesamtlich, geheiratet hat.30 Die Gerichte bestätigen durchwegs, wenn auch nicht einhellig, nach gebührender Abwägung der gegenläufigen grundrechtlichen Belange beider Seiten, den kirchlichen Standpunkt. Dagegen nimmt die öffentliche Meinung spontan Partei für den Einzelnen, den die Sanktion der „Amtskirche“ trifft. Sie folgt dem Reflex zugunsten des „Opfers“. Zuweilen wirkt ein antikirchlicher, ein antiklerikaler Affekt mit, häufiger aber die schlichte Ahnungslosigkeit über den Auftrag der Kirche, die immer weiteren Teilen der Bevölkerung als fremde, unverständliche Größe erscheint. Je mehr die kirchliche Bindung nachläßt, desto mehr schwindet das Wissen über Kirche und Christentum. Eigentlich bietet die repräsentative, gewaltenteilige Demokratie den Staatsorganen die Voraussetzung dafür, die Grundrechte wie das Recht überhaupt in Distanz zu den gesellschaftlichen Strömungen nach den Regeln juristischer Professionalität auszulegen. Auf Dauer aber neigt die staatliche Interpretation dazu, dem gesellschaftlichen Druck nachzugeben und ihm ihr Vorverständnis anzupassen. Hinzu kommt, daß Konflikte zwischen Grundrechtspositionen in der Regel durch Abwägung gelöst werden. Hier fehlt aber die objektive, zuverlässige Waage, so daß die Subjektivität dessen, der wägt, erheblichen Einfluß gewinnt. In der Realität der liberalen Demokratie fungieren zumeist die Gerichte als Motoren der Anpassung des geltenden Rechts an den „progressiven“ Zeitgeist.

28 

Mückl (Fn. 27), § 161 Rn. 43 f. zu den Loyalitätsobliegenheiten kirchlicher Mitarbeiter: EGMR, Urt. v. 23. 9. 2010, in: NZA 2011, S. 277 ff.; Urt. v. 3. 2. 2011, in: NZA 2012, S. 199 ff.; BVerfGE 70, 138 (162 ff.); 137, 273 (301 ff.); BAG, Urt. v. 8. 9. 2011, in: AP 2012, § 1 KSchG 1969 Nr. 29 mit Anm. von Hermann Reichold/Elisabeth Hartmeyer, Bl. 1675 ff.; Josef Isensee, Kirchliche Loyalität im Rahmen des kirchlichen Arbeitsrechts, in: FS für Klaus Obermayer, 1986, S. 203 (205 ff.); Reinhard Richardi, Arbeitsrecht in der Kirche, 72015, S. 69 ff.; Mückl (Fn. 15), § 160 Rn. 35; Hermann Reichold, Verfassungs- und europarechtliche Fragen der Kirchenautonomie im Arbeitsrecht, in: Katharina Ebner et alii (Hrsg.), Staat und Religion, 2014, S. 111 ff.; Gregor Thüsing, Grund und Grenzen der besonderen Loyalitätspflichten des öffentlichen Dienstes, in: Essener Gespräche 46 (2012), S. 129 ff.; Peter Unruh, Religionsverfassungsrecht, 32015, S. 129 ff.; Claus Dieter Classen, Religionsrecht, 2 2015, S. 208 ff. 30  Zu einem solchen Fall Gregor Thüsing, Zulasten der Glaubwürdigkeit, in: Kölner Stadtanzeiger v. 15. 2. 2016, S. 4. 29  Judikatur

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Verfassungsrechtlich gesehen, ist die Kirche nicht an die Grundrechte gebunden.31 Diese richten sich gegen den Staat. Er achtet die Grundrechte, die Kirche übt sie aus. Sie genießt die staatliche Gewähr der (korporativen) Religionsfreiheit, wie ihre Bediensteten die Gewähr der (individuellen) Religionsfreiheit genießen. Auf der Basis gleicher Privatautonomie schließen der kirchliche Arbeitgeber und der kirchliche Arbeitnehmer Arbeitsverträge, die auch den besonderen kirchlichen Bedürfnissen Rechnung tragen. An sich muß das staatliche Gericht die hier gemeinsam betätigte grundrechtliche Freiheit respektieren. Doch in der Praxis behandelt es den kirchlichen Arbeitgeber, wie wenn er nicht der Berechtigte, sondern – dem Staat gleich – der Verpflichtete der Grundrechte wäre und unterwirft ihn, wenn er seine vertraglich begründeten Rechte geltend macht, einem grundrechtlichen Rechtfertigungszwang. Dennoch beläßt das Gericht dem kirchlichen Arbeitgeber im Ergebnis immer noch einen größeren Rest an Privatautonomie als dem nichtkirchlichen Arbeitgeber.32 Die Antidiskriminierungsvorschriften drosseln im Namen der Gleichheit und Menschenwürde die Privatautonomie im allgemeinen und die kirchliche Selbstbestimmung im besonderen. Zu letzter Konsequenz getrieben, könnte sie der Kirche verwehren, in Personalfragen nach der Religionszugehörigkeit zu unterscheiden, oder den Ausschluß der Frauen von geistlichen Berufen als Benachteiligung wegen des Geschlechts beanstanden. Aus der traditionellen Sicht der Kirche geradezu verkehrte Welt: daß sich heute eine neue Moral erhebt, die jeden, der am Rechtsverkehr teilnimmt, zwingen will, Leistungen zu erbringen, die seiner religiösen Überzeugung widersprechen und die er für unsittlich hält. Ein christlicher Konditor in den USA muß sich vor Gericht dafür verteidigen, daß er sich aus religiösen Gründen weigert, die Hochzeitstorte für eine Homo-Ehe zu backen.33 2.  Ambivalenz der Moderne in den Menschenrechten Der Widerstand, auf den die Kirche stößt, wenn sie auf den Wegen des staatlichen Rechts ihren Grundsätzen Wirksamkeit verschaffen will, speist sich seinerseits aus menschenrechtlichen Motiven, genauer: aus dem Geist der Moderne, aus dem die Menschenrechte hervorgegangen sind und aus dem sie stetig neue Impulse erhalten. Er wirkt als die Unruhe in den sozialen Systemen und Beziehungen. Der Geist der Moderne äußert sich in immer neuen Postulaten, Proklamationen, 31 Näher Wolfgang Rüfner, Grundrechtsadressaten, in: HStR IX, 32011, § 197 Rn. 20 ff.; Josef Isensee, Die karitative Betätigung der Kirchen und der Verfassungsstaat, in: Jo­ seph Listl/Dietrich Pirson (Hrsg.), Handbuch des Staatskirchenrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. II, 21995, S. 665 (693 ff.). 32  Nachw. o. Fn. 29. Zur grundrechtlichen Fundierung der Privatautonomie allgemein Josef Isensee, Privatautonomie, in: HStR VII, 32009, § 150 Rn. 6 ff., 50 ff., 129 ff. 33  Andreas Ross, Tortenschlacht und Toleranz, in: FAZ v. 1. 12. 2017, Nr. 284, S. 3.

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Konventionen, Gesetzen. Aber er erschöpft sich nicht in ihnen. Er ist kein festes Programm, sondern ein laufender Prozeß, kein Inhalt, sondern eine Tendenz. Die Tendenz aber ist säkular, relativistisch, rationalistisch, individualistisch, subjektivistisch, humanitär und progressiv. Alle diese Eigenschaften sind aus der Sicht der Kirche ambivalent. Sie findet in ihnen Zuspruch wie Widerspruch, Chance wie Gefahr. Freilich ist es prekär, dem Geist der Moderne Identität zuzusprechen. Denn er will sich nicht festlegen und nicht einfangen lassen. Er wechselt wie Protus seine Gestalt (oder meint jedenfalls, daß es ihm gelänge): Was gestern noch Moderne war, geriert sich heute als Postmoderne, die, morgen schon veraltet, in neuer Gewandung als Post-Post-Moderne auftreten wird, die sich, je nach intellektueller Laune, als Wiedergeburt der alten Moderne oder vielleicht sogar als Kontinuität abendländischen Denkens verstehen mag. Im vorliegenden Kontext wird die Moderne als die Aufklärung verstanden, wie sie seit ihrer prototypischen Erscheinung im 18. Jahrhundert, ungeachtet aller Wandlungen und Brüche, heute weiterlebt: als der historische Ursprung der Menschenrechte und als das politische Klima, in dem sie sich weiterentwickeln. a)  Säkularität Die Säkularität des modernen Staates hat sich auf dem Boden des Christentums entwickelt. Sie ist die politische Konsequenz des christlichen Dualismus zwischen dem Reich Gottes und den Reichen dieser Welt, von sakralem und profanem Bereich, von Kirche und Staat.34 Eine vergleichbare Scheidung ist anderen Religionskulturen wie dem Islam fremd.35 Die Menschenrechte sind weltlicher Natur. Sie berühren Religion und Kirche nur in ihren äußeren, sozialen Beziehungen, und sie umgeben diese mit einem rechtlichen Schutzmantel, ohne in ihr inneres Leben einzugreifen. Die Menschenrechte sind der Religion kompatibel, solange die Säkularität, die auf den Staat zugeschnitten ist, nicht, auf Totalität ausgehend, das ganze Gemeinwesen ergreifen und die Religion aus der gesellschaftlichen Öffentlichkeit verdrängen will. In der amerikanischen Tradition der Menschenrechte ist diese Kompatibilität glücklich gegeben. Zuwanderer aus Ländern, in denen ihre Religion durch Staat und Staatskirche unterdrückt wurde, haben hier zu einer politischen Gemein34  Ernst-Wolfgang Böckenförde, Zum Verhältnis von Kirche und moderner Welt, in: Reinhart Koselleck (Hrsg.) Studien zum Beginn der modernen Welt, 1977, S. 154 (159 ff.); Martin Heckel, Säkularisierung (1980), in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. II, 1989, S. 773 ff.; Christian Hillgruber, Staat und Religion, 2007, S. 7 ff., 47 ff.; Rhonheimer (Fn. 5), S. 33 ff., 195 ff. 35  Skeptisch zur Universalisierbarkeit des Begriffspaars religiös-säkular: Joseph Ratzinger, Was die Welt zusammenhält, in: ders./Habermas (Fn. 17), S. 39 (53 ff.).

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schaft gefunden, in der „alle Menschen gleicherweise zur freien Religionsausübung berechtigt sind, entsprechend der Stimme des Gewissens“; in der nicht Zwang und Gewalt herrschen, sondern Vernunft und Überzeugung, wenn es um die Religion geht oder um „die Ehrfurcht, die wir unserem Schöpfer schulden, und die Art, wie wir sie erfüllen“; in der es gleichwohl die gemeinsame Pflicht aller sein soll, „christliche Nachsicht, Liebe und Barmherzigkeit aneinander zu üben“.36 Der Staat und seine Rechte sind religiös neutral und doch von christlichem Geist imprägniert. Dagegen führt die französische Tradition der Menschenrechte auch religionsund kirchenfeindliche Potenzen mit sich, als Nachlaß der Aufklärungsphilosophie, die die Offenbarungsreligion durch eine Vernunft- und Zivilreligion zu ersetzen suchte, und der großen Revolution, die sich zunächst gegen die Herrschaftsprivilegien der katholischen Kirche, sodann gegen die Kirche selbst richtete. Die Religionsfreiheit erscheint als Negation der Religion. Der Staat verbannt kraft seiner Laïcité Religion und Kirche schroff aus dem staatlichen Leben.37 Allenfalls verbleiben ihr soziale Nischen. Ambivalent ist die Bedeutung der Menschenrechte von Anfang an. Während sie von ihrem amerikanischen Ursprung her rechtspraktische Garantien einklagbarer Freiheit sind, bilden sie von ihrem französischen Ursprung her politische Predigten an das ganze Menschengeschlecht.38 Als solche taugen sie zu Glaubensartikeln einer politischen Zivilreligion, die laut Rousseau als Integrationsund Erziehungsprogramm der Nation an die Stelle der christlichen Transzendenzreligion treten soll. Der säkulare, demokratische Staat schafft sich zu seinem Nutz und Frommen eine säkulare Kirche.39 Deren Wahrheit liegt im Willen des Volkes, der sich in der demokratischen Abstimmung offenbart. Wer überstimmt wird, hat sich geirrt. In der freiheitlichen Demokratie bezieht sich die Pflicht zur religiösen Neutralität allein auf die Staatsorganisation, nicht auf die Gesellschaft. Die Bürger können ihre religiösen Überzeugungen in die politische Willensbildung einbringen. Dem einzelnen Wähler ist es unbenommen, sich bei der Stimmabgabe, also dem Ursprungsakt der demokratischen Legitimation, nach konfessionellen Kriterien zu richten. Die freie und geheime Wahl duldet keine inhaltlichen Vorgaben, auch nicht das Verbot der religiösen Diskriminierung. Das Prinzip der Säkularität 36  Virginia Bill of Rights v. 12. Juni 1776, Section 16. – Zur Bedeutung der Religion in den USA Thomas Gerrit Funke, Die Religionsfreiheit im Verfassungsrecht der USA, 2006. 37  Zur Laïcité Stefan Mückl, Europäisierung des Staatskirchenrechts, 2005, S. 143 ff. 38  Zur amerikanischen und französischen Tradition der Menschenrechte Emile Boutmy, Die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte und Georg Jellinek (1902), dt. in: Roman Schnur (Hrsg.), Zur Geschichte der Erklärung der Menschenrechte, 1964, S. 78 (88 f.). 39  Jean-Jacques-Rousseau, Du contrat social, 1762, IV, 8.

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ist kein Filter, der religiöse Motive ausscheidet. Es bildet lediglich die rechtliche Grenze des staatlichen Handelns und darin auch die Grenze der politischen Erwartungen des gläubigen Bürgers an den Staat. Der Nichtgläubige aber kann die religiöse Überzeugung nicht von vornherein als illegitim verbannen und zugunsten interessenspragmatischer oder wissenschaftlich bemühter Vorstellungen abtun.40 b)  Relativismus Wahrheitsprätentionen weltanschaulicher Art liegen der liberalen Demokratie fern, die ihre Ziele und ihre Grenzen in den Grundrechten der Individuen erkennt. Wenn man ihr überhaupt eine eigene Weltanschauung zuschreiben kann, so einen Relativismus, dem die politischen Meinungen und der politische Willen aller Bürger gleichwertig sind und der sich darin bewährt, daß die Demokratie allen den freien und gleichen Zugang zum öffentlichen Diskurs offenhält, allen das freie und gleiche Stimmrecht gewährleistet und sogar der Minderheit eine notwendige Oppositionsfunktion zuweist.41 Derselbe pragmatische Relativismus liegt den Grundrechten zugrunde, die jedweden Meinungen, Weltanschauungen, wissenschaftlichen Lehren und Religionen Raum bieten. Eben dieser Relativismus macht die Demokratie und die Grundrechte für die Kirche kompatibel. Er bietet ihr die säkularrechtlichen Rahmenbedingungen, eine Wahrheit zu verkünden, die keine Relativierung verträgt. Doch nicht alles, was die Kirche verkündet, ist relativierungsresistente, absolute Wahrheit. Freilich neigen die Hierarchen dazu, ihr eigenes Wort vorschnell als Wort Gottes zu erklären und auf die ewige Wahrheit zurückzuführen. Allgemein tut sich die Kirche schwer, den Anspruch der Wahrheit mit der Erfahrung der Geschichtlichkeit zu versöhnen. Die kirchliche Vermittlung und Darstellung der Offenbarungswahrheit vollzieht sich in der Geschichte und unterliegt ihren Bedingungen. Sie paßt ihre Botschaft den raum-zeitlichen Gegebenheiten und Herausforderungen an. Aber sie sträubt sich, die raum-zeitbedingten Faktoren förmlich auszuweisen, weil sie fürchtet, daß sonst deren Autorität und Wirksamkeit litten. Dennoch kommt sie nicht umhin, ihre eigenen Lehren zu relativieren, wenn sie eine öffentliche Kehre vollzieht, wie in der Frage der Menschenrechte geschehen. Sie tut die bisherige Position als kontingent und überholt ab, und weist die neue aus als unverstellte Einsicht in die Wahrheit, so daß sie die Konsistenz der Lehre wahrt und die „Hermeneutik des Bruchs“42 vermeidet. Die Kirche 40  „Die weltanschauliche Neutralität der Staatsgewalt, die gleiche ethische Freiheiten für jeden Bürger garantiert, ist unvereinbar mit der politischen Verallgemeinerung einer säkularistischen Weltsicht“ (Habermas [N 17], S. 36). 41  Meisterhaft zum Relativismus der liberalen Demokratie Hans Kelsen, Vom Wesen und Wert der Demokratie, 21929 (Neudruck 1963), S. 98 ff. 42  Papst Benedikt XVI. (Fn. 3).

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erhebt für die neue Position den gleichen Verbindlichkeitsanspruch wie für die bisherige und nimmt es ungerührt hin, daß die Gläubigen, die ihre bisherige Botschaft Wort für Wort angenommen hatten, sich düpiert fühlen könnten. Seit die Kirche die Religionsfreiheit anerkennt, akzeptiert sie den pragmatischen Relativismus des Staates. Aber sie läßt sich ihrerseits auf einen Als-obRelativismus ein. Denn im System der Religionsfreiheit kommt ihr die gleiche Freiheit zu wie allen anderen Religionsgemeinschaften, neben denen sie sich nun als Gleiche wiederfindet, und zu denen sie in eine Art Wettbewerb eintritt, wenn sie nicht gar mit ihnen eine Art ökumenisches Kartell eingeht. c)  Rationalismus Die Aufklärung, aus der die Menschenrechte hervorgegangen sind, will die soziale Welt neu erschaffen kraft des Urteils der Vernunft. Deren Urteil unterwirft sie alle überkommenen Ordnungen. Standhalten können nur diejenigen, die sich den Belangen der Individuen als notwendig oder jedenfalls als nützlich erweisen. Tradition ist kein Argument,43 Geschichte gleichgültig. Offenbarung liegt jenseits des säkularen Vernunfthorizonts. Glauben ohne Vernunftgründe gilt als irrational. Der Staat besteht die Prüfung, wenn und soweit er sich als Apparat zur Herstellung und Garantie menschenwürdiger Lebensbedingungen seiner Bürger ausweisen kann, die diese von sich aus nicht schaffen können und wenn die Einbußen an Freiheit zwecktauglich, erforderlich und angemessen sind.44 Die Kirche kann sich einer solchen Prüfung auf ihre innerweltliche Zweckrationalität nicht unterziehen, obwohl sie seit jeher Glauben und Vernunft zu verbinden sucht (fides quaerens intellectum) und die Heilige Schrift nicht nur als Quelle des Glaubens, sondern – jedenfalls heute – auch als legitimen Gegenstand wissenschaftlichen Forschens betrachtet. Doch die Offenbarung läßt sich nicht, jedenfalls nicht zur Gänze, durch Vernunft rekonstruieren. Eine aufklärerische Kirche ohne Offenbarungsglauben, als bloßes Medium säkularer Vernunft, wäre nur ein Schatten ihrer selbst. Die christliche Kirche rechtfertigt sich aus dem Einfall Gottes in die Geschichte, aus der stetigen Vergegenwärtigung Christi in den Sakramenten und der lebendigen Nachfolge der Apostel. Diese sakrale und zugleich traditionale Legitimation kann durch keine rationale Legitimation ersetzt werden.45 43  Christian Tomuschat, Menschenrechte und kulturelle Tradition, in: EuGRZ 2016, S. 6 ff. Zum traditionellen Ritus der Beschneidung Josef Isensee, Grundrechtliche Konsequenz wider geheiligte Tradition, in: JZ 2013, S. 317 (323). 44  Josef Isensee, Die Rationalität des Staates und die Irrationalität des Menschen, in: AöR 140 (2015), S. 169 ff. 45  Zu Idealtypen der Legitimation Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, Studienausgabe, 1. Hbb., 1964, S. 157 ff.

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Juridische Folgen zeigen sich in der Frage, ob Theologie, die sich mit Glauben verbindet, an der Freiheit der Wissenschaft teilhat oder ob sie zum Glauben Distanz halten, „voraussetzungslos“ sein muß gemäß der „Grundunterscheidung“, daß Theologie nicht Religion sei, sondern „kritische Analyse des religiösen Bewußtseins“, und die Auferstehung, theologisch gesehen, lediglich eine „Interpretationsfigur“, als solche „eine Symbolisierung von Freiheit oder innerweltlicher Transzendenz“.46 Das deutsche Hochschulrecht und einzelne deutsche Landesverfassungen versuchen jedoch erst gar nicht, Wissenschaft und Glauben, Theologie und Religion, Erkenntnis und Bekenntnis zu trennen. Im übrigen nimmt das Grundgesetz es auch nicht bei einem beamteten Staatsrechtslehrer hin, daß dieser seinen Gegenstand in destruktiver oder indifferenter Distanz behandelt. Im Gegenteil: es statuiert ausdrücklich, daß die Freiheit wissenschaftlicher Lehre nicht von der Treue zur Verfassung entbindet (Art. 5 Abs. 3 S. 2 GG). Die Emanzipation der Theologie vom Glauben ist denn auch nicht notwendig der Ausweis ihrer Wissenschaftlichkeit, sondern eher die Kompensation der Lebenslüge von Agnostikern auf theologischen Lehrstühlen. In rationalistischen Bahnen bewegten sich freilich die scholastischen Naturrechtslehren, die das kirchliche Lehrgut tunlichst auch aus Erkenntnissen der Vernunft abzuleiten versuchten. „Da solche Deduktionen keineswegs für jedermann zwingend sind, sie jedoch mit der Absicht aufgestellt wurden, Glaubenslehren auch von der bloßen Vernunft her als verbindlich zu erweisen, wurde nun für den vernünftigen Charakter dieser Schlußfolgerungen eine Autorität der Kirche in Anspruch genommen, so daß einerseits der Erweis der Vernünftigkeit den schwankenden Glauben stützen, andererseits die Autorität des Glaubens die ungewisse Vernunftsicherheit ergänzen sollte. […] In dieser eigentümlichen Verquerung von Naturrecht und positivem Glaubensrecht liegt die Problematik der Situation der Kirche in der Neuzeit, in der Zeit der Umstellung von einer rein kirchlichen auf eine weltanschaulich gemischte Gesellschaft.“47 d)  Individualismus aa)  Basis der Legitimation Den liberalen Menschenrechten entspricht eine individualistische Konzeption des Staates. Am Anfang steht die Freiheit des Individuums. Vor ihr muß sich der Staat in seiner Existenz und in seinem Handeln rechtfertigen. Der staatsphilosophische Idealismus, der sich in den Menschenrechten verkörpert, steht in der Tradition von Thomas Hobbes und John Locke, damit im fundamentalen 46 So Friedrich Wilhelm Graf im Gespräch mit Martin Mosebach, Sind wir Christen noch bei Trost?, in: FAZ v. 24. 12. 2015, Nr. 299, S. 11 f. 47  Ratzinger (Fn. 22), S. 26.

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Widerspruch zu dem Universalismus der aristotelisch-thomasischen Tradition des katholischen Staatsdenkens. Freilich wendet sich dieses zunehmend einem „christlichen Personalismus“ zu, der einen dritten Weg zwischen Universalismus und Individualismus bahnen soll.48 Doch der Ausgleich mit der Moderne ist nicht zu haben ohne die Übernahme ihres individualistischen Ansatzes. Die gegensätzlichen legitimatorischen Ansätze der Staatstheorie sind binär codiert, wenngleich in den praktischen Folgerungen vermittelnde Lösungen möglich bleiben. Wer tiefer bohrt, wird mit Nietzsche auf den Ursprung des Individualismus stoßen: „In der Tat hat erst das Christentum das Individuum herausgefordert, sich zum Richter über alles und jedes aufzuwerfen, der Größenwahn wird ihm beinahe zur Pflicht gemacht: er hat ja ewige Rechte gegen alles Zeitliche und Bedingte geltend zu machen! Was Staat! Was Gesellschaft! Was historische Gesetze! Was Physiologie! Hier redet ein Jenseits des Werdens, ein Unwandelbares in aller Historie, hier redet etwas Unsterbliches, etwas Göttliches: eine Seele!“49 Zwischen der Legitimation des säkularen Staates und der Legitimation der Kirche in ihrem katholischen Selbstverständnis besteht eine unaufhebbare Differenz. Die Kirche gründet nicht in der Freiheit ihrer einzelnen Mitglieder und nicht in dem Willen des Kirchenvolkes, sondern in der Wahrheit, die sich in Christus verkörpert: „et veritas liberabit vos“ (Joh 8, 32). Die Wahrheit ist unverfügbar vorgegeben. Ihr Anspruch verwirklicht sich über die Hierarchie. Sie weist den hobbesianischen Voluntarismus ab und verwirft den Satz „auctoritas, non veritas“. Ihr Intellektualismus beansprucht, das schon immer Wahre zu erkennen und umzusetzen: auctoritas ex veritate. Integralisten gehen darüber hinaus: auctoritas Romana est veritas. Die hierarchische Grundstruktur wird nicht dadurch substantiell in Frage gestellt, daß heute die „Laien“ aktiviert werden und daß der anstaltliche Charakter der Kirche über die sich pilzartig vermehrenden Gremien tendenziell körperschaftliche Züge annimmt. Dagegen könnte die Hierarchie aufgebrochen werden, wenn Druck aus dem Kirchenvolk („Kirche von unten“) oder Druck des Staates eine Demokratisierung erzwänge, wenn Gewaltenteilung, Mitbestimmung des Personals und unabhängige Beauftragte, das Verbot religiöser Diskriminierung und Frauenquoten oktroyiert würden. Die Befürworter einer solchen Entwicklung könnten versuchen, die Grundrechte als Argument zu nutzen. Das wäre jedoch Mißbrauch. Denn die grundrechtliche Freiheit, an der die Kirche teilhat, tastet ihre Organisationsstruktur nicht an und verbietet geradezu deren Gleich48 Richtungweisend Jacques Maritain, Humanisme intégral, Paris 1936. Dazu Arthur Fridolin Utz, Der Personalismus, in: Die Neue Ordnung 8 (1954), S. 270 ff.; Uertz (Fn. 2), S. 419 ff. 49  Friedrich Nietzsche, Aus dem Nachlaß der Achtziger Jahre, in: ders., Werke (hrsg. von Karl Schlechta), 3. Bd., 1963, S. 822.

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schaltung mit den Strukturen des Staates wie auch denen von Wirtschaftsunternehmen. Antihierarchische Tendenzen berufen sich auf den Geist der Aufklärung, die den Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit befreien und ihn befähigen will, sich aus der Vormundschaft von Institutionen zu emanzipieren. In der Tat ist die apriorische Glaubens- und Gewissensautorität der Kirche für die moderne Gesellschaft keine eherne Vorgabe mehr. Vielmehr ist die Kirche heute auf Anerkennung und Vertrauen derer angewiesen, von denen sie gehört werden will. Sie muß Anerkennung und Vertrauen immer neu einwerben. Die Theonomie weicht unter den Auspizien des säkularen Individualismus der Autonomie. Was dem Verfassungsstaat die Menschenrechtsdeklarationen und Grundrechtskataloge bedeuten, sind der Kirche der Dekalog und die Bergpredigt: dort vorgegebene Freiheitsansprüche, hier vorgegebene Gebote und Pflichten. Die einen schließen jedoch die anderen nicht aus. Gebote kann nur der befolgen, der nicht durch eine unüberwindliche Macht daran gehindert wird, insofern also frei ist. Freiheit wird nur rechtlich gewährleistet durch Pflichten derer, welche die Freiheit genießen: die Nichtstörungsschranke, die bürgerliche Friedenspflicht, den Rechtsgehorsam. Wenn das Grundgesetz feststellt, daß Eigentum verpflichtet und sein Gebrauch „zugleich“ dem Wohl der Allgemeinheit dienen soll (Art. 14 Abs. 2), so weist das Wort „zugleich“ auf den legitimen Eigennutz hin und auf die primäre Selbstbestimmung des Eigentümers über den Gebrauch seiner Sachen. Diese Freiheit versteht sich im Kontext des Grundrechtskatalogs von selbst.50 Für die Sozialethik bleibt jedoch der Unterschied, ob am Anfang das objektive Prinzip der Pflicht steht oder das subjektive der Freiheit. Im ersten Fall wird sich das notwendige Maß der Freiheit aus der Pflicht ableiten, im zweiten die Pflicht als Bedingung der Freiheit rechtfertigen. In beiden Fällen besteht die Pflicht zum Rechtsgehorsam. Doch dieser wird im einen Fall a priori einer (göttlichen oder menschlichen Autorität) geschuldet, im anderen a posteriori als Erfordernis eines freien, gedeihlichen Zusammenlebens anerkannt. Die demokratische Ideologie läßt den Gehorsam gegenüber dem staatlichen Gesetz sogar als Verwirklichung der individuellen Freiheit erscheinen, wenn sie den Willen des Volkes, aus dem sich das Gesetz legitimiert, auf die Mitbestimmung des einzelnen Bürgers zurückführt, der sich auf die Prinzipien der Mehrheit und der Repräsentation eingelassen hat.

50  Vgl. BVerfGE 87, 153 (169); 93, 121 (138); Paul Kirchhof, Die Steuern, in: HStR V, 32007, § 118 Rn. 126 ff.

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bb)  Das rechtsstaatliche Verteilungsprinzip Im liberalen Grundrechtsverständnis hat Freiheit die formale Bedeutung, alles tun zu dürfen, was nicht durch legitimes Gesetz oder aufgrund eines solchen verboten ist. Die klassische Formel bietet Art. 5 der Déclaration de l’homme et du citoyen von 1789: „Alles, was nicht durch Gesetz verboten ist, kann nicht verhindert werden, und niemand kann gezwungen werden, zu tun, was es nicht befiehlt.“ Die Freiheit des Individuums ist der letzte Legitimationsgrund des Staates als Rechtsstaat. Die Ausübung der Freiheit bedarf keiner Rechtfertigung, indes die Ausübung der Staatsgewalt sich nach Ziel, Mittel und Ausmaß vor der Freiheit zu rechtfertigen hat (rechtsstaatliches Verteilungsprinzip51). Staatliche Institutionen sind nur Mittel im Dienst individueller Zwecke. Die nur indirekt nützlichen öffentlichen Belange haben es schwer, diese Prüfung zu bestehen. Besonders prekär sind die arcana imperii und alle Regungen der Staatsraison. Jeder Eingriff des Staates in die grundrechtliche Freiheit bedarf der förmlichen Ermächtigung durch ein parlamentarisches Gesetz und der materiellen Rechtfertigung aus dem Übermaßverbot. Das rechtsstaatliche Verteilungsprinzip setzt sich in der Interpretation sogar gegen den Wortlaut einer Grundrechtsnorm durch, so gegen die Fassung des Art. 2 Abs. 1 GG, daß das Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit seine Grenze findet in den Rechten anderer, der verfassungsmäßigen Ordnung und dem Sittengesetz. Das Bundesverfassungsgericht versteht die verfassungsmäßige Ordnung als die Gesamtheit der Rechtsordnung, in der die Rechte anderer aufgehen, indes das Sittengesetz als systemfremdes, außerrechtliches Kriterium ausscheidet.52 In den ersten Jahren der Geltung des Grundgesetzes wurde dem „Sittengesetz“ jedoch die eigenständige Funktion zuerkannt, strafrechtliche Verbote von Handlungen zu rechtfertigen, die nach hergebrachter bürgerlicher Sexualmoral im Bund mit hergebrachter christlicher Sexualmoral als unsittlich galten, etwa homosexuelle Handlungen oder Kuppelei.53 Doch auf Dauer ließ sich die Auffas51 

Carl Schmitt, Verfassungslehre, 1928, S. 126. BVerfGE 6, 32 (36 ff.). 53  Exemplarisch aus dem Jahre 1957 BVerfGE 6, 389 (434 ff.): Rechtfertigung der Strafvorschriften gegen die männliche Homosexualität nach den vormaligen §§ 175 f. StGB, auch unter Berufung auf die Lehren der öffentlichen Religionsgesellschaften, insbesondere der beiden großen christlichen Konfessionen. – Im Jahre 1954 hielt der Große Senat des BGH noch an der Auffassung fest, daß der Geschlechtsverkehr unter Verlobten Unzucht, mithin deren Förderung Kuppelei im Sinne des vormaligen § 180 StGB sei: „Die sittliche Ordnung will, daß sich der Verkehr der Geschlechter grundsätzlich in der Einehe vollziehe, weil der Sinn und die Folge des Verkehrs das Kind ist. … Indem das Sittengesetz dem Menschen die Einehe und die Familie zur verbindlichen Lebensform gesetzt und indem es diese Ordnung auch zur Grundlage des Lebens der Völker und Staaten gemacht hat, 52 

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sung, daß das Sittengesetz um seiner selbst willen die Strafbewehrung rechtfertige, nicht halten. Die hergebrachten Sexualdelikte wurden abgeschafft, soweit sie freiwillige Handlungen Erwachsener betrafen. Strafbar bleiben jedoch Gewaltakte und Mißbrauch an Kindern, Kranken, Abhängigen, Wehrlosen jedweder Art, Übergriffe also, welche die grundrechtlichen Schutzpflichten des Staates auslösen.54 Zum Rückzug des Staates aus diesem Bereich trug die von der Kulturrevolution 1968 initiierte „sexuelle Befreiung“ bei, aber auch die Sensibilisierung des Grundrechtsverständnisses, die strengere Unterscheidung von Recht und Moral sowie höhere Anforderungen an den staatlichen Eingriff in die grundrechtliche Freiheit. Die Freistellung von strafrechtlichen oder sonstigen Verboten des Staates gibt einer Handlung noch kein sittliches Testat. Überhaupt besagt grundrechtliche Freiheit als solche nichts über die sittliche oder die intellektuelle Dignität ihrer Ausübung. Die Sonne der Grundrechte scheint über Gerechte und Ungerechte, über Weise und Toren, über Normale und Außenseiter. Doch hat die Entkriminalisierung, die in gewissem Grade eine Folge des gesellschaftlichen Bewußtseinswandels war, ihrerseits den Wandel erheblich beschleunigt und dem vormals verbotenen Tun die Akzeptanz als „normal“ und sozialadäquat zugeführt und jedem, der die Freiheit nutzt, das gute soziale Gewissen verschafft, indes es den moralischen Kritiker als „intolerant“ bloßstellt. Im bürgerlichen Zeitalter, das der heutige Kirchenhistoriker als „Jahrhundert der Prüderie“ kennzeichnet,55 fand die bürgerliche Sexualmoral einen pastoralen Bündnispartner in den Beichtspiegeln, die alles, was ohne kirchenrechtliche Lizenz in Gedanken, Worten und Werken Sexualität aktivierte, unter Todsündenverdikt mit Höllenfolge stellte. Die bürgerliche Sexualmoral hat sich im 20. Jahrhundert verabschiedet. Die Kirche steht allein da, und sie erfährt, daß ihre tradierten theologischen wie scholastischen Argumente zu Ehe und Außerehe nicht mehr verfangen, daß die Engführung der Sexualität auf die Fortpflanzung, mit ihr der scholastische Fehlschluß vom Zweck der Gattung auf die individuelle Moral, nicht mehr abgenommen wird, spricht es zugleich aus, daß sich der Verkehr der Geschlechter grundsätzlich nur in der Ehe vollziehen soll und daß der Verstoß dagegen ein elementares Gebot geschlechtlicher Zucht verletzt“ (BGHSt 6, 46 [53 f.]). 54  Zum Rückschnitt des Sexualstrafrechts Ernst-Walter Hanack, Empfiehlt es sich, die Grenzen des Sexualstrafrechts neu zu bestimmen? Gutachten für den 47. Deutschen Juristentag, Bd. I, Teil A, 1968, S. 9 (28 ff.); Joachim Renzikowski, in: Münchener Kommentar zum StGB, 22012, Vorbem. zu den §§ 174 ff. Rn. 2 ff.; Monika Frommel, in: Kindhäuser/ Neumann/Paeffgen (Hrsg.), Strafgesetzbuch, 42013, § 177 Rn. 1. – Umstritten ist heute die Verfassungsmäßigkeit der Strafvorschrift über den Geschwisterinzest (§ 173 Abs. 2 S. 2 StGB). Bejahend BVerfGE 120, 224 (238 ff.). Ablehnend das Sondervotum des Richters Hassemer, BVerfGE 120, 255 ff.; Tatjana Hörnle, Das Verbot des Geschwisterinzestes, in: NJW 2008, S. 2085 ff. 55  Arnold Angenendt, Ehe, Liebe, Sexualität im Christentum, 2015, S. 187 ff.

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daß die biblischen Urteile über die Homosexualität sogar als politisch unkorrekt gelten. Sie, die angetreten ist, der Welt sittliche Orientierung zu geben, sucht heute selbst nach Orientierung. Relativ sicher ist dagegen ihr Urteil, wenn es um den Schutz des ungeborenen Lebens geht. Hier kommen ihr die Grundrechte zu Hilfe. Sie beruft sich auf die Schutzpflicht des Staates für das Lebensrecht, das auch dem ungeborenen Kind zusteht, und für seine Menschenwürde.56 An diesen Rechten bricht sich – jedenfalls grundsätzlich – die Prätention der Schwangeren auf Selbstbestimmung über Fortsetzung oder Abbruch der Schwangerschaft. Die Kirche trägt den moralischen, rechtlichen und politischen Konflikt als Grundrechtskonflikt aus, und zwar auf dem Boden des Individualismus.57 Gleichwohl läßt sich die kirchliche Ethik nicht auf den Einsatz für Grund- und Menschenrechte reduzieren, so wichtig er auch heute geworden ist. Sie geht über das negative Verständnis einer Freiheit vom Staat hinaus auf das positive, den guten Gebrauch der Freiheit. Die Wende zur Autonomie bedeutet für die Kirche keine Absage an die Theonomie. Die Kraft zur complexio oppositorum58 ist ihr verblieben. Neben dem Bekenntnis zu den Menschenrechten, das Papst Johannes XXIII. in seiner Enzyklika „Pacem in terris“ 1963 abgibt,59 und neben der Reverenz, die Johannes Paul II. den Ideen der französischen Revolution Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit als „im Grunde christlichen Ideen“ erweist,60 bleibt weiterhin die klassische Gegenposition Papst Leos XIII. zum liberalen Freiheitsbegriff bestehen: „In der menschlichen Gesellschaft besteht … die Freiheit nicht darin, daß jeder tut, was ihm beliebt, woraus dem Staatswesen nur größte Unordnung und zerstörerische Verwirrung erwüchsen, sondern darin, daß wir durch die Staatsgesetze wirksamer die Gebote des Ewigen Gesetzes nachleben können. Die Freiheit der Regierenden besteht nicht darin, daß sie ohne Grund und nach Willkür befehlen können, was ebenso schändlich wäre und dem Staatswesen zum größten Verderben gereichen müßte; die Wirkkraft der menschlichen Gesetze muß vielmehr darin bestehen, daß ihr Ursprung aus dem Ewigen Gesetz klar erhellt und sie nichts verordnen, was nicht in diesem als dem Ausgangspunkt des gesamten Rechts enthalten ist.“61 56 

BVerfGE 39, 1 (36 ff.); 88, 203 (251 ff.). den Perspektiven Manfred Spieker, Sozialethische Fragen des Lebensschutzes, in: Anton Rauscher (Hrsg.), Handbuch der Katholischen Soziallehre, 2008, S. 361 ff. 58 Dazu Carl Schmitt, Römischer Katholizismus und politische Form, 1923, S. 15 f., 18 f. 59 Dazu Uertz (Fn. 2), S. 463 ff. 60  Predigt bei einem Besuch in Frankreich. Zitiert nach Alfred Grosser, Der schmale Grat der Freiheit, 21982, S. 16. 61  Leo XIII., Enzyklika „Libertas praestantissimum“ v. 20. 6. 1888 (in: Arthur F. Utz/ Brigitta Gräfin von Galen [Hrsg.], Die katholische Sozialdoktrin in ihrer geschichtlichen Entwicklung, 1976, Bd. I, S. 190 f. Rn. 47). 57  Zu

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Der christlichen Lehre von der erbsündigen Natur des Menschen widerstrebt der liberale Glaube an die ursprüngliche, ungebrochene Gutheit des Menschen, wie er den Menschenrechten der ersten Generation, den liberalen Freiheitsrechten, zugrunde liegt. Die Päpste des 19. Jahrhunderts hatten mit dem Argument der Erbsünde wider die liberalen Freiheitsrechte gekämpft. Der nunmehrige Ausgleich mit ihnen steht immer noch unter dem stillschweigenden Vorbehalt der Erbsünde. e)  Subjektivismus Das Ordnungsdenken der kirchlichen Tradition stößt auf das subjektive Prinzip der Moderne, wie es sich in den Freiheitsrechten zur Geltung bringt. Dort ist das Leitbild ein Leben nach vorgegebenem Heilsplan, hier ein Leben nach eigenem Entwurf. Dort geht es um die Erfüllung des göttlichen Willens, hier um Selbstverwirklichung, Entfaltung der eigenen Persönlichkeit, Authentizität. Dort lautet die Verheißung: „Die Wahrheit wird Euch frei machen“, hier: „Die Freiheit wird Euch wahr machen“.62 Die negativ bestimmte grundrechtliche Freiheit steht dem beliebigen Gebrauch offen, dem gemeinnützigen wie dem eigennützigen, dem klugen wie dem törichten, dem guten wie dem schlechten Gebrauch, aber auch dem Nichtgebrauch. Niemand ist gehalten, seine Religions-, Meinungs- oder Berufsfreiheit auszuüben. Die Kirche dagegen versteht die Freiheit positiv: als religiös-sittliche Pflicht zum richtigen Handeln, „richtig“, wie das göttliche Gebot oder das objektive Naturrecht in kirchlicher Auslegung es vorgibt. Die Subjektivität ist allergisch gegen objektivrechtliche Vorgaben und gegen die Zuordnung subjektiver Freiheitsausübung zu objektiven Grundrechtstatbeständen. Sie begehrt auf gegen die Strenge des allgemeinen Gesetzes, das zu Härten im Einzelfall führen und persönliche Empfindlichkeit verletzen kann. Eine Emanation des Subjektivismus in der Verfassungsinterpretation ist die Forderung, daß die Grundrechtsträger selbst über die Qualität und Reichweite ihrer grundrechtlichen Freiheit bestimmen, daß der Künstler sagt, was Kunst, der Hochschulangehörige, was Wissenschaft, der Gläubige, was Religion im Sinne der Grundrechte sein solle. Die Freiheit, ein allgemein und objektiv definiertes Grundrecht auszuüben, verwandelt sich in die Freiheit, sich ein Grundrecht nach eigener Fasson zurechtzuschneidern. Der Subjektivismus paßt sich heterogenen Religionen und Kulturen an und läßt es zu, daß der Muslim aus Ostanatolien 62  Zu dem offenen Widerspruch zwischen dem Freiheitsverständnis des Liberalismus und dem Wahrheitsanspruch der katholischen Lehre im 19. Jahrhundert mit Nachw. Isensee (Fn. 2), S. 314 ff. Zu diesem heute in den Binnenraum der katholischen Theologie ausgeweiteten Widerspruch Karl-Heinz Menke, Macht die Wahrheit frei oder die Freiheit wahr?, 2017.

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die Unterdrückung der Frau wie die Verweigerung der Schulpflicht als Verwirklichung seiner Religionsfreiheit deutet, um dies vor deutschen Gerichten durchzusetzen. Die Kirche läßt sich eine Religionsfreiheit nach Maßgabe ihres Selbstverständnisses gern gefallen, weil es nun an ihr liegt, zu qualifizieren, ob eine Lumpensammlung für karitative Zwecke als Religionsausübung zu gelten hat oder nicht.63 Doch solche anarchische Definitionsmacht stellt die Allgemeinheit des Gesetzes, die Rechtsgleichheit und die Rechtssicherheit in Frage. Diese Geltungsqualitäten stehen nicht zur Disposition des Grundrechtsträgers. Ausdrücklich bindet die Verfassung die Selbstbestimmung der Religionsgesellschaft an die Schranken des für alle geltenden (mithin objektiven) Gesetzes.64 Die bürgerlichen und staatsbürgerlichen Rechte und Pflichten (also auch die allgemeine Schulpflicht) werden durch die Ausübung der Religionsfreiheit weder bedingt noch beschränkt.65 Dem Subjektivismus mangelt der Sinn für Institutionen. Auf dieser Linie bewegen sich die Verfassungsinterpreten, die den Status der Kirche ausschließlich von der Religionsfreiheit des Einzelnen her bestimmen wollen unter Vernachlässigung der objektiven Garantien, die sich nicht aus subjektiven Rechten ableiten lassen, wie Körperschaftsstatus, Kirchensteuer, theologische Fakultäten.66 Die Institution Kirche bekommt diese Tendenz zu spüren, wenn sich ihre Angehörigen unter Berufung auf ihre individuelle Religionsfreiheit gegen hierarchische Entscheidungsstrukturen zur Wehr setzen. Die Erfahrung ist für die Kirche nicht neu. Sie lebt ihrerseits aus der Polarität des objektiven Prinzips, das sich im Ämterwesen verkörpert, und dem subjektiven Prinzip, das sich in Frömmigkeit, Ethos, Kirchentreue der Gläubigen entfaltet. Ohne das objektive Prinzip waltete Anarchie, ohne das subjektive trocknete die Kirche aus.67 Die höchste Erscheinungsform des subjektiven Prinzips ist das 63  Dazu jeweils mit Nachw. Josef Isensee, Wer definiert die Freiheitsrechte?, 1980; Martin Morlok, Selbstverständnis als Rechtskriterium, 1993; Stefan Muckel, Religiöse Freiheit und staatliche Letztentscheidung, 1997. 64  Art. 137 Abs. 3 S. 1 WRV i. V. m. Art. 140 GG. 65  Art. 136 Abs. 1 WRV i. V. m. Art. 140 GG. 66  Zum Verhältnis der Religionsfreiheit zum Institutionenrecht Stefan Korioth, Vom institutionellen Staatskirchenrecht zum grundrechtlichen Religionsverfassungsrecht?, in: FS für Peter Badura, 2004, S. 727 ff.; Christian Hillgruber, Über den Sinn und Zweck des staatskirchenrechtlichen Körperschaftsstatus, in: Christoph Grabenwarter/Norbert Lüdecke (Hrsg.), Standpunkte im Kirchen- und Staatskirchenrecht, 2002, S. 78 (98 f.); Claus Dieter Classen, Religionsfreiheit und Staatskirchenrecht in der Grundrechtsordnung, 2003; Josef Isensee, Kirche und Staat am Anfang des 21. Jahrhunderts, in: Österreichisches Archiv für Recht & Religion 53 (2006), S. 21 (26 ff.). 67  „Die Kirche, die aus vielen Gegensätzen besteht, lebt auch aus dem Gegensatz zwischen Papst und Franz von Assisi. Er ist für die Kirche fruchtbar. Sie braucht die Institution und den anarchischen Christen. Aber diese beiden Pole dürfen nicht in einer Person

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Charisma, das, wenn es sich mit dem Amt verbindet, dieses zu höchster Vollendung führen, wenn es sich gegen das Ämterwesen richtet, dieses in Brand setzen kann.68 Das subjektive Prinzip wehrt sich gegen eine endgültige, lebenslängliche Bindung, wie sie die katholische Kirche für die Ehe, die nur der Tod scheiden darf, wie für geistliche Berufe aufgrund ihrer „ewigen Gelübde“ anstrebt. Subjektivität lebt aus dem Augenblick. Sie stellt alle Rechtsbeziehungen unter den Vorbehalt der Vorläufigkeit und Kündbarkeit, um sich dem möglichen Wandel in der Zukunft offenzuhalten. In jedem Versprechen einer Bindung steckt die clausula rebus sic stantibus. Wer nur Gefühle gelten läßt, braucht dem einmal gegebenen Wort nicht treu zu bleiben, wenn die Gefühle erkalten oder eine andere Richtung nehmen. Wem das irdische Leben das ganze Leben bedeutet, tut sich schwer, über das ganze für immer und unwiderruflich zu verfügen. f)  Inkurs: Mehrerlei Ehe Die Kirche neigt dazu, sich mit dem Grundrechtsartikel zu identifizieren, daß Ehe und Familie unter dem besonderen Schutz der staatlichen Ordnung stehen (Art. 6 Abs. 1 GG), auch wenn sie begreift, daß die Verfassung des säkularen Staates sich auf die Ehe in ihrer säkularen, nicht in ihrer sakramentalen Bedeutung bezieht, und daß die Ehe im bürgerlichrechtlichen Verständnis nicht identisch ist mit ihrem kirchenrechtlichen Verständnis. Sie hat gute Gründe dafür. Immerhin ist das staatliche Eherecht nachhaltig vorgeprägt vom kanonischen Recht in den Elementen der Lebensgemeinschaft von Mann und Frau, der Monogamie, des öffentlich bekundeten Konsenses, der auf Lebenszeit angelegten Bindung.69 Die Verfassungsgarantie bezieht sich auf die Ehe als objektive Institution und korrespondiert in dieser Formalstruktur dem Konzept des Kirchenrechts,70 das die Ehe als vorgegebene Ordnung begreift, vorgegeben in der „natürlichen“ sowie – jenseits des säkular-staatlichen Horizonts – in einer sakramental gehei-

zusammenfallen.“ Aus diesem Grund kritisiert Martin Mosebach die Wahl des Namens Franziskus für den Papst („Dieser Papst macht Stimmung“, in: Der Spiegel 22/2015, S. 27). 68 Zur Geschichte und Theorie von Amt und Charisma Erik Peterson, Die Kirche (1928), in: ders., Theologische Traktate, 1994, S. 245 ff.; Ernst Dassmann, Ämter und Dienste in frühchristlichen Gemeinden, 1994. Weit. Nachw. Josef Isensee, Gemeinwohl und öffentliches Amt, 2014, S. 120 ff. 69  Paul Mikat, Ethische Strukturen der Ehe in unserer Zeit, 1987, S. 10 ff. (Nachw.). Zur Geschichte Angenendt (Fn. 55), S. 213 ff., 226 ff., 229 ff. 70  So § 1353 Abs. 1 BGB. Zu Begriff und Wesen der Ehe nach Art. 6 Abs. 1 GG Peter J. Tettinger, Der grundgesetzlich gewährleistete Schutz von Ehe und Familie, in: Essener Gespräche Bd. 35 (2001), S. 117 (126 ff.); Jörn Ipsen, Ehe und Familie, in: HStR VII, 32009, § 154 Rn. 8 ff., 13 ff.

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ligten Ordnung.71 Nach kirchlicher wie nach staatlicher Auffassung gründet die Ehe auf Konsens. Nach kirchlicher Auffassung erschöpft sich dieser in der Freiheit der Eheleute, die Ehe abzuschließen, indes die inhaltliche Gestaltung weithin durch Zwecke, Pflichten, Rollenverteilung („der Mann das Haupt, die Frau das Herz der Familie“) determiniert und ihrer individuellen Verfügung entzogen ist.72 Bis in das 20. Jahrhundert hinein entsprach das staatliche Recht weithin diesen inhaltlichen Vorgaben, die sich als gemeinwohlförderlich empfahlen und zum Bild der Ehe als „Keimzelle des Staates“ paßten.73 Wider die Verzweckung, die Funktionalisierung, Verrechtlichung und Verdinglichung rebelliert seit dem 18. Jahrhundert der Subjektivismus, in dem sich aufklärerische Emanzipation und romantische Empfindsamkeit, Freiheitsanspruch und Eros, Gefühl und Moral regen. Ideal ist nunmehr die selbstgestaltete, höchstpersönliche Beziehung der Ehepartner. Die institutionellen Faktoren werden durch privatautonome zurückgedrängt.74 Die Härte der Unauflösbarkeit wird aufgeweicht in der Möglichkeit der Scheidung. Die Ausrichtung auf die Familie wird Privatsache. Die kirchliche Ehe und die Zivilehe haben sich auseinanderentwickelt. Dieselbe Lebensbeziehung unterliegt zwei verschiedenen Rechtsordnungen, die, wenn sie auch in wichtigen Hinsichten inhaltlich übereinstimmen, in ihrer Geltung voneinander unabhängig sind. Grundrechtlich gesehen, ist der Ort der kirchlichen (sakramentalen) Ehe nicht die Gewähr des Art. 6 Abs. 1 GG, sondern die Religionsfreiheit und die Kirchenautonomie. Aus diesen ergibt sich aber keinerlei Rechtsfolge für das staatliche Recht. Der Subjektivismus in seiner Bindungsscheu und in seinem antiinstitutionellen Affekt kehrt sich gegen das Rechtsinstitut der bürgerlichen Ehe und bereitet alternativen Lebensformen den Weg, so den informellen, rechtlich nicht sanktionierten, mehr oder weniger eheähnlichen Gemeinschaften, die nicht durch staatliche oder kirchliche Muster vorgeprägt sind.75 Diese brauchen das Licht der Öffentlichkeit nicht zu scheuen, weil sich das kirchlich-bürgerliche Sexualmonopol der Ehe aufgelöst hat und die freien Lebensformen allgemeine Akzeptanz gefunden haben. In der staatlichen Rechtsordnung ist der Ehe als Lebensgemeinschaft von Mann und Frau ein Pendant in der gleichgeschlechtlichen Lebenspartnerschaft erwachsen, die sich in ihren Rechten und Pflichten der echten Ehe zuneh71 Dazu Karl-Theodor Geringer, Das geltende kanonische Eherecht, in: Essener Gespräche Bd. 35 (2001), S. 63 ff. (Nachw.). 72  Zum kirchlichen Bild der Ehe Angenendt (Fn. 55), S. 67 ff., 192 ff. 73  Hans-Wolfgang Strätz, Ehe und Familie als Institute des bürgerlichen Rechts, in: Essener Gespräche Bd. 35 (2001), S. 13 (19). 74  Mikat, (Fn. 69), 1987, S. 37 ff. 75  Zu rechtlicher Angleichung und Unterscheidung von Ehe und eheähnlicher Lebensgemeinschaft Hans-Wolfgang Strätz, Die „bürgerliche Ehe“ – ein Auslaufmodell?, in: ders./Friedrich Blumenröhr/Dieter Hesselberger, Karlsruher Begegnung, 1998, S. 1 ff.

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mend angleicht und über das Medium des Gleichheitssatzes mittelbar an ihrem Schutz teilnimmt. Doch das Grundgesetz bietet der Ehe nur seinen „besonderen“ Schutz, also keinen verallgemeinerungsfähigen, der sich auf andere Beziehungen übertragen ließe. Das Bundesverfassungsgericht setzt sich über das Merkmal des „Besonderen“ hinweg, überträgt die rechtlichen Wirkungen der Ehe weitgehend auf die gleichgeschlechtliche Partnerschaft, scheut sich aber – ein letzter Rest juridischer Scham –, dieser den Namen Ehe zu geben.76 Das leistet im Jahre 2017 der Gesetzgeber, wenn er unter der politischen Parole einer „Ehe für alle“ die bürgerlichrechtliche Ehe für Partner desselben Geschlechts öffnet und bestimmt: „Die Ehe wird von zwei Personen verschiedenen oder gleichen Geschlechts auf Lebenszeit geschlossen.“77 In der Umgangssprache hatte sich freilich die Rede von der „Homo-Ehe“ zuvor schon eingebürgert. Der Subjektivismus bleibt hier nicht stehen. Das biologische Geschlecht soll nicht mehr als die unverrückbare objektive Vorgabe für das Vornamens- und das Personenstandsrecht gelten, sondern das gefühlte Geschlecht, „wenn bei der rechtlichen Bestimmung der Geschlechtszugehörigkeit einer Person allein auf das nach ihren Geschlechtsmerkmalen bestimmte und nicht auf das von ihr empfundene durch Gutachten bestätigte Geschlecht abgestellt wird und die Diskrepanz zwischen der personenstandsrechtlichen Geschlechtszugehörigkeit und dem empfundenen Geschlecht bewirkt, daß der Betroffene eine rechtsverbindliche Partnerschaft nur bei Verlust seiner Identität im Vornamen eingehen kann“.78 Mit der grundrechtlichen, vom Bundesverfassungsgericht aus der Menschenwürde abgeleiteten Rechtsrelevanz des gefühlten Geschlechts lösen sich die letzten objektiven Rückstände des Rechtsinstituts Ehe auf, vollends seine Begründung in einem ontologisch oder biologisch fundierten Naturrecht. Die Kirche zahlt einen hohen Preis für die eiserne Konsequenz ihres Eherechts. Sie hat sich in der gesellschaftlichen Umwelt isoliert. Auch für die Kirchenmitglieder ist die kirchliche Eheschließung nicht mehr konstitutiv für eine Lebensgemeinschaft und für die Gründung einer Familie. Sie wirkt vielmehr nur noch als eine schöne Zugabe, die mehr ihres ästhetischen Glanzes als ihrer sakramentalen Wirkung wegen gesucht wird. Die Stringenz des Kirchenrechts 76  Exemplarisch BVerfGE 105, 313 (346 ff.); 133, 377 (407 ff.); Ipsen (Fn. 70), § 154 Rn. 21 f. Kritik: Sondervotum des Richters Papier (BVerfGE 105, 357 ff.) und der Richterin Haas (BVerfGE 105, 359 ff.); des Richters Landau und der Richterin Kessal-Wulff (BVerfGE 133, S. 426 ff.); Gerhard Robbers, Eingetragene Lebensgemeinschaften, in: JZ 2001, S. 779 (781 ff.); ders., in: v. Mangoldt/Klein/Starck, Kommentar zum Grundgesetz, Bd. 1, 62010, Art. 6 Abs. 1 Rn. 48, 50. 77  § 1353 BGB neu gefaßt durch Gesetz v. 20. 7. 2017. Zur nunmehrigen Begriffs- und Rechtslage Matthias Jestaedt, Ehe für alle?, in: FAZ v. 6. Juli 2017, Nr. 154, S. 7. 78 BVerfGE 115, 1 (23 f.). Zur Deutungshoheit über das Geschlecht Judith Froese, Männlich, weiblich oder „weder noch“?, in: AöR 140 (2015), S. 598 ff.

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verleitet die „Amtskirche“ zu dem moralischen Kurzschluß, daß es kein richtiges Leben im falschen gebe, daß die Treue in der kanonistisch illegalen Beziehung keine Tugend sei, und die Kirche den familiären Belangen des illegal Wiederverheirateten keine Rücksicht schulde. Sie toleriert eher die nichteheliche Lebensgemeinschaft des Geschiedenen als dessen bürgerlichrechtliche Ehe,79 um das kirchenrechtliche Gesicht zu wahren. In weltlichen Augen erscheint die Kirche gnadenlos, unbarmherzig, dem staatlichen Recht an Humanität unterlegen. Wenn Papst Franziskus hier die Barmherzigkeit beschwört, reißt er innerkirchliche Fragen nach der Identität des katholischen Eheverständnisses auf. g)  Humanität Das Ethos der Aufklärung ist die Humanität. In ihr findet der demokratische Rechtsstaat die ethischen Maßstäbe für sein eigenes Handeln wie für die Erwartungen, die er an die Freiheitsausübung der Bürger wie der gesellschaftlichen Potenzen (die Kirchen eingeschlossen) richten kann. Auf sie beruft sich die moralisierende Öffentliche Meinung. Inhaltlich deckt das Ethos der Humanität sich grosso modo mit der christlichen Nächstenliebe. Die Kirchen erkennen in der Humanität Wesentliches aus ihrer eigenen Botschaft wieder. Doch die Aufklärung vernachlässigt ihre theonomen Wurzeln. Sie sperrt sich zwar nicht gegen eine Motivationszufuhr aus der Religion. Aber sie will ohne sie auskommen. Sie erntet gern die Früchte, aber der Baum bedeutet ihr nichts. Denn sie gründet nicht im Dekalog und nicht in der Bergpredigt, sondern allein in der menschlichen Vernunft. Eben darum wird sie von Lessing als die höchste Form der Moral dargestellt im Aufstieg vom Alten Testament, in dem die Menschen das Gute um irdischen Lohnes willen tun („… damit Du lange lebest auf Erden“), über das Neue Testament, das Belohnung im Jenseits verheißt, bis zum Dritten Zeitalter, in dem die geoffenbarten Wahrheiten sich zu Vernunftwahrheiten ausbilden und die Menschen die Tugend um ihrer selbst willen lieben.80 Dem Humanitätsglauben korrespondiert ein Grundvertrauen in die natürliche Güte der menschlichen Natur. Das Vertrauen läßt sich nicht beirren von schlimmer Erfahrung. „Ein guter Mensch in seinem dunkeln Drange/ist sich des rechten Weges wohl bewußt.“81 Der anthropologische Optimismus erklärt die Legitimation des Verfassungsstaates aus der subjektiven Freiheit des Einzelnen. In diesem Menschenbild hat die Erbsünde keinen Platz. Sie gehört aber herkömmlich zum christlichen Menschenbild, das sich aus der Polarität von Erbsünde und Erlösung ergibt, das sich im Gang der Geschichte einmal mehr dem einen, einmal mehr 79 

Die kirchliche Position wird respektiert von BVerfGE 137, 273 (339 ff.). Gotthold Ephraim Lessing, Die Erziehung des Menschengeschlechts (1777), in: ders., Sämtliche Schriften, 5. Bd., 1825, S. 213 ff. 81  So der Herr in Goethes Faust, Erster Teil, Prolog im Himmel. 80 

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dem anderen Pol genähert hat, ohne in einem von ihnen aufzugehen. Heute verschwindet das Thema Erbsünde aus der kirchlichen Verkündigung, wie auch die düsteren Themen Sünde und Sündenstrafe, die sich den Menschen nur schwer vermitteln lassen, denen die Hölle, so von ihr noch die Rede wäre, als Verstoß gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit erschiene. Die Kirche paßt ihre („Froh-, nicht Droh“-)Botschaft dem hellen, freundlichen Humanitätsglauben an. Damit erledigt sich der Widerspruch zwischen Christentum und humanitätsgeleiteten Menschenrechten, den die Päpste des 19. Jahrhunderts ausgetragen und verschärft haben.82 Die Idee der Humanität hat seit der Aufklärung einen polemischen Stachel wider die Kirche.83 Sie taugt dazu, den Vorwurf zu begründen, daß die Praxis der Kirche, zumal ihre Macht, hinter ihren eigenen moralischen Prätentionen wie hinter den säkular-ethischen Standards zurückbleibt. In Lessings „Nathan“, der Juden, Muslime und Christen zu einer Familie im Lichte der Humanität zusammenführt, bleibt der Vertreter der kirchlichen Macht ausgeschlossen: der Patriarch in seiner Intransigenz, Enge, Verschlagenheit. Seit der Aufklärung ist die Erzählung von den Heiden als den „besseren Christen“ geläufig.84 Heute darf die Kirche nicht davon ausgehen, daß die gesellschaftliche Umwelt ihre Haltung zu Ehe und Sexualität, zum Schutz des Lebens an seinem Anfang wie an seinem Ende von vornherein als höherrangig gegenüber den säkular-humanen Positionen einstuft. Aber sie nimmt die Kirche als exponierte Größe einer strengen, unverrückbaren Moral wahr und beobachtet, ob sie ihr selber genügt. Ihre moralische Fallhöhe ist größer als die jeder anderen Institution. Das sollte sich im Skandal um den sexuellen Mißbrauch in kirchlichen Internaten zeigen. Hier hat die Vertuschungstaktik der Hierarchen und ihre moralische Stumpfheit gegenüber den jugendlichen Opfern die Kirche in tiefe Schande gestürzt. Beschämt, spät und mühsam arbeitet sie heute ihr humanitäres Defizit ab. Die alten Vorurteile der Aufklärung wider die Religion leben wieder auf angesichts des modernen Terrorismus, der sich auch und wesentlich aus islamischem Fanatismus speist. Religion erscheint hier als atavistische Größe, als Gefahr für Toleranz, Humanität und Bürgerfrieden, für die politischen Errungenschaften der europäischen Neuzeit. Damit erhebt sich erneut die totgeglaubte Frage: „Ist die allmähliche Aufhebung der Religion, ihre Überwindung, als nötiger Fort82 „Denn wenn der Zügel zerrissen ist, mit dem die Menschen auf den Pfaden der Wahrheit gehalten werden, dann stürzt ihre ohnehin zum Bösen geneigte Natur rasend schnell in den Abgrund …“ (Gregor XVI., Enzyklika „Mirari vos“ v. 15. 8. 1832, in: U-G I, S. 148 Rn. 14). 83 Dazu Schmitt (Fn. 58), S. 69 f., 72 f. Vgl. auch Spindler (Fn. 12), S. 238 ff. 84  Das geheime Urbild liefert freilich das neutestamentarische Gleichnis vom Mann, der unter die Räuber gefallen war, den der Priester und der Levit sahen und vorübergingen, indes der verachtete Samariter sich seiner annahm (Lk 10, 27 – 37).

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schritt der Menschheit anzusehen, damit sie auf den Weg der Freiheit und der universalen Toleranz kommt, oder nicht?“85 h)  Fortschrittsdrang Der Geist der Moderne ist progressiv. Er drängt auf Veränderung des status quo: hin zu mehr Freiheit, mehr Gleichheit, mehr soziale Gerechtigkeit, mehr Wohlstand. Ein progressus in infinitum zu einer niemals erreichbaren irdischen Vollkommenheit. Der Fortschrittsdrang ergreift auch die Entwicklung der Menschen- und Grundrechte, die auf immer neue Gefährdungen des Humanum reagieren und sich immer neuen Hoffnungen öffnen. Die katholische Kirche hält nicht Schritt, und sie bemüht sich noch nicht einmal darum. Ihr Selbstbild ist das des Felsens, an dem sich die Wellen der Zeit brechen. Wenn der Außenstehende beobachtet, daß auch sie sich in der Geschichte bewegt, so bewegt sie sich doch in erhabener Langsamkeit, in dem Bewußtsein, eine ewige, absolute Wahrheit in sich zu tragen. Dieses Bewußtsein immunisiert sie gegen den Relativismus der säkularen Umwelt. Ihrerseits relativiert die Kirche, die in zweitausend Jahren die Ideologien und Mächte hat kommen und gehen sehen, den Glauben der Moderne an den historischen und politischen, an den technischen sowie den moralischen Fortschritt. Reflexhaft neigt sie dazu, am Altvertrauten festzuhalten, auch wenn es morsch geworden ist, und das Neue zu verwerfen, nur weil es neu ist. Sie hat sich viele kurzlebige Moden und Irrungen erspart, aber sie hat sich auch vielen aus christlicher Sicht eigentlich heilvollen Entwicklungen, so der Entwicklung der Menschenrechte, lange verschlossen. Die ethische, soziale und kulturelle Initiative, die ihr im Mittelalter eigen war, ist ihr entglitten und auf säkulare Kräfte übergegangen. Zögernd und halbherzig übernimmt sie rechtsstaatliche Gebote wie Transparenz der Verwaltung, Kontrolle der Finanzen, Aktivierung des Sachverstandes der „Laien“ in Gebieten, auf denen den Klerikern die Fachkompetenz fehlt, so daß diese die eigentlichen Laien sind. Spät und verschämt trennt sie sich von Verboten, die, wenn überhaupt, nur in einem längst vergangenen Kontext legitim gewesen sind, wie Bücherverbote, Verbot der Feuerbestattung, demnächst wohl auch das Verbot von Antikonzeptiva. Wenn die Kirche in üblicher katholischer Verspätung säkulare Errungenschaften aufgreift und sich zu eigen macht, sucht sie ihre Verspätung zu kompensieren und das vormals Verworfene geistlich zu überhöhen und dessen „wahres“ Wesen zu verkünden: die Menschenrechte im biblischen Verständnis der Menschenwürde zu taufen und den Umweltschutz als Bewahrung der Schöpfung zu heiligen.

85 Als theoretische Frage gestellt von Joseph Ratzinger (in: Habermas/Ratzinger [Fn. 17], S. 47).

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Die Kirche hält Distanz zum biotechnischen Fortschritt. Skeptisch beobachtet sie die neuen Möglichkeiten, welche die Forschung eröffnet, um Diagnose und Prognose am Beginn des menschlichen Lebens zu erweitern, das Werden des Menschen und seine genetische Verfassung den Launen der Natur zu entreißen und dem menschlichen Willen zu unterwerfen, so die In-vitro-Fertilisation, die Keimbahntherapie, den Zellkerntransfer, die Präimplantationsdiagnostik.86 Die Erfahrung lehrt, daß alles, was technisch möglich ist, legal oder illegal letztlich auch genutzt wird. Es gibt wissenschaftliche wie vitale Interessen, die hier für den Gebrauch streiten: Forschungsdrang und Vermeidung von Erbkrankheiten, Kinderwunsch und Wunschkind-Hoffnung, eugenisches Streben. Die neue, rasche Entwicklung läßt sich nicht mit neuscholastischen Begriffen über das, was die „Natur“ vorgibt und was als „natürlich“ gilt, einfangen. Dennoch versucht die Kirche, zu verhindern, daß das Humanum Schaden nimmt, und sie verteidigt ihre eigene Ethik, indem sie gegen die Gefahren des Fortschritts Grundrechte in Stellung bringt, insbesondere die Garantie der Menschenwürde, jenes Medium, über das sittliche Substanz des Christentums in positives Verfassungsrecht transformiert wird.87 Es bleibt eine Kluft, die Kirche und Welt trennt, Kirche nicht erst in ihrer heilsgeschichtlichen Erscheinung, sondern schon in der organisatorischen Gestalt, wie sie sich in der männlichen Hierarchie darstellt: einerseits Widerspruch zu Postulaten der Menschenrechte, insbesondere zur Gleichberechtigung der Geschlechter, andererseits als Bewährung der Menschenrechte, weil diese das Recht zum Anderssein gewährleisten, eine Freiheit, welche die Kirche für sich als Institution und, mutatis mutandis, für alle Gläubigen und Ungläubigen in Anspruch nimmt.

III.  Identifikation der Kirche mit den Menschenrechten 1.  Der sanfte Druck des Staates a)  Der Preis der Kooperation Die Kooperation, zu der in Deutschland Staat und Kirche, ungeachtet ihrer institutionellen Trennung, gefunden haben, bringt beiden Seiten Vorteile. Die Kirche erlangt günstige rechtliche und finanzielle Bedingungen für ihr Wirken, 86  Zu den humanen Risiken und den verfassungsrechtlichen Aspekten Ralf MüllerTerpitz, Der Schutz des pränatalen Lebens, 2007, S. 21 ff., 78 ff., 488 ff.; Jens Kersten, Das Klonen von Menschen, 2004, S. 17 ff., 308 ff. Zu den ethischen Fragen Otfried Höffe et alii, Gentechnik und Menschenwürde, 2002; Horst Dreier, Lebensschutz und Menschenwürde in der bioethischen Diskussion, in: ders./Wolfgang Huber (Hrsg.), Bioethik und Menschenwürde, 2002, S. 9 ff. 87  Zu den ethischen und rechtlichen Problemen der Präimplantationsdiagnostik und der embryonalen Stammzellforschung die Beiträge von Manfred Spieker/Christian Hillgruber/Klaus Ferdinand Gärditz, Die Würde des Embryos, 2012.

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der Staat wird von eigenen Anstrengungen entlastet, soweit die Kirchen von sich aus gemeindienliche Arbeit leisten, zumal im Erziehungs- und Bildungswesen, auf Gebieten der Kultur- und Denkmalpflege, in den Diensten für Kranke und Pflegebedürftige, für Flüchtlinge, Obdachlose und alle Randgruppen der Gesellschaft. Kooperation schafft Bindung und Abhängigkeit. Die Kirche erbringt ihr umfangreiches Leistungsangebot nicht gänzlich aus eigener Finanzkraft, sondern in erheblichem Umfang mit Hilfe staatlicher Zuwendungen. Der Staat lädt sie geradezu ein, ihr Angebot nach Art und Umfang auszuweiten. Doch wer zahlt, schafft an. Die Kirche unterwirft sich den fachlichen Qualitätsstandards, die der Staat vorgibt, aber auch seinen sozialen Standards für ihr Personal. Damit gerät sie unter umfassenden Anpassungsdruck und bekommt Schwierigkeiten, ihr Proprium zu behaupten, das sich in der Eigenart ihrer Leistung, in einem spezifischen Dienstrecht wie auch in der Atmosphäre der jeweiligen Einrichtung zu erkennen gibt.88 Der Gesetzgeber lockt, an der Schwangerenberatung mitzuwirken und sich in das staatliche System einzugliedern, das den Ausgleich zwischen dem Schutz des ungeborenen Kindes und dem Freiheitsanspruch der Mutter herzustellen versucht, und das Testat zu erteilen, das den Zugang zur legalen Abtreibung freigibt.89 Damit wirft er den Apfel der Eris in die Kirche, wie sie entweder ihre Glaubwürdigkeit in der Abtreibungsfrage riskiert oder aber eine Chance preisgibt, in einer kritischen Situation Einfluß zugunsten des ungeborenen Kindes zu gewinnen. Wie immer sie entscheidet, sie behält keine sauberen Hände. Sie erhält staatliche Subsidien, wenn sie sich für die Mitwirkung entscheidet.90 Wenn sie aber die Beratung ohne Testat erteilt, kann sie nicht mit der entsprechenden Finanzierung rechnen.91 Die Kirche singt mit im gemischten Chor der mehrheitlich säkularen Gesellschaft. Sie übernimmt einen Part in der binnenpluralistischen Organisation der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten und der Nationalen Ethikräte und bringt hier ihre Stimme zu Gehör. Der Preis für das Dabeisein in den Gremien besteht darin, daß sie sich deren Regeln anpaßt, sich dem Mehrheitsprinzip unterwirft, für das Gesamtprogramm Mitverantwortung übernimmt und die Legitimationslegende der repräsentativen Vielfalt und Ausgewogenheit bestätigt. Sie 88  S. o. II. 1. Grundsätzliche „Zweifel an der Verläßlichkeit der Vernunft“: Ratzinger, in: Habermas/Ratzinger (Fn. 85), S. 47 f. 89  Das Beratungskonzept: BVerfGE 88, 203 (270 ff.). 90  Zur staatlichen Förderung katholischer Beratungsstellen: BVerwG, Urt. v. 25. 6. 2015, in: ZfL 2015, S. 116 (118 ff.) mit Anm. von Bernward Büchner, ebd., S. 122 f. 91  So die Rechtslage nach Art. 16 Abs. 1 des Bay. Schwangerenberatungsgesetzes entgegen BVerwGE 121, 270 (273). Kritik: Bernward Büchner, Der Weg zur Förderung katholischer Schwangerenberatung in Bayern, in: ZfL 2006, S. 42 ff.

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ist wohlgelitten, wenn sie sich in Ketten von politischen Demonstranten für das „Gute“ und „gegen Rechts“ einreiht. b)  Politische Wunsch-Ökumene Die konfessionelle Spaltung des deutschen Volkes ist ein politisches Ärgernis. Einst hat sie die Bildung der nationalen Einheit erschwert. Heute wirkt sie noch nach in unterschiedlicher Mentalität. Wer den Pluralismus als Lebenselement der freiheitlichen Demokratie rühmt, betrachtet die konfessionelle Pluralität durchwegs als Störfaktor. Wer den Religionsimport aus nichteuropäischen Kulturen als Bereicherung feiert, hält die autochthone Vielfalt des Christentums, die erheblich zum Reichtum der deutschen Kultur beigetragen hat, für eine Fehlentwicklung und wünscht eine ökumenische Union zwischen Katholiken und Protestanten herbei, wie sie vor zweihundert Jahren der preußische König Friedrich Wilhelm III. in der Union von Lutheranern und Reformierten, damals unter Zuhilfenahme obrigkeitlicher Gewalt, zustande gebracht hat. Ein wenig von der politischen Wunschunion wird vorweggenommen in den ökumenischen Gottesdiensten, die am Rande von nationalen Fest- und Trauerakten zelebriert werden. Als Kardinal Meisner die Teilnahme der katholischen Seite an multireligiösen Schulgottesdiensten, die Kinder jedweder Religion vom Christentum über den Islam bis zum Taoismus zusammenführen sollten, ablehnte, damit die religiösen Unterschiede nicht verwischt würden, schalten ihn Politiker aller Parteien für sein „archaisches Religionsverständnis“: unsere Zeit brauche nicht weniger, sondern mehr Gemeinsamkeit der Religionen.92 Bundespräsident Rau kritisierte die katholische Kirche, weil sie einen Theologen suspendiert hatte, der auf einem ökumenischen Kirchentag die Kommunion auch Protestanten gespendet hatte.93 Die Glaubensfragen, an denen im 16. Jahrhundert die Einheit des Christentums zerbrach – Eucharistie, Rechtfertigung, Willensfreiheit –, werden vom Großteil der heutigen Bevölkerung nicht mehr verstanden. Aufklärungseifrige Volkserzieher möchten Residuen dieser Art am liebsten auf der Müllhalde der Geschichte entsorgen. Die gängige Meinung geht dahin, daß die konfessionellen Unterschiede unnötigen Konfliktstoff enthalten. Der Inhalt der Bekenntnisse wird gleichgültig. An die Stelle des Offenbarungsglaubens rückt die Zivilreligion, welche die Verfassungswerte Menschenwürde, Grundrechte, Demokratie und soziale Gerechtigkeit verinnerlicht und die einschlägigen Verfassungsartikel zu politischen Glaubensartikeln erhebt.94 Der Wahrheitsanspruch der Religion tritt zurück hin92 

Die Welt v. 8. 12. 2006; KNA v. 7. 12. 2006; FAZ v. 8. 12. 2006. FAZ v. 21. 7. 2003, Nr. 166, S. 4. 94  Josef Isensee, Zivilreligion in der Demokratie, in: Leonid Luks et alii (Hrsg.), Politische Bildung und demokratischer Staat, 2010, S. 35 ff. (45 ff.). 93 

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ter der Toleranz gegenüber jedweder religiösen Überzeugung. Das Neue Testament weicht der Ringparabel aus Lessings „Nathan“, also der Botschaft, daß die Wahrheit der Religionen unerweislich sei, daß deshalb alle Religionen nicht um die Wahrheit streiten, sondern in der Humanität wetteifern sollten. Die Offenbarungsreligion soll aber dazu beitragen, eine noch unaufgeklärte Gesellschaft zur Humanität zu erziehen, aber doch nur als Weg zu diesem Ziel. Der pragmatische Relativismus, der den säkularen Staat leitet, soll nun auch die Kirchen leiten und dazu bewegen, sich mit einer Als-ob-Wahrheit zu begnügen. Mit dem Einbruch des Islam tritt eine religiöse Urgewalt auf den Plan, die sich der Aufklärung verweigert, die sich von ihr nicht hinterfragen und nicht relativieren läßt. Sie verachtet die permissive Zivilisation des Westens. Sie duldet nicht die Beleidigung dessen, was ihr heilig ist, und wehrt sich im Extremfall mit der Waffe des Terrors. Nun sucht der säkulare Staat, in den christlichen Kirchen Verbündete zu gewinnen, um die Gefahren, die von einer ungezähmten, eruptiven Religiosität ausgehen, zu entschärfen. Im Interesse des innerstaatlichen Friedens möchte er ein Bündnis der abrahamitischen Religionen vermitteln. Ihm, dem die Wahrheit der Religionen von Verfassungs wegen kein Thema sein darf, drängt deren Repräsentanten zum Dialog, ohne sagen zu können, worüber sie eigentlich reden sollen, doch hofft er, daß sie, indem sie miteinander reden, sich als Gleiche anerkennen, ihre Unterschiede hintanstellen und zur Versöhnung der gesellschaftlichen Gegensätze beitragen.95 2.  Selbstsäkularisierung Die Kirche, die sich schwertut, öffentliche Aufmerksamkeit für ihre religiöse Botschaft zu finden, gewinnt Sympathie und Achtung, wenn sie sich auf den Feldern der säkularen Humanität betätigt, karitative Dienste erbringt und sich für die Menschenrechte der Erniedrigten, der Benachteiligten und der Unterdrückten in aller Welt einsetzt. Wer sonst ihre (echten oder scheinbaren) Privilegien neidet, zollt ihr Beifall, wenn sie, auf das längst obsolete mittelalterliche Privileg des Kirchenasyls zurückgreifend, die Abschiebung von Ausländern unterläuft und den Staat in den Augen vieler moralisch beschämt.96 Es liegt nahe, daß die Kirche sich in besonderem Maße den Anliegen zuwendet, die öffentlichen Nachrichtenund Sympathiewert haben. Dazu gehören die Menschenrechte. Wenn Papst Franziskus auf der Insel Lampedusa für Rettung, Aufnahme und menschenwürdige

95  Zum Dialog zwischen Christentum und Islam Wolfgang Ockenfels, Religion und Gewalt, in: Anton Rauscher (Hrsg.), Die Bedeutung der Religion für die Gesellschaft, 2004, S. 175 ff. 96  Versuch einer Rechtfertigung des Kirchenasyls aus der Verfassung: Christoph Görisch, Kirchenasyl und staatliches Recht, 2000, S. 233 ff.

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Behandlung der Flüchtlinge demonstriert, erreicht er eine weltweite Publizität, die ihm die Predigt über geistliche Gegenstände nicht verschafft. Die kirchliche Sendung in orbem universum kann sich mit dem Universalitätsanspruch der Menschenrechte verbinden. Von jeher hat sie gegen Armut und Krankheit angekämpft, sich um Hygiene und um menschenwürdige Formen des Zusammenlebens bemüht. Von jeher war ihr Ziel die Bekehrung der Ungläubigen. Doch nunmehr geht es tendenziell weniger um die Bekehrung zum christlichen Glauben, als um Bekehrung zum Glauben an Menschenrechte und Demokratie.97 Während der genuin missionarische Elan der Kirche nachläßt und sie – im Dialog mit den anderen Religionen – von Selbstzweifeln an ihrer geistlichen Mission befallen ist, findet sie neue Impulse und neue Legitimationschancen in der säkularen Weltmission der Menschenrechte. Seelsorge mutiert zu Entwicklungshilfe. Wenn sie in säkularen oder jedenfalls säkular-kompatiblen Aktivitäten aufgeht, ist sie weiter freilich nichts als eine unter den vielen Sinn- und Sozialagenturen, die sich für humanitäre Aufgaben engagieren wie das Rote Kreuz oder Amnesty International. Ihr Proprium verdunstet. Die Selbstsäkularisierung98 ist für die Kirche eine verführerische Option. Sie erlangt Erlösung vom Leiden der religiösen Auszehrung und der innerweltlichen Orientierungsschwäche, wenn sie die Menschenrechte zu ihrer eigenen Heilsbotschaft erhebt, sie mit Bibelsprüchen oberflächlich überzuckert, den alten Trans­ zendenzglauben zurücknimmt und ihn allenfalls noch als Restposten auf dem Markt der spirituellen Möglichkeiten anbietet. Doch Selbstsäkularisierung ist Selbstmord aus Angst vor dem Tod. Eine Kirche, die sich selbst säkularisiert, fällt in jene archaische Einheitswelt zurück, die das Christentum aufgesprengt hat. Mit ihm ist die Unterscheidung zwischen den Reichen dieser Welt und dem Reich Gottes in die Geschichte eingezogen. In ihr ist der Dualismus zwischen dem Sakralen und dem Säkularen, zwischen Transzendenz und Immanenz, zwischen Sacerdotium und Imperium, Glaube und Politik, Gewissen und Gesetz angelegt, ein Dualismus, der in der lateinischen Hemisphäre der Christenheit zu reicher geschichtlicher Entfaltung gelangt ist: die erste, die fundamentale Gewaltenteilung, die allen jüngeren Formen rechtsstaatlicher und demokratischer Gewaltenteilung vorausliegt.99 97  Erscheinungsform der „klassischen“ politischen Theologie, wie sie als Typus von Ockenfels gezeichnet wird (Fn. 18), S. 196. S. auch ders. (Fn. 7), S. 235 ff. – Zur Problematik der menschenrechtlichen Mission Otto Depenheuer, Risiken und Nebenwirkungen menschenrechtlicher Universalität, in: Josef Isensee (Hrsg.), Menschenrechte als Weltmission, 2009, S. 81 (90 ff.). 98  Zum Phänomen der Selbstsäkularisierung Josef Isensee, Die Säkularisierung der Kirche als Gefährdung der Säkularität des Staates, in: Gerfried W. Hunold/Wilhelm Korff (Hrsg.), Die Welt für morgen, 1986, S. 164 ff.; ders., Die Zukunftsfähigkeit des deutschen Staatskirchenrechts, in: FS für Joseph Listl, 1999, S. 67 (88 ff.).

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Die Kirche darf nicht damit rechnen, daß sie dem säkularen Staat einen Dienst erwiese, wenn sie sich ihm in ihren Zielen und Gründen anpaßte. Denn sie hilft ihm gerade dadurch, daß sie sich ihm nicht anpaßt und die „ganz andere“ Größe bleibt, als die sie ihn durch komplementäre Leistungen ergänzen und durch religiös-ethische Energie das ganze Gemeinwesen bereichern kann. Das Verlangen nach bürgerlicher Freiheit und nach sozialer Gerechtigkeit findet auch ohne sie allerorts kompetente Fürsprecher. Aber sie, und gerade sie vermag, sich der religiösen Urbedürfnisse des Menschen anzunehmen, Antworten auf letzte Sinnfragen zu geben, Hoffnung zu wecken, wo alle irdischen Hoffnungen zerbrechen. 99

IV.  Widersprüche offen austragen und aushalten Es führt kein Weg zurück hinter das Zweite Vaticanum, das die Religionsfreiheit anerkannt und darin das Bündnis der Kirche mit der Idee der Menschenrechte besiegelt hat. Sie ist die mächtigste moralische und politische Idee der Moderne. Die Moderne aber ist, jedenfalls im europäisch-atlantischen Raum, das Reich, in dem und für das die Kirche heute zu wirken hat im Dienste eines Reiches, das nicht von dieser Welt ist. Die Menschenrechte, zumal ihre positivrechtliche Erscheinung als staatliche Grundrechte, bieten der Kirche die säkulare Rechtsgrundlage dafür, daß sie ihrem Auftrag gemäß in Freiheit und Eigenverantwortung handeln kann. Aber die multivalenten Menschenrechte entbinden auch Strebungen, die ihre Freiheit bedrohen, ihr Proprium zugunsten säkularer Standards verbannen, ihre Identität auflösen und die christliche Offenbarungsreligion in eine aufklärerische Toleranz-, Sozial- und Zivilreligion verwandeln. Die Menschenrechte legitimieren, aber sie können auch delegitimieren, zumal in ihrem anarchischen, noch nicht positivrechtlich gefaßten und domestizierten Ursprungszustand. Die Kirche vermag viele ihrer sittlichen Forderungen, zumal das Gebot der Nächstenliebe, in die Sprache der Menschenrechte zu übersetzen und so der säkularen Umwelt verständlich und zustimmungsfähig zu vermitteln. Beispiele liefert der Einsatz für das menschliche Leben an seinem Beginn und an seinem Ende. Wo theologische Argumente Staat und Gesellschaft nicht erreichen, kann die Interpretation der grundrechtlichen Schutzpflichten für Leben und Menschenwürde einsetzen. Die menschenrechtlichen Grundbegriffe, zumal die Menschenwürde, sind pathetisch, lapidar, vage. Sie gewinnen konkrete Gestalt durch Interpretation. Die Kirche kann ihre Sicht in den Wettbewerb um die richtige Interpretation einbringen. 99  Zur „ersten Gewaltenteilung“ Ockenfels (Fn. 18), S. 195. Vgl. auch Josef Isensee, Die katholische Kirche und das verfassungsstaatliche Erbe der Aufklärung, in: FS für Herbert Schambeck, 1994, S. 213 (223 f.). Zum Dualismus Böckenförde (Fn. 34), S. 159 ff.

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Doch ihre eigentliche, ihre religiös-sittliche Aufgabe besteht darin, den guten Gebrauch der Freiheit zu lehren und vorzuleben. Dazu bedarf es nicht allein des Engagements für die Sache der Menschenrechte, sondern auch der Distanz zu ihrer Idee wie zu ihren Erscheinungen. Die Distanz, die sich aus ihrem geistlichen Auftrag ergibt, befähigt sie, Kritik zu üben. Die Menschenrechte sind nun einmal multivalent. Wie alle hehren Ideen können sie durch Übersteigerung, Schwarmgeisterei und Mißbrauch in ihr Gegenteil umschlagen, Vernunft in Unsinn, Humanität in Bestialität. Seit der französischen Revolution bietet die europäische Geschichte Lehrstücke für die Dialektik der Aufklärung.100 Im Namen ihrer Universalität lassen sich die europäisch interpretierten Menschenrechte als Rechtfertigung benutzen, um außereuropäische Kulturen und tradierte Sozialverbände durch emanzipatorischen Freiheits- und Gleichberechtigungs-Import zu zerstören; heterogenen Bevölkerungen demokratische Entscheidungsverfahren überzustülpen, obwohl dazu die Voraussetzungen fehlen; humanitäre Interventionen durchzuführen, ohne auf die Kollateralschäden zu achten, und für den menschenrechtlichen „Fortschritt“ jedes Opfer in Kauf zu nehmen.101 Auf die Menschenrechte beruft sich, wer ohne sittliche Hemmungen alles nur Machbare verwirklichen will und darüber das Humanum schändet. Im Namen der Menschenwürde läßt sich die Entwürdigung des Menschen vollziehen. In der Dialektik der Menschenrechte bewegen sich die Freiheit der Religion wie deren Unterdrückung, der Transzendenzglaube wie seine Verwandlung in eine politische Religion. In den Menschenrechten steckt auch ein heilsamer Stachel für die Kirche, sich von den „Kindern dieser Welt“ nicht beschämen zu lassen. Wenn sie auch nach der deutschen Verfassung grundrechtsberechtigt ist, nicht aber grundrechtsverpflichtet, so muß sie sich damit abfinden, daß ihr Tun und Lassen im privaten und im öffentlichen Diskurs an den Leitgedanken der Grundrechte, zumal an der virtuell allseits verpflichtenden Idee der Menschenrechte gemessen wird. Es geht nicht zuletzt um ihre Glaubwürdigkeit. Freilich kann sie nicht gänzlich und nicht vorbehaltlos sämtliche grundrechtlichen und rechtsstaatlichen Pflichten übernehmen, die auf die säkulare Hoheitsgewalt des Staates zugeschnitten sind. Doch viele dieser Pflichten enthalten verallgemeinerungsfähige sittliche Forderungen, denen sich die Kirche nicht entziehen darf. Es gibt keine ekklesiologischen Gründe, die es rechtfertigen, daß sich die Hierarchen in ihrem Umgang mit Geld oder in der Behandlung von abhängigen Personen von den säkularen Standards des Rechts freizeichnen und daß sie sich selbst von der Verantwortung für Vorgänge ihres Weisungsbereichs entlasten. Das Kirchenrecht sollte ausreichende Vorkehrungen treffen, dem Mißbrauch kirchlicher Macht durch rechtsstaatsanaloge Ver100 

Max Horkheimer/Theodor W. Adorno, Dialektik der Aufklärung, New York 1944. Josef Isensee, Die heikle Weltherrschaft der Menschenrechte, in: FS für Eckart Klein, 2013, S. 1085 ff.; Depenheuer (Fn. 97), S. 82 ff. 101 

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fahren zu wehren: offene, deutliche Sprache,102 freimütige Diskussion, rechtliches Gehör, Begründungspflicht, Transparenz, Kontrolle, faires Verfahren,103 klare Zuweisung von Handlungs- und Folgenverantwortung. Wo kirchliche Gesetzlichkeit zu gnadenloser Härte im Einzelfall führt und wo Kirchenraison waltet, die versteckte Schwester der Staatsraison, können menschenrechtliche Impulse Widerstand leisten und sich mit christlichen Impulsen der Barmherzigkeit verbünden. Eigentlich hat die Kirche es nicht nötig, bei den Menschenrechten und beim Rechtsstaat in die Schule zu gehen, weil die biblischen Lehren deutlich genug sind und in ihrer eigenen rechtskirchlichen Tradition noch ungehobene Schätze stecken. Die heikelste aller aufklärerischen Herausforderungen ist die des Relativismus, der auf die ratio essendi der Kirche zielt, auf ihren Wahrheitsanspruch. Den gibt sie nicht preis. Gleichwohl täte sie gut daran, sich wenigstens probeweise der erkenntnis- und sprachkritischen Sonde Kants zu unterziehen, „etwas mehr erkenntnistheoretische Reflexionsbereitschaft“ zu gewinnen und sich zu bemühen, „die Wahrheit ‚an sich’ von der Frage ihrer menschlichen Erkennbarkeit und der Existenz des Menschen in einer kontingenten Welt zu unterscheiden“,104 aber auch in der Schule Hegels Gespür dafür zu bekommen, daß Wahrheit und Geschichtlichkeit einander nicht ausschließen und Wahrheit sich in der Geschichte entfalten kann. Der Einsatz der Kirche für die Menschenrechte steht unter ekklesiologischen Vorbehalt. In ihnen liegt nicht ihre eigentliche Sendung, sondern ein zeitbedingter, gleichwohl ein wichtiger Auftrag. Ihre Sendung geht von Christus aus und ihr hat sie zu folgen, ohne Rücksicht darauf, ob sie der jeweiligen Umwelt gelegen oder ungelegen kommt. Die Kirche ist Teil der modernen Gesellschaft, und doch bildet sie sub specie aeternitatis in ihr einen Fremdkörper. Sie muß sich in ihr bewähren und doch in ihrem Anderssein behaupten. Sie wirkt im Zeitlichen, und doch bindet sie sich an nichts Zeitliches, noch nicht einmal an seine edelsten Erscheinungen. Die fundamentalen Widersprüche zwischen der Kirche und den Menschenrechten werden nicht ohne Rest aufgelöst. Der Dissens zwischen dem Anspruch aus ewiger Wahrheit und den Ansprüchen auf individuelle, subjektive Freiheit läßt sich nicht verdrängen und nicht durch Formelkompromisse verschleiern. Er sollte offengelegt und ausgetragen werden. Die Kirche geht in den Menschenrechten nicht auf. Sie wahrt zu ihnen wie zur Welt überhaupt letzte Distanz. Die Spannung, die daraus erwächst, muß sie, wenn sie Kirche bleiben will, zu aller Wohl aushalten. 102  Kritik am kirchenüblichen „Wohlsprech“ Otto Depenheuer, Kirche und Transparenz, in: Imprimatur 2015, S. 36 f. 103 Richtungweisend Depenheuer (Fn. 102), S. 38. 104  Depenheuer (Fn. 102), S. 44.

II.  Die Säkularität des Staates und die Realität der Religion

Rekurs des Verfassunggebers auf Gott Rekurs des Verfassunggebers auf Gott

Invocatio dei und provocatio ad deum in der Verfassung des säkularen Staates* Rekurs des Verfassunggebers auf Gott. Invocatio dei und provocatio ad deum in der Verfassung des säkularen Staates

I.  Gott mit Alternative – ein Novum in der Verfassung Polens 1.  Religiöse oder areligiöse Legitimationsgründe der Verfassung Die Verfassung der Republik Polen vom 2. April 1997 ist das Ergebnis langen, mühsamen Ringens der politischen Kräfte,1 das eingesetzt hatte, als nach der Auflösung des sowjetischen Staatenlagers und dem Zerfall der sozialistischen Diktatur das Land zu politischer Selbstbestimmung zurückgefunden und die große Aufgabe einer „Kartharsis des Rechts“2 erkannt hatte. Mit der neuen Verfassung besiegelt Polen seine Zugehörigkeit zur Familie der Verfassungsstaaten Europas, der sie in Inhalt wie Form, in Thematik wie Duktus korrespondiert. Den Konventionen entspricht die feierliche Präambel, in der der Verfassunggeber Rechenschaft gibt über die vorrechtlichen Grundlagen, auf die er sein Werk stützt, über die Ziele, zu denen er sich bekennt, über die Situation, in der er handelt, und über den Standort in der Geschichte, wie er ihn sieht. In Übereinstimmung mit der demokratischen Doktrin von der verfassunggebenden Gewalt des Volkes3 präsentiert sich das Polnische Volk als der Schöpfer der Verfassung; in der ersten Person Pluralis führt es selbst das Wort:

*  Erstveröffentlichung in: Valeat aequitas. Festschrift für Remigiusz Sobański, Kattowice 2000, S. 177 – 200. 1  Darstellung und Kommentar: R. Sobański, Der Bürger, die Gesellschaft und der Staat im Projekt der polnischen Verfassung, in: Festgabe für Ernst Rößler, 1997, S. 745 ff. Vgl. auch den Bericht von J. W. Tkaczyński/U. Vogel, Sieben Jahre nach der Wende – Die polnische Verfassung zwischen Oktroi und Obstruktion, in: Osteuropa-Recht 1997, Nr. 43, S. 169 ff. (auch in: KAS-Auslandsinformationen 1997, Nr. 10, S. 15 ff.). Zugrunde gelegt wird die deutsche Übersetzung von T. Diemer-Benedict, Die neue Verfassung der Republik Polen, in: Osteuropa-Recht 1997, Nr. 43, S. 223 (227 ff.). 2  Formel von R. Sobański, Die „christlichen Werte“ im politischen Diskurs in Polen 1989 – 1995, in: Festschrift für Hans Waldenfels, 1996, S. 995. 3  Zu Geschichte und Sinn der Doktrin: J. Isensee, Das Volk als Grund der Verfassung, 1995.

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In Sorge um die Existenz und die Zukunft unseres Vaterlandes geben wir uns, nachdem wir im Jahre 1989 die Möglichkeit einer souveränen und demokratischen Bestimmung seines Schicksals erlangt haben, wir, das Polnische Volk … … die Verfassung der Republik Polen als Grundgesetz für den Staat…

Der Vorspruch der Verfassung, so zeigt die europäische Verfassungstradition, hält sich offen für religiöse Bezüge, zumal die Berufung des verfassunggebenden Volkes auf Gott (invocatio dei).4 Die Verfassung Polens greift das Thema Religion sogar dreimal auf, doch gibt sie ihm dabei zweimal eine Wendung, die, völlig neuartig, in den Verfassungstexten der Geschichte und Gegenwart nicht ihresgleichen findet. 2.  Gott oder „andere Quellen“ Das polnische Volk definiert sich als Einheit der Glaubenden und der Nichtglaubenden: wir, das Polnische Volk – alle Bürger der Republik, sowohl die, die an Gott glauben, als Quelle der Wahrheit, der Gerechtigkeit, des Guten und des Schönen, als auch die, die diesen Glauben nicht teilen, sondern an die universellen Werte, die aus anderen Quellen hervorgehen, glauben, gleich an Rechten und Pflichten gegenüber dem gemeinsamen Gut – Polen.

Der Text hält sich in den Bahnen des Üblichen, soweit er staatliche Einheit und nationale Gemeinsamkeit beschwört. Doch geht er darüber hinaus, soweit er an die Frage nach Gott rührt, in der die Bürger gerade nicht einig sind. In der Regel beschränken sich moderne Verfassungstexte auf Fragen, in denen sich das Volk einig sein will (oder soll), unter Ausklammerung jener Fragen, in denen es sich nicht einigen kann – zu diesen gehört in der pluralistischen Gesellschaft der Gegenwart die religiöse Wahrheit. Die Verfassung Polens weicht jedoch dem religiösen Dissens der Gesellschaft nicht aus, sondern sie greift ihn auf und macht ihn zu ihrem Thema. Sie deutet den religiösen Dissens als Basis des nationalen Konsenses, aus dem sie ihren eigenen Geltungsanspruch ableitet. Denn an der 4  Dazu mit Nachw. M. Heintzen, Die Kirchen im Recht der Europäischen Union, in: Festschrift für Joseph Listl, 1999, S. 29 (38 ff.). Zur deutschen Verfassungstradition und Verfassungslage A. Papenheim, Präambeln in der deutschen Verfassungsgeschichte seit Mitte des 19. Jahrhunderts unter besonderer Berücksichtigung der „invocatio dei“, 1998, S. 115 ff.

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Verfassunggebung sind alle gleichermaßen beteiligt, Christen wie Nichtchristen, alle gleich in Rechten und Pflichten gegenüber dem Gemeinwesen Polen. Die Präambel begnügt sich nicht mit dem Wort „Gott“ als den Gegenstand des Glaubens der einen und mit der negativen Definition der anderen als derer, die den Glauben nicht teilen. Vielmehr zeichnet sie ein bestimmtes Bild von Gott, als Quelle der Wahrheit, der Gerechtigkeit, des Guten und des Schönen, und sie umschreibt positiv die weltanschauliche Grundlage der anderen, die universellen Werte, die aus anderen Quellen hervorgehen.

Hier wie dort, so erwartet die Präambel, finde die Verfassung ein angemessenes, tragfähiges Fundament. 3.  Christliches Erbe und „allgemeinmenschliche Werte“ Eine analoge Dichotomie von religiösen und religiös indeterminierten Werten universaler Humanität wiederholt sich, wenn die Präambel die historische Herkunft nennt, derer sich die Polen heute dankbar erinnern: Kultur, die im christlichen Erbe des Volkes und in den allgemeinmenschlichen Werten verwurzelt ist.

Zwischen „christlich“ und „allgemeinmenschlich“ steht das Wort „und“, nicht das Wort „oder“. Die beiden Kulturschichten ergänzen einander. Sub specie constitutionis waltet hier also nicht Alternativität. Doch eine Alternativität zeigt sich erneut in dem Bekenntnis des Verfassunggebers zu der Verantwortung, die er trägt: Gefühl der Verantwortung vor Gott oder dem eigenen Gewissen.

Dort ist es eine transzendente Autorität, hier eine immanente. 4.  Der eigenwillige Kompromiß der Präambel Der zwiefache Legitimationsmodus der Präambel trägt die Züge des politischen Kompromisses.5 Einerseits soll der überragenden Bedeutung der katholischen Kirche Rechnung getragen werden, die in einzigartiger Weise die nationale Identität Polens geprägt und die mit dem Papst aus Krakau und dem Wirken von „Solidarność“ den Anfang gemacht hat, den sozialistischen Staatenblock aufzusprengen und so den Weg zu öffnen, der zur freiheitlichen Demokratie geführt 5  Der heftigste verfassungspolitische Streit war entbrannt um die Präambel, zumal die invocatio dei. Vgl. R. Sobański (Fn. 1), S. 747.

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hat. Auf der anderen Seite geht die Gleichung „polnisch-katholisch“ nicht mehr auf, weder in der gesellschaftlichen Wirklichkeit, obwohl mehr als 90 % der Bevölkerung katholisch sind,6 noch in der staatlichen Rechtsordnung, die Religionsfreiheit für alle gewährleistet. Die Verfassung will eine coincidentia oppositorum herstellen dadurch, daß sie die religiöse Besonderheit der polnischen Gesellschaft mit der Allgemeinheit des polnischen Staates zu versöhnen sucht. Die Lösung besteht darin, daß sie zwei Gruppen von Bürgern unterscheidet: diejenigen, die an Gott, und diejenigen, die an die „universellen Werte“ aus „anderen Quellen“ glauben. Alle Bürger der Republik, so die Verfassung, gehören der einen oder der anderen Gruppe an, so daß beide zusammen das Volk ergeben. Soziologisch gesehen, dürfte die Rechnung freilich nicht aufgehen. Denn das Gottesbild der Präambel schöpft nicht alle religiösen Möglichkeiten aus. Andererseits mag man fragen, ob wirklich alle Agnostiker und Atheisten an „universelle Werte“ glauben oder ob sie auch in dieser Hinsicht ungläubig sind. Doch die Präambel enthält keine soziologischen Lehren. Sie beschreibt nicht die gesellschaftlichen Realien. Sie stellt auch nicht ab auf die Menschen, wie sie empirisch sind, sondern wie sie als Bürger sein sollen, damit sie die Verfassung als die ihre erkennen können. Aufgabe der Präambel ist es, die Verfassung zu legitimieren, also den metarechtlichen Grund ihres Geltungsanspruchs aufzuweisen und die Zustimmung aller Bürger einzuwerben. Die Kompromißformel könnte auch den theologischen Einwand auf sich ziehen: ob der Glaube an „die universellen Werte“ eine echte Alternative zum Glauben an Gott und ob er ein gleichwertiges Äquivalent darstellt. Wie Remigiusz Sobański feststellt, waltet hier Konkordanz: Jesus habe die „allgemein anerkannten menschlichen Werte“ nicht nur definiert, sondern ihnen einen neuen evangelischen Sinn gegeben. Die „christlichen Werte“ aber, das seien mit der Liebe Gottes zum Menschen durchleuchtete universelle Werte.7 Christen wie Nichtchristen sind der natürlichen Ordnung verpflichtet, deren Inhalt nach Paulus auch den Heiden ins Herz geschrieben ist und sich auch ihnen über das Gewissen zu erkennen gibt (Röm 2, 14 – 15). Die heute weltmächtige Idee allgemeiner Menschenrechte ist ihrerseits Derivat des Christentums, das sich die Kirche, nach

6  „Die polnische Gesellschaft ist nicht homogen, der Pluralismus ist Tatsache und da hilft das Argument von über 90 % katholischer Bevölkerung nicht viel; in der alltäglichen Realität findet es keine Stütze.“ R. Sobański, Verkündigung und Recht (im Kontext des Verhältnisses von Kirche und Staat in Polen 1989 – 1994), in: Festgabe für Heribert Heinemann, 1995, S. 137 (140). 7  R. Sobański (Fn. 2), S. 997, 1001 – im Anschluß an den Hirtenbrief des polnischen Episkopats vom 30. April 1993.

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Mißverständnissen und Konflikten, zu eigen gemacht hat.8 Im übrigen gibt es nicht die universellen Werte, sondern konkurrierende und kollidierende Werte, die keineswegs alle der freiheitlichen Verfassung kompatibel sind. Sie sind es jedenfalls nicht schon deshalb, weil sie universelle Geltung prätendieren, wie die Werte des Kommunismus, an dessen Regime das nunmehrige Verfassungsgesetz erinnert: Zeiten, in denen die grundlegenden Freiheiten und Rechte des Menschen in unserem Vaterlande gebrochen wurden.

Es kommt nicht auf die Universalität an, sondern auf den Inhalt. Vollends könnte die Alternative der Verantwortung „vor Gott oder vor dem eigenen Gewissen“ theologisch irritieren, weil als Träger der Verantwortung das polnische Volk erscheint und sich der Eindruck ergibt, es könne wählen, vor wem es sich verantworte, vor Gott oder vor seinem Gewissen (hat ein Kollektiv überhaupt ein Gewissen, außer in einem metaphorischen Sinne?). Wenn aber die einzelnen Bürger gemeint sein sollten, würde eine schräge Alternative suggeriert zwischen den Ungläubigen, die kraft eigenen Gewissens entscheiden, und den Gläubigen, die über kein Gewissen, jedenfalls kein eigenes, verfügen (etwa deshalb, weil Gott oder Kirche ihnen die Entscheidung abnehmen?). Das Gewissen aber ist eine genuin religiöse Kategorie: in der christlichen Tradition die sittliche Fähigkeit der Person, selber Gut und Böse zu unterscheiden, das Gebot Gottes zu vernehmen, sich zu eigen zu machen und sich nach ihm zu richten – auf die Gefahr hin, mit den Forderungen der sozialen Umwelt zu kollidieren. Im Medium des Gewissens verwandelt sich Theonomie in Autonomie.9 Der Christ verantwortet sein Tun oder Lassen auch und unentrinnbar vor dem Richterstuhl seines (notwendig: „eigenen“) Gewissens. Wer den Glauben an Gott nicht teilt, verantwortet nur vor diesem Tribunal. Dennoch: die Einwände gehen an der Sache vorbei. Die Präambel strebt nicht nach theologischer Konsistenz und nicht nach philosophischer Plausibilität; sie kann daher nicht an solchen Maßstäben gemessen werden. Ihr Ziel ist es, die Verfassung zu legitimieren und vorpositive Grundlagen ihrer positivrechtlichen Geltung aufzudecken. Der Geltungsgrund der Verfassung in der modernen Gesellschaft ist zerklüftet; daher fällt auch die Legitimation uneinheitlich aus. Die Präambel versucht, die Zustimmung aller Bürger zu erreichen, wo immer diese ihren religiösen und weltanschaulichen Standort haben; daher paßt sie ihre Argumentation den Gegebenheiten an. Die Begründungsalternative soll auch die 8  R. Sobański spricht hier von einer „mäandrischen Geschichte“ (Fn. 6, S. 145). Dazu J. Isensee, Die katholische Kirche und das verfassungsstaatliche Erbe der Aufklärung, in: Festschrift für Herbert Schambeck, 1994, S. 212 ff. 9 Rechtswissenschaftliche, theologische und philosophische Reflexionen des Problems: G. Höver/L. Honnefelder (Hrsg.), Der Streit um das Gewissen, 1993.

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Minoritäten in die Einheit des Verfassungsstaates einbinden, innerhalb deren, jenseits der religiösen und weltanschaulichen Unterschiede, sie alle Staatsbürger sind mit gleichen Rechten und Pflichten. 5.  Der allgemeineuropäische Kontext der polnischen Kompromißformeln Es mag vermessen wirken, daß ein Ausländer wagt, heikle Passagen einer Verfassung zu kommentieren, die ihm nur mittels einer Übersetzung zugänglich, deren politischer Hintergrund ihm nicht vertraut ist und deren kulturelle Implikationen sich ihm nicht auftun. Dennoch sind Verfassungstexte wie der polnische keine Sache nationalstaatlicher Esoterik. Das Wort der Verfassung ist rechtsverbindlich. Der Staat, der sich eine Verfassung gibt, muß sich beim Wort nehmen lassen. Das Wort ist öffentlich. Die Öffentlichkeit aber endet heute nicht mehr an der Staatsgrenze. Das Wort der Verfassung ist grundsätzlich übersetzbar, mögen auch einzelne Momente von Bedeutung und Aura, unlösbar mit der Originalsprache verbunden, sich der Übertragung in eine andere Sprache entziehen. Die Verfassungen Europas weisen Familienähnlichkeit auf, weil sie einer Völkerfamilie entstammen. Sie folgen gemeinsamen Traditionen und gemeinsamen Leitideen; sie zeigen sogar gemeinsamen Stil. Die gemeinsamen Momente heben die nationalen Besonderheiten nicht auf; aber sie schaffen eine Vergleichsebene, die es ermöglicht, die konventionellen und die originellen Züge der polnischen Kompromißformeln zu erfassen.10 Deshalb soll im Folgenden der Typus des Verfassungsstaates skizziert werden.

II.  Verfassungsstaat und Religion – Ambivalenz der Beziehung 1.  Säkularität des Staates und Entstaatlichung der Religion In der Reformation zerbricht die Glaubenseinheit des lateinischen Europa, mit ihr die polare Einheit von Staat und Kirche. Die Frage der wahren Religion gewinnt politische Sprengkraft und entzündet Bürgerkriege. Der Staat erlangt die institutionelle Fähigkeit, den Bürgerkrieg zu überwinden, dadurch, daß er die Bürgerkriegsparteien entwaffnet und das Monopol legitimer Zwangsgewalt für sich errichtet, daß er Souveränität beansprucht, die Macht, seinen Willen hoheitlich einseitig allen, auch den stärksten sozialen Mächten seines Herrschaftsbereichs (selbst der Kirche) entgegenzusetzen und durchzusetzen. Der Machtsteigerung des Staates korrespondiert die Reduzierung des staatlichen Wirkungskreises. Er 10  Analyse der Verfassung Polens auf Anpassung an internationale Standards und Bewahrung nationaler Eigenart: Tkaczyński/Vogel (Fn. 1), S. 174 ff.; G. Freytag, Die Verfassung der Republik Polen vom 2. April 1997 im Spiegel des gesamteuropäischen Verfassungsstandards, in: Recht in Ost und West 1998, Nr. 42, S. 1 ff.

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entsagt seiner Verantwortung für das Seelenheil und beschränkt sich auf das irdische Heil.11 Fortan hört er auf, „christlicher Staat“ zu sein. Er identifiziert sich mit keiner Religion und fungiert nicht als Richter im Streit über letzte Wahrheiten. Das bedeutet nicht, daß er die Wahrheit der Religion leugnete oder gar unterdrückte. Vielmehr nimmt er sie gar nicht wahr, weil sie außerhalb seines innerweltlichen Horizonts liegt. Staat und Kirche werden nun von der Wurzel her voneinander geschieden. Jener, indem er sich auf diesseitige Aufgaben des praktischen Zusammenlebens beschränkt, diese, indem sie sich auf jenseitige Wahrheit gründet. Dieser Grundverschiedenheit entspricht die institutionelle Trennung von Staat und Kirche.12 Der Staat darf sich kein geistliches Amt anmaßen, die Kirche braucht keine weltliche Macht in ihrem Binnenraum zu dulden. Der säkulare Staat entspricht nicht mehr dem Bild der societas perfecta et completa, wie es Aristoteles entworfen hat. Er ist nur noch sektoraler Staat, der dem Menschen nicht mehr ganzheitliche Erfüllung bieten kann.13 Staatsbürger zu sein ist eine soziale Rolle neben anderen, freilich eine wesentliche Rolle. Der Freiraum, den der säkulare Staat ausspart, ist die Gesellschaft. In ihr ist der Ort für Religion und Kirche.14 Die Verfassung gibt hier wie dort unterschiedliche Legitimationsgrundlagen. Die Staatsgewalt bezieht demokratische Legitimation aus dem Willen des Volkes, die gesellschaftlichen Subjekte aus der grundrechtlichen Freiheit. Diese Freiheit steht den Individuen zu sowie, durch diese vermittelt, den nichtstaatlichen Verbänden. Das Grundrecht der Religionsfreiheit bildet nach staatlichem Verfassungsrecht auch die Basis der Kirche in ihrer Beziehung zum Staat. Die Grundrechte schirmen in ihrer Funktion als Abwehrrechte Bereiche privater und öffentlicher Selbstbestimmung gegen staatliche Ingerenz ab. Freiheit, auch die Freiheit der Religion, wird im grundrechtlichen Kontext zuvörderst 11 Zur Genese und Bedeutung der Säkularität des Staates H. Krüger, Allgemeine Staatslehre, 1966, S. 32 ff., 178 ff.; H. Quaritsch, Staat und Souveränität, Bd. 1, 1970, S. 288 ff.; M. Heckel, Säkularisierung, in: Zeitschrift für Rechtsgeschichte, Kanonistische Abteilung, LXVI (1980), S. 1 ff. 12  Das Wort „Trennung“ ist belastet durch den Sprachgebrauch des Laizismus und der totalitären Systeme. Zu den verfassungspolitischen Wirkungen in den Verfassungsberatungen Polens R. Sobański (Fn. 1), S. 752 f. Staatstheoretischer Sinn und rechtliche Bedeutungen des Trennungsprinzips: A. Frhr. von Campenhausen, Der heutige Verfassungsstaat und die Religion, in: J. Listl/D. Pirson (Hrsg.), Handbuch des Staatskirchenrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. 1, 21994, S. 47 (63 ff.). 13 Dazu J. Isensee, Staat und Verfassung, in: Josef Isensee/Paul Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland (= HStR) Band I, 1987, § 13 Rn. 58 ff. 14 Dazu H. H. Rupp, Die Unterscheidung von Staat und Gesellschaft, in: HStR I, 1987, § 28 (Nachw.).

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negativ verstanden als Freiheit von staatlicher Beschränkung. Ob und wie der Grundrechtsträger seine Freiheit positiv ausübt, entscheidet nicht das staatliche Recht, sondern der Grundrechtsträger selbst. Die Freiheit kommt gleichermaßen dem Gläubigen wie dem Skeptiker zu, dem Christen wie dem Atheisten. Sie alle genießen von Verfassungs wegen die gleichen rechtlichen Chancen zum privaten wie zum öffentlichen Wirken, nicht anders als die Potenzen der Kultur, der Wirtschaft, der Gesellschaft überhaupt. Die Gleichheit in der Freiheit wird dagegen der Kirche abgesprochen vom Laizismus, der sie aus der Öffentlichkeit verbannen und ins Ghetto des Privaten abdrängen will. Die Religionsfreiheit bildet die Kehrseite der Säkularität des Staates. Dessen Einheit gründet nicht auf einer bestimmten Religion, sondern auf der Freiheit aller Individuen, in Glaubensdingen für sich selbst und über sich zu bestimmen. Der Status des Bürgers hängt nicht ab von der Religion, nicht von der Weltanschauung, nicht von seinen politischen Überzeugungen. Überhaupt entzieht sich die Innerlichkeit dem Zugriff des Rechtsstaats. Dieser verlangt vom Bürger, kantianisch gesprochen, nur Legalität, nicht Moralität, also nicht „richtige“ Gesinnung, sondern lediglich äußeres Verhalten, das nicht gegen das Gesetz verstößt; das Gesetz aber sichert nur die Rahmenbedingungen des friedlichen Zusammenlebens freier Individuen. Eben diese Begrenzung befähigt den freiheitlichen Staat, die Widersprüche der modernen Gesellschaft auszuhalten und allen Bürgern, wie immer ihre weltanschaulichen Positionen sind, Heimstatt zu werden. Das moderne Freiheitskonzept hat sich in einem langen Prozeß gegen Widerstände durchgesetzt – zeitweilig auch gegen den Widerstand der katholischen Kirche, die ihren vollständigen Frieden erst in der Erklärung des Zweiten Vaticanum über die Religionsfreiheit gemacht hat, die sich nunmehr aber mit Nachdruck der modernen Freiheitsverbürgungen annimmt, zumal der Menschenrechte.15 2.  Positive Bedeutung der Religion für den Verfassungsstaat Wo das Verfassungsrecht den staatlichen Bereich von grundrechtsgeschützten gesellschaftlichen Bereichen unterscheidet, besteht in der Wirklichkeit ein vitaler Zusammenhang, weil es dieselben Menschen sind, die hier wie dort wirken. Der sektorale Staat ist nicht aus sich heraus lebensfähig. Vielmehr lebt er aus Voraussetzungen, die er mit eigenen Mitteln weder schaffen noch erzwingen kann.16 15  Dazu mit Nachw. J. Isensee, Keine Freiheit für den Irrtum, in: Zeitschrift für Rechtsgeschichte, Kanonistische Abteilung, LXXIII (1987), S. 296 ff. 16 Vgl. E.-W. Böckenförde, Die Entstehung des Staates als Vorgang der Säkularisation (1967), in: ders., Staat, Gesellschaft, Freiheit, 1976, S. 42 (60). Dazu näher J. Isensee, Grundrechtsvoraussetzungen und Verfassungserwartungen an die Grundrechtsausübung, in: HStR V, 1992, § 115 Rn. 1 ff., 136 ff., 163 ff.; ders., Das Dilemma der Freiheit im Grundrechtsstaat, in: Festschrift für Martin Heckel, 1999, S. 739 ff.

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Es handelt sich um wirtschaftliche und kulturelle Voraussetzungen, aber auch um moralische und religiöse. Seine Finanzkraft hängt ab von der Leistungsfähigkeit der Volkswirtschaft, seine Handlungsfähigkeit von der Loyalität seiner Bürger und Amtsträger, also von sittlichen Ressourcen, die sich ihrerseits auch aus religiösen Quellen speisen. Der demokratische Prozeß der politischen Willensbildung empfängt seine Impulse nicht nur aus politischem Ehrgeiz und aus sozialen Bedürfnissen, sondern auch aus moralischen Strebungen und aus religiösen Beweggründen. Der Staat kann gegenüber seinen eigenen Voraussetzungen nicht gleichgültig sein. So darf er gemeindienliche Aktivitäten Privater anregen und unterstützen, ohne daß ihm die Grundrechte als Abwehrrechte entgegenstehen, soweit er nur, den Anforderungen des Gleichheitsgebotes gemäß, willkürfrei vorgeht. Wie er kulturelle Aktivitäten nichtstaatlicher Verbände im Interesse des Gemeinwohls fördert, so kann er in gleicher Intention religiöse Aktivitäten der Kirche fördern, freilich unter dem Vorbehalt, daß er sich nicht mit religiösen Inhalten identifiziert und daß er die Parität zwischen den Religionsgemeinschaften wahrt. Die religiöse Neutralität des Verfassungsstaates hat daher nicht, wie der Laizismus meint, kirchenfeindlichen und religionsrepressiven Charakter. Die deutsche Verfassungstradition hat ein positives, religionsfreundliches Verständnis von Neutralität entwickelt, auf seiner Grundlage ein Konzept der staatskirchenrechtlichen Kooperation, in dem die ungleichen Partner aus gemeinsamer, komplementärer Verantwortung für den Menschen in Fragen der Erziehung und Schule, der Karitas wie der Denkmalpflege zusammenarbeiten.17 Ein Regelungsinstrument des Ausgleichs ist der Vertrag zwischen Staat und Kirche, zumal das Konkordat. 3.  Religion als Identitätsfaktor der Kultur und der Nation Vitale Religiosität wirkt immer über den geistlichen Raum hinaus. Gewollt oder nicht, zeitigt sie säkulare Folgen. Sie gewinnt Einfluß auf das kulturelle Leben. Die europäische Kultur ist ihrer Herkunft nach tief geprägt durch das Christentum und spezifiziert durch die Besonderheiten seiner orthodoxen und lateinischen Zweige, durch die katholische oder die protestantische Konfession. Religiöse Gemeinsamkeiten und Unterschiede der Länder Europas haben das Ihre dazu beigetragen, nationales Selbstbewußtsein zu erzeugen oder zu verhindern. Die Nation ist keine objektiv vorgegebene Einheit, sondern ein Produkt des politischen Willens zu gemeinsamer staatlicher Form. Doch der Wille entzündet sich an objektiven Gegebenheiten, die mit politischer Bedeutung aufgeladen werden:

17 Zum Prinzip der Neutralität im deutschen Staatskirchenrecht: K.  Schlaich, Neutralität als verfassungsrechtliches Prinzip, 1972, S. 129 ff.; von Campenhausen (Fn. 12), S. 77 ff.

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geographische Lage, Sprache, Kultur, Geschichte, nicht zuletzt aber Religion.18 Die nationale Integrationskraft der Religion ist von Land zu Land unterschiedlich. In besonderem Maße aber wirkt sie in Polen, das seine nationale Identität in Zeiten der Teilung und Unterdrückung gerade in seiner katholischen Religion erfuhr und gegenüber protestantischen Preußen, orthodoxen Russen, atheistischen Sowjets behauptete. Bisher hat kein politisches System in Polen, das die katholische Fundierung der Nation mißachtete, sich anders halten können als mit militärischer und polizeilicher Gewalt. Dagegen bildete die Glaubensspaltung für die Deutschen lange Zeit ein Hindernis, zu nationaler Einheit zu finden; spät erst inspirierte das kulturelle und das historische Bewußtsein den Willen zu einer nationalen Einheit, die zwar über die bestehenden regionalen Staaten hinausgriff, jedoch zurückblieb hinter der universalen Idee des Sacrum Imperium Romanum. Die Nation, auch wenn sie an religiöse Determinanten anknüpft, wie in Polen, Irland, Griechenland, Kroatien, ist keine religiöse, sondern eine politische Kategorie, die politische Willenseinheit, die dem durch die Staatsangehörigkeit rechtlich definierten Staatsvolk vorausliegt. Dieses bildet den Trägerverband der Demokratie, jene dessen vitale Basis.19 Der Nationalstaat, dessen vorrechtliche Grundlage durch eine Religion und eine durch diese beeinflußte Geschichte und Kultur vorgeprägt ist, kann aus politischen Gründen die Religion fördern, um seine nationale Identität zu wahren,20 und der Kirche einen hervorgehobenen Status in der Gesellschaft zuerkennen, ohne daß er mit den Anforderungen einer freiheitlichen Verfassung in Widerspruch gerät, wenn und soweit er den menschenrechtlichen Standard der Religionsfreiheit für alle Individuen und Gemeinschaften garantiert. So braucht der Staat, der muslimischen Zuwanderern die Freiheit der Religion bietet, nicht ohne weiteres dem Islam den staatskirchenrechtlichen Sonderstatus zuzuerkennen, den die autochthonen Religionsgemeinschaften genießen, welche die kulturelle und indirekt die nationale Tradition lebendig halten.21 Im übrigen stellt sich auch für die Europäische Union die Identitätsfrage sub specie der Religion, wenn sie über das Aufnahmegesuch der Türkei entscheidet: ob sie substantiell europäischen Charakter, der sich auch aus der gemeinsamen 18  Zur Bedeutung der Religion für die Staats- und Nationbildung H. Schulze, Staat und Nation in der europäischen Geschichte, (Sonderauflage) 1999, S. 56 ff., 131 ff. mit Nachw. 19  Relevanz der Nation für die Demokratie J. Isensee, Nationalstaat und Verfassungsstaat – wechselseitige Bedingtheit, in: Festschrift für Gerd Roellecke, 1997, S. 137 ff. 20  Nach dem Amsterdamer Vertrag über die Europäische Union achtet diese die „nationale Identität ihrer Mitgliedstaaten“ (Art. 6 Abs. 3 EUV). 21  Zu dieser in Deutschland streitigen Frage: W. Loschelder, Der Islam und die religionsrechtliche Ordnung des Grundgesetzes, in: Essener Gespräche 20 (1986), S. 149 ff.; Ch. Hillgruber, Der deutsche Kulturstaat und der muslimische Kulturimport, in: Juristenzeitung 1999, S. 538 ff.

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christlichen Herkunft der Völker ergibt, annehmen oder ob sie nicht mehr sein will als bislang: ein Zweckverband, der, nach ökonomischen Interessen organisiert, zwar auf eine gewisse Homogenität der Verfassungen achtet, ansonsten aber europäische Ideen und Substanzen nur als rhetorisches Dekor verwendet.

III.  Nennung des Wortes „Gott“ in Verfassungsgesetzen Die Pflicht zur religiösen Neutralität bildet kein Hindernis für den Staat, Gott im Verfassungsgesetz zu nennen. Es gibt drei typische Themen, bei denen Verfassungstexte sich ausdrücklich auf Gott beziehen: – die Erziehung der Jugend, – den Eid, – die Begründung der Verfassung. 1.  „Ehrfurcht vor Gott“ als Erziehungsziel Mehrere Verfassungen deutscher Länder, die Ziele der Jugenderziehung benennen, führen unter diesen die „Ehrfurcht vor Gott“ auf. Repräsentativ die Verfassung von Nordrhein-Westfalen (1950) in Art. 7, Abs. 1: Ehrfurcht vor Gott, Achtung vor der Würde des Menschen und Bereitschaft zum sozialen Handeln zu wecken, ist vornehmstes Ziel der Erziehung.22

Hier wird deutlich, daß Erziehung mehr will, als bürgerliche Legalität einzuüben; sie will auch deren vorrechtliche Gründe vermitteln, unter ihnen die religiösen. Ein notwendiges Ziel ist, die Jugend zu Toleranz zu erziehen; doch Toleranz bedeutet nicht, auf die Bildung eigener religiöser Identität zu verzichten. Der zu religiöser Neutralität verpflichtete Staat kann die religiöse Erziehung nicht selbst leisten.23 Diese kommt den Eltern und den religiösen Potenzen der Gesellschaft zu, zumal der Kirche. Die negative Religionsfreiheit der Jugendlichen wie die der Eltern wird nicht angetastet.24

22  Das gleiche Erziehungsziel findet sich in den zwischen 1946 und 1953 entstandenen Verfassungen von Bayern (Art. 131 Abs. 2), Rheinland-Pfalz (Art. 33), Baden-Württemberg (Art. 12 Abs. 1) sowie des Saarlandes (Art. 30). Die Verfassung Sachsens von 1992 spricht nur noch von „Ehrfurcht vor allem Lebendigen“ (Art. 101 Abs. 1). 23  Grundlegend BVerfGE 41, 29 (44 ff.) – zur christlichen Gemeinschaftsschule. Zu den Erziehungszielen der Verfassung J. Isensee, Verfassung als Erziehungsprogramm?, in: A. Regenbrecht (Hrsg.), Bildungstheorie und Schulstruktur, 1986, S. 190 ff. (Nachw.). 24 Dazu M. Jestaedt, Das elterliche Erziehungsrecht im Hinblick auf die Religion, in: Handbuch des Staatskirchenrechts, Bd. 2, 21995, S. 371 ff.; H.-F. Zacher, Elternrecht, in: HStR IV, 1989, § 134 Rn. 51 f. (Nachw.).

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2.  ,,So wahr mir Gott helfe“ – religiöse Beteuerung beim Eid Der Verfassungsstaat verlangt von seinen Amtsträgern einen (promissorischen) Eid, in dem sie Treue geloben, und unter bestimmten Voraussetzungen von Zeugen im Prozeß den (assertorischen) Eid, in dem sie die Wahrheit ihrer Aussage feierlich bekräftigen. Der Eid, ursprünglich ein sakraler Akt, ist im Kontext des staatlichen Rechts zu einer rein weltlichen Angelegenheit geworden.25 Gleichwohl nimmt der säkulare Staat darüber hinaus die ausdrückliche religiöse Bekräftigung des Eides „So wahr mir Gott helfe“ entgegen. Freilich zwingt er niemanden, auch diese zu leisten. Das Grundgesetz verbietet sogar expressis verbis den Zwang, eine religiöse Eidesformel zu benutzen (Art. 140 GG i. V. m. Art. 136 Abs. 4 WRV). Gleichwohl betrachtet das Grundgesetz die religiöse Beteuerung als amtlichen Bestandteil des Amtseides des Bundespräsidenten. Es stellt ihm aber anheim, die religiöse Beteuerung wegzulassen.26 Dagegen sieht die Verfassung Polens vor, daß der Präsident die Beteuerung zu der weltlichen Formel hinzufügt.27 Hier wie dort können die höchsten Amtsträger ihre Treue in amtlicher Form auch durch Berufung auf Gott sanktionieren und, über den staatsrechtlichen Horizont ihres Amtes hinausgreifend, ein überobligationsmäßiges Bekenntnis ablegen. Der Verzicht auf die religiöse Beteuerung kann zur Demonstration wider Christentum und Religion, jedenfalls wider ihre öffentliche Relevanz, geraten. Das ergab sich in Deutschland im Jahre 1998, als erstmals in seiner Geschichte seit 1949 der Bundeskanzler und sieben der 15 Minister die religiöse Beteuerung versagten.28 3.  Legitimation der Verfassung Die Verfassung der Grundrechtsdemokratie ist angewiesen auf die freie Zustimmung der Bürger. Von dieser hängt ab, ob der normative Geltungsanspruch, den sie erhebt, in der Lebenswelt eingelöst wird, und ob sie in praktische Wirk25 Dazu E. Friesenhahn, Der politische Eid, 1928; ders., Zur Problematik des politischen Eides, in: Zeitschrift für Schweizerisches Recht 1980, Nr. 99, S. 1 ff. Das Bundesverfassungsgericht hält gleichwohl eine Kollision der an sich säkularen Eidespflicht des Zeugen mit dem Grundrecht der Religionsfreiheit für möglich, wenn der Eid seine Glaubensüberzeugung verletzt (BVerfGE 33, 23 ff.). 26  Art. 56 GG. Ebenso für den Bundeskanzler und die Bundesminister (Art. 64 Abs. 2 GG). 27  Art. 130 der Verfassung Polens. Vgl. auch Art. 104 Abs. 2, 151 ibidem. 28 Dazu L. Roos, Ohne Gottes Hilfe?, in: BKU-Rundbrief 1998, Nr. 4, S. 17. Ferner Wissenschaftlicher Dienst des Deutschen Bundestages (Görg), Entstehung und Diskussion um den Gebrauch der religiösen Eidesformel bei der Vereidigung von Bundesministern sowie des Bundeskanzlers, parlamentsinterne Ausarbeitung vom 12. Januar 1999, Reg.Nr. 5/98.

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samkeit erwächst. Die Wirksamkeit ist prekär, weil die Verfassung als höchste Norm der staatlichen Rechtsordnung nicht wie die niederen ihren Geltungsanspruch aus einer höheren Norm ableiten kann. Die geläufigen juristischen Deduktionen versagen.29 Der Rekurs auf eine vorpositive Grundlage ist unvermeidlich. Als solche bietet sich seit zwei Jahrhunderten die Doktrin der verfassunggebenden Gewalt des Volkes an. Sie wird denn auch immer wieder von den Verfassungsgesetzen bemüht, die sich auf das Volk als den Inhaber des pouvoir constituant berufen. Bei Licht besehen, handelt es sich freilich nur um einen demokratischen Mythos, der die biblische Schöpfungsgeschichte auf die Entstehungsgeschichte der Verfassung projiziert und das Volk als creator ex nihilo erscheinen läßt. Es bedarf mehr als eines einzigen granum salis, um dem Mythos verfassungstheoretischen Sinn abzugewinnen.30 Als Legitimationsquelle jedenfalls verweist es lediglich auf die Souveränität des Volkes. Es enthält nichts weiter als rüden Voluntarismus. Nicht jede Gesellschaft und nicht alle, die ihr angehören, sind empfänglich für volksabsolutistische Botschaften. Daher bedarf das Legitimationskonzept der Gegenprinzipien, die den Voluntarismus relativieren und den Willen des Volkes domestizieren. Präambeln wie die der polnischen und der bundesdeutschen Verfassung enthalten denn auch Vorgaben, zu denen sich der Verfassunggeber bekennt: prägende Erfahrungen und leitende Zukunftsziele, Verpflichtungen auf Traditionen und Vorsorge für die kommenden Generationen, nationale wie internationale Solidarität, Menschenrechte, Bürgertugenden, Staatsethos. Der größtmögliche Akt der Selbstbescheidung des Verfassunggebers aber liegt darin, daß er sich der Autorität Gottes beugt und sich zu seiner Verantwortung vor ihm bekennt. Auch der säkulare Staat ist solcher Bekenntnisse fähig. Das beweisen zahlreiche Verfassungstexte aus Geschichte und Gegenwart.

IV.  Berufung des Verfassunggebers auf Gott – Textbeispiele und Typologie 1.  Invocatio dei Im gängigen Sprachgebrauch wird jedwede Nennung Gottes in Verfassungsgesetzen als invocatio dei bezeichnet.31 Die Bezeichnung sollte jedoch, ihrem lateinischen Wortsinn gemäß, auf die Anrufung Gottes beschränkt werden. Pro29  Zum generellen Problem der Rechtsgeltung R. Sobański, Zum Problem der Geltung der Normen des (staatlichen und kanonischen) Rechts, in: Festschrift für Lothar Ullrich, 1997, S. 188 ff. (191 ff.). 30 Näher J. Isensee (Fn. 3), S. 43 ff., 68 ff. (Nachw.). 31 Repräsentativ P. Häberle, „Gott“ im Verfassungsstaat?, in: Festschrift für Wolfgang Zeidler, Bd. 1, 1987, S. 3 ff.

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totypisch ist die Eingangsformel der Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 29. Mai 1874: Im Namen Gottes des Allmächtigen!32

Die Verfassung der Republik Griechenlands vom 9. Juni 1995 beginnt mit der Anrufung der Trinität: Im Namen der Heiligen, Wesensgleichen und Unteilbaren Dreifaltigkeit.

Wortreich und inhaltsreich ist die invocatio dei am Eingang der Verfassung der Republik Irland vom 1. Juli 1937. Das Gottesbild nimmt deutlichere Züge an als in der Verfassung Polens: Im Namen der Allerheiligsten Dreifaltigkeit, von der alle Autorität kommt und auf die, als unserem letzten Ziel, alle Handlungen sowohl der Menschen wie der Staaten ausgerichtet sein müssen, anerkennen Wir, das Volk von Irland, in Demut alle unsere Verpflichtungen gegenüber unserem göttlichen Herrn, Jesus Christus, der unseren Vätern durch Jahrhunderte der Heimsuchung beigestanden hat.

Der anschließende Satz hält den Freiheitskampf der Iren „in dankbarer Erinnerung“, richtet Staatsziele auf und mündet ein in die Erklärung des Volkes von Irland, daß es die Verfassung annehme, in Kraft setze und sich gebe. Der Volkssouverän beugt das Knie vor dem göttlichen Herrscher. In diesem Kontext bleibt nichts mehr übrig von jenen Omnipotenzprätentionen, die der Lehre von der verfassunggebenden Gewalt sonst anhaften. Im Grundgesetz Ungarns vom 25. April 2011 steht vor der Präambel (dem „nationalen Bekenntnis“) das Gebet: Gott, segne die Ungarn!

Es handelt sich um den (nicht als Zitat ausgewiesenen) Anfang der ungarischen Nationalhymne aus dem Jahre 1823. Das Verfassungsgesetz der Südafrikanischen Republik vom 6. Mai 1996 enthält am Ende der Präambel ein Gebet, das um den Segen Gottes fleht: May God protect our people. Skosi Sikelel` iAfrika. Morena boloka setjhaha sa heso. God seën Suid-Afrika. God bless South Africa. Mudzimu fhatutshedza Afurika. Hosi katekisa Afrika.33 32  Historische und dogmatische Analyse P. Saladin, Zur Präambel einer revidierten Verfassung (1996), in: ders. (Hrsg.), Kunst der Verfassung, 1998, S. 37 ff. 33  Die vorläufige Verfassung Südafrikas vom 27. April 1994 begann im Vorspruch mit den Worten: „In humble Submission to Almighty God, We, the People of South Africa, declare that…“. Am Ende des sowohl auf Englisch als auch auf Afrikaans gefaßten Verfassungstextes stand auf Englisch, zugleich in fünf anderen Landessprachen: „May God bless our country.“

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Das Gebet der Schlußformel bildet die höchste Steigerung einer Anrufung Gottes. Im englischen Text der Präambel stehen Versionen der invocatio in mehreren Landessprachen: Symbol der Hoffnung, da im gemeinsamen Glauben an Gott die Völkerschaften und Sprachgruppen zu innerer Einheit und über die alten Konflikte hinweg zum Frieden finden. Die invocatio dei ist keine Besonderheit moderner Verfassungsgesetze. Sie findet sich in älteren Vertragswerken, die ihres Inhalts wegen den Charakter von Verfassungsverträgen aufweisen, so in der Deutschen Bundesakte vom 8. Juni 1815: Im Namen der allerheiligsten und unteilbaren Dreifaltigkeit.

und in dem Vertrag zwischen Kaiser/Reich und Frankreich („Westfälischer Frieden“) vom 24. Oktober 1648: In nomine Sacrosanctae et Individuae Trinitatis, amen.

Diese Abkommen repräsentieren ihrerseits die Tradition, wichtige Rechtsakte, auch solche des Privatrechts (Kauf-, Eheverträge, Testamente), feierlich im Namen Gottes zu eröffnen, um den heiligen Ernst der Beteiligten und ihren Willen zur Rechtstreue zu bekunden, um dem Rechtsakt religiöse Weihe zu verleihen und Segen zu erwirken, um Gott als Garanten der Unverbrüchlichkeit einzusetzen. Religiöse Weiheformeln am Eingang von Rechtsakten waren bereits in vorchristlicher Zeit üblich.34 Freilich kann die Berufung auf Gott auch Ausdruck des gesteigerten Selbstbewußtseins des Verfassunggebers sein, der Prätention, von Gott selbst inspiriert und im Besitz ewiger Wahrheit zu sein. Dieses Selbstbewußtsein leitete die Französische Nationalversammlung, als sie 1789 in feierlicher Erklärung les droits naturels, inalienables et sacres de l’homme

verkündete und laut der Präambel der Deklaration die Menschen- und Bürgerrechte en presence et sous les auspices de l’Être supreme

erkannte und verlautbarte.35 Was immer unter dem „höchsten Wesen“, das hier beschworen wurde, zu verstehen ist, ob der Gott der aufklärerischen Philosophen 34  Zur geschichtlichen Herkunft der Präambeln A. Papenheim (Fn. 4), S. 3 ff. (Nachw.). Ein großer Teil griechischer Inschriften (Dekrete, Gesetze, Widmungen, Listen und Verzeichnisse aller Art) zeigt oberhalb der Urkunden, von diesen abgehoben, bald als deren integraler Bestandteil, eine Weiheformel (in der Regel Theoí) als boni eventus apprecatio. W. Lagerfeld, Griechische Epigraphik, 1914, S. 306. 35  Ähnlich der Antrag der Déclaration des droits et des Devoirs de l‘homme et du citoyen in der französischen Verfassung von 1795 („en présence de 1’Être suprême“).

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oder der Gott der Patriarchen und der Evangelisten – der Transzendenzbezug ist gegeben, und er bleibt über den Wechsel der Verfassungstexte und -systeme hinweg auch im 20. Jahrhundert mit seinem schroffen Laizismus erhalten; denn auch die geltende Verfassung von 1958 macht sich die Erklärung von 1789 zu eigen. Die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte setzt den Stil der Verlautbarungen der Monarchen von Gottes Gnaden fort, die sich auf die Eingebung Gottes beriefen.36 Die Magna Charta Libertatum von 1215 bildet ein eindrucksvolles Exempel: Johannes Dei gratia rex Angliae…Sciabis nos intuitu Dei et pro salute animae nostrae et omnium antecessorum et haeredum nostrorum, ad honorem Dei…

2.  Provocatio ad deum Spurenelemente einer confessio finden sich auch in der Präambel des Grundgesetzes für die Bundesrepublik Deutschland vom 23. Mai 1949: Im Bewußtsein seiner Verantwortung vor Gott und den Menschen …

Darin steckt freilich kein Credo.37 Das affirmativ religiöse Moment wird mehrfach relativiert dadurch, daß Gott nur als Bezugsgröße der Verantwortung figuriert, kumulativ neben dem Abstraktum „der Menschen“, vermittelt durch das subjektive Merkmal des Bewußtseins. Auch das Restmoment einer confessio verflüchtigt sich in der polnischen Verfassung, die wahlweise „Gott“ oder das „eigene Gewissen“ als Bezugsgröße der Verantwortung nennt, damit als Verfassung unentschieden und offen bleibt. Von einer Anrufung Gottes kann hier wie dort nicht die Rede sein. Daher ist die im deutschen Schrifttum geläufige Klassifikation als invocatio dei verfehlt.38 Im Unterschied dazu sei die bloße Bezugnahme auf Gott bezeichnet als provocatio ad deum. In der Literatur ist auch von einer Nennung Gottes (nominatio dei) die Rede.39 36 Beispiele

A. Papenheim (Fn. 4), S. 22 ff. Darauf weist A. Hollerbach, hin: Grundlagen des Staatskirchenrechts, in: HStR VI, 1989, § 138 Rn. 81. 38  Die Präambel des Grundgesetzes wird traditionell als „invocatio dei“ bezeichnet: F. M. Huber, in: M. Sachs (Hrsg.), Grundgesetz, 21999, Präambel, Rn. 35; I. von Münch, in: ders./Ph. Kunig (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, Bd. 1, 52000, Präambel, Rn. 6 f.; P. Häberle (Fn. 31), S. 3. Aufgrund eines engeren Begriffsverständnisses kritisch: A. Hollerbach (Fn. 37), § 138 Rn. 81; H. Dreier, in: ders. (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, Bd. 1, 1996, Präambel, Rn. 14 (Nachw.); Ch. Starck, in: H. von Mangoldt/F. Klein/Ch. Starck (Hrsg.), Das Bonner Grundgesetz, Bd. 1, 41999, Präambel, Rn. 36; A. Papenheim (Fn. 4), S. 20 f. 39 Exemplarisch, G. Czermak, „Gott“ im Grundgesetz, in: Neue Juristische Wochenschrift 1999, S. 1300 ff. 37 

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Die ersten Nachkriegsverfassungen, die sich die süddeutschen (stark katholisch geprägten) Länder geben, setzen in ihren Vorsprüchen den religiösen Akzent kräftiger als die spätere Bundesverfassung, so Württemberg-Baden (1946) und Baden (1947): im Vertrauen auf Gott …

Württemberg-Hohenzollern (1947): im Gehorsam gegen Gott und im Vertrauen auf Gott …

Rheinland-Pfalz (1947): Im Bewußtsein der Verantwortung vor Gott, dem Urgrund des Rechts und Schöpfer aller menschlichen Gemeinschaft …

Bayern (1946) enthält sich einer positiven Bezugnahme auf Gott, aber es charakterisiert sich selbst negativ über das nationalsozialistische Feindbild als einer „Staats- und Gesellschaftsordnung ohne Gott, ohne Gewissen und ohne Achtung vor der Würde des Menschen.“ Für das Selbstbild des Freistaates Bayern bedarf es hier keiner positiven Proklamation, zumal die Landeshymne mit einer echten invocatio dei beginnt: „Gott mit Dir, Du Land der Bayern!“ Unter dem Einfluß des Grundgesetzes übernehmen die jüngeren Landesverfassungen die provocatio des Grundgesetzes: Nordrhein-Westfalen (1950), Baden-Württemberg (1953), Niedersachsen (1993). Von den fünf Ländern, die auf dem Boden der ehemaligen DDR wiedererstanden sind,40 sehen zwei eine provocatio ad deum vor, Sachsen-Anhalt (1992): Dies (sc. die Verfassunggebung) geschieht in Achtung der Verantwortung vor Gott und im Bewußtsein der Verantwortung vor den Menschen …

und Thüringen (1993): … gibt sich das Volk von Thüringen in freier Selbstbestimmung und auch in Verantwortung vor Gott diese Verfassung.

Ein verdeckt theologischer Bezug findet sich allerdings in der Verfassung Sachsens (1992), die das Staatsziel aufrichtet, der Bewahrung der Schöpfung zu dienen, den Umweltschutz also mit einer genuin religiösen Wendung umschreibt und mit der „Schöpfung“ einschlußweise auf den Schöpfer Bezug nimmt. Die Formel von der „Verantwortung“ des verfassunggebenden Volkes wird auch von neueren Landesverfassungen übernommen, die sich nicht auf Gott beziehen und seinen Namen nicht kennen. Ein wenig dürfte die Aufwertung des Wortes mitschwingen, die es erfahren hat, seit der Zeitgeist vom Prinzip Hoff-

40 Zu den Verfassungspräambeln der neuen Bundesländer A. Papenheim (Fn. 4), S. 182 ff. (Nachw.).

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nung à la Ernst Bloch umgesattelt hat auf das Prinzip Verantwortung à la Hans Jonas.41 Die Bürger Mecklenburg-Vorpommerns haben sich 1993 ihre Verfassung ausweislich der Präambel gegeben: Im Bewußtsein der Verantwortung aus der deutschen Geschichte sowie gegenüber den zukünftigen Generationen …

Die Formel trägt den Stempel der Verlegenheit. Denn die deutsche Geschichte mag der Grund sein, für bestimmte Folgen zu haften, aber sie bildet keine Autorität, die Verantwortung einfordert.42 Die gegenwärtige Generation trägt Verantwortung für die zukünftigen Generationen, doch kaum gegenüber (oder vor) ihnen, weil sie bereits gegangen ist, wenn jene ins Dasein treten und die Folgen der mecklenburg-vorpommer‘schen Verfassunggebung auskosten. Zum Tribunal der Verantwortung taugen sie nicht, es sei denn, Vergangenheit und Zukunft formieren sich im Sinne Hegels zur Weltgeschichte als dem Weltgericht. Die Lücke, die der Wegfall Gottes hinterläßt, wird nicht gefüllt.

V.  Gründe für die Berufung des Verfassunggebers auf Gott Der Sinn der Bezugnahme auf Gott in Verfassungstexten läßt sich nicht auf einen einzigen Begriff bringen. Er ist nur aus dem einzelnen Verfassungstext sowie aus seinem historischen, kulturellen und politischen Kontext zu erschließen. Gleichwohl sei versucht, die typischen Gründe und Ziele aufzulisten. 1. In der Anrufung Gottes wirkt ein primär religiöser Grund: nämlich das exponierte, aber deshalb besonders gewagte und gefährdete Menschenwerk der Verfassung unter den Schutz Gottes zu stellen. 2. Eine genuin religiöse Begründung kann übergehen in eine traditionale. Man hält an einer Sentenz fest, weil sie zum hergebrachten Text gehört, auch wenn

41  Das Wort „Verantwortung“ ist zunehmend ökologisch imprägniert. So wird die 1994 in das Grundgesetz eingefügte Staatsaufgabe, die Umwelt zu schützen, eingebunden in die „Verantwortung für die künftigen Generationen“ (Art. 20a GG). Längst vorher war die „Verantwortung vor Gott und den Menschen“ für den Umweltschutz instrumentalisiert und im „grünen“ Sinne interpretiert worden (etwa Hasso Hofmann, Rechtsfragen der atomaren Entsorgung, Stuttgart 1981, S. 270 ff. Kritik an Deduktionen zur Unzulässigkeit der Nutzung von Kernenergie I. von Münch (Fn. 38), Präambel, Rn. 11. 42  „Im Bewußtsein seiner Verantwortung vor der deutschen Geschichte und gegenüber künftigen Generationen…“ – so sollte nach dem Entwurf eines Gesetzes zur Verfassungsreform, eingebracht 1994 vom Abgeordneten Wolfgang Ullmann und der Gruppe Bündnis 90/Die Grünen, das Grundgesetz beginnen und die geltende Formel „Im Bewußtsein seiner Verantwortung vor Gott und den Menschen“ ablösen (Deutscher Bundestag, Drucksache 12/6686 vom 27. Januar 1994).

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man sie, wäre der Text heute von Grund auf neu zu fassen, nicht mehr aufnähme.43 Aus pietas wird Pietät, antiquarischer Respekt vor „würdig altem Hausrat“. 3. Der Rekurs auf Gott kann philosophische Ortsbestimmung bedeuten, daß der Verfassunggeber sein Verhältnis zu Gott bestimmt und so den Bedeutungsanspruch seines Werkes begründet. Darin kann ein Akt der Demut liegen, der das Verfassungsgesetz einer höheren Autorität unterordnet, oder ein Akt des Hochmuts, der es selbst mit sakraler Autorität ausstatten will. Letzteres wird spürbar, wenn die Französische Nationalversammlung 1789 ihre Menschen- und Bürgerrechts-Deklaration „in Gegenwart und im Schutze“ jenes „Être supreme“ abgibt, dessen Bild changiert zwischen dem persönlichen Gott der Christenheit und der Allegorie jener aufklärerischen Vernunft, in deren sicherem Besitz sich die Wortführer wähnten. Das „höchste Wesen“ wird zitiert, auf daß die Urkunde, in der „heilige“ Rechte verbrieft werden, als seine Emanation erscheine, an seiner Autorität partizipiere und göttliche Weihe erkennen lasse. Der Verfassungstext fungiert als zivilreligiöses symbolum fidei. Die Tendenz zur politischen Sakralisierung bricht sich mit der französischen Revolution Bahn.44 Mehr oder weniger hält sie bis heute an, vor allem in (post-)protestantischen Gesellschaften, deren eingefleischte Schriftkultbedürfnisse sich auf die Verfassung wenden.45 Nicht die sakrale Überhöhung der Verfassung, sondern das Eingeständnis ihrer Unvollkommenheit ist Sinn der provocatio ad deum, mit der das deutsche Grundgesetz beginnt. Die höchste Norm des staatlichen Rechts öffnet sich der Transzendenz und zeigt die Bereitschaft des Verfassunggebers, vor dem Tribunal Gottes Rechenschaft zu leisten, wie auch vor dem der Menschen. Hier wie dort verweist die Verfassung über sich selbst hinaus auf eine Ebene jenseits von Staat und positivem Recht. Sie macht deutlich, daß der Mensch nicht allmächtig und nicht die letzte Instanz ist: „Selbsterinnerung an die Grenzen menschlichen Tuns.“46 Eine ähnliche Grundhaltung läßt die Verfassung Polens erkennen, wenn sie sich auf Gott oder das eigene Gewissen des Bürgers beruft und ihre Legitimation aus dem Glauben an Gott oder aus einem universellen Ethos schöpft. Alle 43  Bei den Beratungen in den letzten Jahrzehnten über eine Totalrevision der Schweizerischen Bundesverfassung von 1874 erwies sich die invocatio dei, die sich schon in der Bundesverfassung von 1848 fand und Vorläufer hatte im Bundesvertrag von 1815, sogar im Bund von 1291 („in nomine Domini“), als änderungsresistent. Selbst die Versuche, nur den Wortlaut neu zu fassen, scheiterten. Dazu P. Saladin (Fn. 32), S. 37 ff. (Nachw.). 44 Dazu W. Schmale, Entchristianisierung, Revolution und Verfassung, 1988, S. 20 ff., 57 ff. 45 Dazu J. Isensee, Vom Stil der Verfassung, 1999, S. 57 ff. 46  So die Rechtfertigung des Fortbestandes der Präambel des Grundgesetzes durch den Bericht der Gemeinsamen Verfassungskommission vom 5. November 1993 (Bundesrat, Drucksache 800/93 vom 5. November 1993, S. 110). Allgemein zur Präambel, A. Hollerbach (Fn. 37), § 138 Rn. 81 ff.; J. Isensee, Gemeinwohl und Staatsaufgaben im Verfassungsstaat, in: HStR III, 1988, § 57 Rn. 99.

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diese Quellen liegen außerhalb der staatlichen Verfügungsgewalt. Insofern zeigt sich hinter der prima facie befremdlichen Alternative, die sich in der Verfassung Polens auftut, eine gemeinsame metastaatliche Ebene, auf der die Verfassung gründet. 4. Überdeutlich ist ein anderer Zweck, dem die dichotomische Formel der polnischen Verfassung dient: sie will Akzeptanz einwerben bei allen Bürgern, Christen wie Nichtchristen. Sie sollen ihr religiöses oder ihr moralisches Selbst in der Verfassung wiedererkennen, begreifen, daß sie ihren Bedürfnissen entspricht, und sich deshalb mit ihr identifizieren. Prosaisch; sie will es allen Lagern recht machen und sie für sich gewinnen. Das ist für sie legitim und notwendig. Denn die Verfassung erlangt ihre Wirksamkeit nicht dadurch, daß sie im Namen der abstrakten Wesenheit des Volkes erlassen worden ist, sondern daß sie nachträglich, zu jedem Zeitpunkt ihrer Geltung, von denen, die sie angeht, als verbindlich anerkannt wird.47 Eben deswegen will sie sich über die provocatio ad deum und deren moralische Alternative aus Gründen, die außerhalb ihres Regelungshorizonts liegen, als zustimmungswürdig empfehlen. In der Tat: Ohne Bezugnahme auf Gott hätte die Verfassung an der Ablehnung eines erheblichen Teils der Bevölkerung scheitern können.48 5. In christlich geprägten Gesellschaften zeitigt das Wort „Gott“ Integrationswirkungen. Findet das Wort Eingang in den Text der Verfassung, so kann diese nicht nur religiöse Empfindungen für sich aktivieren, sondern auch nationale.49 Ob freilich die alternativ gefaßten Formeln der Polnischen Verfassung im Ergebnis mehr den gesellschaftlichen Grunddissens verschärfen als nationale Integration kräftigen, wird die Zukunft erweisen. In Deutschland hat die Bezugnahme auf Gott die allgemeine Akzeptanz des Grundgesetzes in seinen Anfängen gefördert und auf Dauer, auch angesichts des Schwindens der gesellschaftlichen Potenz der Religion, nicht beeinträchtigt.50 6. Die Bezugnahme auf Gott kann ein inhaltliches Zeichen setzen. In den deutschen Verfassungen nach 1945 bedeutete es die Absage an das totalitäre NS-Sy47 Näher

J. Isensee, Das Volk als Grund der Verfassung, 1995, S. 74 ff., 86 ff., 95 ff. befürchtete auch die rot-grüne Parlamentsmehrheit in Niedersachsen, die zunächst geplant hatte, in der endgültigen Landesverfassung, die 1993 in Kraft treten sollte, auf den Gottesbezug zu verzichten, doch den Plan schließlich aufgab, als sich ein Volksbegehren dafür formierte, daß Gott in der Präambel zu nennen sei. 49  P. Saladin warnt seine Schweizer Landsleute davor, aus der Präambel auf die „Auserwähltheit“ ihres Volkes zu folgern (Fn. 32), S. 43. 50 Bündnis 90/Die Grünen begründet 1994 die (fehlgeschlagene) Initiative zur Abschaffung der Bezugnahme auf Gott im Grundgesetz auch damit, Menschen, die sich zu anderen Weltanschauungen bekennten, fühlten sich „ausgegrenzt und an den Rand der Rechtsgemeinschaft gedrängt“ (Deutscher Bundestag, Drucksache 12/6686, Begründung B zu Art. 1). 48  Das

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stem, das als gottlos gebrandmarkt wurde.51 Analoge Signale sind übrigens in den Verfassungen der Länder, die das totalitäre Regime des atheistischen Sozialismus abgeschüttelt haben, nicht zu erkennen.52 7. Die Bezugnahme auf Gott hat auch positive, präjudizielle Bedeutung. Der Staat, der hier konstituiert wird, darf selbst nicht gottlos sein. Die Verfassung verwirft eine atheistische Staatsreligion,53 wie sie überhaupt keine politische Religion stiften will, sondern eine innerweltliche Rahmenordnung, die der Religion in ihren privaten wie öffentlichen Dimensionen Raum gibt. Der säkulare Verfassungsstaat bekennt sich zu seinen transzendenten Voraussetzungen.54

VI.  Polarität zwischen Gottesbezug und Religionsfreiheit Die Nennung Gottes in der Verfassung erzeugt ein Spannungsverhältnis zum Grundrecht der Religionsfreiheit, mit der die Verfassung jedermann anheimgibt, ob er an Gott glaubt oder nicht. Diese Freiheit wird nicht angetastet. Die Präambel deckt die Legitimationsgründe der Verfassung auf, doch sie verpflichtet niemanden, den Gründen zu glauben oder gar dem Glauben gemäß zu handeln. Sie stiftet keine Staatsreligion. Vollends will sie keinen „christlichen Staat“ aufrichten. Das gilt auch für die Verfassungen, die wie die der Schweiz, Irlands, Griechenlands die invocationes und provocationes ausdrücklich auf den christlichen Gott richten oder, wie das deutsche Grundgesetz, sich stillschweigend das Gottesverständnis des Christentums zu eigen machen, ohne daß sich darum der jeweilige Gottesbegriff anderen monotheistischen Glaubensvorstellungen oder auch philosophischen Transzen-

51  Expressis verbis die Verfassung des Freistaates Bayern (1946): „Staat und Gesellschaftsordnung ohne Gott, ohne Gewissen, ohne Achtung vor der Würde des Menschen.“ Zu dieser negativen Komponente I. von Münch (Fn. 38), Präambel, Rn. 8; A. Hollerbach (Fn. 37), § 138 Rn. 81; O. Bachof, Rezension, in: Archiv des öffentlichen Rechts 115 (1990), S. 514 (516). Ebenso Bericht der Gemeinsamen Verfassungskommission (BundesratDrucksache 800/93, S. 110). 52  In Deutschland kam nach der Wiedervereinigung von Abgeordneten aus dem Gebiet der vormaligen DDR (Bündnis 90/Die Grünen) der verfassungspolitische Vorstoß, das „deklamatorische Bekenntnis der Verantwortung vor Gott“, eine „Leerformel“, aus dem Text der Verfassung zu streichen (Deutscher Bundestag, Drucksache 12/6686). Der Wortführer, der evangelische Theologe Wolfgang Ullmann, begründete den Streichungsantrag mit theologischen Argumenten und mit dem Hinweis, Hitler habe sich alltäglich auf Gott berufen (20. Sitzung der Gemeinsamen Verfassungskommission am 22. April 1993 in: Materialien zur Verfassungsdiskussion und zur Grundgesetzänderung in der Folge der deutschen Einigung. Zur Sache 2/96, Bd. 1. 1996, S. 883 f.). 53 Zutreffend I. v. Münch (Fn. 38), Präambel, Rn. 7, 9. 54 Dazu A. Hollerbach (Fn. 37), § 138 Rn. 81 ff.; A. Papenheim (Fn. 4), S. 182 ff.

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denzdeutungen verschlösse.55 Das Ideal des christlichen Staates ist in der modernen Welt zerbrochen. Selbst die Kirche hat sich von ihm verabschiedet. Die Berufung der Verfassung liegt im Vorfeld der rechtlichen Regelungen. Sie gehört zur ratio legis, doch sie ist nicht Bestandteil der lex. Sie schafft keine Pflichten und sie beschränkt keine Rechte. Als Rechtsgesetz bietet und fordert die Verfassung, kantianisch gesprochen, Legalität, nicht Moralität, auch nicht Religiosität. Dennoch ist die ratio constitutionis für die Staatspraxis nicht ohne Belang. Da die Verfassung die Religion als eine ihrer Voraussetzungen anerkennt, ist der Staat zu religionsfreundlichem Verhalten verpflichtet. Daher darf er nicht durch einseitige Handhabung der negativen Religionsfreiheit die positive unterdrücken und die Religion aus dem öffentlichen Leben verbannen.56 Daß die Hochachtung des Staates vor der Religion sich mit der Freiheit der Religion verträgt und sie sogar legitimiert, zeigt eine der ersten Verbürgungen der Religionsfreiheit in der Virginia Bill of Rights von 1776 (Abschnitt 16): Die Religion oder die Ehrfurcht, die wir unserem Schöpfer schulden, und die Art, wie wir sie erfüllen, können nur durch Vernunft und Überzeugung bestimmt sein und nicht durch Zwang oder Gewalt; daher sind alle Menschen gleicherweise zur freien Religionsausübung berechtigt, entsprechend der Stimme ihres Gewissens; es ist die gemeinsame Pflicht aller, christliche Nachsicht, Liebe und Barmherzigkeit aneinander zu üben.

Mit der Bezugnahme auf Gott gibt der Verfassungsstaat seine irdische Unvollkommenheit zu und unterwirft sich dem Zwang zur Rechtfertigung. Dieser erfaßt auch seine höchste Norm, die Verfassung. Die Bezugnahme auf Gott ist ein Pfahl im Fleische innerweltlicher Selbstzufriedenheit. Sie erinnert den Staat an eine ständige Aufgabe, die nicht nur in der Phase des Umbruchs besteht, mit Remigiusz Sobański gesprochen, an die Aufgabe einer „Kartharsis des Rechts“.

55 Vgl.

A. Hollerbach (Fn. 37), § 138 Rn. 83. Exempel der Überwältigung der positiven Religionsfreiheit durch die negative und der Mißachtung der religiös-kulturellen Voraussetzungen des Verfassungsstaates ist der „Kruzifix- Beschluß“ des Bundesverfassungsgerichts (BVerfGE 93, 1 ff.). Dazu Beiträge in: H. Maier (Hrsg.), Das Kreuz im Widerspruch, 1996. 56 

Bildersturm durch Grundrechtsinterpretation* Bildersturm durch Grundrechtsinterpretation Bildersturm durch Grundrechtsinterpretation

Der Kruzifix-Beschluß des Bundesverfassungsgerichts** Der Kruzifix-Beschluß, bisher von der Öffentlichkeit eher als kulturkämpferische Attacke verstanden denn als Akt juristischer Rechtserkenntnis, bedarf der grundrechtsdogmatischen Analyse. Das Bundesverfassungsgericht verläßt die relativ gefestigten Bahnen der Verfassungsinterpretation, an deren Ausbau es selbst in Jahrzehnten mitgewirkt hat. Es gelingt ihm nicht, den Schutzbereich der Religionsfreiheit plausibel zu machen und verallgemeinerungsfähig zu bestimmen.

I.  Verdikt über ein Symbol Seit es die Bundesrepublik gibt, hat keine andere Entscheidung eines deutschen Gerichts so ungeheures Aufsehen erregt, vergleichbare Breiten- und Tiefenwirkung in der Bevölkerung gezeitigt, so nachhaltig polarisiert wie der Beschluß des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts, daß die Anbringung eines Kreuzes im staatlichen Schulraum gegen die Religionsfreiheit verstoße, also verfassungswidrig sei.1 Dabei geht es in dem Kruzifix-Beschluß gar nicht um praktische Probleme. Er greift nicht ein in rechtlich gehegte Interessen und nicht in Positionen politischer Macht. Er tastet nur ein Symbol an. In diesem Symbol aber rührt er en einen empfindlichen Nerv der deutschen Gesellschaft. In seiner Absage an das Kreuz im staatlichen Schulraum gerät der Beschluß selbst zum Zeichen, das die Gesellschaft spaltet. Der Riß geht durch den Spruchkörper selbst, der mit 5:3 Stimmen entschieden hat. Zwei Sondervoten markieren fundamentalen Dissens. Die Fragen, die sich hier erheben, transzendieren das Juristische und reichen weit über den Horizont von Recht und Verfassung hinaus. Juristen und Nichtjuristen, Gelehrte und Ungelehrte, Christen und Nichtchristen, Bürger jedweder *  Erstveröffentlichung in: Zeitschrift für Rechtspolitik 1996, S. 10 – 15. **  BVerfG Beschl. v. 16. 5. 1995, E 93, S. 1 – 25. 1  Nach einer Allensbach-Umfrage lehnen 54 % der deutschen Bevölkerung den Kruzifix-Beschluß ab (61 % im Westen, 30 % im Osten; 77 % der Katholiken, 50 % der Protestanten, 31 % der Konfessionslosen) durch die Feststellung: „Egal wie man zum Glauben steht, das Kreuz ist ein Symbol unserer Kultur und Wertvorstellungen. Es ist nicht richtig, es aus den Schulen zu entfernen. Dagegen stimmen nur 22 % dem BVerfG zu (18 % im Westen, 37 % im Osten) mit der Feststellung: „Das Kreuz hat als Symbol keine Bedeutung mehr. Man sollte in Klassenräumen keine Kreuze mehr aufhängen.“ Quelle: Köcher, FAZ v. 25. 10. 1995, Nr. 258, S. 5. Darstellung der Rezeption des Beschlusses: Berschin, in: Die politische Meinung, Okt. 1995, S. 43 ff.

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Herkunft und Richtung melden sich zu Wort, mit Recht. Denn im Streit um das Kreuz im staatlichen Schulraum geht es um die Identität des Gemeinwesens. Die Grundfrage geht allen Einzelvorschriften der Verfassung und allen ihren juristischen Auslegungsproblemen voraus. Hier hat jedermann kraft allgemeiner Bürgerkompetenz mitzureden. Dennoch ist der Kruzifix-Beschluß auch und sogar zuvörderst ein juristisches Thema. Seinem Anspruch nach folgt er den rechtlichen Vorgaben des Grundgesetzes, und nur diesen, nicht etwa dem politischen Ehrgeiz der Richter, nicht ihrer weltanschaulichen Neigung, nicht der Rücksichtnahme auf die öffentliche Meinung. Daher stellt sich die Frage, ob das Bundesverfassungsgericht seinem richterlich-fachjuristischen Anspruch genügt, ob es lege artis operiert, also die Regeln der Verfassungsanwendung einhält, an deren Entwicklung es selbst in Jahrzehnten maßgebend mitgewirkt hat und zu denen es sich weiterhin bekennt.

II.  Unklares im Vorfeld: Zulässigkeit und Redaktion Eine schulmäßige juristische Analyse des Beschlusses stößt schon im Vorfeld auf Schwierigkeiten, weil unklar bleibt, wieso das Gericht sich mit dem grundrechtlichen Problem hat befassen müssen, warum es zu seinem Ergebnis gelangt ist und was das Ergebnis genau beinhaltet, welche verbindlichen Handlungsanweisungen es denn enthält. Die Schwierigkeiten setzen ein bei der Zulässigkeit der Verfassungsbeschwerde, die den Gegenstand des Beschlusses bildet. Das Bundesverfassungsgericht läßt sich auf die Verfassungsbeschwerde ein, obwohl in der primär zuständigen Verwaltungsgerichtsbarkeit erst das Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes, nicht aber das der Hauptsache abgeschlossen ist. Das Gericht macht eine Ausnahme von der gesetzlichen Regel, daß vorab der fachgerichtliche Rechtsweg zu erschöpfen ist. Wenn es die Ausnahme auch deshalb macht, weil den Beschwerdeführern angesichts der fortschreitenden Zeit und des Fortgangs der Schulausbildung nicht zumutbar sei, sich auf den Ausgang des Hauptsacheverfahrens verweisen zu lassen, so kommt es darauf an, ob die beschwerdeführenden Kinder noch die Volksschule besuchen. Denn nur unter dieser Voraussetzung ist denkbar, daß sie in eine aktuelle grundrechtliche Zwangslage geraten, tatsächlich unzumutbar „unter dem Kreuz“ leiden und von der Vorabentscheidung aus Karlsruhe profitieren können. Das Bundesverfassungsgericht blendet die Frage aus.2 Damit bleibt offen, ob die Sache wirklich eilig war oder ob die Bundesverfassungsrichter es nur eilig hatten, die Sache den Fachgerichten zu entwinden und selbst zu entscheiden.3 Über2 

BVerfGE 93, 1 (13 ff.). Zutreffende Kritik an der fehlerhaften Behandlung des Eilverfahrens: Abweichende Meinung der Richterin Haas, in: BVerfGE 93, 1 (34 ff.). – Der Erste Senat hatte übrigens 3 

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haupt bleibt dunkel, wieso der vorliegende Einzelfall die Grundsatzentscheidung rechtfertigt oder sogar notwendig macht, desgleichen, ob er dem Gericht nur den Vorwand liefert, eine bestimmte Rechtsmeinung als allgemeinverbindlich zu proklamieren. Schwierigkeiten bereitet auch die redaktionelle Fassung, weil der rote Faden sich mehrfach im Dunkeln verliert. Der Beschluß beschränkt sich nicht auf die notwendigen Gründe, welche das Ergebnis tragen, und er leitet das Ergebnis auch nicht strikt aus diesen Gründen ab. So ist es nicht einfach, zu ermitteln, welche Ausführungen der Lösung des vorliegenden Falles gelten und welche anläßlich des Falles aus früheren Judikaten zum Thema Religionsfreiheit zusammengetragen werden. Solche Exzerpte finden sich zuhauf. Einige Passagen wirken wie ein Potpourri älterer und neuerer Sentenzen, passender und unpassender, trefflicher und weniger trefflicher. Disparates läßt sich schwer fassen und angreifen. Unklarheit schützt vor Kritik. Die redaktionelle Fassung des Beschlusses weckt den Eindruck, als wolle der Senat allen Seiten etwas geben und die Verlierer wenigstens mit Spruchweisheit zufriedenstellen. Er möchte um jeden Preis belegen, daß sich der Kruzifix-Beschluß in den bisherigen Bahnen der Rechtsprechung bewege. Doch der Kontinuitätsnachweis mißlingt.4 Der Beschluß ist zwar eindeutig tenoriert, soweit er eine Bestimmung der bayerischen Schulordnung („In jedem Klassenzimmer ist ein Kreuz aufzuhängen.“) für nichtig erklärt und verwaltungsgerichtliche Beschlüsse aufhebt. Doch weisen die Begründungen Widersprüche und Unklarheiten auf, so daß die tragenden Gründe, die Bindungswirkung für die ganze Staatsorganisation zeitigen, sich nicht eindeutig ausmachen lassen. Die staatlichen Schulen wie der staatliche Normgeber finden im Beschluß keine hinlänglich bestimmten Vorgaben, nach denen sie sich praktisch richten könnten. Kein Zufall, daß sogleich nach Bekanntwerden des Beschlusses der Streit ausbricht, was denn nun zu tun sei. Ohne hinlängliche Bestimmtheit ergibt sich aber keine Bindungswirkung, wie immer man diese verfassungsprozessuale Entscheidungsfolge gem. § 31 I BVerfGG auch definieren mag.5 Gehorsam gegenüber dem Normbefehl setzt Befehlsklarheit der Norm voraus. Die Handlungsfreiheit der Staatsorgane bleibt also bis auf einen marginalen Bereich erhalten.6 im Jahre 1991 bei der Abwägung des Für und Wider in derselben Sache die Einstweilige Anordnung abgelehnt (BVerfGE 85, 94 ff.). 4  Den Bruch mit der bisherigen Judikatur weist Lerche nach in: ders./Maier/Rauscher/ Ziegler, Schule ohne Kreuz?, 1995, S. 16 ff. 5  Zu der streitigen Frage: Benda/Klein, Lehrbuch des Verfassungsprozeßrechts, 1991, S. 511 ff. (Nachw.); Korioth, in: Der Staat 30 (1991), S. 549 ff. 6 In seinem Rechtsgutachten für die bayerische Staatsregierung attestiert Badura dem Kreuz-Beschluß geringe Bindungswirkung, mithin den politischen Instanzen weiten Handlungsspielraum (Das Kreuz im Schulzimmer, Typoskript 1995, S. 16 ff.).

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Daß der Kruzifix-Beschluß nicht den Regeln des richterlichen Handwerks genügt, gesteht der Vorsitzende des 1. Senats ein, der sich in Presseinterviews „outet“, und, unbekümmert um das Beratungsgeheimnis, ausplaudert, was das Richterkollegium (genauer: die fünf Richter, die die Entscheidung tragen) sich eigentlich gedacht, aber nicht ausgedrückt hat, und von sich aus den für die öffentliche Perzeption wesentlichen ersten Leitsatz nachbessert.7 Die nachträgliche Anstrengung von Richtern, die Blößen ihrer Entscheidung zuzudecken, sind noch peinlicher als die Blößen selbst.8 Einmal verkündet, läßt sich das Wort des Gerichts nicht mehr revozieren und nicht mehr retuschieren. Es hat sich von seinen Urhebern gelöst und entfaltet seine eigene Wirkungsgeschichte.

III.  Religionsfreiheit als Prüfungsmaßstab Maßstab der Verfassungsbeschwerde, die den Gegenstand des Kruzifix-Beschlusses bildet, sind die Grundrechte und andere ihnen ausdrücklich gleichgestellte subjektive Rechte des Grundgesetzes. Keine zulässigen Maßstäbe sind die Prinzipien der Nichtidentifikation des Staates, seiner Säkularität und religiösen Neutralität, der Parität und der Toleranz, auch wenn diese in den Entscheidungsgründen, im Sondervotum und in der öffentlichen Auseinandersetzung eine wichtige Rolle spielen. Es handelt sich um Theoreme oder um ethische Gebote, die, je auf ihre Weise, mehr oder weniger zutreffend die verfassungsrechtliche Lage spiegeln, ohne jedoch grundrechtliche Qualität zu gewinnen. Als einschlägige Grundrechte nennt das Bundesverfassungsgericht die Religionsfreiheit (Art. 4 Abs. 1 GG) der Eltern in Verbindung mit dem Elternrecht (Art. 6 Abs. 2 GG) und die Religionsfreiheit der Kinder.9 Diskutiert wird allein die Religionsfreiheit. Das Elternrecht, das sich nach Schutzbereich und Schranke von der Religionsfreiheit unterscheidet,10 wird nicht weiter behandelt; es versickert, ohne daß das Gericht darüber Auskunft gäbe. Somit bleibt die Religionsfreiheit als einziger Maßstab. Allein dieses Grundrecht erscheint im ersten Leitsatz, der das Ergebnis authentisch zusammenfaßt: „Die Anbringung eines Kreuzes oder Kruzifixes in den Unterrichtsräumen einer staatlichen Pflichtschule, die nicht Bekenntnisschule ist, verstößt gegen Art. 4 Abs. 1 GG.“11 7  Zur rechtlichen Unkorrektheit des Verfahrens, das nicht nur durch eine Analogie zu § 319 ZPO gedeckt wird: Flume, NJW 1995, S. 2904 f. 8 Vgl. Flume (Fn. 7), S. 2904 f.; Zuck, NJW 1995, S. 2903 f. 9  BVerfGE 93, S. 1 (15 ff.). Die verfahrensrechtliche Diskussion des Art. 19 Abs. 4 GG wird im folgenden ausgeklammert. 10 Dazu eingehend Jestaedt, in: BK, Art. 6 Abs. 2 und 3 (Zweitbearbeitung 1995) Rn. 263 ff. 11  BVerfGE 98, 1 (1). Die vom Senatsvorsitzenden retuschierte Fassung des Leitsatzes (NJW 1995, S. 2483) ist irrelevant.

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Der Verstoß gegen ein Grundrecht kann aber nur festgestellt werden, wenn die Rechtfertigung eines Eingriffs scheitert. Die Rechtfertigung setzt voraus, daß überhaupt ein Eingriff vorliegt. Dieser wiederum ist nur denkbar in bezug auf einen grundrechtlichen Schutzbereich.

IV.  Schutzbereich der Religionsfreiheit 1.  Schutz vor einem mißliebigen Anblick Am Anfang einer Grundrechtsdiskussion ist der Schutzbereich des Grundrechts zu bestimmen, also das von der Verfassung umschriebene Thema virtueller Freiheit, das jedweder gesetzlichen Schranke vorausliegt. Der Schutzbereich der Religionsfreiheit umfaßt das Recht des einzelnen, sich für oder wider einen bestimmten Glauben zu entscheiden.12 Dazu gehört die Freiheit, an kultischen Handlungen teilzunehmen oder ihnen fernzubleiben, religiöse Symbole anzuerkennen, abzulehnen oder zu ignorieren,13 Doch die Schüler sind nicht gezwungen, das Kreuz als religiöses Symbol zu akzeptieren, wenn es aufgrund gesetzlicher Anordnung an der Wand des Klassenzimmers hängt. Vollends zwingt der Staat die Schüler nicht, dem Kreuz ihre Verehrung zu bekunden. Hier wiederholt sich nicht auf schulrechtlichem Gebiet die Verordnung König Ludwigs I. vom 14. 8. 1838, daß die bayerischen Soldaten, gleich welcher Konfession, im Gottesdienst und auf der Wache vor dem Sanctissimum niederzuknien hätten14 (die militärische Kniebeuge wurde für nichtkatholische Armeeangehörige als Akt des Exerzierens säkular begründet). Die staatliche Schule fungiert auch nicht im Zeichen des Kreuzes als christliche Missionsanstalt. Missionarische Tätigkeit des Staates würde in der Tat mit dem Grundrecht der Religionsfreiheit kollidieren.15 Das alles behauptet das Bundesverfassungsgericht auch nicht.16 Seiner Meinung nach handelt es sich aber um „eine vom Staat geschaffene Lage, in der 12  Vgl. BVerfGE 32, 98 (106); 33, 23 (28); 41, 29 (49). Zusammenfassende Darstellung v. Campenhausen, in: Josef Isensee/Paul Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland (= HStR), Band VI, 1989, § 136 Rn. 41 ff. 13  BVerfGE 93, 1 (15) – mit Stilblüte: „Freiheit, kultischen Handlungen eines nicht geteilten Glaubens fernzubleiben.“ Die Freiheit gilt also nicht für den geteilten Glauben, nicht für den christlichen seit der Glaubensspaltung? 14  Kräftige Kritik: v. Treitschke, Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert, 4. Teil, 31890, S. 723. 15  Ablehnung einer „missionarischen“ Schule und des Anspruchs auf Vorherrschaft christlicher Glaubensgehalte: BVerfGE 41, 29 (51) – christliche Gemeinschaftsschule badischer Überlieferung; 41, 65 (78) – christliche Gemeinschaftsschule bayerischen Typs. 16  „Kein Zwang zur Identifikation oder zu bestimmten Ehrbezeugungen und Verhaltensweisen“ (BVerfGE 93, 1 [17]).

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der einzelne ohne Ausweichmöglichkeiten dem Einfluß eines bestimmten Glaubens … und den Symbolen, in denen er sich darstellt, ausgesetzt ist“.17 Das Wort „ausgesetzt“ läßt an den Straftatbestand der „Aussetzung“ eines Hilflosen (§ 221 StGB) denken, d. h. das räumliche Verbringen des Hilflosen aus seiner bisherigen, (relativ) gesicherten Lage in eine ihn erheblich mehr gefährdende, neue Lage.18 Diese Assoziation drängt sich auf, weil das Bundesverfassungsgericht den Schüler als nahezu hilflose Figur charakterisiert: aufgrund seiner Jugend „noch nicht gefestigt“ und darauf verwiesen, Kritikvermögen und Ausbildung eigener Standpunkte erst zu erlernen, daher einer mentalen Beeinflussung besonders leicht zugänglich.19 Doch diese Umstände erklären nicht, daß der Einfluß von außen als solcher ein grundrechtliches Übel sei. Vielmehr bedarf der Jugendliche gerade des Einflusses, nämlich durch Erziehung. Als Destinatar der schulischen Erziehung ist der Schüler auch nicht hilflos. Was ihm an Reife und Fähigkeit zur Selbstbehauptung fehlt, wird von Rechts wegen substituiert durch das Elternrecht. Die Eltern sind von Verfassungs wegen die Treuhänder der grundrechtlichen Belange ihres noch nicht grundrechtsmündigen Kindes. Diese Umstände werden vom Kreuz-Beschluß ignoriert. In seinem Kontext stellt sich Erziehung als solche bereits dar als Mißbrauch und Ausnutzung jugendlicher Hilflosigkeit. Das Bundesverfassungsgericht beschreibt die grundrechtliche Konfliktlage dahin: Zusammen mit der allgemeinen Schulpflicht führten Kreuze in Unterrichtsräumen dazu, „daß die Schüler während des Unterrichts von Staats wegen und ohne Ausweichmöglichkeit mit diesem Symbol konfrontiert sind und gezwungen werden, ‚unter dem Kreuz‘ zu lernen.“20 Damit wird der Tatbestand des „Zwanges“ ungewöhnlich gedehnt. Wenn hier Rechtszwang waltet, dann ist es die allgemeine Schulpflicht. In dieser gründet, in ihr erschöpft sich auch, was Schüler und Eltern an Pflichten zu erfüllen haben. Gegenstand des Zwangs sind der Besuch einer staatlichen Schule und die Entgegennahme des Unterrichts. Daß der Schüler in Räumen unterrichtet wird, die mit bestimmten Gegenständen ausgestattet sind, ist eine unvermeidliche Folge der Schulpflicht, nicht aber zusätzlicher „Zwang“, die Ausstattung der Räume zu erdulden und „unter“ ihr zu lernen. Die Wahl des Wortes „Konfrontation“ ist aufschlußreich. Der Angeklagte im Strafprozeß wird mit dem Belastungszeugen „konfrontiert“ Der Schüler wird dem Kreuz jedoch nicht „frontal“ gegenübergestellt, er soll auch nicht durch das Kreuz überprüft oder überführt werden. Das Bundesverfassungsgericht wahrt nicht Augenmaß und verzerrt die Proportionen. Es dramatisiert künstlich und läßt neurotische Reizbarkeit vor der christlichen Tradition des Gemeinwesens erkennen. 17 

BVerfGE 93, 1 (16). Dreher/Tröndle, StGB, 471995, § 221 Rn. 5. 19  BVerfGE 93, 1 (20). 20  BVerfGE 93, 1 (18). Affirmativ Neumann, ZRP 1995, S. 381 (383). 18 Nachweis:

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Die Religionsfreiheit soll nach dem Kruzifix-Beschluß den Schüler in seiner „unausweichlichen“ Position im Schulzimmer vor optischer Konfrontation schützen.21 Unausweichliche optische Konfrontation ergibt sich allerdings auch aus der ästhetischen Ausgestaltung des Schulzimmers, den mehr oder weniger schönen, tendenzhaltigen oder tendenzlosen Bildern an der Wand, die irgendeine Form und Richtung der Kunst verkörpern und ästhetisch beeindrucken. Dennoch darf der Staat, der Kunstfreiheit grundrechtlich verpflichtet, sich mit keiner Form und Richtung der Kunst (im weiten Sinne des Verfassungsrechts) identifizieren und keinen Geschmacksoktroi üben. Bisher ist noch kein empfindsamer Schülervater und noch kein grundrechtssensibler Richter auf den Gedanken verfallen, daß die Ästhetik des Klassenzimmers, so armselig sie auch sein mag, die Kunstfreiheit der Schüler verletzt. Das Bundesverfassungsgericht kreiert im Kruzifix-Beschluß ein völlig neuartiges Grundrecht: die Freiheit, von einem mißliebigen Anblick verschont zu werden. 2.  Kein Grundrecht zur einseitigen Verfügung über die Umwelt Praktisch läuft die Meinung des Bundesverfassungsgerichts darauf hinaus, daß die einzelnen Schüler oder ihre Eltern das Recht haben, von sich aus zu bestimmen, ob der staatliche Schulträger ein Kreuz im Unterrichtsraum anbringen oder belassen darf oder ob er es entfernen muß. Die Ausstattung des Schulraums ist jedoch kein grundrechtliches Thema für ein Abwehrrecht liberaler Observanz. Das gilt für die Religionsfreiheit, soweit es sich um religiöse Symbole, und das gilt für die Kunstfreiheit, soweit es sich um die ästhetische Gestaltung des Raumes handelt. Grundrechtliche Freiheit bedeutet Selbstbestimmung. Diese bezieht sich auf den eigenen Glauben, das eigene Bekenntnis, das eigene religiöse Handeln. Aber es bezieht sich nicht auf die Umwelt, in der der einzelne seinen Glauben ausübt, weder die gesellschaftliche noch die staatliche Umwelt. Beide entziehen sich der einseitigen Verfügung des einzelnen. Die gesellschaftliche, weil sie sich aus dem Wirken aller Grundrechtsträger ergibt, die staatliche, zu der die Staatsschule gehört, weil sich in ihr die staatliche Allgemeinheit verkörpert. Das schulische Mandat des Staates ist demokratisch begründet, nicht aber grundrechtlich wie das Erziehungsmandat der Eltern.22 Wenn einzelne Schüler oder ein einzelnes 21  Böckenförde lehnt es ab, die Konfrontation eines Prozeßbeteiligten mit dem Kreuz im  Gerichtssaal als Eingriff in die Handlungsfreiheit anzusehen und ein Recht auf „ein (psychisches) Nichtberührtwerden“ anzuerkennen (in: ZevKR 20 [1975], S. 119 (146 f.). 22  Zu dieser verfassungsdogmatischen Unterscheidung Isensee, Grundrechte und Demokratie – Die polare Legitimation im grundgesetzlichen Gemeinwesen, 1981; Starck, in: HStR II, 1987, § 29.

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Elternpaar einseitig über die Ausgestaltung des Schulraums bestimmen könnten, gerieten sie leicht in Widerspruch zu anderen Schülern und Eltern. Handelte es sich tatsächlich um eine grundrechtliche Frage, so könnte sie auch nicht durch Mehrheitsentscheid gelöst werden; denn die Ausübung der Grundrechte unterliegt nicht der Abstimmung.23 Einseitige Bestimmung über die Umwelt führte unvermeidlich zur Fremdbestimmung über andere Grundrechtsträger und über die staatlich verfaßte Allgemeinheit. Es gibt also keine verallgemeinerungsfähige Umschreibung der Religionsfreiheit, daß der einzelne über das Symbol im Schulraum verfügen kann. Dieses gehört zur Selbstdarstellung des Schulträgers Staat. Diese aber unterliegt weder der negativen noch der positiven Religionsfreiheit der Eltern und der Schüler. Kraft ihres Grundrechts können sie weder verlangen, daß der Staat ein Kreuz aufhängt, noch, daß er es entfernt. Einseitige Verfügung über die räumliche Umwelt wird grundrechtlich nur geschützt, soweit es sich um privaten Raum handelt und dieser Eigentum des Verfügenden ist. Es gibt aber kein Privateigentum des Schülers oder seiner Eltern am öffentlichen Raum der Schule. Objektive Anknüpfungspunkte lassen sich weder für den Schutzbereich der Religionsfreiheit ausmachen noch für den eines anderen Freiheitsrechts. Auch die Grundrechtsreserve der Allgemeinen Handlungsfreiheit (Art. 2 I GG) springt nicht in die Bresche, weil es hier keinen grundrechtlichen Schutzwall und keine Bresche gibt. 3.  Subjektivierende Betrachtungsweise Wenn es an objektiven Merkmalen des Grundrechtstatbestandes fehlt, liegt es nahe, sich mit subjektiven Momenten abzufinden und, da Schüler oder Eltern nicht in einer grundrechtlichen Position betroffen sind, es genügen zu lassen, daß sie sich betroffen fühlen. In der Tat neigen vereinzelte Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts zu einer subjektivierenden Betrachtungsweise.24 Doch hängt deshalb die Grundrechtsverletzung nicht ohne weiteres ab von der Befindlichkeit des einzelnen, seinem Meinen und Fühlen. In der Relevanz subjektiver Umstände muß unterschieden werden. Ob und wie der einzelne seine grundrechtliche Freiheit ausübt, ist seine Sache. Insoweit hegen und ermöglichen die Grundrechte Subjektivität. Doch die thematische Reichweite eines Grundrechts ist für jedermann durch objektive Norm vorgegeben als allgemeine Freiheit gleicher

23 

Insoweit richtig BVerfGE 93, 1 (24). Allgemein Isensee (Fn. 22), S. 11 ff. Vgl. BVerfGE 33, 23 (26 ff.) – Zeugeneid; BVerfGE 35, 366 (377 ff.) – Kreuz im Gerichtssaal. – Zur subjektivierenden Betrachtungsweise mit Nachw. Isensee, Wer definiert die Freiheitsrechte?, 1980; Morlok, Selbstverständnis als Rechtskriterium, 1993; Isak, Das Selbstverständnis der Kirchen und Religionsgesellschaften und seine Bedeutung für die Auslegung des staatlichen Rechts, 1994. 24 

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Bürger. Der einzelne disponiert über den Inhalt seiner grundrechtlichen Freiheit, nicht aber über deren Umfang und Grenzen.25 Innerhalb des (objektiv bestimmten) Schutzbereichs entscheiden subjektive Momente. Betroffensein ist ein subjektives Merkmal. Staatliche Einwirkungen in die Grundrechtssphäre haben nur dann den Charakter des Eingriffs, wenn sie gegen den Willen des Betroffenen erfolgen.26 Der Kruzifix-Beschluß versucht nicht, den Schutzbereich durch subjektivierende Betrachtungsweise zu konstituieren. Er tut hier eher zuwenig als zuviel und abstrahiert vom Vorbringen der Beschwerdeführer. Das Gericht macht es sich bei der Prüfung der Zulässigkeit unbesehen zu eigen und prüft es nicht auf Plausibilität und auf Glaubhaftigkeit. Es fragt nicht danach, ob die Eltern ihre Religionsfreiheit aktualisieren, wenn sie sich auf die Anthroposophie im Sinne Rudolf Steiners berufen. Immerhin distanzieren sich deren Repräsentanten von der Klage.27

V.  Der Eingriff Da die Religionsfreiheit nicht thematisch berührt wird, entfällt die Möglichkeit eines Grundrechtseingriffs. Gleichwohl sei die Frage hypothetisch geprüft, ob das Anbringen eines Kreuzes die Merkmale eines Eingriffs erfüllt. 1.  Staatliches oder grundrechtliches Kreuz? Nur der Staat kommt als Urheber eines Eingriffs in Betracht. Dieser ist es denn auch, der im Fall des bayerischen Schulkreuzes handelt. Zutreffend rechnet ihm das Bundesverfassungsgericht das Symbol zu. Diese Deutung versteht sich nicht von selbst. Im schulischen Raum ist stets zu unterscheiden, ob eine Maßnahme vom grundrechtsgebundenen Staat ausgeht oder von den grundrechtsberechtigten Schülern und Eltern.28 Es wäre denkbar, daß der staatliche Schulträger den Schülern und Eltern anheimgäbe, ein Kreuz im Klassenzimmer anzubringen, und somit keine eigene Verantwortung trüge. Die Entscheidung der Schüler und Eltern wäre Akt der Grundrechtsausübung, nicht aber virtuelle Grundrechtsbeschränkung. Ein Exempel dafür bildet das Schulgebet. Nicht der Staat betet, sondern die Schüler, er 25 

Isensee (Fn. 24), S. 29 ff.; ders., in: HStR V, 1992, § 111 Rn. 57. gilt gleichermaßen für den herkömmlichen engen wie für den neueren, weiten Begriff von Eingriff oder Schranke. Dazu Isensee (Fn. 25), § 111 Rn. 58 ff. (60, 63). 27  Nachweis bei Hans Maier, in: Lerche/Maier/Rauscher/Ziegler (Fn. 4), 1995 S. 9 (11). 28 Dazu Jestaedt (Fn. 10), Art. 6 Abs. 2 und 3 Rn. 353 f. Eingehend ders., Das Kreuz unter dem Grundgesetz, in: Journal für Rechtspolitik 1995, S. 237 (249 ff.). 26  Das

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bietet nur die Gelegenheit und die äußeren Rahmenbedingungen.29 Von seiner Seite kommt eine Grundrechtsofferte: Den Schülern bleibt überlassen, diese anzunehmen oder nicht. Wäre auch das Schulkreuz Sache der beteiligten Grundrechtsträger, so könnte sich ein Konflikt ergeben zwischen denen, die für, und denen, die wider seine Anbringung wären. Dem Staat obläge es, zwischen der positiven Religionsausübung der einen und der negativen der anderen den schonenden Ausgleich zu suchen.30 Doch dieser Sachverhalt ist beim Schulkreuz in Bayern gerade nicht gegeben. Es geht auf Anordnung des Staates zurück und erweist sich als Ausdruck staatlicher Selbstdarstellung.31 Diese aber ist nicht Gegenstand der positiven oder negativen Religionsfreiheit, mithin auch kein Anlaß für den Staat, einen schonenden Ausgleich der widerstreitenden Grundrechtspositionen herzustellen. 2.  Materielle Freiheitsbeschränkung Ein juristischer Kurzschluß liegt nahe, daß die Anordnung des Schulkreuzes deshalb ein Grundrechtseingriff sei, weil sie aufgrund eines förmlichen Gesetzes in der Form einer Rechtsverordnung erfolge. Doch nicht die Form der Anordnung macht den Eingriff, sondern ihr Inhalt. Wenn sie nicht zu einer materiellen Einschränkung tatbestandlich umschriebener grundrechtlicher Freiheit führt, zeitigt die Rechtsverordnung nur staatsinterne Wirkung, nicht anders als ein Ministerialerlaß an die Schulleiter. 3.  Appell durch ein Symbol? Nach Meinung des Bundesverfassungsgerichts liegt der grundrechtliche Eingriff im „appellativen“ Charakter des Kreuzes, der Inhalt des Appells in dessen religiös-christlicher Aussage.32 Doch ein Appell als solcher ist noch kein Eingriff. Er setzt die grundrechtliche Selbstbestimmung des Empfängers voraus und sucht ihre Ausübung zu beeinflussen, ohne sie zu beschränken. So gelten staatliche Appelle, die vor dem Kauf schädlicher Lebensmittel oder vor dem Kontakt mit jugendgefährdenden Sekten warnen, als Informationshilfe, nicht aber als Grundrechtseingriff.33 29 

Die grundrechtliche Zulässigkeit des Schulgebets begründet BVerfGE 52, 223 (235 ff.). BVerfG 52, 223 (245 ff.) – Dieser grundrechtliche Ansatz findet sich in dem Beschluß zur Einstweiligen Anordnung: BVerfGE 85, 94 (96). 31 Allgemein: Quaritsch, Probleme der Selbstdarstellung des Staates, 1977. Speziell Böckenförde (Fn. 21), S. 124 ff. 32  BVerfGE 93, 1 (20). 33  Eingriffe kommen nur in Betracht in bezug auf Produzenten und Verbände, die Gegenstand der Warnung sind. Dazu Heintzen, in: VerwArch 81 (1990), S. 532 ff. 30  Dazu

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Ein Bild-Symbol aber bleibt noch hinter dem verbalen Appell zurück. Ein amtlicher Text hat – zumindest seiner Intention nach – einen bestimmten, identischen Inhalt, der sich durch Auslegung erschließen läßt. Just das ist beim optischen Zeichen nicht der Fall. Es vermag eine unerschöpfliche Fülle von Sinnbezügen zu repräsentieren; aus sich heraus gibt es nicht einen einzigen als den allein maßgeblichen zu erkennen. Schon das christliche Ursprungsverständnis des Kreuzzeichens entfaltet sich in unabsehbaren Facetten: Tod und Auferstehung, Sünde und Erlösung, Leiden und Triumph, Trost und Ärgernis, Wahrheit und Ethos, Tradition und Gegenwart. Dem christologischen Sinnzentrum sind im Laufe zweier Jahrtausende immer weitere Sinnschichten zugewachsen, religiöse und säkulare, kulturelle und politische, nationale und universale. Das unausschöpfbare Sinnpotential des Kreuzes reduziert sich nicht ausgerechnet dadurch auf seine religiösen Elemente, daß es an der staatlichen Schulwand hängt. Doch das Bundesverfassungsgericht verweist das Schulkreuz auf seine sakralen Bezüge und konstruiert so die Unvereinbarkeit des Symbols mit der Religionsfreiheit des säkularen Verfassungsstaates (wie es sie sieht). Es stellt die von ihm sonst gepflegte verfassungskonforme Auslegung auf den Kopf, wählt von mehreren Auslegungsmöglichkeiten just jene aus, die mit der Verfassung nicht vereinbar ist und inauguriert damit die neue Methode der verfassungsnonkonformen Interpretation. Der Schüler ist dem Wandkreuz gegenüber frei, ob er es wahrnimmt oder ignoriert. Optische Zeichen sind leichter vermeidbar als akustische. Wegsehen ist einfacher als Weghören. Wenn der Schüler das Kreuz wahrnimmt, ist er frei, wie er sich zu ihm stellt: gleichgültig oder engagiert, affirmativ oder kritisch, fromm oder frech, und wie er es deutet: geistlich oder weltlich, intellektuell oder existentiell. Das Symbol ist nur dem ein Appell, der in ihm einen Appell erkennen will. Das Schulkreuz mag auf ihn als Mahnung zum Glauben und zum Gebet wirken. Aber es mahnt allein im Forum internum. Es ist seine höchstprivate, also grundrechtlich abgeschirmte Sache, ob er einen solchen Appell spürt, aufnimmt, umsetzt. Während eine verbalisierte Norm darauf angelegt ist, daß jeder Adressat sie in derselben Bedeutung versteht und befolgt, kann jedermann ein amtliches Symbol – das Kreuz nicht anders als die Staatswappentiere Adler, Löwe und Roß – deuten, wie er will, und das Gemeinwesen nimmt keinen Schaden, wenn die Deutungen widersprüchlich ausfallen. Anders als das Wort, drängt das Bild seinen Sinn nicht auf. Es kann und will nicht an die Freiheit des Rezipienten rühren. Aufdringlich wird das Symbol erst durch verbale Vermittlung, wenn nämlich eine Autorität eine bestimmte Bedeutung vorgibt und für allein maßgeblich erklärt. Das aber tut nicht der bayerische Verordnunggeber, der das Schulkreuz vorsieht, sondern das Bundesverfassungsgericht, das mit Hilfe theologischer Lexika eine bestimmte Auslegung sich zurechtlegt und autoritativ festschreibt. Nicht das

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Kreuz an der bayerischen Schulwand ist verfassungswidrig, sondern die laientheologische Kreuzes-Exegese der Karlsruher Pentarchie.

VI.  Rechtfertigung des Eingriffs Noch einmal sei eine Prämisse des Kruzifix-Beschlusses hypothetisch akzeptiert: daß das Anbringen des Kreuzes einen Eingriff in die Religionsfreiheit bewirke. Ein solcher Eingriff bedürfte der Rechtfertigung, und zwar, da die Religionsfreiheit nicht unter Gesetzesvorbehalt steht, der Rechtfertigung aus einer gegenläufigen Norm des Grundgesetzes selbst, die eine verfassungsimmanente Schranke bilden könnte.34 1.  Schulföderalismus In Frage kommt die Schulhoheit, die einen eigenen Erziehungsauftrag des Staates einschließt.35 Das Grundgesetz will die religiös-weltanschauliche Orientierung der Schule nicht selber abschließend regeln, auch nicht über die Grundrechte. Vielmehr überträgt es diese Materie den Ländern. Die Auslegung des Art. 4 GG darf also nicht dazu führen, den richtungspolitischen Spielraum der Länder auf Null zu reduzieren und den Schulföderalismus durch Grundrechtsunitarismus abzulösen. Von Art. 7 Abs. 5 GG her gesehen, könnten die Länder die konfessionsgebundene Bekenntnisschule als Regelschule vorsehen, ohne daß sie deshalb mit Bundesgrundrechten in prinzipiellen Widerspruch geraten müßten.36 Die christliche Gemeinschaftsschule als Regelschule badischer und bayerischer Fasson hat die verfassungsrechtliche Feuerprobe bestanden, wenn auch mit Vorbehalten (Missionsverbot). Im Kreuz-Beschluß wird sie weiterhin für verfassungsgemäß erklärt.37 2.  Zeichen für Voraussetzungen des Verfassungsstaates Damit reißt ein Widerspruch auf. Die „Grundsätze der christlichen Bekenntnisse“, die nach Art. 135 S. 2 BayVerf. Die Vorgaben für den Unterricht und die Erziehung in der bayerischen Pflichtschule sind, sollen mit der Religionsfreiheit des Grundgesetzes vereinbar sein, nicht jedoch das bildhafte Zeichen, 34  Zu den Schranken der Religionsfreiheit: v. Campenhausen (Fn. 12), § 136 Rn. 79 ff. (Nachw.). Allg.: Lerche, Grundrechtsschranken, in: HStR V, 1992, § 122 Rn. 23 f. (Nachw.). 35  Zutr. Ansatz: BVerfGE 93, 1 (21), im Anschluß an BVerfGE 34, 165 (182); BVerfGE 47, 46 (71 f.). 36  Vgl. v. Campenhausen (Fn. 12), § 136 Rn. 101. 37  BVerfGE 41, 29 (44 ff.); BVerfGE 41, 65 (77 ff.). Nunmehr BVerfGE 93, 1 (23).

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das – auch – diese verbindlichen Grundsätze repräsentiert. Das Symbol soll in jugendgefährdender und grundrechtsschädlicher Weise appellieren, das Symbolisierte sich dagegen grundrechtskonform fügen. Das mögliche Erziehungsprogramm der staatlichen Schule, das, eingebunden in Grundrechte und objektivrechtliche Neutralitäts- und Ausgleichspflichten, sich auf konsensfähige Ziele beschränkt, ist enger als das der Eltern. Doch reicht es weiter als die Möglichkeiten staatlicher Befehls- und Zwangsgewalt. Die Staatsschule hat auch den pädagogischen Auftrag, die vorrechtliche Substanz zu tradieren und zu erneuern, aus der der Verfassungsstaat lebt, ohne sie aus sich selbst hervorbringen und mit eigener Kraft garantieren zu können.38 Dazu gehören Herkunftsbewußtsein, Ethos, Kultur, Religion. Diese Momente verweisen auf das Christentum, das, durch alle säkularen Brechungen und Vermittlungen hindurch, die Identität unseres Gemeinwesens mitkonstituiert.39 Wenn der Staat auf das Symbol des Kreuzes zurückgreift, so verkörpert dieses ein Stück seiner Identität. Das Kreuz vermag diese Selbstdarstellung gerade deshalb zu leisten, weil seine Sinngehalte weit über den Horizont des Verfassungsstaates hinausweisen ins Meta-Rechtliche. Im Kreuz wird auch übernationale Gemeinsamkeit bildhaft: die geistige Einheit Europas, die wesentlich das historische Werk des Christentums ist.40 Das zeigt das Kreuz in Flaggen europäischer Staaten wie Dänemark und der Schweiz, Großbritannien und Griechenland, desgleichen das Kreuz in Wappen deutscher Länder und Gemeinden, in Orden und militärischen Kennzeichen. Das Kreuz in der Schule hat analoge Bedeutung wie die Nennung Gottes in der Präambel des Grundgesetzes: Die Dimension der Transzendenz wird zum Ausdruck gebracht, auch die Begrenztheit und Fehlbarkeit allen staatlichen Rechts und staatlichen Handelns.41 Niemand muß an den Gott des Grundgesetzes, der erkennbar dem des Christentums entspricht, glauben, und doch gehört sein Name zum Bestandteil der Verfassung, und kein staatliche Amtsträger, auch kein Verfassungsrichter, kann bei seinem Amtseid auf das Grundgesetz den Vorbehalt machen, daß die Präambel seiner religiösen Überzeugung zuwider sei. 38 

Dazu mit Nachw. Isensee, Grundrechtsvoraussetzungen und Verfassungserwartungen an die Grundrechtsausübung, in: HStR V, 1992, § 115 Rn. 162, 163 ff., 262 ff. Vgl. auch ders., in: Regenbrecht (Hrsg.), Bildungstheorie und Schulstruktur, 1986, S. 190 ff. 39 Obschon zurückhaltend konzediert der Kruzifix-Beschluß doch, daß die auf das Christentum zurückgehenden „Denktraditionen, Sinnerfahrungen und Verhaltensmuster“ dem Staat „nicht gleichgültig“ sein könnten, besonders für die Schule, „in der die kulturellen Grundlagen der Gesellschaft vornehmlich tradiert und erneuert werden“ (in: BVerfGE 93, 1 [22]). 40  Isensee, Europa – die politische Erfindung eines Erdteils, in: ders. (Hrsg.), Europa als politische Idee und als rechtliche Form, 21994. 41  Grundlegend zum Problem Leisner, Der unsichtbare Staat, 1994.

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Das Kreuz im Schulraum ist also nicht um der christlichen Religion willen da, auch nicht um der christlichen Kirchen willen. Es ist um des Staates willen da, der sich zu seinen Voraussetzungen bekennt und sie sinnfällig macht. Das Schulkreuz ist kein Thema des Staatskirchenrechts. Die Kirchen können nicht über die staatliche Selbstdarstellung disponieren. Das verkennt der Landesbischof von Brandenburg, Huber, wenn er vorschlägt, aus Paritätsgründen neben das Kreuz ein Bild von Mekka zu hängen. Kommensurabel wäre allenfalls das Halbmondsymbol. Folgerichtig müßten alle Weltreligionen berücksichtigt werden, am Ende auch zivilreligiöse Embleme und privatreligiöse Maskottchen. Doch es geht nicht darum, in der Schule einen Bazar religiöser Beliebigkeiten aufzubauen, sondern die Identität des deutschen Gemeinwesens sichtbar zu machen. 3.  Konfliktlösung im Grenzfall Konflikte zwischen dem Individualgrundrecht der Religionsfreiheit und dem staatlichen Erziehungsanspruch können im Schulalltag immer wieder auftreten, kaum aber Konflikte mit dem Symbol, das ein staatliches Erziehungsziel versinnbildlicht. Sollte der Widerstreit sich doch einmal ergeben, so dürfte der Vorrang der staatlichen Selbstdarstellung (die nicht verwechselt werden darf mit dem dargestellten staatlichen Erziehungsziel) in der Regel gerechtfertigt sein. Praktische Konkordanz ist immer wieder herzustellen zwischen widerstreitenden rechtspraktischen Belangen, nicht aber zwischen Praxis und Symbol.42 Auch das Toleranzgebot kann sich nur auf die Verwirklichung des staatlichen Erziehungsauftrags beziehen, nicht auf dessen bildhaften Ausdruck. Sollte es gleichwohl einmal in einer besonderen Situation einem Schüler unzumutbar sein, mit dem Kreuz „konfrontiert“ zu werden, so böte sich eine individuelle Ausnahmelösung für den Einzelfall an, wie sie das Bundesverfassungsgericht in seiner Entscheidung zum „Kreuz im Gerichtssaal“ getroffen hat, im Ergebnis, wenn auch nicht in der Begründung einleuchtend.43 Seit Aristoteles ist bekannt, daß die Anwendung einer noch so vernünftigen Regel in atypischen Fällen unbillig sein kann. Den Ausweg öffnet der Dispens, der hier von der Anwendung der Regel absieht, aber die Geltung der Regel nicht in Frage stellt.44 Der Kruzifix-Beschluß nimmt dagegen den anomalen Einzelfall zum Anlaß, die Norm überhaupt 42  So aber die Fehlkonstruktion eines „unvermeidlichen Spannungsverhältnisses“ in BVerfGE 93, 1 (22). Zustimmend jedoch Neumann, ZRP 1995, S. 384 f.; Lerche, Der Vater der Kategorie vom „schonenden Ausgleich“, kritisiert deren Fehlgebrauch im KruzifixBeschluß (Fn. 4, S. 18 ff.). 43  BVerfGE 35, 366 (373 ff.). Dazu Böckenförde (Fn. 21), S. 119 ff. 44  Exemplarisch: BVerfGE 16, 147 (177); 27, 375 (385); 32, 78 (86); 35, 363 (365); 38 61 (95, 102). Dazu Isensee, in: FS für Flume, 1978, S. 129 (143 ff.).

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zu beseitigen, sich nur auf die Verwirklichung des staatlichen Erziehungsauftrags zu beziehen, nicht aber auf dessen bildhaften Ausdruck, zumal das Toleranzgebot selbst in einer der Bedeutungsfacetten des Kreuzes enthalten ist.45 Das Bundesverfassungsgericht kann sein Ergebnis nicht damit rechtfertigen, es wolle eine Minderheit vor der Mehrheit schützen. Sein Entscheidungsmaßstab ist nicht der Minderheitenschutz, sondern das Verfassungsrecht, das allgemeine Geltung beansprucht und jedermann, mag er zur Mehrheit oder zur Minderheit zählen, gleichermaßen zugute kommt. Beanspruchte das Bundesverfassungsgericht hier ein eigenständiges Mandat zum Minderheitenschutz, so müßte es willkürlich eine Minderheit bevorzugen zu Lasten unabsehbar vieler sonstiger Minderheiten, unter anderem auch der Minderheit glaubensstrenger Christen. Die Grundrechte schützen das Individuum als die kleinste aller möglichen Minderheiten. Aber auch das Individuum genießt nur Schutz als Inhaber gleicher Freiheit.

VII.  Irritationen Der Kruzifix-Beschluß bleibt in Widersprüchen stecken. Diese könnten in künftigen Urteilen aufgelöst werden im herkömmlichen Sinne, daß das Kreuz seinen Platz im staatlichen Raum wieder zurückerhält, oder aber, im neuartigen, laizistischen Sinne, daß, den beschwichtigenden obiter dicta zum Trotz, künftig auch der grundrechtliche Stab über der christlichen Gemeinschaftsschule gebrochen und das Verbot einer Konfrontation mit christlichen Symbolen, über das Medium einer staatlichen Schutzpflicht,46 ausgedehnt wird auf den gesellschaftlichen Raum mit der Folge, daß das Christentum aus der Öffentlichkeit verdrängt wird. In der verkürzenden und vergröberten Rezeption erscheint der Kreuz-Beschluß als Hypertrophie der negativen Religionsfreiheit auf Kosten der positiven, als Absage an die christliche Tradition, als Diskreditierung von ethischen Grundwerten. Das erklärt den Sturm der Empörung gegen den Spruch und den Absturz der Akzeptanz des Bundesverfassungsgerichts. Es wirkt armselig, wenn Apologeten unter den Verfassungsrichtern am Ende nur noch der Appell an den Rechtsgehorsam einfällt, den „Progressive“ ansonsten als obrigkeitlichen Rückstand zu ironisieren pflegen. Auctoritas, non veritas facit iudicium – das ist, wenn keine Sachgründe mehr verfangen, unabweislich. Dennoch sollte das Bundesverfassungsgericht, das wie kein anderes Gericht aus Akzeptanz lebt, vermeiden, daß der Rekurs auf dieses letzte, dürre Argument notwendig wird. 45 

„Zum Christentum als Kulturfaktor gehört gerade auch der Gedanke der Toleranz“ (BVerfGE 93, 1 [23]). 46  Ansätze dazu in dem an sich irrelevanten Zitat von BVerfGE 41, 29 (49) = NJW 1976, S. 947, im Kruzifix-Beschluß (BVerfGE 93, 1 [16]).

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Die fünf Richter, die sich dem öffentlichen Widerspruch ausgesetzt sehen, können sich nicht darauf berufen, sie hätten nur getan, was ihres Amtes sei. Freilich haben sie die Verfassung nach den Regeln des juristischen Handwerks auszulegen, gleich, ob ihr Ergebnis der gesellschaftlichen Mehrheit gelegen kommt oder ungelegen.47 Aber die Verfassung gebietet den Kreuz-Beschluß nicht, im Gegenteil. Er folgt nicht den anerkannten Regeln der Verfassungsinterpretation, und er entspricht nicht den richterlichen Standards. Hier waltet nicht Not der richterlichen Entscheidung. Eher entsteht der Eindruck kulturrevolutionärer Provokation. Unter den disparaten Sentenzen des Kruzifix-Beschlusses findet sich eine überaus treffliche: Der Staat dürfe „den religiösen Frieden in einer Gesellschaft nicht von sich aus gefährden“.48 Das Bundesverfassungsgericht sollte seine eigene Lehre beherzigen.

47 Näher Isensee, Verfassungsrecht als „politisches Recht“, in: HStR VII, 1992, § 162 Rn. 102 ff. 48  BVerfGE 93, 1 (16 f.).

Die Säkularisierung der Kirche als Gefährdung der Säkularität des Staates* Die Säkularisierung der Kirche als Gefährdung der Säkularität des Staates Die Säkularisierung der Kirche als Gefährdung der Säkularität des Staates

I.  Das Reich Gottes von dieser Welt „Wir sehen in der Auferstehung […] keinen individuellen, sondern einen kollektiven Akt, der mit der Befreiung aller Menschen identisch ist. Das Reich Gottes, das Reich des Himmels, verstehe ich als die vollendete humanistische Gesellschaft. Weiterleben nach dem Tod bedeutet, sich heute für andere Menschen zu engagieren, denn in ihnen vermag ich fortzubestehen. Dieses Eintreten für das reale Leben der Menschen um mich herum, das ist, worauf es mir ankommt.“ Das Glaubensbekenntnis, das ein Priester der katholischen Kirche und Minister einer kommunistischen Regierung, Ernesto Cardenal, ablegt,1 ist mehr als eine private Position politischer Theologie. Es repräsentiert deutlich, folgerichtig, idealtypisch das Christentum im Endzustand seiner Säkularisierung. Die Religion hat sich vom Jenseits abgewendet und sucht ihre Erfüllung im irdischen Horizont des Humanen. Glaube setzt sich um in Welt-Anschauung, Hoffnung in politische Utopie. Das christliche Ungenügen an dieser Welt reduziert sich auf die Kritik der in dieser Welt bestehenden Verhältnisse. Sie zu transzendieren in Richtung auf mehr Gerechtigkeit, mehr Freiheit, mehr Glück ist der Rest, der von der Transzendenzerwartung noch bleibt: Transzendenz in der Immanenz. Soziale Ungerechtigkeit und politische Unterdrückung („strukturelle Gewalt“) werden zu säkularisierten und sozialisierten Ersatztatbeständen für das, was vormals die Sünde war. Erlösung bedeutet nunmehr Emanzipation aus sozialer Abhängigkeit, und das Reich Gottes erscheint im neuen Licht als Reich von dieser Welt. Heinrich Heine hat die Vision auf die ironische Formel gebracht: *  Erstveröffentlichung in: Gerfried W. Hunold/Wilhelm Korff (Hrsg.), Die Welt für morgen. Ethische Herausforderungen im Anspruch der Zukunft, 1986, S. 164 – 178. 1  Äußerungen bei einem DDR-Besuch im Jahre 1982. Zitiert nach FAZ v. 5. 2. 1982, Nr. 103, S. 7. – Zu Phänomenen der kirchlichen Säkularisierung: Helmut Schelsky, Die Arbeit tun die anderen, 1977, S. 219 – 222, 426 – 443; Wilhelm Weber, Wenn aber das Salz schal wird. 1984, Martin Kriele, Befreiung und politische Aufklärung, 1980, S. 218 – 255; Rupert Hofmann, Chiliasmus statt politischer Vernunft, in: Zeitschrift für Pädagogik 29 (1982), S. 331 – 347. Dokumente kirchlichen Widerstandes: Instruktion der Kongregation für die Glaubenslehre über einige Aspekte der »Theologie der Befreiung« vom 6. August 1984; vgl. auch Joseph Kardinal Ratzinger, Der Mut zur Unvollkommenheit und zum Ethos, in: FAZ vom 4. August 1984, Nr. 171.

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„Ein neues Lied, ein besseres Lied, O Freunde, will ich Euch dichten! Wir wollen hier auf Erden schon Das Himmelreich errichten.“

Der Säkularisierungsprozeß hat heute, mit besonderer Macht nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil, weite Teile der Kirche ergriffen. Er vollzieht sich nicht allein im Kontext des Marxismus, der allerdings als religionsanaloge Welterlösungsideologie die optimalen Voraussetzungen bietet für die Vertauschung transzendenter gegen innerweltlich soziale und politische Heilsziele. Säkularisierung vermag in alle Richtungen zu streben, mit allen Bewegungen zu marschieren, in alle Ideologien einzumünden: in totalitäre wie liberale, in pazifistische wie kriegerische, in ökologische wie altfortschrittliche, in demokratische wie menschenrechtliche. Säkularisierung bedarf keiner theologischen Manifeste, obwohl diese heute wie Pilze aus dem Boden sprießen. Sie kann sich geräuschlos, unmerklich in der kirchlichen Praxis ereignen. Besonders suggestiv ist der Sog der Säkularisierung in der westlichen Staatenwelt: Sog zur Anpassung an die jeweiligen gesellschaftlichen Bedürfnisse und Wertvorstellungen. Die Kirche findet sich hier als Verband unter zahllosen Verbänden einer offenen Gesellschaft. Sie hat sich unter den rechtlichen Bedingungen der Freiheit und Gleichheit im Wettbewerb der Ideen und Interessen zu behaupten. Sie kann ihre hergebrachte öffentliche Bedeutung nur halten, wenn sie nicht nur ihrem kirchlichen Selbstverständnis Genüge tut, sondern sich darüber hinaus dem pluralistischen Umfeld „konsensfähig“ vermittelt, wenn sie, jenseits ihrer geistlichen Legitimation, sich auch um die Legitimation aus dieser Welt bemüht. Säkulare Legitimationsmuster der Gegenwart sind etwa soziale Leistungen, kulturelle Unentbehrlichkeit, Pflege sittlicher Grundwerte, „richtiges“ politisches Engagement. Sub specie der säkularen Legitimation erfährt die kirchliche Tätigkeit eine Sinnmetamorphose. Seelsorge wird Psychotherapie, Mission Entwicklungshilfe, Predigt politische Bildungsarbeit, Gottesdienst liturgische Folklore. Die Kirche hat sich seit ihren Anfängen bemüht, auch den Maßstäben der Welt Rechnung zu tragen. Der Völkerapostel Paulus wurde den Juden ein Jude, den Griechen ein Grieche, den Heiden ein Heide, um allen das eine Evangelium zu künden. Die Kirche hat sich in ihrem Gang durch die Zeiten und Völker stets den Kulturen geöffnet, denen sie begegnete, und sich ihnen schöpferisch anverwandelt. Angleichung und Rezeption sind nicht Säkularisierung. Öffnung zur Welt ist der notwendige Weg, ihr die Botschaft zu bringen, die nicht von dieser Welt ist. Säkularisierung ist erst dann gegeben, wenn die Botschaft selbst verweltlicht, wenn also die kirchlichen und religiösen Formen sich mit diesseitiger Substanz füllen. Wesentlich ist die Wende von der Transzendenz in die Immanenz, und als ihre Folge die Verwandlung geistlicher Energie in politische Energie. Diese aber

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richtet sich vornehmlich auf den Staat aus. Auf ihn kommt damit eine Herausforderung völlig neuer Art zu. Die Herausforderung ist das Thema der folgenden Überlegungen. Der Säkularisierungsprozeß wird als gegeben vorausgesetzt. Es geht nicht darum, ihn theologisch zu bewerten oder soziologisch zu analysieren. Vollends liegt es mir fern, ihn prophetisch zu deuten als die unaufhaltsame Entwicklung, der die Zukunft gehöre. Eine solche Prophetie wäre von vornherein sinnlos und grundlos. Die Kirchengeschichte hat einschlägige Prognosen schon unendliche Male Lügen gestraft und bewiesen, daß das Religiöse sich immer wieder regeneriert und aus der Umklammerung des Weltlichen befreit. Und wenn die Zeichen nicht trügen, wachsen in der Kirche die Kräfte, charismatische wie rationale, die der Säkularisierung Widerstand leisten und die Rückkehr zur Transzendenz bahnen. Es geht im folgenden auch nicht um Empirie. Thema ist vielmehr eine staatstheoretischer Modellversuch: die Prüfung, welche Wirkung die Säkularisierung des Christentums auf den modernen Staat zeitigt, der als demokratischer Rechtsstaat verfaßt ist.

II.  Die Säkularität und rechtliche Unabhängigkeit des Staates von der Religion Rechtlich gesehen wird der demokratische Rechtsstaat nicht berührt von Entwicklungen im Bereich der Religion. Er gewährleistet seinen Bürgern die Freiheit der Religion und gewinnt damit für sich selbst rechtliche Unabhängigkeit vom religiösen Leben der Bürger. In der Religionsfreiheit äußert sich die Säkularität des Staates, die als Wesenseigenschaft des modernen Staates jeder Verfassungsregelung voraus liegt.2 Mit Eintritt in die Neuzeit hatte er seinen Transzendenzbezug aufgekündigt. Er hatte es tun müssen, weil die mittelalterliche Glaubenseinheit des Christentums zerbrochen war und die Glaubensspaltung, solange sie zugleich politische Spaltung war, den offenen oder latenten Bürgerkrieg bedeutete. Der Staat überwand den Bürgerkrieg dadurch, daß er sich aus dem Kampf um die religiöse Wahrheit zurückzog und so die Wahrheitsfrage entpolitisierte, daß er alle aktuellen und potentiellen Bürgerkriegsparteien entwaffnete und die Kompetenz zu legitimer 2 Dazu:

Herbert Krüger, Allgemeine Staatslehre, 21966, S.  32 – 53: Ernst-Wolfgang Böckenförde, Die Entstehung des Staates als Vorgang der Säkularisation (1967), in: Staat – Gesellschaft – Freiheit, 1976, S. 42 – 64: Helmut Quaritsch, Staat und Souveränität I, 1970. – Zu Begriff und Wesen der Säkularisierung: Hans Blumenberg, Säkularisierung und Selbstbehauptung, 1974; Hermann Lübbe, Säkularisierung – Geschichte eines ideenpolitischen Begriffs, 21975; Martin Heckel, Säkularisierung. Staatskirchenrechtliche Aspekte einer umstrittenen Kategorie, in: Zeitschrift für Rechtsgeschichte. Kanonistische Abteilung LXVI (1980), S. l – 163.

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physischer Gewaltsamkeit ausschließlich sich selbst vorbehielt, kurz: dadurch, daß er in seinem Wirkungskreis ein irdisches Ziel über alle anderen stellte: den Frieden unter den Bürgern. Sache des Staates ist es von nun an nicht mehr, neben der Kirche um das ewige Leben des Menschen Sorge zu tragen, sondern allein, das irdische Leben zu sichern. Der moderne Staat sollte in der fundamentalen Friedensaufgabe nicht sein Genügen finden, sondern zu subtileren Zielen greifen: der liberalen wie der demokratischen Freiheit des Bürgers und der sozialen wie der ökologischen Sicherheit. Doch alle Ziele stehen im Horizont der weltimmanenten Zweckrationalität. Die Religion ist nicht mehr das Band der staatlichen Gemeinschaft, sondern Element gesellschaftlicher Verbesonderung und Privatheit. Schroff konstatiert Karl Marx, die Religion sei nicht mehr der „Geist des Staates“, sondern der „Geist der bürgerlichen Gesellschaft“, „der Sphäre des Egoismus, des bellum omnium contra omnes“. „Sie ist nicht mehr das Wesen der Gemeinschaft, sondern das Wesen des Unterschieds. […] Sie ist unter die Zahl der Privatinteressen hinabgestoßen und aus dem Gemeinwesen als Gemeinwesen exiliert.“ Der Staat emanzipiere sich als Staat von der Religion, indem er als Staat keine Religion bekenne. Er könne sich also von der Religion emanzipiert haben, sogar wenn die überwiegende Mehrzahl der Bürger noch religiös sei.3 Es wird zu prüfen sein, ob diese Emanzipation mehr gebracht hat als juristische Unabhängigkeiten.

III.  Die Religionsfreiheit als einseitiges Interventionsverbot zu Lasten des Staates Rechtlich vorgegeben ist mit dem Grundrecht der Religionsfreiheit, daß der Staat weder aus theologischen noch aus politischen Gründen in religiöse Entwicklungen eingreifen und nicht Partei nehmen darf im theologischen Streit. Er kann nicht vorschreiben, was christliche Wahrheit und was wahre Kirchlichkeit ist. Er vermag auch nicht, die Kirche auf das Gesetz der Transzendenz festzulegen, nach dem sie angetreten ist. Er kann sie nicht zur Spiritualität zwingen. Hier entscheidet ausschließlich das Selbstverständnis der Kirche und das der Individuen. Die private wie die gesellschaftliche Sphäre des religiösen Lebens sind durch das Grundrecht der Religionsfreiheit gegen staatliche Intervention abgeschirmt. Die Kirche hat auf eigene Gefahr ihren Platz in der pluralistischen Gesellschaft zu suchen. Der Staat kann und darf nicht als Platzanweiser fungieren. Das Interventionsverbot beruht jedoch nicht auf Gegenseitigkeit. Der Kirche ist es nicht verwehrt, sich in die Angelegenheiten des Staates einzumischen. Im Gegenteil: Die Verfassung hält ihr im Rahmen des für alle geltenden Gesetzes 3  Karl Marx, Zur Judenfrage, 1843, zitiert nach Siegfried Landshut (Hrsg.), Die Frühschriften, 1953, S. 179, 183.

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die Möglichkeit offen, sich politisch zu engagieren wie jedermann und sich ihre politischen Themen und Ziele zu wählen. Es steht ihr frei, sich zur Schulpolitik wie zur Ausländerpolitik zu äußern, zur Raketenstationierung wie zur Staatsverschuldung. Da die Kirche ihren Verkündigungsauftrag nicht vom Staat ableitet, kann dieser nur vorgegebene Freiheit respektieren, aber nicht von sich aus den Auftrag der Kirche definieren und ihr verwehren, ein politisches Mandat in Anspruch zu nehmen. Das Politische ist ohnehin kein rechtlich eingrenzbarer Bereich, sondern ein existentieller Aggregatzustand, in den jede Materie geraten kann. Die Kirche trifft also, anders als im autoritären Staat, nicht auf rechtliche Widerstände. Sie kann das Wort ergreifen, frei wie jedermann. Aber damit hat sie es unter den Bedingungen der Freiheit besonders schwer, der Öffentlichkeit innerhalb wie außerhalb ihrer Mauern Rechenschaft darüber zu geben, daß sie nicht rede wie jedermann, sondern rede als Kirche. Aus der positivrechtlichen Sicht des Grundgesetzes ist allerdings ein Vorbehalt anzumelden. Wenn die Kirche sich in Zielen, Mitteln und Gründen nachhaltig dem säkularen Umfeld anpaßt und das geistliche Proprium unsichtbar wird, stellt sich die Frage, ob sie dann nicht die verfassungsrechtlichen Garantien verliert, die ihr gerade um ihrer spezifisch geistlichen Qualität willen zustehen, auch wenn sie sich nicht im Schutz spezifisch geistlicher Aktivität erschöpfen: die Garantien der (korporativen) Religionsfreiheit und der Kirchenautonomie, des Religionsunterrichts, der Anstaltsseelsorge, der Körperschaftsform und der Steuerhoheit. Der auf Gleichheit gegründete demokratische Rechtsstaat kann auf Dauer das Gleichheitsdilemma nicht ertragen, das entstände, wenn die Kirche sich den übrigen Verbänden des pluralistischen Feldes anpaßte, aber Privilegien genösse, die den gesellschaftlichen Konkurrenten nicht zustehen. Doch selbst wenn die Kirche ihre spezifisch religions- und staatskirchenrechtlichen Verfassungsgarantien verlöre, müßte nicht auf ganzer Linie eine reale Freiheitseinbuße eintreten. So könnten an die Stelle der Religionsfreiheit religionsindifferente Freiheitsgrundrechte treten wie die Meinungsfreiheit oder die Weltanschauungsfreiheit. Der Verlust der staatskirchenrechtlichen Körperschaftsgarantie ließe die Kirche nicht ins Leere fallen, weil immerhin die Vereinsfreiheit als Netz bereitstände. Es träte nur ein Austausch der Rechtsgrundlagen ein, der allerdings zum Teil zu einer Statusminderung und zu einer Stärkung staatlicher Einflußmöglichkeiten führen und am Ende ein egalitäres Staats-Kirchensystem hervorbringen könnte, das dem alten Verfassungsideal des Laizismus entspräche. Wie dem auch sei, die grundrechtliche Freiheit der Kirche wäre zwar enger zugeschnitten, aber nicht entzogen. Die Verfassungssubstanz des freiheitlichen Gemeinwesens nähme nicht ohne weiteres Schaden, wenn kirchliche Sonderrechte durch Wegfall ihrer realen Voraussetzungen sinnlos oder gegenstandslos würden.

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IV.  Das moralische Mandat der Kirche im freiheitlichen Gemeinwesen Wenn der Verfassungsstaat der Kirche auch keine Aufgaben zuweist, so bleibt doch offen, ob es nicht jenseits des verfassungsrechtlichen Horizonts Erwartungen an die Kirche gibt, daß sie dem freiheitlichen Gemeinwesen Dienste leistet, die sie, und vielleicht nur sie, erbringen kann. Die Überlegung führt auf die metarechtliche Ebene der geistigen Voraussetzungen, aus denen der freiheitliche Staat lebt, ohne aber fähig zu sein, sie aus sich heraus, unter Einsatz seines rechtlichen Instrumentariums, zu gewährleisten.4 Zu ihnen gehört die ethische Kultur. Die Kirche sieht aus gutem Grund hier ihr besonderes Wirkungsfeld. Sie vermag den Staat zu ergänzen, der als Rechtsstaat nur Legalität fordern kann, obwohl er auch der Moralität bedarf, und der, beengt durch Toleranz- und Neutralitätspflichten, nur eine schmale Erziehungskompentenz wahrnehmen kann, bezogen auf eine jedermann zumutbare, konsensfähige Ethik, also ein ethisches Fragment. Erziehung aber geht an sich immer auf den ganzen Menschen aus. Die Kirche aber ist des umfassenden moralischen Engagements fähig. Sie vermag ganzheitliche Erziehung zu leisten und, indem sie diese leistet, die ethischen Grundlagen des Gemeinwesens, den Grundkonsens der Gesellschaft. zu beleben. Die Kirche vermag Sinn anzubieten, wo der Rechtsstaat nur den Freiheitsrahmen bietet, innerhalb dessen der Einzelne seinen Sinn selber suchen muß.5 Das moralische Mandat der Kirche liefert eine (allerdings nicht die einzige) Legitimation für die rechtliche Vorzugsstellung, die sie gerade im Staat des Grundgesetzes genießt, für das „Wächteramt“ und für den „Öffentlichkeitsanspruch“, die ihr auch von Staats wegen attestiert wird. Neuartig ist die Erwartung allerdings nicht, die hier erkennbar wird. Die Staatsräson aller Zeiten und Verfassungssysteme hofft von der Kirche, daß sie die moralischen Ingredenzien der Regierbarkeit liefere und die staatsbürgerlichen Pflichten geistlich absichere. Doch der Kirche sind heute viele Konkurrenten erwachsen, die Moral und Lebenssinn anbieten und darin wetteifern, den ethischen Grundkonsens zu bewahren oder zu verändern. Volkserziehung ist demokratischer Volkssport. In der Medien-, Literatur- und Intellektuellenszene haben sich neue Hierarchen erhoben, die nicht müde werden, Gesinnungspostulate für die Politik zu formulieren und die Staatsräson wegzumoralisieren.6 4 Dazu

Böckenförde (Fn. 2), S. 60. Josef Isensee, Demokratischer Rechtsstaat und staatsfreie Ethik, in: Essener Gespräche zum Thema Staat und Kirche, Bd. 11, 1977, S. 92 – 120; ders., Menschenrechte – Staatsordnung – sittliche Autonomie, in: Johannes Schwartländer (Hrsg.), Modernes Freiheitsethos und christlicher Glaube, 1981, S. 101 – 103. 6  Zu „Klassenkampf und Priesterherrschaft der Intellektuellen“: Schelsky (Fn. 1). 5 

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Die Kirche hat Not, im pluralistischen Konzert überhaupt noch erkennbar und unterscheidbar zu bleiben. Es hilft ihr wenig, darauf zu verweisen, daß sie keine eigennützigen Ziele verfolge und aus sachlicher Distanz heraus sich zu den Fragen des Tages äußere. Denn der liberale Glaube baut gerade auf den Wettbewerb der Interessen als den induktiven Weg zum Gemeinwohl. Er mißtraut der Deduktion aus apriorischen Ganzheitsvorstellungen. Und so kann denn die Kirche, die sich zu öffentlichen Fragen äußert, nicht selten den Interessen und der Sachkunde der Betroffenen nicht mehr entgegensetzen als ganzheitlichen Dilettantismus. Als die christliche Lösung gilt es hierzulande, daß die Kirche sich zur Anwältin derer mache, die aus eigener Kraft ihr Interesse im pluralistischen Wettkampf nicht zur Geltung bringen könnten. Das eindrucksvolle Beispiel ist der Einsatz der Kirche für das Lebensrecht des ungeborenen und ungewollten Kindes: ein Zeichen des Ärgernisses für die hedonistische Gesellschaft. Aber dieser Einsatz stellt auch etwas Außerordentliches dar. Im Normalen tut sich die Kirche hierzulande schwer, moralische Marktnischen zu finden. Sie sind zumeist von Lobbyisten und Sozialhelfern besetzt. Der Schutz des Schwächeren ist in der Bundesrepublik längst eine etablierte Herrschaftsideologie, und der Randgruppentitel ist der Ausweis von Anspruchseliten. Die Kirche tut sich auch leichter damit, tätige Caritas zu leisten auf Feldern, die der Sozialstaat (noch) nicht entdeckt hat, als ihr Proprium zu wahren, wenn sie in den politischen und sozialen Wettbewerb eingreift. Sie lebt in der Gefahr, sich moralisch zu blamieren, wenn sie einer Partei des Interessenkampfes ihre Unterstützung gibt und Gruppeninteressen absegnet („Jesus will die 35-Stunden-Woche“). Ethische Gesinnungstüchtigkeit enthebt auch die Kirche nicht vom Erfordernis der Urteilskraft. Es ist nur ein hauchdünner Unterschied zwischen der Torheit in Christo und dem nützlichen Idiotentum nach Lenin.

V.  Die Transzendenzausrichtung der Kirche als Voraussetzung für die Freiheitlichkeit des Staates Im freiheitlichen Gemeinwesen vermag die Kirche nur bedingt ihre Besonderheit oder gar ihre Unentbehrlichkeit zu erweisen, soweit sie sich als moralische Instanz und Sinnvermittlerin unter säkularem Aspekt darstellt. Moral und Sinnangebot können nur spezifischen Charakter erhalten durch ihre unlösbare Verbindung mit dem Glauben. Die Kirche kann sich nur als Kirche im Pluralismus behaupten: als religiöse transzendenzgerichtete Kraft. Es gibt ein Grundbedürfnis des Menschen, das, soweit überhaupt eine Institution zuständig ist, nur von der Kirche gestillt werden kann: das religiöse Bedürfnis, also das Streben nach letzter Wahrheit, nach höchster Vollkommenheit, nach dem Sinn hinter jedem Sinn. Der Absolutheitsdrang gehört zur Wesensnatur des Menschen wie nur irgendein Vital- oder Machttrieb.

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Der freiheitliche Staat vermag ihm keine Erfüllung zu bieten. Er vermag überhaupt nur zu existieren, solange er nicht dem Anspruch nach dem Absoluten ausgesetzt ist. Der demokratische Staat ist das System des Ausgleichs widerstrebender Interessen und der Begrenzung staatlicher Ziele und Mittel. Sein weltanschauliches Fundament, wenn es überhaupt ein solches gibt, ist pragmatischer Relativismus.7 Um der Freiheit und des Rechtsfriedenswillen hält er sich offen in der Frage nach der Wahrheit. Die Fragen nach der Gerechtigkeit und dem Gemeinwohl bleiben ihm immer diskutabel. Der demokratische Rechtsstaat ist ein Staat des Maßes. Er ist auch nur maßvollen politischen Hoffnungen gewachsen. Der heilige Eifer des Menschheitsbeglückers muß sich an den Institutionen reiben, welche die Bürgerfreiheit ermöglichen und die Staatsmacht begrenzen: an Mehrheitsprinzip und Repräsentation, an Gewaltenteilung und Verfahrensstrenge, an rechtlicher wie politischer Kontrolle, an Ausgrenzungen des Unabstimmbaren und an grundrechtlichen Verbürgungen privater und gesellschaftlicher Autonomie. Was diese so differenzierte und limitierte Staatsorganisation an Entscheidungen hervorbringen kann, ist kaum mehr als mühseliger Kompromiß, leidlicher Fortschritt, kleineres Übel, Ausgriff ins Ungewisse. Die liberale Demokratie erwartet von ihren Bürgern gleichsam sportliche Tugenden. Sie müssen sich den Spielregeln des Verfahrens unterwerfen und Sieg oder Niederlage in diesem Verfahren annehmen. Sie dürfen den Kampf für die Gerechtigkeit nur in den Bahnen des Rechts führen. Sie müssen den Rechtsgehorsam leisten, auch wenn das Gesetz unsinnig erscheint. Sie können sich der demokratischen Notwendigkeit zur Diskussion über politische Entscheidungsfragen selbst dann nicht durch Eigenmacht entziehen, wenn sie sich im sicheren Bereich der Wahrheit wähnen.8 Der freiheitliche Staat kann die Pflichten allen seinen Bürgern zumuten, weil die Entscheidungen, die sie zu ertragen haben, nicht die letzten Dinge – Wahrheit, Sinn, Heil – betreffen, sondern nur praktische Fragen des Zusammenlebens. Niemand tut sich leichter, mit den Grundanforderungen der liberalen Demokratie zu leben, als der Christ. Das Heil, auf das er hofft, liegt nicht in der Zeitlichkeit. Er ist kraft seines Jenseitsglaubens immun gegen die Utopie der irdischen Paradiese. Der Staat bleibt verschont von Heilserwartung. Das Politische, in seiner Wichtigkeit reduziert, kann temperiert, diskutabel, pragmatisch, zweckrational werden. Der Gläubige mag in demokratischen Verfahren siegen, als siegte er 7 Vgl.

Hans Kelsen, Vom Wesen und Wert der Demokratie, 21919, S.  98 – 104. diesen Grundpflichten des modernen Verfassungsstaates: Josef Isensee, Die Friedenspflicht der Bürger und das Gewaltmonopol des Staates, in: Georg Müller/René A. Rhinow/Gerhard Schmid/Luzius Wildhaber (Hrsg.), FS für Kurt Eichenberger, 1982, S.  23 – 40; ders., Freiheit ohne Pflichten? Zum verfassungsrechtlichen Status des Bürgers im Staat des Grundgesetzes, 1983. 8 Zu

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nicht, und verlieren, als verlöre er nicht. Er bringt die Grundgelassenheit in das staatliche Leben ein, auf die das moderierte und limitierte Verfassungssystem angewiesen ist. Er findet hier zwar den Ort seiner zeitlichen Bewährung, aber nicht den seiner endgültigen Erfüllung. So kann er sich weder mit den bestehenden Verhältnissen noch mit den Revolutionsidealen vorbehaltlos identifizieren. Er findet sich mit dem irdischen Scheitern allen Vollkommenheitsstrebens ab und akzeptiert in der Unvollkommenheit des Menschen und seiner Umwelt die Rahmenbedingungen des liberalen Verfassungsstaates. Der Staat ohne Transzendenz lebt also vom Transzendenzglauben seiner Bürger. Die Emanzipation des Staates von der Religion, die Karl Marx als eine absolute ansah, beschränkt sich in Wahrheit nur auf das Rechtliche und Institutionelle. Unterschwellig bleibt er von ihr abhängig. Die Religion absorbiert das Grundbedürfnis des Menschen, das der Staat nicht erfüllen könnte und das, sollte es sich auf ihn richten, ihn, wie er als freiheitlicher Verfassungsstaat ist, vernichten müßte. Eine negative Bedingung seiner Existenz liegt also darin, daß eine hinreichende Zahl von Bürgern ihr Heil nicht von ihm erwartet. Der höchste und der spezifische Dienst, den die Kirche dem säkularen Staat leisten kann, besteht darin, daß sie ihre religiöse Sendung erfüllt und den Glauben an jenes Reich lebendig hält, das nicht von dieser Welt ist. Sie stützt den Staat dadurch, daß sie ihr Anderssein kraftvoll behauptet. Sie bringt ihn in Gefahr, wenn sie sich ihm anpaßt durch Aufgehen in innerweltlicher Aktivität, Transzendenzvergessenheit, Säkularisierung.

VI.  Der heilspolitische Totalitarismus und die christliche Gewaltenteilung Die Umsetzung der religiösen Hoffnung in politische Hoffnung führt zur Veränderung der staatlichen Ziele. Die pragmatischen, sich gegenseitig relativierenden, erreichbaren Ziele steigern sich zu politischen Utopien, die von der politischen Praxis nicht einholbar sind, die daher die bestehenden Verhältnisse dauerhaft deklassieren und die Revolution als Dauerzustand legitimieren. Gerechtigkeit löst sich total von der unter demokratischen Kompromißbedingungen zustandegekommenen, stets diskutablen und revidierbaren Legalität und wird „wahre“ Gerechtigkeit. Freiheit darf nicht rechtsbegrenzte Grundrechtsfreiheit im Kontext der Staatlichkeit sein; sie muß vollkommene Freiheit werden als Emanzipation von allen Bindungen. Der Frieden darf nicht „negativ“ bleiben als Abwesenheit von privater und militärischer Gewaltanwendung; er wird „positiver“ Frieden als das Reich vollkommener sozialistischer Gleichheit. Selbst das sozialversicherungsrechtliche Schutzgut der Gesundheit darf sich nicht auf Abwesenheit von Krankheit beziehen, sondern auf Herstellung von physischem und psychischem Glück. Auch die rechtlichen Ziele der Verfassung, von der Men-

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schenwürde bis zur sozialen Gerechtigkeit, werden zu uneinlösbaren Verheißungen hochinterpretiert, so daß die „Verfassungswirklichkeit“ in wesenlosem Scheine dahinter zurückbleibt.9 Die politische Hoffnung greift aus in die innerweltliche Unendlichkeit, welche die eschatologische Unendlichkeit ersetzt – und den politischen Pragmatismus disqualifiziert. Das säkularisierte Christentum findet sein Genügen letztlich nur in den Endzeitvisionen irdischer Vollkommenheit, wie sie der Chiliasmus aller Zeiten, von Joachim von Fiore bis zu Karl Marx entworfen hat.10 Die politische Gegenströmung zur unendlichen Hoffnung ist die Angst. Angst nicht verstanden als Furcht vor einer konkreten, dingfest zu machenden Gefahr. Gefahrenabwehr und Herstellung der „Freiheit von Furcht« gehören zu den klassischen rationalen Aufgaben des modernen Staates seit Thomas Hobbes. Angst vielmehr mit Kierkegaard und Heidegger als Grundbefindlichkeit des Menschen, Folge seines Ausgesetztseins in der Welt. Angst ist mit staatlicher Zweckrationalität nicht zu bannen. Aber sie kann politisch ausgenutzt werden, um das Normalitätsbewußtsein der Bürgerschaft zu zerstören, auf dem die Normen des demokratischen Rechtsstaates aufbauen, und den Ausnahmezustand zu legitimieren, in dem die Legalität abdankt und jedes Mittel recht ist, um den Ernstfall zu bestehen und den Atomkrieg oder den ökologischen Weltenbrand in letzter Minute abzuwehren. Die Weltuntergangsangst wird der Putativtitel des Widerstandsrechts, das den demokratischen Rechtsstaat in Bedrängnis bringt.11 Der Ausnahmezustand wird zum neuen Normalzustand. Wo Angst waltet, weicht die Rationalität, auf die der moderne Staat gegründet ist. An ihre Stelle tritt die Gesinnung, das „richtige“ Bewußtsein. Religiös aktivierte Politik ist ungeduldig, unnachsichtig, fanatisch, monomanisch. Für das eine Ziel ist kein Preis zu hoch. Sie kennt nicht Abwägung und Ausgleich. Sie läßt sich nicht ein auf Mehrheitswerbung, auf Verhandlung und Kompromiß, auf Verfahren und Kontrolle. Sie kann nicht verlieren. Sie hat die Wahrheit, und die Wahrheit beugt sich nicht der Mehrheit. Die liberale Demokratie setzt voraus, daß Politik Handeln in Ungewißheit ist. Der säkular-religiöse Politiker aber handelt in der absoluten Glaubensgewißheit über Gut und Böse, Heil und Unheil, Erlösung und Verdammnis.

9 Dazu Wilhelm Hennis, Verfassung und Verfassungswirklichkeit – Ein deutsches Problem, 1968, S. 22 f. et passim. 10 Dazu Reinhart Maurer, Chiliasmus und Gesellschaftsreligion. Thesen zur politischen Theologie, in: Jacob Taubes (Hrsg.), Der Fürst dieser Welt – Carl Schmitt und die Folgen, 1983, S. 117 – 135. 11 Dazu Josef Isensee, Widerstand gegen den technischen Fortschritt, in: DöV 1983, S.  565 – 575.

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Die politisierte religiöse Energie muß, wenn sie die angemessene Quantität erreicht, den freiheitlichen Staat als Friedens- und Handlungseinheit auflösen und anarchisieren. Die Souveränität geht über auf jene Ayatollahs, welche die Macht haben, über die Wahrheiten zu verfügen, die dem jeweiligen Hoffnungsund Aufregungsbedarf entsprechen. Die Wahrheit kann allerdings auch staatlich verfestigt und die Kompetenz zur Wahrheitsdefinition staatlich institutionalisiert werden. Das Muster ist der totalitäre Wahrheitsstaat des realen Sozialismus. Der totalitäre Wahrheitsstaat, nach seinem machttechnischen Potential die höchste Steigerung der Staatlichkeit in der Geschichte, ist in seinen Strukturen der tiefste Rückfall in die Barbarei. Er hat nicht nur die liberalen und demokratischen Strukturen zerbrochen, sondern auch die humane Zweckrationalität, die am Anfang des modernen Staates steht. Er fällt zurück hinter das mittelalterliche Gemeinwesen, das aus der Polarität von Staat und Kirche gelebt hat. Er vereinigt brutal, was seit Augustinus geschieden wird und setzt sich über die „absolute Entzweiung“ (Hegel) hinweg, die seit dem Christentum das Wesen des abendländischen Menschen ausmacht. Das Christentum hat die Gewaltenteilung gebracht, die allen verfassungsrechtlichen Gewaltenteilungen vorausliegt: den Dualismus der zwei Reiche, von Immanenz und Transzendenz, von Politik und Religion, von Staat und Kirche.12 Alle verfassungsrechtlichen Begrenzungen folgen der fundamentalen christlichen Voraussetzung, daß der Staat nicht mehr wie die antike Polis den ganzen Menschen in Anspruch nehmen kann, daß Cäsar nicht zukommt, was Gottes ist. Die transzendente Botschaft vom Reich Gottes hat damit eine wesentlich politische Konsequenz: die Absage an den politischen Totalitarismus. Solange die Kirche die Lehre vom Reich Gottes gegen die Okkupation durch die Reiche dieser Welt verteidigt, schützt sie die christliche Gewaltenteilung, in ihr die Bedingung der Möglichkeit humaner Existenz im säkular-freiheitlichen Staat.

12  Zum Dualismus des Christentums: Ernst-Wolfgang Böckenförde, Zum Verhältnis von Kirche und moderner Welt, in: Reinhard Koselleck (Hrsg.), Studien zum Beginn der modernen Welt, (Industrielle Welt, Bd. 20), 1977, S. 159 – 161; Peter Koslowski, Gesellschaft und Staat, 1982, S. 47 – 164.

Zivilreligion in der Demokratie Zivilreligion in der Demokratie Zivilreligion in der Demokratie

I.  Theonomer oder autonomer Grund des bürgerlichen Gehorsams Als mit der französischen Revolution die moderne Demokratie das Licht einer aufklärerischen Welt erblickte, waren sich Freund und Feind einig, daß mit ihr die hergebrachte Einheit von Staat und Religion zerbrochen und das Band zerschnitten war, das seit Konstantin die weltliche Macht mit der Kirche verbunden hatte. Das demokratische Prinzip, daß alle Staatsgewalt vom Volke ausgeht, wirkte als schroffe Absage an die christliche Lehre, daß alle obrigkeitliche Gewalt von Gott herkomme (Röm 13). So sah es der Papst. In seinem Breve „Quod aliquantum“ von 1791 trat Pius VI. unter Berufung auf den Römerbrief der „absurdesten Freiheitslüge“ (absurdissimum eius libertatis commentum“) entgegen1 und nahm den Kampf auf wider die Lehre von der Volkssouveränität und vom Gesellschaftsvertrag, den die Päpste des 19. Jahrhunderts in heiliger Erbitterung führen sollten. Der philosophische Vater der Demokratie, Rousseau, hatte den Einwand schon vorweggenommen: „gehorchet den Gewalthabern! Wenn dies bedeuten soll: gebet der Stärke, der Gewalt nach, so ist das Gebot gut, aber überflüssig; ich bürge dafür, daß es nie übertreten werden wird. Ich gebe zu, daß jede Gewalt von Gott kommt; aber auch jede Krankheit kommt von ihm; heißt das etwa, deshalb sei es verboten, den Arzt zu rufen? Wenn mich ein Räuber im Waldesdickicht überfällt, so muß ich mich der Gewalt fügen und ihm meine Börse geben; verpflichtet mich aber wohl mein Gewissen, sie zu geben, wenn ich imstande wäre, sie ihm vorzuenthalten? Die Pistole, die er mir vorhält, ist ja am Ende doch immer eine Gewalt.“2 Doch warum soll gerade ich der staatlichen Gewalt gehorchen? Rousseau antwortet: weil ich selbst diese eingesetzt habe über den Gesellschaftsvertrag. Weil ich den allgemeinen Willen als meinen eigenen Willen erkenne und weil ich dadurch, daß ich mich ihm füge, zu mir selbst finde und so wahrhaft frei werde. Ich schulde also Gehorsam, weil das staatliche Gesetz letztlich von meinen eigenen Gnaden ergangen ist, vordergründig von Volkes Gnaden. * Erstveröffentlichung in: Forum für osteuropäische Ideen- und Zeitgeschichte, 14 (2010), Heft 2, S. 35 – 55. 1  Pius VI., Breve „Quod aliquantum“ (1791), Utz/von Galen (Hrsg.), Die katholische Soziallehre in ihrer geschichtlichen Entfaltung (= U-G), Bd. III, 1976, S. 2664 f., Rn. 11. Auf dieser Linie: Gregor VI., Enzyklika „Mirari vos“ (1832), in: U-G I, 1976, S. 150 ff., Rn. 17 – 19. 2  Jean-Jacques Rousseau, Du contrat social, I/3.

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Eine solche säkulare Legitimation von Gesetz und Gehorsam galt den Päpsten des 19. Jahrhunderts als Frevel. Besten Wissens und Gewissens hatten sie die theonome Legitimation jedweder potestas, die sich im Römerbrief findet, bei den Monarchen von Gottes Gnaden monopolisiert und den Gehorsam, den der Christ der Obrigkeit schuldet, in die Treupflicht zur jeweils regierenden Dynastie umgedeutet.3 Auch nachdem Papst Leo XIII. zum pragmatischen Ausgleich mit der Demokratie gefunden und die Neutralität der Kirche in Fragen der Staatsform verkündet hatte, hielt er den fundamentalen Widerspruch zur Doktrin der Volkssouveränität aufrecht: die Regierenden hätten in sich und aus sich nicht die Macht, kraft ihrer Befehlsgewalt den freien Willen anderer zu binden; diese Macht komme nur Gott allein zu. Wer sie ausübe, könne sie notwendigerweise nur als eine ihm von Gott übertragene ausüben. Der offenbar ganz willkürlich erfundene und erdichtete Gesellschaftsvertrag vermöge nicht, der politischen Gewalt soviel Kraft, Würde und Festigkeit zu verleihen, wie der Schutz des Staates und der allgemeine Nutzen der Bürger es erforderten. „Darum müssen die Bürger den Staatsoberhäuptern untertan und ihren Geboten gegenüber gehorsam sein, wie sie Gott selbst gehorchen, nicht so sehr aus Furcht vor Strafe als aus Achtung vor ihrer Majestät, nicht aus Schmeichelei, sondern im Bewußtsein ihrer Pflicht.“4 Die Päpste beschworen die Gefahr, daß der Staat, der sich von seiner religiösen Fundierung löse, dem Untergang geweiht sei. Sie erhielten unerbetene Schützenhilfe durch Nietzsche: Wenn die Religion absterbe, werde auch die Grundlage des Staates erschüttert. Ohne Beihilfe der Priester könne auch jetzt noch keine Macht „legitim“ werden. Der Glaube an eine göttliche Ordnung der Dinge, an ein Mysterium in der Existenz des Staates sei religiösen Ursprungs. Schwinde die Religion, werde der Staat seine alten Isisschleier verlieren und keine Ehrfurcht mehr erwecken. Die Souveränität des Volkes verscheuche auch den letzten Zauber und Aberglauben. Privatunternehmer zögen nunmehr die Staatsgeschäfte an sich. Die Mißachtung, der Verfall und der Tod des Staates seien Konsequenz des demokratischen Staatsbegriffes.5 3  Trockener Kommentar Bernhard Sutors: „Zu politicis können auch Päpste und Bischöfe irren; sie überschreiten das depositum fidei.“ (Geleitwort zu: Rudolf Uertz, Vom Gottesrecht zum Menschenrecht, 2005, S. 12)). 4  Leo XIII., Enzyklika „Diuturnum illud” (1881), in: U-G III, S. 2098 ff., Rn. 8 – 10. Leo XIII., ebd., S. 294 f.; Leo XIII., Enzyklika „Immortale dei” (1885), in: U-G III, S. 2134, Rn. 33, S. 2138 f., Rn. 36; Enzyklika „Libertas praestantissimum” (1888), in: U-G I, S. 194 ff., Rn. 52 f. Zur päpstlichen Kritik an der Lehre von der Volkssouveränität Uertz (Fn. 3), S. 245 ff. Die Lehre, daß der Staat, auch der demokratische, auf geoffenbarter Wahrheit und sittlicher Ordnung beruht, wird bis heute von den Päpsten vertreten (repräsentativ: Johannes Paul II., Enzyklika „Centesimus annus“ [1991], Nr. 46 Abs. 2 und 4). Dazu mit weit. Nachw. Peter Inhoffen, Naturrecht im demokratischen Prozeß, 2008, S. 449 (453 ff.). 5  Friedrich Nietzsche, Menschliches, Allzumenschliches, Aphor. 472 (1878), in: ders., Werke (hrsg. v. K. Schlechta), Bd. 1, 1963, S. 435 (679 ff., 682).

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II.  Rousseau: Religion zum Nutzen des Staates Rousseau hatte die Aporie, die die Päpste und Nietzsche erkannten, bereits selbst gesehen: ob es in einem rein innerweltlich legitimierten politischen System möglich ist, die Bürger zu bewegen, die unvermeidlichen Lasten des Gemeinwesens zu akzeptieren. Die Lasten fallen bei dem holistischen Demokraten Rousseau schwerer aus als bei den Utilitaristen in der Nachfolge von Hobbes und Locke, die lehrten, daß die Kosten des status civilis mehr als aufgewogen werden durch den Nutzen, den dieser durch die Überwindung des status naturalis bringt. Dagegen fordert die Demokratie Rousseaus die ganze Hingabe des Menschen, im Ernstfall die Bereitschaft, das Leben der Pflicht zu opfern. Doch Rousseau hegt Zweifel, ob es dem Konstrukt des Gesellschaftsvertrages gelingt, die bourgeois, die ihren Partikularinteressen verhaftet sind, in citoyens zu verwandeln, die im Allgemeinwillen aufgehen, so daß sich die Raupen des Eigennutzes entpuppen zu Schmetterlingen des Gemeinwohls. Zu den Lasten des staatlichen Daseins gehört, Ungerechtigkeiten zu ertragen. Daß Ungerechtigkeiten immer wieder auftreten, ist Schicksal jedweder Form des menschlichen Zusammenlebens. Auch die weisesten Vorkehrungen des Verfassungsrechts vermögen das Übel nicht zu bannen, damit auch nicht die Gefahr nachhaltiger Unzufriedenheit der Bürger und latenter Delegitimation der Verfassung. Was die Verfassung nicht leistet, so Rousseau, soll die Religion bewirken: daß die Bürger sich über die irdischen Unzulänglichkeiten des Gemeinwesens mit der Hoffnung auf ein gerechtes Jenseits hinwegtrösten, daß sie sich gleichwohl rückhaltlos dem diesseitigen Gemeinwesen hingeben und lernen, die staatlichen Pflichten zu lieben. Die Religion, die Rousseau meint, ist nicht das Christentum, jedenfalls nicht so, wie er es vorfindet, ein Christentum, das die Menschen von den politischen Geschäften ablenkt auf ein Reich, das nicht von dieser Welt ist, das den Streit um das richtige Verständnis des Glaubens entfacht und das Volk spaltet, das eine vom Staat unabhängige, eigene Ämterhierarchie bildet, so daß dem Adler des Gemeinwesens zwei Köpfe entwachsen. Diese zwei Köpfe gilt es, wieder zu vereinigen. Es darf also nur eine Religion geben, und diese muß so konzipiert werden, daß sie die innere Einheit des Staates festigt, seine Verfassung legitimiert und die Herzen der Bürger an das Gemeinwesen bindet. Eine solche „religion civile“ bildet ein bürgerliches Glaubensbekenntnis, dessen Artikel das Staatsoberhaupt festsetzt. Die Dogmen der bürgerlichen Religion müssen einfach, gering an Zahl und bestimmt ausgedrückt sein und keiner Auslegungen und Erklärungen bedürfen. Das Dasein einer allmächtigen, weisen, wohltätigen Gottheit, einer alles umfassenden Vorsehung; ein zukünftiges Leben, die Belohnung der Gerechten und Bestrafung der Gottlosen, die Heiligkeit des Gesellschaftsvertrages und der Gesetze, das sind die positiven Glaubenssätze. Was die negativen anlangt, so be-

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schränken sie sich auf das Verbot der Unduldsamkeit.6 Ansonsten dürfen Bürger glauben, was sie wollen, soweit der Glaube nicht die staatliche Ordnung stört. Da der Staat „in der andern Welt keine Befugnis hat, so braucht er sich um das Los seiner Untertanen in dem zukünftigen Leben nicht zu kümmern, wenn sie nur in dem irdischen gute Bürger sind.“7 Das Verbot der Unduldsamkeit bezieht sich auf diesen überschießenden Teil echter Religion, die nur nach Maßgabe ihrer Allgemeinverträglichkeit toleriert wird. Die religion civile aber kennt keine Toleranz. Der Religionsverweigerer wird verbannt. Der Renegat verfällt der Todesstrafe. Damit entwirft Rousseau das Urbild der Zivilreligion: einer transzendenzentkernten Religion zum Nutzen des Staates. Deren Aufgabe ist es, die bestehende staatliche Ordnung zu legitimieren, die Gehorsams- und Opferbereitschaft der Bürger zu motivieren, die Regierbarkeit zu erleichtern, das staatliche Recht zu ergänzen, gleichsam das Schmieröl im Verfassungsgetriebe zu liefern. Der aufgeklärte Staat Rousseaus will mit Hilfe der Zivilreligion die unaufgeklärten und aufklärungsresistenten Faktoren der Psyche des Bürgers auf sich einschwören und sich des Gemüts bemächtigen. Er schmeichelt der Vernunft des Bürgers, aber er begehrt sein Herz. Rousseau sieht das seelische Vakuum, das die reine Zweckrationalität hinterlässt. Er füllt es mit Rudimenten eines Glaubens, den er zuvor selber zersetzt hat, und konstruiert Wahrheiten, an die er selber nicht glaubt. Die Aufklärung hat zunächst die christliche Religion philosophisch ausgerottet, um sie sodann auf künstlichem Wege – gleichsam in der Petrischale der Philosophie – über politische Genmanipulation erneut zu erzeugen.8 Die Zivilreligion Rousseaus tritt in schroffen Widerspruch zum Christentum. Es weigert sich von Anfang an, den Staatsgöttern zu opfern. Auch nach der konstantinischen Wende legitimiert es sich nicht aus dem Nutzen des Staates, sondern aus einer Wahrheit, an der sich der Machtanspruch des Staates bricht. Augustinus verwirft die Praxis ungerechter Machthaber, es den Dämonen nachzutun 6 

Rousseau (Fn. 2), IV, 8. Rousseau (Fn. 2), IV, 8. 8  Zu Wesen, Entwicklung und Erscheinungsformen der Zivilreligion: Hermann Lübbe, Religion nach der Aufklärung, 1986, S. 306 ff.; ders., Zivilreligion. Deutsche Vorbehalte und Missverständnisse (2001), in: ders., Modernisierungsgewinner, 2004, S. 80 ff.; Rolf Schieder, Civil Religion, 1987. Übersicht über die Begrifflichkeit: Heinz Kleger, Zivilreligion, Ziviltheologie, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie (hrsg. von Joachim Ritter et al.), Bd. 12, 2004, Sp. 1379 ff. Von der Zivilreligion zu unterscheiden ist die politische Theologie im Sinne Carl Schmitts. Jene bezieht sich auf Gesinnung und Lebenspraxis der Bürger; diese ist eine Theorie: die Herleitung politischer Begriffe von theologischen Begriffen und die theologische Grundlegung politischer Ordnung (Politische Theologie, 1922; Politische Theologie II, 1970). Gegenposition: Erik Peterson, Der Monotheismus als politisches Problem, 1935, in: ders., Theologische Traktate (Ausgewählte Schriften, Bd. 1), 1994, S. 23 ff. Aus der Sekundärliteratur: Heinrich Meier, Die Lehre Carl Schmitts, 1994; Jan Assmann, Politische Theologie und Israel, 32006. 7 

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und die Menschen in ihre Gewalt zu bekommen, indem sie diese betrügerisch hinters Licht führen. Sie pflegten, unter dem Namen der Religion den Völkern Dinge als wahr einzureden, die sie selbst als lügenhaft erkannt hätten, und sich die Völker untertan zu machen, indem sie diese durch eine solche politische Religion enger zu einer bürgerlichen Gemeinschaft zusammenschlössen. „Welcher schwache, ungebildete Mensch vermochte sich auch der vereinten Betrügerei der staatlichen Machthaber und der Dämonen zu entziehen?“9 Die historische Premiere der Zivilreligion Rousseaus fand statt in der französischen Revolution, freilich noch nicht in ihren Anfängen, als die Kirche bei politischen Ereignissen liturgische Amtshilfe leistete, Messen für die Bastillestürmer zelebrierte oder am 4. August 1789 die Nachtsitzung der Nationalversammlung, in der die Privilegien der Stände fielen, mit einem Tedeum krönte.10 Die praktische Umsetzung erfolgte im Regime der Jakobiner, als Robespierre auf einer Feier im Tuilerien-Garten den revolutionären Kult des höchsten Wesens proklamierte, als mit einer neuen Zeitrechnung die altrömische Einheit von Staat und Religion, nunmehr ein Zeichen der Volkssouveränität, erneuert werden sollte, als die totalitäre Demokratie die Macht über die Seelen beanspruchte und den Terror zur Erlösung des Menschengeschlechts übte.11

III.  „God’s chosen nation“: die Weltmacht USA Völlig anders die Zivilreligion in den Vereinigten Staaten von Amerika. Hier gab es niemals eine Staatsreligion oder eine Staatskirche. Von Anfang an waltet Vielfalt der Konfessionen und Religionsgemeinschaften. Staat und Religion sind rechtlich getrennt. Die Freiheit der Religion gehört zum Kernbestand des Verfassungsrechts. Doch die Gewähr dieser Freiheit hat ihrerseits einen religiösen Duktus. So heißt es in der Virginia bill of rights von 1776: „Die Religion oder die Ehrfurcht, die wir unserem Schöpfer schulden, und die Art, wie wir sie erfüllen, können nur durch Vernunft und Überzeugung bestimmt sein und nicht durch Zwang oder Gewalt; daher sind alle Menschen gleicherweise zur freien Religionsausübung berechtigt, entsprechend der Stimme ihres Gewissens; es ist die gemeinsame Pflicht aller, christliche Nachsicht, Liebe und Barmherzigkeit aneinander zu üben.“12 Bei den Pilgervätern, und nicht nur bei diesen Einwanderern, verbinden sich religiöse mit demokratischen und republikanischen Überzeugungen. Vor den Augen Tocquevilles, der die Demokratie in Amerika beobachtet, erscheint nicht 9 

Aurelius Augustinus, De civitate dei, IV, 32. Hans Maier, Revolution und Kirche, 31973, S. 77 ff. 11  Maier (Fn. 10), S. 125 ff. 12  Section 16. 10 Dazu

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mehr eine kleine Schar Abenteurer, die auszog, jenseits des Meeres ihr Glück zu suchen, sondern „die Saat eines großen Volkes, das Gott mit eigener Hand in ein verheißenes Land geleitet hat“.13 Ein christliches Ethos überlagere die rechtlichen Garantien der Freiheit und steuere deren Ausübung. „Erlaubt also das Gesetz dem amerikanischen Volk, alles zu tun, so hindert die Religion es, alles auszudenken, und verbietet ihm, alles zu wagen. Darum muß die Religion, die sich bei den Amerikanern niemals unmittelbar in die Regierung der Gesellschaft einmischt, als die erste ihrer politischen Einrichtungen gelten.“ Wenn vielleicht auch nicht alle Amerikaner an ihre Religion glaubten, so hielten diese doch alle zur Erhaltung der republikanischen Einrichtungen für nötig.14 In der multireligiösen Gesellschaft ist der kalvinistische Determinismus noch kräftig genug, den politischen Glauben zu nähren, „God’s chosen nation“ zu sein, weil die diesseitigen Erfolge die göttliche Erwähltheit überdeutlich bestätigen.15 Gebet, religiöses Bekenntnis und religiöses Ritual gehören zur Selbstdarstellung des Staates. Auszüge aus dem Protokoll der Amtseinführung des Präsidenten Obama zum 21. Januar 2009: [17:50 Uhr] Der Geistliche Rick Warren spricht das Vaterunser. [18:05 Uhr] Der Präsident wird vereidigt, die Hand auf einer Bibel, die schon Abraham Lincoln 1861 bei seiner Amtseinführung verwendet hat; wie seine Vorgänger fügt er der Eidesformel hinzu: „So help me God.“ [18:26 Uhr] Präsident Obama beendet seine Rede zur Amtseinführung mit den Worten „God bless you and God bless the United States of America“. [18:30 Uhr] Reverend Joseph E. Lowery segnet den neuen US-Präsidenten.

IV.  Kooperation des säkularen Staates mit den Kirchen Und Deutschland? Hier findet sich weder die Nonchalance der Amerikaner noch die doktrinäre Verkrampftheit der Rousseau-Schule. Eigentlich liegt die These nahe: die deutsche Demokratie kenne überhaupt keine Zivilreligion und sie brauche sie auch nicht. Dafür sprechen verfassungsrechtliche Gründe. Die Religionsfreiheit wird von Verfassungs wegen gewährleistet. Der religiös-weltanschauliche Pluralismus, vormals Not, gilt heute als Tugend. Der säkulare Charakter des Staates steht außer Diskussion, mag es 13  Alexis de Tocqueville, De la démocratie en Amérique (1835 – 1840), dt., Über die Demokratie in Amerika, 1976, S. 39. 14  Tocqueville (Fn. 13), S. 339 f. 15 Zur Zivilreligion in den USA: Robert N. Bellah, Civil Religion in America, in: ­Daedalus 96 (1967), S. 1 ff.; Lübbe, Religion (Fn. 8), S. 307 f.; Schieder (Fn. 8), S. 27 ff., 83 ff. (Nachw.); Michael Zöller, Zivilreligion und Politik. Das amerikanische Beispiel, in: Festschrift für Bernhard Sutor, 1995, S. 113 (116 ff.).

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auch Streit im Detail geben wie um das Kreuz im Schulraum oder im Gerichtssaal. Staat und Kirche sind getrennt, von seiten des Staates initiiert nicht aus Berührungsangst und Religionsphobie, wie sie den Laizismus französischer Tradition leiten, sondern in freundlicher Distanz und Anerkennung der Verschiedenheit. Die alten Konflikte aus Reformation, Säkularisierung, Staatskirchentum, Kulturkampf, Kirchenkampf sind beigelegt. Das Grundgesetz beruft sich in seiner Präambel auf Gott. Das aber ist nicht Ausdruck einer Zivilreligion, auch kein postaufklärerischer Kult eines höchsten Wesens, kein Konstrukt der politischen Vernunft. Vielmehr handelt es sich um die Demutsgeste des Verfassunggebers, der dem demokratischen Machbarkeitswahn wie der Selbstherrlichkeit des pouvoir constituant entsagt und sich höherem Recht und dem Recht eines Höheren beugt. Der religiöse Zusatz zur Eidesformel der Amtsträger („So wahr mir Gott helfe.“) ist von Rechts wegen vorgesehen. Doch er ist nicht obligatorisch, daher auch nicht konstitutiv für den Schwur. Das Gesetz des Rechtsstaates bezieht sich nur auf das äußere Verhalten, es fordert nicht Gesinnung. Kantianisch: es fordert Legalität, nicht Moralität. Es respektiert die Freiheit des Gewissens. Zivilreligiösen Zielen widmet sich auch nicht das Staatskirchenrecht, wie es das Grundgesetz gewährleistet. Seine Regelungen, die zu den wenigen eigenständigen Bestandteilen des deutschen Verfassungsrechts gehören, sind Resultate einer schiedlich-friedlichen Auseinandersetzung, die dem Staate geben, was des Staates, den Kirchen, was den Kirchen, und den Individuen, was den Individuen kraft ihrer Religionsfreiheit gebührt. Staat und Kirche sind institutionell getrennt. Sie erkennen sich gegenseitig in ihrer Eigenständigkeit an. Die rechtliche Unabhängigkeit voneinander hindert sie nicht an ihrer Kooperation. Im Gegenteil: sie ermöglicht und fördert geradezu die Zusammenarbeit auf den Feldern, in denen sich ihre beiderseitigen Aufgaben überschneiden: Wohlfahrtspflege, Gesundheitswesen, Erziehung, Bildung. Der Staat fördert kirchliche Einrichtungen, soweit sie ihn von eigenen Aktivitäten entlasten (ein Beispiel: die Katholische Universität); doch er respektiert die programmatische und organisatorische Freiheit des kirchlichen Trägers. Er zieht geradezu Nutzen aus den religiösen Motivationen, die ihm selber fremd sind, weil sie gemeindienliche Leistungen entbinden, die er selber so nicht oder nur mit erheblichem Mehraufwand erbringen könnte. Böckenfördes viel­zitierte Formel beschreibt den Staatskonsens, daß der freiheitliche Staat von Voraussetzungen lebe, die er um der Freiheit willen selber nicht garantieren könne.16 Die Kirchen sehen sich selber gern in der staatskomplementären Rolle dieser Garanten und finden darin die säkulare Rechtfertigung

16  Ernst-Wolfgang Böckenförde, Die Entstehung des Staates als Vorgang der Säkularisation (1967), in: ders., Staat, Gesellschaft, Freiheit, 1976, S. 42 (60); ders., Der Staat als sittlicher Staat, 1978, S. 36 f.

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ihres öffentlichen Wirkens.17 Heute freilich, unter dem Eindruck der ungezählten Fälle des sexuellen Missbrauchs in kirchlichen Einrichtungen, müssen sie sich ihrerseits von der säkularen Gesellschaft belehren lassen, das ethische Minimum der staatlichen Gesetze einzuhalten.

V.  Selbstsäkularisierung der Kirchen Die Kirchen haben zunehmend Schwierigkeiten, ihr konfessionelles proprium in ihren Kindergärten, Schulen, Krankenhäusern, Pflegeheimen zur Geltung zu bringen. Es fällt immer schwerer, Personal zu finden, das durch Arbeit, Überzeugung und Lebensführung den Glauben des Trägers glaubwürdig repräsentiert. Das Modell der kirchlichen Dienstgemeinschaft zerbröselt. Die normalen Nutzer kirchlicher Einrichtungen sind für das eigentlich religiöse Angebot nicht sonderlich empfänglich. Der katholische Kindergarten, der in beträchtlichem Umfang auch muslimische Kinder aufnimmt (muslimische Eltern ziehen die katholischen Einrichtungen den kommunalen wie den evangelischen vor), müssen auf die Sonderbedürfnisse dieser Kinder Rücksicht nehmen, zunächst in der Speisekarte, sodann aber auch in Spielen und Bräuchen, in Liedgut, Gebet, Gottesdienst. Die Kirchen antworten auf die kirchenfremden Erwartungen mit dem Trend zur Selbstsäkularisierung:18 den Trend, sich zu einer aufklärerischen, gemeindienlichen, überkonfessionellen Sozialreligion zu entwickeln und Arm in Arm mit den staatlichen und gesellschaftlichen Potenzen für mehr soziale Gerechtigkeit und Umweltschutz, wider den Klimawandel und wider soziale Diskriminierung zu kämpfen, zugleich diese Ziele religiös zu überhöhen („Bewahrung der Schöpfung“, gottgegebene Würde des Menschen). Unter der Hand mutiert Seelsorge in Lebenshilfe, Caritas in Sozialarbeit, Mission in Entwicklungshilfe. Die Verkündigung richtet sich auf soziale Gerechtigkeit, Ausbreitung und Vertiefung der Menschenrechte, Frieden unter den Völkern, Erlösung von Armut und Unterdrückung, Sozialheil statt Seelenheil: ein Reich Gottes von dieser Welt, in dem nicht der Heilige Geist herrscht, sondern der humanitäre Zeitgeist.19

VI.  Lessings Ringparabel als zivilreligiöses Evangelium Der deutsche Staat unterstützt diesen Trend. Von jeher war er darauf bedacht, die für die Regierbarkeit der Bevölkerung lästigen Folgen der Glaubensspaltung einzuebnen und eine der politischen Einheit nützliche Ökumene herbeizuführen. 17 Dazu Josef Isensee, Verfassungsstaatliche Erwartungen an die Kirche, in: Essener Gespräche 25 (1991), S. 104 ff. 18 Dazu Josef Isensee, Die Säkularisierung der Kirche als Gefährdung der Säkularität des Staates, in: Gerfried W. Hunold/Wilhelm Korff (Hrsg.), Die Welt für morgen, 1986, S. 164 ff. 19 Anschauungsmaterial Andreas Püttmann, Gesellschaft ohne Gott, 2010, S. 206 ff.

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Das heimliche Vorbild ist die Preußische Union von lutherischen und kalvinistischen Kirchenführern, die König Friedrich Wilhelm III. einführte, freilich durch obrigkeitliches Diktat, zuweilen mit militärischem Nachdruck, auf einem Wege also, den heute die Religionsfreiheit versperrt. Doch sanfter Druck geht auch vom Verfassungsstaat aus, der ökumenische Schulgottesdienste und ökumenische Trauerfeiern für gefallene Bundeswehrsoldaten organisiert. Als der Kölner Erzbischof im Jahre 2006 multireligiöse Gottesdienste für katholische Schulen und die Teilnahme der katholischen Kirche an multireligiösen Gottesdiensten an staatlichen Schulen untersagte, damit die religiösen Unterschiede nicht verwischt werden sollten, erntete er scharfe Kritik von Politikern aller Parteien; sie belehrten den Erzbischof, er habe ein „archaisches Religionsverständnis“, die Zeit brauche nicht weniger, sondern mehr Gemeinsamkeit der Religionen.20 Bundespräsident Rau kritisierte als oberster Repräsentant einer theologia popularis die katholische Kirche, weil sie einen Theologen suspendiert hatte, der auf dem ökumenischen Kirchentag die Kommunion auch an Protestanten ausgeteilt hatte.21 Der Pluralismus, den die politische Rhetorik und die politische Theorie heute als segensreiche Basis der liberalen Demokratie feiern, wird dort perhorresziert, wo er sich zu vollem Ernst erhebt: in der Religion. Die Demokratie, die ihrem Wesen nach eigentlich taub ist für die religiöse Wahrheitsfrage, strebt im Stillen nach religiöser Homogenität, die heikle Widersprüche in der Gesellschaft aufhebt und das Regieren erleichtert wie vormals der absolute Monarch sie offen anstrebte: un roi, une loi, une foi. Wie zu dessen Zeiten geht es auch der Demokratie darum, daß die Religion dem politischen System kompatibel wird und sich dem Geist der Aufklärung fügt, dem sie ihrerseits entstammt. Das latente Religionsideal, das im Schulunterricht auch offen verkündet wird, ist das der Ringparabel Lessings, das jeder Religion den Wahrheitsanspruch aberkennt, aber alle auffordert, im duldsamen Wettbewerb sich im allgemeinen Interesse um das Humanum zu mühen. Der Verfassungsstaat mag das für sich so sehen. Er ist nur für praktische Aufgaben des Diesseits zuständig, nicht für ewige Wahrheiten. Er identifiziert sich mit keiner Wahrheit. Dagegen bietet er allen seinen Bürgern die Freiheit dazu, selbst auf die Suche nach der Wahrheit zu gehen, an der erkannten Wahrheit festzuhalten und ihr gemäß zu leben. Insofern folgt er einem politischen Als-ob-Relativismus.22 Doch neigt er dazu, der Kirche den echten, den religiös-weltanschaulichen Relativismus aufzudrängen und damit ihre Legitimation als Kirche in Frage zu stellen. Die Kirchen aber verlieren

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Die Welt v. 8. 12. 2006. FAZ v. 21. 7. 2003, Nr. 166, S. 4. 22  Zum politischen Relativismus der Demokratie: Hans Kelsen, Von Wesen und Wert der Demokratie, 21929, S. 98 ff. 21 

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ihre Legitimation, wenn sie nachgeben. Denn ihr Anspruch richtet sich auf das Absolute, die Heilswahrheit in Gott. Von Verfassungs wegen steht der Kirche die grundrechtliche Religionsfreiheit zu. Sie übt diese aus, aber sie ist nicht ihrerseits an sie gebunden. Eine solche Bindung wäre geradezu die Perversion der grundrechtlichen Freiheit, weil damit die Kirche religiös neutralisiert und um ihr Wesen als Kirche gebracht würde. Gleichwohl steht sie unter offenem Anpassungsdruck der profanen Gesellschaft wie unter latentem des Staates, wenn sie die Disziplin ihrer Amtsträger in Fragen der Glaubensverkündung und Lebensführung einfordert, wenn sie ihre Lehre auch in Abgrenzung von anderen Konfessionen definiert und sich dem ökumenischen Abendmahl verweigert. Nun wird Religionsfreiheit der Kirchenmitglieder und -amtsträger gegen die „Amtskirche“ eingefordert, die Demokratisierung der Hierarchie verlangt und die Gleichberechtigung von Männern und Frauen wider den Zölibat in Stellung gebracht, im Namen von Freiheit und Gleichheit die Kirche gleichgeschaltet. Der Druck steigert sich, wenn die Kirche in äußere oder innere Schwierigkeiten gerät. Dabei spielt es keine Rolle, dass ähnliche Schwierigkeiten auch im profanen Raum auftreten. Die Unterwerfung unter die Maßstäbe der Grundrechte und der Demokratie gilt als ein Akt der Erlösung von Übeln. Das Anderssein von Kirche und Christentum erscheint als ein Übel, an dem der liberale Fundamentalismus Anstoß nimmt. Die staatliche Wunschökumene weitet sich heute aus auf den Islam. Die politische Theologie beschwört die Einheit der abrahamitischen Religionen und die Einheit der Buchreligionen. In der gesellschaftlichen Realität zeigt sich allerdings, daß der importierte Islam, aller Schönrederei zum Trotz, ein Fremdkörper in der deutschen Gesellschaft ist, der sich nicht den Gegebenheiten fügen will: das Zentrum der Integrationsresistenz der Zuwanderer. Eben darum bemüht sich die deutsche Integrationspolitik, einen aufklärerischen und verfassungsverträglichen Euro-Islam, wenn nicht gar einen Teuto-Islam, zu züchten dadurch, daß sie ihm eine genuin fremde körperschaftliche, gleichsam nationalkirchliche Organisation nahelegt und Religionsunterricht, theologische Fakultäten, Lehrer- und Predigerausbildung im staatlichen Rahmen anbietet, wenn er sich bereiterklärt, die deutschen Verfassungswerte anzunehmen und sich an den deutschen ordre public zu halten. Das deutsche Staatskirchenrecht wird heute neu entdeckt als Instrument zur Integration der Muslime.23 Die politische Wunschökumene weist Züge einer Zivilreligion auf. Denn sie dient Bedürfnissen des Verfassungsstaates, wenn sie Integrationshindernisse abbaut, soziale Brisanz entschärft, politisches Störpotential beseitigt. Damit erleichtert sie der liberalen Demokratie das Leben, aber sie führt ihr von sich 23 Näher Josef Isensee, Integration mit Migrationshintergrund, in: JZ 2010, S. 317 (319 ff.).

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aus keine Lebenskraft zu. Insoweit ergibt sie noch nicht eine Zivilreligion im Vollsinne.

VII.  Nationalismus Eine ganzheitliche Zivilreligion blühte im Nationalstaat des 19. Jahrhunderts. Die Nation nahm hier sakrale Züge an. Das Vaterland feierte sich als das „heilig Herz der Völker“. Die Bürger beteuerten im Gesang, daß sie sich ihrem „Land voll Lieb’ und Leben“ „mit Herz und mit Hand“ ergäben. Schuldirektoren lehrten unter Berufung auf Horaz, daß es süß und ehrenvoll sei, für das Vaterland zu sterben, und bereiteten ihre Schüler im Sinne Rousseaus darauf vor, im Ernstfall das Leben ihrer Pflicht zu opfern. Das Vaterland fand seine Helden und Märtyrer, denen es Denkmäler weihte und Heldenfriedhöfe widmete. Dem unbekannten unter den Gefallenen brannte und brennt unter dem Arc de Triomphe ein ewiges Licht. Dem Vaterland wurden Altäre errichtet (besonders kolossal das Viktor-EmanuelDenkmal in Rom); Altäre, an denen die Nation mit politischen und militärischen Kulten sich voller Stolz selbst zelebrierte. Nichts von alledem ist zurückgeblieben in der politischen Psyche der Deutschen. Sie sind nach dem Exzeß des Nationalismus ausgenüchtert. Sie haben keinen Bedarf mehr nach nationalen Kultstätten, politischen Zeremonien und militärischem Heldenwesen. Die bloße Idee eines Bürgeropfers ist schon verpönt.24 Individualismus, Utilitarismus, Funktionalismus, Hedonismus, Pazifismus und die anderen Triebe der heutigen Gesellschaft lassen nur wenig Raum für nationales Pathos und Ethos. Der Patriotismus kümmerte denn auch lange dahin. Erst in jüngerer Zeit beginnt er sich, zumal im Sog von Fußballweltmeisterschaften, unbefangen, lässig und fröhlich zu regen, jedoch ohne zivilreligiöse Anwandlungen.25

VIII.  Politische Erbsünde und Bußrituale Gleichwohl hat sich ein Patriotismus neuer Art entwickelt: in der fundamentalen Abkehr der Deutschen vom Nationalsozialismus, verbunden mit dem Eingeständnis des nationalen Unrechts, das dieses Regime im Namen Deutschlands begangen hat. Die Hitler-Ära wird zum negativen Zentrum der deutschen Geschichte. Alle Begebenheiten und Leistungen, Personen und Traditionen müssen sich in einem Dauerprozeß darauf überprüfen lassen, ob sie hitlerermöglichend oder hitlerretardierend gewirkt haben. 24 Dazu

Otto Depenheuer, Das Bürgeropfer im Rechtsstaat, in: Festschrift für Josef Isensee, 2007, S. 43 ff. 25 Zur Entwicklung nach 1945: Volker Kronenberg, Patriotismus in Deutschland, 2 2006, S. 175 ff.

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Die Hitler-Ära wird aus der Geschichte herausgelöst und als das absolute Unheil gedeutet, das der deutschen Nation das Kainsmal für alle Zeiten aufgedrückt hat. Das Ereignis darf nicht historisiert und damit relativiert werden. Das ist das politische Dogma, dem sich, wie der Historikerstreit gezeigt hat, auch die Geschichtswissenschaft zu unterwerfen hat. Der historische Vergleich, ohne den sich historische Einzigartigkeit nicht erschließen läßt, ist verpönt. Die Deutschen wollen sich auch in ihren Verbrechen von keiner anderen Nation übertreffen lassen und wenigstens im Schlimmen unvergleichlich bleiben. Die Nazi-Greuel werden zum Bestandteil nationaler Identität. Das erklärt die Schwierigkeiten, die die Deutschen mit sich selbst haben. Lange haben sie versucht, der ungeliebten nationalen Identität zu entrinnen durch das Aufgehen in einer supranationalen, europäischen Identität. Doch die anderen europäischen Nationen machen nicht mit. Und so sind die Deutschen wieder auf sich selbst zurückgeworfen. Immerhin hält das NS-Unrecht die Nation zusammen, schon deshalb, weil mit ihrer Auflösung auch kein Subjekt mehr existierte, dem das Großverbrechen zuzurechnen wäre. Die Leugnung des Holocaust wird in Deutschland unter Strafe gestellt. Darin liegt ein Widerspruch zur grundrechtlich gewährleisteten Liberalität des Gemeinwesens, das darauf vertraut, daß die historische Wahrheit sich aus eigener Kraft behauptet und der Unbelehrbarkeit des trüben Restes derer, die sich ihr verschließen, auch mit staatsanwaltschaftlichen Methoden nicht abzuhelfen ist. Geschichtslehre ist Aufgabe der Schule, nicht der Strafanstalt. Die Bundeskanzlerin Merkel hält es für angebracht, im Februar 2009 Papst Benedikt XVI. Unklarheit in seiner Einstellung zum Judenmord zu unterstellen, weil mit der Aufhebung der Exkommunikation der Pius-Bruderschaft auch ein Bischof begünstigt worden sei, der den Holocaust in Abrede stelle. Sie erklärte es zur deutschen Staatsraison, daß es die Leugnung des Holocaust nicht geben dürfe.26 Damit greift sie auf eine Kategorie Machiavellis zurück und beruft sich auf ein Staatsinteresse, das ohne Rücksicht auf Recht und Moral durchzusetzen ist. – Das Bundesverfassungsgericht sieht, daß das Verbotsgesetz des § 130 Abs. 4 StGB nicht den regulären Bedingungen entspricht, die das Grundgesetz für eine gesetzliche Einschränkung der Meinungsfreiheit vorsieht, nämlich die Qualität eines allgemeinen Gesetzes (Art. 5 Abs. 2 GG). Gleichwohl hält es in diesem Falle ein nichtallgemeines Gesetz praeter constitutionem für zulässig: „Angesichts des sich allgemeinen Kategorien entziehenden Unrechts und des Schreckens, die die nationalsozialistische Herrschaft über Europa und weite Teile der Welt gebracht hat, und der als Gegenentwurf hierzu verstandenen Entstehung der Bundesrepublik Deutschland ist Art. 5 Abs. 1 und 2 GG für Bestimmungen, die der propagandistischen Guthei26 Kommentare: Reinhard Müller, Deutschlands Staatsraison, in: http://www.faz.net/ aktuell/politik/antirassismuskonferenz-deutschlands-staatsraeson-1789947.html; Stephan Detjen, Die Kanzlerin, der Papst … und die Holocaust-Leugner, in: http:/www.radio.de/ dlf/sendungen/themenderwoche/916216.

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ßung des nationalsozialistischen Regimes Grenzen setzen, eine Ausnahme vom Verbot des Sonderrechts für meinungsbezogene Gesetze immanent.“27 Der Negativpatriotismus ist zivilreligiös aufgeladen. Die NS-Schuld ist die deutsche Erbsünde, die auch auf den Nachgeborenen lastet und zu der sich diese zu bekennen haben. Auschwitz wird zum säkularen Golgotha, mit dem die neue Zeitrechnung beginnt. „Nach Auschwitz“: das ist nunmehr die unheilsgeschichtliche Zäsur, nach der man bestimmte Dinge nicht mehr tun, sagen, denken darf und andere tun, sagen, denken muß. So jedenfalls die selbstermächtigten Prediger und Volkserzieher, die um die furchtbare Wahrheit immer weitere Tabuzonen der politischen Korrektheit legen. Wer sich in eine solche Zone begibt, senkt die Stimme, um kein falsches Wort zu sagen. Selbst die gutgemeinte Rede, so mußte es ein Präsident des Deutschen Bundestages erfahren, kann, wenn sie, ungeschickt vorgetragen, das hochreizbare Empfinden verletzt, den Kopf kosten, obwohl der Text der Rede an sich untadelig ist. Es entwickeln sich Kultstätten, Wallfahrtsorte, Gedenkrituale, Sündenbekenntnisse, Bußübungen. Wie im echt religiösen Milieu gedeihen Zelotismus, Pharisäertum und Heuchelei, Denunziation, Inquisition, Verängstigung, zivilreligiöse Bigotterie. Auch unabhängig von der Bewältigung der moralischen NS-Lasten haben sich in der deutschen Demokratie quasireligiöse Beicht-Ersatz-Rituale entwickelt für Personen des öffentlichen Lebens, die gegen gesellschaftliche Regeln, zumal solche der political correctness, verstoßen haben und dessen überführt worden sind. Dieses Ritual, das sich jenseits der rechtsstaatlichen Normen, Verfahren und Sanktionen vollzieht, ist das Gegenteil einer katholischen Ohrenbeichte. Es ähnelt dem öffentlichen Sündenbekenntnis in Sektengemeinschaften. Der bußfertige Sünder der Demokratie legt sein Bekenntnis in der Pressekonferenz vor Fernsehkameras ab, bekundet Reue und guten Vorsatz und bittet die öffentliche Meinung um Lossprechung. Die öffentliche Meinung übernimmt die Funktionen. Wer sich dem Ritual unterzieht wie Ex-Bischöfin Käßmann, darf auf Absolution hoffen. Wer sich verweigert wie Bischof Mixa, verfällt in Acht und Bann.

IX.  Verfassungspatriotismus Der Negativpatriotismus der Deutschen hat ein positives Pendant: den Verfassungspatriotismus.28 Der Verfassungspatriotismus als solcher ist hier nicht Thema, wohl aber ein Phänomen, das sich mit ihm gern verbindet: der zivilreligiöse Kult der Verfassung. 27 

BVerfGE 124, 300 (327 f.). Bernhard Sutor, Verfassungspatriotismus – Brücke zwischen Nationalbewußtsein und universaler Ethik?, in: Günter C. Behrmann/Siegfried Schiele (Hrsg.), Verfassungspatriotismus als Ziel politischer Bildung, 1933, S. 36 ff.; ders., Verfassungspatriotismus – ein 28 

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Bis in das 18. Jahrhundert führt die Tradition zurück, die Verfassung religiös zu überhöhen. In der französischen Revolution erlangt „Verfassung“ emphatischen Sinn wie „Freiheit“ und „Gleichheit“. Frankreich gerät in „Verfassungsfieber“, das ganz Europa anstecken soll.29 Auf die Verfassung richten sich politisch gewendete religiöse Hoffnungen einer sich zunehmend entchristlichenden Gesellschaft, die Erlösung von den Übeln des ancien régime und ihr Heil in einem irdischen Paradiese sucht. Die Verfassung soll „der Katechismus des Menschengeschlechts“ sein, und der Jakobiner erwartet, daß „die verheirateten Priester, ihre Irrtümer erkennend, die sie früher gepredigt haben, künftig das Evangelium des Tages, die heilige Verfassung erklären werden.“30 Die Verfassung wird sakralisiert. Die Menschen- und Bürgerrechte gelten nicht nur als natürlich und unveräußerlich, sie werden als „heilige“ Rechte ausgerufen – „les droits naturels, inaliénables et sacrés de l’homme“ – in feierlicher Erklärung – „déclaration solennelle“.31 Die Menschenrechtserklärung und die ihr folgenden Verfassungstexte nehmen den Duktus der christlichen Glaubensbekenntnisse an, die das Ganze der Glaubenswahrheit in eherne, große und einfache Worte fügen. Die Verfassung erhebt sich zu Predigt und Bekenntnis, übernimmt die Sakralsprache, den erhabenen Tonfall ewiger Wahrheit, der Heils- und Unheilsgewißheit oder auch einer herablassenden Volkskatechese. So verkündet die Jakobinerverfassung von 1793 „in Gegenwart des Allerhöchsten“ – „en présence de l’Être suprême“ – die (inzwischen revidierten und insoweit auch sicherheitshalber suspendierten) Menschenund Bürgerrechte, unter denen das Recht des Volkes zum Aufstand das „heiligste seiner Rechte und die unerläßlichste seiner Pflichten“ sei. Sie ehrt „Treue, Mut, kindliche Liebe und Unglück“ und stellt sich unter die „Hut aller Tugenden“. Das Verfassungswerk der Jakobiner soll nicht zurückstehen hinter Moses’ Tafeln des Dekalogs: Die Erklärung der Menschenrechte und die Verfassungsurkunde sollen eingegraben werden in Tafeln inmitten der Gesetzgebungskörperschaft und auf öffentlichen Plätzen.32 Die Beschwörung des höchsten Wesens ist nicht Akt der Demut des Gesetzgebers, der die Verfassung macht, sondern Versuch einer überholtes Konzept?, in: Die politische Meinung 41 (1996), S. 88 ff. Zum Meinungsstand Kronenberg (Fn. 25), S. 189 ff. (Nachw.). 29  So Charles Pierre Ducancel, La constitution non écrite du royaume de Françe, Paris 1814, S. 1. Zitiert nach Wolfgang Schmale, Entchristianisierung, Revolution und Verfassung. Zur Mentalitätsgeschichte der Verfassung in Frankreich, 1715 – 1794, 1988, S. 12. 30  Zitiert nach Schmale (Fn. 29), S. 13. Zu vergleichbaren Strebungen „demokratischen Glaubens“ in der Verfassungsgeschichte der USA: Ralph Henry Gabriel, Die Entwicklung des demokratischen Gedankens in den Vereinigten Staaten von Amerika (dt. Ausgabe), 1951, S. 3 ff., 151 ff., passim. S. 12 ff., 117 ff., 151 ff., 389 ff. 31  Präambel der Déclaration von 1789. Ähnlich die Präambel der Déclaration der Verfassung von 1793: „ces droits sacrés et inaliénables“. 32  Verfassung vom 24. Juni 1793; Präambel der Déclaration und Art. 123.

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Überhöhung der Verfassung, ihrer Entrückung, ein Mittel, dem Menschenwerk die Inspiration einer transzendenten Macht zu bescheinigen. Entsprechende Bestrebungen regen sich in den Verfassungserwartungen von Weimar, als der politische Pastor Friedrich Naumann einen Entwurf volksverständlicher Grundrechte propagiert, der volksbelehrend und volkserziehend wirken sollte: Fibel und Bibel der Nation, Volkskatechismus. Der verfassungspastorale Eifer bricht sich an der juridischen Nüchternheit von Hugo Preuß. Aber er lebt nach 1945 wieder auf in manch früher Landesverfassung, so in der des Freistaates Bayern. Dem Grundgesetz ist in seiner ursprünglichen Fassung zivilreligiöser Ehrgeiz fremd. Karg und redlich, wie es ist, spart es an Pathos und an volksbeglückerischer Verheißung. Sein Ehrgeiz besteht darin, als oberstes Rechtsgesetz normative Verbindlichkeit und juridische Seriosität zu erlangen. Es verspricht nicht mehr, als es rechtspraktisch einlösen kann. Daher beläßt es dem politischen Ermessen weiten Spielraum. Die rechtlichen Vorgaben aber, die es trifft, nicht zuletzt die Grundrechte, lassen sich beim Wort nehmen und gerichtlich einklagen. Das Recht des letzten Wortes im gewaltenteiligen System liegt beim Bundesverfassungsgericht. Das Grundgesetz zeigt die Handschrift von Juristen, nicht die von Lehrern und Pastoren. Dem Juristen aber steht nicht der Sinn nach Erbaulichkeit und Andacht, sondern nach rechtlicher Klarheit und praktischer Wirksamkeit. Die juridische Selbstbescheidung, die dem Grundgesetz von Geburt an eigen ist, wird zur Grundlage seines einzigartigen Erfolges. Eben dieser Erfolg ruft die Lehrer, die Pastoren, die Volksbeglücker und Interessenverbände auf den Plan. Nun ist es die offene Gesellschaft der Verfassungsinterpreten, die ihre Meinungen und Interessen, ihre Ideologien und Erlösungshoffnungen in das Grundgesetz hineinlegen und es zum heiligen Buch erheben.33 Die pluralistische, vom Interessenwettbewerb geleitete, politisch verzankte Gesellschaft ist sich in der Zustimmung zum Grundgesetz einig. Daher versuchen alle, was ihnen lieb und heilig ist, in die Interpretation des Grundgesetzes einzubringen. Aus dem Grundgesetz werden, seinem kargen Textbestand zum Trotz, ganzheitliche Programme für Kultur, Wirtschaft, Moral abgeleitet. Die Verfassung erscheint als Sauerteig, der alle Lebensbereiche durchsäuert. Die Verfassung inspiriert den heiligen Wettbewerb, die Verfassungsprinzipien zu steigern, mehr Freiheit zu entbinden, mehr Gleichheit herbeizuführen, mehr Demokratie zu wagen, mehr soziale Gerechtigkeit abzusichern. Je höher die in die Verfassung gesetzten Hoffnungen grei-

33 Näher Josef Isensee, Die Verfassung als Vaterland (1986), in: ders., Recht als Grenze – Grenze des Rechts, 2009, S. 251 (267 ff.); Horst Dreier, Gilt das Grundgesetz ewig?, 2009, S. 98 ff.

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fen, desto lauter tönt das Gejammer über das „nicht erfüllte Grundgesetz“.34 Die Grundrechte, die Kompetenz- und Verfahrensregeln der Verfassung verwandeln sich im Medium der Interpretation zu Grundwerten. Grundwerte kann man nicht praktisch anwenden und vollziehen. Man kann sie nur glauben und sich zu ihnen bekennen.35 Damit erscheint die Verfassung als säkulares symbolum fidei. Wer eingebürgert werden will, muß dieses Glaubensbekenntnis ablegen. Wer es verweigert oder schmäht, wird aus der Verfassungsgemeinde verstoßen. Die Zivilreligion trägt in ihrer Verfassungsschriftgläubigkeit protestantische Züge. Diese finden jedoch in der lehramtlichen Letztautorität des Bundesverfassungsgerichts ein katholisches Gegengewicht. In den letzten Jahrzehnten ist der politische Trend aufgekommen, politische Wünsche und gesellschaftliche Belange ausdrücklich im Grundgesetz in der Form von Staatszielen auszuweisen, so den Umweltschutz, den Tierschutz, den Schutz künftiger Generationen, die Gleichstellung, den Behindertenschutz. Kandidaten für die demnächstige Aufnahme sind Sport und Kulturpflege sowie Rechte der Kinder. Hier geht es nicht um die Einführung unmittelbar praxiserheblicher, einklagbarer Rechtsgarantien, sondern um die Erhebung zur Ehre der Verfassungsaltäre. Das Grundgesetz verwandelt sich in eine Art Reliquienschrein. Die Verfassungsexegese nimmt Züge einer innerweltlichen Heilslehre an und verbindet sich mit den sozialreligiösen Faktoren der modernen Gesellschaft.36

X.  Verfassungsstaatliche Wurzeln in Gemüt und Gewissen Was läßt sich aus den Beobachtungen der zivilreligiösen Phänomene folgern? Vorab: daß der säkulare Verfassungsstaat kein geschlossenes System ist und daß er sich nicht allein auf Zweckrationalität gründen läßt. Er muß tiefere Wurzeln treiben: in Gemüt und Gewissen seiner Bürger. Ein Grund dafür, daß die Weimarer Demokratie und daß die beiden russischen Demokratien scheiterten, mag darin gelegen haben, daß ihnen die zivilreligiöse Grundlage fehlte. Auch die Europäische Union vermag nicht, sich auf eine solche Grundlage zu stützen. Vielleicht gelingt es ihr deshalb nicht, die Herzen der mitgliedstaatlichen Bürger zu gewinnen, denen sie die Unionsbürgerschaft übergestülpt und weinrote Einheitsfarbe der Reisepässe vermittelt hat. Allen Werte-Beschwörungen zum Trotz, stellt sich die Europäische Union dem Einzelnen als funktionstüchtiger, 34 Vgl. Adolf Arndt, Das nicht erfüllte Grundgesetz, 1960. Kritisch Wilhelm Hennis, Verfassung und Verfassungswirklichkeit, 1968, S. 22. 35  Rekurs auf Werte hinter den Verfassungsnormen: Joachim Detjen, Verfassungswerte, 2009. Zur politischen Kontroverse um die Grundwerte: Günter Gorschenek (Hrsg.), Grundwerte in Staat und Gesellschaft, 1977; Josef Isensee, Verfassungsgarantie ethischer Grundwerte und gesellschaftlicher Konsens, in: NJW 1977, S. 545 ff. 36  Zur Sozialreligion Helmut Schelsky, Die Arbeit tun die anderen, 1977, S. 101 ff.

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aber eben doch seelenloser Apparat dar, der nützliche Leistungen erbringt, aber nicht geistige Identität stiftet und nicht an das Gemüt rührt. Dem strenggläubigen Christen widerstrebt eine demokratische Zivilreligion. Eine Religion, die nicht auf transzendente Wahrheit, sondern auf weltlichen Nutzen gerichtet ist, erscheint ihm als blasphemische Parodie echter Religion, als deren unlautere Konkurrenz, als politische Falschmünzerei, als Anmaßung von Transzendenz und Selbstwiderspruch des Säkularen. Obwohl der Christ die humanen Werte, denen die demokratische Zivilreligion dient, prinzipiell auch als die seinen erkennt, wahrt er eine Grunddistanz zur politischen Welt, der er sich nicht verschließen, aber in der er nicht aufgehen will. Für die Kirche ist die Zivilreligion ambivalent. Sie bietet ihr eine säkulare Legitimation als Sinnhelferin und Stabilitätsstütze des Verfassungsstaates. Aber sie führt sie auch in die Versuchung, in dieser Aufgabe aufzugehen, sich zur postaufklärerischen Agentur für seelische Wellness und verbliebene Tröstungsbedürfnisse zu entwickeln und ihren Wahrheitsanspruch, damit letztlich sich selbst aufzugeben. Je mehr sie echte Religion verkörpert, nicht bloß deren politisches Surrogat, je fester sie auf dem Grund des Transzendenzglaubens steht, desto wirksamer trägt sie dazu bei, das Humanum auch im Diesseits zu retten.

III.  Grundverhältnis zwischen Staat und Kirche

Verfassungsstaatliche Erwartungen an die Kirche* Verfassungsstaatliche Erwartungen an die Kirche Verfassungsstaatliche Erwartungen an die Kirche

I.  Sicht des Kulturstaates: Kulturprägung durch Christentum und Kirche 1.  Blickpunkt jenseits von Glauben und Unglauben Der Philosoph des 19. Jahrhunderts, der wie kein zweiter für die Überwindung von Religion und Metaphysik kämpft, Friedrich Nietzsche, denkt darüber nach, was für den Menschen zu tun sei, wenn er sich völlig von Religion und Metaphysik gelöst habe und an das negative Endziel der Aufklärung gelangt sei. Dann aber sei eine rückläufige Bewegung nötig; nun heiße es, einige Sprossen der Leiter rückwärts steigen; „man soll nämlich über die letzte Sprosse der Leiter hinausschauen, aber nicht auf ihr stehen wollen“. Der Mensch, der über abergläubische und religiöse Begriffe und Ängste hinauskomme und zum Beispiel nicht mehr an die lieben Englein oder die Erbsünde glaube, auch vom Heil der Seelen zu reden verlernt habe: „er muß die historische Berechtigung, ebenso die psychologische in solchen Vorstellungen begreifen, er muß erkennen, wie die größte Förderung der Menschheit von dorther gekommen sei und wie man sich, ohne eine solche rückläufige Bewegung, der besten Ergebnisse der bisherigen Menschheit berauben würde“.1 Mit der Endzeit-Hypothese Nietzsches berührt sich ein „einfaches Gedankenexperiment“, das hundert Jahre später Papst Johannes Paul II. in seiner Ansprache vor Künstlern und Publizisten in München einbringt: „Man nehme aus der Kunstgeschichte in Europa und in Deutschland alles weg, was mit religiöser und christlicher Inspiration zusammenhängt, und man wird sehen, wieviel, das heißt, wie wenig übrigbleibt.“2 Aus der Frankfurter Schule kommt die radikale Kritik Alfred Lorenzers an der Liturgiereform des Zweiten Vaticanum.3 Die soziologische Kampfschrift, * Erstveröffentlichung: Heiner Marré/Johannes Stüting (Hrsg.), Essener Gespräche zum Thema Staat und Kirche 25 (1991), S. 104 – 143. 1  Friedrich Nietzsche, Menschliches, Allzumenschliches (1878), in: ders., Werke (hrsg. von Karl Schlechta) Bd. I, 1963, S. 435 (462, Nr. 20). 2  Papst Johannes Paul II., Ansprache an die Künstler und Publizisten im Herkulessaal zu München am 19. November 1980, in: Verlautbarungen des Apostolischen Stuhls 25 A, Papst Johannes Paul II. in Deutschland, 31980, S. 186. 3  Alfred Lorenzer, Das Konzil der Buchhalter. Die Zerstörung der Sinnlichkeit. Eine Religionskritik, 1984.

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die sich offen zum Atheismus bekennt, richtet sich gegen die „Sozialisationsagentur Kirche“, die ihren hergebrachten Dienst an der Kultur der menschlichen Sinnlichkeit aufgekündigt habe. Die Vorwürfe lauten: Zerstörung der sinnlichen Symbolsysteme einer alten Kultur, Umpolung der Liturgie von der sakramentalen Verehrung des Numinosen zur katechetischen Volksbelehrung; Indoktrinierung, Pädagogisierung und Intellektualisierung der Messe; Abkehr von der Darstellung von Grunderfahrungen menschlicher Lebensentwürfe zugunsten ideologischer Information und Einübung in ideologische Handlungsanweisungen; Verödung der Poesie des Ritus, die alle Sinne des Menschen belebt habe, zum Verbalismus.“4 „Die in den sinnlich-unmittelbaren Symbolen aufbewahrte Überlieferung wurde zerstört, womit gleichzeitig die freie Phantasie ihre Bindung an sublimierte Ausdrucksformen verlor.“5 Die tridentinische Messe – das ist die Kernthese der Polemik – war in ihren externen Effekten Kulturdienst am Menschen, der nun dem „konziliaren Vandalismus“ zum Opfer gefallen sei.6 Die drei Äußerungen, so heterogen sie sind in Tendenz wie Thematik, stimmen in einer Hinsicht überein. Sie betrachten die Leistungen des Christentums von einem Standpunkt jenseits von Glaube und Unglaube. Sie abstrahieren von der religiösen Wahrheitsfrage und beurteilen Wirkungen kirchlichen Handelns danach, was sie kulturhistorisch, kultursoziologisch oder kulturpsychologisch für die Menschen bedeuten, unabhängig davon, ob sie Christen sind oder nicht. Standpunkt jenseits von Glaube und Unglaube: just das ist die Position des modernen Staates als Verfassungsstaat, der strukturell unfähig ist, sich mit einer Religion oder Weltanschauung zu identifizieren; der es den einzelnen Menschen und ihren „gesellschaftlichen“ Institutionen überläßt, sich den Fragen letzter Wahrheit zu stellen und sie für sich zu entscheiden; der sich, im Sinne von Nathans des Weisen Parabel, heraushält aus dem Streit, welcher der umstrittenen Ringe der echte sei. Dennoch ist die Religion für ihn eine geistige Kraft der Wirklichkeit, mit der er sich auseinanderzusetzen hat. Das Christentum geht ihn an, obwohl er es sich nicht zu eigen macht. Ihn berührt nicht die Wahrheit des Glaubens, wohl aber die Wirkung des Glaubens in der sozialen Welt. Er geht ihn an, weil er ein wesentliches Element der Kultur ist. Für sie aber trägt der Verfassungsstaat, der notwendig Kulturstaat ist, Verantwortung. Aus der säkularen Perspektive des Rechtsstaates ist die Kirche vornehmlich eine Kulturmacht. Als solche gehört sie zum Gemeinwesen, wie es geschichtlich geworden ist. Sie wahrt seine geschichtliche Kontinuität und sichert seine geistige Identität. Aus ihr speisen sich Quellen seiner Tradition. Sie hält das Bewußtsein seiner Herkunft wach, von dem auch das politische Selbstbewußtsein 4 

Alfred Lorenzer (Fn. 3), S. 184 f., 290 et passim. Alfred Lorenzer (Fn. 3), S. 274. 6  Alfred Lorenzer (Fn. 3), S. 183 ff. et passim. 5 

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abhängt. Die Kirche festigt und erneuert die Fundamente der geistigen Homogenität der Gesellschaft, auf die sich die staatliche Einheit stützt und ohne die grundrechtliche Freiheit und gesellschaftliche Pluralität auf Dauer nicht lebensfähig wären. 2.  Christentum als Kulturphänomen Wenn das deutsche Volk sein Kulturerbe wahren will – erwerben, um es zu besitzen –, so kann es nicht umhin, das christliche Element, das wesentlich und unlösbar zu diesem Erbe gehört, anzunehmen und sich geistig anzueignen. Bildung, die nicht das Christentum einschließt, ist in Europa nicht möglich. Dazu bedarf es als conditio sine qua non des Wissens. Ohne einen bestimmten Fundus an Kenntnissen der Bibel und der Kirchengeschichte, der Glaubenslehre und der Liturgie öffnet sich nicht einmal der ästhetische Zugang zu den Bauwerken der Gotik und des Barock, zu den Bildern Dürers, den Passionen Bachs, den Messen Bruckners; selbst die Dichtung der Weimarer Klassik und der deutschen Romantik wird unverstehbar, wo der Sinn für ihre mehr oder weniger verschlüsselten christlichen Voraussetzungen und Implikationen verloren geht. Auf das Christentum gehen Formen und Normen unserer praktischen Lebenswelt zurück: Vornamen, Brauchtum, Kalender. Der Sonntag, in ihm die Zäsur der Zeit, der Rhythmus von Arbeit und Muße, lebt immer noch in der Rückbindung an seinen jüdisch-christlichen Ursprung. Von ihm zehrt das staatliche Verfassungs- und Gesetzesrecht, das den Sonntag wie die staatlich anerkannten, genuin christlichen Feiertage schützt als Tage der Arbeitsruhe und der seelischen Erhebung, das sie also nicht als soziale Errungenschaft und Wochenend-Besitzstand gewährleistet, sondern als Werk der christlichen Tradition. Nicht zufällig findet sich die Verfassungsgarantie des Sonntags im Kontext des Staatskirchenrechts, nicht aber in dem der sozialen Rechte.7 Das Soziale aber, das als ethisches Prinzip die Alltagsmoral und die Sozialpolitik leitet, das den sozialrechtlichen Institutionen wie dem sozialen Staatsziel der Verfassung zugrunde liegt, ist vorgeprägt von der christlichen Moral der Nächstenliebe. Die Form, die sie in den karitativen Orden gefunden hat, bildet den Archetypus für das weltliche Ethos der sozialen Berufe und für die Organisation sozialer Dienste. Säkular-kulturelle Wirkung geht nicht nur aus von den gemeinchristlichen Elementen der Kirche, sondern wesentlich auch von der Besonderheit der Konfessionen. Die Konfession prägt, durch Säkularisierung und Glaubensfreiheit

7  Zu Sinn und Problemen der verfassungsrechtlichen Garantie der Sonn- und Feiertage in Art. 139 WRV (Art. 140 GG): Essener Gespräche Bd. 24, Der Schutz der Sonn- und Feiertage, 1990 (Nachw.).

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hindurch, Mentalität und soziales Verhalten.8 Sie zeitigt indirekte Wirkungen auf das politische Leben und auf Parteipräferenzen bei Wahlen. Sie gibt Impulse der Bewegung wie Impulse der Bewahrung, der Loyalität wie des Protests. Zu den ungeplanten, glücklichen Fügungen der Bundesrepublik Deutschland gehört, daß in ihrem kleinen Rahmen, erstmals seit Untergang des Alten Reiches, sich das konfessionelle Gleichgewicht wiederhergestellt hat, das wesentlich ist für die spezifisch bundesrepublikanische Ambiance. Mit der Wiedervereinigung werden sich die Gewichte verschieben durch den Zuwachs einer durch den Sozialismus imprägnierten, sekundärprotestantischen Bevölkerung. Dem Kulturstaat kann es nicht gleichgültig sein, ob die Kirchen ihre herkömmliche Kulturfunktion weiter ausüben oder ob sie von sich aus ihre Position räumen und abdanken zugunsten einer multikulturellen Gesellschaft, ob sie mit ihren Kathedralen weiterhin das Stadtbild prägen oder ob sie das gleichberechtigte städtebauliche Ensemble von Kirchtürmen und Minaretten propagieren und jene Öffentlichkeit, die herkömmlich dem kirchlichen Glockengeläut zukommt, paritätisch auch für den Lautsprecher des Muezzin einfordern; immerhin disponieren sie nicht über kircheneigene Belange, sondern über die bürgerlich-kommunale Lebenswelt. Es wäre auch verfassungsrechtlich verfehlt, hier eine Frage der grundrechtlichen Gleichheit in der Religionsausübung oder der staatskirchenrechtlichen Parität zu sehen. In Wahrheit geht es um die kulturelle Identität des Gemeinwesens.9 8  Grundlegend und aufschlußreich ist die soziologische Analyse der konfessionellen Kultur durch Gerhard Schmidtchen: Protestanten und Katholiken, 1973. Vgl. auch ders., Was den Deutschen heilig ist, 1979. 9  Sollte eine muslimische Gemeinde beabsichtigen, neben dem Kölner Dom eine entsprechend große Moschee zu errichten, so könnte sie die Befreiung von den Vorschriften des Baurechts nicht durch Berufung auf die grundrechtliche Gleichheit oder auf die staatskirchenrechtliche Parität erwirken. Das gilt schon deshalb, weil der Kölner Dom sich nicht juristisch rekonstruieren läßt als Werk der Ausübung der Religionsfreiheit und des kirchlichen Selbstbestimmungsrechts. Er ist nicht allein res sacra, sondern auch – wesentlich auch – Kunstwerk, Bestandteil des städtebaulichen Ensembles der Stadt am Rhein, Denkmal geschichtlich gewachsener europäischer Kultur in Deutschland, Symbol kulturstaatlicher Identität. Das Erzbistum Köln verwaltet den Dom als eigene Angelegenheit und zugleich als Treuhänder säkularer Belange. So ist denn das Argument nicht schlüssig, daß, was den Kirchtürmen recht, den Minaretten billig sei. Auch die christlichen Kirchen haben von sich aus kein Grundrecht auf den Bau von großdimensionierten Kathedralen und von Kirchtürmen, die der ganzen Stadt das Gepräge geben. Vielmehr ist es das säkulare Gemeinwesen, das von sich aus dieses Gepräge annimmt, weil es seiner kulturellen Tradition und seinem heutigen Kulturwillen entspricht. Das geltende Baurecht schreibt vor, daß die Bauleitpläne „die von den Kirchen und Religionsgesellschaften des öffentlichen Rechts festgestellten Erfordernisse für Gottesdienst und Seelsorge“ (§ 1 Abs. 5 Nr. 6 BauGB) zu berücksichtigen haben. Doch diese religiösen Funktionen, die für alle Religionsgemeinschaften gelten, christliche wie nichtchristliche, machen nicht Monumentalbauten notwendig. Diese Bauten ragen in andere, religionsindifferente Interessenbereiche hinein,

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3.  Kirche als Instanz kultureller und sittlicher Erziehung Die kirchlichen Leistungen, die dem Kulturstaat zuwachsen, beschränken sich nicht auf Geschichtspflege und Denkmalschutz, auf Konservierung und Musealisierung ererbter Bestände. Wichtiger ist die Zukunftssicherung, die von ihr ausgeht. Zukunftssicherung durch Erziehung. Aus verfassungsrechtlicher Sicht geht es zuvörderst um sittliche Erziehung des Menschen und Bürgers. Das ist die klassische Aufgabe, die das Staatsdenken der kantianischen Aufklärung einer „Religion in den Grenzen der bloßen Vernunft“10 beläßt und abfordert, gleichsam als letzten Dienst: die „Erkenntnis aller unserer Pflichten als göttlicher Gebote“ zu vermitteln, das Bürgerethos zu verinnerlichen und zu sanktionieren durch das Gewissen. Der Kirche wird das Feld der Moralität zugewiesen, indes der Staat als Rechtsstaat auf das der Legalität beschränkt bleibt. Wilhelm von Humboldt, der in dem von ihm 1809 verfaßten „Bericht der Sektion des Kultus und Unterrichts an den König“ die „wohltätigen Folgen aufgeklärter Religiosität und gut geordneter Erziehung recht eng zu verbinden“ sucht, richtet das Erziehungsziel auf, daß die Nation klare und bestimmte Begriffe über ihre Pflichten habe und diese Begriffe, vorzüglich durch Religiosität, in Gefühl übergehen sollten. Das Bemühen des Staates müsse sich darauf richten, „die Begriffe so tief einzupflanzen, daß sie im Handeln und im Charakter sichtbar werden, und nie zu vergessen, daß religiöse Gefühle dazu das sicherste und beste Bindungsmittel an die Hand geben“. „Auf dieser Grundlage, die auch dem gemeinen Volke unentbehrlich ist, entwickelt sich hiernach zugleich das Höchste in Wissenschaft die ihrerseits baurechtlich zu berücksichtigen sind, wie die Gestaltung des Orts- und Landschaftsbildes, Denkmalschutz und Denkmalpflege (§ 1 Abs. 5 Nr. 4 und 5 BauGB). Die Freiheits- und Gleichheitsgrundrechte können die allgemeinen bauplanungsrechtlichen Vorgaben grundsätzlich nicht aufheben, sondern nur Spielräume beanspruchen und nutzen. Das gilt für die Kunstfreiheit, desgleichen für das Eigentumsrecht, das die Baufreiheit einschließt. Analog zum Baurecht ist die Rechtslage auf den kommunalen Friedhöfen: auch hier geht die Gesamtplanung den individuellen Planungen vor. Die Berufung auf Grundrechte wie die der Religionsfreiheit, der Kunst- oder der allgemeinen Handlungsfreiheit kann nach der heute herrschenden Rechtspraxis nicht dazu führen, daß das Bild der Anlage als ganze beeinträchtigt wird. Die grundsätzlichen Rechtsprobleme harren weithin noch der dogmatischen Erschließung. Eine Pionierarbeit für die Rechtsfragen kirchlicher Kulturdenkmäler leistet Martin Heckel, Staat – Kirche – Kunst, 1968, S. 125 ff., 188 ff. – Vgl. auch Jean Chatelain/ Hartwig Beseler/Lucien Ray/Martin Heckel, Denkmalpflege und Denkmalschutz an den Sakralbauten in der Bundesrepublik Deutschland und in Frankreich, in: Deutsch-Französische Kolloquien Kirche-Staat-Gesellschaft, Bd. 7, 1987. Zum staatskirchenrechtlichen „Fremdheits“-Problem des Islam: Wolfgang Loschelder, Der Islam in der religionsrechtlichen Ordnung des Grundgesetzes, in: Essener Gespräche Bd. 20, 1986, S. 149 ff. 10  Immanuel Kant, Religion in den Grenzen der bloßen Vernunft (1793), in: ders., Werke (hrsg. von Wilhelm Weischedel), Bd. IV, 21956, S. 645 (819 ff.).

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und Kunst, das, auf einem anderen Wege befördert, leicht in unfruchtbare Gelehrsamkeit oder schwärmerische Träumerei ausartet.“11 Kant wie Humboldt erwarten die volkserzieherischen Dienste von einer aufklärerisch reduzierten Religion. Dagegen zielt die Erwartung, welche die eingangs vorgestellte These aus der Frankfurter Schule leitet, gerade auf die von Kant verpönte „statutarische“ Religion, auf die Offenbarungsreligion. Glaubenslehre und Liturgie leisten – gesehen von der glaubensindifferenten Warte des Kulturstaates – kulturelle Erziehung, die auch die außerrationalen Dimensionen des Menschen ergreift. Sie prägen den Bildungshorizont, besetzen ihn mit den Symbolen und Mythen, die der sinnlichen Geistnatur des Menschen gemäß sind, entwickeln die überalltäglichen, die im weiten Sinne des Wortes poetischen Fähigkeiten der Psyche, und zwar, um noch einmal Nietzsche zu bemühen, mit historischer Berechtigung, weil von ihnen „die größte Förderung der Menschheit“ ausgegangen ist. Über die Religion entfaltet sich die Kultur der Sinnlichkeit und des Gemütes, die dem Verfassungsstaat in seiner wesensnotwendigen Reduktion auf Rationalität und Recht, in seiner (jedenfalls in Deutschland obwaltenden) Neigung zum Verbalismus – zeitgeistkonform ausgedrückt: in seiner einseitig männlichen Ausrichtung – unzugänglich ist. Kirche wird begreifbar als komplementäre Größe zum Verfassungsstaat. 4.  Kulturstaatliche Legitimation des Religionsunterrichts Die kulturstaatlichen Effekte entbinden eine indirekte, säkulare Legitimation der staatskirchenrechtlichen Einrichtung des Religionsunterrichts, der, ordentliches Lehrfach an staatlichen Schulen, inhaltlich verantwortet wird von der jeweiligen Kirche, der also nicht religiös neutralisiert, sondern engagiert und konfessionsgebunden auf christliche Wahrheit ausgerichtet ist.12 Die kulturstaat11  Wilhelm von Humboldt, Bericht der Sektion des Kultus und Unterrichts an den König, Dezember 1809, in: ders., Werke (hrsg. von Andreas Flitner und Klaus Giel), Bd. IV, 1964, S. 210 (211 f.). – Dagegen verwirft Arthur Schopenhauer die herkömmliche Meinung, daß die Religion wegen ihres säkularen Nutzens für den Staat unentbehrlich sei: „Es ist falsch, daß Staat, Recht und Gesetz nicht ohne Beihilfe der Religion und ihrer Glaubensartikel aufrecht erhalten werden können, und daß Justiz und Polizei, um die gesetzliche Ordnung durchzusetzen, der Religion als ihres notwendigen Komplementes bedürfen. Falsch ist es, und wenn es hundert Mal wiederholt wird. Denn eine faktische und schlagende instantia in contrarium liefern uns die Alten, zumal die Griechen.“ (Über Religion, in: Parerga und Paralipomena, 1851, in: ders., Sämtliche Werke, hrsg. von Arthur Hübscher, VI. Bd., 1947, S. 343 [351].) 12  Zum Kondominium von Staat und Kirche im Religionsunterricht nach Art. 7 Abs. 3 GG: Joseph Listl (Hrsg.), Der Religionsunterricht als ordentliches Lehrfach, 1983; ders., Der Religionsunterricht, in: Joseph Listl/Hubert Müller/Heribert Schmitz (Hrsg.), Handbuch des katholischen Kirchenrechts, 1983, S. 590 ff.; Christoph Link, Religionsunterricht in: Ernst Friesenhahn/Ulrich Scheuner/Joseph Listl (Hrsg.), Handbuch des Staatskirchen-

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liche Bedeutung des Religionsunterrichts würde offenkundig, wenn er auf ganzer Linie zum Erliegen käme, in seiner staatsschulischen Form wie auch in der privaten Ersatzlösung, sei es, weil die Nachfrage der Schüler ausbliebe, sei es, weil das Angebot der Kirche versagte, sie nicht mehr Religion vermitteln könnte oder wollte, sie von sich aus das Fach säkularisierte. Der Religionsunterricht ist nicht bloß eine konfessionsinterne, eine staatsirrelevante Veranstaltung. Wäre er es, so hinterließe er keine Lücke. Doch eine Lücke bräche in der Tat auf. Nunmehr müßte der Staat, in dem freilich beschränkteren Rahmen seiner Möglichkeiten, für Kompensation sorgen, um die kulturelle Herkunftsorientierung und Zukunftsfähigkeit der Bürger zu gewährleisten. Dazu würde die Vermittlung von Grundkenntnissen über das Christentum gehören. Diese Kompensationslehre, gleich, ob im fachlichen Rahmen des Geschichts-, Politik-, Philosophie- oder Ethikunterrichts, wäre für den einzelnen Schüler nicht mehr abwählbar, weil sie nicht mehr auf dem individuellen Willen der Schüler und Eltern gründete, sondern auf dem allgemeinen Erziehungsauftrag des Staates.13 Der Verfassungsstaat müßte in seiner pädagogischen Ersatzvornahme jene Rückwende der Aufklärung vollziehen, von der Nietzsche spricht. Im geltenden Zustand des Religionsunterrichts dagegen tragen Kirchen, Schüler und Eltern – auf der grundrechtlichen Basis der Freiwilligkeit – bei zum kulturstaatlichen Gemeinwohl. Sie vermitteln und sichern ethisch-kulturelle Kontinuität. Damit leisten sie dem säkularen Gemeinwesen einen Dienst.14 Dieses weiß den Vorteil zu schätzen und bietet dem Religionsunterricht Raum in der Staatsschule. Der Verfassungsstaat fördert hier mit rechtlichen, organisatorischen und finanziellen Mitteln die Religionsausübung, mit der er sich nicht identifizieren darf, die ihm aber sub specie des Gemeinwohls nützlich ist. Das Wohl der Allgemeinheit zehrt also von der Besonderheit der Religion. Der Verfassungsstaat, der die Menschen nur als Bürger in Pflicht nehmen kann, zieht Nutzen aus dem Einsatz, den sie, ihm unverfügbar, als Christen erbringen. Er gründet auf Egalität der Rechte und Pflichten und nimmt doch die ungleichen, überobligationsmäßigen Dienste entgegen. Hier liegt ein Dilemma, das jedoch als heilsames Dilem-

rechts der Bundesrepublik Deutschland (= HStKirchR), Bd. II, 1975, S. 503 (507 ff.); Alexander Hollerbach, Freiheit kirchlichen Wirkens, in: Josef Isensee/Paul Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland (= HStR), Bd. VI, 1989, S. 595 (613 ff.) mit Nachw. 13  Es ist folgerichtig, daß nach Art. 137 Abs. 2 BayVerf für Schüler, die nicht am Religionsunterricht teilnehmen, „ein Unterricht über die allgemein anerkannten Grundsätze der Sittlichkeit“ einzurichten ist (ähnlich: Art. 35 Abs. 2 Rheinland-Pfalz Verf.). In Baden-Württemberg wurde der Ersatzunterricht als Fach Ethik durch einfaches Gesetz eingeführt (§ 100a Schulgesetz). 14  Zur Legitimation des Religionsunterrichts an der Staatsschule: Hollerbach (Fn. 12), S. 617 ff.

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ma akzeptiert werden muß, weil es eine Bedingung der Möglichkeit von Freiheit enthält. Eine spezifische Divergenz von Staat und Kirche kommt hinzu. Der Verfassungsstaat ist auf die Leistung der Kirche verwiesen. Die Kirche muß sich dieser Leistung aber gar nicht bewußt sein. Ihrem Selbstverständnis nach liegt hier nicht das Eigentliche und nicht das Wesentliche ihrer Sendung. Kulturerfolge können sie nicht als Kirche bestätigen. Sie bilden nicht das Ziel, vielleicht aber ein Mittel, um ihr Ziel zu fördern. Jedenfalls sind sie säkulare Folge ihres kirchlichen Handelns, wenn auch nur gleichgültige Nebenfolge. Mag die Kirche hier eine Aufgabe erkennen oder nicht: sie leistet Dienst am Staat.

II.  Ort der Kirche im Koordinatensystem des Verfassungsstaates Wir befinden uns längst in der Mitte des Themas, weil wir mit der Tür ins Haus gefallen sind. Nun jedoch muß die wissenschaftliche Schularbeit erledigt werden. Das Thema ist auf den Begriff zu bringen, sein Ort im Koordinatensystem des Verfassungsstaates zu bestimmen. 1.  Grundrechtliche Legitimation der Kirche Der Verfassungsstaat gründet auf der fundamentalen Unterscheidung von Staat und Gesellschaft:15 hier der Bereich der demokratischen Herrschaft, dort der Bereich der grundrechtlichen Freiheit. Demokratie und Grundrechte bilden die zwei Legitimationsquellen, die im Verfassungsstaat fließen.16 Für eine dritte Legitimationsquelle ist in seinem Horizont kein Raum. Die Kirche hat ihren Ort in der Gesellschaft. Daran besteht heute im Prinzip kein Zweifel. Sie ist institutionell getrennt vom Staat, damit auch verfassungsrechtlich geschieden vom Staatsvolk und seiner demokratischen Repräsentation. Ihre verfassungsrechtliche Grundlage ist nicht der Wille des Volkes, sondern die grundrechtliche Freiheit der Mitglieder und die organisatorische Freiheit, die ihr als Körperschaft zukommt. Mit gewisser Vereinfachung läßt sich der verfassungsrechtliche Status der Kirche bestimmen als institutionelle Hilfe für die Religionsausübung der Individuen. Die Rechte, die ihr die Verfassung des säkularen 15  Gegenwartsbedeutung der Distinktion: Hans Heinrich Rupp, Die Unterscheidung von Staat und Gesellschaft, in: HStR I, 1987, S. 1187 ff. (Nachw.); Josef Isensee, Staat, in: Staatslexikon, hrsg. von der Görres-Gesellschaft (StL), Bd. V, 71989, Sp. 133 (151 ff.); Ernst-Wolfgang Böckenförde, Staat und Gesellschaft, ebd., Sp. 228 ff. 16  Zum dualen Legitimationsschema: Josef Isensee, Grundrechte und Demokratie – Die polare Legitimation im grundgesetzlichen Gemeinwesen, Bonner Akademische Reden 53, 1981 (auch in: Der Staat 20, 1981, S. 161 ff.); Christian Starck, Grundrechtliche und demokratische Freiheitsidee, in: HStR II, 1987, S. 3 ff.

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Staates gewährleistet, bestehen um der Menschen willen, die sich in ihr zusammenfinden, nicht aber um der Wahrheit willen, die sie verkörpert, und nicht um des Heilsauftrags willen, aus dem sie sich rechtfertigt. Der individualistische Grundzug der Verfassung ist unverkennbar. Dennoch führt er nicht zu grundrechtlicher Atomisierung der Kirche mit der Folge, daß nur noch die einzelnen Mitglieder und ihre individuellen Rechtsbeziehungen übrig blieben. Vielmehr nimmt die Grundrechtsordnung die Kirche so, wie sie sich kirchenautonom verfaßt hat, in ihrer organisierten Einheit und in ihren hierarchischen wie genossenschaftlichen Strukturen. Die Institution Kirche wird in ihrem relativen Eigenrecht anerkannt. Der kirchliche Verband und die kirchliche Organisation genießen den Schutz der korporativen Religionsfreiheit und den der staatskirchenrechtlichen Gewährleistungen.17 Auch die letzteren durchbrechen nicht die verfassungsrechtliche Dichotomie von grundrechtlicher und demokratischer Legitimation. Die Institutionen des Staatskirchenrechts sind Medien grundrechtlicher Freiheit. Das kirchliche Selbstbestimmungsrecht gemäß Art. 137 Abs. 3 WRV (Art. 140 GG) deckt sich teilweise mit der korporativen Religionsfreiheit, die der Kirche als Verband nach Art. 4 in Verbindung mit Art. 19 Abs. 3 GG zukommt; aber sie sichert darüber hinaus organisatorische Rahmenbedingungen der korporativen Religionsausübung. So ist denn die Religionsfreiheit der letzte verfassungsrechtliche Grund des Staatskirchenrechts.18 Allerdings bedeutet das nicht, daß sich die einzelnen Einrichtungen des Staatskirchenrechts vom Religionsunterricht über die Staatsleistungen bis zu den Konkordaten ohne weiteres aus dem Grundrecht der Religionsfreiheit ableiten ließen. Vielmehr bleibt ein staatsrechtlicher Überhang an institutionellen Absicherungen, die dem Grundrecht indirekt dienen, ohne Bestandteil seines Schutzbereichs zu sein. So läßt sich der Status der Körperschaft des öffentlichen 17  Zu den verfassungsrechtlichen Grundlagen der Kirchen, jeweils mit Nachw.: Axel Freiherr von Campenhausen, Staatskirchenrecht, 21983, S. 45 ff.; Alexander Hollerbach, Grundlagen des Staatskirchenrechts, in: HStR VI, 1989, S. 471 (516 ff., 531 ff.). 18  Zu dem dogmatischen Zusammenhang von Art. 4 GG und Art. 137 Abs. 3 WRV (Art. 140 GG) richtungsweisend: Joseph Listl, Die Religionsfreiheit als Individual- und Verbandsgrundrecht in der neueren deutschen Rechtsentwicklung und im Grundgesetz, in: Essener Gespräche Bd. 3 (1969), S. 34 (72 ff.); ders., Das Grundrecht der Religionsfreiheit in der Rechtsprechung der Gerichte der Bundesrepublik Deutschland, 1971, S. 372 ff.; ders., Die neuere Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zur Religions- und Kirchenfreiheit in der Bundesrepublik Deutschland, in: FS für Hans R. Klecatsky, 1980, S. 571 (586 ff.). Zu dem Zusammenhang auch: Axel Freiherr von Campenhausen, Religionsfreiheit, in: HStR VI, 1989, S. 369 (432 f.); Hollerbach (Fn. 17), S. 531 ff.; Christian Starck, in: Hermann von Mangoldt/Friedrich Klein/Christian Starck, Das Bonner Grundgesetz, 31985, Art. 4 Rn. 2, 78 ff. – Kritik an der herrschenden Auslegung: Joachim Wieland, Die Angelegenheiten der Religionsgesellschaften, in: Der Staat 25 (1986), S. 321 ff. – Aus der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts: BVerfGE 53, 366 (401); 57, 220 (244); 66, 1 (20); 72, 278 (289).

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Rechts nicht als Ausfluß privatautonomer Grundrechtsbetätigung deuten. Die Steuerhoheit gehört zu den Vorbehaltsrechten des modernen Staates. Die Kirchensteuer beruht auf Kompetenzleihe. 2.  Das Raster von Staat und Gesellschaft Die katholische Kirche des 19. Jahrhunderts wehrte sich gegen die Zuordnung zur Gesellschaft. Sie sah sich wie den Staat als Repräsentation der Allgemeinheit.19 Es erschien ihr als capitis diminutio maxima, daß sie nur noch gesellschaftliche Partikularität verkörpern sollte, ein Verband unter den vielen Verbänden der Gesellschaft. Nicht ohne Hohn stellte Karl Marx fest, daß dies die Konsequenz aus der Anerkennung der individuellen Religionsfreiheit als Menschenrecht sei: Nunmehr sei die Religion unter die Zahl der Privatinteressen hinabgestoßen und aus dem Gemeinwesen als Gemeinwesen exiliert. Sie sei nicht mehr der Geist des Staates, wo der Mensch sich als Gattungswesen verhalte, in Gemeinschaft zu anderen Menschen; sie sei zum Geist der bürgerlichen Gesellschaft geworden, der Sphäre des Egoismus, des bellum omnium contra omnes. Sie sei nicht mehr das Wesen der Gemeinschaft, sondern das Wesen des Unterschieds: Ausdruck der Trennung des Menschen von seinem Gemeinwesen, von sich und den anderen Menschen.20 So überspitzt Marx auch formuliert, er trifft die Sache, soweit man seiner Prämisse folgt, daß das Gemeinwesen und die Idee des Allgemeinen einseitig vom Staat zu bestimmen sind. Die Einheit, die der moderne, säkulare Staat herstellt, gründet in der Tat nicht mehr auf der Religion, sondern auf der Freiheit der Religion. Christentum und Kirche sind insoweit nur noch Elemente der Besonderheit im Spektrum der pluralen Gesellschaft. Eine Dimension unter vielen ist ihre „religiöse Dimension“.21 Doch die „Gesellschaft“ ist keine substantielle Größe. Gesellschaft ist ein Komplementärbegriff zum Staat, dieser im engeren Sinne verstanden als Herrschaftsorganisation.22 Gesellschaft wird vom Staat her definiert. Daher sagt die „gesellschaftliche“ Ortsbestimmung der Kirche etwas über den Staat aus und über seine Verfassung; nichts dagegen über die Kirche als solche, sondern allein etwas über das Verhältnis des Staates zur ihr. Negativ wird damit festgestellt, daß 19 Dazu Josef Isensee, Keine Freiheit für den Irrtum. Die Kritik der katholischen Kirche des 19. Jahrhunderts an den Menschenrechten als staatsphilosophisches Paradigma, in: Zeitschrift für Rechtsgeschichte, Kanonistische Abteilung 104 (1987), S. 296 (322 ff.) (Nachw.). 20  Karl Marx, Zur Judenfrage (1843/44), in: ders., Die Frühschriften (hrsg. von Siegfried Landshut), 1953, S. 171 (183). 21 Vgl. Peter Koslowski (Hrsg.), Die religiöse Dimension der Gesellschaft, 1985. 22  Zum engeren und weiteren Verständnis des Staates als Staatsgewalt und als Gemeinwesen: Isensee (Fn. 15), Sp. 144 f.

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die Kirche nicht zur Staatsorganisation gehört, positiv, daß sie, in bestimmter Hinsicht dem Staat unterworfen, ihm gegenüber Pflichten und Rechte hat. Diese reichen gegenständlich und räumlich so weit wie die Staatsgewalt.23 So erscheint denn auch nur ein Segment der Weltkirche als Bestandteil der deutschen „Gesellschaft“. Das Theorem von Staat und Gesellschaft entspricht der thematischen Anlage des Verfassungsgesetzes. Dieses regelt die Grundlagen, Zuständigkeiten, Ziele, Pflichten und Grenzen staatlicher Herrschaft und ist darin Staatsverfassung. Es berührt auch Religion, Kultur, Wirtschaft dadurch, daß es dem staatlichen Handeln Schranken zieht und Aufgaben zuweist. Doch damit sollen diese gesellschaftlichen Bereiche nicht ihrerseits eine Verfassung erhalten, eine Religions-, Kultur-, Wirtschaftsverfassung der Art, wie es eine Staatsverfassung gibt. Vielmehr soll ihnen nur in ihrem Verhältnis zum Staat gewährleistet werden, daß sie sich nach eigener Gesetzlichkeit entfalten können. Von der Staatsverfassung her gesehen, sind Gebet, Predigt, Gottesdienst, Caritas Grundrechtsausübung. Doch diese Qualifikation bedeutet eine staatsperspektivische Verkürzung der Wirklichkeit. Die geistliche Dimension der Akte bleibt außer Betracht. Das religiöse Leben läßt sich nicht auf Grundrechtsvollzug reduzieren. Trotzdem ist die Verkürzung legitim, weil sie die begrenzte Sichtweise des Verfassungsstaates zur Geltung bringt. Die staatszugewandte Seite der Religion ist zuvörderst ihre grundrechtliche Freiheit. Für die Kirche ist diese Seite ihrer Wirksamkeit zwar wichtig, aber sie ist nicht das ihr Eigentliche. Der Staat definiert nicht das Kirchliche der Kirche, sondern seine Beziehung zu ihr, die beiderseitigen Rechte und Pflichten. 3.  Relativität der Gemeinwohlperspektiven Damit aber zeigt sich die Relativität aller staatsbezogenen Zuordnungen und Definitionen. Was aus staatlicher Sicht Allgemein- und Partikularinteresse ist, muß es nicht ebenso aus Sicht der Kirche sein. Sie hat als Kirche ihr eigenes kirchliches Gemeinwohl, und sie hat ihre eigene Perspektive zum staatlichen Gemeinwohl. Das kirchliche Gemeinwohl ist nicht mehr a priori identisch oder auch nur kongruent mit dem Gemeinwohl, wie es der Staat repräsentiert. Doch konvergieren viele ihrer Gemeinwohlintentionen. Die Verfassung der Freiheit 23  Keine Alternative, sondern (allenfalls) eine Ergänzung zum staatstheoretischen Raster von Staat und Gesellschaft ist das Raster des öffentlichen und des privaten Status. „Öffentlich“ sind sowohl der Staat als auch die Kirchen und sonstige nichtstaatliche Organisationen. Gemeinsam ist die soziale Mächtigkeit, doch schlechthin inkompatibel ist die verfassungsrechtliche Legitimationsgrundlage. Literatur zum Merkmal des „Öffentlichen“: Roland Wegener, Staat und Verbände im Sachbereich Wohlfahrtspflege, 1978, S. 77 ff.

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schützt die Kirche davor, daß der Staat sie beliebig für seine Aufgaben in Pflicht nehmen kann; doch sie hindert sie nicht, sich Aufgaben zu eigen zu machen, die auch im Verantwortungsbereich des Staates liegen. Die freiwillige Zuwendung zum Gemeinwohl steht ihr wie allen Grundrechtsträgern offen. Der Relativität der Gemeinwohlperspektiven entspricht die unbegrenzte Vielfalt der sozialen Systeme.24 Der Staat ist eines von vielen, ein unentbehrliches, aber eben doch nicht mehr das umfassende Ganze. Der Verfassungsstaat will nicht mehr societas perfecta sein, auch wenn er Souveränität und Allzuständigkeit beansprucht. Doch seine Handlungsbefugnisse sind von Verfassungs wegen planmäßig begrenzt. Seiner Reichweite nach ist er sektoraler Staat. Er kann und er will den Menschen nicht in seiner Totalität erfassen. Er berührt ihn immer in bestimmter Hinsicht, der Sache nach begrenzt, der Intensität nach gemäßigt. Er tastet die Grundlagen der Existenz und der Sinngebung nicht an. Was für die Beziehung des Verfassungsgesetzes zu den einzelnen Menschen gilt, das gilt, mutatis mutandis, auch für sein Verhältnis zu privaten Organisationen, soweit die Verfassung diesen die Grundrechtsfähigkeit zuspricht und sie den natürlichen Personen gleichstellt. Der sektorale Staat repräsentiert nicht mehr die objektive Einheit der Lebenswelt. Diese Einheit kann sich nur noch subjektiv herstellen – vom einzelnen Menschen her. Der Staat aber vermittelt und gewährleistet in der begrenzten Reichweite seiner Wirksamkeit die Freiheit, sich in unterschiedlichen sozialen Rollen zu entfalten, die nebeneinander übernommen werden können in den verschiedenen Räumen des Privaten und der Familie, des Berufs und der Freizeit, des kulturellen, des wirtschaftlichen, des politischen Wirkens, der Religion und der Kirche. 4.  Selbstbehauptung der Kirche in der offenen Gesellschaft Da sich die Grundrechte und die staatskirchenrechtlichen Garantien auf den Staat hin ausrichten, abwehrend oder fordernd, mag leicht der Eindruck erstehen, als liege heute das Problem der Kirche darin, sich gegenüber der Staatsgewalt zu behaupten. Doch das ist die Situation des totalen und des totalitären Staates. Für den Verfassungsstaat gilt das nicht. Er ist rechtsstaatlich diszipliniert, also keine Gefahr, und er ist religiös neutralisiert, also keine Konkurrenz. Gerade weil er die Grenzen seiner Wirksamkeit rechtseffektiv absteckt, kann sich die Kirche furchtlos bewegen. Die eigentliche Schwierigkeit besteht für die Kirche darin, sich gegenüber den gesellschaftlichen Mächten, vor allem gegenüber den Massenmedien, zu behaup24  Die klassische Darstellung der „drei Potenzen“ Staat, Religion und Kultur in ihren wechselseitigen Bedingtheiten: Jakob Burckhardt, Weltgeschichtliche Betrachtungen (11905), hrsg. von Rudolf Stadelmann, 1949, S. 51 ff., ll3 ff.

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ten, die ebenfalls grundrechtliche Freiheit genießen und die mit ihr konkurrieren um Einfluß auf die Menschen, als Sinngeber, Meinungsbildner, Erzieher. Von ihnen geht der eigentliche Säkularisierungsdruck aus. Deutsche Bischöfe fürchten nicht den Bundeskanzler, sondern den Fernsehjournalisten. Prekäre staatskirchenrechtliche Streitigkeiten der letzten Jahre, bei denen dem Staat die formelle Beklagtenrolle zufiel, richteten sich in der Sache gegen Expansionsbestrebungen der Gewerkschaften, für die der Staat als bracchium syndicale fungierte, oder gegen den von Hamburger Gazetten repräsentierten emanzipatorischen Zeitgeist. Überhaupt zeigt sich, daß es für die Kirche in mancher Hinsicht leichter sein kann, sich zu bewähren unter der Verfolgung eines totalitären Staates, bei eindeutigem Frontverlauf zwischen Verfolger und Opfer, als unter dem diffusen Meinungsdruck einer offenen Gesellschaft, ihren schwer faßbaren Verlockungen, Bedrängnissen und Sanktionen, unter den Bedingungen der allgemeinen Freiheit des geistigen Wettbewerbs. Die kirchlichen Institutionen werden auch von innen her bedrängt seitens ihrer Mitglieder, Bediensteten und Amtsträger. Der Binnendruck geht auf Anpassung an das säkulare Umfeld. Hier drohen dem Proprium subtile Gefahren. Die staatskirchenrechtlichen Gewährleistungen beziehen sich auf die kirchlichen Gemeinschaften als solche. Sie greifen grundsätzlich nicht in ihre interne Struktur ein, mag sie verbandsdemokratisch oder hierarchisch sein, und respektieren die Selbstbestimmung in ihren eigenen Angelegenheiten.25 Das Grundgesetz ist Verfassung der Freiheit dadurch, daß es sich darauf beschränkt, Staatsverfassung zu sein, nicht auch Kirchenverfassung sein will, mithin der kirchlichen Organisation nicht sein Verständnis von demokratischer Willensbildung, Mitbestimmung und sozialen Ausgleichsmechanismen oktroyiert. Da der Staat die Kirche als Medium der Erfüllung der individuellen Religionsausübung behandelt, zwingt er sie auch nicht durch hypertrophe Drittwirkungsdoktrinen, vor der individuellen Religionsfreiheit ihrer Mitglieder zu weichen, mit der Folge, daß sie ihrerseits wie der Staat religionsneutral werden müßte, ihre Identität als Kirche einbüßte und grundrechtlich atomisiert würde. Der Staat respektiert die Kirchen als Verbände nur dann, wenn er ihnen ermöglicht, ihre Sendung nach innen gegenüber ihren Mitgliedern, Mitarbeitern und Amtsträgem in spezifische Kirchenloyalitätspflichten umzusetzen und durchzusetzen, wenn er sie nicht hindert, sich von den illoyalen zu trennen, und nicht etwa nötigt, einen Bediensteten, der aus der Kirche austritt oder offen die Abtreibung propagiert, weiter zu beschäftigen.26 25 Näher Alexander Hollerbach, Der verfassungsrechtliche Schutz kirchlicher Organisation in: HStR VI, 1989, S. 557 (563). 26  Das Bundesverfassungsgericht löst den Grundrechtskonflikt zutreffend in BVerfGE 70, 138 (162 ff.). Grundsätzlich: Hans Hattenhauer, Pluralistische Kirche im pluralistischen Staat?, in: Zeitwende? 57 (1986), S. 217 ff.

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III.  Staatskirchenrecht unter Legitimationsdruck Als Grundrechtsträger heben sich die Kirchen über den Status normaler Verbände hinaus kraft der besonderen staatskirchenrechtlichen Gewährleistungen, die das Grundgesetz aus der Weimarer Verfassung übernommen und sich anverwandelt hat. Es sind jedoch nicht allein die Kirchen, die einen Sonderstatus dieser Art besitzen. Einzigartig ist lediglich die positivrechtliche Verankerung der Kirchenartikel. Der Sache nach erlangen andere gesellschaftliche Organisationen, auch ohne vergleichbare verfassungsrechtliche Absicherung, einen ähnlichen institutionellen Status, und zwar dadurch, daß ein klassisches Freiheitsgrundrecht durch Auslegung zu einer Einrichtungsgarantie übergeleitet oder mit einem Kranz diverser Einrichtungsgarantien umgeben wird.27 Diese Entwicklung geht am weitesten bei den öffentlich-rechtlichen Rundfunk- und Fernsehmonopol­ anstalten mit ihren Grundversorgungs- und Entwicklungsgarantien: hier ist die verfassungsrechtliche Deduktion geradezu waghalsig. Institutionelle Garantien sind auch anderen Organisationen aus ihren Freiheitsrechten zugewachsen: den Universitäten, den Parteien, den arbeitsrechtlichen Koalitionen.28 Dennoch steht der Sonderstatus dieser gesellschaftlichen Mächte nicht unter dem gleichen Rechtfertigungszwang wie das Staatskirchenrecht, das sich des Vorwurfs erwehren muß, anachronistische Privilegien zu bündeln. Das komplizierte deutsche System ist eigenwüchsiges und eigenständiges deutsches Element der Verfassung, gewachsen in Jahrhunderten: eine Besonderheit in der Ordnung des Grundgesetzes, die durchweg sonst nur Maßkonfektion ist, Anpassung an das allgemeine Verfassungsmodell des Westens. Das geltende Staatskirchenrecht erschließt sich erst aus dem Verständnis seiner geschichtlichen Entwicklung. Aber der geschichtliche Sinn ist heute weithin verkümmert. Eine nur traditionale Legitimation reicht nicht aus. Und doch ist es auf Legitimation verwiesen. Sie muß aber aus den Bedürfnissen der Gegenwart kommen. Zu diesen gehören die Funktionstüchtigkeit des Verfassungsstaates und seine Gemeinwohlintentionen. Staatskirchenrecht ist Recht von Institutionen. Doch Institutionen, zumal kirchliche, haben es heute, unter der Herrschaft des Individualismus und des Subjektivismus, schwer, Verständnis und Zustimmung zu finden. Gerade bei der Jugend stoßen sie auf Abwehrreflexe.29 27  Zum institutionellen Grundrechtsverständnis: Ernst-Wolfgang Böckenförde, Grundrechtstheorie und Grundrechtsinterpretation, NJW 1974, S. 1529 (1532 ff.). 28  Dogmatische Studie zum Zusammenhang des Individualgrundrechts mit dem Institutionsschutz im Arbeitsrecht: Rupert Scholz, Koalitionsfreiheit als Verfassungsproblem, 1971. 29  Nach neuen soziologischen Erhebungen sind die europäischen Bevölkerungen besonders skeptisch gegenüber den Institutionen von Kirche, Armee und Polizei, die als

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Legitimation ist nicht bloß ein akademisches Problem, sondern ein vitales, von dem das Überleben abhängt. Die Kirchen können sich nicht beruhigen in der Sicherheit des Schwarz-auf-Weiß-Besitzes der grundgesetzlich neu verbrieften Weimarer Kirchenartikel. Die These Rudolf Smends, daß, wenn zwei Verfassungen dasselbe sagten, es nicht dasselbe sein müsse,30 war kirchenfreundlich gemeint, kann aber in das Gegenteil umschlagen. Was eine Norm beinhaltet, ist Frage der Interpretation. Was Verfassungsinterpretation gibt, kann Verfassungsinterpretation wieder nehmen. Legitimation ist permanent vonnöten. Der politische Ernstfall der Legitimation könnte in naher Zukunft eintreten, wenn die deutschen Staaten sich vereinigen und sich die Frage stellt, ob das Staatskirchenrecht in die gesamtdeutsche Verfassung eingeht oder nicht, ob es auf das Gebiet der bisherigen DDR ausgedehnt wird, ob also der Weimarer Kirchenkompromiß von 1919 ein weiteres Mal fortgeschrieben und erneuert werden soll – nunmehr unter den ungünstigen Bedingungen, daß der neu hinzutretende Teil des deutschen Volkes in vier Jahrzehnten des real existierenden Sozialismus allen staatskirchenrechtlichen Freiheits- und Korporationsgarantien entfremdet, der Kirchensteuer entwöhnt ist, vor allem, daß die meisten DDR-Deutschen noch nicht einmal mehr nominell einer Kirche angehören. Nur ein Viertel der Bevölkerung ist getauft; es dominiert ein paganisierter Sekundärprotestantismus.31 Ein Legitimationsweg, nicht der einzige, aber der, den wir zu beschreiten versuchen, führt über die verfassungsstaatlichen Erwartungen an die Kirche. Was kann der säkulare Verfassungsstaat von der christlichen Kirche erhoffen? Welche Leistungen erbringt sie für das verfassungsstaatliche Gemeinwohl?

Bastionen der etablierten Ordnung gelten (Bericht in: Deutscher Forschungsdienst, DF Magazin, 3. Jg., 1990, Heft 8, S. 16). – Ein differenziertes Bild gibt Schmidtchen, Was den Deutschen heilig ist, 1979, S. 16 ff., 81 ff., 189 ff. et passim. 30  Rudolf Smend, Staat und Kirche nach dem Bonner Grundgesetz (1951), in: ders., Staatsrechtliche Abhandlungen, 21968, S. 411. 31  Von der erwachsenen Bevölkerung der DDR sind 21 % evangelisch und 3,6 % katholisch (nach Angaben des Ostberliner Instituts für Sozialdatenanalyse von 1990). Die beiden Kirchen waren 1986 noch von höheren Quoten ausgegangen: 30,7 % Protestanten und 6,3 % Katholiken (Kirchenzeitung für das Erzbistum Köln v. 3. 8. 1990, S. 2). – Zu der unterschiedlichen Entwicklung des Staatskirchenrechts in West und Ost vor der deutschen Revolution von 1989: Gottfried Zieger (Hrsg.), Die Rechtsstellung der Kirchen im geteilten Deutschland, 1989; Otto Luchterhandt, Religionsfreiheit, in: Georg Brunner (Hrsg.), Menschenrechte in der DDR, 1989, S. 201 ff.

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IV.  Verfassungserwartungen als Kategorie 1.  Negative Grundrechtsfreiheit und positiver Gemeinwohlbedarf Verfassungserwartungen32 richten sich an den Grundrechtsträger, im Unterschied zu den Grundrechten, die an den Staat adressiert sind. Erwartungen sind keine Pflichten, auch keine Grundpflichten. Ihnen fehlt die Verbindlichkeit des Rechts. Sie sind vielmehr ethische Prinzipien. In dieser Geltungsweise unterscheiden sie sich von den Grundrechten, die aktuell geltende Rechtsnormen sind. Sie unterscheiden sich auch dem Inhalt nach. Sie beziehen sich auf die gemeinwohlförderliche Ausübung der Freiheitsrechte. Sie sind material geprägt, im Gegensatz zum formalen Freiheitsbegriff, der den Grundrechten liberaler Observanz zugrunde liegt, wie der Religionsfreiheit, aber auch dem grundrechtsgleichen Selbstbestimmungsrecht der Kirche in Art. 137 Abs. 3 WRV. Es gehört zur Essenz der Verfassung, daß sie nicht a priori die Freiheitsrechte auf ihren „richtigen“ Gebrauch reduziert, „richtig“ aus der objektiven Warte des Gemeinwohls. Die Grundrechtsträger entscheiden selbst, ob sie Gebrauch von ihrer grundrechtlichen Freiheit machen und welchen Gebrauch sie von ihr machen. Dieser kann gut oder böse, wahr oder falsch, klug oder töricht, gemeinnützig, eigennützig oder nichtsnützig sein. Auf dem Boden der Freiheitsrechte gedeihen Weizen wie Unkraut. Das negative Freiheitsverständnis des Liberalismus kollidierte im 19. Jahrhundert mit dem positiven Freiheitsverständnis der christlichen Tradition, für die es mit Augustinus keine Freiheit für den Irrtum geben konnte. Sie setzte der inhaltsleeren „Freiheit von“ die inhaltlich gefüllte „Freiheit zu“ entgegen: die Freiheit, die darin besteht, die vorgegebene Wahrheit zu erkennen und nach vorgegebenen sittlichen Gesetzen richtig zu handeln.33 Die Kirche, jedenfalls die des 19. Jahrhunderts, war sich sicher, die Wahrheit zu besitzen. Für den Verfassungsstaat gilt das nicht. Letzte Gewißheiten sind ihm fremd. Er zieht sich auf die Pilatusfrage zurück: „Was ist Wahrheit?“34 Unverfügbar vorgegeben ist ihm allein die Würde des Menschen, mit ihr die Freiheit des Bürgers. Aus der Freiheit des Bürgers zu grundrechtlicher Selbstbestimmung und zu demokratischer Mitbestimmung baut sich das Gemeinwesen auf, ersteht das konkrete Bild des Gemeinwohls, das nicht mehr vorgegeben erscheint in ewiger Ordnung, sondern aufgegeben in der jeweiligen geschichtlichen Situation.35 32 Zur Kategorie: Herbert Krüger, Verfassungsvoraussetzungen und Verfassungserwartungen, in: FS für Ulrich Scheuner, 1973, S. 285 (302 ff.). 33 Dazu Isensee (Fn. 19), S. 314 ff. (Nachw.). 34  Zum pragmatischen Relativismus der Demokratie: Hans Kelsen, Vom Wesen und Wert der Demokratie, 21929, S. 98 ff. 35 Dazu Josef Isensee, Gemeinwohl und Staatsaufgaben im Verfassungsstaat, in: HStR III, 11988, S. 3 (16 ff.).

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Um des Gemeinwohls willen kann der Staat der grundrechtlichen Freiheit gesetzliche Schranken ziehen. Doch das sind nur von außen auferlegte Schranken, welche die negative Freiheit als solche, das Fundament der verfassungsrechtlichen Ordnung nicht antasten dürfen. Sie sind an formelle und materielle Kautelen der Verfassung („Schrankenschranken“) gebunden. Der Widerspruch zwischen dem negativen Freiheitskonzept der Grundrechte und den positiven Anforderungen des Gemeinwohls läßt sich nicht, wie es der päpstlichen Staatslehre des 19. Jahrhunderts entsprochen hätte, auflösen dadurch, daß Grundrechtsfreiheit von vornherein auf ihren gemeinwohlverträglichen oder gemeinwohlförderlichen Gebrauch reduziert würde. Damit würde die Grundrechtsfreiheit als Freiheit aufgehoben werden. Hier bedarf es vielmehr eines vermittelnden Prinzips, das die Grundrechtsausübung auf das Gemeinwohl ausrichtet. Diese Vermittlung leisten die Verfassungserwartungen. Sie gehen dahin, daß die Grundrechtsträger ihre Freiheit gemeinwohlgerecht ausüben und dabei jenen Elan, jene Tüchtigkeit und jenes Ethos entwickeln, dessen das Gemeinwohl in der jeweiligen Lage bedarf. Diese Erwartungen richten sich auf die Grundrechtsträger in ihrer Gesamtheit, nicht notwendig auf jeden einzelnen; sie beziehen sich auf die objektiven Wirkungen des Freiheitsgebrauchs, nicht notwendig auf die subjektiven Absichten.36 Die Verfassungserwartungen überbrücken auch die Diskrepanz, die klafft zwischen der weiten Gemeinwohlverantwortung des Verfassungsstaates und seinen begrenzten Mitteln.37 Gemeinwohlwichtige Aufgaben sind in den Grundrechten ganz oder weitgehend den Bürgern und den nichtstaatlichen Einrichtungen überantwortet, in Erziehung und im Berufs- und Kulturleben. Das Gemeinwohl geht aus arbeitsteiligem Zusammenwirken von Staat und Gesellschaft hervor. Die freiheitliche Ordnung gründet darauf, daß die Grundrechtsträger ihren Beitrag von sich aus erbringen, autonom im Rahmen der Rechtsordnung und der Marktgesetzlichkeit. Sollten diese Leistungen ausbleiben, so könnte der Staat sie auf ganzer Linie nicht ersetzen und nicht erzwingen. Die, gemessen an den Zielen des Staates, defizitäre Ausstattung mit eigenen Mitteln ist um der Freiheit willen notwendig. Die grundrechtliche Freiheit verträgt nicht die umfassende Inpflichtnahme durch das staatliche Recht. Die vorrechtlichen Verfassungserwartungen 36 Zu den Verfassungserwartungen an die Grundrechtsausübung: Josef Isensee, Demokratischer Rechtsstaat und staatsfreie Ethik, in: Essener Gespräche Bd. 11, 1977, S. 92 (102 ff.); ders., Menschenrechte – Staatsordnung – sittliche Autonomie, in: Johannes Schwartländer (Hrsg.), Modernes Freiheitsethos und christlicher Glaube, 1981, S. 70 (95 ff.); ders., Verfassung als Erziehungsprogramm?, in: Aloysius Regenbrecht (Hrsg.), Bildungstheorie und Schulstruktur, 1986, S. 190 ff.; ders., Grundrechtliche Freiheit – Republikanische Tugend, in: Erich E. Geißler (Hrsg.), Verantwortete politische Bildung, 1988, S. 65 ff. 37 „Universalität einer Staatsgewalt mit begrenzten Mitteln“: Paul Kirchhof, Mittel staatlichen Handelns, in: HStR III, 1988, S. 121 (122 ff.).

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beschränken nicht die grundrechtliche Freiheit, sondern aktivieren sie. Sie bilden ihre inneren Sinn- und Lebensprinzipien. 2.  Umkehr der juristischen Fragestellung In den verfassungsstaatlichen Erwartungen an die Kirche wird die reguläre juristische Fragestellung des Staatskirchenrechts umgekehrt. Der Verfassungsjurist fragt, welche Rechte und Pflichten die Kirche gegen den Staat geltend macht, welche Staatsleistungen sie beanspruchen kann und wo die verfassungsrechtlich gesicherte Grenze kirchlicher Freiheit gegenüber möglicher staatlicher Ingerenz verläuft. Nunmehr erhebt sich die metarechtliche Frage, auf welche spontanen Dienste der Kirche der Staat hoffen darf. Es geht nicht um die rechtlichen Grenzen der Freiheit, sondern um ihren Inhalt, ihren guten, gemeinwohlförderlichen Gebrauch. Die Erwartungen bestimmen sich aus der Sicht des Staates in seiner auf das Säkulare begrenzten Verantwortung für das Gemeinwohl. Seine Erwartungen decken sich nicht notwendig mit den Intentionen der Kirche, die einem transzendenten Heilsauftrag verpflichtet ist, auch wenn sie sich in irdischen Aufgabenfeldern bewegt. Die beiderseitigen Vorstellungen sind vielfach inkommensurabel. Aber sub specie des Gemeinwohls kommt es nicht auf die Absichten an, sondern auf die Wirkungen. So können sich die verfassungsstaatlichen Erwartungen auf säkulare Effekte kirchlichen Handelns richten, die im kirchlichen Selbstverständnis belanglos erscheinen. 3.  Positivrechtlich definierte Erwartungen des Staates an die Kirche Eine positivrechtliche Umschreibung verfassungsstaatlicher Erwartungen enthält die Landesverfassung für Rheinland-Pfalz, die den Freiheitsrechten der Kirchen und Religionsgemeinschaften den Satz voranstellt: „Die Kirchen sind anerkannte Einrichtungen für die Wahrung und Festigung der religiösen und sittlichen Grundlagen des menschlichen Lebens“ (Art. 41 Abs. 1 S. 1).38 Der 38  Der Bestimmung der Verfassung für Rheinland-Pfalz vom 18. Mai 1947 voraus ging die inhaltsgleiche Bestimmung der Verfassung für Württemberg-Baden vom 28. November 1946 (Art. 29). Diese wurde aufgenommen von der heute geltenden Verfassung des Landes Baden-Württemberg vom 11. November 1953 (Art. 4 Abs. 2). Im Parlamentarischen Rat setzte sich die DP dafür ein, eine entsprechende Sentenz in das Grundgesetz aufzunehmen. Sie ging ein in den gemeinsamen Vorschlag von CDU/CSU, Zentrum und DP für einen besonderen Kirchenartikel. Der Vorschlag sollte in der ursprünglichen Form scheitern. Dazu: Klaus-Berto von Doemming u.a. (Hrsg.), JöR N. F. 1 (1951), S. 899 ff.; Paul Mikat, Verfassungsziele der Kirchen unter besonderer Berücksichtigung des Grundgesetzes, in: Rudolf Morsey/Konrad Repgen (Hrsg.), Christen und Grundgesetz, 1989, S. 33 (45 ff.) mit Nachw.; Hollerbach (Fn. 17), S. 485 f.

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Verfassungskommentar von Süsterhenn/Schäfer hebt hervor, daß dieser Satz in der neueren Verfassungsgeschichte ungewöhnlich sei, weil er die Bedeutung der Kirchen für den Staat und das menschliche Leben grundsätzlich umreiße und anerkenne, nichtstaatliche Einrichtungen als wertvoll und unentbehrlich auch für die staatliche Ordnung bezeichne, den Standpunkt bloßer Toleranz hinter sich lasse.39 Die These der rheinland-pfälzischen Verfassung trifft in der Sache zu. Dennoch weckt sie Bedenken. Die Norm enthält keine juristisch operationable Aussage. Das Verfassungsgesetz kommentiert sich hier selbst. Selbstinterpretation des Normgebers ist aber immer verfänglich. Denn diese erübrigt nicht die reguläre Verfassungsauslegung. Sie fordert sie geradezu, damit die metarechtliche Sentenz nicht als Rechtstitel für Pflichten und Ansprüche gedeutet wird und nicht den Kontext einer rechtsstaatlichen Verfassung sprengt. Der Staat bewegt sich auf verfassungsrechtlichem Glatteis, wenn er seine Erwartungen an die Kirche amtlich definiert. Freilich besteht dazu zuweilen praktischer Anlaß, so für die Zentrale Dienstvorschrift „Militärseelsorge“ des Bundesministers der Verteidigung von 1956. Diese umschreibt die Aufgabe der Militärseelsorge, „unter Wahrung der freiwilligen Entscheidung des einzelnen das religiöse Leben zu wecken, zu festigen und zu vertiefen. Dadurch fördert sie zugleich die charakterlichen und sittlichen Werte in den Streitkräften und hilft die Verantwortung tragen, vor die der Soldat als Waffenträger gestellt ist“.40 Doch erläutern das Bundesministerium der Verteidigung und der Generalinspekteur der Bundeswehr in einer Weisung von 1984, daß Militärseelsorge kein Instrument der militärischen Führung sei und daß sie weder der psychologischen Aufrüstung noch der Erziehung zur Kampftüchtigkeit diene.41

39  Adolf Süsterhenn/Hans Schäfer, Kommentar der Verfassung für Rheinland-Pfalz, 1950, Art. 41 Anm. 2 a (S. 195). Vgl. auch Robert Nebinger, Kommentar zur Verfassung für Württemberg-Baden, 1948, Art. 29 Anm. 1. Eine vertiefte Analyse der entsprechenden Bestimmung in Art. 4 Abs. 2 der geltenden Verfassung des Landes Baden-Württemberg gibt Alexander Hollerbach, der hier den „Generalnenner“ für die Einzelbestimmungen des Staatskirchenrechts sieht und deren Legitimationsgrund, die Bedeutung des religiössittlichen Mandats der Kirchen für das sozialethische Fundament des Staates (in: Paul Feuchte [Hrsg.] Verfassung des Landes Baden-Württemberg, 1987, Art. 4 Rn. 27 ff.); ders. (Fn. 17), S. 525 f. 40  Bundesminister der Verteidigung, Zentrale Dienstvorschrift (Merkschrift) „Militärseelsorge“ – ZDv 66/1 – vom 28. August 1956, in: Dokumentation zur Katholischen und Evangelischen Militärseelsorge, Gesetze, Vertrage, Weisungen, Vorschriften (hrsg. vom Evangelischen Kirchenamt für die Bundeswehr und vom Katholischen Militärbischofsamt), 1988, S. 43 (44) sowie in: Essener Gespräche Bd. 23, 1989, Anhang S. 202 ff. 41  Bundesministerium der Verteidigung und Generalinspekteur, Weisung für die Zusammenarbeit mit den Militärgeistlichen vom 12. November 1984, in: Dokumentation (Fn. 40), S. 74 f. Aufschlußreich: Ernst Niermann, Zur Lage der katholischen Militärseelsorge, in: Essener Gespräche Bd. 23, 1989, S. 110 ff.

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In diesem Vorbehalt unterscheidet sich die heutige Führung der Bundeswehr von Gneisenau. Dieser schlug 1811 in einer Denkschrift vor, bei der sich abzeichnenden Volkserhebung gegen Napoleon Geistlichkeit aller christlichen Konfessionen einzuberufen, damit sie durch Predigten über passende Texte und biblische Beispiele den Widerstandsgeist des Volkes anfeuere. Trockener Randvermerk des im Aufklärungsgeiste erzogenen Königs Friedrich Wilhelm III.: „Als Poesie gut“. Zusatz Gneisenaus beim Aktenrücklauf: „Auf Poesie ist die Sicherheit der Throne gegründet.“42 4.  Keine Instrumentalisierung der Kirche Verfassungsstaatliche Erwartungen an die Kirche bedeuten nicht Instrumentalisierung der Religion für verfassungsstaatliche Zwecke, wie sie der aufgeklärte Monarch betrieb, der den Glauben, den er selber nicht besaß, von seinen Untertanen einforderte, damit sie leichter regierbar blieben, oder wie sie der totalitärdemokratische Souverän Rousseaus exekutierte, der jeden Bürger vergatterte, sich zu einer (Zivil-)Religion zu bekennen, die ihn befähigte, seine staatsbürgerlichen Pflichten liebzugewinnen und im Notfall sein Leben seiner Pflicht zu opfern.43 Die Kirchen reagieren aus verständlichen Gründen allergisch, wenn der Staat, auch der demokratische, den Eindruck erweckt, er wolle sich ihnen gegenüber zum Platzanweiser aufwerfen. Doch das ist nicht Sinn der Verfassungserwartungen. Sie respektieren die negative Freiheit der Kirche. Aber diese nimmt nicht Schaden, wenn das politische System – wie Hermann Lübbe formuliert – Interesse hat, sich seiner religionskulturellen Bedingungen zu versichern. „Religion und politisches Gemeinwesen sind in liberaler politischer Kultur gegeneinander frei; aber das Gemeinwesen behält ein Verhältnis zu dem, was ihm gegenüber frei ist, nämlich als zu seiner eigenen kulturellen Bedingung.“44 Der Nutzen, den die Religion dem Verfassungsstaat erbringt, braucht ihr selber nicht nützlich zu sein. Lübbe stellt fest, „daß die Religion, was immer im übrigen ihr sozialer Nutzen sein mag oder auch nicht sein mag, ihren Grund nicht in diesem Nutzen hat, vielmehr, nachdem sie aus einem ganz anderen Grunde da ist, überdies in Abhängigkeit von sekundären kultur- und sozialgeschichtlichen Konstellationen Wirkungen hat, die man für nützlich oder, auf der anderen Seite, auch für weniger nützlich halten mag“.45 42 Dokumentation: A. W. A. Neithardt von Gneisenau, Denkschriften zum Volksaufstand 1808 und 1811 (hrsg. von Harald von Koenigswald), 1936, S. 62. 43  Jean-Jacques Rousseau, Du contrat social, 1762, IV/8. 44  Hermann Lübbe, Religion nach der Aufklärung, 1986, S. 283. 45  Lübbe (Fn. 44), S. 100. Kritik an Versuchen, die Religion aus bestimmten ethischen Funktionen zu rechtfertigen: Robert Spaemann, Christliche Religion und Ethik, in: ders., Einsprüche, 1977, S. 51 (57 f.); ders., Funktionale Religionsbegründung und Religion in: Koslowski (Fn. 21), S. 9 ff.

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Die verfassungsstaatlichen Erwartungen an die Kirche können keinen ekklesiologischen Schaden anrichten. Allenfalls nachzüglerische Katakombenchristen oder systemstabilisierungsallergische Befreiungstheologen mögen hier in Angst geraten. Augustinus hatte jedenfalls keine Furcht und keine Bedenken, als er seine Apologie des Christentums „De Civitate Dei“ schrieb, zu dem Zweck, dem heidnischen Staat zu beweisen, daß die Christen die besten Staatsbürger seien, wenn er sie nur in ihrem Christsein gewähren lasse. 5.  Legitimation der staatskirchenrechtlichen Institutionen Wenn die Erwartungen auch der Kirche als Kirche nichts nützen, so können sie doch dem Staatskirchenrecht nützen, also Institutionen des staatlichen Rechts, indem sie ihnen Legitimation zuführen, die ihrer allgemeinen Akzeptanz und Geltungskraft förderlich ist. Sollte sich erweisen lassen, daß der Sonderstatus der Kirche rechtliche Voraussetzung ihrer besonderen Leistungsfähigkeit im Interesse des verfassungsrechtlichen Gemeinwohls ist, so erweist sich seine lebendige Sinnhaftigkeit.46 Das bekannte Dilemma, daß der Verfassungsstaat aus Voraussetzungen lebt, die er nicht von sich aus garantieren kann,47 wird damit praktisch reduziert. Er kann sie nicht mit Hoheitsgewalt erzwingen und durch eigene Leistungen adäquat ersetzen. Aber er kann jene gesellschaftlichen Kräfte, welche die ihm versagten Leistungen erbringen können, anregen, fördern und mit dem notwendigen rechtlichen Instrumentarium ausstatten. Ein solches Instrumentarium ist das geltende Staatskirchenrecht.

V.  Typologie der verfassungsstaatlichen Erwartungen Das weite Feld des kirchlichen Wirkens läßt sich mit Hilfe einiger grober Raster einteilen und überschaubar machen.

46 Die

Aufnahme besonderer staatskirchenrechtlicher Regelungen in das Grundgesetz wurde im Parlamentarischen Rat auch mit der grundrechtlichen Bedeutung der Kirchen und ihren Verdiensten um das Gemeinwesen begründet. Das Gemeinschaftsleben in Deutschland lasse sich, geschichtlich und kulturell gesehen, von der Tatsache des Christentums nicht loslösen. Gerade die Kirchen seien immer Kämpfer für den Gedanken der persönlichen Freiheit und der Menschenwürde gewesen (so der Abg. Dr. Süsterhenn; ähnlich der Abg. Dr. Seebohm. Nachw.: Klaus-Berto von Doemming u. a. [Hrsg.], in: JöR N. F. 1 [1951], S. 900 f.). 47  Ernst-Wolfgang Böckenförde, Die Entstehung des Staates als Vorgang der Säkularisation (1967), in: ders., Staat, Gesellschaft, Freiheit, 1976, S. 42 (60); ders., Der Staat als sittlicher Staat, 1978, S. 36.

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1.  Affirmative und kritische Dienste, Mittleraufgaben der Kirche a)  Die Leistungen der Kirche für das verfassungsstaatliche Gemeinwohl müssen sich nicht erschöpfen in Affirmation des Bestehenden. Vielmehr kann sie ihm auch dadurch dienen, daß sie fundierte Kritik übt am geltenden Recht und an der herrschenden Staatspraxis, daß sie wider den Stachel der öffentlichen Meinung lökt.48 Das demokratische System vermag, Zuspruch wie Widerspruch anzunehmen. Die Kirche leistet beides. Ihre geistliche Botschaft vermag, je nach Lage der Dinge, den Konsens der Gesellschaft zu stärken, aber auch, Dissens zu markieren und dem etablierten Hedonismus heilsames Ärgernis zu geben. b)  Zu den affirmativen Diensten der Förderung des Staates gehört die sittliche Erziehung der Staatsbürger, die darauf ausgeht, daß sie die Notwendigkeit des Staates einsehen und ihre legitimen Pflichten erfüllen. Die Erziehung durch die Kirche kann die durch den Staat ergänzen (Beispiel: der Religionsunterricht), sie kann sie auch ersetzen (Beispiel: die kirchliche Privatschule). Es gibt einen breiten Bereich konkurrierender Zuständigkeiten,49 in denen die Kirche den Staat entlasten, ihm eigene Veranstaltungen ersparen oder doch den Finanz- und Verwaltungsaufwand mindern kann.50 Dazu gehören die Aufgabenfelder Erziehung, Bildung, Diakonie, Kulturpflege, Denkmalpflege, Friedhofsverwaltung. c)  Die Kirche leistet Kritik und Kontrolle. Die liberale Demokratie hält ihr diese Optionen offen wie anderen Verbänden auch. Freilich tut sich die Kirche hier schwer, ihr Proprium zur Geltung zu bringen und es nicht im Sog der allgemeinen politischen und gesellschaftlichen Antagonismen zu verlieren. Von jeher, in unterschiedlichen Verfassungsepochen, hat die Kirche sich gegenüber dem Staat das Recht zum Widerstand vorbehalten. Als ultima ratio lebt es in Grenzfällen auf, in denen die Staatsgewalt in unerträglichem Maße dem göttlichen und dem natürlichen Gesetz zuwiderhandelt und kein legales Mittel der Abhilfe bereitsteht.

48  Auch die geistliche Kritik der Kirche an Verirrungen des Staates ist „Leistung der Kirche für den Staat“. Das wird von Karl Barth theologisch begründet: Rechtfertigung und Recht, 4. Die Leistung der Kirche für den Staat (1938), in: ders., Rechtfertigung und Recht – Christengemeinde und Bürgergemeinde, 1970, S. 5 (40). 49  Kategorie der konkurrierenden Staatsaufgaben: Georg Jellinek, Allgemeine Staatslehre, 31914, S. 255. Dazu: Isensee (Fn. 35), S. 68 ff., 75 ff. 50  Der Caritasverband errechnet, daß seine Eigenleistungen, einschließlich der ehrenamtlichen Dienstleistungen, ohne die öffentlichen Zuschüsse, im Jahr mehr als 11 Mrd. DM betragen (Franz Spiegelhalter, Was die Freie Wohlfahrtspflege dem Staat erspart, in: Caritas 91, 1990, S. 245 ff.; vgl. auch ders., Der dritte Sozialpartner. Die freie Wohlfahrtspflege – ihr finanzieller und ideeller Beitrag zum Sozialstaat, 1990. – Zur finanzpolitischen Bedeutung der Mitwirkung privater Verbände bei der Erfüllung öffentlicher Aufgaben: Wolfgang Kirberger, Staatsentlastung durch private Verbände, 1978.

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d) In den normalen politischen wie sozialen Konflikten kann der Kirche die Rolle des Mittlers zwischen den Parteien zufallen, des Schlichters oder des Schiedsrichters. Sie hat Gegensätze auszugleichen, Kompromisse zu erarbeiten, Konsens und Frieden zu erwirken. Die konfliktträchtige Ordnung der pluralistischen Gesellschaft und der Parteiendemokratie erzeugt immer wieder das Bedürfnis nach einer Autorität, die außerhalb des Konflikts steht und die von allen Parteien anerkannt wird. Die Kirche bringt für die Mittleraufgabe günstige Voraussetzungen mit, falls sie Distanz wahrt zu den Alltagsstreitigkeiten und falls sie nicht ihrerseits allzu häufig Partei ergreift. In einer Ausnahmelage, in der das staatliche System seine Handlungsfähigkeit einbüßt, können seine Aufgaben zeitweilig auf die Kirche übergehen.51 Solche Not- und Reservefunktionen wurden am Ende des Zweiten Weltkrieges vielerorts in Deutschland von kirchlichen Stellen ausgeübt, im Niemandsland zwischen nicht mehr vorhandener deutscher und noch nicht funktionsfähiger alliierter Gewalt. Ähnlich war die Lage für die Kirchen 1989 in der Deutschen Revolution der DDR. Als die sozialistische Herrschaft zusammenbrach und die etablierten gesellschaftlichen Mächte in ihren Untergang mitzog, blieben die Kirchen als Autoritäten übrig; ihnen wuchs eine Not- und Reservekompetenz zu, um den Bürgerkrieg zu verhindern, ein Minimum an Friedlichkeit zu sichern, das Gespräch herzustellen und zu moderieren, eine Interimsordnung aufzubauen.52 2.  Staatskompatible und -inkompatible Leistungen der Kirche Die Leistungen der Kirche können danach unterschieden werden, ob sie dem System der staatlichen Leistungen paßfähig sind oder nicht. a)  Staatskompatibel sind in weitem Maße die kirchlichen Dienste in der Sozialhilfe und Jugendwohlfahrt, im Gesundheitswesen, in der Denkmalpflege, in der Entwicklungshilfe, im Friedhofswesen. Der kirchliche Kindergarten und das kirchliche Krankenhaus korrespondieren dem kommunalen Kindergarten und dem staatlichen Krankenhaus. Sie sind öffentliche Einrichtungen wie jene auch, als solche Teil eines konzertierten Daseinsvorsorge-Angebots der freien und der öffentlichen Träger. Das kirchliche Krankenhaus ist in einen übergreifenden Finanzierungs- und Planungsverbund eingegliedert mit den sonstigen gemeinnützi51 Nach Schmidtchen gilt die soziologische Regel: „Je größer die soziale Desorganisation, desto stärker die Hinwendung zu religiösen Institutionen, vorausgesetzt, daß diese intakt und hochorganisiert sind“ (Fn. 29), S. 198. 52  Zur Rolle der Kirchen: Uwe Thaysen, Der Runde Tisch. Oder: Wer war das Volk?, in: ZParl 1990, S. 71 ff., 256 ff., bes. S. 82 ff. Ältere Beispiele kirchlicher Notrepräsentation, zumal in Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg: Joseph H. Kaiser, Die Repräsentation organisierter Interessen, 21978, S. 122 ff.; Dorothee Buchhaas-Birkholz, „Zum politischen Weg unseres Volkes“, Politische Leitbilder und Vorstellungen im deutschen Protestantismus 1945 – 1952, 1989, S. 11 ff.

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gen Häusern der privaten und der öffentlichen Hand.53 Wie jene ist es Gegenstand des staatlichen Gesetzes und verwaltungsautonomer Regelungen, etwa durch Subventionsauflagen.54 Weithin stehen die freien und die öffentlichen Träger unter den gleichen rechtlichen Anforderungen. Soweit kirchliche und staatliche Leistungen gleichartig sind, können sie sich gegenseitig ersetzen. Hier ist das Subsidiaritätsprinzip, das den Vorrang der freien vor den öffentlichen Trägern vorsieht, problemlos anwendbar.55 Es stößt dagegen auf rechtlichen Widerstand, soweit die Leistung der Kirche geprägt oder doch gefärbt wird durch ihr Proprium und der Staat als neutraler Hüter der Toleranz auf den Plan gerufen wird.56 b)  Schlechthin staatsinkompatibel ist das religiöse Leben, also Gebet, Gottesdienst, Sakramentenspende, Seelsorge, Glaubensverkündigung. Das unmittelbar religiöse Handeln der Kirche vollzieht sich jenseits des Horizonts des säkularen Staates. Doch auch hier ist kirchlicher Dienst am Gemeinwesen möglich. Ein geistlicher Dienst, der bis in frühe Zeiten der Kirchengeschichte zurückreicht, ist das Gebet für Land, Volk, Regierung. Paulus mahnt zu Bitten, Gebeten, Fürbitten und Danksagungen für alle Menschen, für Könige und Obrigkeiten (1 Tim 2,1). Karl Barth bezeichnet dies als „die intimste und als die alle anderen zugleich umfassende und radikalisierende“ aller Mahnungen. „Weit entfernt davon, daß der Staat Gegenstand der Anbetung werden könnte, ist er, sind seine Vertreter und Träger vielmehr dessen bedürftig, daß für sie gebetet wird. Daß dies geschieht, das ist, grundsätzlich und umfassend gesagt, die Leistung der Kirche für den Staat. Könnte sie ihn deutlicher an seine Schranken und könnte sie sich selber deutlicher an ihre Freiheit ihm gegenüber erinnern, als indem sie so für ihn einsteht?“57 So erhebt sich denn in der Frühe der Kirchengeschichte, in den Bedrängnissen der Christenverfolgung nach Nero, das Gebet des Clemensbriefes für Kaiser und Reich, für Regierende und Regierte (1 Clem 61,1).58 Auch agnosti-

53 Zu diesem System und zu den Reihungen des Staatskirchenrechts: BVerfGE 53, 366 ff.; Otto Depenheuer, Staatliche Finanzierung und Planung im Krankenhauswesen, 1986, S. 138 ff. et passim (Nachw.). 54  Zu Problemen der verwaltungsautonomen Regelung: Walter Leisner, Die Lenkungsauflage, 1982; Michael Stolleis, Behindertenwerkstätten zwischen freier Wohlfahrtspflege und staatlicher Arbeitsverwaltung, 1980. 55  Dazu mit Nachw.: Isensee (Fn. 35), S. 75 ff. 56  Klaus Schlaich, Neutralität als verfassungsrechtliches Prinzip, 1972, S. 213 ff.; von Campenhausen (Fn. 17), S. 235 ff.; Hollerbach (Fn. 17), S. 524 et passim. – Zu den Gemeinwohlaufgaben in weltanschaulich pluralisierten Bereichen: Josef Isensee, Gemeinwohl und Bürgersinn im Steuerstaat des Grundgesetzes, in: FS für Günter Dürig, 1990, S. 33 (62 ff.). 57  Barth (Fn. 48), S. 37.

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sche Herrscher haben hier übrigens einen säkularen Nutzeffekt gefunden: Stärkung der Loyalität, modern gesprochen: staatsbürgerliche Integration.59 58

Staatsinkompatible Leistungen, die heute verfassungsrechtliche Aufmerksamkeit finden, sind der Religionsunterricht und die Anstaltsseelsorge. Dem religiös neutralen Staat ist es verwehrt, über das religiöse Moment dieser Leistungen inhaltlich zu bestimmen. Soweit aber die Kirche ihre Dienste im Rahmen der Staatsorganisation erbringt, wie im Religionsunterricht oder in der Bundeswehrseelsorge, trägt der Staat Sorge für die tatsächlichen Voraussetzungen der Religionsausübung. Die notwendige Abstimmung zwischen Staat und Kirche erfolgt in der Regel durch Koordination, sei es durch förmlichen Vertrag, sei es durch informelle Verständigung. c)  Die Idealtypen der staatskompatiblen und der staatsinkompatiblen Leistung finden sich in der Praxis selten in reiner Form. Hier dominieren die Übergänge und Mischungen. Die Kirche besteht um ihrer geistlichen Sendung willen darauf, daß ihre religiöse Substanz in allen ihren Einrichtungen sichtbar und spürbar zur Geltung kommt. Die geistliche Prägung eines Ordenskrankenhauses muß das ganze Haus in allen seinen Bediensteten erfassen können, nicht nur ausgegrenzte Funktionsbereiche und ausgewählte Bedienstete als „Tendenzträger“, wie es im arbeitsrechtlichen Tendenzbetrieb einer Zeitung oder eines Parteibüros für die jeweils vorgegebene politische Gesamtrichtung gilt. Die Kirchlichkeit muß sich im Geist, in der Ambiance des ganzen Hauses bewähren, wenn es den Anspruch einlösen will, den es vor den Patienten, den Förderern, der Öffentlichkeit erhebt. Ob es tatsächlich diesem Anspruch gerecht wird, hängt von der Glaubenskraft und der Klugheit derer ab, die im Krankenhaus wirken. Der Staat jedenfalls darf hier nicht intervenieren und nicht regulieren. Die Arbeitsgerichte übernehmen sich, wenn sie von sich aus ekklesiologisch unterscheiden wollen, welche einzelnen Mitarbeiter des katholischen Krankenhauses oder des Salesianer-Jugendheims für die kirchliche Sendung bedeutsam sind, welche nicht, wer der kirchlichen Treupflicht unterliegt, wer nicht.60 Das Bundesverfassungsgericht nimmt die staatliche Kompetenzanmaßung zurück und räumt den Weg wieder frei dazu, 58 Zur Literatur: Ludwig Biehl, Das liturgische Gebet für Kaiser und Reich, 1937, S. 29 ff. (Texte von orationes, S. 149 ff.); Paul Mikat, Zur Fürbitte der Christen für Kaiser und Reich im Gebet des 1. Clemensbriefes, in: FS für Ulrich Scheuner, 1973, S. 455 ff. 59  Gemäß Art. 30 des Reichskonkordates vom 20. Juli 1933 ist an den Sonntagen und den gebotenen Feiertagen im Anschluß an den Hauptgottesdienst „ein Gebet für das Wohlergehen des Deutschen Reiches und Volkes“ einzulegen. Lit.: Joseph Listl (Hrsg.), Die Konkordate und Kirchenverträge in der Bundesrepublik Deutschland, 1987, Bd. I, S. 52 Anm. 27. Zur oratio pro patria: August Roedel/Rudolf Pauls, Reichskirchenrecht und neueres Bayerisches Kirchenrecht, 1934, S. 36 f. 60  Exemplarisch: BAG AP Art. 140 GG Nr. 14, 16.

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daß die Kirche ihre Sendung in eigene Organisationen einbringen und so der Gesellschaft vermitteln kann.61 d)  Auf der anderen Seite darf die Kirche nicht erwarten, auf Dauer die Sonderrechte der kirchenspezifischen Verfassungsgarantien für ihre Häuser zu genießen, wenn sie keine spezifische Substanz mehr einbringt, sich dem säkularen Umfeld ohne Vorbehalt anpaßt und die Diakonie sich nicht anders geriert als ein normaler freier Träger der Wohlfahrtspflege. Das dinosaurierhafte Wachstum der Caritas kann zu Legitimationsschrumpfungen führen, falls es nicht begleitet wird von spiritueller Einbindung des Personals und falls die Übernahme neuer Aufgaben lediglich dem Bedürfnis der kirchlichen Großbürokratie entspringt, überall dabei zu sein und sich keine Subventionsofferte entgehen zu lassen, falls sie nicht von der kirchlichen Sache her gerechtfertigt und nicht geeignet ist, das christliche Gebot der Nächstenliebe glaubwürdig zu verwirklichen. Die Caritas begibt sich in zweideutige Gefilde, wenn sie sich am Beratungsverfahren beteiligt, das den Weg zur legalen Abtreibung freimacht, und sich damit in ein System einspannen läßt, gegen das die Kirche ankämpft, oder wenn sie die advokatorische Betreuung von Asylbewerbern übernimmt und über ihre Rechtsbeistände sich die Grenzmoral des Anwaltsstandes zu eigen macht in der Absicht, die offenen Flanken des deutschen Rechtsschutz- und Sozialsystems rechtsmißbräuchlich auszunutzen. 3.  Verfassungsimmanente und verfassungstranszendente Leistungen der Kirche Die kirchlichen Dienste können danach unterschieden werden, ob sie sich innerhalb des verfassungsrechtlichen Horizontes bewegen und dem Vorfeld bestimmter Staatsstrukturen zugerechnet werden können oder nicht: verfassungs­ immanente und verfassungstranszendente Leistungen. Für die einen steht das Beispiel der sozialen Dienste, für die anderen Seelsorge und Kultus. Die erste Gruppe läßt sich nach verfassungsrechtlichen Gesichtspunkten gliedern. Im thematischen Bereich des sozialen Staatsziels liegt die Diakonie.62 Sie vermag, sozialstaatliche Veranstaltungen zu ersetzen oder zu ergänzen und dazu beizutragen, das Gesamtangebot sozialer Leistungen aufzufächern und dem Hilfsbedürftigen ein Mehr an Wahlmöglichkeiten, mithin ein Mehr an realer Freiheit, zu präsentieren. Die Kirche erweist sich als Medium zur Dezentralisation der Leistungen und als Faktor einer sozialstaatlichen Gewaltenteilung. Sie

61  BVerfGE 70, 138 ff. Dazu mit weit. Nachw. Josef Isensee, Kirchliche Loyalität im Rahmen des staatlichen Arbeitsrechts, in: FS für Klaus Obermayer, 1986, S. 203 ff. 62  Eine sozialstaatliche Begründung für die staatliche Förderung der Religionsgemeinschaften entwirft Wilhelm Kewenig, Das Grundgesetz und die staatliche Förderung der Religionsgemeinschaften, in: Essener Gespräche Bd. 6, 1972, S. 9 (14 ff.).

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verhindert, daß der Sozialstaat ein Sozialmonopol gewinnt.63 Die Kirche kann ehrenamtliche Tätigkeit und Spenden für soziale Aufgaben aktivieren, Quellen der gemeinwohlförderlichen Energie, die dem Staat nicht zugänglich sind. Die Kirche kann rascher, beweglicher, anpassungsfähiger Hilfe leisten als der Sozialstaat, obgleich auch sie unter Bürokratisierungszwang steht. Sie ist besonders befähigt, neuartige Notlagen zu erkennen, sich der atypischen, nicht organisierbaren Bedürfnisse anzunehmen, Pionierdienste zu leisten. Ein Grund liegt darin, daß kirchliche Hilfe nicht unter dem gleichen Zwang zu Regelhaftigkeit, Konsequenz und Verallgemeinerungsfähigkeit steht wie die des sozialen Rechtsstaats. In das verfassungsrechtliche Begriffsspektrum fügen sich die kulturstaatlichen Leistungen der Kirche zur Pflege und Vermittlung kultureller Werte und Lebensmuster;64 die rechtsstaatlichen Leistungen zur sittlichen Erziehung des Bürgers zur Pflege und Vermittlung der Ideen, aus denen der Verfassungsstaat lebt: Personenwürde, Freiheit und Gleichheit jedes einzelnen Menschen, Gerechtigkeit, Gemeinwohl, Solidarität,65 die demokratischen Erwartungen zum Einsatz für die Belange des Gemeinwohls, vor allem für jene, die über keine Lobby verfügen, und für die Tugenden des demokratischen Wettstreits.66 Die Kirche, von Haus aus nicht selbst Partei des Wettstreits, kann dazu beitragen, die ethischen Regeln der Demokratie zu sichern: Fairneß, Redlichkeit, Maß und Toleranz, nicht zuletzt die Rahmenbedingungen der Friedlichkeit im politischen Konflikt. Entgegen der Meinung mancher Kirchenkreise werden diese aber durch die (teilweise sogar kirchlich eintrainierten und eingesegneten) Rituale des zivilen Ungehorsams gegen parlamentarische Entscheidungen nicht bewahrt, sondern verletzt. Im Kontext der demokratischen Erwartungen an die Kirche erneuert sich die alte Frage, wie das Verhältnis der Kirche zur Politik heute zu bestimmen ist.

VI.  Das Dilemma Kirche und Politik 1.  Das Politische als Aufgabenfeld und als Gefahrenzone Die Kirche kann dem Gemeinwesen einen Dienst erweisen, wenn sie an der politischen Auseinandersetzung mitwirkt. Ihr Dienst kann aber auch gerade darin bestehen, daß sie sich aus der Politik heraushält. Ihre große, nahezu unlösbare

63 

Absage an ein staatliches Sozialmonopol: BVerfGE 22, 180 (204). s. o. I. 65  s. u. VII, VIII, IX. 66  s. u. VI. 64 

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Schwierigkeit besteht darin, zu erkennen, wann politischer Einsatz geboten ist, wann Zurückhaltung. Die Kirche steckt in einem Dilemma, das so alt ist wie sie selbst. Wenn sie sich auf das politische Feld begibt, läuft sie Gefahr, ihre Identität als Kirche einzubüßen, mit ihr die Fähigkeit, dem Gemeinwesen dienlich zu sein. Auf der anderen Seite darf sie sich dem Politischen nicht von vornherein versagen. Sie kann ihm nicht ausweichen. Es hülfe ihr nicht, sich ängstlich aus dem staatlichen Leben herauszuhalten und sich in den geistlichen Binnenraum zurückzuziehen. Selbst kircheninterne Angelegenheiten können politischen Charakter annehmen, so die Mischehenfrage im Preußen des 19. Jahrhunderts, so die Bischofsernennungen in den deutschsprachigen Ländern des 20. Jahrhunderts. „Politisch“ ist nicht allein eine kirchliche Intervention in Fragen der Raketenstationierung, der Kernenergie oder der Asylrechtsreform. „Politisch“ ist auch der Einsatz für das ungeborene Leben. Obwohl die Kirche hier sittliche und menschenrechtliche Positionen verteidigt und sogar das Grundgesetz und das Bundesverfassungsgericht auf ihrer Seite hat, so begibt sie sich doch in einen Konflikt, der die Gesellschaft spaltet; sie kämpft für eine Sache, die mit hochgradiger Spannung aufgeladen, also politisch ist.67 Schlechthinnige politische Abstinenz ist nicht möglich, weil das Politische kein abgegrenzter Sachbereich ist, sondern ein Aggregatzustand, eine bestimmte Intensität der Polarisierung. Keine Frage des menschlichen Zusammenlebens ist von Natur aus politikresistent, auch nicht die Religion. Das Grundrecht der Religionsfreiheit mindert die Reibungsfläche zwischen Kirche und Staat, beseitigt sie jedoch nicht restlos, weil der Streit über Reichweite und Grenzen der Religionsfreiheit weiterhin möglich bleibt. Überdies ist das Politische nicht an die Staatsgewalt gebunden. In der liberalen Demokratie wirken zahlreiche Kräfte, die fähig sind, eine Frage politisch aufzuladen, Konflikte zu erzeugen und auszutragen: Medien, Parteien, Gewerkschaften. Vor allem hat die Kirche mit einer diffusen, nicht organisierten Macht jederzeit zu rechnen, die mehr denn jede andere Macht als Verbündete nützen, als Widersacherin schaden kann: mit der öffentlichen Meinung. Wie immer die Kirche handelt, gleich ob sie im Frieden mit den obwaltenden Mächten lebt oder im Streit, ob sie sich dem herrschenden Meinungsklima anpaßt oder ihm Ärgernis bedeutet, gewollt oder ungewollt: stets kann sie politische Wirkung äußern.68

67  Das Politische in diesem Sinne entspricht der Lehre Carl Schmitts (Der Begriff des Politischen, Ausgabe 1963, S. 27). Dazu: Ernst-Wolfgang Böckenförde, Der Begriff des Politischen als Schlüssel zum staatsrechtlichen Werk Carl Schmitts, in: Helmut Quaritsch (Hrsg.), Complexio Oppositorum, 1988, S. 283 ff. 68 Zutreffend Ernst-Wolfgang Böckenförde, Politische Theorie und Politische Theologie, in: Jacob Taubes (Hrsg.), Der Fürst dieser Welt, 1983, S. 16 (24).

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Eine Kirche, die sich von Gunst oder Ungunst des Zeitgeistes nicht beirren läßt und die nicht fragt, ob die Wahrheit, in deren Dienst sie steht, den Mächtigen des Tages gelegen oder ungelegen kommt, braucht den politischen Kampf nicht zu fürchten. Es ist allein eine Frage situationsbezogener Opportunitätserwägung, wie weit sie ihn, ohne Schaden für die Sache, vermeiden kann. Die politische Qualität eines Themas ist kein Grund, ihm auszuweichen. Aber sie ist auch kein Grund, sich mit ihm zu befassen. Beide Kirchen neigen heute dazu, sich politisch zu engagieren, sich aller Themen anzunehmen, die ihnen die Tagesaktualität zuträgt, sich keiner politischen Anfrage zu verweigern, keine Einladung zu einer parlamentarischen Anhörung auszuschlagen, das öffentliche Leben auf möglichst ganzer Linie kommentierend zu begleiten, alle sich bietenden Möglichkeiten zu nutzen, um Einfluß auf die öffentliche Meinung zu nehmen, Publizität zu pflegen, Präsenz zu signalisieren. Eine gewisse Vorsicht waltet noch bei den amtlich berufenen Sprechern der Kirche; ungehemmt äußern sich die vielen unberufenen, die selbstermächtigten Sprecher aus rand- und basiskirchlichen Kreisen, die zur Genugtuung oder zum Verdruß der Hierarchie kirchliche Kompetenz für politische Kämpfe in Anspruch nehmen und so extra muros der „Kirche“ zugerechnet werden, und das nicht ohne Grund, solange die zuständigen Repräsentanten sich nicht distanzieren. Da die Medien tagespolitische Stellungnahmen eines Evangelischen Kirchentages oder des Zentralkomitees der deutschen Katholiken leichter vermitteln als geistliche Botschaften, entsteht vollends ein schiefes, einseitiges Bild von einer Kirche, die sich im politischen Engagement verausgabt. Hinter dem verzeichneten Bild der Medienrezeption steckt gleichwohl ein Stück bundesdeutscher Kirchenrealität, und zwar ein überaus heikles. Politisches Engagement ist stets gefährlich, der Ausgang ungewiß, der sachliche Nutzen zweifelhaft, Fehleinschätzung der Voraussetzungen und Folgen nie auszuschließen. Diese Gefahren sind für die Kirche größer als für andere Verbände. Im Unterschied zu den Parteien und pressure groups ist sie nicht als politischer Kampfverband organisiert. Sie würde sich auch als Kirche preisgeben, wenn sie sich so verstünde. Die Parteinahme im politischen Konflikt kann dazu führen, daß der Konflikt auf das Innere der Kirche zurückschlägt, das Kirchenvolk spaltet und abspenstig macht. Die Einheit des Kirchenvolkes aber gründet nicht in verfassungsrechtlichen und politischen Prinzipien und nicht in einem Konzept vom staatlichen Gemeinwohl, sondern in der Taufe, im Glauben, in der Altargemeinschaft. Die politisierende Kirche gerät leicht in Verlegenheit, wenn sie erklären soll, was gerade sie als Kirche zu einem streitigen Thema zu sagen hat, was also nicht irgendein anderer Verband ebenso kompetent oder kompetenter zu sagen vermöchte. Sie läuft Gefahr, daß ihr Erscheinungsbild sich anpaßt dem säkularer Verbände, daß ihr Wort verwechselbar wird, daß sich ihre Autorität abnutzt und

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am Ende kein Gehör mehr findet, wenn der Ernstfall kommt, der ihren Einsatz tatsächlich fordert. Distanzloses Engagement in der Tagespolitik führt die Kirche in heikle Allianzen mit nichtkirchlichen Gruppen, mit denen sie sich desavouiert. Das Religiöse sinkt ab zum Instrument für politische Zwecke, wenn Talar und Bäffchen als Uniform für biopazifistische Protestmarschierer dienen, wenn politische Pastoren Freiluftgottesdienste zelebrieren vor Kernkraftwerken mit militanten Umweltschützern, auf dem IBM-Firmengelände mit Gewerkschaftern. Die größte Gefahr für die Kirche, die in den Sog des Politischen gerät, ist ihre innere Säkularisierung durch Mutation der Religion zu innerweltlichen Heilslehren, die in den diversen Befreiungstheologien aufbereitet werden: die Übertragung des Transzendenzglaubens in diesseitige Ideologien, die ganzheitlichen politischen Lebenssinn geben, das Sozialheil, das Friedensheil,69 das Umweltheil; Ideologien, die säkularisierte Erlösungs- und Apokalypsebedürfnisse der Massen stimulieren und monomanische Aufgeregtheit am Kochen halten, die politische Kampfziele zu letzten absoluten Gewißheiten steigern, die Höllenbilder des Kapitalismus, des Rassismus, der Naturzerstörung aufbauen und in die Wolken die Vision eines neuen Jerusalem projizieren, das einstmals erstehen werde aus der Asche Pretorias. Derzeit freilich haben polit-religiöse Visionäre geopolitische Orientierungsschwierigkeiten, weil die Visionen, die sich herkömmlich, in der Nachfolge Ernst Blochs – „ubi Lenin, ibi Jerusalem“ – auf Moskau und Managua gerichtet haben, heimatlos geworden sind.70

69  Aus guten theologischen und staatsphilosophischen Gründen warnt Joseph Ratzinger davor, die Religionen zu instrumentalisieren für ein Weltreich des Friedens, das über ein Weltkonzil und eine Weltunion der Religionen heraufgeführt werden solle: Wenn Gott nur noch als Mittel für ein „höheres“ Ziel dienen, also nicht mehr Gott sein solle, so verwandele sich der „Frieden“ entweder in das Totalitäre des allein zulässigen Denkens oder schlage um in den Weltbürgerkrieg (Der Auftrag der Religion angesichts der gegenwärtigen Krise von Frieden und Gerechtigkeit, in: Osservatore Romano. Wochenendausgabe in deutscher Sprache vom 20. 1. 1989, Nr. 3, S. 6 [7]). 70  Zu den Bestrebungen politischer Theologie im Zeichen des (Neo-)Marxismus, der Emanzipationsideologien und der Sozialwissenschaften mit Materialnachweisen: Wilhelm Weber, Wenn aber das Salz schal wird . . . Der Einfluß sozialwissenschaftlicher Weltbilder auf theologisches und kirchliches Sprechen und Handeln, 1984; Martin Kriele, Befreiung und politische Aufklärung, 1980, S. 218 ff.; Rupert Hoffmann, Chiliasmus statt politischer Vernunft, in: ZIP 29 (1982), S. 331 ff.; ders. (Hrsg.), Gottesreich und Revolution, 1987; ders., Politik als Religion, in: FS für Helmut Kuhn, 1989, S. 77 ff.; ders., Soziologie als theologische Grunddisziplin?, in: Communio 19 (1990), S. 453 ff.; Wolfgang Ockenfels, Politisierter Glaube?, 1987 – jeweils mit Nachweisen.

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2.  Die Schwierigkeit, grundrechtliche Freiheit zu handhaben Die Kirche tut sich im Verfassungsstaat schwerer als im kirchenverfolgenden totalitären Staat, ihre politische Position zu bestimmen.71 Dort hat sie einen Feind, einen übermächtigen einzigen Feind. Auf ihn kann sie sich einstellen, den Widerstandsfall erkennen und das Widerstandsrecht ausüben. Die katholische Kirche in Polen hat das gegenüber der sozialistischen Despotie bewiesen. Gestützt auf Massenloyalität, brachte sie Glaubenskraft, Mut, Unbeirrbarkeit und langen Atem auf, um jahrzehntelange Unterdrückung durchzuhalten und am Ende den ersten tiefen Riß in den Machtbeton des realexistierenden Sozialismus zu treiben, der nun auf ganzer Linie zerfällt. Doch heute, nach dem Ende von Verfolgung und Unterdrückung, in die Freiheit entlassen, in die liberale Demokratie und in die pluralistische Gesellschaft, warten auf sie neue, subtilere, heiklere Probleme. Im Verfassungsstaat, soweit er funktionstüchtig ist, tritt der Widerstandsfall nicht auf. Das Widerstandsrecht ist abgelöst durch Grundrechte und demokratische Verfahren, die den friedlichen Wettbewerb und die freie Einigung offenhalten. Die Kirche ist der Gefahr wie der Chance des Martyriums enthoben. Dafür bietet sich die Chance der rechtlich gesicherten Freiheit auch auf politischem Feld, verbunden aber mit der Gefahr, sich politisch zu blamieren. Heroische Tugenden werden in verfassungsstaatlicher Normalität nicht nachgefragt, vielmehr die schwierigeren und subtileren Tugenden des bürgerlichen Lebens: Zivilcourage und politische Klugheit, Augenmaß und Gerechtigkeitssinn unter den Bedingungen der demokratischen Mehrheitsfindung und des gesellschaftlichen Interessenwettbewerbs. Keine Drohung mit Temporaliensperre, kein Kanzelparagraph, keine fürsorgliche Gängelung des Staates nimmt das Risiko der politischen Freiheit ab. Staatskirchenrechtslehre und Theologie haben manche Formel über das Verhältnis der Kirche zum politischen Leben entwickelt: Hüter- und Wächteramt, Verantwortung für den Staat, Öffentlichkeitsanspruch, Einmischungspflichten, Glaube, moralisches Gewissen der Gesellschaft zu sein.72 Die Formeln haben ihre papierene Plausibilität. Aber sie bieten keine praktische Hilfe, wenn die Kirche vor der Frage steht, ob sie das Wort ergreift oder nicht und wie sie das richtige 71  Das bedeutet jedoch nicht, daß es nicht auch unter den Bedingungen des totalitären Staates, der mit Zuckerbrot und Peitsche arbeitet und die Verwirrung der Geister zur Herrschaftstechnik erhebt, Schwierigkeiten für die Kirche gibt, die Lage richtig einzuschätzen und den richtigen Weg zu finden, um als Kirche zu leben oder zu überleben: Abkapselung (die katholische Kirche in der DDR) oder riskante Symbiose (die evangelische Kirche als „Kirche im Sozialismus“), Andienung (die „Deutschen Christen“ von 1933) oder Widerspruch (die Bekennende Kirche). 72 Dazu: Klaus Schlaich, Der Öffentlichkeitsauftrag der Kirchen, in: HStKirchR Bd. II, 1975, S. 231 ff.

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Wort findet. Kein Rechtsprinzip und keine sozialethische Maxime können die Urteilskraft ersetzen, eine heute rare Ressource, auch in alten, erfahrungs- und prinzipiengesättigten Institutionen. Urteilskraft bedeutet das, was Aristoteles und Thomas unter Klugheit verstehen. Die Klugheit ist eine Kardinaltugend. Für politisch Handelnde ist sie zugleich politische Tugend. 3.  Besondere deutsche Befindlichkeit Die politisierende Kirche ist, geschichtlich gesehen, kein neues Phänomen, auch keine deutsche Besonderheit. Dennoch wirkt sich die eigentümliche gegenwärtige Befindlichkeit der Deutschen auf das politische Handeln der Kirche aus, vor allem der kirchlichen Aktionsgruppen, aber auch, wenngleich sublimierter, der amtskirchlichen Stellen.73 Die Kirche leidet unter dem Vorwurf, daß sie vormals unter dem Unrechtsstaat geschwiegen habe. Aus Angst, noch einmal des schuldhaften Schweigens angeklagt zu werden, redet sie heute unentwegt, ohne sich darüber Rechenschaft zugeben, ob sie gerade als Kirche jeweils etwas zu sagen hat. Da das richtige Wort zu seiner Zeit Widerstand gewesen wäre, neigt sie heute dazu, wenn sie Unrecht zu sehen glaubt, sich auf das Widerstandsrecht besinnen zu müssen, obwohl sich die Rahmenbedingungen geändert haben, politische Kritik ihr staatliches Risiko verloren hat und demokratische Normalität geworden ist. Der immerwährende nachträgliche Widerstandskampf der Deutschen, der den Faschismus in der parlamentarischen Demokratie aufspürt, rekrutiert sich nicht zuletzt aus kirchlichen Kreisen; er empfängt geistlichen Segen, biblische Rechtfertigung und pastorale Aufmunterung; er bezieht aus der mediengerechten Tagestheologie das gute Gewissen für den Rechtsbruch.74 Mit der westdeutschen Intellektuellenszene sind der heutigen politischen Theologie gemeinsam 73 Symptomatisch für das Vergangenheitsbewältigungssyndrom der evangelischen Kirche ist das intensive und extensive Zitieren der Barmer Erklärung, die zu einer sakrosankten Schriftautorität aufgestiegen ist, wie sie den Paulusbriefen verloren ging. Die Ursache liegt weniger in der theologischen Substanz jenes situationsbedingten Textes als in seiner Eignung zum historischen Entlastungszeugnis. 74 Exempel für zeitgeistsynchronisierte theologische Rabulistik in der Rechtfertigung des „zivilen Ungehorsams“, der „Friedensbewegung“, der Selbstermächtigung zum Bruch der demokratischen Legalität im Dienste höherer Friedensziele: Wolfgang Huber, Die Grenzen des Staats und die Pflicht zum Ungehorsam, in: Peter Glotz (Hrsg.), Ziviler Ungehorsam im Rechtsstaat, 1983, S. 108 ff. – Kritik an der zweideutigen, hilflosen Einstellung der evangelischen Demokratie-Denkschrift von 1985 zu Widerstand gegen parlamentarische Entscheidungen: Walter Schmitt Glaeser, Private Gewalt im politischen Meinungskampf, 1990, S. 100 ff. – Bemerkenswerte Aufbereitung und Analyse kirchlichen Materials zum Thema Rechtsgehorsam und Widerstand: Andreas Püttmann, Römer 13 heute: Der Rechtsgehorsam in der grundgesetzlichen Demokratie, (unveröffentlichte) phil. Magisterarbeit, Bonn 1990, bes. S. 58 ff.

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die Staatsreizbarkeit und die Staatsgrämlichkeit, das hypochondrische Leiden an dem ewigen Hitler in der deutschen Seele. Da das Unrecht, zu dem die Kirche vormals schwieg, vom Staat ausging, richtet sich ihr Reden nun zumeist gegen den Staat, obwohl dieser heute nicht mehr Diktatur, sondern demokratischer Rechtsstaat ist und die Macht mit ihrem Gefahrenpotential nicht mehr in ihm monopolisiert, sondern auf viele gesellschaftliche Kräfte verteilt ist, von denen freilich die Unternehmer zuweilen in das Fadenkreuz kirchlicher Kritik geraten. Kirchliche Verlautbarungen gegenüber dem Staat gleichen denen anderer Verbände darin, daß in ihnen Forderung, Abwehr, Kritik vorherrschen. Der demokratische Staat trägt diese Ingerenzen mit Fassung; er ist darauf eingerichtet. Doch die Kirche könnte sich einmal selber fragen, ob sie ihm nicht zuweilen eine kleine Dosis mehr Affirmation zuführen konnte: Ermutigung in seinem undankbaren, mühseligen Geschäft, sich mit den Notwendigkeiten zu arrangieren und widerstreitende Interessen im Blick auf das Gemeinwohl auszugleichen. 4.  Die besondere staatskirchenrechtliche Voraussetzung: Freistellung der Kirche vom Interessenkampf Die Kirche bringt kraft ihrer geistlichen Sendung keine eigennützigen Interessen in den gesellschaftlichen Interessenwettbewerb ein.75 Nur in einem schmalen Sektor hat auch sie eigene Organisationsbelange zu wahren, wenn es etwa um die Finanzierung ihrer Krankenhäuser und Privatschulen geht oder um die rechtlichen Rahmenbedingungen des Religionsunterrichts. Das Eigeninteresse richtet sich auf die Funktionstüchtigkeit des kirchlichen Instrumentariums, auf Mittel des kirchlichen Handelns, nicht auf Inhalt und Ziel. Das staatskirchenrechtliche System der Bundesrepublik entlastet die Kirchen weithin von der Not der materiellen Selbstbehauptung. Es gewährleistet nicht nur die Freiheit vom Staat, sondern auch deren finanzielle Voraussetzungen. Hierzulande braucht sie nicht wie in den USA einen guten Teil ihrer Energie auf die eigene materielle Subsistenz zu verwenden. Das deutsche System der Kirchensteuer ermöglicht Unabhängigkeit gegenüber privaten Großspendern.76 Die Kirche kann sich somit ganz ihrer Sendung widmen. Sachlichkeit und Altruismus werden ihr 75  Zum Phänomen der Kirchen als Interessengruppen die Pionierarbeit Joseph H. Kaisers, Die Repräsentation organisierter Interessen, (Fn. 52), S. 122 ff. et passim. S. auch Paul Mikat, Zur rechtlichen Bedeutung religiöser Interessen, 1973. 76  Dieses Argument zugunsten des deutschen Kirchensteuersystems hatte entscheidenden politischen Einfluß in den Weimarer Verfassungsberatungen. Es führte der Kirchensteuer Zustimmung gerade im laikalen Lager zu. Der SPD-Abgeordnete Dr. Quarck: „Das amerikanische Vorbild der Unterhaltung von Kirchen durch einzelne Großkapita-

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institutionell erleichtert. Eigeninteressen verstellen nicht den Blick auf das Gemeinwohl. Gelegen oder ungelegen, vermag sie zu tun, was ihres Amtes ist. Die Kirche ist also nicht von Haus aus Partei im Interessenkampf. In der Regel entscheidet sie aus freien Stücken darüber, ob sie Partei ergreift oder nicht. Sie kann sich gerade der öffentlichen Belange annehmen, die sonst keinen Anwalt finden. Das eindrucksvollste Beispiel ist der Schutz des Menschen vor seiner Geburt. Die konstitutionelle Interessenfreiheit der Kirche ist jedoch ambivalent. Die staatskirchenrechtliche Subsistenzabsicherung hat ihre Kehrseite. Kirchensteuerfinanzierung ist keine religiöse Leistung. Die Kirche kann sich nicht mit den Vögeln des Himmels und den Lilien des Feldes vergleichen. Dennoch neigt sie zu einer politischen Theologie der Geringschätzung alles Ökonomischen. Eine Institution, die ihren eigenen Unterbau nicht selbst erarbeiten muß, entwickelt nicht so leicht Verständnis für die materiellen Voraussetzungen, die Private, Unternehmer wie Arbeitnehmer, und, auf seine Weise, auch der Staat sich erst verschaffen müssen, und von denen ihre Handlungsfähigkeit wie ihre Wohltätigkeitskapazität abhängen. Vielleicht liegt hier ein Grund für die kirchentypische Blindheit gegenüber marktwirtschaftlichen Rahmenbedingungen und betriebswirtschaftlichen Erfordernissen; und ein Grund auch, jede noch so vorsichtige Regung der Staatsraison zu verteufeln und sich moralisierendem Rigorismus zu überlassen, wie er in den „erfahrungsverdünnten“ Räumen unserer Gesellschaft so üppig gedeiht, in Schule, Universität, Fernsehanstalt – und eben auch Kirche.77 Kirchliche Äußerungen lassen durchwegs das Sensorium für Interessen vermissen; sie überspringen den Vitalbereich der pluralen Gesellschaft, um unvermittelt ethische Bindungen und Grenzen anzumahnen. Eine Soziallehre ohne Interessenbezug bleibt blaß und lebensfern. In der liberalen Demokratie sind es gerade die individuellen und die partikularen Interessen, die den freiheitlichen Prozeß der Gemeinwohlfindung in Gang halten. Sie vermitteln ihren Sachwaltern Erfahrung, Bodenhaftung, Verantwortung, common sense. Just jene Eigenschaften gehen der Kirche ab, wenn sie sich aus interessenloser Ganzheitsschau zu Tagesfragen äußert: Energiepolitik, Abrüstung, Arbeitszeitverkürzung, Unternehmensfusion, Asylverfahrensfinessen, Kommunalwahlrecht für Ausländer.

listen mit entsprechendem Einfluß des Großkapitals auf das kirchliche Leben ist nicht nachahmenswert und nicht im Sinne des Sozialismus“ (Prot. S. 199). 77 Grundlegend Hermann Lübbe, Der Triumph der Gesinnung über die Urteilskraft, 1987.

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5.  Theologische Kompensation fachlicher Inkompetenz Je mehr sich die Kirche auf konkrete politische Streitfragen einläßt, desto mehr läuft sie Gefahr, aus Mangel an eigener konkreter Sachkompetenz ganzheitlichem Dilettantismus anheimzufallen. Das gefährlichste Mittel, Inkompetenz zu kompensieren, ist politische Ideologie. Im Arsenal der Ideologien findet sich manche, die sich dem religiösen Weltbild als paßfähig anbietet, besonders aufdringlich in den letzten Jahrzehnten der Marxismus als säkularisierte Eschatologie. Neuerlich treibt die Ökologie pseudoreligiöse Blüten. Wenn mancher Theologe heute vom Himmel redet, meint er nur noch das Ozonloch, redet darüber aber mit derselben Gewißheit wie weiland von den neun Chören der Engel. Die Theologie gerät auch in einen Kompetenzengpaß, wenn sie sich verfassungsstaatliche Kategorien zu eigen macht wie Menschenrechte und Demokratie. Sie neigt dazu, rechtliche, organisatorische und wirtschaftliche Voraussetzungen der Menschenrechte zu vernachlässigen, die Rahmenbedingungen der Demokratie gering zu schätzen, dafür aber politischen Moralismus einzubringen, gesinnungsethischen Rigorismus, Progressus-in-infinitum-Programme. Rechtsinstitute zerfließen unter der Hand leicht zu dem, was Hegel den „Brei des Herzens“ genannt hat. Da sich die Kirche nach langer Abkehr nun den Menschenrechten zuwendet, hält sie nicht inne vor ihrer verfassungsrechtlich gesicherten, praktikablen Gestalt als liberalen Grundrechten. Vielmehr geht sie unvermittelt darauf aus, sie auszuweiten, zu überhöhen, zu vertiefen, zu verinnerlichen. Die Kirche akzeptiert heute die Demokratie, gegen die sie eineinhalb Jahrhunderte angekämpft hat. Doch die Demokratie genügt ihr nicht in deren verfassungsrechtlicher Realität als Staats- und Regierungsform; sie will diese sogleich transzendieren hin zur Demokratie als Lebensform – was immer das sei.78 6.  Verfassungsstaatliche Erwartungen an das politische Engagement der Kirche Es ist nicht Sache des Verfassungsstaates, die Kirche aus dem Dilemma des Politischen zu befreien. Im Gegenteil: er steigert das Dilemma (das er nicht erzeugt hat) dadurch, daß er ihr Freiheit und Subsistenzsicherheit gewährleistet und auf seiner Seite das Risiko von Sanktionen fernhält. 78 Ein Grund für die Schwäche der zeitgenössischen katholischen Staatslehre liegt darin, daß sie Struktur und Notwendigkeit des modernen Staates als Friedens-, Machtund Entscheidungseinheit vernachlässigt. Sie versucht, von ihrer Basis in der mittelalterlich-thomasischen Staatsphilosophie unvermittelt zu den staatsrechtlichen Themen der Menschenrechte und der Demokratie zu gelangen, vom Aquinaten, vorbei an Bodin und ­Hobbes, sogleich ins 20. Jahrhundert.

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Die Kirche trägt bei ihrer politischen Tätigkeit noch nicht einmal ein besonderes verfassungsrechtliches Risiko. Wenn sie die tatbestandlichen Grenzen der Religionsfreiheit und des kirchlichen Selbstbestimmungsrechts überschritte, weil sie sich allzu weit von dem Bild entfernt, das sich die Verfassung von Religionsausübung und spezifisch kirchlichem Wirkungskreis macht, so fiele sie nicht ins Leere. Sie würde aufgefangen von den allgemeinen, religions- und kirchenindifferenten Grundrechten der Meinungsfreiheit, der Vereins- und der Versammlungsfreiheit. Sie genösse immer noch die grundrechtlich gesicherte Freiheit zu politischer Betätigung, und zwar die gleiche Freiheit, wie sie nichtkirchlichen Verbänden zusteht. Gleichwohl wird hier deutlich, daß die Verfassung die Kirchen nicht deshalb mit einem Sonderstatus auszeichnet, weil sie Verbände sind wie andere auch, sondern weil sie anders sind, weil sie trotz ihrer partiellen Übereinstimmung mit jenen, eine eigene, kirchenspezifische Identität aufweisen; ihr Proprium. Die Verfassungserwartung richtet sich darauf, daß das Proprium in der Praxis der Kirche zur Geltung kommt. Wie läßt sich dieses von säkularer Warte bestimmen?

VII.  Staatsethische Dienste der Kirche am Verfassungsstaat Die eigentümliche Aufgabe, die der Kirche herkömmlich von der Aufklärung zuerkannt wird, ist die Wahrung der sittlichen Grundlagen des Gemeinwesens. Dieses sittliche Mandat entspricht dem Selbstverständnis der Kirche.79 In ihm erweist sie sich wieder als grundsätzlich komplementäre Größe zum Verfassungsstaat der, soweit er seine Befehls- und Zwangskompetenzen wahrnimmt, allein Hüter der Legalität ist.80 Die Kirche aber geht auf Moralität aus. Das christliche Gebot der Nächstenliebe ist geradezu das Komplementärethos zu der negativen Grundrechtsfreiheit der Staatsverfassung. Es vermag jener Inhalt und Sinn geben und den Gefahren der Anspruchsegozentrik gegenzusteuern. Der Staat schafft und sichert die rechtlichen Voraussetzungen und Rahmenbedingungen der Freiheit. Sache der Kirche ist es, auf den Bürger einzuwirken, von seiner Freiheit einen guten Gebrauch zu machen, die staatlichen Gesetze anzunehmen, soweit sie nicht sittlich verwerflich sind, und sie im demokratischen Verfahren zu verbessern, soweit sie den Mindestforderungen des Sittengesetzes nicht genügen.

79  Zentrales Dokument des Zweiten Vatikanischen Konzils ist die pastorale Konstitution „Gaudium et spes“ vom 7. Dezember 1965 n. 76 et passim. 80  Zu den begrenzten nichtobrigkeitlichen Mitteln des Staates, auf die Bürger einzuwirken: Kirchhof (Fn. 37), S. 194 ff. Josef Isensee, Freiheit – Recht – Moral, Das Dilemma des Rechtsbewußtseins im deutschen Verfassungsstaat, in: Klaus Weigelt (Hrsg.), Freiheit – Recht – Moral, 1988, S. 14 (29 ff., 36 ff.).

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Doch das sittliche Mandat verwandelt sich damit nicht in ein rechtspolitisches. Die verfassungsstaatlichen Erwartungen stufen die Kirche nicht ein als pressure group der Moral. Vielmehr ist die Rechtspolitik nur ein Mittel des sittlichen Mandats, nicht sein Inhalt. Es richtet sich denn auch nicht primär an den Gesetzgeber, sondern an die Bürger. Von diesen hängt in der Demokratie das sittliche Niveau der Gesetze ab. Moral läßt sich nicht von oben herab durch Gesetze regulieren. Wenn heute die Abtreibungsseuche grassiert, so ist es die erste Aufgabe der Kirche, die sittlichen Begriffe bei den Menschen wieder richtigzustellen, das Ethos der sexuellen Folgenverantwortung der Jugend einzupflanzen, die Überzeugung einzuwerben von der Unverfügbarkeit des Lebens auch vor der Geburt, den Willen zum Kind zu ermutigen und den Frauen zu helfen, die seelischen wie die sozialen Belastungen einer unerwünschten Schwangerschaft durchzustehen. Die Kirche kann auch tun, was in ihrer Macht liegt, um Rückstände gesellschaftlicher Diskriminierung der nichtverheirateten Mutter und des nichtehelichen Kindes abzubauen und aktiv mitzuwirken, die Lebenswelt nach der Geburt des Kindes zu bessern. Erst subsidiär kommt der Staat als Adressat der Kirche in Betracht. Ihr Appell an den Gesetzgeber, den defizitären rechtlichen Schutz des Lebens zu reformieren, wird um so wirksamer sein, je mehr Bürger ihn mittragen.81 Es wäre verfehlt, dem Verfassungsstaat das eigene Ethos abzusprechen. Doch sein Ethos, das vornehmlich in der Verfassung Ausdruck gefunden hat im Bekenntnis zur Würde des Menschen, zu Freiheit, Gleichheit der Person und zu sozialer Gerechtigkeit, ist nur fragmentarisch. Das Allgemeine, das der Staat repräsentiert, ist also nicht das Ganze. Darin gründet das Dilemma des staatlichen Erziehungsauftrages in der Schule, daß er durch Neutralitäts- und Toleranzgebote eingeschränkt wird, obwohl Erziehung immer auf den ganzen Menschen zielt.82 Die Kirche hingegen kann einen ganzheitlichen sittlichen Lebensentwurf vermitteln und darin die staatliche Erziehung ergänzen. Freilich hat sie, im Unterschied zum Staat, kein originäres Erziehungsmandat, sondern ein abgeleitetes, das sich auf den Willen der Eltern stützen muß. Die Kirche, die nicht unter den verfassungsrechtlichen Neutralitätspflichten steht, kann dazu beitragen, die sittlichen Voraussetzungen des freiheitlichen Gemeinwesens zu festigen und zu erneuern. Sie strebt damit nicht an, einen „christlichen Staat“ wiederherzustellen. Vielmehr geht sie gerade davon aus, daß der 81  Die Kirche wird unglaubwürdig, wenn sie ohne Not für ihren Bereich das staatliche Beihilferecht übernimmt, das die Aufwendungen für den „nicht rechtswidrigen“ Schwangerschaftsabbruch für beihilfefähig erklärt. Einen diffusen, pharisäischen Rechtfertigungsversuch unternahm die Landessynode der Evangelischen Kirche im Rheinland 1986 (Beschluß Nr. 92, „Hilfe zum Leben“, Teil 1). 82 Dazu: Schlaich (Fn. 56), S. 91 ff.; Isensee, Erziehung (Fn. 36), S. 190 ff.

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Staat nicht christlich sein kann, daß er aber auf die Ressourcen des Christentums angewiesen ist, die nicht seiner Verfügungsmacht unterliegen. Das sittliche Engagement der Kirche stellt auch den Pluralismus der Gesellschaft nicht in Frage, weil sie, selber ein Faktor des Pluralismus, sich müht, den Grundbestand an ethischer Gemeinsamkeit zu erhalten. Allein ihr sittliches Mandat vermag nicht, die verfassungsrechtliche Sonderstellung der Kirche zu erklären. Sie hat von Verfassungs wegen kein exklusives sittliches Wächteramt. Moralische Kompetenz beanspruchen heute viele Instanzen der Gesellschaft. Aus der Medien- und Intellektuellenszene kommen die Volkserzieher, die Sinngeber, die Gesinnungsrichter, die nationalen Bußprediger, die deutschen Jeremiasfiguren.83 Verfassungsrechtliche Erwartungen können sich nur schwer auf die Kirche als Gewissen der Gesellschaft fixieren. Denn Gewissen zu sein, ist heute in Deutschland konventioneller Ehrgeiz. Unter ihrem historischen Trauma, in der Schule des nachträglichen Ungehorsams, haben die Deutschen gelernt, wie Odo Marquard feststellt, „daß man – wo Schuldvorwürfe es überlasten – das Gewissen nicht mehr zu haben braucht, wenn man das Gewissen wird … das Tribunal, dem man entkommt, indem man es wird“.84 Nicht das Ethos als solches macht das Proprium aus, sondern der christliche Glaube, aus dem das Ethos hervorgeht. Sittliche Forderungen und Sinnangebot der Kirche bekommen ihre spezifische Qualität aus dem Glauben. Hier liegt der letzte und der eigentliche Grund, auf dem die Kirche in ihrem Dienst am Verfassungsstaat gründet. Die besonderen Erwartungen des Verfassungsstaates richten sich auf die Kirche als religiöse Instanz.

VIII.  Religiöse Dienste der Kirche am Verfassungsstaat Das Reich, dem die Kirche zu dienen hat, ist das Reich Gottes, das nicht von dieser Welt ist. Der Christ sucht seine letzte Erfüllung nicht im Diesseits. Die Hoffnung, das Paradies hier auf Erden zu schaffen, ist Wahn, jeder Versuch von vornherein zum Scheitern verurteilt, weil diese Erde unvollkommen ist, wie auch die menschliche Natur unvollkommen ist, weder vollkommen gut, noch vollkommen böse. Sie ist erbsündig, und sie ist erlöst. Der Christ erwartet sein Heil nicht vom Staat und verschont ihn deshalb mit Erwartungen, die er niemals einlösen und deren Erfüllung er redlicherweise noch nicht einmal verheißen könnte. Der Transzendenzglaube immunisiert gegen die Gefahr, daß der Drang des Menschen nach dem Absoluten sich in das Politische kehrt, daß sich die politische Auseinandersetzung zum Glaubenskampf steigert, 83  Helmut Schelsky, Die Arbeit tun die anderen. Klassenkampf und Priesterherrschaft der Intellektuellen, 1975. 84  Odo Marquard, Abschied vom Prinzipiellen, 1981, S. 12.

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die Sache des Gemeinwesens in die Hände der Zeloten gerät, daß absolute Heilsoder Unheilsgewißheit den sensiblen Prozeß der demokratischen Einigung zerstört. Der Verfassungsstaat als Staat des Maßes gedeiht nur in einem gemäßigten Klima der Gesellschaft. Er verträgt nicht monomanische Aufgeregtheit und Ungeduld der Massenbewegungen, die um eines einseitigen absoluten Zieles willen alles andere in Frage zu stellen bereit sind, auch die staatlich gewährleistete Zivilität, das Mehrheitsprinzip, die Gewaltenteilung. Je weiter die Gesellschaft sich der Hoffnung auf die Transzendenz entfremdet, desto stärker wirkt die Verführung der innerweltlichen Erlösungsideologien, die ein Endreich der Freiheit, der Gerechtigkeit, der heilen Umwelt verheißen. Der politische Chiliasmus, der in mancherlei Gestalt das 20. Jahrhundert heimgesucht hat, kann sich nicht in der Toleranzverfassung des Rechtsstaats genügen. Er ist seiner Grundtendenz nach totalitär. Damit läßt sich die negative religiöse Voraussetzung des Verfassungsstaates bestimmen: Er lebt davon, daß eine hinreichende Zahl seiner Bürger ihr Heil in der Transzendenz suchen.85 Der Transzendenzglaube schafft fundamentale Distanz zu dieser Welt, damit zu Staat und Politik. Der glaubende Christ geht nicht auf in den Dingen dieser Welt. Sein Glaube liegt jenseits aller politischen Unterscheidungen. Von Haus ist er weder konservativ noch progressiv. Das Christentum identifiziert sich nicht mit bestehenden Zuständen, und nicht mit Fortschrittsprogrammen.86 Der Transzendenzglaube gibt dem Christen die Grundgelassenheit für den politischen Kampf, der nicht an die höchsten und letzten Dinge rührt und nicht den heiligen Ernst fordert, dafür aber Tugenden eines gleichsam sportlichen Wettkampfes verlangt: Annahme von Spielregeln der Chancengleichheit und der Fairneß, paulinisch gesprochen: die Bereitschaft zu siegen, als siegte man nicht, und zu verlieren, als verlöre man nicht. Denn die Demokratie kennt keinen endgültigen Sieg und keine endgültige Niederlage. Sie fordert zwar für ihre Gesetze den Rechtsgehorsam, nicht aber die Einsicht in ihre Richtigkeit. Ihre Gesetze bleiben diskutabel und revidierbar. In dem geschichtsoffenen Weltbild der Demokratie kann der Christ sein eigenes Weltbild in seinem Diesseits-Aspekt wiedererkennen. Die christliche Weltdistanz bedeutet nicht Weltabkehr. Sie rechtfertigt nicht Resignation und nicht Indolenz. Im Gegenteil: der Christ wendet sich aktiv der Welt zu, weil er sich in ihr, hier und nirgendwo anders, für immer zu beweisen hat. Es ist nicht Zufall, daß die Aktivität, die Wesenszug des neuzeitlichen Men-

85 Näher: Josef Isensee, Die Säkularisierung der Kirche als Gefährdung der Säkularität des Staates, in: Gerfried W. Hunold/Wilhelm Korff (Hrsg.), Die Welt für morgen, 1986, S. 164 (173 ff.). 86 Dazu: Martin Dibelius, Das soziale Motiv im Neuen Testament, in: Botschaft und Geschichte, Gesammelte Aufsätze von Martin Dibelius (hrsg. von Günther Bornkamm) Erster Band, 1953, S. 178 (193).

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schentypus wie des modernen Staates ist,87 sich auf dem christlichen Kulturboden Europas entwickelt hat; sie ist Derivat des Christentums.88 Die Verantwortung, unter der der Christ sub specie aeternitatis lebt, hat mittelbare Folgen für das politische Handeln. Sie fordert das Ethos des guten Verwalters, der stets bereit ist, Rechenschaft abzulegen, das Ethos des Treuhänders für die Menschen und die Güter, die ihm anvertraut sind. Für die Kirche folgt daraus: Sie dient dem Verfassungsstaat um so wirksamer, je mehr sie ihren geistlichen Auftrag lebt, der ihm verschlossen ist. Wenn sie in innerweltlichen Intentionen aufgeht und sich dem weltlichen Verfassungsstaat angleicht, büßt sie die Gabe ein, ihm weltlichen Nutzen zu bringen.89

IX.  Kirche und Aufklärung 1.  Das fragmentarische Konzept des Verfassungsstaates Der prinzipielle Widerstand, den die Kirche über eineinhalb Jahrhunderte dem Verfassungsstaat entgegensetzte, galt vor allem den philosophischen Ideen, aus denen im 18. Jahrhundert seine Institutionen hervorgingen: der Aufklärung.90 Nach langem Kampf hat sie nun ihren Frieden mit ihr gemacht. Sie erkennt genu87 Dazu 88 Zur

Herbert Krüger, Allgemeine Staatslehre, 11964, S. 62 ff. europäisch-christlichen Bedingtheit des modernen Staates, Isensee (Fn. 15),

Sp. 139 f. 89  Karl Barth sieht den eigentlichen „Dienst der Kirche für den Staat“ in der Erfüllung ihres geistlichen Auftrages. „Es heißt dann doch wohl, daß die entscheidende Leistung der Kirche für den Staat schlicht darin besteht, daß sie ihren Raum als Kirche behauptet und ausfüllt. Indem sie das tut, wird aufs Beste auch für den ganz anderen Raum des Staates gesorgt. Indem sie die göttliche Rechtfertigung verkündigt, wird aufs Beste auch der Aufrichtung und Erhaltung des menschlichen Rechtes gedient. Keine direkte Aktion, die sie, in wohlmeinendem Eifer selber halb oder ganz politisch handelnd, unternehmen und durchführen könnte, könnte auch nur von ferne mit der positiven Relevanz derjenigen Aktion verglichen werden, in der sie, ganz apolitisch, ganz ohne Eingriff in die staatlichen Belange, das kommende Königreich Christi und also die Rechtfertigung allein durch den Glauben verkündigt: die rechte schriftgemäße Predigt und Unterweisung und die rechte schriftgemäße Verwaltung der Sakramente. Indem sie diese Aktion vollzieht, ist sie es, die, im geschöpflichen Raum betrachtet, den Staat begründet und erhält. Der Staat wird, wenn er weise ist, im letzten Grunde nichts als eben dies von ihr erwarten und verlangen, weil darin alles, was sie für ihn leisten kann, darin auch jene ganze umfassende politische Verpflichtung ihrer Glieder enthalten ist“ (Fn. 48, S. 46). „Der Staat aber empfängt diese Leistung und lebt heimlich davon, ob er darum weiß und dafür dankbar ist oder nicht, ob er es so wahrhaben oder nicht wahrhaben will“ (ebd. S. 41). 90  Zum ambivalenten Verhältnis der Kirche zum modernen Bewußtsein: Ernst-Wolfgang Böckenförde, Zum Verhältnis von Kirche und moderner Welt, in: Reinhart Koselleck (Hrsg.), Studien zum Beginn der modernen Welt, S. 154 ff.; ders., Kirche und modernes Bewußtsein, in: Communio 15 (1986), S. 153 ff.

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in christliche Substanz: die Unverfügbarkeit der Würde des Menschen als Person, seine individuelle Freiheit, seine geschöpfliche Gleichheit, die Einheit und Solidarität des Menschengeschlechts, Grundvertrauen in die Zukunft des Menschen. Nunmehr wird es offenbar: Die Menschenrechte sind Kinder des Christentums, freilich illegitime, lange verleugnete Kinder. Spät hat die Kirche sie anerkannt. Heute aber bekennt sie sich offen zu ihnen. Sie setzt sich mit ganzer Kraft für sie ein. Mit ihrer vormaligen Widersacherin, der Aufklärung, hat sie sich nunmehr verbündet. Sie stabilisiert deren Werk dadurch, daß sie ihre freiheitlichen Hervorbringungen schützt gegen den Zugriff der Totalitarismen.91 Die Übereinstimmung von Christentum und Aufklärung vollzieht sich im Horizont der humanen Vernunft. Aber das Christentum erschöpft sich nicht in diesem Horizont. Jenseits verbleiben wesentliche Elemente der Offenbarungsreligion: Schöpfung, Erbsünde, Erlösung, Gericht, persönliche Unsterblichkeit. Die Aufklärung blendet die eschatologische Dimension des Glaubens aus. Sie verdrängt das apokalyptische Element. Dem Humanen opfert sie das Heilige. Zwischen Christentum und Aufklärung bleibt eine notwendige Differenz. Die Kirche darf sie nicht auflösen dadurch, daß sie sich selbst der Fasson der Aufklärung unterwirft und ihre Botschaft auf eine Religion in den Grenzen der bloßen Vernunft reduziert: Humanitätsphilosophie und Nächstenliebe, glaubensindifferentes Menschenrechtschristentum, demokratisches und soziales Ethos, Emanzipationsideologie, Drittweltreligion, Naturfrömmigkeit, Pastoralökologie und Umweltexorzismus, kurz: eine Zivilreligion neuer Art. Wenn die Kirche sich dergestalt zurückbildete, entglitte ihr der geistliche Einfluß auf die Gesellschaft. Das religiöse Leben entzöge sich ihrer spirituellen Disziplin, könnte in voraufklärerische, vorchristliche Formen zurückfallen, in Barbarei, Magie, Obskurantentum. Menetekel für Kirche und Staat sind heute die Jugendreligionen, der islamische Fundamentalismus, okkultistische Bewegungen, Satanskulte, Esoterik, postmodernes Schamanentum.92 Wenn die Botschaft der Kirche auf die aufklärerischen Derivate des Christentums schrumpfte, bliebe sie dem Verfassungsstaat gerade den komplementären Dienst schuldig, den nur sie ihm zu leisten fähig ist. Der Verfassungsstaat lebt nicht aus sich heraus, er ist angewiesen auf die gesellschaftlichen Kräfte, die jene Gemeinwohlleistungen hervorbringen, die ihm in seinen Säkularitäts-, Neutralitäts- und Freiheitsbindungen versagt sind. Das Ethos des Allgemeinen, dem er verpflichtet ist, bleibt fragmentarisch, angelegt auf Ergänzung zum Gan91 Vgl.

Kriele (Fn. 70), S. 248 ff.; Lübbe (Fn. 45), S. 236 f, 238 et passim. Zu den bisher wenig beachteten Phänomenen der letzteren Art: Gerhard Adler, Woran glauben die Leute eigentlich? Das alte Credo und die neuen Privatreligionen, in: Armin Mohler (Hrsg.), Wirklichkeit als Tabu, 1986, S. 159 ff. – Zur New-Age-Bewegung: Rupert Hoffmann, Vom marxistischen zum mystischen Utopismus, in: ZfP 37 (1990), S. 292 ff. 92 

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zen, die nicht der Staat leisten kann, sondern die Grundrechtsträger. Das Allgemeine bedarf des Besonderen, um ein Ganzes zu werden, um ethische Vitalität zu gewinnen, um Lebens- und Weltsinn zu vermitteln. Das Christentum ist ein ganzheitlicher Welt- und Lebensentwurf, fähig, das verfassungsstaatliche Ethos aufzunehmen, wie dieses in ihm ein mögliches, nicht das einzig mögliche, aber das adäquate Gegenüber findet. Der Verfassungsstaat bildet kein autarkes säkulares System. Das Grundgesetz zeigt in der invocatio dei der Präambel, daß es, ohne seine religiöse Neutralität preiszugeben, sich der Religion offenhält. Offen zur Religion ist das Bekenntnis zur unantastbaren Würde des Menschen, die den positivrechtlichen Grund der Verfassung bildet, der seinerseits nicht mehr rechtlich begründbar ist, noch nicht einmal mit den Mitteln der Philosophie. Kant postuliert die Menschenwürde, aber er begründet sie nicht. Das aber leistet die christliche Offenbarung: daß der Mensch von Gott geschaffen und erlöst zu persönlicher Unsterblichkeit bestimmt ist und daß Gott selbst Menschennatur angenommen hat.93 2.  Die christliche Gewaltenteilung In Konkordanz und Diskordanz von Verfassungsstaat und Kirche verwirklicht sich die allen verfassungsrechtlichen Gewaltenteilungen vorausliegende christliche Gewaltenteilung, welche der totalen Inpflichtnahme des Menschen durch eine politische Macht entgegensteht. Das Christentum spricht den schlechthinnigen Vorbehalt gegen jede irdische Macht aus. Der christliche Weltvorbehalt ist die Grundlage jeder menschenrechtlichen Freiheitsgewähr. Das macht sich geltend im Widerstandsrecht des Christen, der Gott mehr gehorchen muß als dem Menschen (Apg. 5, 29), nicht minder in der christlichen Rechtfertigung der Staatsgewalt und der christlichen Begründung des Bürgergehorsams, wie sie Paulus in Röm 13 gibt. Der Christ schuldet nicht dem Staat Gehorsam, sondern Gott. Wenn er dem Staat gehorcht, so tut er es nicht seiner Macht wegen, nicht seiner Gesetze und nicht seiner Verfassung wegen, sondern Gottes wegen. Er gehorcht überhaupt nicht dem Staat, sondern er gehorcht allein Gott. Das ist die einzige Revolution der Weltgeschichte, die das Prädikat einer großen verdient: das Christentum hat der weltlichen Obrigkeit durch seine Anerkennung eine neue Grundlage untergeschoben.94

93  Die christliche Deutung und Grundlegung der Menschenwürde enthielt das Opfergebet der tridentinischen Messe, das die Liturgiereform des Zweiten Vaticanum aus dem Meßtext strich: „Deus, qui humanae substantiae dignitatem mirabiliter condidisti et mirabilius reformasti …“. 94  Carl Schmitt, Die Sichtbarkeit der Kirche. Eine scholastische Erwägung, in: Summa, 1. Jg. (1917/18), 1. Heft, S. 71 (74).

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X.  Knappheit der religiösen Ressourcen Die Erwartungen jenseits aller verfassungsstaatlichen Erwartungen: daß die religiöse Substanz ausreicht, um als Sauerteig in der Gesellschaft wirken zu können. Es geht nicht darum, daß das Christentum die ganze Gesellschaft eint – das ist keine aktuelle Vision mehr –, wohl, daß die „Gruppe“ der Christen stark genug ist, um als Kraft innerhalb des Pluralismus auf die anderen „Gruppen“ zu wirken. Wie das Klima in unseren gemäßigten Breiten sich veränderte, wenn das Eis der Polkappen abschmölze oder die Tropenwälder vernichtet würden, so hängt das geistige Klima der pluralen Gesellschaft ab von der Wirksamkeit der Religion, die vielleicht nur noch in einer Minderheit lebendig bleibt. Zu Anfang dieses Jahrhunderts schrieb ein deutscher Staatsrechtslehrer: alles, was es an wahrem Respekt vor dem Geistigen auf der Erde noch gebe, sei das Erbe des mittelalterlichen Christentums, von dem wir, wie Lehrlinge, die die Portokasse unterschlagen haben, noch ein paar Jahrhunderte in dulci jubilo lebten.95 Die These, daß das Gemeinwesen auch in seiner verfassungsstaatlichen Gestalt von christlicher Substanz zehrt, hat viel für sich. Und die Zweifel mehren sich, ob die Substanz sich hinlänglich regeneriert. Die numerische Größe der Kirchen in der Bundesrepublik ist immer noch eindrucksvoll, trotz der erheblichen Zahl der Kirchenaustritte in den beiden letzten Jahrzehnten. Doch die innere Lösung aus den hergebrachten kirchlichen Bindungen ist ein stetiger, immer breiterer und tieferer Prozeß. Die Paganisierung schreitet voran. Das Kirchenvolk schrumpft von innen her. Der weite volkskirchliche Mantel beginnt zu schlottern. Obwohl die Kirchen bisher nahezu unangefochten ihre Stellung in der Öffentlichkeit bewahrt haben, beschränken sie sich zunehmend darauf, konsensfähige Botschaften, Appelle zu sozialer Gerechtigkeit, Entwicklungshilfe, Umweltschutz, zu erheben, indes ihr religiöses Wirken sich außerhalb der Öffentlichkeit vollzieht, Öffentlichkeit geradezu scheut, wie wenn sich Religion zu genieren hätte.96 Frömmigkeit neigt zum Rückzug ins Private. Das Beten umgibt sich mit Scham, in der Gesellschaft, die sonst alle Scham, falsche wie richtige, abwirft. Doch es wäre voreilig, aus soziologischen Beobachtungen und Trends auf unaufhaltsame Dekadenz des Religiösen rückzuschließen. Das Religiöse ist nicht statistisch meßbar; es läßt sich nicht quantifizieren. Erscheinungen des Verfalls sind nicht zu übersehen, aber auch nicht Regungen der Hoffnung, die, solange es das Christentum gibt, das letzte Wort behält. Es gibt Wachstumsvorgänge, die 95 

Carl Schmitt, Die Buribunken, in: Summa, 1. Jg. (1917/18), 4. Heft, S. 89 (91 Fußnote). 96  Soziologische Bestandsaufnahme über die Akzeptanz kirchlicher Aktivitäten: Gerhard Schmidtchen, Was den Deutschen heilig ist, 1979, besonders S. 81 ff., 188 ff.

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unmerklich sind. Wachsen des Brotes in der Winternacht. Zwar trifft Reinhold Schneider die Realität heute wie nie zuvor in diesem Jahrhundert: „Jetzt ist die Zeit, da sich das Heil verbirgt Und Menschenhochmut auf dem Markte feiert, Indes im Dom die Beter sich verhüllen.“

Aber Reinhold Schneiders Sonett hört so nicht auf. „Bis Gott aus unsern Opfern Segen wirkt. Und in den Tiefen, die kein Aug entschleiert, Die trocknen Brunnen sich mit Leben füllen.“

Die Zukunftsfähigkeit des deutschen Staatskirchenrechts Die Zukunftsfähigkeit des deutschen Staatskirchenrechts

Gegenwärtige Legitimationsprobleme* Die Zukunftsfähigkeit des deutschen Staatskirchenrechts. Gegenwärtige Legitimationsprobleme

„Auch das beste Recht, wenn es sich sträubt, einem neuen Platz zu machen, muß den Beweis erbringen, daß es mehr ist als ein toter Buchstabe, als eine Last und ein Hemmnis. Es bleibt ‚Recht‘ auch ohne diesen Beweis, aber ein Recht, dem jeder wünscht, daß es dem formellen Unrecht unterliegen möge.“ Theodor Fontane „In 50 Jahren gehört der Dom uns.“ Eine Gruppe jugendlicher Türken, skandierend, mit gereckten Fäusten, vor dem Kölner Dom, auf der mitternächtlich stillen Domplatte, in der Nacht des 16. August 1998, 750 Jahre nach der Grundsteinlegung der gotischen Kathedrale.

I.  Legitimationsbedarf in Permanenz Wie alles positive Recht ist das Staatskirchenrecht angewiesen auf Akzeptanz. Davon befreit keine Rechtsgarantie, noch nicht einmal die Inkorporation in die Verfassung oder die Absicherung durch Konkordat. Das Recht vermag nicht, aus sich heraus die reale Grundlage seiner Wirksamkeit und Dauer zu gewährleisten. Diese aber liegt in der Anerkennung durch die Rechtsgemeinschaft. Zu ihr gehören nicht allein die unmittelbar Normbetroffenen, also die Kirchen und ihre Mitglieder, sondern auch die kirchenfernen Gruppen der Gesellschaft, die niemals mit Religion und Kirche in Berührung kommen. Betroffen oder nicht, jedermann ist in der Demokratie dazu berufen, auf Wahrung und Wandel des Rechts, auf Schaffung oder Abschaffung der Normen hinzuwirken. Akzeptanz ist eine rechtssoziologische Kategorie, keine juristische und keine moralische. Akzeptanz meint nicht Überzeugung von der Richtigkeit der Normen, auch nicht Identifikation mit deren Inhalt. In der Praxis besagt sie zumeist nicht viel mehr als das Ausbleiben eines politisch erheblichen Widerstandes. Unter normalen Bedingungen genügt es, daß die Rechtsgenossen die Normen praktisch befolgen und konkludent hinnehmen. Hergebrachte Rechtseinrichtungen werden unter günstigen Umständen durch bloße Rechtsgewöhnung getragen. Sie reicht aber nicht aus, *  Erstveröffentlichung in: Festschrift für Joseph Listl, 1999, S. 67 – 90.

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wenn Zweifel am Hergebrachten aufkommt und die Tradition fragwürdig wird. In der Akzeptanzkrise zeigt sich, ob die Kräfte der Zustimmung denen der Ablehnung standhalten. Mit der Intensität und dem Ausmaß der Ablehnung steigt der Legitimationszwang: die bestehenden Normen müssen sich als sinnhaft und zustimmungswürdig erweisen. Doch besteht gerade heute Grund, einen besonderen Legitimationsbedarf anzunehmen? Auf den ersten Blick bietet der des deutschen Staatskirchenrechts keinen Anlaß. Es hat sich im Laufe der Zeiten als zählebig und im Wechsel der Verfassungen als anpassungsfähig erwiesen. Zu fürchten hat es, das zeigt seine Geschichte, totalitäre Systeme, nicht aber konstitutionelle. Fundamentalopposition erfährt es zwar aus Zirkeln wie der Humanistischen Union, in denen liberalistische Rückstände des 19. Jahrhunderts, kulturkämpferischer Impetus, ultramontane Phobie und kirchenfeindliches Ressentiment konserviert werden. Doch die einschlägig motivierte Attacke des FDP-Kirchenpapiers von 1973/74 brach rasch zusammen. Neuere Vorstöße aus dem linken Lager, zumal von seiten der Grünen, gehen bisher ins Leere. Keine der großen Parteien des Landes stellt heute den Status quo der Beziehungen von Staat und Kirche von Grund auf in Frage. Auch in der Rechtswissenschaft regt sich prinzipielle Kritik nur spärlich; sie ist das Metier von Einzelgängern. Überwiegend verhält sich die Staatsrechtslehre affirmativ zu den Institutionen des Staatskirchenrechts, die, vom Grundgesetz unterfangen und seinen Strukturen angepaßt, sich unter seiner Ägide schöpferisch entfalten. Die herrschende Lehre wird repräsentiert durch das von Joseph Listl initiierte Handbuch des Staatskirchenrechts der Bundesrepublik Deutschland, das in seinen beiden Auflagen von 1974/75 und von 1994/95 jeweils den Stand der Forschung resümiert und diesen zugleich innovatorisch transzendiert.1 Die wissenschaftliche Hegemonie liegt bei den Befürwortern des geltenden Staatskirchenrechts.2 Dessen Lage, so scheint es, ist stabil. Eine Akzeptanzkrise ist nicht zu erkennen. In seinem Umfeld herrscht rechtspolitische Windstille. Doch Windstille verheißt nicht Sicherheit vor dem Unwetter. Der Eindruck der Stabilität ist trügerisch. Wenn eine Akzeptanzkrise nicht offen zum Ausbruch gelangt, so kann sie sich doch latent vollziehen, in stiller Erosion. In ihrer Unmerklichkeit ist diese gefährlicher als das politische Bombardement, das die Verteidiger weckt und auf den Plan ruft. Ohne daß die Beteiligten es spüren, wandelt

1  Handbuch des Staatskirchenrechts der Bundesrepublik Deutschland, 2 Bde., erste Auflage 1974/75, hrsg. von Ernst Friesenhahn und Ulrich Scheuner in Verbindung mit Joseph Listl; zweite, grundlegend neubearbeitete Auflage 1994/95, hrsg. von Joseph Listl und Dietrich Pirson. 2  Protestation gegen die herrschende Lehre: Gerhard Czermak, Zur Entwicklung und Gegenwartslage des sogenannten Staatskirchenrechts, in: ders., Staat und Weltanschauung, 1993, S. 249 ff. (Auswahlbibliographie mit „kritischen Hinweisen“, S. 23 ff.).

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sich das Rechtsbewußtsein, und die Fundamente, auf denen die Institutionen des Rechts stehen, zerbröseln. Akzeptanz ist eine Frage der alltäglichen Rechtsanwendung. Die Normen des Staatskirchenrechts, die in Verfassungen und Verträgen, in Gesetzen und Observanzen gründen, gewinnen Leben allein in der Praxis der Beteiligten. Die hergebrachten Rechtsauffassungen müssen sich in tätiger Interpretation erneuern. Diese Voraussetzung der Rechtskontinuität aber ist immer prekär. Der KruzifixBeschluß des Bundesverfassungsgerichts bietet ein Lehrstück, wie eine scheinbar gefestigte Grundtendenz der Rechtsprechung über Nacht durchbrochen und ein jäher Kurswechsel der Interpretation vollzogen werden kann allein dadurch, daß das Richterpersonal, mit ihm das interpretatorische Vorverständnis, wechselt.3 Das bestehende Staatskirchenrecht ist im wesentlichen Werk der Interpretation. Daher steht und fällt es mit seinen Interpreten. Zugespitzt: die bestehende Ordnung des Staatskirchenrechts könnte gewendet werden ohne einen Federstrich des Gesetzgebers, vollends ohne Revision des Verfassungstextes, durch bloße Änderung der Geschäftsverteilung zwischen dem ersten und dem zweiten Senat des Bundesverfassungsgerichts. Akzeptanzbedarf erzeugt Rechtfertigungszwang. Die Institutionen des Staatskirchenrechts, vom Religionsunterricht bis zur Kirchensteuer, erhalten die Chance der Dauer nur, indem sie sich als fähig erweisen, den wechselnden Herausforderungen der Umwelt zu begegnen und sich der Gesellschaft in der jeweiligen Lage sinnhaft darzustellen. Der Rechtfertigungszwang hört niemals auf. Die Legitimationsgründe, die traditionell wirksam gewesen sind, bieten keine Gewähr dafür, daß sie auch künftig verfangen werden. Das Schicksal der Konfessionsschule warnt. Die Schulform war Gegenstand der verfassungspolitischen Kontroverse in den ersten Nachkriegsjahren. Vor allem die katholische Kirche hatte sich für die konfessionelle Bekenntnisschule eingesetzt. Mehrere Landesverfassungen, zumal die von Bayern und Rheinland-Pfalz, enthielten entsprechende Garantien. Doch diese reichten nicht aus, um die Existenz der Konfessionsschule dauerhaft zu sichern, weil die Akzeptanz in zwei Jahrzehnten dahinschwand und der Widerstand übermächtig wurde. Verfassungsnormen können Akzeptanz nicht ersetzen; denn sie sind ihrerseits auf Akzeptanz angewiesen, um wirksam zu bleiben. Die Bekenntnisschule vermochte sich nicht mehr als Regeltypus zu rechtfertigen, und sie fiel Ende der Sechziger Jahre wie ein Kartenhaus zusammen.4 Proben der Akzeptanz können sich bei unspektakulären Anlässen ergeben wie dem, daß Staat und Kirche sich über eine Änderung der Kirchensteuergesetze verständigen 3  BVerfGE 93, 1. Analysen in: Hans Maier (Hrsg.), Das Kreuz ein Widerspruch, 1996; Winfried Brugger/Stefan Huster (Hrsg.), Der Streit um das Kreuz in der Schule, 1998. 4  Übersicht über die Entwicklung Alexander Hollerbach, Grundlagen des Staatskirchenrechts, in: Josef Isensee/Paul Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland (= HStR), Bd. VI, 1989, § 138 Rn. 40 ff.

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müssen, um für die Kirchenfinanzen bedrohliche Folgen einer Reform des Einkommensteuerrechts, an das die Kirchensteuergesetze anknüpfen, aufzufangen. Legitimation ist keine juristische Aufgabe. Denn ihr Thema ist nicht die richtige Auslegung, sondern der Aufweis, daß die Normen (genauer: die Normen, wie sie sich in ihrer Auslegung darstellen) Zustimmung der Rechtsgemeinschaft verdienen. Der Jurist ist aufgrund seiner fachlichen Kenntnis der Normen besonders qualifiziert, an der Legitimation mitzuwirken. Doch verfügt er dabei über kein Monopol. Wenn er sein eigentliches Feld verläßt und sich zu Fragen der Legitimation äußert, stößt er auf die Konkurrenz von Politikern und Politologen, Lehrern und Journalisten, von professionellen und unprofessionellen Meinungsbildnern, von Talk-Show und Stammtisch.5 Der Zugang zum Diskurs über die Legitimation steht allen offen. Nicht zuletzt die Kirchen reden mit. Sie reden in eigener Sache, weil es um ihren staatsrechtlichen Status geht. Legitimation ist zwar auch ein Thema der Wissenschaft. Doch das Urteil fällt die Praxis des Gemeinwesens. Entscheidend ist nicht die theoretische Qualität der Argumente, sondern der soziale Erfolg, eben die Akzeptanz. Der Legitimationsbedarf als solcher ist keine Besonderheit des Staatskirchenrechts. Aber diese staatsrechtliche Materie weist besondere Eigenschaften auf, die sie von anderen Rechtsmaterien unterscheidet. Dieser Eigenart wegen ist der Legitimationsbedarf besonders groß, und es ist besonders prekär, ihm Genüge zu tun. Er ist auch besonders vielseitig. Denn, komplex wie es ist, muß sich das Staatskirchenrecht nicht nur gegenüber einer bestimmten Herausforderung behaupten, sondern gegen zahlreiche und unbestimmte, wechselnde Herausforderungen. Es steht in einem virtuellen „Vielfrontenkrieg“ der Legitimation.

II.  Historisch geprägtes Recht in geschichtsvergessener Gegenwart Das Beziehungsgefüge von Staat und Kirche in Deutschland ist geprägt durch Geschichte. Es ist nicht so sehr gemacht als gewachsen. Wer es ganz verstehen will, muß es in seine historischen Wurzeln zurückverfolgen, die durch unterschiedliche Verfassungsepochen hindurch in Tiefenschichten führen, in denen Staat, Kultur und Religion noch eins waren. Das geltende Recht trägt Spuren der Herkunft aus dem Christentum als dem gemeinsamen Grunde Europas, aus der Glaubensspaltung und aus der Genese des modernen Staates, aus Konfessionskämpfen und Religionsfrieden, aus Säkularisierung von Kirchengut und staatlichen Kompensationsleistungen, aus herkömmlichem Staatskirchentum und schiedlich-friedlicher Trennung. Im Staatskirchenrecht sind Erfahrungen 5 Zum Erscheinungsbild der Kirche in den Medien: Andreas Püttmann, Kirche im Zerrspiegel der Medien, in: Festschrift zum 50. Jubiläum der Deutschen Tagespost, 1998, S. 153 ff.

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von Jahrhunderten gespeichert: Probleme und ihre Lösungen, Widersprüche und ihr Ausgleich, Konflikte und Verfahren ihrer Austragung, Spannungen und Formen, in denen sie auszuhalten sind. In dem Schlüsselprinzip der Parität, in dem der Gleichheitssatz spezifische staatskirchenrechtliche Gestalt annimmt, wirken Verhaltensmuster weiter, die sich nach der Reformation im Nebeneinander der Konfessionen um des Friedens willen im Reich eingespielt haben.6 Die verfassungsrechtliche Regelung der Staatsleistungen als Ablösungsauftrag und als interimistische Garantie (Art. 138 Abs. 1 WRV i. V. m. Art. 140 GG) erschließt sich nur im historischen Kontext: einerseits aus den staatlichen Entschädigungen für die Säkularisationen des 16. – 19. Jahrhunderts sowie andererseits aus dem Kompromiß der Weimarer Nationalversammlung zwischen den laikalen und den kirchenfreundlichen Kräften dahin, die überkommenen Vermögensbeziehungen für immer zu entflechten, jedoch die Leistungen vorläufig aufrechtzuerhalten, bis die neue Form des Ausgleichs gefunden wird.7 Allgemein gilt, daß die Interpretation des Staatskirchenrechts historischen Sinn erfordert. Eben dieser aber ist heute rar. Das ist einer der Gründe, weshalb das Rechtsgebiet unter Juristen zunehmend in den Ruf des Esoterischen gerät, mit der fatalen Folge, daß es als Domäne einer kleinen Zahl von Spezialisten gilt, indes die Generalisten des Staatsrechts sich zurückziehen. Vollends erheben sich Schwierigkeiten, die Materie der politischen Öffentlichkeit zu vermitteln, deren Langzeitgedächtnis geschwächt und die wenig geneigt ist, sich auf historische Begründungen einzulassen. Eine Gesellschaft, die sich in ihrer großen Mehrheit ungerührt, mit der sowjetzonalen Bodenreform von 1945 – 1949 abfindet, dürfte wenig geneigt sein, die Säkularisationen des 16. und des 19. Jahrhunderts heute noch ohne weiteres als Grund für Entschädigungsleistungen anzuerkennen. Traditionale Legitimation paßt nicht in landläufige Vorstellungen, daß die deutsche Geschichte erst 1949 mit dem Inkrafttreten des Grundgesetzes beginne und daß sich davor die schwarze Mauer des NS-Unheils erhebe, die von keiner Tradition überstiegen werden könne. Das unhistorische Denken der Aufklärung lebt wieder auf: im Lichtreich der Demokratie wendet man sich ab vom finsteren „vordemokratischen“ Mittelalter. Die außerordentliche historische Kontinuität des Staatskirchenrechts könnte gerade zum legitimatorischen Verhängnis werden. Weil traditionale Legitimation derzeit keine Erfolgschance hat, bedarf es der funktionalen: aus Lebens- und Leistungsbedürfnissen des heutigen Gemeinwesens. Eine wesentliche rechtsdogmatische Vorleistung einer solchen Legitimation 6 Dazu Martin Heckel, Die religionsrechtliche Parität, in: Friesenhahn/Scheuner/Listl (Fn. 1), Bd. 1, 1974, S. 445 (451 ff.). 7 Zu den Weimarer Verfassungsberatungen: Carl Israël, Geschichte des Reichskirchenrechts, 1922, S. 33 ff., 55; ders., Reich – Staat – Kirche, 1926, S. 18 ff. Allgemein Josef Isensee, Staatsleistungen an die Kirchen und Religionsgesellschaften, in: Listl/Pirson (Fn. 1), Bd. I, 1994, S. 1009 ff.

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(freilich nicht die Legitimation selbst) liegt in der Interpretation der hergebrachten Einrichtungen des Staatskirchenrechts aus dem Kontext des gegenwärtigen Verfassungsstaates. Das Grundgesetz, das die überkommenen Normen sich inkorporiert, hebt diese auf – in dem schönen, dreisinnigen Verständnis Hegels von „Aufheben“: das Grundgesetz bringt die Tradition zum Erlöschen, indem es ihre Substanz in geltendes Recht verwandelt, es bewahrt die Substanz, indem es diese sich anverwandelt, und es hebt diese auf eine neue Ebene. Den Anstoß zu einer solchen Neubewertung gibt Joseph Listl, der das Staatskirchenrecht mit der Religionsfreiheit verknüpft und von diesem Grundrecht her interpretiert.8 Das Staatskirchenrecht erweist sich als Medium zur Ausübung der Religionsfreiheit, gleichsam sein institutionelles Gerüst. Damit erhalten die überkommenen Institutionen eine neue raison d‘être. Sie sind nicht bloße Relikte einer Tradition, die, je nach Standpunkt, als ehrwürdig, als diskreditiert, als verbraucht oder als unverständlich gelten mag, sondern Funktionselemente grundrechtlicher Freiheit, die als solche die Grundlage, nicht aber den Gegenstand der Legitimation bildet. In dieser Sicht lösen sich grundsätzliche Widersprüche auf, die prima facie aufscheinen mögen.

III.  Nationales Eigenrecht unter supranationalem Anpassungsdruck Das Staatskirchenrecht ist deutsches Eigengewächs, im Unterschied zum Grundrecht der Religionsfreiheit, das sich in den meisten nationalen wie internationalen Menschenrechtskatalogen mit geringer inhaltlicher wie semantischer Variationsbreite wiederfindet und das in seiner menschenrechtlichen Intention auf universale Geltung ausgeht. Die Staatskirchen-Artikel gehören (wie auch die bundesstaatlichen) zu den wenigen originellen und autochthonen Bestandteilen des Grundgesetzes, das sein Formulierungs- und Regelungsgut durchwegs dem Fundus des europäischen Verfassungsstaates entnimmt: Verfassung von der Stange,9 allenfalls Maßkonfektion. Der spezifische Charakter der Staat-Kirchen-Beziehung ist nicht Werk des rechtshistorischen Zufalls. Der Staat definiert seine Identität als Staat, indem er seine Beziehung zu Religion und Kirche bestimmt.10 Sein Selbstbild fällt un8  Die Initialzündung: Joseph Listl, Die Religionsfreiheit als Individual- und Verbandsgrundrecht in der neueren deutschen Rechtsentwicklung und im Grundgesetz, in: Essener Gespräche 3 (1969), S. 34 (71 ff., bes. 83 ff.). Vgl. auch ders., Glaubens-, Bekenntnis- und Kirchenfreiheit, in: Listl/Pirson (Fn. 1), Bd. I, 1994, S. 439 (444 f.). 9 Vgl. Wilhelm Hennis, Integration durch Verfassung?, in: JZ 1999, S. 485 (490): „mag in ihrer Textgestalt ein Produkt von der Stange sein“. 10  Ernst Forsthoff sah im Jahre 1931 die Bedeutung des Art. 137 WRV in politischer Hinsicht darin, „daß der Staat seinem Wesen nach determiniert wird durch seine Stellung

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terschiedlich aus, wenn er sich mit einer (Staats-)Kirche und (Staats-)Religion identifiziert oder sich zu religiöser Neutralität verpflichtet, wenn er sich für ein laizistisches Trennungssystem entscheidet oder für ein kooperatives.11 Im Staatskirchenrecht werden Fundamente des Verfassungsstaates aufgedeckt. Es erweist sich als Staatsrecht katexochen. In den einschlägigen Bestimmungen der Verfassungsgesetze spiegelt sich die religiöse Herkunftsprägung und Befindlichkeit der Bevölkerungen. Keine Nation Europas, die von ihrem Ursprung her nicht vorgeformt wäre von Religion und Kirche, eine jede allerdings auf ihre eigene Weise. Ihr Charakter zeigt auch heute noch an, ob sie auf der Grundlage kirchlicher: Einheit zu politischer Einheit gelangte (Spanien, Schweden); ob die kirchlich gebundene Religion den Kristallisationskern der inneren Integration und der Abgrenzung nach außen bildete (Griechenland, Irland, Belgien) oder ob sich die staatliche Einung ohne kirchliche Fundierung und über die Spaltung der Konfessionen hinweg vollzog wie in Deutschland. Das Staatskirchenrecht muß sich als nationales Proprium im Sog der europäischen Rechtsvereinheitlichung behaupten. Die Europäische Gemeinschaft, in ihrem Wesen immer noch vorwiegend Organisation des Gemeinsamen Marktes, treibt keine Kirchen- und Religionspolitik, sondern Wirtschaftspolitik. Ihrer Kompetenzstruktur nach staatskirchenrechtlich blind, behandelt sie die Kirchen und ihre Einrichtungen, zumal die karitativen, als bloße Wirtschaftsfaktoren und unterwirft sie den allgemeinen Regeln der Unternehmensorganisation, des Arbeitsrechts, der sozialen Sicherheit, des Datenschutzes und des Medienrechts.12 zur Kirche. Wie es zum Wesen des mittelalterlichen Staates gehörte, daß er christlich war, […] wie es zum protestantischen Staatsbegriff des 17. Jahrhunderts gehörte, daß er Staat und Kirche – im heutigen Sinne! – umfaßte (das corpus christianum Luthers), so ist der moderne bürgerliche Rechtsstaat seinem Wesen nach tolerant, konfessionell neutral und von den Religionsgesellschaften existentiell geschieden. Allerdings bleibt im Rahmen dieser allgemeinsten Kennzeichnung noch Raum für Regelungen sehr verschiedener Art, die wieder zu Rückschlüssen führen auf die besondere Artung des bürgerlichen Rechtsstaats. Innerhalb dieser Möglichkeiten legt der Art. 137 RV. die Länder fest als zwar konfessionell neutrale Gebilde, jedoch nicht als religiös indifferente Staatsgebilde“ (Die öffentliche Körperschaft im Bundesstaat, 1931, S. 111). 11 Überblick: Gerhard Robbers (Hrsg.), Staat und Kirche in der Europäischen Union, 1995; Markus Heintzen, Die Kirchen im Recht der Europäischen Union, in: FS für Joseph Listl, 1999, S. 29 ff. Prognose, daß der europäische Trend auf Konvergenz der Systeme ausgehe: Gerhard Robbers, Das Verhältnis von Staat und Kirche in Europa, in: ZevKR 49 (1997), S. 122 (127). 12  Zu den Kollisionsfeldern: Gerhard Robbers, Die Fortentwicklung des Europarechts und seine Auswirkungen auf die Beziehungen zwischen Staat und Kirche in der Bundesrepublik Deutschland, in: Essener Gespräche 27 (1993), S. 81 (88 ff.); Rudolf Streinz, Auswirkungen des Europarechts auf das deutsche Staatskirchenrecht, in: Essener Gespräche 31 (1997), S. 53 (71 ff.); Helmut Lecheler, Ansätze zu einem ,,Unions-Kirchen-Recht“ in der Europäischen Union?, in: FS für Walter Leisner, 1999, S. 39 (43 ff.).

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Damit rollt die supranationale Walze über die Besonderheiten des nationalen Staatskirchenrechts hinweg und droht, sie einzuebnen. Das ist freilich nicht Ziel der Gemeinschaftspolitik, sondern Nebenfolge. Diese tritt ein, weil ihr das rechtliche Sensorium für die besonderen Bedürfnisse der Kirche abgeht und für die spezifischen rechtlichen Rahmenbedingungen ihres Wirkens. Ein Menetekel zeigt sich: ein supranationales Krypto-Recht, das Religion und Kirche aus dem öffentlichen Leben verdrängt, indem es sie ignoriert.13 In ihrer Not entdecken die Kirchen in Deutschland wieder den verpönten Nationalstaat als Schirmherrn ihrer institutionellen Sonderrechte, von der Autonomie ihres Dienstrechts bis zum Körperschaftsstatus, und drängen ihn, seine nationale Identität zu behaupten und deren Achtung durch die Union gemäß Art. 6 Abs. 3 EUV einzufordern in erstaunlichem Kontrast zu dem integrationspolitischen Eifer, den sie sonst bekunden, wenn kircheneigene Interessen nicht berührt werden. Überdies versuchen sie, ihre Stellung im nationalen Recht als Element der nationalen Kultur und Bestandteil des kulturellen Erbes auszuweisen.14 Eine Erklärung zur Schlußakte in Amsterdam trägt dem Anliegen im wesentlichen Rechnung: „Die Union achtet den Status, den Kirchen und religiöse Vereinigungen oder Gemeinschaften in den Mitgliedstaaten nach deren Rechtsvorschriften genießen, und läßt ihn unangetastet. Ebenso achtet die Union den Status von weltanschaulichen und nichtkonfessionellen Organisationen.“ Bei wohlwollender Handhabung der Erklärung könnte damit der Fortbestand des Staatskirchenrechts im Integrationsprozeß von der gemeinschaftsrechtlichen Seite her gesichert sein.15 Keine Sicherheit aber besteht gegenüber einer innerstaatlichen Politik, der die Anpassung des deutschen an das europäische Recht als Vorwand dient, um politisch unerwünschte Einrichtungen des eigenen Rechts zu beseitigen. Gleichwohl bedeutet die europäische wie die globale Öffnung der Staatsgrenzen für die Kirchen vornehmlich die Chance zu größerer Wirksamkeit. Heute gewährleistet bereits die Staatsverfassung über das Grundrecht der Religionsfreiheit und die Gewähr kirchlicher Selbstbestimmung den Kirchen die Freiheit des internationalen Verkehrs.16 Dagegen enthielt die Weimarer Verfassung, auf ein staatsintrovertiertes Leitbild innerer Geschlossenheit ausgerichtet, eine solche 13 Dazu Robbers, Das Verhältnis (Fn. 11), S. 123: ,,clandestines europäisches Religionsrecht … ein Religionsrecht ohne Religion“. Vgl. auch Lecheler (Fn. 12), S. 46 ff. 14 Zu den nationalen wie supranationalen Schutzmöglichkeiten Streinz (Fn. 12), S. 78 ff. 15  Zu der Rechtslage aufgrund des Amsterdamer Vertrages: Heintzen (Fn. 11), S. 35 ff.; Lecheler (Fn. 12), S. 47 ff.; Alexander Hollerbach, Religion und Kirche im freiheitlichen Verfassungsstaat, 1998, S. 25 ff. 16 Vgl. Ulrich Scheuner, Die internationalen Beziehungen der Kirchen, in: Friesenhahn/Scheuner/Listl (Fn. 1), Bd. 2, 1975, S. 299 (308 ff.). Dazu auch Markus Heintzen, Auswärtige Beziehungen privater Verbände, 1988, S. 205 ff.

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Gewähr noch nicht; so sah sie die religionsgesellschaftliche Vereinigungsfreiheit nur „innerhalb des Reichsgebiets“ vor (Art. 137 Abs. 2 S. 2). Mit der Rezeption der Weimarer Verfassungsartikel in das Grundgesetz, das eine offene Staatlichkeit aufbaut, weitet sich die Kirchenautonomie zur Freiheit universaler Beziehungen. Diese ist für die katholische Kirche lebenswichtig, weil sie als Weltkirche sich nicht der Fasson des Nationalstaates fügt, die Reichweite seiner Territorial- und Personalhoheit überschreitet und auf überstaatliche Kommunikation angewiesen ist. Das nationale Staatskirchenrecht vermag lediglich, ihre innerstaatlichen Gliederungen zu erfassen, indes sie in ihrer globalen Einheit, repräsentiert durch den Heiligen Stuhl, dem Staat als Völkerrechtssubjekt gegenübersteht. Nun aber gewährleisten das Staatsrecht wie auch das Völkerrecht die Freiheit des internationalen Verkehrs. Damit erledigt sich das rechtliche Konfliktpotential, das sich gerade im 19. Jahrhundert mehrfach entzündete, als etwa der preußische Staat kraft seiner Kirchenhoheit die Beziehungen zwischen Papst und Bischöfen mediatisierte und kontrollierte und versuchte, seine katholischen Untertanen gegen „ultramontane“ Einflüsse abzuschotten.17 Nicht erledigt hat sich aber der antirömische Affekt.18 Dieser lebt nicht nur im (post-)protestantischen Lager auf, wenn der Papst seine geistliche Autorität gegenüber dem deutschen Episkopat oder Kirchenvolk geltend macht und dabei störend in das wohletablierte und wohldotierte Arrangement mit der Gesellschaft eingreift. Die alten deutschen Reflexe gegen römische Einmischung funktionieren immer noch wie weiland in der Ära des impermeablen Nationalstaats.

IV.  Sozialstaatliche Säkularisierung Im nationalen Raum droht der Kirche, rebus sic stantibus, kaum Gefahr von kirchenfeindlichen Maßnahmen des Staates, wohl aber von seinem – an sich kirchenindifferenten – Hang zu immer weiterer und immer dichterer Regulierung der gesellschaftlichen Verhältnisse, mit der Folge, daß der Freiraum zur Selbstregulierung schrumpft. Die Gefahr regt sich in den res mixtae, in Denkmalschutz und Privatschule, vor allem auf dem weiten Feld der sozialen Dienste; hier aber trifft sie die karitative Tätigkeit der Kirche. Der Sozialstaat strebt danach, soziale Unterschiede einzuebnen, „soziale Schwäche“, zumal die der Leistungsabhängigen und der Arbeitnehmer, auszugleichen und zu diesem Zwecke die Leistungsanbieter und die Arbeitgeber in die Pflicht zu nehmen, in dieser Funktion auch die kirchlichen Träger von Kindergärten, Krankenhäusern, Pflegeheimen 17  Exemplarisch das Schicksal des päpstlichen Breve Pius’ VIII. von 1830 zur Misch­ ehenfrage in Preußen. Dazu Heinrich von Treitschke, Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert, 4. Teil, 31890, S. 686. 18 Dazu Carl Schmitt, Römischer Katholizismus und politische Form, 1923, S. 7 ff.; Hans Urs von Balthasar, Der antirömische Affekt, 21989.

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und sonstigen diakonischen Einrichtungen. Das Bundesverfassungsgericht trägt der Gefahr Rechnung und bestimmt das „für alle geltende Gesetz“, die Schranke der Kirchenautonomie (Art. 137 Abs. 3 S. 1 WRV i. V. m. Art. 140 GG), nicht nach der abstrakten Allgemeinheit seines Geltungsanspruchs, auch nicht nach der Kirchenindifferenz des Inhalts. Vielmehr stellt es auf die Wirkung ab, die es auf die Kirche in ihrer besonderen verfassungsrechtlich relevanten Befindlichkeit zeitigt: daß es für sie dieselbe Bedeutung hat wie für den Jedermann. Ein Gesetz aber, das die Kirche „nicht wie den Jedermann, sondern in ihrer Besonderheit als Kirche härter, ihr Selbstverständnis, insbesondere ihren geistig religiösen Auftrag beschränkend, also anders als den normalen Adressaten“ trifft, bildet keine mögliche Schranke.19 In der Auslegung des Bundesverfassungsgerichts umfaßt also die Kirchenautonomie die institutionellen Voraussetzungen des geistlichen Wirkens, Organisation, Verfahren, Personal- und Finanzierungsangelegenheiten.20 Die Kirchen sind im Geltungsbereich des sozialen Staatsziels nicht aus der sozialen Verantwortung entlassen, aber sie definieren deren Verwirklichung grundsätzlich autonom, aus dem Selbstverständnis ihres diakonischen Auftrags heraus.21 Doch keine staatskirchenrechtliche Garantie entlastet die Kirche vom realen Druck, den die politischen und sozialen Mächte wie die Medien und die Gewerkschaften, aber auch die eigenen Bediensteten ausüben, wenn das kirchliche Selbstverständnis in Widerspruch gerät zum „sozial“ imprägnierten säkularen Zeitgeist, wenn etwa der Träger einer karitativen Einrichtung auf der Kirchentreue seiner Mitarbeiter insistiert und, gedeckt durch die Kirchenautonomie,22 im Konfliktfall die Kündigung ausspricht und sich die stereotypen Vorwürfe des Unsozialen und der Intoleranz zuzieht. Die Kirche muß den Weg zwischen zwei Feuern finden: hier Gefahr der politischen Angriffe und der gesellschaftlichen Isolierung, dort Gefahr der Selbstpreisgabe durch Anpassung an das weltliche Umfeld und der Degradierung zur Agentur des Sozialstaats.23 Da die Kirche sich ihrerseits mit dem Prinzip des Sozialen identifiziert, gerät sie in Argumentationsnöte, wenn sich sozialpolitische Forderungen gegen einen staatskirchenrechtlichen Besitzstand richten, wie es im Jahre 1994 geschah, als die politische Klasse übereinkam, die Kosten der neuartigen Pflegeversiche19 

BVerfGE 42, 312 (334); 46, 73 (95). BVerfGE 46, 73 (94 ff.); 53, 366 (402 f.); 57, 220 (243 ff.); 72, 278 (289 ff.). Näher mit weit. Nachw. Josef Isensee, Karitative Betätigung der Kirchen im Verfassungsstaat, in: Listl/Pirson (Fn. 1), Bd. 2, S. 665 (724 f.). 21  Zur Inkongruenz der sozialen und karitativen Sphären: BVerfGE 24, 236 (249); Isensee (Fn. 20), S. 702 f. 22  BVerfGE 70, 138 (162 ff.). Dazu Wolfgang Rüfner, Individualrechtliche Aspekte des kirchlichen Dienst- und Arbeitsrechts, in: Listl/Pirson (Fn. 1), Bd. 2, S. 901 ff., bes. 914 ff. 23  Zu dem Dilemma der Kirche im Sozialstaat Isensee (Fn. 20), S. 675 ff., 699 ff. 20  Vgl.

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rung, die auf die Arbeitgeberseite zukamen, auszugleichen durch die Abschaffung des Buß- und Bettages als staatlich anerkannten Feiertag. Ein unwürdiges Kompensationsgeschäft auf (ideelle) Kosten eines Dritten: der evangelischen Kirche. Immerhin stand der hergebrachte Feiertag unter dem Schutz der Verfassung (Art. 139 WRV i. V. m. Art. 140 GG). Seine Aufhebung war nur möglich im Einvernehmen mit der Kirche. Diese aber, unter dem äußeren Druck des Staates und unter dem inneren der Diakonie, die sich in der Pflegeversicherung ein neues Aktionsfeld erhoffte, gab nach. Als sie die Folgen erkannte, kam die Reue zu spät. Nachträgliche Versuche, durch Volksgesetzgebung in den Ländern das Ergebnis rückgängig zu machen, scheiterten kläglich.24 Tragikomödie der Kirche im Sozialstaat.

V.  Von freiwilliger Kooperation zum Mitmachzwang Trennung von Staat und Kirche bedeutet im deutschen Verfassungsrecht nicht feindselige Absonderung, juristischer Mauerbau, Ghettoisierung, Kontaktsperre, wie es laizistischen Leitbildern entspräche. Vielmehr führt die Scheidung der Sphären zu beidseitiger Unabhängigkeit. Unabhängigkeit voneinander enthält die Chance der Zuwendung zueinander und des freiwilligen Miteinanders.25 Die Chance wird von Staat und Kirche tatkräftig genutzt. Sie wirken in der Erfüllung vieler Agenden zusammen, zumal im Erziehungs-, Wohlfahrts- und Gesundheitswesen. Das Sozialgesetzbuch verpflichtet die öffentlichen Leistungsträger zur Kooperation mit den gemeinnützigen und freien Einrichtungen (§ 17 Abs. 3 S. 1 SGB I). Die kirchlichen Träger erlangen durch die Einbindung in übergreifende Kooperationsschemata größere Wirkungschancen im „dritten Sektor“ zwischen Staat und Markt,26 die sich ihnen bei isoliertem Dasein nicht auftäten, und sie partizipieren an einem staatlich organisierten Finanzierungssystem. Der Preis der Kooperation ist eine Einbuße an Freiheit, finanzielle Abhängigkeit, Unterwerfung unter die Lenkungsprogramme des Finanzherrn.27 Andererseits ist der Nutzen der Zusammenarbeit für das Gemeinwesen offenkundig: in der Ak24 Dazu Eckart Busch/Sascha Werner, Der Buß- und Bettag: Umstrittener Spielball zur Erreichung sozialpolitischer Ziele, in: DÖV 1998, S. 680 ff. 25  Zum staatskirchenrechtlichen Prinzip der Kooperation: Isensee (Fn. 20), S. 690 f. 26 Dazu Eberhard Göll, Die freie Wohlfahrtspflege als eigener Wirtschaftssektor, 1991, S. 45 ff. 27  Verfassungsrechtliche Reibungsflächen der Finanzierung: Michael Stolleis, Behindertenwerkstätten zwischen freier Wohlfahrtspflege und staatlicher Arbeitsverwaltung, 1980, S. 19 ff.; Walter Leisner, Die Lenkungsauflage, 1982, S. 61 ff.; Isensee (Fn. 20), S. 743 ff. – Zu der Sonderproblematik der Krankenhausfinanzierung: Otto Depenheuer, Staatliche Finanzierung und Planung im Krankenhauswesen, 1986, S. 189 ff., passim; ders., Finanzierung und Organisation kirchlicher Krankenhäuser, in: Listl/Pirson (Fn. 1), Bd. 2, S. 757 ff. (Nachw.).

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tivierung außerstaatlicher Potenzen für die allgemeine Sache, der Entlastung des Staates, der Dezentralisierung und Pluralisierung der sozialen Dienste, in freiheitsermöglichender und freiheitsschonender Subsidiarität der öffentlichen Hand. Die kooperierende Kirche kann sich zumindest im Gesundheits- und Wohlfahrtsbereich der gesellschaftlichen Akzeptanz sicher sein. Eben deshalb setzt sie die Akzeptanz aufs Spiel, wenn sie aus der Zusammenarbeit ausschert. Der Ernstfall ist die Mitwirkung der Kirchen an der Schwangerenberatung. Die katholische Kirche steht in einem Dilemma. Wenn sie sich weiter an dem Verfahren beteiligt, das mit der Ausstellung des Beratungsscheins das gesetzliche Tor zur Abtreibung öffnet und damit eine Bedingung zur Tötung des ungeborenen Kindes setzt, so übernimmt sie – wie immer auch die rechtlichen Distinktionen und Vorbehalte ausfallen – moralische Mitverantwortung für die Folgen und riskiert, die Glaubwürdigkeit ihres Einsatzes für den unbedingten Lebensschutz zu verlieren. Zieht sie sich aber zurück, so verliert sie die Chance, auf die Schwangere in der Grenzsituation der Entscheidung Einfluß zu nehmen und das Leben des zu Kindes zu retten. Sowohl das Tun als auch das Lassen ist prekär. Von der theologischen Frage, wie sich die Kirche hier „richtig“ verhält, ist die staatskirchenrechtliche Frage zu unterscheiden, ob die Kirche frei ist, ob sie die Option des Beratungsverfahrens ergreift oder ausschlägt. Sie ist frei: kraft des Grundrechts der Religionsfreiheit (Art. 4 i. V. m. Art. 19 Abs. 3 GG) und kraft ihres Selbstbestimmungsrechts (Art. 137 Abs. 3 WRV i. V. m. Art. 140 GG). Doch wenn sie sich zurückzieht, riskiert sie den Konflikt mit den gesellschaftlichen Mächten, welche die öffentliche Meinung beherrschen: daß diese den Rückzug als Aufkündigung des Grundkonsenses von Staat und Kirche deuten und als Bruch des gewachsenen Staatskirchenrechtssystems. Was, juristisch gesehen, Betätigung kirchlicher Unabhängigkeit bedeutet, stellt sich der öffentlichen Meinung dar als venire contra factum proprium. In ihrer Sicht ist Selbstbestimmung in Selbstbindung übergegangen, die freiwillige Kooperation in faktischen Mitmachzwang. Die Partnerschaft hat ihren ideellen Preis. Die Sensibilität, mit der die Öffentlichkeit auf das Verhalten der katholischen Kirche reagiert, mag dieser zeigen, daß sie, wenn sie der Gesellschaft ein Zeichen des Ärgernisses gibt, als moralische Instanz wahrgenommen wird und daß sie, wenn sie sich auf die Prozeduren der Gesellschaft einläßt und „mitmacht“, die noch verbliebenen Gewissensskrupel in der postchristlichen Gesellschaft beruhigt. Das Mitmach-System gerät zur Falle für die Glaubwürdigkeit.

VI.  Affekt gegen Institutionen Das Staatskirchenrecht bezieht sich auf die institutionelle Seite der Religion. Eben dadurch provoziert es den antiinstitutionellen Affekt, der in der heutigen Gesellschaft mächtig ist. Der Affekt richtet sich nicht nur gegen die Kirche, sondern

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auch gegen andere Institutionen in Staat und Gesellschaft.28 Individualismus reibt sich an überindividueller Ordnung; Selbstverwirklichung am Dienst für die allgemeine Sache; Natürlichkeit an zivilisatorischer Zucht; Subjektivität an objektiven Sinngehalten; Verspieltheit an Ernst; Bindungsscheu am Anspruch auf Treue; Gesinnungsethik an Verantwortungsethik; Softie-Wesen an der Härte des Gesetzes; Emanzipationsdrang am Establishment. Das mag auf den ersten Blick das normale Spannungsverhältnis zwischen den Generationen sein: Pubertät versus Autorität. Doch zwischen den Generationen haben sich die mentalen Gewichte in dem Maße zur Jugend verschoben wie die demographischen Gewichte zum Alter. Die Kirche zieht den antiinstitutionellen Affekt in besonderem Maße auf sich. Dieser regt sich in reizbarer Abwehr einer „Bevormundung“ in Fragen des Glaubens und der Moral, in postkulturkämpferischer Besorgtheit über Klerikalismus, in Mißtrauen gegenüber der Macht der Kirchen als dem „zweitgrößten“ Arbeitgeber außerhalb des Staatsbereichs. Der Affekt regt sich außerhalb wie innerhalb der kirchlichen Mauern, unter Charismatikern, die unter der ,,Amtskirche“ , und unter Gottesgelehrten, die unter dem päpstlichen Lehramt leiden. Die institutionelle Macht stößt auf zunehmenden Widerstand, wenn sie von ihren Amtsträgern und Bediensteten Loyalität einfordert und den Bruch der Loyalität ahnden will: durch arbeitsrechtliche Kündigung, Entzug der missio canonica oder des nihil obstat. Die Medien sind geneigt, den Betroffenen als Märtyrer zu glorifizieren. Der Theologe, der das Showbusiness beherrscht, vermag sich wohlfeil auf Kosten der Institution, in deren Dienst er steht, zu profilieren durch Kritik an der Kirche, je schärfer, hämischer und unfairer, desto wirksamer, und den antiinstitutionellen Affekt (wie auch den antirömischen) auszunutzen, um Publizität zu gewinnen und den Verkauf seiner Bücher zu steigern: das Eugen-Drewermann-Syndrom. Als Institution hat sich die Kirche auf zwei Seiten zu behaupten: nach außen gegenüber den konkurrierenden Einflußkräften der Gesellschaft, nach innen gegenüber den zentrifugalen Bestrebungen, die ihre Identität, Glaubwürdigkeit und Leistungsfähigkeit gefährden. Das Staatskirchenrecht bietet weder hier noch dort Schutz. Es schützt allein vor Eingriffen des Staates. Diesem aber verwehrt das Gebot der religiös-weltanschaulichen Neutralität, in den Agon der Geister zu intervenieren. Die Kirche trägt Freiheit wie Risiko ihrer Freiheit, die ihr das Staatskirchenrecht garantiert. Doch Selbstbehauptungswillen, Urteilskraft und Zivilcourage muß sie selber aufbringen. Just diese Tugenden haben sich in der offenen, pluralistischen Gesellschaft mit ihren zahllosen, diffusen, verstörenden und verführerischen, ihren sanften Herausforderungen zu bewähren. 28  Zu Wesen, Sinn und Bedrohtheit der Institutionen in der modernen Welt: Arnold Gehlen, Urmensch und Spätkultur, 51986, S. 7 ff.; ders., Mensch und Institutionen (1960), in: ders., Anthropologische und sozialpsychologische Untersuchungen, 1993, S. 69 ff.; Herbert Krüger, Die „Lebensluft“ des Öffentlichen Dienstes, in: Walter Leisner (Hrsg.), Das Berufsbeamtentum im demokratischen Staat, 1975, S. 101 ff.

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Juristisch gesehen besteht innerhalb des staatskirchenrechtlichen Systems kein fundamentaler Widerspruch zwischen Individuum und Institution. Denn die Rechte der kirchlichen Institution gründen letztlich in den Grundrechten der Individuen, die ihr angehören. Der Staat aber sichert den Kirchenmitgliedern die Freiheit zu, durch einseitige Erklärung des Kirchenaustritts die staatsrechtlichen Wirkungen der Mitgliedschaft zu beenden. Im übrigen wird der Status der Kirchen dadurch relativiert, daß die Verfassung ihre Garantien gleichermaßen allen „Religionsgesellschaften“29 und weltanschaulichen Vereinigungen bereitstellt.30 Auf der Ebene des Rechts gelingt tendenziell der schonende Ausgleich zwischen dem subjektiven Prinzip der Individualfreiheit und dem objektiven der Anerkennung von Institutionen. Im übrigen sind es nicht nur die Kirchen, denen von Verfassungs wegen ein hervorgehobener Status zusteht. Vergleichbare Sonderrechte genießen auch die Presse, die Rundfunkanstalten, die Gewerkschaften, die politischen Parteien – freilich mit dem Unterschied, daß deren Sonderrechte nicht ausdrücklich im Verfassungstext ausgewiesen, sondern erst durch die Auslegung des Bundesverfassungsgerichts inauguriert sind.

VII.  Bedeutungsschwund von Christentum und Kirche in der Gesellschaft Die staatskirchenrechtlichen Garantien setzen voraus, das die „Religionsgesellschaften“ ein bestimmtes Gewicht im Machthaushalt des Gemeinwesens aufweisen, wenn sie als Vertrags- und Kooperationspartner dem Staat gegenübertreten, als Körperschaften des öffentlichen Rechts fungieren, institutionalisierte Militärseelsorge leisten und Steuerhoheit wahrnehmen.31 Das Gewicht, um das es hier, im Kontext des Staatsrechts, geht, hat keine theologische Bedeutung, sondern lediglich soziologische. Ohne ein Mindestmaß an sozialer Mächtigkeit erlangt eine Religionsgesellschaft nicht den Status der Körperschaft des öffentlichen Rechts; sie muß „durch ihre Verfassung und die Zahl ihrer Mitglieder die Gewähr der Dauer bieten“ (Art. 137 Abs. 5 S. 2 WRV i. V. m. Art. 140 GG). Die Gewähr des Religionsunterrichts als ordentliches Lehrfach an öffentlichen Schulen beruht auf den ungeschriebenen Voraussetzungen, daß eine hinreichende 29  Zu den staatsrechtlichen Unterscheidungen regulärer Organisationen: Hollerbach (Fn. 4), § 138 Rn. 124 ff. 30  Ernst Forsthoff stellte freilich schon 1931 fest, daß die praktische Bedeutung des Art. 137 Abs. 7 WRV „weit hinter den Erwartungen zurückgeblieben“ sei, die ihre Urheber an sie geknüpft hätten (Fn. 10, S. 112). 31  Allgemein zu sozialer Macht als Grundrechtsvoraussetzung: Josef Isensee, Anwendung der Grundrechte auf juristische Personen, in: HStR V, 1992, § 118 Rn. 77 (Nachw.). Zur Kategorie der Voraussetzungen der Grundrechtsausübung: ders., Grundrechtsvoraussetzungen und Verfassungserwartungen an die Grundrechtsausübung, ebd., § 115 Rn. 7 ff.

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Nachfrage von Eltern und Kindern besteht (Art. 7 Abs. 2 GG), daß sich genügend geeignete und bereite Lehrkräfte finden (Art. 7 Abs. 3 S. 3 GG), schließlich daß die Religionsgemeinschaft, nach deren Grundsätzen der Unterricht erteilt wird (Art. 7 Abs. 3 S. 2 GG), nach Größe, Repräsentanz, Konsistenz und Kompetenz fähig ist, die inhaltliche Verantwortung für den Unterricht zu übernehmen und die von der Verfassung vorgesehenen Aufgaben im Kondominium mit dem Staat zu erfüllen. Die prototypischen Destinatare sind die beiden großen Kirchen. Auf ihre Fasson sind die Garantien zugeschnitten. Der Zuschnitt entspricht den Zeiten von 1919 und von 1949, als die Verfassungen von Weimar und Bonn geschaffen wurden. Die Kirchen waren von ihrer Mitgliederzahl her wie in ihrer Wirksamkeit Stabilitätsfaktoren des Gemeinwesens. Im Parlamentarischen Rat zu Bonn wurde sogar erwogen, sie als solche ausdrücklich anzuerkennen, nämlich „in ihrer Bedeutung für die Wahrung und Festigung der sittlichen Grundlage des menschlichen Lebens“.32 Angesichts der gesellschaftlichen Relevanz der Kirchen war es für den Weimarer wie für den Bonner Verfassunggeber unabdingbar, das Thema der Staat-Kirchen-Beziehungen in den Verfassungstext aufzunehmen und einen inhaltlichen Ausgleich der widerstreitenden Belange zu finden.33 Die Weimarer Kirchenartikel sind daher nicht bloßes Zubehör des Grundgesetzes, sondern sein wesentlicher Bestandteil, der nicht hinweggedacht werden kann, ohne daß das Einigungswerk in seiner ursprünglichen Form zerbräche. Doch am Ende des Jahrhunderts ist die Fasson der Kirchen nicht mehr die gleiche wie zu Anfang oder in der Mitte. Die Prägekraft des Christentums in der Gesellschaft, jedenfalls des kirchlich repräsentierten, geht zurück. Die Bedeutung der Institutionen nimmt ab. Das kommt nicht so sehr in der sinkenden Mitgliederzahl zum Ausdruck als in der Lockerung der inneren Bindung, In der Auszehrung kirchlicher Autorität, einem Schwinden religiösen Elans. Den Kirchen fällt es zunehmend schwerer, die Formen, die ihnen das staatliche Recht bereitstellt, den Religionsunterricht, den Kindergarten, das Krankenhaus, mit ihrem Geist zu durchdringen und zu gestalten. Die realen Voraussetzungen des Staatskirchenrechts bilden sich zurück. Nun zeigt sieh, daß die Expansion der karitativen Einrichtungen in den letzten Jahrzehnten für die Kirche Gefahren nach sich zieht, wenn sie ihr geistliches Proprium nicht mehr hinlänglich zu erkennen geben kann. Das Nachdenken setzt ein über die Grenzen des quantitativen Wachstums, dessen geistliche Qualität nachläßt. Die Kirche prüft sich, ob sie ihre Agenden zurückfahren muß, weil die Mittel, nicht nur die finanziellen, sondern vor allem die spirituellen, nicht mehr ausreichen. Was sie an legitimem 32  Gemeinsamer

Antrag von CDU/CSU, Zentrum und DP vom 29. November 1948 (Text in: JöR N. F. 1, 1951, S. 899 f.). 33  Bericht über die Genese der Weimarer Kirchenartikel Israël (Fn. 7), S. 8 ff. Zur Rezeption in das Grundgesetz Hollerbach (Fn. 4), § 138 Rn. 22 ff.

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Entfaltungsraum in der Gesellschaft beanspruchen kann, läßt sich mit Goethe bestimmen als: „der Kreis, den meine Wirksamkeit erfüllt! Nichts drunter und nichts drüber!“. Die Schwierigkeiten, die staatskirchenrechtlichen Institutionen zu verwirklichen, steigern sich jäh, seit mit der Wiedervereinigung die staatskirchenrechtlichen Artikel des Grundgesetzes Geltung in den neuen Bundesländern erlangen, in denen, als Nachwirkung des atheistischen Sozialismus, der Entchristlichungsprozeß erheblich weitergetrieben ist als in der alten Bundesrepublik und nur noch ein Fünftel der Bevölkerung sich zum Christentum bekennt. Gleichwohl haben vier von fünf der neuen Länder in ihren Verfassungen und Gesetzen sowie in Kirchenverträgen sich die Institutionen des Staatskirchenrechts zu eigen gemacht, wie sie sich aus gesamtdeutscher Tradition in der alten Bundesrepublik fortentwickelt haben. Sie bemühen sich um pragmatische Lösungen, die Institutionen, ungeachtet ihrer prekären realen Voraussetzungen, zu verwirklichen.34 Die Ausnahme macht das Land Brandenburg, das sich weigert, dem Grundgesetz gemäß den Religionsunterricht als ordentliches Lehrfach einzuführen, und statt dessen das zivilreligiöse Surrogat LER anbietet. Der Brandenburger Vorstoß hat grundsätzliche Bedeutung, die weit über das Schicksal eines Schulfaches hinausweist: als politische und als juristische Kampfansage an das geltende Staatskirchenrecht.35 Ein Zeichen des Wandels ist die Vereidigung der rot-grünen Bundesregierung im Herbst 1998. Zum ersten Mal in der Geschichte der Bundesrepublik sah die Mehrzahl der Regierungsmitglieder (8 von 15) davon ab, die religiöse Beteuerung zu leisten, darunter Bundeskanzler Gerhard Schröder und Vizekanzler Joseph Fischer. Sie machten von ihrer verfassungsrechtlich verbrieften Freiheit Gebrauch und bekundeten damit, daß sie die Verantwortung vor Gott, zu der sich der Verfassunggeber bekennt, für ihre Amtsführung nicht akzeptieren. Was immer die jeweiligen Motive waren: das Verhalten wirkt als öffentliches Signal der Distanzierung von der Religion und der Geringschätzung des Christentums in seiner Bedeutung für das Gemeinwesen, als Demonstration des politischen Agnostizismus.

VIII.  „Rechtstreue“ kirchlicher Körperschaften Probierstein staatlicher Belange im Staatskirchenrecht ist die Entscheidung darüber, ob der Staat der Religionsgemeinschaft der Zeugen Jehovas die Stellung der Körperschaft des öffentlichen Rechts versagen darf, auch wenn diese nach ihrer Verfassung wie der Zahl ihrer Mitglieder die Gewähr der Dauer bietet, also 34 Dazu Axel Frhr. von Campenhausen, Staatskirchenrecht in den neuen Ländern, in: HStR IX, 1997, § 207 Rn. 31 ff., passim. 35  Dazu mit Nachw. Martin Heckel, Religionsunterricht in Brandenburg, 1998.

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die in Art. 137 Abs. 5 S. 2 WRV i. V. m. Art. 140 GG vorgesehene Bedingung erfüllt. Zu Recht fordert das Bundesverwaltungsgericht darüber hinaus ein Mindestmaß an Rechtstreue des Prätendenten. Dazu stellt es fest, daß die Zeugen Jehovas die Grundlagen der staatlichen Existenz zwar nicht prinzipiell verneinten, doch daß es ihnen an der für eine dauerhafte Zusammenarbeit unerläßlichen Loyalität fehle, weil sie, aufgrund ihrer biblisch begründeten „christlichen Neutralität“ in politischen Angelegenheiten, für ihre Mitglieder die Teilnahme an staatlichen Wahlen schlechthin ablehnten.36 Nun mag es manche Gründe geben, den Zeugen Jehovas den Status der Körperschaft des öffentlichen Rechts vorzuenthalten, etwa weil sie nicht nur den Wehrdienst aus Gewissensgründen verwerfen (dieses ist ihr gutes Recht, das, gerade im Blick auf ihre religiöse Motivation, vom Grundgesetz, respektiert wird), sondern auch den nicht mehr verweigerbaren Zivildienst,37 und weil Zweifel bestehen mögen, ob sie sich den rechtlichen Maßgaben fügen, innerhalb derer die mit dem Körperschaftsstatus verbundenen Befugnisse, wie die Kirchensteuerhoheit, bestehen. Immerhin darf der Staat prüfen, ob das Wirken der Religionsgemeinschaft, die den Körperschaftsstatus und damit eine besondere Förderung durch den Staat begehrt, auch im Interesse des Staates liegt.38 Bedenklich ist jedoch der Umstand, daß den Zeugen Jehovas gerade die Ablehnung des Wahlrechts, dessen Ausübung den Bürgern ohnehin freisteht, zum Verhängnis wird. Hier mutiert das Angebot des Staates zur Zusammenarbeit, das im Körperschaftsstatus liegt, zur Pflicht, das Angebot anzunehmen. Die staatskirchenrechtlichen Möglichkeiten zur Kooperation geraten zum Mitmachzwang, mit bedrohlichen Folgen für die Freiheit der kirchlichen Seite, weil der Staat die Regeln der Kooperation vorgibt. Die Umarmung erdrückt. Der Körperschaftsstatus für die Religionsgemeinschaften ist in erster Linie um ihrer selbst und um der Religion willen da, nicht aber um des Staates willen. Der Weimarer und der Bonner Verfassunggeber schreiben den hergebrachten Körperschaftsstatus der Kirchen fort, weil sie diese als Potenzen gesellschaftlicher Stabilität respektieren und weil sie die Körperschaft als die ihnen angemessene und förderliche Organisationsform bereitstellen wollen.39 Der säkulare Nutzen für den Staat bildet nicht den primären Zweck der Formgarantie. Für die Kirchen selbst aber ist der Nutzen für das säkulare Gemeinwesen nicht der eigentliche Sinn ihres Wirkens, sondern bloß eine, freilich nicht unerwünschte (Neben-)Folge. 36  BVerwGE 105, 117 (121 ff.). Zustimmend Hollerbach (Fn. 4), § 138 Rn. 22 f.; kritisch Stefan Huster, Körperschaftsstatus unter Loyalitätsvorbehalt?, in: JuS 1998, S. 117 ff. 37  Zur Totalverweigerung BVerfGE 19, 135 (138); 23, 127 (134 f.). 38  Vgl. BVerwGE 105, 117 (124 f.). 39  Zur Geschichte: Israël, Geschichte (Fn. 7), S. 35 ff., 48, 56 f.; Paul Kirchhof, Die Kirchen als Körperschaften des öffentlichen Rechts, in: Listl/Pirson (Fn. 1), Bd. 1, 1994, S. 658 ff.

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Der Körperschaftsstatus für die Religionsgemeinschaften schafft eine Bedingung zur Kooperation mit dem Staat, weil er ihnen die notwendige Selbstbestimmung sichert und ihre strukturelle Unterlegenheit in gewissem Maße kompensiert. Doch die in der Organisationsform liegende Chance zur Kooperation zieht nicht die Rechtspflicht zur Kooperation nach sich. Das Staatskirchenrecht wird zwar von der rechtlichen Erwartung geleitet, daß Staat und Kirche aus freien Stücken als komplementäre Partner zusammenfinden. Doch die Partnerschaft ist für die Kirchen nicht prekär. Sie kann sie in rechtliche und finanzielle Staatsabhängigkeit führen und ihren geistlichen Auftrag gefährden. So gerät die katholische Kirche unter politischen Druck, wenn sie, um ihre Glaubwürdigkeit zu wahren, aus dem staatlich organisierten und finanzierten System der Schwangerenberatung als der Verfahrensvoraussetzung legaler Abtreibung ausschert. Verliert sie darum aber die staatskirchenrechtlichen Vergünstigungen? In der Tat drohte Gefahr, wenn sie sich, einem Mitmachzwang unterworfen hätte. Dann löste ihre Abkehr die Krise des staatskirchenrechtlichen Systems aus. Bei juristischem Lichte besehen, ist das jedoch nicht der Fall. Das System gründet nicht auf einer Aktionsgemeinschaft von Staat und Kirche, sondern auf der Freiheit der Kirche vom Staat; diese hält sich der Kooperation mit dem Staat offen, doch sie geht nicht in ihr auf. Das freiheitliche System wird deshalb durch den partiellen Rückzug der Kirche nicht gefährdet, sondern erprobt. Denn es ist dazu geschaffen, die Widersprüche von Staat und Kirche aufzufangen, nicht aber sie aufzulösen. Bruch der Rechtstreue liegt allerdings in der Praxis des „Kirchenasyls“, das Kirchengemeinden Ausländern gewähren, die sich illegal im Bundesgebiet aufhalten, um sie vor Abschiebung zu bewahren, die ihnen aufgrund staatlicher Verwaltungs- und Gerichtsentscheidungen droht.40 Entscheidungen, zu denen der Rechtsstaat in langwierigen, mühseligen Verfahren der Tatsachenermittlung und Rechtsfindung, im mehrstufigen Instanzenweg, in gewaltenteiliger Rechtskontrolle gelangt ist, werden von Charismatikern kraft jäher Erleuchtung für null und nichtig erklärt. Die selbstermächtigte kirchliche „Basis“ erhebt sich zum Zensor über den Rechtsstaat und beansprucht das Widerstandsrecht. Die Berufung auf das „Kirchenasyl“ ist historisch falsch, kirchenrechtlich fadenscheinig und aus der Sicht des Rechtsstaats hybrid und usurpatorisch. Die kirchlichen Stellen folgen ihrerseits dem antiinstitutionellen Affekt gegen den Rechtsstaat, um, hier aus karitativen, dort aus politischen Motiven, jedenfalls mit christlicher Attitüde, 40  Unnachsichtige Analyse: Rupert Hofmann, „Kirchenasyl“ und ziviler Ungehorsam, in: FS für Jens Hacker, 1998; S. 363 ff. Vgl. auch Gerhard Robbers, Kirchliches Asylrecht?, in: AöR 113 (1988) S. 30 ff.; Hans-Georg Maaßen, „Kirchenasyl“ und Rechtsstaat, in: Kirche und Recht, Fach 885, S. 7 ff.; Max-Emmanuel Geis, Kirchenasyl im demokratischen Rechtsstaat, in: JZ 1997, S. 60 ff.; Karl Doehring, Kirchenasyl, in: Festschrift für Willi Blümel, 1999, S. 111 ff.

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selektive Moral zu praktizieren und den Beifall der kirchenfremden, linken Szene zu erhaschen. Sie mißbrauchen ihre Immunität und wecken Zweifel an ihrem Rechtsbewußtsein und ihrer Urteilskraft.

IX.  Sekten – Islam – Fundamentalismus Die religiösen Bedürfnisse, die heute keine Erfüllung mehr in den Kirchen finden, wenden sich zunehmend den Sekten zu. Diese drängen mit wachsender Kraft auf den Markt der Sinnanbieter. Die Verfassung gewährt ihnen den gleichen Schutz der Religionsfreiheit wie den Kirchen.41 Doch nicht wenige unterscheiden sich von Grund auf in Zielen wie Mitteln, in Organisation und Handlungsweisen. In der Folge ergeben sich manche juristischen Schwierigkeiten. So erhebt sich die Frage, ob das Geschäftsgebaren der aus den USA importierten „Scientology Church“, die ihre Postulanten und Novizen finanzträchtig ausbeutet und abhängig macht, noch dem grundrechtlichen Tatbestand von Religion entspricht oder ob es als Berufsausübung im Sinne des Art. 12 GG zu qualifizieren ist.42 Aufdringliche, suggestive Methoden des Seelenfangs, Psychoterror, Praktiken der Zwangsbindung rufen die grundrechtlichen Schutzpflichten des Staates auf den Plan. Diese sollen die Selbstbestimmung der Individuen sichern.43 Doch tut sich der Rechtsstaat, der in innerweltlichen Kategorien denkt, schwer, zu unterscheiden, ob sich die Freiheit des Einzelnen in der religiösen Hingabe erfüllt oder ob sie mit ihr unterdrückt wird.44 Der religiöse Pluralismus, der sich in den Sekten entfaltet, verlangt differenzierende Urteile und verbietet Verallgemeinerungen. In der Öffentlichkeit aber verbreitet sich pauschale Phobie. Inhumane Exzesse einzelner Gruppen werden den Sekten generell angelastet. Ein Abwehrreflex richtet sich gegen die Unbedingtheit des religiösen Anspruchs. Rasch erhebt sich der Vorwurf des Fundamentalismus, mit ihm das Feindbild der modernen, offenen Gesellschaft.45 Anhänger von Sekten haben zu gewärtigen, politisch, beruflich, gesellschaftlich 41 Näher Peter Badura, Der Schutz von Religion und Weltanschauung durch das Grundgesetz, 1989, S. 46 ff., passim (Nachw.). 42  Badura (Fn. 41), S. 64 ff. (Nachw.); Ralf B. Abel, Die Entwicklung der Rechtsprechung zu neueren Glaubensgemeinschaften, in: NJW 1996, S. 91 (92). 43  Zur Funktion der grundrechtlichen Schutzpflichten: Josef Isensee, Das Grundrecht als Abwehrrecht und als staatliche Schutzpflicht, in: HStR V, 1992, § 111 Rn. 3 ff., 77 ff. 44  Kriterien, die Inhalt und Grenzen der Religionsfreiheit gerecht werden, wendet das Bundesverwaltungsgericht an, wenn es Vorwürfe gegen die „Rechtstreue“ der Zeugen Jehovas auf ihre Plausibilität untersucht und zugleich Aussagen ehemaliger Angehöriger, welche die Religionsgemeinschaft im Streit verlassen haben, auf ihre Glaubwürdigkeit überprüft (BVerwGE 105, 117 [124]). 45 Dazu Otto Depenheuer, Wahrheit oder Frieden? Die fundamentalistische Herausforderung des modernen Staates, in: Essener Gespräche 33 (1999), S. 5 – 35.

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ausgegrenzt zu werden. Kampf gegen „die Sekten“ stellt sich leicht dar als Verteidigung der Freiheit. Der Staat beteiligt sich an diesem Kampf mit Vorkehrungen zur Beobachtung des Sektenwesens, Einsetzung von Sektenbeauftragten, Enquete-Kommissionen, volkspädagogischen Warnungen und der latenten Androhung polizei- und ordnungsrechtlicher Maßnahmen. Das alles unter dem Vorzeichen religiös-weltanschaulicher Neutralität. Es liegt historische Ironie darin, daß den Sekten, die in der Geschichte der Vereinigten Staaten der allgemeinen Religionsfreiheit Bahn gebrochen haben, nun die ungestörte Religionsausübung streitig gemacht wird. Die staatlichen und außerstaatlichen Kampagnen gegen die Sekten, oft kulturell ärgerliche Erscheinungen von Religion, ziehen die Religion überhaupt in Mitleidenschaft. Letztlich ist das Christentum, in seiner Unbedingtheit und in seinem Anspruch auf ewige Wahrheit, radikal, ein Ärgernis den Kindern dieser Welt, keine Sache der Lauen, die Jesus ausspeien will mit seinem Munde. Die postchristliche und postaufklärerische Gesellschaft, die sich auf ihre Toleranz viel zugute hält, verträgt nicht die absolute religiöse Forderung und reagiert an den Sekten, ihr Unbehagen ab, das dem die Christentum überhaupt gilt. Political correctness duldet nur laue, ausgelaugte Religion, die dem etablierten Hedonismus keinen Anstoß erregt und die, wenn sie sich nicht anpaßt, wenigstens kein Zeichen des Widerspruchs gibt. Dennoch: solange das herrschende Grundrechtsverständnis noch nicht vollständig unterspült ist vom offen areligiösen und latent antireligiösen Zeitgeist, steht die prinzipielle Anwendbarkeit des Grundrechts der Religionsfreiheit auf religiöse Sekten außer Streit, auch wenn sich im einzelnen Friktionen ergeben. Dagegen erheben sich grundsätzliche Bedenken gegen die Inanspruchnahme der staatskirchenrechtlichen Gewährleistungen. Deren erste Bedingung ist, daß die Religionsgemeinschaften in ihrer Verfassung, ihrem Programm und ihrem Handeln dem ordre public des deutschen Verfassungsstaats entsprechen.46 Diese Entsprechung ist bei den großen Kirchen gleichsam genetisch gewährleistet, weil die geistigen Grundlagen des Staates durch ihre Herkunft aus dem Christentum und durch ein Ethos, das von den Kirchen wesentlich mitgestaltet wurde, geprägt sind. Bei Religionen aus fremden Kulturkreisen ist die Kompatibilität häufig prekär. Im übrigen zeigt sich, daß die Institutionen des Staatskirchenrechts, wenn sie auch nicht den Kirchen vorbehalten, so doch auf ihre formalen Strukturen zugeschnitten sind, nur selten auf heterogene Religionsgemeinschaften passen. Diese sind auf die staatskirchenrechtlichen Sonderrechte nicht angewiesen, weil sie ohnehin den uneingeschränkten Schutz der korporativen Religionsfreiheit genießen.47 Insofern kommt ihnen ein Niveau verfassungsrechtlich gesicherter Freiheit zu, das sich im weltweiten Verfassungsvergleich als hervorragend ausweist und 46  47 

Exemplarisch BVerfGE 70, 138 (168). BVerwGE 105, 117 (127).

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das den universalen menschenrechtlichen Anforderungen mehr als Genüge tut. Eben darum darf der deutsche Verfassungsstaat über den Standard grundrechtlicher Freiheit hinausgehen und im Staatskirchenrecht ein Instrumentarium zur Ausübung der Religionsfreiheit entwickeln, das den besonderen nationalen Gegebenheiten Rechnung trägt, die gewachsenen Beziehungen von Staat und Kirche aufrechterhält und fördert. Da der grundrechtliche Status aller Religionsgemeinschaften von vornherein gesichert ist, kann der Verfassungsstaat den Zugang zu den staatskirchenrechtlichen Vergünstigungen an besondere Bedingungen knüpfen und den legitimen Belangen des Gemeinwohls in größerem Maße Rechnung tragen. Die epochale Herausforderung des Staatskirchenrechts ist der Religionsimport aus dem Orient, der Islam, der in kurzer Zeit zur drittgrößten Glaubensgemeinschaft in Deutschland mit mehr als zwei Millionen Anhängern angewachsen ist und rasch weiterwächst. In dem Maße, in dem er sich hierzulande etabliert, drängen die Muslime darauf, an den staatskirchenrechtlichen Gewährleistungen teilzuhaben, den Status der Körperschaft mit allen Vergünstigungen zu erlangen sowie islamischen Religionsunterricht als ordentliches Lehrfach an öffentlichen Schulen zu erwirken.48 Der Genuß der Religionsfreiheit ist für sie ohnehin selbstverständlich49 (im Unterschied übrigens zu den Nichtmuslimen in den islamisch geprägten Herkunftsländern, zumal den Christen in der Türkei). Doch der Islam bildet keine Kirche. Ihm fehlen auch kirchenanaloge Strukturen. Da ihm die dem Christentum eigene Unterscheidung der geistlichen und weltlichen Sphäre fremd ist, hat er sich in seinen Herkunftsländern nicht als Verband organisiert und keine geistliche Institution hervorgebracht, die auf eigener Legitimationsbasis, unabhängig vom islamischen Staat, bestünde.50 Das gilt für die sunnitische Form des Islam, die in Deutschland vorherrscht. Im übrigen tritt „der Islam“ in unterschiedlichen Formen in Erscheinung. Der deutsche Staat findet daher im Islam keinen Partner, der ihm als Repräsentant einer Religionsgemeinschaft gegenüberstände und fähig wäre, wie die christlichen Kirchen kondominiale Verantwortung zu tragen für den Inhalt des Religionsunterrichts als

48  Alfred Albrecht, Religionspolitische Aufgaben angesichts der Präsenz des Islam in Deutschland, in: Essener Gespräche 20 (1986), S. 82 ff. 49  Dazu eingehend Wolfgang Loschelder, Der Islam und die religionsrechtliche Ordnung des Grundgesetzes, in: Essener Gespräche 20 (1986), S. 149 (152 ff.); Janbernd Oebbecke, Flexibler Rahmen, in: HK 1998, S. 413; Christian Hillgruber, Der deutsche Kulturstaat und der muslimische Kulturimport, in: JZ 1999, S. 538 (539 ff.). 50  Baber Johansen, Staat, Recht und Religion im sunnitischen Islam – Können Muslime einen religionsneutralen Staat akzeptieren?, in: Essener Gespräche 20 (1986), S. 12 (13 ff.).

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ordentliches Lehrfach an staatlichen Schulen.51 Damit fehlt „dem Islam“, auch in seinen sunnitischen Gemeinden, mangels Konsistenz und Verfaßtheit die Voraussetzung für die Anerkennung als Körperschaft des öffentlichen Rechts (Art. 137 Abs. 5 S. 2 WRV i. V. m. Art. 140 GG).52 In Deutschland bilden sich aber islamische Vereinigungen, die an sich der Tradition dieser Religion völlig fremd sind. Sie wollen den Mangel an Organisation ausgleichen, der erst in der Diaspora spürbar wird. Die Szene ist unübersichtlich. Die Vereine verfolgen unterschiedliche Ziele, vom Bau einer Moschee über Pflege muslimischer Kultur bis zum politischen Kampf für den islamistischen Gottesstaat.53 Eine der größten Organisationen, der 1985 in Köln eingerichtete, unter dem Kürzel DITIB firmierende Dachverband, Diyanet Isleri Türk Islam Birgili, nimmt religiöse, kulturelle und berufsfördernde Aufgaben wahr – und zwar gesteuert vom türkischen Staat über das Präsidium für Religionsangelegenheiten der Türkei, nicht zuletzt in der Absicht, politischen Einfluß innerhalb der deutschen Gesellschaft zu gewinnen. Manche Formation bildet sich vornehmlich zu dem Zweck, die Vorzüge des deutschen Staatskirchensystems zu nutzen. Dieses setzt freilich den Bestand und die Wirksamkeit der Religionsgemeinschaften voraus und bildet deren staatsrechtliche Folge. Daß das Staatskirchensystem Motiv und Zweck der Gründung von Religionsgemeinschaften abgibt, ist neu. Aus staatskirchenrechtlicher Sicht ergibt sich, daß die islamischen Vereine nur für sich und ihre Mitglieder sprechen können, nicht für die Muslime insgesamt, auch nicht für die Gesamtheit der türkischen Muslime. Staatliche Stellen der Türkei können bei der Durchführung des Religionsunterrichts nicht den „kirchlichen“ Part übernehmen, auch nicht als Treuhänder für ihre Staatsangehörigen. Sie verfügen dazu nicht über die nach deutschem Verfassungsrecht erforderliche, staatskirchenrechtlich vermittelbare Legitimation. Es kann nicht Sache des religiös neutralen deutschen Staates sein, sich einen Islam nach seinem Bilde und seinem Verfassungszuschnitt zu züchten, etwa einen postaufklärerisch liberalisierten Euro-Islam,54 durch Schaffung eines islamischen Religionsunterrichts und Einrichtung islamischer theologischer Fakultäten, ohne Abstützung und Ergänzung durch eine repräsentative Religionsgemeinschaft. Von sich aus kann der Verfassungsstaat auch kein muslimisches Kirchensurrogat aufbauen. Ein solches mag in langer Kultur-Symbiose „von unten“ her wachsen. Staatlich organisieren läßt es sich nicht. Derzeit ist noch keine Kultursymbiose zu erkennen. Erkennbar 51 Vgl. Loschelder (Fn. 49), S. 168 ff.; Hollerbach (Fn. 4), § 138 Rn. 135; Hillgruber (Fn. 48), S. 545 f. 52 Vgl. Loschelder (Fn. 49), S. 162 ff.; Hillgruber (Fn. 49), S. 546. 53  Verfassungsrechtliche Würdigung: Hillgruber (Fn. 49), S. 542. 54  So wohl die traumtänzerischen Verfassungsvisionen Peter Häberles, Verfassungslehre als Kulturwissenschaft nach 50 Jahren Grundgesetz, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, Beilage zur Wochenzeitung Das Parlament, B 16/99, v. 16. 4. 1999, S. 20 (30).

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ist auf der einen Seite, in geringem Umfang, Assimilation in die deutsche Gesellschaft, auf der anderen, in ungleich weiterem Umfang, aber Absonderung von der Mehrheitsgesellschaft, mit Tendenz zum Diaspora-Fundamentalismus.55 Im übrigen ist vielfach unklar, ob und wieweit islamische Gruppierungen, die den Status der Körperschaft des öffentlichen Rechts anstreben, dem ungeschriebenen Kriterium der Rechtstreue genügen, zumal der Annahme der deutschen Verfassung.56 Doch das eigentliche Problem des Staatskirchenrechts liegt tiefer. Seine Institutionen hegen nationale europäische Kulturidentität.57 Die Kirchen tragen auf ihre Weise dazu bei, diese zu wahren und zu erneuern. Wenn der Religionsunterricht, die theologischen Fakultäten, die körperschaftlichen Rechte, die städtebaulichen Möglichkeiten der Importkultur des Islam geöffnet werden, verkehrt sich die Wirkung der staatskirchenrechtlichen Einrichtungen. Sie verstärken die Kräfte, welche die kulturelle Identität aufsprengen. Man mag den Beschleunigungseffekt auf dem Weg zur multikulturellen Gesellschaft begrüßen oder fürchten – jedenfalls erfährt das Staatskirchenrecht einen Funktionswandel, wenn es auf islamische Organisationen übertragen wird. Die Kirchen neigen zu Großzügigkeit und wollen dem Islam tunlichst den Zugang zu den staatskirchenrechtlichen Institutionen öffnen. Doch ihre Großzügigkeit geht auf Rechnung des Staates. Sie verfügen nicht über das Staatskirchenrecht, das Recht des säkularen Staates ist. Vollends verfügen sie nicht über die kulturellen Grundlagen des Gemeinwesens. Der Kulturstaat aber steht angesichts des muslimischen Kulturimports vor der Frage, ob er, soweit seine verfassungsrechtlich begrenzten Befugnisse reichen, die christlich vorgeprägte, entwicklungsoffene deutsche und europäische Kulturidentität hegen oder deren Abbau vorantreiben soll, etwa in Richtung auf multikulturelle Beliebigkeiten oder auf neue Minderheitenintransigenz. Das Staatskirchenrecht steht in dem Dilemma, ob es seine hergebrachten Strukturen wahrt, die auf die christlichen Kirchen abgestimmt sind, sich damit aber der Öffentlichkeit als fossiliert darstellt oder ob es auf Biegen und Brechen sich dem Islam anpaßt und damit sein Wesen von Grund auf ändert. Die Zeichen der Zeit weisen auf die zweite Möglichkeit. Der Staat, der den türkischen Einwanderern die deutsche Staatsangehörigkeit als Zugabe zu der des Herkunftslandes offeriert, damit auf den wichtigsten Anreiz zur Integration verzichtet, bahnt der Entwicklung einer gesonderten türkischen Teilnation den Weg, die sich mittel55 Dazu

Johansen (Fn. 50), S. 47 ff. BVerwGE 105, 117 (121 ff.). 57 Dazu Christian Starck, Das Christentum und die Kirchen in ihrer Bedeutung für die Identität der Europäischen Union und ihrer Mitgliedstaaten, in: Essener Gespräche 31 (1997), S. 5 ff.; Hermann Lübbe, Das Christentum, die Kirchen und die europäische Einigung, ebd., S. 107 ff. 56 

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fristig Minderheitenprivilegien für Sprache und nationale Parteien, Ämterquoten und Volksgruppenparität erkämpfen wird. Diese Minderheit dürfte das Staatskirchenrecht als Instrumentarium für ihre nationalreligiösen, nationalkulturellen und nationalpolitischen Belange ergreifen und nutzen.

X.  Selbstsäkularisierung der Kirche Die sublimste, zugleich die schwerste Gefahr der Delegitimation droht dem Staatskirchenrecht von den Kirchen selbst: daß sie nicht mehr die Kraft und den Willen zur Religion aufbringen. Für die Kirche ist es Lebensgesetz, die Spannung, zwischen religiöser Selbstbehauptung und Anpassung an das säkulare Umfeld durchzuhalten. Verzichtet sie auf Anpassung, so verliert sie ihre Wirksamkeit. Doch paßt sie sich restlos an, so hört sie auf, Kirche zu sein. Just diese Gefahr ist heute besonders stark. Sie aktualisiert sich, wenn die Kirche ihre geistliche Sendung gegen eine zeitgeistliche eintauscht, die religiöse gegen eine zivilreligiöse, und sich darin erschöpft, die stets wandelbare Tagesmoral der pluralistischen Gesellschaft zu reflektieren und zu verinnerlichen (Menschenrechtsmoral, Sozialmoral, demokratische und feministische Moral, Bio-Ethik und Öko-Ethik) und der Gefälligkeitsdemokratie eine Gefälligkeitsreligion an die Seite zu stellen: für die Christinnen und Christen eine Frohbotschaft, keine Drohbotschaft. In der Wahrnehmung der Öffentlichkeit liegt die Aktivität der Kirchen ohnehin weitgehend darin, daß Bischöf/Innen die jeweils aktuellen politischen Positionen nachbeten – im doppelten Wortverständnis – und sich mit prophetischem Anspruch zum Gewaltmonopol der Vereinten Nationen und zur Auslegung des NATOVertrages äußern, zur Sozialversicherungspflicht geringfügig Beschäftigter und zur doppelten Staatsangehörigkeit. Der Prozeß der Selbstsäkularisierung58 findet statt in der Praxis (kaum dagegen in den Lehrplänen) des Religionsunterrichts, der, der Banalisierung verfallen, immer weniger darauf bedacht ist, die Wahrheit des Christentums weiterzugeben, sondern nur noch, dieses als ein Angebot unter vielen auf dem Markt der religiösen und außerreligiösen Möglichkeiten darzustellen und sich der säkularen Lebenswelt zu öffnen, in der die Schüler ohnehin zu Hause sind.59 Mit der Folge, daß die Schüler früher die Bibelkritik kennenlernen als die biblische Geschichte, eher mit den Menschenrechten vertraut gemacht 58 Dazu Josef Isensee, Die Säkularisierung der Kirche als Gefährdung der Säkularität des Staates, in: Gerfried W. Hunold/Wilhelm Korff (Hrsg.), Die Welt für morgen, 1986, S. 164 ff.; ders. Verfassungsstaatliche Erwartungen an die Kirche, in: Essener Gespräche 25 (1991), S. 104 (130 f.); ders. (Fn. 20), S. 686 f. 59  Das Programm eines solchen „lebensweltorientierten“ Religionsunterrichts, in dem es nicht mehr um Glauben-Lernen gehen soll – in der Praxis weithin verwirklicht –, formuliert Rudolf Englert, Der Religionsunterricht nach der Emigration des Glauben-Lernens, in: Katechetische Blätter 123 (1998), S. 4 ff. Dazu kritisch Eckhard Nordhofen, Plädoyer für einen konfessionellen Religionsunterricht, ebd., S. 37 ff. So wie weiterhin: ders., Un-

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werden als mit den Zehn Geboten, mehr über Sekten und Islam erfahren als über das Christentum, ausführlicher befaßt werden mit den Favelas in Südamerika als mit den Sakramenten und am Ende mehr über Gandhi und Nelson Mandela gehört haben als über Petrus und Paulus.60 Eine Versuchung für die Kirche besteht darin, daß sie die säkularen Wirkungen ihres Tuns zu ihren eigentlichem Handlungsprogramm macht und sich Staat wie Gesellschaft nur noch als Kulturträgerin und Denkmalpflegerin empfiehlt, als Sozialagentur, als Erziehungsanstalt, als Maklerin von gefälligen Sinnofferten, indes sie die Fahne des Glaubens einzieht, ängstlich bemüht, den Kindern dieser Welt kein Ärgernis zu geben. Gefährlich ist ein Legitimationsmuster, das sich seit einiger Zeit großer Popularität erfreut: daß die Kirche dazu berufen sei, die Voraussetzungen zu stabilisieren, aus denen der freiheitliche Verfassungsstaat lebe, die dieser von sich aus nicht garantieren könne.61 Auf solche Weise sucht die Kirche ihre Unentbehrlichkeit zu erweisen als Stütze des Staates und als Quelle seiner moralischen Ressourcen. So präsentiert sie zuweilen den Religionsunterricht als Medium der sittlichen Erziehung zu staatsbürgerlicher Verantwortung.62 Doch sie kann ihre gemeindienlichen Leistungen nur erbringen kraft ihrer religiösen Potenz, die den Boden bildet, der die weltlichen Früchte hervorbringt. Die Kirche leistet dem Gemeinwesen gerade dadurch Dienste, daß sie sich vom Staat und den gesellschaftlichen Kräften unterscheidet und in den Pluralismus das spezifische Element der Religion einführt. Die Kirche neigt dazu, sich hinter dem Limes der verfassungsgerichtlichen Absicherungen zu verschanzen und sich bei Angriffen auf ihre Positionen auf juristische Verteidigungsstrategien zu verlassen. Gegen den rapiden Zerfall des Sonntagsschutzes droht sie mit gerichtlichen Schritten. Als Begründung dafür, den Sonntag zu retten vor Freizeitlärm und Konsumrummel, fällt ihr, in diskreditierender Allianz mit den Gewerkschaften, nichts Besseres ein als das bläßliche, konsensheischende Allerweltsargument des Kulturgutes jüdisch-christlicher Tradition. Wann wagt ein deutscher Bischof einmal, das jüdisch-christliche Erbe aus lebendigem Glauben zu rechtfertigen, die Gläubigen wie die Ungläubigen an Gottes Gebot der Heiligung des Sonntags zu erinnern und so ein Zeichen des

befriedigender und unbefriedigter Religionsunterricht, in: Engagement – Zeitschrift für Erziehung und Schule 19 (2001), S. 23 ff. 60  Brillante literarische Satire über das zeitgeistliche Milieu des Religionsunterrichts und der Lehrerausbildung: Eckhard Nordhofen, Die Mädchen, der Lehrer und der liebe Gott, 1998, S. 51 f., 136 ff. 61 Anknüpfung an eine häufig zitierte Sentenz Ernst-Wolfgang Böckenfördes (Der Staat als sittlicher Staat, 1978, S. 36). Exemplarisch die Zitate: Heckel (Fn. 35), S. 33 Fn. 12, S. 62. 62 Dazu Heckel (Fn. 35), S. 33, 62.

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religiösen Widerspruchs zu setzen, auf die Gefahr hin, den faulen Frieden der säkularen Gesellschaft zu stören? Das Staatskirchenrecht baut darauf, daß die ratio essendi der Kirchen die Religion ist. Das macht den Wesensunterschied zum weltlichen Staat aus, und es begründet die Erwartung, daß, weil die Legitimationsfundamente verschieden sind, keine fundamentalen Konflikte aufbrechen und ein für beide Seiten gedeihlicher modus vivendi möglich ist. In ihrem religiösen (nicht aber in ihrem sonst gemeinnützigen) Charakter unterscheiden sich die Kirchen von anderen Verbänden. Eben darum läßt sich ihr verfassungsrechtlicher Sonderstatus auch rechtfertigen. Ob die Rechtfertigung auf Dauer gelingt, ist nicht zu beantworten dadurch, daß die einzelnen Gefahren- und die Sicherheitsmomente der Gegenwart gesichtet, gezählt und gewogen werden. Die Zukunft ist offen. Geschichtsprophetie à la Marx oder Habermas ist passé. Die Legitimationsprobleme, die sich heute für das Staatskirchenrecht erheben, sind kein Grund zum Fatalismus. Seine äußerliche Stabilität aber bildet für den, der es für erhaltenswürdig hält, auch keinen Grund zur Beruhigung.

Kirche und Staat am Anfang des 21. Jahrhunderts Kirche und Staat am Anfang des 21. Jahrhunderts

Bewährung und Entwicklung des überkommenen Rechtsgefüges* Kirche und Staat am Anfang des 21. Jahrhunderts. Bewährung und Entwicklung des überkommenen Rechtsgefüges

I.  Ausgleich von Kirche und Moderne 1.  Der historische Widerspruch Im 19. Jahrhundert und noch tief in das 20. Jahrhundert hinein hatte die katholische Kirche dezidierte Vorstellungen darüber, wie sie ihre Beziehungen zum Staat zu regeln und dieser sein Verhältnis zu ihr zu bestimmen habe. Nach ihrer Lehre, wie sie in den politischen Enzykliken Papst Leos XIII. klassischen Ausdruck fand, folgten Staat und Kirche jeweils ihrem spezifischen Auftrag in ihrem je eigenen Wirkungskreis. Doch die Aufträge ergänzten einander, die Wirkungskreise überschnitten sich, gehörten als integrale Teile des Ganzen zusammen. Der Staat hatte nicht bloß für die zeitlichen Güter und die äußeren Angelegenheiten zu sorgen, sondern auch für das geistliche Wohl. „Wenngleich er zu seinem nächsten Zweck die Aufgabe hat, die diesseitige Wohlfahrt zu fördern, so soll er doch den Einzelnen die Erreichung jenes höchsten und letzten Gutes, das die ewige Seligkeit ausmacht, nicht erschweren, sondern erleichtern.“1 Der Staat, so der Papst, diene mittelbar, die Kirche unmittelbar demselben Heilsziel. Und es seien dieselben Menschen, denen sie dienten. Beide hätten im Rahmen ihrer unterschiedlichen Verantwortung Hand in Hand zu arbeiten. Sie gehörten zusammen wie Leib und Seele. Trennung von Kirche und Staat dürfe nicht sein.2 Die weltliche Gewalt habe sich zur wahren Religion zu bekennen. Diese sei notwendig Staatsreligion. Staat und Kirche, beide in ihrem Bereich societas perfecta,3 seien einander rechtlich gleichgestellt. Die Kirche jedoch, aufgrund ihres höheren Heilsauftrags, sei * Erstveröffentlichung: Erstes Seggauer Gespräch zu Staat und Kirche, in: Österreichisches Archiv für Recht & Religion, 2006, S. 21 – 63. 1  Leo XIII., Enzyklika Libertas praestantissimum vom 20. 6. 1888, zitiert nach Arthur F. Utz/Brigitta Gräfin von Galen (Hrsg.), Die katholische Sozialdoktrin in ihrer geschichtlichen Entwicklung, Bd. I, 1976, S. 202 f., Rn 57. Zum Konflikt zwischen Kirche und Moderne Josef Isensee, Keine Freiheit für den Irrtum, ZRG Kan. Abt LXXIII (1987), S. 287 ff. 2  Leo XIII., Enzyklika Immortale Dei vom 1. 1. 1885, Utz/v. Galen (Fn. 1) S. 2136 ff., Rn. 34 ff. 3 Dazu Joseph Listl, Kirche und Staat in der neueren katholischen Kirchenrechtswissenschaft, 1978, S. 134 ff.

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dem Staat sittlich übergeordnet. Ihr komme Lehr- und Jurisdiktionskompetenz als potestas indirecta über den Staat zu dadurch, daß sie verbindlich den Inhalt der Offenbarung wie des natürlichen Sittengesetzes interpretiere und gegebenenfalls deren Verletzung durch das staatliche Recht feststelle. So schwierig und so dunkel das System der einander ergänzenden wie überlagernden Kompetenzen von Staat und Kirche in der Gesamtverfassung beider auch war, so klar wurde die Frage beantwortet, auf die es dem Juristen im Kompetenzkonflikt letztlich ankommt: Quis iudicabit? Den Letztentscheid beanspruchte die Kirche für sich. Ein Staat ohne Gott oder auch, was schließlich auf dasselbe hinauslaufe, ein Staat, der gegen alle Religionen sich gleichgültig verhalte und sie ohne Unterschied als gleichberechtigt anerkenne, stelle sich in Gegensatz zur Gerechtigkeit und Vernunft. Da der Staat notwendig die Einheit des religiösen Bekenntnisses fordere, so die päpstliche Doktrin, habe er sich zu der allein wahren Religion, der katholischen nämlich, zu bekennen. Diese als solche zu erkennen, namentlich in katholischen Staaten, biete keine Schwierigkeit, weil sie die Merkmale der Wahrheit an sich trage. Die Regierenden hätten sie daher zu erhalten und zu schützen, wenn ihnen, wie es ihre Pflicht sei, etwas daran liege, klug und zweckdienlich das Wohl der Bürger zu fördern.4 Die Indienstnahme des Staates für die eine, wahre Religion schloß es aus, daß dieser die Freiheit der Religion gewährleisten konnte. 2.  Säkularität des modernen Staates und Freiheit des Individuums Doch mit dieser Lehre hatte sich die Kirche zunehmend isoliert und den Anschluß an die Realität des modernen Staates verloren. Sie war in hoffnungslosen Widerspruch zu den Tendenzen der politischen Welt geraten, insbesondere zur Entstaatlichung der Religion, zur Säkularisierung des Staates, zur Anerkennung der Religions- und Gewissensfreiheit als allgemeines Menschenrecht. Dieser Prozeß war unaufhaltsam geworden, seit die christliche Glaubenseinheit zerbrochen war und der Staat sich als unfähig erwies, sie auf Dauer wiederherzustellen. Er verzichtete darauf, über letzte Wahrheiten zu entscheiden, und gewann damit die Fähigkeit, eine innerweltliche Friedensordnung herzustellen und Heimstatt aller Bürger, wes Glaubens oder Unglaubens auch immer, zu werden. Er entsagte seiner Verantwortung für das Seelenheil und beschränkte sich auf das irdische Heil.5 Fortan hörte er auf, „christlicher Staat“ zu sein. Nunmehr identifiziert er sich mit keiner Religion und fungiert nicht weiter als Richter oder Vollstrecker im Streit über letzte Wahrheiten. Das bedeutet jedoch nicht, daß er die Wahrheit der 4 

Leo XIII., Libertas (Fn. 1) S. 202 f., Rn. 57. Säkularität des Staates Herbert Krüger, Allgemeine Staatslehre, 2. Aufl. 1966, S. 32 ff. und 178 ff.; Helmut Quaritsch, Staat und Souveränität I, 1970, S. 288 ff.; Martin Heckel, Säkularisierung, ZRG Kan. Abt LXVI (1980), S. 1 ff.; Hermann Lübbe, Religion nach der Aufklärung, 1986, S. 75 ff. 5  Zur

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Religion leugnet oder gar unterdrückt. Vielmehr nimmt er sie gar nicht wahr, weil sie außerhalb seines innerweltlichen Horizonts liegt. Staat und Kirche werden so von der Wurzel her voneinander geschieden. Jener, indem er sich auf diesseitige Aufgaben des praktischen Zusammenlebens beschränkt, diese, indem sie sich auf jenseitige Wahrheit gründet. Dieser Grundverschiedenheit entspricht die institutionelle Trennung von Staat und Kirche. Der Staat darf sich kein geistliches Amt anmaßen, die Kirche keine weltliche Macht ausüben. Der säkulare Staat entspricht nicht mehr dem Bild der societas perfecta et completa, wie es Aristoteles entwarf und der Aquinate es sah. Er ist nur noch sektoraler Staat, der dem Menschen nicht mehr ganzheitliche Erfüllung bieten kann.6 Staatsbürger zu sein ist eine soziale Rolle neben anderen, freilich eine wesentliche Rolle. Doch auch im staatsrechtlichen Kontext ist das Christsein nur ein grundrechtlich relevanter Aspekt der Person. Hier erweist sich die Relativität des Gemeinwohls. Aus der Sicht der Kirche widmet sich der Staat einer zwar notwendigen, aber doch nur begrenzten, sekundären Aufgabe im Heilsplan Gottes. Aus der Sicht des Staates repräsentiert die Kirche, wie andere gesellschaftliche Verbände, nur partikulare Interessen, die er seinem Leitbild des bonum commune gemäß auszugleichen hat. Der Freiraum, den der säkulare Staat ausspart, ist die Gesellschaft. In ihr ist der Ort für Religion und Kirche.7 Die Verfassung gibt hier wie dort unterschiedliche Legitimationsgrundlagen. Die Staatsgewalt bezieht demokratische Legitimation aus dem Willen des Volkes, die gesellschaftlichen Subjekte aus der grundrechtlichen Freiheit.8 Diese Freiheit steht den Individuen zu sowie, durch diese vermittelt, den nichtstaatlichen Verbänden. Die Grundrechte, insbesondere das der Religionsfreiheit, bilden nach staatlichem Verfassungsrecht auch die Basis der Kirche in ihrer Beziehung zum Staat. Sie schirmen in ihrer Funktion als Abwehrrechte Bereiche privater und öffentlicher Selbstbestimmung gegen staatliche Ingerenz ab. Freiheit, auch die Freiheit der Religion, wird im grundrechtlichen Kontext zuvörderst negativ verstanden als Freiheit von staatlicher Regulierung. Ob und wie der Grundrechtsträger seine Freiheit positiv ausübt, entscheidet nicht das staatliche Recht, sondern der Grundrechtsträger selbst. Die Freiheit kommt gleichermaßen dem Gläubigen wie dem Skeptiker zu, dem Christen wie dem Nichtchristen. Sie alle genießen von Ver6  Josef Isensee, Staat und Verfassung, in: Josef Isensee/Paul Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland (= HStR), Bd. II, 3. Aufl. 2004, § 15 Rn. 75 ff. 7 Dazu Hans Heinrich Rupp, Die Unterscheidung von Staat und Gesellschaft, in: HStR II, 3. Aufl. 2004, § 31 Rn. 29 ff. und 44 ff. 8  Zu dieser polaren Legitimation Josef Isensee, Grundrechte und Demokratie, 1981, S. 9 ff.; Christian Starck, Grundrechtliche und demokratische Freiheitsidee, in: HStR III, 3. Aufl. 2005, § 33 Rn. 8 ff.

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fassungs wegen die gleichen rechtlichen Chancen zum privaten wie zum öffentlichen Wirken. Für den Bereich der Religion gilt nichts anderes als für den der Kultur, der Wirtschaft, der Gesellschaft überhaupt. 3.  Religiöse Wahrheit und menschenrechtliche Freiheit Die Religionsfreiheit bildet die Kehrseite der Säkularität des Staates. Dessen Einheit gründet nicht auf einer bestimmten Religion, sondern auf der Freiheit aller Bürger, in Glaubensdingen für sich selbst zu bestimmen. Der Status des Bürgers hängt nicht ab von der Religion, nicht von der Weltanschauung, nicht von seinen politischen Überzeugungen. Überhaupt entzieht sich die Innerlichkeit dem Zugriff des Rechtsstaats. Dieser verlangt vom Bürger, kantianisch gesprochen, nur Legalität, nicht Moralität, also nicht „richtige“ Gesinnung, sondern lediglich äußeres Verhalten, das nicht gegen das Gesetz verstößt; das Gesetz aber sichert nur die Rahmenbedingungen des friedlichen Zusammenlebens freier Individuen. Eben diese Begrenzung befähigt den freiheitlichen Staat, die Widersprüche der modernen Gesellschaft auszuhalten. Das moderne Freiheitskonzept hat sich in einem langen Prozeß gegen Widerstände durchgesetzt – auch gegen den Widerstand der katholischen Kirche. Diese hat jedoch, zunächst zögernd und vorsichtig, sodann zielstrebig und energisch, den Ausgleich mit dem modernen Freiheitsgedanken gesucht und abschließend in der Erklärung des Zweiten Vatikanischen Konzils über die Religionsfreiheit gefunden. Nunmehr bekennt sie sich selbst zu diesem Menschenrecht und setzt sich für dieses wie für alle Menschenrechte ein. Sie baut nicht darauf, daß der Staat als ihr bracchium saeculare den Glauben schützt, sondern allein darauf, daß die Wahrheit des Glaubens aus eigener Kraft sich verwirklicht. Wie eh und je fordert sie die moralische Grundpflicht aller Menschen ein, die Wahrheit, besonders in dem, was Gott und seine Kirche angeht, zu suchen und die anerkannte Wahrheit aufzunehmen und zu bewahren“, und daß diese Pflicht die Menschen in ihrem Gewissen berührt und bindet.9 Doch diese metarechtliche Pflicht verträgt keinen staatlichen Zwang. „[…] und anders, erhebt die Wahrheit nicht Anspruch kraft der Wahrheit selbst, die sanft und zugleich stark den Geist durchdringt“.10 Der alte Widerspruch von Freiheit und Wahrheit ist damit versöhnt.11 Die Kirche hat ihr Verhältnis zum Verfassungsstaat geklärt und die Freiheit, die er bietet, als Schicksal und Chance begriffen. 9 

Dignitatis humanae, n 1, 2. Dignitatis humanae, n l. 11  Deutung als kopernikanische Wende: Isensee (Fn. 1), S. 298 f., 305 ff., 336. Dagegen harmonisierende Deutung des Wandels als Kontinuität: Walter Kasper, Wahrheit und Freiheit, 1988, S. 5 ff. Geschichte: Arnold Angenendt, Toleranz und Gewalt. Das Christentum zwischen Bibel und Schwert, 2007, S. 110 ff. 10 

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II.  Grundrechtliche und institutionelle Elemente der Beziehung von Staat und Kirche 1.  Zwei verfassungsrechtliche Ebenen Im Verfassungsstaat partizipieren die Kirchen wie alle nichtstaatlichen, „privaten“ Organisationen am Schutz der Grundrechte. Diese gewährleisten ihnen Selbstbestimmung, soweit sie nicht die Rechte anderer oder legitime Belange der staatlichen Allgemeinheit verletzen. Sie bieten ihnen die Freiheit wie jedermann, ihre inneren Angelegenheiten zu ordnen, am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen, im Kreis ihrer Angehörigen wie in der Öffentlichkeit zu wirken. Sie können sich auf die Freiheit der Religionsausübung berufen, darüber hinaus auf die sonstigen, nicht religionsspezifischen Grundrechte, soweit diese überhaupt juristischen Personen zugänglich sind, etwa Meinungs- und Vereinsfreiheit, Berufsfreiheit und Eigentumsgarantie, Privatheit und Datenschutz.12 Die Grundrechte finden ihre Grenzen in den allgemeinen, religionsindifferenten Schranken des Rechts, das den formellen und materiellen Kautelen der Verfassung genügt. Darin genießen die Kirchen keine Privilegien, sondern die Freiheit der Gleichen. Sie stehen nicht besser und nicht schlechter da als andere Organisationen. Eben deshalb wird der egalitäre grundrechtliche Status heute allseits anerkannt. Gleichwohl vermag dieser die Beziehungen zwischen Staat und Kirche nicht erschöpfend zu erfassen. Die Kirche ist keine Organisation wie andere auch. Vielmehr hat sie ihre eigene Mächtigkeit, die der säkulare Staat nicht ignorieren kann. In ihr verkörpert sich ein Stück nationaler wie kontinentaler Identität. Sie hegt Kultur und Ethos. Sie leistet gemeinnützige Dienste der Erziehung und Bildung, der Wohlfahrtspflege, des Denkmalschutzes. Trotz seiner Säkularität, letztlich sogar wegen seiner Säkularität ist der Staat genötigt, die Kirchen gerade in ihrem religiösen Wirken als komplementäre Größe anzuerkennen, weil ihm selbst die Dimension des Religiösen verschlossen ist. Auch wenn er konstitutionell blind ist gegenüber der Wahrheit der Religion, so sieht er doch deren reale Folgen in der Wirklichkeit des gesellschaftlichen Lebens; er kann nicht so tun, als gäbe es sie nicht. Er muß zur Kirche, in der die Religion sich manifestiert, in eine praktische Beziehung treten und diese in rechtliche Fasson bringen. Die verfassungsrechtlichen Grenzen der Wirksamkeit des Staates lösen nicht den vitalen Zusammenhang der sakralen und der profanen Kräfte des Gemeinwesens auf, 12  Dazu allgemein Josef Isensee, Anwendung der Grundrechte auf juristische Personen, in: HStR V, 1992, § 118 Rn. 1 ff., 38 ff. Praktisches Exempel: der grundrechtliche Schutz des karitativen Wirkens, dazu Josef Isensee, Die karitative Betätigung der Kirchen und der Verfassungsstaat, in: Joseph Listl/Dietrich Pirson (Hrsg.), Handbuch des Staatskirchenrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. II, 2. Aufl. 1995, S. 665 (705 ff.).

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die wechselseitigen Bedingtheiten von Staat, Religion und Kultur, wie sie Jacob Burckhardt klassisch aufgewiesen hat.13 Die notwendigen rechtlichen Unterscheidungen können nicht die Tatsache aus der Welt schaffen, daß es dieselben Menschen sind, denen Staat und Kirche dienen. Beide Seiten sind darauf angewiesen, einen Ausgleich auf institutioneller Ebene zu finden. Die Art und Weise, wie dieser erfolgt, fällt von Land zu Land unterschiedlich aus. Hier wirken sich die Geschichte des jeweiligen Landes aus und seine gegenwärtige Befindlichkeit, die aktuelle Prägekraft der Religion, die konfessionelle Zusammensetzung der Bevölkerung, die herrschenden politischen Kräfte. Keine Nation Europas, die von ihrem Ursprung her nicht vorgeformt wäre von Religion und Kirche, eine jede allerdings auf ihre eigene Weise. Ihr Charakter zeigt auch heute noch an, ob sie auf der Grundlage kirchlicher Einheit zum Bewußtsein politischer Einheit gelangte (Italien, Frankreich, Spanien, Schweden), ob die kirchlich gebundene Religion den Kristallisationskern der nationalen Integration und der Abgrenzung nach außen bildete (Griechenland, Irland, Polen, Belgien), ob sich die staatliche Einung ohne kirchliche Fundierung und über die Spaltung der Konfessionen hinweg vollzog wie in Deutschland, ob die Geschichte von Staat und Kirche ein nationales Trauma hinterließ wie in Tschechien. Der Staat definiert ein Stück seiner Identität, indem er sein Verhältnis zu Religion und Kirche festlegt. Die jeweilige Verfassung knüpft zumeist an die realen Gegebenheiten an und spiegelt sie eher, als daß sie sie gestaltet. Ein wichtiges Regelungsinstrument des Ausgleichs ist der Vertrag, in dem beide Seiten sich auf der Basis realer Verschiedenheit und rechtlicher Unabhängigkeit auf ein geordnetes Nebeneinander- und Zusammenleben verständigen. Auch soweit die rechtlichen Regelungen in mehreren Staaten einander ähneln, können Interpretation und Vollzug in der spezifischen politischen, rechtlichen und religiösen Kultur jeweils anders ausfallen und eigenes nationales Profil gewinnen. Das Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, das in seinen demokratischen, rechtsstaatlichen und grundrechtlichen Passagen lediglich Maßkonfektion des europäischen Verfassungstypus darstellt, nimmt in seinen staatskirchenrechtlichen Artikeln, die es weitgehend aus der Weimarer Reichsverfassung übernommen hat, im europäischen Verfassungsvergleich originäre und originelle Züge an, etwa in der Gewähr des konfessionsgebundenen Religionsunterrichts an öffentlichen Schulen und der kirchlichen Feiertage, den Garantien des Körperschaftsstatus oder der Kirchensteuer. Staatskirchenrecht ist autochthones Recht, indes die Grundrechte ihrer menschenrechtlichen Herkunft nach universale Züge erkennen lassen. Grosso modo 13  Jacob Burckhardt, Weltgeschichtliche Betrachtungen (1905), Ausgabe von 1949, S. 51 ff., 113 ff. – Heutige Sicht: Arnd Uhle, Staat – Kirche – Kultur, 2004, S. 65 ff und 129 ff.

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pendelt sich in den Mitgliedstaaten der Europäischen Union ein einheitlicher Grundrechtsstandard ein. Dazu tragen die supranationalen und die internationalen Garantien der Religionsfreiheit bei.14 Dagegen kommen auf der institutionellen Ebene nationale Besonderheiten zur Geltung. Der Ausgleich von Staat und Kirche nimmt in jedem Staat individuelle Gestalt an. Dennoch lassen sich im europäischen Raum drei Grundmuster erkennen, die im einzelnen mehr oder weniger modifiziert werden: das Modell der Staatskirche, wie es in England und Schweden besteht, das der laizistischen Trennung, wie Frankreich es repräsentiert, und das der freiheitlichen Kooperation, wie Österreich, Deutschland und Spanien es praktizieren.15 Die folgenden Überlegungen gehen vom deutschen Staatskirchenrecht aus. Die Analogien zu Österreich liegen auf der Hand, weil die Systeme in ihren Grundzügen verwandt sind und der Kenner des österreichischen Rechts den Vorbehalt des „mutatis mutandis“ leicht umsetzen kann. 2.  „Organische Ganzheit“ aus disparaten Details Die grundrechtlichen und die institutionellen Elemente der Staat-KirchenBeziehungen stehen nicht beziehungslos nebeneinander. Vielmehr ergänzen sie sich, auch wenn sie nicht von vornherein aufeinander abgestimmt sind, zumal sie institutionellen vielfach älteren, vorgrundrechtlichen, verfassungshistorischen Epochen entstammen. Gleichwohl fügen sie sich zu differenzierter, wohlaustarierter Einheit oder, wie das Bundesverfassungsgericht formuliert, zu einem „organischen Ganzen“.16 Juridisch gesehen besteht innerhalb des staatskirchenrechtlichen Systems kein fundamentaler Widerspruch zwischen Individuum und Institution. Denn die Rechte der kirchlichen Organisation gründen letztlich in den Grundrechten der Individuen, die ihr angehören. Der Staat aber sichert den Kirchenmitgliedern die Freiheit, durch einseitige Erklärung des Kirchenaustritts die staatsrechtlichen Wirkungen der Mitgliedschaft zu beenden. Im übrigen wird der Status der Kirchen dadurch relativiert, daß die Verfassung ihre Garantien gleichermaßen allen „Religionsgesellschaften“17 und weltanschaulichen Vereinigungen bereitstellt. Auf der Ebene des Rechts gelingt tendenziell der schonende Ausgleich zwischen 14 Vgl. Christoph Grabenwarter, Religion und Europäische Menschenrechtskonvention, in: Andreas Zimmermann (Hrsg.), Religion und Internationales Recht, 2006, S. 97 ff.; ders., in: Karl Korinek/Michael Holoubek (Hrsg.), Österreichisches Bundesverfassungsrecht, Stand 2005, Art. 14, 16 StGG, Art. 63/2 StV St. Germain. 15 Darstellung der drei Idealtypen Stefan Mückl, Europäisierung des Staatskirchenrechts, 2005, S. 59 ff. 16  BVerfGE 19, 106 (219); 19, 226 (236); 53, 366 (400); 70, 138 (167); 99, 100 (119). 17 Zu den staatsrechtlichen Unterscheidungen religiöser Organisationen Alexander Hollerbach, Grundlagen des Staatskirchenrechts, in: HStR VI, 1. Aufl. 1989, § 138 Rn. 124 ff.

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dem subjektiven Prinzip der Individualfreiheit und dem objektiven der Institutionen. Im übrigen sind es nicht nur die Kirchen, denen von Verfassungs wegen ein hervorgehobener Status zusteht. Vergleichbare Sonderrechte genießen auch die Presse, die Rundfunkanstalten, die Gewerkschaften, die politischen Parteien – freilich mit dem Unterschied, daß deren Sonderrechte nicht ausdrücklich im Verfassungstext ausgewiesen, sondern erst durch die Auslegung des Bundesverfassungsgerichts inauguriert sind. Die Institutionen des Staatskirchenrechts verdrängen die Grundrechte nicht, und sie werden nicht von diesen verdrängt. So verbindet sich die institutionelle Garantie des konfessionsgebundenen Religionsunterrichts mit den Individualgrundrechten der Schüler und der Eltern, mit der korporativen Religionsfreiheit und dem Selbstbestimmungsrecht der Kirche sowie mit der Schulaufsicht des Staates.18 Wenn der Staat die Kirchensteuer einzieht, seine Exekutivgewalt also für die kirchlichen Steuergläubiger einsetzt, folgt er zwar prinzipiell deren Angaben über ihren Mitgliederbestand in Respekt vor ihrem Selbstbestimmungsrecht, doch muß er, um der Religionsfreiheit der betroffenen Individuen willen, diesen die Möglichkeit eröffnen, ihm gegenüber den Kirchenaustritt mit staatsrechtlicher Wirkung zu erklären, indes er, wiederum aus Respekt vor der Freiheit der Kirchen, diesen anheimgeben muß, welche kirchenrechtlichen und moralischen Konsequenzen sie an eine solche staatsrechtliche Erklärung knüpfen.19 Gleichwohl sind in dem institutionell-grundrechtlichen Gefüge Spannungen angelegt, die unter den jeweiligen rechtlichen und realen Bedingungen durch Interpretation ausgeglichen werden müssen. Da die Rechtsquellen heterogen sind, erweist sich das geltende Staatskirchenrecht in ungewöhnlich hohem Maße als Werk der Interpretation, und zwar nicht nur der professionell-juridischen, sondern auch und vornehmlich der tätigen Interpretation, an der Staat und Kirchen mitwirken. Darin zeigt sich die Lebendigkeit und Zukunftsoffenheit des rechtlichen Beziehungsgefüges, aber auch seine konstitutionelle Instabilität. Heute neigt die Exegese dazu, die institutionellen Elemente auf Grundrechte zurückzuführen und aus ihnen abzuleiten.20 Das Bundesverfassungsgericht stellt fest, daß die Gewährleistungen der Weimarer Kirchenartikel funktional auf die 18  Alexander Hollerbach, Freiheit kirchlichen Wirkens, in: HStR VI, 1. Aufl. 1989, § 140 Rn. 32 ff.; Josef Isensee, Die Garantie des Religionsunterrichts im Grundgesetz, in: Gottfried Bitter (Hrsg.), Religionsunterricht hat Zukunft, 2000, S. 19. 19 Dazu Axel Frhr. von Campenhausen, Der Austritt aus den Kirchen und Religionsgemeinschaften, in: Joseph Listl/Dietrich Pirson (Hrsg.), Handbuch des Staatskirchenrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. I, 2. Aufl. 1994, S. 777 ff. 20 Erster Anstoß: Joseph Listl, Die Religionsfreiheit als Individual- und Verbandsgrundrecht in der neueren deutschen Rechtsentwicklung und im Grundgesetz, EssGespr 3 (1969), S. 34 (71 ff.). Zu den heutigen Tendenzen Stefan Korioth, Vom institutionellen Staatskirchenrecht zum grundrechtlichen Religionsverfassungsrecht?, in: FS für Peter Badura, 2004, S. 727 ff. m. w. N. Kritik: Christian Hillgruber, Über den Sinn und Zweck

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Inanspruchnahme und Verwirklichung des Grundrechts der Religionsfreiheit angelegt seien. Diesem Ziel diene insbesondere die Verleihung des Körperschaftsstatus.21 Diese grundrechtliche Sichtweise vermag hergebrachte Regelungen neu zu begründen, Sonderrecht als Ausdruck allgemeiner Rechtsprinzipien darzulegen, vermeintliche Privilegien als Emanation gleicher Freiheitsverbürgungen auszuweisen und Prima-facie-Widersprüche aufzulösen. Die religionsrechtliche Parität, die sich seit dem Augsburger Religionsfrieden entwickelt hat, findet nunmehr ein neues Fundament im Allgemeinen Gleichheitssatz. Gleichwohl verbleiben die subtilen Differenzierungen zwischen Kirchen und sonstigen Religionsgemeinschaften, Religionsgemeinschaften mit und ohne Körperschaftsstatus, solchen öffentlichen und solchen privaten Rechts.22 Doch die Institutionen lassen sich nicht ohne Rest auf grundrechtliche Funktionen reduzieren. Das zeigt sich besonders deutlich am Exempel der Kirchensteuer, die gerade ein hoheitlicher, genuin staatlicher Eingriff in grundrechtlich geschütztes Vermögen ist.23 Die theologischen Fakultäten werden durch LandesVerfassungen und Kirchenverträge nicht nur zu dem Zweck gewährleistet, daß sich die Professoren in ihrer individualgrundrechtlichen Forschungs- und Lehrfreiheit optimal verwirklichen, sondern dazu, die kirchliche Wissenschaft in die staatliche Organisation der universitas litterarum einzubinden und dabei der Kirche zu geben, was der Kirche ist. Die Professoren haben teil an der Freiheit von Forschung und Lehre. Doch diese erfährt Modifikationen durch konkordatär abgesicherte Einwirkungsbefugnisse der katholischen Kirche, der das „Nihil obstat“ bei der Ernennung und das Recht zur Beanstandung der Lehre zusteht, freilich ohne die Beamtenrechte, die dem Hochschullehrer nach staatlichem Recht zustehen, antasten zu dürfen.24 Eine kräftige Interpretationstendenz geht dahin, alle institutionellen Elemente, die sich nicht aus den Grundrechten rekonstruieren lassen, zu negieren und für obdes staatskirchenrechtlichen Körperschaftsstatus, in: Christoph Grabenwarter/Norbert ­Lüdecke (Hrsg.), Standpunkte im Kirchen- und Staatskirchenrecht, 2002, S. 78 (98 f.). 21  BVerfGE 102, 370 (387) – Zeugen Jehovas. Kritik: Reiner Tillmanns, Kirchensteuer kein Mittel zur Entfaltung grundrechtlicher Religionsfreiheit, in: FS für Wolfgang Rüfner, 2003, S. 919 ff. Grundsätzliche Kritik an der zunehmenden Ausdehnung des Grundrechts Karl-Hermann Kästner, Hypertrophie des Grundrechts auf Religionsfreiheit? JZ 1998, S. 974 ff.; Hillgruber (Fn. 20), S. 80 ff. 22 Dazu Martin Heckel, Die religionsrechtliche Parität, in: Listl/Pirson (Fn. 19), S. 589 ff. m. w. N. 23  Tillmanns (Fn. 21) S. 920 ff. 24 Dazu Alexander Hollerbach, Theologische Fakultäten und staatliche Pädagogische Hochschulen, in: Listl & Pirson (Fn. 12), S. 549 (571 ff.). Zur juridischen Kontroverse um den Fall Küng: Ernst-Wolfgang Böckenförde, Der Fall Küng und das Staatskirchenrecht, NJW 1981, S. 2101 ff.; Ulrich Scheuner, Rechtsfolgen der konkordatsrechtlichen Beanstandung eines katholischen Theologen, 1980.

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solet zu erklären. Symptom ist das Bestreben, den hergebrachten Namen „Staatskirchenrecht“ abzulösen durch „Religionsrecht“ oder „Religionsverfassungsrecht“.25 Dafür mag sprechen, daß das Staatskirchenrecht auch Religionsgemeinschaften ohne Kirchenstatus erfaßt und daß die Wortwahl die Assoziation an Staatskirchen auslösen oder den Eindruck erwecken könnte, es handele sich um eine Teildisziplin des Kirchenrechts. Auf der anderen Seite handelt es sich um eine etablierte Kategorie der Jurisprudenz, die dem Kenner ebenso wenig Schwierigkeiten bereitet wie die des Internationalen Privatrechts, obwohl sie sich auch auf nationales Öffentliches Recht bezieht. Wer ohne Not den Namen ändert, rührt leicht an die Identität. Semantik und Sache hängen zusammen.

III.  Akzeptanzschwierigkeiten des Staatskirchenrechts 1.  Stabilität und Wandel Die rechtlichen Rahmenbedingungen des Verhältnisses von Staat und Kirche haben sich in der Ära des Grundgesetzes, also in mehr als einem halben Jahrhundert, bewährt und zu einer grosso modo gedeihlichen Weise des Zusammenlebens geführt: gedeihlich für beide Seiten wie für das Gemeinwesen im Ganzen. Eine eindrucksvolle Bestätigung brachte die deutsche Wiedervereinigung. Als die DDR der Bundesrepublik beitrat, übernahm sie die staatskirchenrechtlichen Regelungen des Grundgesetzes ohne irgendwelche Abstriche. Die neuen Bundesländer machten sich in ihren Verfassungen das Konzept des Westens weitgehend zu eigen26 und schlossen Verträge mit den Kirchen, obwohl deren Mitgliederzahl nur noch eine Minderheit der Bevölkerung ausmachte. Es herrscht rechtspolitische Windstille. Kulturkämpferische Anwandlungen, die zuweilen im linken Lager zu beobachten sind, zeitigen keine nachhaltigen Wirkungen. Man muß schon auf die Zeit von 1973/74 zurückblicken, um den Frontalangriff einer politischen Partei auf das hergebrachte Rechtsgefüge aufweisen zu können: das FDP-Kirchenpapier; doch auch dieses blieb ohne jede prakti25  Exemplarisch der Titel des Lehrbuchs „Religionsrecht“ von Claus Dieter Classen (2006) und die Begründung des Titels im Vorwort (ebd., S. V). Zum Streit um die Begriffe: Hollerbach (Fn. 17) § 138 Rn. 1 ff.; Hans-Michael Heinig/Christian Walter (Hrsg.), Staatskirchenrecht oder Religionsverfassungsrecht? Ein begriffspolitischer Grundsatzstreit, 2007. Zur Geschichte des Begriffs Staatskirchenrecht: Dietrich Pirson, Die geschichtlichen Wurzeln des deutschen Staatskirchenrechts, in: Listl/Pirson (Fn. 19), S. 3 (10  f.) m. w. N. 26  Zum Sonderweg Brandenburgs in der Frage des Religionsunterrichts Karl-Hermann Kästner, Religiöse Bildung und Erziehung in der öffentlichen Schule, EssGespr 32 (1998), S. 61 (83 ff.); Martin Heckel, Religionsunterricht in Brandenburg, 1998, S. 40 ff.; Isensee (Fn. 18), S. 19 (35 ff.), jeweils m. w. N. – Pragmatische Lösung durch Vergleich: BVerfGE 104, 305 (307 ff.).

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sche Resonanz. Selbst im juridischen Schrifttum findet sich selten radikale, auf die Wurzeln des Systems zugreifende Kritik.27 Doch wo sich kein offener Widerstand zeigt, muß nicht Zustimmung herrschen. Es wäre leichtfertig anzunehmen, daß das rechtliche Gefüge, das in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts Bestand hatte, stabil bleiben und das 21. Jahrhundert hindurch halten werde. Das Gefüge zeigt Risse, seine Basis Hohlräume. Praktische Belastungsproben bisher nicht gekannter Art und Schwere zeigen sich am Horizont. Im Schrifttum bahnt sich mit dem Generationswechsel unter den Autoren eine Trendwende an: die Abkehr von den tradierten Institutionen hin zu grundrechtlichem Individualismus, Verschiebung der Gewichte im linksliberalen Sinne von den Kirchen zum Staat, Desensibilisierung für das Religiöse, Verlust an historischer wie an theologischer Kompetenz, damit Vernachlässigung der vorrechtlichen Implikationen der Normen und positivistischer Rekurs auf den bloßen Wortlaut. Die Wende vollzieht sich geräuschlos, mehr in der Diskussion konkreter Rechtsfragen wie Religionsunterricht und Körperschaftsstatus als in der Diskussion der rechtlichen Fundamente. Der Wandel des Normverständnisses darf schon deshalb nicht gering geschätzt werden, weil das Rechtsgefüge, wie es sich nach dem Zweiten Weltkrieg in Westdeutschland etabliert hat, in höherem Maße der Rechtsinterpretation entstammt als der Rechtsetzung: ein fragiles juridisches Kunstwerk. 2.  Akzeptanzbedarf von Normen Die Grundrechte stehen heute jenseits allen politischen Streits. Sie bilden das allgemein akzeptierte rechtliche Fundament der offenen pluralistischen Gesellschaft. Die Kirchen bauen auf relativ festem Boden, wenn und soweit sie sich auf Grundrechte berufen können. Dagegen ist der Boden der staatskirchenrechtlichen Normen wenig belastbar. Leicht gerät er ins politische Wanken. Den Institutionen drohen vielfach Legitimationsschwierigkeiten. Das mag den Rechtspositivisten erstaunen. Denn die Institutionen des Staatskirchenrechts sind in besonderer Dichte rechtlich sanktioniert durch das Grundgesetz wie durch Landesverfassungen, durch Gesetze und Kirchenverträge; letztere, soweit der Heilige Stuhl Partner ist, sogar mit völkerrechtlicher Verbindlichkeit. Die Sanktionen begründen den Geltungsanspruch. Doch sie garantieren nicht, daß die Rechtspraxis ihn einlöst. Geltung und Wirksamkeit müssen nicht korrespondieren.28 27 

Rares Exempel: Erwin Fischer, Trennung von Staat und Kirche, 1964 (in 4. Auflage 1993 unter dem Titel „Volkskirche ade“). 28  Unterscheidung von Geltung und Wirksamkeit Hans Kelsen, Allgemeine Theorie der Normen, 1979, S. 112.

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Normen exekutieren sich nicht selbst. Sie sind angewiesen auf die Akzeptanz derer, an die sie sich wenden, der Bürger wie der Staatsorgane. Auf Dauer lassen sie sich in einem freiheitlichen Gemeinwesen nicht aufrechterhalten, wenn sie nicht mehr das hinreichende Maß an Zustimmungsbereitschaft finden. Ein Menetekel für das Staatskirchenrecht ist das Schicksal der Konfessionsschule als Regelschule. Diese war durch Landesverfassungen und Konkordate rechtlich abgesichert und fand doch in den Sechziger Jahren ein rasches Ende, als sich ihr Sinn nicht mehr vermitteln ließ. Schulgesetze, Verfassungsgesetze und Kirchenverträge wurden entsprechend geändert. Heute ist die christliche Gemeinschaftsschule, die in manchen Ländern die Bekenntnisschule als Regelschule abgelöst hat, ihrerseits in Konsensnot geraten, und zwar hinsichtlich des christlichen Charakters ihrer Erziehungsziele. Das Bundesverfassungsgericht setzte mit seinem Beschluß über die grundrechtliche Unzumutbarkeit, unter dem Kreuz im Klassenzimmer zu lernen, ein staatsamtliches Zeichen des Widerspruchs.29 Der juridische Streit darüber, ob muslimische Lehrerinnen im Unterricht ein Kopftuch tragen dürfen, ist Symptom für die Erosion des schulischen Konzepts. Substantielle Kontinuität des Rechts setzt kontinuierlichen Rechtskonsens voraus. Dieser ist im Staatskirchenrecht noch leidlich vorhanden. Doch er zerbröselt immer mehr von den Rändern her. Auch wenn eine Norm nicht förmlich aufgehoben oder geändert wird, kann sie sich substantiell wandeln, wenn sich ihre Interpretation wandelt. 3.  Schwäche einer traditionalen Legitimation Der ungewöhnliche Grad an Zustimmung, auf den sich das Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland stützt, kommt nur bedingt seinen staatskirchenrechtlichen Faktoren zugute. Er gilt im wesentlichen den Grundrechten, der Demokratie, dem Rechtsstaat und dem sozialen Staatsziel, Prinzipien also, die in der westlichen Welt allgemein anerkannt werden und die das Grundgesetz nur den deutschen Bedürfnissen angepaßt und näher ausgestaltet hat. Das Staatskirchenrecht ist dagegen autochthones Verfassungsgut. Es entstammt deutscher Verfassungstradition, die bis in das 16. Jahrhundert, die Zeit der Glaubensspaltung, zurückreicht. Diese Tradition gibt ihm das Profil. Es ist keine voraussetzungslose Neuschöpfung der geltenden Verfassung. Vielmehr begnügt sich diese, in ihren Übergangs- und Schlußbestimmungen auf die einzeln enumerierten Kirchenartikel der Weimarer Reichsverfassung zu verweisen und sich diese so zu inkorporieren.30 Diese redaktionstechnische Verlegenheitslösung31 mindert nicht den ver29  BVerfGE 93, 1 (15 ff). Analyse des Beschlusses: Josef Isensee, Bildersturm durch Grundrechtsinterpretation, ZRP 1996, S. 10 ff. 30  Zu dieser Inkorporation Hollerbach (Fn. 17), § 138 Rn. 19 ff., 27 ff.; Peter Badura, Das Staatskirchenrecht als Gegenstand des Verfassungsrechts, in: Listl/Pirson (Fn. 19), S. 211 (236 ff.).

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fassungsgesetzlichen Geltungsanspruch der Kirchenartikel, doch verdeckt und versteckt sie deren Bedeutung. Der Defekt an Publizität hindert die Popularität. 31

Das geltende Staatskirchenrecht läßt sich nur aus der Geschichte heraus gänzlich verstehen, als die letzte Station auf dem langen Weg vom „Cuius regio, eius religio“-Prinzip zum offenen Pluralismus der Religionen, vom landesherrlichen Kirchenregiment zur religiösen Neutralität des Staates, von der Staatskirche zur individuellen und korporativen Freiheit aller Religionen. Der Verfassungsartikel über die Ablösung der Staatsleistungen32 läßt sich überhaupt nur von den Säkularisationen des 16. bis 19. Jahrhunderts her begreifen.33 Einer geschichtsvergessenen Gesellschaft sagt diese Tradition nichts. Eher zieht sie den Verdacht auf sich, daß sie überlebt sei oder daß sie sich, wann und wie auch immer, kompromittiert habe. Tradition ist heute ein schwaches Argument, wo es gilt, Überkommenes zu legitimieren (außer im sozialstaatlichen Kontext, wenn soziale Besitzstände zu verteidigen sind). 4.  Affekt gegen Institutionen Das Staatskirchenrecht zieht den heute grassierenden Affekt gegen Institutionen auf sich. Freilich macht dieser nicht allein dem Staatskirchenrecht zu schaffen. Er richtet sich auch gegen das Beamtenrecht wie gegen das Ehe- und Familienrecht. Mit ihm haben Staat und Kirche gleichermaßen ihre Not, wie alle Verbände, die auf „Sekundärtugenden“ ihrer Angehörigen angewiesen sind: auf Gehorsam, Verläßlichkeit, Stetigkeit, Fleiß. Institutionen, gleich ob sakraler oder profaner Bestimmung, dienen dazu, dem gesellschaftlichen Leben Stabilität zu geben. Nach Arnold Gehlen sind sie die „Instinktprothesen“, die den menschlichen Mangel an natürlicher Orientierungssicherheit kompensieren.34 Ihr Leitprinzip ist nicht die Subjektivität des Individuums, sondern die allgemeine Sache; nicht die Spontaneität, sondern die Organisation; nicht das Event, sondern das stetige, geordnete Wirken; nicht das Charisma, sondern das Amt. Die Kirche zieht den antiinstitutionellen Affekt in besonderem Maße auf sich. Dieser regt sich in reizbarer Abwehr einer „Bevormundung“ in Fragen des Glau31 

Rudolf Smend, Staat und Kirche nach dem Bonner Grundgesetz (1951), in: ders., Staatsrechtliche Abhandlungen, 1968, S. 411 (418). 32  Art. 138 Abs. 1 WRV i. V. m. Art. 140 GG. 33 Entstehungsgeschichte: Carl Israel, Geschichte des Reichskirchenrechts, 1922, S. 33 ff., 47 f. Zur heutigen Rechtslage Josef Isensee, Staatsleistungen an die Kirchen und Religionsgemeinschaften, in: Listl/Pirson (Fn. 19), S. 1009 ff. 34  Zu Wesen, Sinn und Bedrohtheit der Institutionen in der modernen Welt: Arnold Gehlen, Urmensch und Spätkultur, 5. Aufl. 1986, S. 7 ff.; ders., Mensch und Institutionen (1960), in: ders., Anthropologische und sozialpsychologische Untersuchungen, 1993, S. 69 ff.; Herbert Krüger, Die „Lebensluft“ des Öffentlichen Dienstes, in: Walter Leisner (Hrsg.), Das Berufsbeamtentum im demokratischen Staat, 1975, S. 101 ff.

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bens und der Moral, in postkulturkämpferischer Klerikophobie, in Mißtrauen gegenüber der Macht der Kirchen als „dem zweitgrößten Arbeitgeber“ nächst dem öffentlichen Dienst. Der Affekt regt sich außerhalb wie innerhalb der kirchlichen Mauern, unter Charismatikern, die unter der „Amtskirche“, und unter Gottesgelehrten, die unter dem päpstlichen Lehramt leiden. Die institutionelle Macht stößt auf zunehmenden Widerstand, wenn sie von ihren Amtsträgem und Bediensteten Loyalität einfordert und den Bruch der Loyalität ahnden will: durch arbeitsrechtliche Kündigung, Entzug der missio canonica oder Versagung des nihil obstat. Die Medien sind geneigt, die Betroffenen als Märtyrer der Freiheit zu glorifizieren. Der Theologe, der das Showbusiness beherrscht, vermag sich wohlfeil auf Kosten der Institution, in deren Dienst er steht, zu profilieren durch Kritik an der Kirche: je hämischer und „entlarvender“, desto publikumswirksamer.

IV.  Beziehungsdreieck Staat – Ortskirche – Weltkirche 1.  Völkerrechtliche Dimension Die Beziehungen des Staates zur katholischen Kirche greifen notwendig über das Staatsrecht hinaus in das Völkerrecht. Im Unterschied zu den protestantischen Landeskirchen, die den gegenwärtigen oder historischen Staatsterritorien gemäß zugeschnitten sind, ist sie als Weltkirche organisiert: die älteste globale Institution überhaupt. Als Weltkirche hat sie sich gegen die Bestrebungen des Nationalstaats gewehrt, sie auf eine Nationalkirche nach seiner Fasson zu reduzieren, und sie sich so kompatibel und gefügig zu machen. „Die katholische Kirche“ in Deutschland ist als solche denn auch nicht etwa als juristische Person rechtlich organisiert. Sie ist lediglich die Gesamtheit der im Land belegenen Bistümer. Im 19. Jahrhundert stand ihre universale Struktur im Widerspruch zum Souveränitäts- und Impermeabilitätsanspruch des Nationalstaats. Der Kulturkampf Preußens zielte auch darauf ab, die katholische Bevölkerung abzuschirmen gegen „ultramontane“ Einflüsse, unmittelbare Kontakte der Bischöfe zum Papst zu verhindern, diese Beziehungen vielmehr zu mediatisieren und zu kontrollieren. Immerhin hatte auch auf dem Höhepunkt der nationalstaatlichen Epoche das Völkerrecht dem Heiligen Stuhl, nachdem der Kirchenstaat untergegangen war, die Qualität als Völkerrechtssubjekt zuerkannt, das damals einzige Völkerrechtssubjekt ohne Staatsqualität. Die den völkerrechtlichen Beziehungen von Staat und Kirche gemäße Regelungsform ist das Konkordat. Heute ist es kraft einer ungeschriebenen Meistbegünstigungsklausel zu einer Art Vorbild auch für den innerstaatlichen Rechtsausgleich mit der evangelischen Kirche geworden; der Kirchenvertrag löst in gewissem Maße das Gesetz ab. Die Weltverfassung der katholischen Kirche zeitigt staatsrechtliche Konsequenzen. Sie kann sich nicht damit zufriedengeben, daß ihr, wie es die Weimarer

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Reichsverfassung vorsah, die Vereinigungsfreiheit „innerhalb des Reichsgebiets“ (Art. 137 Abs. 2 Satz 2) geboten wird. Sie bedarf der grenzüberschreitenden Freiheit zur weltkirchlichen Kommunikation und zum unmittelbaren Verkehr mit dem Heiligen Stuhl. Diese wird ihr heute im Zeitalter der offenen Staatlichkeit gewährleistet. Die Freiheitsgarantien des Grundgesetzes beziehen sich auch auf den internationalen Verkehr.35 2.  Innerkirchliche Dimension Der nach innen wie außen offene Verfassungsstaat hat, jedenfalls im Prinzip, seine rechtlichen Probleme mit der Welt- und der Ortskirche gelöst. Deren Binnenbeziehungen sind für ihn kein Thema. Sie sind Sache des Kirchenrechts.36 Gleichwohl waltet zwischen Ortskirche und Weltkirche nicht prästabilierte Harmonie. Das hierarchische Prinzip steht in einem Spannungsverhältnis zur Autonomie der Teilkirchen. Dieses läßt sich nicht leichter Hand auflösen unter Berufung auf das Subsidiaritätsprinzip, das ohnehin ausfällt, wo sich die Wahrheitsfrage stellt.37 Der Heilige Stuhl hat zuweilen den Ausgleich mit dem Staat ohne Wissen und Willen der Ortskirche gesucht, so Papst Leo XIII. in seinen Verhandlungen mit Bismarck unter Umgehung der deutschen Bischöfe und Laien, insbesondere ihres Wortführers Windthorst (der sich aber zu wehren wußte); so Papst Paul VI. in der Absprache, die sein Legat Kardinal Casaroli mit der kommunistischen Regierung Polens traf, trotz Protests des polnischen Primas Kardinal Wysziński, dem deshalb die disziplinarische Entfernung aus dem Amt gedroht hätte, wäre Paul VI. nicht gestorben und ein Papst aus Polen gekommen, der die orts- und weltkirchlichen Verhältnisse anders bewertete als sein Vorgänger. In Deutschland hat der Staat mit dem Angebot an die Kirchen, sich an der Schwangerenberatung als Voraussetzung der Abtreibung zu beteiligen, den Apfel der Eris in die katholische Kirche geworfen und sie in ein moralisches Dilemma gestürzt. Der Spruch aus Rom hat die Handlungseinheit nicht hergestellt. Im Gegenteil: Teile des Laienkatholizismus leisten Widerstand unter Berufung auf die

35  Ulrich Scheuner, Die internationalen Beziehungen der Kirchen und das Recht auf freien Verkehr, in: Ernst Friesenhahn/Ulrich Scheuner (Hrsg.), Handbuch des Staatskirchenrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. II, 1. Aufl. 1975, S. 299 ff.; Matthias Jestaedt, Universale Kirche und nationaler Verfassungsstaat, EssGespr 37 (2003), S. 87 ff. – Allgemein zu grenzüberschreitender Grundrechtsausübung Markus Heintzen, Auswärtige Beziehungen privater Verbände, 1988, S. 96 ff., 205 ff. 36 Dazu Alfred E. Hierold, Gesamtkirche und Autonomie der Teilkirchenverbände, EssGespr 37 (2003) S. 5 ff.; Gerhard Ludwig Müller, In quibus et ex quibus – zum Verhältnis von Ortskirche und Universalkirche, EssGespr 37 (2003), S. 59 ff. 37 Vgl. dazu die Diskussion im Anschluß an die Referate von Hierold und Müller, EssGespr 37 (2003), S. 42, 45 f., 47, 50 f., 72 f., passim.

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Autonomie der Ortskirche.38 Der religiös neutrale Staat aber steht vor der für ihn nur schwer lösbaren Rechtsfrage, welche der beiden Organisationen er finanzieren soll, die der katholischen Laien, die sich auf ihre Eigenverantwortung berufen, oder die der Bischöfe, die sich, im Stillen maulend, dem Wort des Papstes gebeugt haben.

V.  Unabhängigkeit und Kooperation 1.  Keine trennscharfe Abgrenzung der Sphären Im Äon der Religionsfreiheit erkennen Staat und Kirche einander Unabhängigkeit zu. Beide leben aus eigenem Recht und folgen eigener Gesetzlichkeit. Dennoch ist es nicht möglich, die beiderseitigen Sphären mit rechtlichen Mitteln so zu scheiden, daß sie sich nicht berühren und reiben können. Eine solche Trennung ist freilich altes laikales Ideal, das exemplarisch in der ältesten unter den geltenden deutschen Landesverfassungen, der des Landes Hessen aus dem Jahre 1946, Ausdruck gefunden hat: „(1) Es ist Aufgabe von Gesetz oder Vereinbarung, die staatlichen und kirchlichen Bereiche klar gegeneinander abzugrenzen. (2) Die Kirchen, Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften haben sich, wie der Staat, jeder Einmischung in die Angelegenheiten des anderen zu enthalten.“39

Heute erscheint sie wie ein Fossil aus versunkener Epoche. Die deutsche Verfassungsentwicklung ist achtlos über sie hinweggegangen, und das auch aus rechtlichen Gründen. Der demokratische Staat, der um seiner Glaubwürdigkeit willen die Nähe zu seinen Bürgern sucht und sie alle einlädt, sich in die politische Auseinandersetzung „einzumischen“, kann die Christen unter ihnen nicht ausschließen, und er kann auch den Kirchen die „Einmischung“ in seine Angelegenheiten nicht verwehren, da doch alle gesellschaftlichen Kräfte „mitmischen“ und auf ihre Weise zur politischen Willensbildung beitragen. Die Grundrechte schützen zwar den Freiraum der Bürger vor Ingerenzen der Staatsgewalt, aber sie schützen nicht die Staatsgewalt vor Ingerenzen der Bürger, auch nicht vor solchen der Kirchen. Die Grundrechte lassen sich nicht auf unpolitische Themen reduzieren, schon deshalb, weil das Politische sich nicht rechtlich einfangen läßt und jedes Thema sich zu politischer Bedeutung aufladen kann. So bieten sie auch den Kirchen die Freiheit, sich politisch zu engagieren. Sie hindern den Staat, ihren Handlungsraum einzuschränken, es sei denn durch für alle geltende 38 

Neuere Dokumente des Streits; Patrick Bahners, Auf welche Kirche trifft der Staat in Deutschland?, FAZ v. 9. 9. 2006 (Nr. 210), S. 33; andererseits Hans Maier, Was dürfen Laien?, FAZ v. 5. 10. 2006 (Nr. 231), S. 41. 39  Art. 50 HessVerf.

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Gesetze;40 sie hindern ihn auch, von sich aus ihren Wirkungskreis zu definieren oder sich als Platzanweiser für ihren Ort in der Gesellschaft zu betätigen. Die Wahrheitsfragen des Glaubens liegen jenseits seines säkularen Horizonts. Doch darf er nicht, um seine Säkularität zu wahren, kirchlich gebundenen Bürgern den Zugang zu öffentlichen Ämtern erschweren oder sie nach Übernahme eines Amtes generell unter Befangenheits- oder Illoyalitätsverdacht stellen und nötigen, sich davon zu reinigen. Das wäre verfassungswidrige Diskriminierung. Staatsloyalität und Gemeinwohlorientierung werden durch Recht und Ethos des Amtes vermittelt. Das Prinzip des Amtes verlangt Distanz zu allen, auch den säkularen Partikularinteressen. Am schwierigsten ist dieses Gebot durchzusetzen gegenüber den Interessen der politischen Parteien.41 2.  Nutzen und Kosten der Kooperation Im Bewußtsein ihrer gesicherten Unabhängigkeit brauchen Staat und Kirche den Kontakt nicht zu scheuen. Die ungleichen Partner arbeiten zusammen aus gemeinsamer, komplementärer Verantwortung für den Menschen in Fragen der Erziehung und Schule, der Karitas wie der Denkmalpflege.42 Die Kooperation ist ein Gebot der Klugheit für beide Seiten. Der Nutzen für das Gemeinwesen liegt in der Aktivierung außerstaatlicher Potenzen für die allgemeine Sache, der Entlastung des Staates, der Dezentralisierung und Pluralisierung der sozialen Dienste, in freiheitsermöglichender und freiheitsschonender Subsidiarität der öffentlichen Hand. Die kirchlichen Träger erlangen durch die Einbindung in übergreifende Kooperationsschemata größere Wirkungschancen im „dritten Sektor“ zwischen Staat und Markt, die sich ihnen bei isoliertem Wirken nicht auftäten, und sie partizipieren an einem staatlich organisierten Finanzierungssystem. Die Kirche bewahrt und gewinnt auf diesen Tätigkeitsfeldern allgemeines Ansehen und breite Akzeptanz in der Gesellschaft. 40  Zur spezifischen Bedeutung des Begriffs in Art. 137 Abs. 3 Satz 1 WRV i. V. m. Art. 140 GG siehe Hollerbach (Fn. 17), § 138 Rn. 124 ff. 41  Ein denkwürdiges Exempel der Bewährung des Amtsprinzips aus der Ära der Weimarer Republik: Als Reichskanzler Brüning, ein Katholik aus der Zentrumspartei, auf Staatsbesuch im Vatikan weilte, forderte ihn Kardinalstaatssekretär Eugenio Pacelli auf, die Frage des Reichskonkordats trotz ungünstigster innenpolitischer Voraussetzungen in Deutschland anzugehen, und hielt ihm vor, für einen katholischen Kanzler sei es unmöglich, einen protestantischen Kirchenvertrag abzuschließen. Brünings Antwort: Er müsse schon, dem Geiste der Verfassung entsprechend, die er beschworen habe, die Interessen des gläubigen Protestantismus auf der Grundlage völliger Gleichberechtigung wahrnehmen; er widerstehe jedem Versuch, auf seine politischen Entschlüsse und auf die Haltung der Zentrumspartei vom Vatikan aus Einfluß zu nehmen; als Reichskanzler stehe er ihm als dem Vertreter einer in politischer Beziehung koordinierten ausländischen Macht gegenüber (Heinrich Brüning, Memoiren 1918 – 1934, 1970, S. 358 f.). 42 Dazu Mückl (Fn. 15), S. 349 ff. m. w. N.

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Der in seinen Handlungsmöglichkeiten vielfach begrenzte Verfassungsstaat zehrt von Voraussetzungen, die er aus eigener Kraft nicht zu erzeugen oder zu ersetzen vermag.43 Die Voraussetzungen sind ökonomischer wie geistiger Natur. Zu ihnen gehören die Leistungstüchtigkeit der Bürger wie ihr Ethos. Unter den Bedingungen grundrechtlich gewährleisteter Freiheit geht das Gemeinwohl nicht lediglich aus der Legalität der Bürger hervor, sondern auch und wesentlich aus ihrer Moralität. Eine vitale Quelle ist die Religion. Sie bleibt auch in ihren säkularen Derivaten wirksam. Insbesondere zeitigt sie Einfluß auf den inneren Zusammenhalt der Nation, auf Solidarität und Bürgersinn, auf die Bereitschaft, Lästiges zu ertragen. Der Verfassungsstaat steht den Voraussetzungen seiner Handlungsfähigkeit nicht gleichgültig gegenüber. So regt er gemeindienliche Aktivitäten Privater an und unterstützt sie, ohne daß ihm die Grundrechte als Abwehrrechte entgegenstehen, soweit er nur, den Anforderungen des Gleichheitsgebotes gemäß, willkürfrei vorgeht. Wie er kulturelle Aktivitäten nichtstaatlicher Verbände im Interesse des Gemeinwohls fördert, so kann er in gleicher Intention religiöse Aktivitäten der Kirche fördern, freilich unter dem Vorbehalt, daß er sich nicht mit religiösen Inhalten identifiziert und daß er die Parität zwischen den Religionsgemeinschaften wahrt. Die religiöse Neutralität des Verfassungsstaates hat daher religiös- und kirchenfreundlichen Charakter.44 Die Kooperation fordert ihren Preis. Die Kirche, die ihr Leistungsangebot an Kindergärten, Privatschulen, Krankenhäusern und Pflegeheimen mit Hilfe des Staates ausbaut, wird abhängig von seinen Zuwendern, und sie muß sich seinen Auflagen fügen: „wer zahlt, schafft an“. Je mehr sie ihre Einrichtungen kirchenfremden Benutzern öffnet und (soweit sie etwa im öffentlichen Kindergarten über ein Angebotsmonopol verfügt) auch anbieten muß, desto mehr muß sie sich den allgemeinen, säkularen Standards anpassen, und desto schwerer fällt es, ihr Proprium geltend zu machen. Sie droht zur ununterscheidbaren Agentur des Sozialstaats zu verkommen. Der Erzbischof von Köln zieht im Jahre 2006 die Kritik von Staat und Medien auf sich, als er anordnet, daß Adventsfeiern und Gebete in den katholischen Kindergärten christlichen, nicht aber, aus vermeintlicher Rücksicht auf muslimische Kinder, multireligiösen Charakter tragen sollten. Kooperation erzeugt Selbstbindung und kann umschlagen in faktischen Mitmachzwang, der für die Freiheit wie für die Glaubwürdigkeit der Kirche 43  Vgl. die häufig zitierte Sentenz von Ernst-Wolfgang Böckenförde, Der Staat als sittlicher Staat, 1978, S. 36. 44 Dazu Klaus Schlaich, Neutralität als verfassungsrechtliches Prinzip, 1972, S. 129 ff.; Ulrich Scheuner, Das System der Beziehungen von Staat und Kirchen im Grundgesetz, in: Ernst Friesenhahn/Ulrich Scheuner (Hrsg.), Handbuch des Staatskirchenrechts der Bundesrepublik Deutschland, Band I, 1. Aufl. 1974, S. 5 (61 ff.); Hollerbach (Fn. 17), § 138 Rn. 138 ff.; Lübbe (Fn. 5), S. 75 ff.

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gefährlich wird. Sie setzt ihre Akzeptanz aufs Spiel, wenn sie aus der Zusammenarbeit ausschert. Der Ernstfall ist die Mitwirkung der Kirche an der Schwangerenberatung. Sie steckt in einem Dilemma. Wenn sie sich an dem Verfahren beteiligt, das mit der Ausstellung des Beratungsscheins das gesetzliche Tor zur Abtreibung öffnet und damit eine Bedingung zur Tötung des ungeborenen Kindes setzt, so übernimmt sie – wie immer auch die rechtlichen Vorbehalte ausfallen – moralische Mitverantwortung für die Folgen und riskiert, die Glaubwürdigkeit ihres Einsatzes für den unbedingten Lebensschutz zu verlieren. Zieht sie sich aber zurück, so verliert sie die Chance, auf die Schwangere in der Grenzsituation der Entscheidung Einfluß zu nehmen und so vielleicht das Leben des Kindes zu retten. Sowohl das Tun als auch das Unterlassen ist prekär. Von der theologischen Frage, wie sich die Kirche hier „richtig“ verhält, ist die staatskirchenrechtliche Frage zu unterscheiden, ob die Kirche frei ist, die Option des Beratungsverfahrens zu ergreifen oder auszuschlagen. An sich bestimmt sie selbst, kraft des Grundrechts der Religionsfreiheit und kraft ihres Selbstbestimmungsrechts. Wenn sie sich aber zurückzieht, so riskiert sie den Konflikt mit den gesellschaftlichen Mächten, welche die öffentliche Meinung beherrschen: daß diese den Rückzug als Aufkündigung der gewachsenen Beziehungen von Staat und Kirche deuten. Die Schwierigkeit hat ihr Gutes: die Sensibilität, mit der die Öffentlichkeit auf das Verhalten der katholischen Kirche reagiert, zeigt, daß die Kirche, wenn sie der Gesellschaft ein Zeichen des Ärgernisses gibt, jedenfalls als moralische Instanz wahrgenommen wird, aber auch, daß sie, wenn sie sich auf die Prozeduren der Gesellschaft einläßt und „mitmacht“, die noch verbliebenen Gewissensskrupel in der neuheidnischen Gesellschaft beruhigt. 3.  Sozialstaatliche Säkularisierung Die Freiheitsgarantien der Verfassung sorgen dafür, daß die Kirche wenig von direkten Maßnahmen einer ihr feindselig gesonnenen parlamentarischen Mehrheit oder Regierung zu fürchten hat. Die indirekte, schleichende Gefahr, die ihrer Freiheit droht, ergibt sich aus dem Regulierungsdrang des Sozialstaats, der, ohne spezifischen Bezug auf die Kirche und ihre Einrichtungen, die gesellschaftliche Autonomie zugunsten seiner Vorstellungen von Gerechtigkeit einschränkt, um die aus seiner Sicht sozial Unterlegenen und Schutzbedürftigen, die Arbeitnehmer, die Verbraucher und andere mehr zu schützen. Die Kirche wird behandelt als Arbeitgeber, als Leistungsanbieter wie alle anderen auch. Gleichwohl wird sie in besonderer Weise getroffen, wenn die immer dichteren Regelungen ihre Selbstbestimmung in Fragen der Organisation, des Leistungsprogramms, der Personalauslese und Personalführung zurückdrängen und sie hindern, ihre Eigenart als Kirche zu verwirklichen. Der sozialstaatliche Nivellierungsdruck wird verstärkt

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durch europarechtliche Richtlinien mit gleicher Zielsetzung.45 Das Ergebnis ist eine sanfte, langsame Säkularisierung.46 Das Bundesverfassungsgericht trägt der Gefahr Rechnung und bestimmt das „für alle geltende Gesetz“, die Schranke der Kirchenautonomie, nicht nach der abstrakten Allgemeinheit seines Geltungsanspruchs, auch nicht nach der Kirchenindifferenz des Inhalts. Vielmehr stellt es auf die Wirkung ab, die es auf die Kirche in ihrer besonderen verfassungsrechtlich relevanten Befindlichkeit zeitigt: daß es für sie dieselbe Bedeutung hat wie für den Jedermann. Ein Gesetz aber, das die Kirche „nicht wie den Jedermann, sondern in ihrer Besonderheit als Kirche härter, ihr Selbstverständnis, insbesondere ihren geistig religiösen Auftrag beschränkend, also anders als den normalen Adressaten“ trifft, bildet keine mögliche Schranke.47 In der Auslegung des Bundesverfassungsgerichts umfaßt also die Kirchenautonomie die realen Voraussetzungen des geistlichen Wirkens, Organisation, Verfahren, Personal- und Finanzierungsangelegenheiten.48 Die Kirche ist im Geltungsbereich des sozialen Staatsziels nicht aus der sozialen Verantwortung entlassen, aber sie definiert deren Verwirklichung grundsätzlich autonom, aus dem Selbstverständnis ihres diakonischen Auftrags heraus.49 Da die Kirche sich ihrerseits mit dem Prinzip des Sozialen identifiziert, gerät sie in Argumentationsnöte, wenn sich sozialpolitische Forderungen gegen einen staatskirchenrechtlichen Besitzstand richten, wie es im Jahre 1994 geschah, als die politische Klasse übereinkam, die Kosten der neuartigen Pflegeversicherung, die auf die Arbeitgeberseite zukamen, auszugleichen durch die Abschaffung des Buß- und Bettages als staatlich anerkannten Feiertages. Ein unwürdiges Kompensationsgeschäft auf (ideelle) Kosten eines Dritten: der evangelischen Kirche. Immerhin stand der hergebrachte Feiertag unter dem Schutz der Verfassung (Art. 139 WRV i. V. m. Art. 140 GG). Seine Aufhebung war nur möglich im Einvernehmen mit der Kirche. Diese aber, unter dem äußeren Druck des Staates und unter dem inneren der Diakonie, die sich in der Pflegeversicherung ein neues Aktionsfeld erhoffte, gab nach. Als sie die Folgen erkannte, kam die Reue zu spät. Nachträgliche Versuche, durch Volksgesetzgebung in den Ländern das Er-

45 Dazu

Mückl (Fn. 15), S. 478 ff. m. w. N. und Exempel Josef Isensee, Kirchenautonomie und sozialstaatliche Säkularisierung in der Krankenpflegeausbildung, 1980; Ansgar Hense, Kirche und Diskriminierungsverbot, in: Josef Isensee (Hrsg.), Vertragsfreiheit und Diskriminierung, 2007, S. 181 f. 47  Vgl. BVerfGE 42, 312 (334); 46, 73 (95). 48  Vgl. BVerfGE 46, 73 (94 ff.); 53, 366 (402 f.); 57, 220 (243 ff.); 72, 278 (289 ff.). Näher Isensee, Die karitative Betätigung (Fn. 12), S. 665 (724 ff.) m. w. N. 49 Dazu Isensee, Die karitative Betätigung (Fn. 12), S. 665 (702 f.). 46  Kategorie

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gebnis rückgängig zu machen, scheiterten kläglich.50 Ein geistlicher Protest, der politischen Eindruck machen könnte, bleibt aus: daß in Sachsen, das als einziges Land an dem Feiertag festhält, die Massen in die Gottesdienste strömten. Dagegen strömen die Sachsen in Massen, wie die Medien berichten, am arbeitsfreien Feiertag zum Einkauf in die Städte der Nachbarländer, deren Geschäfte wie an jedem beliebigen Werktag offenstehen.

VI.  Selbstbehauptung der Kirche in der Gesellschaft 1.  Selbstsäkularisierung Die Freiheitsgarantien der Verfassung bieten Schutz vor Eingriffen der Staatsgewalt, nicht aber vor Einflüssen aus der Gesellschaft. Die Kirche muß sich im Wettbewerb der Sinnanbieter aus eigener Kraft behaupten, ohne auf Unterstützung des Staates hoffen zu können. Diesem verwehrt das Gebot der religiös-weltanschaulichen Neutralität, in den Agon der Geister zu intervenieren. Die Kirche trägt Freiheit wie Risiko ihrer Freiheit. Doch Elan, Selbstbehauptungswillen, Klugheit und Zivilcourage muß sie selber aufbringen. Just diese Tugenden haben sich in der offenen, pluralistischen Gesellschaft mit ihren zahllosen, diffusen, verstörenden und verführerischen, ihren sanften Herausforderungen zu bewähren. Die Kirche muß den Weg zwischen zwei Feuern finden: hier der Gefahr, sich zu isolieren, sich dem sozialen Umfeld, in dem sie wirken soll, zu entfremden, in ihrer Botschaft nicht mehr „anschlußfähig“ zu sein; dort der Gefahr, ihre sakrale Botschaft zu verraten, die Glaubwürdigkeit des Glaubens einzubüßen. Für sie ist es Lebensgesetz, die Spannung zwischen religiöser Selbstbehauptung und Anpassung an das säkulare Umfeld durchzuhalten. Verzichtet sie auf Anpassung, so verliert sie ihre Wirksamkeit. Doch paßt sie sich restlos an, so hört sie auf, Kirche zu sein. Just diese Gefahr ist heute besonders stark. Sie aktualisiert sich, wenn die Kirche ihre geistliche Sendung gegen eine zeitgeistliche eintauscht, die religiöse gegen eine zivilreligiöse, und sich darin erschöpft, die Tagesmoral der pluralistischen Gesellschaft zu reflektieren und zu verinnerlichen, Menschenrechtsmoral, Sozialmoral, demokratische und feministische Moral, Bio-Ethik und Öko-Ethik, die Erlösungsbotschaft in irdisch-soziale Bahnen zu lenken und so, wie es Richtungen der Befreiungstheologie vorführen, zu pervertieren. In der Wahrnehmung der Öffentlichkeit liegt die Aktivität der Kirchen ohnehin weitgehend darin, daß Bischöf/Innen die jeweils aktuellen politischen Positionen – im doppelten Wortverständnis – nachbeten und sich mit prophetischem Anspruch zum Gewaltmonopol der Vereinten Nationen und zur Auslegung des NATO50 Dazu Eckart Busch/Sascha Werner, Der Buß- und Bettag. Umstrittener Spielball zur Erreichung sozialpolitischer Ziele, DÖV 1998, S. 680 ff.

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Vertrages äußern, zur Sozialversicherungspflicht geringfügig Beschäftigter, zur doppelten Staatsangehörigkeit, zur vorzeitigen Auflösung des Bundestages. Der Prozeß der Selbstsäkularisierung51 findet statt in der Praxis (kaum dagegen in den Lehrplänen) des Religionsunterrichts, der immer weniger darauf bedacht ist, die Wahrheit des Christentums weiterzugeben, sondern nur noch darauf, dieses als ein Angebot unter vielen auf dem Markt der religiösen und außerreligiösen Möglichkeiten darzustellen und sich der säkularen Lebenswelt zu öffnen, in der die Schüler ohnehin zu Hause sind. Mit der Folge, daß die Schüler früher die Bibelkritik kennenlernen als die biblische Geschichte, eher mit den Menschenrechten vertraut gemacht werden als mit den Zehn Geboten, ausführlicher befaßt werden mit den Favelas in Südamerika als mit den Sakramenten. Eine Versuchung für die Kirche besteht darin, daß sie die säkularen Wirkungen ihres Tuns zu ihrem eigentlichen Handlungsprogramm macht und sich Staat wie Gesellschaft nur noch als Kulturträgerin und Denkmalpflegerin empfiehlt, als Sozialagentur, als Erziehungsanstalt, als Maklerin von gefälligen Sinnofferten, als willfährige Wellness-Anstalt für psychische und zeremonielle Restbedürfnisse, denen Staat und Markt (noch) nicht genügen, indes sie die Fahne des Glaubens einzieht, ängstlich bemüht, den Kindern dieser Welt kein Ärgernis zu geben. Papst Benedikt XVI. rühmte auf seinem Deutschlandbesuch 2006 die Großzügigkeit deutscher Katholiken für soziale Projekte, stellte aber die Zurückhaltung gegenüber Evangelisierungsprojekten fest, mit ihr die landläufige Meinung, daß die Dinge mit Gott oder gar mit dem katholischen Glauben doch eher partikular und nicht so vordringlich seien.52 Die Kirche kann ihre gemeindienlichen Leistungen nur erbringen kraft ihrer religiösen Potenz, die den Boden bildet, der die weltlichen Früchte hervorbringt. Die Kirche leistet dem Gemeinwesen gerade dadurch Dienste, daß sie sich vom Staat und den gesellschaftlichen Kräften unterscheidet und in die plurale Gesellschaft das spezifische Element der Religion einbringt. 2.  Schwächung der Volkskirchen Die beiden Volkskirchen geben heute ein anderes Bild ab als zu den Zeiten, in denen der Weimarer und der Bonner Verfassunggeber den Ausgleich mit ihnen fand. Ihre Mitgliederzahl ist geschrumpft, ihre öffentliche Autorität geschwächt, 51 Dazu Josef Isensee, Die Säkularisierung der Kirche als Gefährdung der Säkularität des Staates, in: Gerfried W. Hunold/Wilhelm Korff (Hrsg.), Die Welt für morgen, 1986, S. 164 ff.; Josef Isensee, Verfassungsstaatliche Erwartungen an die Kirche, EssGespr 25 (1991), S. 104 (130 f.); Isensee, Die karitative Betätigung (Fn. 12), S. 665 (686 f.). 52  Predigt in München am 10. 9. 2006, in: Apostolische Reise seiner Heiligkeit Papst Benedikt XVI. nach München, Altötting und Regensburg vom 9. bis 14. September 2006; Predigten, Ansprachen und Grußworte, Verlautbarungen des Apostolischen Stuhls Nr. 174 (hrsg. vom Sekretariat DBK), 2006, S. 40.

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ihre innere Konsistenz gelockert. Im Gebiet der vormaligen DDR gehört nur noch ein Fünftel der Bevölkerung einer großen Kirche an. Die Wiedervereinigung hat einen Paganierungsschub gebracht, der die ohnehin vorhandenen Erosionstendenzen im Westen verstärkt hat. Für die Volkskirchen wird es damit zum Problem, ob sie die Institutionen, die ihnen das Staatskirchenrecht bereitstellt, noch zur Gänze mit Leben füllen können, und zwar mit kirchlichem Leben. Immerhin setzen diese Institutionen ein Mindestmaß an sozialer Mächtigkeit der Kirchen, Größe, Konsistenz und Gewähr von Dauer voraus. Die Kirche prüft heute, ob sie ihre Agenden zurückfährt, weil die Mittel, nicht nur die finanziellen, sondern vor allem die spirituellen, nicht mehr ausreichen, und wie sie den Rückzug in Würde bewerkstelligt. Was sie an legitimem Entfaltungsraum in der Gesellschaft beanspruchen kann, läßt sich mit Goethe bestimmen als: „der Kreis, den meine Wirksamkeit erfüllt! Nichts drunter und nichts drüber!“53 Ob der Trend des Bedeutungsschwundes anhält, ist offen. Die religiöse und kirchliche Begeisterung, die im Jahre 2005 unversehens weite Kreise der Bevölkerung ergriff, mag das Strohfeuer des Events gewesen sein. Immerhin beweist sie, daß Religion und Kirche wieder Zuwendung erreichen und zu neuer volkskirchlicher Vitalität finden können. Noch ist Polen nicht verloren.

VII.  Modernitätsresistente Religion 1.  Sekten Das staatskirchenrechtliche Gefüge entspricht einerseits den Strukturen und Bedürfnissen des Verfassungsstaates, andererseits denen der Großkirchen, die ihren Frieden mit der Aufklärung gemacht und den Ausgleich mit der liberalen Demokratie gefunden haben. Eben diese Voraussetzungen gehen den Sekten, die heute reüssieren, weitgehend ab. Unabhängig von dem jeweiligen Inhalt ihrer Glaubensverkündigung, unterscheiden sie sich von den Kirchen durch die Unbedingtheit ihrer religiösen Forderungen, durch die Schroffheit, in der sie sich von der Umwelt absetzen, nicht zuletzt durch die Unbedenklichkeit, mit der sie ihr Einflußpotential nutzen, und ihr Geschäftsgebaren. Sekten zeigen sich in vielerlei Gestalt und Aktivität. Sie lassen sich nicht über einen juridischen Kamm scheren. In der Öffentlichkeit verbreitet sich pauschale Antipathie. Mißstände und Auswüchse einzelner Gruppen werden den Sekten generell angelastet. Der Abwehrreflex richtet sich auch und vornehmlich gegen die Unbedingtheit des religiösen Anspruchs. Rasch erhebt sich der Vorwurf des Fundamentalismus, in ihm das Feindbild der 53 Zu analogen Problemen des Staates: Jens Kersten, Universaldienste in einer schrumpfenden Gesellschaft, DVBl 2006, S. 942 ff.

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modernen Gesellschaft.54 Anhänger von Sekten haben zu gewärtigen, politisch, beruflich und gesellschaftlich ausgegrenzt zu werden. Kampf gegen „die Sekten“ geriert sich gern als Verteidigung von Freiheit und Vernunft. Der Staat beteiligt sich an diesem Kampf mit Vorkehrungen zur Beobachtung des Sektenwesens, Einsetzung von Sektenbeauftragten und einer Enquête-Kommission, volkspädagogischen Warnungen und der latenten Androhung polizei- und ordnungsrechtlicher Maßnahmen. Das alles unter dem Vorzeichen religiös-weltanschaulicher Neutralität. Es liegt historische Ironie darin, daß den Sekten, die in der Geschichte der Vereinigten Staaten wesentlich dazu beigetragen haben, der allgemeinen Religionsfreiheit die Bahn zu brechen,55 nun die ungestörte Religionsausübung streitig gemacht wird. Die staatlichen und außerstaatlichen Kampagnen gegen die Sekten, gegen jene oft radikalen, kulturell ärgerlichen Erscheinungen von Religion, ziehen die Religion überhaupt in Mitleidenschaft. Letztlich ist die Botschaft des Christentums, sein Anspruch auf ewige Wahrheit, radikal, ein Ärgernis den Kindern dieser Welt, keine Sache der Lauen, die Jesus ausspeien will mit seinem Munde. Etwas von diesem radikalen Impetus, der den Großkirchen abgeht, regt sich in den Sekten. Die postchristliche und postaufklärerische Gesellschaft, die viel auf ihre Toleranz hält, verträgt nicht die absolute religiöse Forderung und reagiert an den Sekten ihr Unbehagen ab, das dem Christentum überhaupt gilt. Political correctness duldet nur laue, ausgelaugte Religion, die beim etablierten Hedonismus keinen Anstoß erregt. In der Allergie wider den religiösen Fundamentalismus regt sich ein säkularer Fundamentalismus des linksliberalen Postaufklärertums. Die Kirchen haben schon im eigenen Interesse Grund zur Sorge. Die Phobie, die den amerikanischen Sekten entgegenschlägt, richtet sich auch gegen das Opus Dei. Verfassungsrechtlich gesehen, kommt der Sekte der gleiche Schutz der Religionsfreiheit zu wie der Großkirche.56 Im einzelnen aber ergeben sich juridische Probleme, so die Frage, ob die Machenschaften der aus den USA eingewanderten „Scientology Church“, die ihre Postulanten und Novizen finanzträchtig ausbeutet und abhängig macht, überhaupt noch unter den grundrechtlichen Tatbestand der Religion oder unter den der Berufsausübung zu subsumieren sind.57 Aufdringli54 Dazu Otto Depenheuer, Wahrheit oder Frieden? Die fundamentalistische Herausforderung des modernen Staates, EssGespr 33 (1999), S. 5 ff., 29 ff.; Karl Lehmann, Wahrheit oder Frieden? EssGespr 33 (1999), S. 63 (69 ff.). 55  Zum historischen Einfluß der religiösen Minoritäten und Sekten; Thomas Gerrith Funke, Die Religionsfreiheit im Verfassungsrecht der USA, 2006, S. 15 ff.; Hermann Lübbe, Religion und Politik in Modernisierungsprozessen, Lilienbergschrift (Dokumentation) 2004, S. 10 (29 ff.). 56 Näher Peter Badura, Der Schutz von Religion und Weltanschauung durch das Grundgesetz, 1989, S. 46 ff., passim m. w. N. 57  Badura (Fn. 56), S. 64 ff. m.w.N; Ralf B. Abel, Die Entwicklung der Rechtsprechung zu neueren Glaubensgemeinschaften, NJW 1996, S. 91 (92); Juliane Kokott, in: Michael Sachs (Hrsg.), Grundgesetz, 3. Aufl. 2003, Art. 4 Rn. 18 f.

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che, suggestive Methoden des Seelenfangs, Psychoterror, Praktiken der Zwangsanwendung rufen die grundrechtlichen Schutzpflichten des Staates auf den Plan, dahin, die Selbstbestimmung der Individuen vor Übergriffen anderer, vor privatem Zwang zu sichern.58 Der Rechtsstaat, der in innerweltlichen Kategorien denkt, hat seine Not damit, zu unterscheiden, ob sich die Freiheit des Einzelnen in der religiösen Hingabe erfüllt oder ob sie unterdrückt wird.59 Das aber sind Reibungen im Einzelfall. Dagegen erheben sich grundsätzliche Zweifel daran, ob die Gewährleistungen des Staatskirchenrechts, insbesondere die Organisationsform der Körperschaft des öffentlichen Rechts, den Sekten offenstehen. Der staatskirchenrechtliche Sonderstatus der Körperschaft ist auf die Kirchen zugeschnitten, auf die Größe ihrer Mitgliederzahl, ihre organisatorische Konsistenz, ihre Gewähr von Dauer, darüber hinaus die prinzipielle Kompatibilität mit der staatlichen Ordnung. Alle diese Momente sind bei einer Sekte nicht ohne weiteres gegeben. Prekär ist vor allem die Rechtstreue. Der Verfassungsstaat, der religiöse Körperschaften mit Hoheitsbefugnissen wie der Kirchensteuerhoheit beleiht, fordert die Gewähr dafür, daß sie das geltende Recht beachten, insbesondere daß sie die ihnen übertragene Hoheitsgewalt nur im Einklang mit den verfassungsrechtlichen Bindungen ausüben, mehr noch: daß sie die fundamentalen Verfassungsprinzipien, die dem staatlichen Schutz anvertrauten Grundrechte Dritter sowie die Grundprinzipien des freiheitlichen Religions- und Staatskirchenrechts nicht gefährden.60 Das Bundesverfassungsgericht verlangt dagegen nicht eine darüber hinausgehende Loyalität zum Staate. So bilde die Lehre der Zeugen Jehovas, daß jedes politische System einschließlich seiner Verfassungsordnung „Bestandteil der Welt des Satans“ sei, kein Hindernis für diese Religionsgemeinschaft, den Status der Körperschaft des öffentlichen Rechts zu erlangen, solange, sie den Staat des Grundgesetzes wie andere „obrigkeitliche Gewalten“ als von Gott geduldete Übergangsordnung anerkenne. Unschädlich sei auch die Abstinenz von staatlichen Wahlen, weil sie religiös, nicht aber politisch begründet werde, nicht auf eine Schwächung der Demokratie gerichtet sei und nach bisheriger Erfahrung auch nicht dahin gewirkt

58  Zur Funktion der grundrechtlichen Schutzpflichten: Josef Isensee, Das Grundrecht als Abwehrrecht und als staatliche Schutzpflicht, in: HStR V, 1. Aufl. 1992, § 118 Rn. 3 ff., 77 ff. 59  Kriterien, die Inhalt und Grenzen der Religionsfreiheit gerecht werden, wendet das Bundesverwaltungsgericht an, wenn es Vorwürfe gegen die „Rechtstreue“ der Zeugen Jehovas auf ihre Plausibilität untersucht und zugleich Aussagen ehemaliger Angehöriger, welche die Religionsgemeinschaft im Streit verlassen haben, auf ihre Glaubhaftigkeit bewertet (BVerwGE 105, 117 [124]); dazu Hillgruber (Fn. 20), S. 90 ff. 60  So BVerfGE 102, 370 (390 ff.) – Zeugen Jehovas. Kritisch: Stefan Mückl, Auf dem Weg zu einem grundrechtlich geprägten Staatskirchenrecht?, Stimmen der Zeit 219 (2001), S. 463 ff.; Hillgruber (Fn. 20), S. 80 ff.

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habe.61 Damit verzichtet der Staat darauf, von der religiösen Körperschaft einen möglichen Beitrag zum säkularen Gemeinwohl zu erwarten. Er nimmt sogar einen möglichen Schaden in Kauf, soweit sich dieser in Grenzen hält und ein „spürbarer Einfluß“ auf Nichtmitglieder nicht zu erkennen ist.62 Die Vorenthaltung des Körperschaftsstatus wäre keine Einschränkung der Religionsfreiheit gewesen.63 Die grundrechtliche Freiheit steht den Zeugen Jehovas wie jedermann ungeschmälert zu. Hier geht es nicht um einen Eingriff in die allgemeine Religionsfreiheit, sondern um die Zuteilung einer staatskirchenrechtlichen Vergünstigung, insofern also um die (freilich an rechtliche Voraussetzungen geknüpfte) Vergabe eines Privilegs. Der Staat muß sich also rechtfertigen, wenn er ein solches Privileg zuerkennt. Eine Rechtfertigung könnte sich daraus ergeben, daß der Destinatar eine besondere Leistung für das säkulare Gemeinwesen erbringt, wie es bei den Kirchen in der Tat der Fall ist.64 Das Bundesverfassungsgericht begnügt sich mit der Feststellung, daß die Schädlichkeit nicht allzu groß sei, und hält es nicht für nötig, den Sonderstatus positiv zu begründen. Es ist ein Unterschied, ob das Recht toleriert, daß ein Rechtsgenosse wenig Unheil anrichtet, oder ob es ihn dafür noch prämiert. In die Rechtsordnung zieht damit ein Widerspruch ein. Immerhin wirkt die Geste des Staates nobel. Dagegen muß sich die Sekte fragen lassen, wieso sie ausgerechnet die Statthalter im „Reich des Satans“ um Rechtswohltaten angeht. 2.  Islam a)  Brisanz des Religionsimports Im Islam reißt ein tieferer und schärferer Widerspruch zur Moderne auf als in den Sekten. Diese sind weitgehend auf dem Boden des Christentums gewachsen, Kinder der westlichen Gesellschaft. Der Islam aber strömt von außen in diese Gesellschaft ein, selber eine Weltreligion, die einen religiös-kulturellen Großraum schuf und die im historischen Kampf gegen das europäische Christentum bewirkte, daß dieses sich als Einheit begriff und als Kontinent konstituierte. Von allen Migrationsbewegungen der Gegenwart löst die muslimische den tiefsten Fremdheitsschock aus. Als Menetekel an der Wand des Westens erscheint der 61  BVerfGE 102, 370 (397 ff.). Gegenposition: BVerwGE 105,117 (121 ff.); Hollerbach (Fn. 17), § 138 Rn. 22 f.; Hillgruber (Fn. 20), S. 90 ff. 62  BVerwGE 105, 117 (398). 63  Die Unterscheidung wird verwischt von Bernd Jeand’Heur/Stefan Korioth, Grundzüge des Staatskirchenrechts, 2000, S. 68 f. Zutreffend Hillgruber (Fn. 20), S. 90 ff. 64  In diesem Sinne BVerwGE 105, 117 (124 f.). Grundlegend Paul Kirchhof, Die Kirchen und Religionsgemeinschaften als Körperschaften des öffentlichen Rechts, in: Listl/ Pirson (Fn. 19), S. 651 (658 ff., 666 ff.); Hillgruber (Fn. 20), S. 97.

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Kampf der Kulturen,65 und das nicht allein als Kampf zwischen Staaten, sondern auch und wesentlich als Kampf innerhalb eines Staates. Speerspitze der Kultur, die den Westen bedroht, ist der aus islamischer Religion gespeiste Fundamentalismus.66 In wenigen Jahrzehnten hat sich in Deutschland die Glaubensgruppe der Muslime etabliert, derzeit mit etwa 3,5 Mio. Angehörigen die drittstärkste des Landes. Sie ist in weiterem raschem Wachstum begriffen, indes die Volkskirchen schrumpfen. Im Unterschied zu Zuwanderern aus anderen Kulturzonen, etwa aus Lateinamerika oder aus Ostasien, neigen muslimische Zuwanderer in erheblicher Zahl dazu, sich dem Einfluß der von ihnen aufgesuchten neuen Umwelt zu verschließen und sich gesellschaftlich einzukapseln, um die eigene Lebensform möglichst rein zu bewahren, vielleicht sogar im Umgang mit den „Ungläubigen“ dem religiösen Gebot der „taqiya“ zu folgen: sich in Feindesland zu verstellen.67 Auf diese Weise bilden sich in der westlichen Gesellschaft Inseln völliger Fremdheit, Exklaven der muslimischen Welt inmitten Europas. Dieses Phänomen läßt sich nicht dem soziologischen Tatbestand des Pluralismus zuordnen, denn dieser setzt die lebendige Wechselbeziehung der unterschiedlichen Kräfte voraus, Diskurs, Wettstreit, Auseinandersetzung, aber auch Verständigung auf Verfahrensregeln und Grundwerte. Diese Faktoren fallen aus im beziehungslosen Nebeneinander der „Parallelgesellschaften“. Das Nebeneinander ist auf Dauer brisant. Freilich herrschen in Deutschland Tendenzen, die Wirklichkeit gegen ein zivilgesellschaftliches Ideal einzutauschen, die Probleme zu verdrängen und zu umschweigen aus Sorge, ein falsches Wort zu sagen und damit gegen die Gebote der political correctness zu verstoßen, Tendenzen, die Unterschiede zwischen Islam und Christentum zu verwischen oder aber so lange unter den Erscheinungen des Islam zu differenzieren, bis kein problematischer Restbestand mehr übrig bleibt. Um den realen Problembestand aber geht es. Hier versagen die hergebrachten Lösungsmuster des Sozialstaats, die alle gesellschaftlichen Schwierigkeiten auf Klassen- und Schichtenunterschiede zurückführen und dadurch Widersprüche beheben wollen, daß sie diese einebnen; freilich hat das islamische Integrationsproblem auch seine sozialen Facetten.68 Die spezifische Qualität des Problems aber liegt in der Religion und der in dieser verwurzelten kulturellen Besonderheit. Die religiösen und die kulturellen 65  Samuel P. Huntington, The Clash of Civilisations, 1996. Zum Buch und seiner Rezeption Lübbe (Fn. 55), S. 10 ff. 66 Dazu Bassam Tibi, Islamischer Fundamentalismus und moderne Wissenschaft und Technologie, 1992 m. w. N. 67 Dazu Ursula Spuler-Stegemann, Muslime in Deutschland, 1998, S. 65 ff. 68  Regelmäßig wird übersehen, daß die Zuwanderer aus dem Iran, obwohl Muslime, sich weitgehend in die deutsche Gesellschaft geräuschlos integriert haben als Ärzte, Unternehmer, Angestellte. Freilich stehen viele in Distanz, wenn nicht sogar Opposition zum Ayatollah-Regime ihres Heimatlandes.

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Momente sind dergestalt miteinander verknüpft, daß sie in der juridischen Betrachtung nicht unterschieden werden müssen. Damit wird die Rechtsordnung des säkularen Staates auf eine neuartige Bewährungsprobe gestellt. Das gilt für die Grundrechte wie für das Staatskirchenrecht. Die Beziehungen des Staates zu den christlichen Kirchen sind unausweichlich mitbetroffen. b)  Kopftuch – Zeichen des Widerspruchs Den muslimischen Zuwanderern kommt die Religionsfreiheit zu, darüber hinaus die sonstigen Grundrechte, soweit sie nicht eigens Deutschen vorbehalten sind.69 Türkinnen, denen in ihrem Heimatland das Tragen des Kopftuchs gesetzlich verwehrt ist, nutzen die Freiheit in Deutschland, es demonstrativ zu tragen. Eben diese Textilie ist zum Zeichen des Widerspruchs geworden, zumal das Kopftuch der muslimischen Lehrerin während des Unterrichts in der staatlichen Schule.70 Die eine Rechtsmeinung spricht ihr die grundrechtliche Freiheit zu, die andere versagt sie ihr, freilich unter dem Vorbehalt, daß auch das Ordensgewand der Nonne wie jedes andere christliche Symbol aus der Schule verbannt werde, daß also gleiches Recht für Christen wie für Muslime einziehe. Doch beide Auffassungen sind juridisch nicht haltbar. Der kritischen Prüfung bedarf es bereits, ob das Tragen des Kopftuchs Sache der Religion, des Brauchtums oder der Mode ist, mithin ob es dem Grundrechtstatbestand der Religionsfreiheit oder dem der religionsindifferenten Allgemeinen Handlungsfreiheit zuzuordnen ist.71 Wie dem auch sei, die Schule ist nicht dazu da, der Lehrerin die Chance ihrer religiösen, kulturellen oder modischen Selbstverwirklichung zu bieten, sondern den staatlichen Lehr- und Erziehungsauftrag gegenüber den Schülern zu erfüllen. Die grundrechtliche Freiheit der Lehrerin, über ihre Kleidung nach Gesinnung, Geschmack oder Laune zu bestimmen, hat sich dem verfassungsrechtlich sanktionierten Erfordernis des Amtes zu fügen. Es entspricht der Dienstpflicht, daß der Beamte sich mit voller Hingabe seinem Beruf zu widmen hat und innerhalb 69  Dazu eingehend Wolfgang Loschelder, Der Islam und die religionsrechtliche Ordnung des Grundgesetzes, EssGespr 20 (1986), S. 149 (152 ff.); Christian Hillgruber, Der deutsche Kulturstaat und der muslimische Kulturimport, JZ 1999, S. 538 (539 ff.); Stefan Muckel, Religionsfreiheit für Muslime in Deutschland, in: FS für Joseph Listl, 1999, S. 239 ff. 70 Dazu Muckel (Fn. 69), S. 247 f.; Matthias Jestaedt, Grundrechtsschutz vor staatlich aufgedrängter Ansicht, in: FS für Joseph Listl, 1999, S. 259 ff.; Martin Morlok, in: Dreier, Grundgesetz, 2. Aufl. 2004, Art. 4 Rn. 72, 108, 132; Grabenwarter (Fn. 14), S. 97 (101 ff.); Stefan Huster, Grundsatz der religiös-weltanschaulichen Neutralität des Staates – Gehalt und Grenzen, 2004, S. 14 ff.; Sonja Lanzerath, Religiöse Kleidung und öffentlicher Dienst, 2003; Katharina Pabel, Religion im öffentlichen Schulwesen, in Manfred Prisching/Werner Lenz/Werner Hauser (Hrsg.), Bildung und Religion, 2006, S. 37 ff. (66 ff.). 71  Das analoge Problem stellt sich für die grundrechtliche Zuordnung des Schächtens: BVerfGE 104, 337 (345 ff); Grabenwarter (Fn. 14), S. 97 (99 ff.).

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des Dienstes der Achtung und dem Vertrauen gerecht wird, die der Beruf erfordert.72 Das Kopftuch wirkt als Demonstration für eine Religion, die dem weltlichen, religiös-neutralen Charakter der öffentlichen Schule nicht zuträglich ist und sich mit ihren ethischen Leitbildern nicht verträgt. Es ist kaum vorstellbar, daß eine Lehrerin in solch symbolhaltiger Gewandung das Verfassungsprinzip der Gleichberechtigung von Mann und Frau glaubwürdig vermitteln kann. Dabei kommt es nicht darauf an, ob die Lehrerin ein Bekenntnis wider die säkulare Ordnung beabsichtigt, sondern allein darauf, wie ihre Aufmachung bei verständiger Würdigung durch einen unabhängigen Beobachter auf Schüler wie Eltern zu wirken geeignet ist. Der weiteren gesetzlichen Grundlage bedarf es nicht.73 Das Vertrauen in die Integrität der Amtsführung gründet darauf, daß der Unterricht den Erziehungszielen des säkularen Staates Genüge tut, Zielen, die ihrerseits den christlich vorgeprägten ethischen und kulturellen Standards des Landes verpflichtet sind. Die Ausübung eines öffentlichen Amtes steht unter dem Gebot, auch den bösen Anschein zu vermeiden, der das Vertrauen des Adressaten stören könnte. Die kanonistische Amtsmaxime ,,ut scandalum evitetur“ gilt auch in der Staatsverwaltung.74 Das Prinzip der Toleranz streitet nicht für die Lehrerin. Denn ihre Amtspflicht besteht darin, im Unterricht Toleranz gegenüber den Schülern zu üben, nicht aber die Toleranz der Schüler für sich selbst zu beanspruchen. Die Schüler wie ihre Eltern fordern von der öffentlichen Schule die Wahrung ihrer Grundrechte. Diese verwirklicht ihre Grundrechtsbindung dadurch, daß ihr Lehrpersonal die Amts- und Dienstpflichten strikt erfüllt. Wird das Vertrauen der Schüler und Eltern in die Integrität des Unterrichts durch das Kopftuch nachhaltig gestört, so wird die Erfüllung der Schulpflicht unzumutbar; sie können den Unterricht rechtmäßig boykottieren.75 Es wäre kurzschlüssig, in diesem Kontext das christliche Symbol dem muslimischen gleichzustellen und die Nonnentracht ebenso aus dem Schulraum zu verbannen wie das Kopftuch. Denn der „böse Schein“, der von diesem ausgeht, ist jener gerade nicht eigen. Die Gefahr eines Widerspruchs zum Lehrauftrag der öffentlichen Schule besteht nicht, am allerwenigsten in Gemeinschaftsschulen, die wie jene in Baden-Württemberg, Bayern oder Nord­ 72  § 36 S. 1 und 3 BRRG. Diese Pflicht gilt für Vertragsbedienstete kraft Dienstvertrags. 73  Verfehlt BVerfGE 108, 282 (303 ff.). 74 Dazu Ulrich Hilp, „Den bösen Schein vermeiden“. Zu Ethos und Recht des Amtes in Kirche und Staat, 2003, S. 20 ff., 94 ff. m. w. N. 75  Zur Begründung dieser Rechtsfolge bedarf es nicht der Annahme, daß das „Lernen vor dem Kopftuch“, der bloße Anblick also, ein Grundrechtseingriff sei – entsprechend der dogmatisch unhaltbaren, unsinnigen These des Bundesverfassungsgerichts im KruzifixBeschluß BVerfGE 93, 1 (17 ff.). Dazu Isensee (Fn. 29), S. 10 (11 ff.). – Zum Kopftuch: Jestaedt (Fn. 70), S. 259 ff.

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rhein-Westfalen von Verfassungs wegen den „christlichen und abendländischen Bildungs- und Kulturwerten“ verpflichtet sind.76 Die gebotene Offenheit für die religiösen und kulturellen Belange einer Minderheit kann nicht dazu führen, daß das Gemeinwesen sich den Gesetzen der Minderheit fügt und seine Identität preisgibt. Freilich sieht der einheimische Laizismus darin die Gunst der Stunde, die christlichen Residuen aus dem staatlichen Schulwesen zu entfernen. Eine Lösung, die in der Kopftuchfrage diskutiert wird, besteht darin, ein Ausnahmerecht für muslimische Lehrerinnen zu schaffen, das ihren religiös-kulturellen Sonderbedürfnissen Genüge tut, also die Rechtsgleichheit durch ein Privileg zu durchbrechen. Dieses reiht sich ein in die vielen Privilegien, welche die heutige Schulpraxis muslimischen Schülern und Eltern auf Antrag bereitwillig gewährt: Befreiung vom Sport- und Schwimmunterricht, Befreiung vom Sexualkundeunterricht wie von der Teilnahme an Klassenausflügen, also von Veranstaltungen, die zum Pensum der Schulpflicht für alle gehören. Die öffentliche Schule mutet ihnen nicht zu, was sie unbedenklich deutschen Kindern und Eltern zumutet, obwohl sich auch unter ihnen nicht wenige, unter Berufung auf ihre Religions- und Gewissensfreiheit sowie auf das Elternrecht, der Zwangspädagogik erwehren wollen, zumal in heiklen Fragen der Sexualität. Die allgemeine Schulpflicht wird für muslimische Zuwanderer durchbrochen und damit das einzige, leidlich wirksame Integrationsinstrument, über das der Staat verfügt, die allgemeine Schulpflicht, nicht wirksam eingesetzt. Die Rechtsgleichheit weicht auf. Die Zuwanderer erfahren, daß die deutsche Rechtsordnung nachgiebig ist; sie werden zu weiteren und immer dreisteren Forderungen nach Ausnahmen geradezu animiert. c)  Gottesfrevel – Grundrechtsfreiheit nach Maßgabe der Scharia Eine Programmänderung bei der Deutschen Oper Berlin löste im Oktober 2006 eine Grundsatzdebatte darüber aus, ob die religiösen Empfindlichkeiten der Muslime und die Gefahr ihrer terroristischen Entladung das allgemeine Gesetz des Handelns in Deutschland bestimmen dürfen. Eine abstrakte Einschätzung der Sicherheitslage durch den Innensenator hatte die Intendantin veranlaßt, die Aufführung des „Idomeneo“ abzusetzen.77 Doch ging es nicht um die Oper als solche, 76  Art. 16 Abs. 1 Satz 1 BWVerf; vgl. auch Art. 135 Satz 1 BayVerf („nach den Grundsätzen der christlichen Bekenntnisse“), Art. 12 Abs. 6 Satz 1 NRWVerf („auf der Grundlage christlicher Bildungs- und Kulturwerte in Offenheit für andere religiöse und weltanschauliche Überzeugungen“). 77  Einige Wochen später wurde die Aufführung wieder in den Spielplan aufgenommen mit der Begründung, die Debatte über die Absetzung habe in der islamischen Welt nur ein vergleichsweise mildes Echo gefunden. Die geringe Mobilisierungswirkung lasse erwarten, daß die Polizei die Lage kontrollieren könne, sollte es doch zu muslimischen Protesten in Berlin kommen (FAZ 28. 10. 2006 [Nr. 251], S. 1: „Mozart wieder ungefährlich“). Der

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sondern um ein vom Regisseur Neuenfels angehängtes Nachspiel, das mit dem Libretto Metastasios und der Musik Mozarts nicht das geringste zu tun hatte: die Enthauptung Poseidons und der Religionsstifter Jesus, Buddha und Mohammed. (Moses blieb übrigens verschont.) Stein des virtuellen Anstoßes war jedoch allein die Präsentation des abgeschlagenen Kopfes Mohammeds. Innensenator und Intendantin fürchteten, dies könne ähnlich gewalttätige Ausschreitungen von Muslimen auslösen wie die Karikaturen des Propheten in einer dänischen Zeitung oder ein unliebsames Zitat aus dem 14. Jahrhundert im Regensburger Vortrag von Papst Benedikt XVI. Nun gehört es an sich zum guten Ton in Deutschland, alles zu vermeiden, was die Gefühle von Muslimen kränken könnte. Doch die Absetzung des „Idomeneo“ war kein Ausdruck von Takt und Generosität sondern ein Zeichen von Ängstlichkeit und vorauseilendem Gehorsam vor der Kunst- und Meinungszensur der Mullahs im In- und Ausland. Hier stießen zwei Tabus aufeinander: einerseits die Rücksicht auf die Reizbarkeit der Muslime, andererseits die schrankenlose Freiheit der Kunst, die „alles darf“, alles auch auf staatlicher Bühne.78 Die Grundrechtsdogmatik findet hier ein Lehrstück dafür, daß grundrechtliche Freiheit nur in einem Gesamtzustand der Sicherheit gedeihen kann. Das Publikum hat sich längst daran gewöhnt, daß das heutige Theater keine Regeln des Geschmacks und der Moral mehr respektiert, daß es die Kirche in den Schmutz zieht und die Religion veralbert, daß Blasphemie sich zum konventionellen Regie-Gag entwickelt hat. So brauchte denn die Berliner Intendanz nicht zu fürchten, daß gläubige Christen sich ebenso zur Wehr setzen könnten wie gläubige Muslime, obwohl die Gestalt Christi gleichermaßen auf der Bühne mißbraucht wurde wie die des Propheten. Christen lassen sich heute nicht mehr provozieren Sie haben schon Ärgeres hinnehmen müssen und gelernt, in einem gesellschaftlichen Umfeld zu leben, in dem nichts mehr heilig ist.79 Seit den Tagen Voltaires gilt es in aufgeklärten Kreisen als Ausdruck von Witz und Intellektualität, sich über Christentum und „Infâme“ zu mokieren. Doch der Witz ist schal geworden, die Intellektualität zahnlos. Als Papst Johannes Paul II, in Köln weilend, die Minoritenkirche aufsuchte, um dort die Gebeine von Duns Scotus zu verehren, nutzten militante FeminiBerliner Büroleiter des arabischsprachigen Nachrichtensenders Al Dschazira kommentierte, man habe „Brennstoff genug“, eine Opernaufführung gehöre eher nicht dazu (FAZ 30. 10. 2006 [Nr. 252], S. 33). 78  Die Frage, ob die von Verfassungs wegen gewährleistete Freiheit der Kunst (Art. 5 Abs. 3 S. 3 GG) nicht spezifischen Bindungen unterliegt, wenn sie sich in staatlicher Organisation und auf dem Boden staatlicher Finanzierung realisiert, und ob, diese Realisierung nicht in gewissem Maße auch dem Staat zuzurechnen ist, wird im Grundrechtsdiskurs in der Regel vernachlässigt. 79 Zum Dilemma der Kirchen: Eberhard Schockenhoff, Wahrheit und Freiheit der Kunst aus der Sicht der theologischen Ethik. EssGespr 36 (2002), S. 111 (157 f.).

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stinnen die Gelegenheit zum öffentlichkeitswirksamen Protest gegen die „frauenfeindlichen“ Lehren der Kirche und warfen aus einer oberen Etage Hostien in die Menge. Es gab Strafanzeigen. Doch die Staatsanwaltschaft verharrte längere Zeit in planmäßiger Untätigkeit und stellte sodann ein. Die Behandlung des Falls ist symptomatisch. Die Strafvorschrift der Religionsbeschimpfung (§ 166 StGB) ist effektiv obsolet geworden.80 Auch die Strafvorschrift der Volksverhetzung (§ 130 StGB) wird in Fällen solcher Art nicht angewendet. Die Kirche handelte unklug, wollte sie auf staatliche Strafe dringen. Denn damit verhülfe sie dem Täter dazu, in der Medienszene die Gloriole eines Märtyrers der Freiheit zu erlangen. Doch es gibt tiefere Gründe als die der politischen Klugheit. Letztlich ist die Bestrafung des Gottesfrevlers durch den Staat der christlichen Lehre fremd. Die Gotteslästerung fällt allein in die Gerichtsbarkeit Gottes. Auf Erden aber wachsen Weizen und Unkraut nebeneinander, bis der Tag der Ernte kommt. Das Christentum hat die antike Tradition, daß der Staat das Sakrileg als Angriff auf seine eigene Ordnung ahndete, aufgekündigt.81 Freilich hinderte diese urchristliche Lehre nach der konstantinischen Wende den Staat nicht, weiterhin den Gottesfrevel zu bekämpfen, nunmehr im Dienste der christlichen Orthodoxie und im Zusammenwirken mit der Kirche. Aus der unhistorischen Sicht der Gegenwart, die ihre säkular-menschenrechtlichen Maßstäbe rückwirkend auf vergangene Epochen ausdehnt und sie danach beurteilt, enthält die Geschichte des Christentums finstere Kapitel der Intoleranz. An den Fakten ist nicht zu rütteln. Zu den Fakten gehört aber, daß die Kirche auch in den Zeiten, in denen sie auf die Hinrichtung des Frevlers drang, sich nicht anmaßte, ein Urteil über sein ewiges Heil oder Unheil zu fällen und dem Urteil Gottes vorzugreifen.82 Sie selber wies die Kompetenz zum Blutgericht von sich (ecclesia non bibit sanguinem). Jedoch beanspruchte sie seit dem Vierten Laterankonzil die Kompetenz, die theologische Seite des Sachverhalts zu entscheiden. Darin lag ein Moment von Gewaltenteilung, das freilich im Protestantismus unter dem gewaltenmonistischen Kirchenregiment des Landesherrn wieder zunichte wurde. Aufs Ganze gesehen, erreichte 80  Zum Strafrecht Albin Eser, Schutz von Religion und Kirchen im Strafrecht und im Verfahrensrecht, in: Listl/Pirson (Fn. 12), S. 1019 (1023 ff.); Michael Pawlik, Der strafrechtliche Schutz des Heiligen, in: Josef Isensee (Hrsg.), Religionsbeschimpfung. Zum rechtlichen Schutz des Heiligen. 2007, S. 31 ff. – Obsolet ist auch die Vorschrift des Art. 144 Abs. 2 BayVerf, daß jede öffentliche Verächtlichmachung der Religion, ihrer Einrichtungen, der Geistlichen und Ordensleute als Religionsdiener“ verboten und strafbar sei. 81  Zu Geschichte und Theologie Schockenhoff (Fn. 79), S. 125 ff.; Angenendt (Fn. 11), S. 232 ff.; ders., Gottesfrevel. Ein Kapitel aus der Geschichte der Staatsaufgaben, in: Isensee (Fn. 80), S. 9 ff. 82  Darauf weist hin Ernst-Wolfgang Böckenförde, Zum Verhältnis von Kirche und moderner Welt, in: Reinhart Kosellek (Hrsg.), Studien zum Beginn der modernen Welt, 1977, S. 154 (162).

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die Verfolgung des Gottesfrevels im voraufklärerischen Europa längst nicht jenes Ausmaß und jene Härte wie in der islamischen Welt.83 Im historischen Gesamtvergleich zeigt sich der Unterschied zwischen einer Religion, deren Stifter ein siegreicher Krieger war, vor dem der Erdkreis erbebte, und einer Religion, deren Stifter, das Haupt „voll Schmerz und voller Hohn, […] zum Spott gebunden mit einer Dornenkron“, aus freiem Willen den schmählichen Tod am Kreuz auf sich nahm und so die Menschheit erlöste. Der säkulare Rechtsstaat tut sich schwer, das gesetzliche Verbot der Religionsbeschimpfung zu exekutieren.84 Er sieht seinen Auftrag darin, mit den Mitteln des Rechts zu gewährleisten, daß – kantianisch gesprochen – die Freiheit des einen mit der Freiheit des anderen nach einem allgemeinen Gesetz bestehen kann. Der Schutz religiöser Gefühle aber bildet kein allgemeines Gesetz, weil sonst die mehr oder weniger große Empfindlichkeit des einen zum rechtlichen Maß für die Freiheit des anderen geriete. Selbst der öffentliche Frieden gibt nur einen dubiosen Maßstab ab, weil die private Macht des einen, den Frieden zu brechen, zu Rechtsmacht geraten könnte, die Freiheit des anderen als möglichen Friedensstörer zu beschränken und ihn als Friedensfeind zu ächten.85 Es bleibt die Möglichkeit eines Ehrenschutzes für den homo religiosus.86 Doch der Rechtsstaat, der sich schon schwer tut, die persönliche Ehre der Individuen zu schützen,87 tut sich noch schwerer, den Schutz einer versachlichten religiösen Ehre zu leisten, ohne die individuelle Freiheit der Religion, der Weltanschauung, der Meinung und der Medien unzumutbar einzuschränken und ohne mit den grundrechtlichen Gleichheitsgeboten in Konflikt zu geraten. Vollends ist es nicht seine Sache, Wahrheit und Würde der Religion vor Kritik, auch vor niveauloser und unmoralischer Kritik, zu bewahren. Ihm obliegt allein, über die rechtlichen Grenzen der Freiheit zu wachen, nicht aber ihren moralisch und ästhetisch korrekten Gebrauch zu gewährleisten. Freilich gehört zum gedeihlichen Leben des Gemeinwesens, daß die Bürger ihre Freiheit mit einem Mindestmaß an Takt, Ethos, sozialem Instinkt

83 So

Angenendt, Gottesfrevel (Fn. 81), S. 9 ff. verfassungsrechtlichen Seite: Christian Hillgruber, Die Religion und die Grenzen der Kunst, EssGespr 36 (2002), S. 53 (63 ff.); Andreas von Arnauld de la Per­ rière, Grundrechtfreiheit zur Gotteslästerung?, in: Isensee (Fn. 80), S. 63 ff. Maßstab der EMRK: Christoph Grabenwarter, Filmkunst im Spannungsfeld zwischen Freiheit der Meinungsäußerung und Religionsfreiheit, ZaöRV 55 (1995), S. 128 ff. Theologische Sicht: Schockenhoff (Fn. 79), S. 118 ff., 156 ff. 85  Dazu eingehend Hillgruber (Fn. 84), S. 77 ff. Grabenwarter (Fn. 84), S. 147 f.; vgl. auch Schockenhoff (Fn. 79), S. 148 ff. 86  In diese Richtung Pawlik (Fn. 80), S. 31 ff.; siehe aber Katharina Pabel, Grundrechtsbeschränkungen bei grenzüberschreitenden Konfliktlagen, JAP 2006, S. 92 ff. (96). 87 Dazu Josef Isensee, Grundrecht auf Ehre, in: FS für Martin Kriele, 1997, S. 5 ff. m. w. N. 84 Zur

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ausüben. Das aber ist lediglich eine Verfassungserwartung. Deren Einlösung kann der Staat nicht erzwingen.88 Die rechtliche Kehrseite der Grundrechtsfreiheit ist die Grundrechtslast, den Freiheitsgebrauch des anderen hinzunehmen, mag dessen Verhalten noch so ärgerlich und provokant sein, in sittlicher wie ästhetischer Hinsicht noch so widerwärtig, soweit es nur nicht die Grenzen des Rechts überschreitet. Wer Anstoß nimmt, kann sich mit Worten wehren, auch mit scharfen Worten. Doch es ist ihm versagt, physische Gewalt anzuwenden oder auch nur anzudrohen. Er braucht nicht darauf zu hoffen, daß Gesetzgeber, Polizei oder Justiz ihm zu Hilfe kommen. Denn diese sanktionieren nur Legalität, nicht Moralität, nicht einmal political correctness. Die Empörungswellen des Islam mögen dazu führen, daß Rechtslehre und Rechtspraxis neu und vertieft über die rechtlichen Grenzen der Freiheitsrechte nachdenken und diese künftig hier und da enger ziehen. Doch eine grundsätzliche Änderung steht nicht zu erwarten. Das Ärgernis der Freiheit läßt sich nicht beseitigen, ohne die Freiheit selbst anzutasten. Die Grundrechte vertragen keine Zensur zur Schonung islamischer Empfindlichkeiten, auch keine Zensur zur Vermeidung von Akten des islamischen Terrorismus. Zuwanderer, die aus geschlossenen muslimischen Gesellschaften stammen, haben vielfach ihre Not damit, die religiöse und moralische Dekadenz, die ihnen im Aufnahmeland begegnet, auszuhalten. Damit sammelt sich Zündstoff, der sich wie im Streit um die dänischen Karikaturen in terroristischem Protest entladen kann. Es wäre falsche, selbstmörderische Toleranz, wenn der Verfassungsstaat dem muslimischen Mob nachgäbe und die Freiheitsgarantien aus Furchtsamkeit und Feigheit reduzierte, so daß sie am Ende nur noch nach Maßgabe der Scharia in Geltung stünden. Der Fundamentaldissens der Kulturen liegt heute offen zutage. Er läßt sich nicht schönreden. Vielmehr ist es Sache der westlichen Welt, sich wehrhaft, klug und umsichtig zu behaupten. In der staatlichen Normenhierarchie bildet die Verfassung das oberste Gesetz für ein friedliches Zusammenleben der Bürger jedweder Herkunft, Religion und Lebensform. Daher versprechen sich manche die Lösung der Integrationsprobleme von einem Eid der Zuwanderer und Einbürgerungsprätendenten auf die deutsche Verfassung. Doch an der Tauglichkeit dieses Mittels ist zu zweifeln. Denn die Verfassung, positivrechtlich beim Wort genommen, verpflichtet den Prätendenten zu gar nichts: sie enthält Grundrechte, aber keine unmittelbar wirksamen Grundpflichten, also nur einseitige Rechtswohltaten, im übrigen aber ein Organisations-, Aufgaben- und Pflichtenprogramm für die Staatsgewalt. Der Eid würde nicht an die prekären Fragen rühren, von denen der bürgerliche Frieden und das 88  Josef Isensee, Grundrechtsvoraussetzungen und Verfassungserwartungen an die Grundrechtsausübung, in: HStR V, 1. Aufl. 1992, § 115 Rn. 163 ff.

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gedeihliche Leben der Gesellschaft abhängen. Dagegen wäre es ein wirksamer Test auf die Integrationsbereitschaft, den Bewerber zu prüfen, ob er bereit ist, die Freiheit des anderen zu ertragen, selbst wenn dieser .schmäht, was ihm heilig ist, und ob er davon absieht, wider die Verletzung seiner Gefühle Gewalt zu üben und nach Gewalt zu rufen. Die Kirche mag es locken, sich mit dem Islam zu verbünden, gemeinsam wider die westliche Dekadenz und für die Wiederherstellung gesellschaftlicher Moral zu kämpfen, den Staat als bracchium saeculare für gemeinsame Ziele öffentlicher Moral zu gewinnen und das staatliche Verbot der Blasphemie zu reaktivieren. Eine solche Allianz wäre fatal. Von einem etwaigen Erfolg würde am Ende der islamische Fundamentalismus profitieren. Dagegen könnte die Kirche dem Gemeinwesen, das sich um die Integration der Muslime bemüht, einen heilsamen genuin christlichen Dienst erweisen, wenn sie allgemein in Erinnerung brächte, daß mit der negativen Freiheit der Grundrechte allein noch kein Staat zu machen ist, daß es vielmehr auf ihren guten, gemeinverträglichen Gebrauch ankommt und es dazu im Zusammenleben von Einheimischen und Fremden, von Gläubigen und Ungläubigen des Taktes bedarf, der Rücksichtnahme auf die Empfindungen des anderen, der Achtung vor seiner Person in seinem Selbst- und Anderssein, kurz: daß auch der Rechtsstaat nicht auskommt ohne die Ressource der Nächstenliebe. d)  Ein Staatskirchenrecht für den Islam? Das Staatskirchenrecht findet heute ein ungewohnt großes Interesse sogar bei den Gebildeten unter seinen bisherigen Verächtern, seit man vermutet, in seinen Institutionen schlummerten Möglichkeiten zur Integration des Islam. So setzt die Politik Hoffnungen darauf, daß ein muslimischer Religionsunterricht an öffentlichen Schulen den gefürchteten Einflüssen der Koranschulen und der Moscheepredigten entgegenwirken, das Aufkommen eines Diaspora-Fundamentalismus89 verhindern, den Widerspruch zwischen Islam und Moderne versöhnen und einen aufgeklärten Euro-Islam heraufführen könnte.90 So faszinierend diese Vision in europäischer Sicht sein mag, so schwierig ist es, sie unter den verfassungsrechtlichen Bedingungen zu verwirklichen, die für den christlichen Religionsunterricht als ordentliches Lehrfach gelten. Der Religionsunterricht, wie er im Grundgesetz gewährleistet wird, steht unter dem Kondominium von Staat und Kirche. Jener verantwortet den organisatorischen Rahmen sowie das formale pädagogische und fachliche Niveau; diese verantwortet den Inhalt und die Ziele des Unterrichts.91 89  Birger Johansen, Staat, Recht und Religion im sunnitischen Islam – Können Muslime einen religionsneutralen Staat akzeptieren?, EssGespr 20 (1986), S. 12 (47 ff.). 90  Alfred Albrecht, Religionspolitische Aufgaben angesichts der Präsenz des Islam in Deutschland, EssGespr 20 (1986), S. 82 ff. 91 Dazu Hollerbach (Fn. 18), § 140 Rn. 32 ff.; Isensee (Fn. 18), S. 19 ff. m. w. N.

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Der kirchliche Part aber fällt im islamischen Religionsunterricht aus. Der Islam bildet keine Kirche oder kirchenanaloge Religionsgemeinschaft.92 Von Haus aus strebt er nicht nach mitgliedschaftlicher Organisation, schon deshalb, weil ihm die Unterscheidung zwischen geistlicher und weltlicher Sphäre fremd ist.93 Freilich formieren sich auf deutschem Boden islamische Vereinigungen mit unterschiedlicher Zielsetzung, vom Bau einer Moschee über Pflege muslimischer Kultur bis zum politischen Kampf für den islamistischen Gottesstaat.94 Eine der größten Organisationen, der 1985 in Köln eingerichtete Dachverband Diyanet Isleri Türk Islam Birgili (DITIB), nimmt religiöse, kulturelle und berufsfördernde Aufgaben wahr – und zwar gesteuert vom türkischen Staat über das Präsidium für Religionsangelegenheiten, nicht zuletzt in der Absicht, politischen Einfluß innerhalb der deutschen Gesellschaft zu gewinnen. Einzelne Organisationen werden überhaupt nur zu dem Zweck gegründet, an den Vergünstigungen des deutschen Religionsrechts zu partizipieren, so der im April 2007 gegründete Koordinierungsrat. Der türkische Staat kann nicht in die Bresche springen und die Repräsentation der in Deutschland lebenden Muslime übernehmen, auch nicht beschränkt auf seine Staatsangehörigen. Die Zusammenarbeit mit ihm mag für die deutschen Schulträger praktisch notwendig und nützlich sein, um die Ausbildung geeigneter Religionslehrer zu organisieren und bei Eltern wie Schülern Akzeptanz für das neue Fach einzuwerben. Doch damit erfüllt er nicht die Voraussetzung, die das Grundgesetz an den kirchlichen Partner des Religionsunterrichts stellt. Die Entwürfe für einen islamischen Religionsunterricht werden nicht durch die staatskirchenrechtliche Garantie des Grundgesetzes abgedeckt. Darum sind sie nicht schon unzulässig. Doch müssen sie sich den sonstigen verfassungsrechtlichen Vorgaben fügen. Das bedeutet, daß kein staatlicher Zwang auf Eltern und Schüler ausgeübt wird, am Unterricht teilzunehmen, und daß denen, die fernbleiben, nicht Diskriminierung droht. Kein Muslim braucht sich in einer deutschen Schule sagen zu lassen, was sein wahrer Glaube sei. Das alles ist grundrechtliche Normalität. Die verfassungsrechtlichen Bedenken greifen aber tiefer und richten 92 Vgl. Loschelder (Fn. 69), S. 168 ff.; Hollerbach (Fn. 17), § 138 Rn. 135; Hillgruber (Fn. 69), S. 545 f. – Zur Frage, ob ein Dachverband (der Zentralrat der Muslime oder der Islamrat für die Bundesrepublik Deutschland) als Religionsgemeinschaft im Sinne von Art. 7 Abs. 3 Satz 2 GG anerkannt werden kann, BVerwG 23. 2. 2005, DÖV 2005, S. 914 ff. Dazu Stefan Mückl, Islamischer Religionsunterricht – zum Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 23. Februar 2005, RdJB 2005, S. 513 ff. m. w. N. Zum Zusammenschluß islamischer Verbände in Deutschland Bericht in FAZ v. 12. 4. 2007 (Nr. 85); Regina Mönch, Gottesrecht, FAZ 2. 5. 2007 (Nr. 101), S. 37. 93  Johansen (Fn. 89), S. 18 ff. 94 Dazu Spuler-Stegemann (Fn. 67), S. 101 ff.; Hillgruber (Fn. 69), S. 542. Zu den Mißständen des Islam-Unterrichts, den an Berliner Schulen die Islamische Föderation gibt (eines Unterrichts, der allerdings nicht unter die Garantie des Art. 7 Abs. 3 GG fällt): Regina Mönch, Atatürk als Abwehrzauber, FAZ v. 4. 11. 2006 (Nr. 257), S. 39.

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sich dagegen, daß der Staat von sich aus Inhalt und Ziele des islamischen Religionsunterrichts bestimmt und nicht, wie in der Verfassungsgarantie des Grundgesetzes vorgesehen, als Vorgegebenheit akzeptiert. Nunmehr geht er darauf aus, sich einen Euro-Islam nach seinen Bedürfnissen zu schaffen: gereinigt von allen integrationshemmenden, modernitätsresistenten Schlacken, friedlich, tolerant, weltoffen, demokratiegeneigt, gleichberechtigungswillig.95 Damit aber tritt er in Widerspruch zu dem Gesetz der Säkularität, nach dem er angetreten ist, versucht die religiöse Grundlage seiner Existenz selber herzustellen, die er doch um der Freiheit willen voraussetzen müßte, und von oben herab zu organisieren, was eigentlich von unten her wachsen müßte. Hier lebt ein obrigkeitliches Kirchenregiment wieder auf in der Manier, wie der preußische Monarch im 19. Jahrhundert die Union der protestantischen Kirchen herbeiführte.96 Die Öffnung der staatskirchenrechtlichen Institutionen für den Islam wird mit dem Gebot der Gleichheit begründet.97 Doch Gleichbehandlung mit den Kirchen ist nur möglich, wenn und soweit die allgemeinen verfassungsrechtlichen Zugangsvoraussetzungen erfüllt werden. Eben daran fehlt es weitgehend. So kann der Islam nicht die Staatsleistungen verlangen, die den Kirchen als Ausgleich für ihre Säkularisationsverluste von Verfassungs wegen verbürgt sind,98 weil derartige Säkularisationsverluste nicht vorliegen. Ob der Staat ohne einen solchen Rechtstitel aus der Verfassung islamischen Organisationen entsprechende Leistungen nach politischem Ermessen erbringen darf, steht auf einem anderen Blatt.99 Islamische Vereine scheitern bislang mit ihren Anträgen, den Status der Körperschaft des öffentlichen Rechts zu erhalten, schon an der formellen Voraussetzung, daß sie „durch ihre Verfassung und die Zahl ihrer Mitglieder die Gewähr der Dauer bieten“.100 Dazu kommen noch ungeschriebene Voraussetzungen materieller Natur: die Verträglichkeit mit dem ordre public der Bundesrepublik, mehr noch: Gemeindienlichkeit.101 Eine Körperschaft muß einen Beitrag zum guten 95  Visionen solcher Art: Peter Häberle, Verfassungslehre als Kulturwissenschaft nach 50 Jahren Grundgesetz, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, Beilage zur Wochenzeitung Das Parlament, B 16/99 v. 16. 4. 1999, S. 20 (30). 96  Ein Lehrstück: Franz Schnabel, Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert, Die protestantischen Kirchen in Deutschland, 1965, S. 64 ff. 97 In diesem Sinn Michael Brenner, Staat und Religion, in: VVDStRL 59 (2000), S. 264 (280 ff.). 98  Art. 138 Abs. 2 WRV i. V. m. Art. 140 GG. 99 Dazu Josef Isensee, Staatsleistungen an die Kirchen und Religionsgemeinschaften, in: Listl/Pirson (Fn. 19), S. 1009 (1057 ff.). 100  Art. 137 Abs. 5 S. 2 WRV i. V. m. Art. 140 GG. Dazu Loschelder (Fn. 69), S. 162 ff. – Dazu auch Spuler-Stegemann (Fn. 67), S. 223 ff. 101  Zur „Hoheitsfähigkeit“: Kirchhof (Fn. 64), S. 658 ff., 666 ff.; Vgl. auch Klaus Georg Meyer-Teschendorf, Staat und Kirche im pluralistischen Gemeinwesen, 1979, S. 54 ff., 103 ff., 119 ff., 128 ff.

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Leben des Gemeinwesens leisten und auf ihre Weise das Wirken des Staates entlasten oder ergänzen.102 Die Kirchen bieten dazu die Gewähr, indem sie dazu beitragen, die religiösen und sittlichen Grundlagen des Gemeinwesens zu bewahren und zu erneuern. Sie verkörpern und hegen Elemente europäischer Kulturidentität.103 Solche Leistung ist von islamischen Organisationen nicht zu erwarten. Die Offenheit für fremde Kulturen, die Europa von jeher eigen war, bedeutet nicht Preisgabe der eigenen. Wenn das Grundgesetz das christliche Erbe übernimmt, indem es den Sonntag und einzelne kirchliche Feiertage als „Tage der Arbeitsruhe und der seelischen Erhebung“ schützt,104 sichert es kulturelle Identität. Darin liegt keine Diskriminierung und keine Freiheitseinschränkung muslimischer Zuwanderer, denen der Freitag heilig ist.105 Die Baubehörde des säkularen Staates ist auch nicht aus Gründen der Parität gezwungen, im Zentrum von Köln die Errichtung einer Moschee zuzulassen, die dem Dom an Größe und Höhe ebenbürtig wäre, schon deshalb, weil der Dom sich nicht auf eine religiöse Manifestation reduzieren läßt, sondern Denkmal europäischer Weltkultur ist. Der Sinn des Körperschaftsstatus verkehrte sich in sein Gegenteil, wenn er einer Organisation zuerkannt würde, die als verlängerter Arm türkischer Staatsgewalt fungierte, er also nicht der Freiheit der Religion, sondern der Ingerenzmacht eines ausländischen Staates zu größerer Wirksamkeit verhülfe und die deutschen Hoheitsbefugnisse (wie die Steuerhoheit), mit denen die Körperschaft beliehen würde, indirekt auf diesen überleitete. – Im übrigen drängt sich die Frage auf, ob die Zuerkennung des Körperschaftsstatus als bloße Rechtswohltat ohne Gegenleistung effektive Integration bewirken kann. Ehrliche Integration bewährt sich in der Bereitschaft, die Lasten des Gemeinwesens mitzutragen. In den forcierten Bemühungen, die staatskirchenrechtlichen Institutionen dem Islam zu öffnen, verbinden sich zwei genuin widersprüchliche Tendenzen, eine linksliberale, die alle religiös-kulturellen Unterschiede leugnet und jedermann nötigen will, wegzuschauen, wo sie sich denn doch zeigen, und eine paternalistische, die den Zuwanderern obrigkeitliche Anerkennung zuteil werden läßt und durch Betreuungsmaßnahmen die eigentlich ihnen selbst obliegende Anstren102  Dazu auch oben VII.1. – Zur Gemeinnützigkeit allgemein Josef Isensee, Gemeinwohl und Bürgersinn im Steuerstaat des Grundgesetzes, in: FS für Günter Dürig, 1990, S. 33 ff. ders., Gemeinnützigkeit und europäisches Gemeinschaftsrecht, in: Monika Jachmann (Hrsg.), Gemeinnützigkeit, 2003, S. 93 ff. m. w. N. 103  Zum Ganzen Christian Starck, Das Christentum und die Kirchen in ihrer Bedeutung für die Identität der Europäischen Union und ihrer Mitgliedstaaten, EssGespr 31 (1997) S. 5 ff.; Hermann Lübbe, Das Christentum, die Kirchen und die europäische Einigung, EssGespr 31 (1997), S. 107 ff.; Uhle (Fn. 13), S. 133 ff. 104  Art. 139 WRV i. V. m. Art. 140 GG; entsprechend die Landesverfassungen, etwa Art. 53 HessVerf, Art. 147 BayVerf, Art. 47 Rh-PfVerf, Art. 25 NRWVerf, Art. 41 SaarlVerf, Art. 14 BbgVerf. 105 Vgl. Uhle (Fn. 13), S. 133.

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gung ersparen möchte, sich unter den Bedingungen allgemeiner Freiheit in der Gesellschaft zurechtzufinden und zu behaupten.106 Aufs Ganze zeigt sich, daß die Institutionen des Staatskirchenrechts sich mehr oder weniger gegen eine Anwendung auf den Islam sperren. Sie sind geprägt durch die spezifischen Gegebenheiten der deutschen Geschichte und zugeschnitten auf die christlichen Kirchen, auch wenn sie in ihrer verfassungsgesetzlichen Fassung offen sind für andere, mithin auch nichtchristliche „Religionsgemeinschaften“. Das Staatskirchenrecht ist keine Dispositionsmasse für die Integrationspolitik. In ihm verkörpert sich ein bestimmter Modus des rechtlichen Ausgleichs zwischen Staat und Kirche. Dieser Ausgleich diente freilich von jeher auch der Integration. Der Augsburger Religionsfrieden und der Westfälische Frieden ermöglichten die Einheit des alten Reichs trotz Glaubensspaltung. Der Territorialstaat des 18. und 19. Jahrhunderts gewann durch Paritätszusagen die Loyalität konfessioneller Minderheiten, die nicht der Staatskirche angehörten. Die Weimarer und die Bonner Republik banden durch ihr Staatskirchenrecht die Kirchen ein in ihre neuen Ordnungen. Doch darum taugt die heute geltende Gestalt des Staatskirchenrechts nicht für die Integration des Islam. Es für diesen Zweck einsetzen heißt, es umzufunktionieren. Das hergebrachte Rechtsgefüge ist kein Prokrustesbett für jedwede Erscheinung von Religion. Der säkulare Staat wäre gut beraten, behutsam vorzugehen und eine gewaltsame Übertragung des hergebrachten Rechtsgefüges auf den Islam zu vermeiden, die dem Islam nicht guttäte und das Rechtsgefüge zerbrechen könnte zum Schaden nicht nur für die Kirchen, sondern für das ganze Gemeinwesen. Ohnehin besteht kein rechtliches Vakuum. Die Religionsfreiheit und die sonstigen Grundrechte bilden den Unterbau, auf dem sich die rechtlichen Beziehungen zwischen Migrationsreligion und Aufnahmestaat entwickeln können, mit ihnen der Ausgleich zwischen Islam und Moderne. Dieser Ausgleich könnte auf Dauer einen institutionellen Überbau eigener Art hervorbringen, der neben das hergebrachte Staatskirchenrecht träte, es ergänzte, nicht aber verdrängte. Wie auch immer: die Zukunft der Beziehungen von Staat und Kirche hängt nicht zuletzt davon ab, ob und wie der Ausgleich des Islam mit der westlichen Welt gelingt. Die Kirche kann sich in dieser Schicksalsfrage nicht auf die Position der neutralen Zuschauerin zurückziehen. Im Ernstfall, den niemand herbeiwünschen darf, wäre sie zwiefach gefordert, zur Verteidigung der Religion wie zur Verteidigung der Freiheit. Sie hat gelernt, daß sich der Widerspruch zwischen ihnen versöhnen läßt. Sie kann diese Lehre auch glaubwürdig weitergeben.

106 Ähnlich

Huster (Fn. 70), S. 22 f.

Neue Anfragen an eine vermeintlich eingespielte Beziehung* Neue Anfragen an eine vermeintlich eingespielte Beziehung Neue Anfragen an eine vermeintlich eingespielte Beziehung

Zugleich Rezension von: Katharina Ebner/Tosan Kraneis/Martin Minkner/Yvonne Neufeind/Daniel Wolf (Hrsg.), Staat und Religion, Neue Anfragen an eine vermeintlich eingespielte Beziehung. Mohr Siebeck Verlag. Tübingen 2014. XI + 253 Seiten.

I.  Das tradierte deutsche Staatskirchenrecht: coincidentia oppositorum Der Verfassungsstaat hat säkularen Charakter. Er identifiziert sich mit keiner Religion. Die Frage nach transzendenter Wahrheit liegt jenseits seines Erkenntnis- und Entscheidungshorizontes. Er ist weder gläubig noch ungläubig. Er ist noch nicht einmal skeptisch. Die Wahrheit der Religion geht ihn schlichtweg nichts an. Dagegen ist die soziale Wirklichkeit der Religion für ihn ein Thema, dem er nicht ausweichen kann. Er nimmt sie auf, indem er Jedermann die grundrechtliche Freiheit gewährleistet, seine Religion zu wählen oder abzuwählen, zu bekennen oder zu verschweigen, auszuüben oder sich von ihr fernzuhalten. Doch damit ist das Thema noch nicht erschöpft. Der Staat muß auch sein Verhältnis zu den Institutionen bestimmen, in denen sich die Religion verwirklicht, zu den Kirchen und den sonstigen Religionsgemeinschaften. Der Staat gibt hier sein Selbstverständnis deutlich zu erkennen. Ein staatsrechtliches Thema par excellence findet einen legitimen Platz in der Verfassung. In Europa haben sich drei idealtypische Lösungen herausgebildet; das Staatskirchentum, wie es in Großbritannien und in Griechenland besteht, das laizistische Trennungssystem, wie es in Frankreich herrscht, und die mittlere Lösung einer „hinkenden“ Trennung, die das deutsche Staatskirchenrecht ausmacht. In einer coincidentia oppositorum verbindet sie die individuelle und die korporative Religionsfreiheit mit institutionellen Gewährleistungen zugunsten der Religionsgemeinschaften, die Säkularität des Staates mit dem Öffentlichkeitsanspruch der Kirchen, ihre Unabhängigkeit gegenüber dem Staat mit der Förderung durch den Staat, Distanz mit Kooperation. Eine Konzeption versöhnter Verschiedenheit. Im Staatskirchenrecht zieht Deutschland seine Lehre aus den langwierigen politischen Nöten der Glaubensspaltung und der Religionskriege. Das Reich hatte nach der Reformation seine Einheit zu retten versucht, indem es Friedensschlüsse *  Erstveröffentlichung in: Göttingische Gelehrte Anzeigen, 267. Jg. (2015), S. 228 – 250.

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zwischen den verfeindeten konfessionellen Lagern zustande brachte und einen modus vivendi zwischen den „Religionsparteien“ herstellte. Die konfessionelle Zersplitterung des alten Reiches in katholische, lutherische und kalvinistische Territorien hat die politische Kultur Deutschlands nachhaltig geprägt. Keine Konfession erlangte jemals die Herrschaft über das ganze Reich. Eine jede dominierte nur in Teilgebieten, eine jede war anderwärts in der Minderheit. So bildete sich in Deutschland keine durchgängige politische Front zwischen einem einheitskirchlich-konservativen und einem antikirchlich-progressiven Lager wie im konfessionell geschlossenen Frankreich oder Spanien. Auf lange Sicht führte die Glaubensspaltung zu einer Art politisch-kultureller Gewaltenteilung. Nachwirkungen sind noch in den „Kirchenartikeln“ der Weimarer Reichsverfassung zu erkennen, in denen sich die religiöse Neutralität der rechtsstaatlichen Demokratie Geltung verschaffte und zum friedlich-schiedlichen Ausgleich mit den vorgefundenen Strukturen fand. Das Bonner Grundgesetz macht sich den Weimarer Ausgleich zu eigen. Die meisten der „Kirchenartikel“ übernimmt es in der unschönen, lichtscheuen Technik der Verweisung, die freilich den Verfassungsrang nicht mindert. Die grundgesetzlichen Regelungen sind bloße Blaupausen der Weimarer Vorlagen. Sie entfalten sich in ihrer wissenschaftlichen Interpretation wie in ihrer praktischen Anwendung gemäß den veränderten Voraussetzungen der nunmehrigen Bundesrepublik Deutschland. Wichtige Impulse gehen vom Bundesverfassungsgericht aus. Das Grundgesetz, in weitem Umfang Maßkonfektion deutscher und gemeineuropäischer Muster, gewinnt in seinen „staatskirchenrechtlichen“ Bestimmungen originelle Züge und ein nationales Profil. Das wohlbalancierte System des Staatskirchenrechts hat zu dem religions- und kirchenfreundlichen Klima beigetragen, das in der Bundesrepublik seit ihren Anfängen herrscht. Gleichwohl war es lange Zeit nur ein relativ kleiner Kreis von Staatsrechtslehrern, die sich dem Staatskirchenrecht wissenschaftlich widmeten, die meisten ausgestattet mit Sensoren für Geschichte und für Kirchlichkeit. Wenige Autoren (zumeist aus dem Umfeld der Humanistischen Union) leisteten hartnäckig fachliche Fundamentalkritik. Auch politische Fundamentalkritik an den wirklichen oder vermeintlichen Privilegien der Kirchen, zumal an ihrer Förderung durch den Staat, hat sich stetig zu Wort gemeldet. Immer wieder regten sich Strebungen, die Religion aus der Öffentlichkeit zu verdrängen, die Zusammenarbeit von Staat und Kirchen aufzukündigen und abzulösen durch ein System strikter Trennung im Sinne der französischen laïcité. Die Kritiker hielten das geltende Staatskirchenrecht unter ständigem Rechtfertigungszwang.

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II.  Alte Affekte und neue Erwartungen Diese Tendenzen sind nicht erloschen. Im Gegenteil: sie sind stärker geworden, mit ihnen der Rechtfertigungszwang. Es wächst die Neigung, den überkommenen Konsens über die Staat-Kirchen-Beziehungen aufzukündigen und geltende Normen abzuschaffen oder umzufunktionieren. Aber es wächst auch das literarische und das politische Interesse am Thema. Der neue Trend speist sich aus heterogenen, im einzelnen sogar einander widersprechenden Motiven, die eine, je nach Standpunkt, heilige oder unheilige Allianz eingehen. Zu den Motiven gehören einerseits die Anpassung der Institutionen an die zunehmende Ausmergelung der vormaligen Volkskirchen, andererseits die Anpassung an das Wachstum des glaubensstarken Islams; das Ziel, diesen in das Staat-KirchenSystem zu inkorporieren, damit er „ein Teil Deutschlands“ werde, aber auch das Ziel, das allen stereotypen Generalverdachtsdementis zum Trotz vermutete Gefahrenpotential dieser Religion zu entschärfen und die Religionsausübung in gemeinverträglichen, gesetzlichen Grenzen zu halten; ferner doktrinärer Laizismus und religiöser Egalitarismus, der alle echten oder scheinbaren Religionsprivilegien aus der Rechtsordnung eliminieren möchte; altliberaler Antiklerikalismus und neue Christophobie; allgemeiner Affekt gegen Institutionen und Traditionen; schwindende Kenntnisse von Religion und Geschichte, zumal bei den neu- und spätberufenen Autoren des Staatskirchenrechts, von denen sich mancher mehr Kenntnisse über den Koran und den Islam angelesen hat, als er über die Bibel und das Christentum mitbringt. Jedenfalls zieht das überkommene Staatskirchenrecht ungewohnte politische Aufmerksamkeit auf sich. Die Materie, die gestern noch als vergangenheitsbezogen und überständig eingeschätzt wurde, erlebt heute eine literarische Konjunktur. Eine der zahlreichen Neuerscheinungen zum Thema ist der hier zu besprechende Tagungsband „Staat und Religion“. Dieser geht, wie einer seiner Herausgeber Daniel Wolff schreibt, von Irritationen des überkommenen religionsrechtlichen Status quo aus, die er mit den Stichworten kennzeichnet: Verlust volkskirchlicher Substanz, Pluralisierung und Internationalisierung, unter Hervorhebung der schleichenden Säkularisierung, den Bedeutungsverlust der Religion in der Alltagswelt, den Beitritt der nahezu vollständig entchristlichten DDR, die mangelnde kulturelle Abgestimmtheit des Islam, die europarechtlichen Überlagerungen des kirchlichen Arbeitsrechts (S. 2 f.). Das Thema „Staat und Religion“ wird aus der Perspektive des staatlichen Rechts betrachtet, wie sie dem hergebrachten Staatskirchenrecht eigen ist, nicht aus der kirchlichen Perspektive. Gleichwohl ist es ein kirchlicher Kreis, der die in diesem Band dokumentierte Tagung im Jahr 2013 veranstaltet hat: gegenwärtige und ehemalige Stipendiaten des Cusanuswerks. Diese Einrichtung katholischer Studienförderung wird wie vergleichbare Werke anderer Konfessionen auch mit staatlichen Mitteln gefördert

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und zehrt somit selbst von der Kirchenfreundlichkeit der deutschen Staat-Kirchen-Kooperation. Doch wissenschaftliche Befangenheit läßt sich deshalb weder in den Referaten noch in den Diskussionsberichten erkennen. Die ausgewählten zehn Themen decken wesentliche Problemfelder des positiven Rechts, aber auch staatstheoretische und sozialwissenschaftliche Hintergründe ab. Den zehn Referenten stehen – eine ungewöhnliche Proportion – gleich fünf Herausgeber gegenüber. Wer den Band zitieren will – er verdient es –, mag sich die Kolonne der fünf Namen ersparen und sich damit begnügen, dem ersten Namen „et alii“ hinzuzufügen.

III.  Grundlagen 1.  Soziologie der Kirchenauszehrung In kraftvollen Strichen zeichnet Franz-Xaver Kaufmann ein Bild der geschichtlichen Entwicklung („Kirchen, Religion und sozialer Wandel in Deutschland“, S. 7 ff.). Im 19. Jahrhundert war, beflügelt durch die deutsche Romantik, die Kirchlichkeit neu aufgelebt. Die Konfessionszugehörigkeit dominierte alle anderen sozialen Kriterien. Insbesondere formierte sich die sich diskriminiert fühlende Minderheit im katholischen Milieu. Die konfessionellen Gegensätze schwächten sich nach dem zweiten Weltkrieg ab, als die katholische Zentrumspartei durch die überkonfessionelle CDU abgelöst wurde, als die Katholiken in der Ära Adenauer ihr Underdog-Bewußtsein verloren (auch infolge des im westdeutschen Staat waltenden Gleichgewichts zwischen den katholischen und protestantischen Bevölkerungsanteilen), als die Kirche sich im Zweiten Vatikanischen Konzil der Moderne öffnete und zugleich auf Traditionen des ersten Jahrtausends zurückgriff, während die protestantischen Kirchen zu einer übergreifenden Gemeinschaft in der EKD fanden. Der „allgemeine Glaubensoptimismus“, der auf dem Konzil herrschte, brach sich aber an dem Rückgang der Kirchlichkeit, der zwischen 1965 und 1980 einsetzte. Damit endet eine Epoche, in der Deutschland als bikonfessionelles christliches Land bezeichnet und die Religion mit den christlichen Kirchen in eins gesetzt werden konnte (S. 13). Dazu tragen die demoskopische Entwicklung bei, die Zunahme der Konfessionslosen, zumal durch den Beitritt der DDR, Kirchenaustritte, geringe Neigung zur Taufe, die Zuwanderung der Muslime. Kaufmann nennt auch innere Ursachen: Rückgang der Kirchenbindung, der konfessionellen wie überhaupt der religiösen Orientierung und des religiösen Wissens, Rezession der kirchlichen Berufe, Verlust der kirchlichen Deutungshoheit, Individualisierung der Daseinsdeutungen, Verdrängung von Krankheit und Tod. Entkirchlichung trotz günstiger staatskirchenrechtlicher Bedingungen. Kaufmann sieht hier eine Umkehrung der Konstantinischen Wende, die Aufkündigung der Alli-

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anz zwischen Religion und Politik (S. 19). Zur deutschen wie überhaupt zur westeuropäischen Entwicklung des Christentums kontrastiert er die Wucht religiös legitimierter Bewegungen in anderen Weltteilen. Kaufmann läßt offen, ob es sich bei der immer noch zu beobachtenden gewissen Tradierung des Christentums in den Familien um konservative Restbestände schwindenden christlichen Milieus handelt oder um neue Gemeinschaftsformen eines modernitätsresistenten Christentums, wie Karl Rahner prophezeit hat, daß der Fromme von morgen ein „Mystiker“ sein werde. Auf diesen setzt Kaufmann (S. 18). Den Begriff einer „Entweltlichung der Kirche“ den Papst Benedikt XVI. geprägt hat, lehnt er ab. Die Kirche als Institution sei immer von dieser Welt und habe sich hier zu beweisen (S. 23). Den ganzen Aufsatz durchzieht ein Zug von ekklesiologischem Defaitismus gegenüber dem als unaufhaltsam geglaubten Vordringen einer areligiösen Moderne. 2.  Religiöse Voraussetzungen des säkularen Staates? Tine Stein betreibt unter dem Thema „Vorpolitische Grundlagen des liberalen Rechtsstaates – oder: Braucht der Staat Religion?“ eine Exegese des berühmten Diktums von Ernst-Wolfgang Böckenförde, daß der freiheitliche, säkularisierte Staat von Voraussetzungen lebe, die er selbst nicht garantieren könne. „Das ist das große Wagnis, das er um der Freiheit willen eingegangen ist.“1 Sie referiert auch die nachträglichen Klarstellungen Böckenfördes, daß der Staat immerhin die Konstitutionsbedingungen der Subjektivität, die Freiheit und Achtung der Person und die Achtung des Gewissens schützen könne, zumal im Schul- und Bildungswesen wie in den religiösen und weltanschaulichen Vereinigungen, aus denen eine lebendige Kultur erwachse; daß das positive Sozialkapital aber nicht allein bei der christlichen Religion verortet sei (S. 31 f.). Wenn Stein die These Böckenfördes referiert, daß die Offenheit der Schule für die religiöse Bekenntnisfreiheit auch für das Kopftuch der muslimischen Lehrerin gelten müsse (S. 32), geht sie nicht darauf ein, daß die Lehrerin im Unterricht nicht ihre Grundrechte ausübt, sondern ein öffentliches Amt und darin an die Grundrechte der Schüler und Eltern sowie an die säkularen Gemeinwohlvorgaben des Staates gebunden ist. Stein bestätigt Böckenfördes These, daß sich Menschenwürde und Menschenrechte, wie sie sich im Grundgesetz niedergeschlagen haben, auch christlichen Impulsen verdanken, und bestätigt sie durch einen Rekurs auf die Debatten des Parlamentarischen Rates, die von deren vorstaatlichem Charakter ausgingen (S. 33 ff.). Böckenfördes Erklärung, warum er den Amtseid als Verfassungsrichter mit der religiösen Beteuerung abgeleistet habe, und zwar deshalb, weil er göttlichen Beistand zur Mobilisierung der inneren Bindungskräfte habe erbitten wollen, um 1  Ernst-Wolfgang Böckenförde, Die Entstehung des Staates als Vorgang der Säkularisation (1967), in: ders., Staat, Gesellschaft, Freiheit, 1976, S. 42 (60).

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sich in der Amtsführung allein auf die positive Rechtsordnung zu beziehen, und sich aller religiös-metaphysischer Gründe zu enthalten, wird gegenübergestellt die Forderung von Habermas, der Bundestag solle religiöse Bezüge aus den Redebeiträgen tilgen.2 Stein lehnt diese Forderung ab, weil die religiösen Begründungen nicht zu einem allgemeinen Gesetz erhoben würden, sondern – exemplarisch die biopolitischen Bundestagsdebatten – einen bestimmten Geltungsanspruch des Prinzips der Menschenwürde argumentativ belegen sollten (S. 40 f.). Doch These und scheinbare Antithese greifen zu kurz: das Parlament ist das Forum der Nation, das keine verfassungsrechtliche Vorzensur der Argumente und Motive verträgt. Die amtsverbindlichen Entscheidungen müssen freilich im Ergebnis den verfassungsrechtlichen Neutralitätsvorgaben genügen und sich an den staatsethischen Kriterien von Gemeinwohl und Gerechtigkeit messen lassen. Über die Gründe, die zu den Entscheidungen geführt haben, wird aber nicht abgestimmt. Dessen bedarf es auch nicht in der Demokratie, weil Mehrheit entscheidet. Die Motive des Gesetzgebungsprozesses lassen sich nach Inhalt und Wirksamkeit auch nur in begrenztem Umfang erschließen. Es ist daher gleichgültig, ob sie religiös oder profan, moralisch oder unmoralisch, philosophisch oder pragmatisch, parteiisch oder neutral, klientelbezogen oder gemeinwohlbezogen sind. Das gilt vollends für den politischen Diskurs und für das Votum des Wählers. Die freiheitliche Demokratie verfügt über keinen Filter, der religiöse Momente ausscheidet, und keine habermasiadische Notwendigkeit, religiöse Argumente in eine säkulare Sprache zu „übersetzen“.3 Die Regeln des staatlichen Handelns gelten nicht für seinen Legitimationsursprung, das souveräne Volk, und den Bürger, der an der Souveränität teilhat.4 Im Wolkenreich der Diskurstheorie wird der Blick auf die Diskurswirklichkeit und das Recht der Institutionen getrübt. Das Fazit Steins: Zu Anfang habe das Böckenförde-Diktum die Christen für den säkularen Verfassungsstaat gewinnen sollen. Heute gehe es darum, die in den religiösen Wahrheiten aufgehobenen Botschaften der unbedingten Anerkennung der Würde des Nächsten, des Gebots der Solidarität und die Notwendigkeit der Freiheit in einer Weise in das politische Raisonnement einzubringen, die auch für die religiös Unmusikalischen eine Bereicherung darstellen kann (S. 43). Ein dunkler, mehrdeutbarer Satz, der mehr von Habermas als von Böckenförde inspiriert ist. Meint er etwa, daß die christliche Botschaft nur noch ein bißchen dazu beitragen dürfe, in den RegenbogenPluralismus der Republik eine Farbe einzubringen und Bedürfnisse einer gesellschaftstheoretischen Ästhetik zu befriedigen? Das wäre herzlich wenig. 2  Jürgen Habermas, Religion in der Öffentlichkeit, in: ders., Zwischen Naturalismus und Religion, 2009, S. 119 (137). 3 Zutreffend Horst Dreier, Unter dem Kreuz?, in: FAZ v. 12. 12. 2016, Nr. 290, S. 6. 4 Näher Josef Isensee, Die Rationalität des Staates und die Irrationalität des Menschen, in: AöR 140 (2015), S. 182 ff.

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Stein präsentiert kompetent und gediegen ein Kapitel Böckenförde-Philologie. Selten gehen ihre Ausführungen darüber hinaus. Sie läßt noch nicht einmal eine blasse Ahnung aufschimmern, daß das berühmte Diktum in einem weiten Horizont der Verfassungstheorie steht über die Voraussetzungen von Staat und Verfassung und über die vorrechtlichen Erwartungen an die Ausübung der grundrechtlichen Freiheit.5 3.  Kompatibilität von Kirche und Verfassungsstaat Eine andere Seite des Themas greift Rudolf Uertz auf in seinem Referat über „Die Katholische Kirche und ihre Kompatibilität mit dem Verfassungsstaat“ (S. 49 ff.). In Kennerschaft und Urteilskraft bietet er eine souveräne Schau der komplexen historischen Entwicklung. Er geht von der grundsätzlichen Frage aus, ob Religion und theologisch begründete Ethik dem Gläubigen den notwendigen Spielraum belassen, um im freiheitlich-pluralistischen Gemeinwesen Selbstverantwortung wahrzunehmen, wie sie im Grundrechtskatalog liberaler Verfassungen garantiert wird. Als Ausgangsbeispiel dient die Debatte des Parlamentarischen Rates über theologische und naturrechtliche Fundierungen des Grundgesetzes, wie sie vor allem der Abgeordnete Süsterhenn (CDU) forderte und die Replik des Abgeordneten Carlo Schmid (SPD) auslöste: „So heilig sind wir nicht“. Der Gottesbezug in der Präambel („Im Bewußtsein seiner Verantwortung vor Gott und den Menschen“), auf den sich der Parlamentarische Rat verständigte, enthält keine unmittelbar handlungsleitenden Normen. Er begründet auch keine exklusive Legitimation des Grundgesetzes durch theologische Grundsätze, und er entwertet auch nicht die philosophische Ethik und die Humanitätsideen, wie später der Bundespräsident Heuss schrieb und sich damit den Widerspruch von Theologen zuzog, die – katholischer Tradition gemäß – die liberale Demokratie als „nationale Apostasie“ auffaßten und nur als „Notbehelf“ anerkannten und einen Monopolanspruch auf die Ethik reklamierten (S. 50 f., 58), jedoch seit der Aufklärung in einen heiklen Kampf mit einem Gegner geraten sind, „der ihr gerade die Idee der Humanität entgegenhielt“.6) Der Autonomie des individualistischen, rationalistischen Naturrechts hatte die katholische Kirche die Heteronomie eines autoritativ-kirchlich vermittelten, transpersonalen Naturrechts der ewigen Wahrheit entgegengesetzt, das die Gläubigen an kasuistische Rechtsformen band. Die neuscholastische Naturrechtslehre erweiterte die Lehrgewalt des Papstes, aus allgemeinen sittlichen Normen konkrete Handlungsanweisungen für individu5  Dazu mit zahlreichen Nachweisen Josef Isensee, Grundrechtsvoraussetzungen und Verfassungserwartungen an die Grundrechtsausübung, in: ders./Paul Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland (= HStR), Bd. IX, 32011, § 190 Rn. 49 ff., 204 ff. 6  Carl Schmitt, Römischer Katholizismus und politische Form, 1923, S. 69.

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elle Lebensführung, Gesellschaft und Politik vorzugeben und zu sanktionieren (Beichtsystem, Index u. a.). Die Gewissensverantwortung des Einzelnen wurde nunmehr, im Widerspruch zur älteren Tradition, etwa der thomasischen Lehre, dem Lehramt gefügig gemacht und seinen „objektiven“ Gesetzen und Vorgaben unterworfen (S. 63 f.). Seit der französischen Revolution verwarfen die Päpste – auch aus Gründen der Machterhaltung im Kirchenstaat – Demokratie und zentrale Menschenrechte, Gewissens- und Religionsfreiheit, Meinungs-, Presse- und Wissenschaftsfreiheit, bis Leo XIII. zur Toleranz gegenüber den nichtmonarchischen Staatsformen überging, Johannes XXIII. die neuscholastisch-naturrechtliche Argumentation durch die personalethische ablöste und schließlich das Zweite Vatikanische Konzil in der Anerkennung der Religionsfreiheit seinen Frieden mit der Moderne machte. Klerikalistischer Allzuständigkeitsprätention entsagend, erkannte es die Verantwortung der „Laien“ und die „Autonomie der Kultursachgebiete“ (S. 52 ff., 55 ff.). Nunmehr unterscheidet die Kirche Ethik und Recht, und das in voller Konsequenz. Die neue Zuwendung zu einer personalen Verantwortungsethik wurde freilich durchbrochen durch Papst Paul VI., der mit seiner Enzyklika „Humanae vitae“ (1968) im Bereich der Ehe- und Sexualmoral wieder in die Argumentationsweise des neuscholastischen Naturrechts zurückfiel (S. 61) – mit verheerenden Folgen für die Glaubwürdigkeit und die Akzeptanz der katholischen Morallehre. 4.  Sakralisierung der Verfassung? Dem fundamentalen Verhältnis von staatlichem Recht und christlicher Religion widmet sich Christian Waldhoff aus der Sicht des Verfassungsstaates, aus der Sicht der Kirche wie aus der Sicht des distanzierten Beobachters („Heilserwartungen an Recht und Verfassung“ [S. 229 ff.]). Er vergleicht die Theologie mit der Rechtswissenschaft, die beide von vorgegebenen Texten ausgehen und erstaunliche Ähnlichkeiten in Interesse, Struktur und Methodik aufweisen (S. 231 f.). Beide entwickeln eine Dogmatik, die sich auf eine Objektivierung der Interpretation ausrichtet und den unveränderten Texten die Kompatibilität mit der sich wandelnden Umwelt ermöglicht (S. 233). Das gilt jedenfalls für die deutschen Erscheinungsformen der theologischen und der juridischen Dogmatik. Carl Schmitts Sentenz, daß alle prägnanten Begriffe der modernen Staatslehre säkularisierte theologische Begriffe seien,7 inspiriert Waldhoff, den Einflüssen nachzugehen, die theologisches, zumal ekklesiologisches und kanonistisches Gedankengut, ausgeübt haben auf das Staatsverständnis der Moderne (Territorialitätsprinzip), auf Staatsorganisation und Staatsethik (Amtsprinzip) sowie auf einzelne Rechtsfiguren (Dispens). Eingehend widmet er sich der Metamorphose 7 

Carl Schmitt, Politische Theologie (1922), 71996, S. 43.

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der theologischen Begriffe des corpus mysticum und des caput zu den staatsrechtlichen Begriffen von Staat und Staatsoberhaupt. Dieser Genealogie spricht er mehr als antiquarisches Interesse zu (S. 237). Gegenläufig zur Säkularisierung theologischer Denkmuster wirkt die Sakralisierung des säkularen Rechts, zumal die Wandlung der universalen Menschenrechte in eine Weltmissionsbotschaft und in Religionsersatz (mit der Folge, daß ihre juristische Substanz ausdünnt und ihre innerstaatliche Effektivität sich abschwächt). Die innerstaatlichen Grundrechte, nach Smends Lehre in Werte verwandelt, erscheinen vielen als Heilsbotschaft einer Zivilreligion. Die Kirchen tun das Ihre dazu, das Grundgesetz an die Stelle der biblischen Texte zu stellen, wenn sie Normen des Grundgesetzes zum Maßstab ihrer Verkündigung erheben und Urteile des Bundesverfassungsgerichts zitieren, als wenn es sich um Apostelbriefe handelte. Der Sakralisierung des weltlichen Rechts korreliert die Selbstsäkularisierung der Kirche. Waldhoff führt Aussprüche Bischof Wolfgang Hubers an: daß das Grundgesetz den Ton vorgebe, „in dem wir heute Gottesdienst feiern“ und die Menschenrechte „inzwischen einen Schwerpunkt der christlichen Ethik“ bildeten (S. 243). Waldhoff warnt vor solcher Überidentifikation, in der beide Seiten Schaden nehmen können, und fordert auf, die Sphären prinzipiell zu trennen (S. 244).

IV.  „Staatskirchenrecht“ oder „Religionsverfassungsrecht?“ Schon der Name des Rechtsgebiets ist heute Thema dogmatischen Streits. Herkömmlich „Staatskirchenrecht“ genannt, drängt heute „Religionsverfassungsrecht“ an seine Stelle. Wäre die Materie hic et nunc zu taufen, so verdiente der jüngere Name den Vorzug, weil er den Bezeichnungen anderer Teildisziplinen des Verfassungsrechts, etwa „Wirtschafts-,“ oder „Kulturverfassungsrecht“, entspräche. Wer dem älteren Namen unbefangen begegnet, könnte sogar zu dem Mißverständnis verleitet werden, daß es sich um Kirchenrecht handele, etwa im Sinne des ius publicum ecclesiasticum, in dem die katholische Kirche ihr Verhältnis zur Staatenwelt ordnet. Doch das Gegenteil ist der Fall: es geht um ein Gebiet des staatlichen Rechts. Das aber ergibt noch keinen Grund, einen etablierten Namen zu ändern. Kein Jurist denkt daran, die eingespielte Bezeichnung „Internationales Privatrecht“ zu verabschieden, obwohl diese, beim Wort genommen, völlig falsch ist, weil es sich um nationales öffentliches Recht handelt. Also nur ein Streit um Wörter? Nur Schall und Rauch? Das eben nicht. Der Wechsel des Namens soll einen Wechsel in der Sache nach sich ziehen, ihre Wahrnehmung ändern und die Umwertung der Werte betreiben. Wenn Daniel Wolff in der Einleitung ohne weiteres von Religionsverfassung als Gegenstand des Tagungsbandes spricht (S. 1), so liegt darin – vielleicht unbewußt – eine programmatische Stellungnahme: die Abkehr vom bisherigen bundesrepublikanischen Verständnis der Materie und der

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Wille zu einem Neuansatz. Das bestätigt auch der thesenhaltige Untertitel des Sammelwerks: „Neue Anfragen an eine vermeintlich eingespielte Beziehung“. Den Paradigmenwechsel vollzieht Fabian Wittreck bewußt und entschieden in seinem Grundsatzreferat über „Perspektiven der Religionsfreiheit in Deutschland“, in dem er pointiert in der Form, engagiert in der Sache, geschliffen und scharf Stellung bezieht (S. 85 ff.). Er will die neue Firma keineswegs umstandslos als religions- oder kirchenavers einstufen (S. 86) – doch wenn nicht „umstandslos“, so eben umstandsverhaftet, wie sich aus dem Kontext ergibt. Der Wortbestandteil „Religion“ öffne die Materie auch religiösen Gruppen, denen eine kirchenanaloge Organisation abgehe oder die eine solche erst anstreben. Die Ersetzung von „Staat“ durch „Verfassung“ sorge für eine behutsame Umorientierung in Richtung einer sich mehr im Grundton als dezidiert konservativ verstehenden Staatsrechtslehrergemeinde (S. 86). Im Klartext: die Sprachregelung soll der zeitweilig grassierenden, heute längst abgeflauten und aus der Mode gekommenen deutschen Poleophobie Rechnung tragen, das aber um den Preis, daß die nichtverfassungsrechtlichen Segmente des bisherigen Staatskirchenrechts, zumal die Konkordate, aber auch verwaltungs-, zivil-, strafrechtliche Materien nicht erfaßt werden, es sei denn, man geht zum Begriff der totalen Verfassung im Sinne Häberles über. Als Konsequenzen der neuen Firma prognostiziert Wittreck, daß das bislang homogene und im Grundton kirchenfreundliche Meinungsbild in der Wissenschaft und in der Staatspraxis künftig kirchenfremder und religionsskeptischer werde, daß die unverändert fortbestehenden Normen einer inkrementellen Neuinterpretation (was immer der Verf. unter diesem rätselhaften Vorgang versteht) unterziehe, und daß bislang unausgefochtene Bestimmungen unter wissenschaftlich induzierten (gemeint: durch Sprachregelung inszenierten) Reformdruck geraten (S. 87). Als Symptome einer solchen Entwicklung deutet Wittreck die Neigung der Gerichtsbarkeit, den Entkirchlichungsprozeß der Gesamtgesellschaft nachzuvollziehen und bisher als selbstverständlich angenommene religions- und kirchenfreundliche Ausnahmen von rechtlichen Regeln kritisch zu hinterfragen (S. 87 ff.). Eine Wende vollzieht sich schon in den Fußnoten der Beiträge. Das Fähnlein der vormals weniger als sieben Laikalen unter den staatskirchenrechtlichen Autoren (wie Czermak, Renck), vor wenigen Jahren noch als Außenseiter unter „a. A.“ zitiert, ist nunmehr in die Mitte der hier repräsentierten Lehre gerückt. Wittreck verdeutlicht seine Trendanalyse an der Auslegung der Religionsfreiheit, den Ansätzen, dem nach herkömmlicher Meinung vorbehaltlosen Grundrecht einen Vorbehalt zu implantieren, jeden möglichen Vorzug des Christentums zu verhindern, um die Gleichstellung des Islams zu sichern, der individuellen Religionsfreiheit den Vorrang vor der korporativen und der negativen vor der positiven zuzuerkennen. Hier lassen sich die Beschreibung des Rechtslebens

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und das eigene Engagement nicht immer klar unterscheiden. Zu letzterem gehört aber eindeutig die überscharfe Kritik an der These, die Religionsfreiheit einem „Kulturvorbehalt“8) zu unterwerfen, und in heiligem Zorn hier von schlichter Verhöhnung der Religion zu reden (S. 99). Dem Verf. entgeht, daß religiöse Symbole auch als kulturelle gedeutet werden können (Kruzifix im Klassenzimmer, das Kreuz in staatlichen Fahnen, Wappen, Orden) und daß es auf die jeweils rechtlich relevante Perspektive ankommt; das gilt auch für ein Changeant zwischen Religion und Brauchtum (Kopftuch, Burka). Wittreck hält es für möglich, daß die deutsche Rechtsordnung künftig – zumal in Reaktion auf die nach wie vor als bedrohlich empfundene Präsenz des Islam – weniger religiös motivierte Ausnahmen von allgemeinen Pflichten zulasse und der Religion weniger (öffentlichen) Raum einräume. Doch als Ordnung gleicher Freiheit interpretiert, tauge das Religionsverfassungsrecht zur Integration des Islam und zur Verarbeitung der religiösen Freiheit schlechthin. Dagegen fällt seine Prognose düster aus für den vor- und außerrechtlichen Status quo des bisherigen Staatskirchenrechts, das sich in seiner überkommenen Form nicht „in action“ halten lasse (S. 103). Mit diesem Schlußgedanken hinterläßt er den Leser ratlos. Soll das „Religionsverfassungsrecht“ nicht die Institutionen des Körperschaftsstatus, des Religionsunterrichts, der Anstaltsseelsorge, der Kirchensteuer etc. abdecken, obwohl das Grundgesetz sie ausdrücklich gewährleistet? Wieso sollen diese Institutionen „vor- und außerrechtlicher Natur“ sein? Überhaupt klammert Wittreck die institutionellen Elemente aus, die gerade das Spezifische des von ihm verpönten Staatskirchenrechts ausmachen. Er begnügt sich in dieser Hinsicht damit, geläufige Ressentiments zu repetieren.

V.  Problemfelder Fünf Referate behandeln einzelne, praxiswirksame Kontroversthemen des geltenden Religionsrechts. Manche werden auch in den Grundsatzüberlegungen Wittrecks gestreift. 1.  Blasphemie Eines dieser Themen ist die Legitimation des strafrechtlichen Verbots der Religionsbeschimpfung (§ 166 StGB). Die Strafjustiz wendet diesen Tatbestand kaum noch an. Um so größer ist der Impetus der wissenschaftlichen wie der politischen Debatte über den Sinn des Verbots, insbesondere darüber, ob es sich mit der religiösen Neutralität des Rechtsstaats verträgt, mit den Grundrechten vereinbar ist und in das System eines modernen Strafrechts paßt. Während die einen 8  Die grundlegende Monographie: Arnd Uhle, Freiheitlicher Verfassungsstaat und kulturelle Identität, 2004, S. 353 ff.

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für Restriktion oder Abschaffung plädieren, fordern andere die Umsetzung und gar die Verschärfung des Verbots. In den Diskurs hinein platzt blutige Realität, seit wirkliche oder vermeintliche Schmähungen des Islam und seines Propheten gewalttätigen Massenprotest in der muslimischen Welt auslösen und Fanatiker die Rache für die Kränkung ihrer religiösen Gefühle in die eigene Hand nehmen. Barbara Rox widmet sich den „Religionsdelikten in der säkularisierten Rechtsordnung“ (S. 177 ff.). Sie läßt aber die in ihrer säkularen Sinnhaftigkeit eher einleuchtenden anderen „Straftaten, welche sich auf Religion und Weltanschauung beziehen“, also Störung des Gottesdienstes, Unfug im gottesdienstlichen Raum, Störung einer Bestattungsfeier oder der Totenruhe (§§ 167, 167a, 168 StGB) beiseite und konzentriert sich auf das Problemzentrum, die Beschimpfung von Bekenntnissen, Religionsgesellschaften und Weltanschauungsvereinigungen: § 166 (1) StGB: Wer öffentlich oder durch, Verbreiten von Schriften (…) den Inhalt des religiösen oder weltanschaulichen Bekenntnisses anderer in einer Weise beschimpft, die geeignet ist, den öffentlichen Frieden zu stören, wird mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder Geldstrafe bestraft. (2) Ebenso wird bestraft, wer öffentlich oder durch Verbreiten von Schriften (…) eine im Inland bestehende. Kirche oder andere Religionsgesellschaft oder Weltanschauungsvereinigung, ihre Einrichtungen oder Gebräuche in einer Weise beschimpft, die geeignet ist, den öffentlichen Frieden zu stören.

Beschimpfungen dieser Art, Schmähung und Provokation, haben heute Hochkonjunktur. Kabaretts und Satiremagazine machen sie zum Geschäftsmodell. Doch strafrechtlich erheblich wird die Beschimpfung erst, wenn sie den öffentlichen Frieden zu stören geeignet ist. Zu Recht lehnt Rox die These ab, daß die Störung nur dann vorliegt, wenn Gefahr besteht, daß der Gekränkte zu physischer Gewalt greift. Denn dann hinge die Strafbarkeit ab von der Aggressionsbereitschaft der geschmähten Personen und Institutionen (S. 191). Doch auch das beleidigte religiöse Gefühl kann nicht den Ausschlag geben. Der Straftatbestand verlangt objektive und allgemeine Kriterien. Dieser Anforderung entspricht die Deutung des öffentlichen Friedens als Schutz eines gesellschaftlichen Klimas, in dem jeder darauf vertrauen könne, Einfluß im öffentlichen Diskurs zu gewinnen, und niemand vom öffentlichen Diskurs ausgeschlossen werde, damit nicht das letzte Bindeglied schwinde, welches die für den Rechtsgehorsam als so fundamental angesehene Integration sämtlicher Mitglieder der Gesellschaft ermöglicht (S. 192). Man kann das auch handfester formulieren: Die Anhänger der beschimpften Religion sollen nicht Grund haben zu der Furcht, hierzulande so gedrückt, gedemütigt und ausgegrenzt leben zu müssen wie Christen in der heutigen Türkei.9 Die Frage ist jedoch, ob die so interpretierte Norm taugt, 9  Josef Isensee, Meinungsfreiheit im Streit mit der Religion – „Gotteslästerung“ heute, in: AfP 2013, S. 189 (196).

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als allgemeines Gesetz die Freiheit der Meinungsäußerung, von der der Lästerer Gebrauch macht, einzuschränken. Daß blasphemische Äußerungen in den Schutzbereich dieses Grundrechts fallen, wird vorausgesetzt. Das Bundesverfassungsgericht läßt einen „vorgelagerten Rechtsgüterschutz“ als Ziel einer Grundrechtsbeschränkung zu.10 Mithin könnte das Verbot der Blasphemie der Integration der verfemten Gruppe dienen.11 Doch Rox hält die „grundrechtlichen Kosten“ des strafrechtlichen Verbots für zu hoch. Die Integration durch Exklusion des Gotteslästerers lasse sich nicht rechtfertigen. Die Meinungsfreiheit verdiene den Vorrang (S. 196. ff.). Jeder müsse sich daran gewöhnen, daß die öffentliche Auseinandersetzung robust sei (S. 198). Daß aber nicht alle Menschen „robust“ sind, soll nicht zählen. Rox beruhigt sich mit dem (in der Tat einschlägigen) Hinweis auf vorrechtliche Verfassungsvoraussetzungen und -erwartungen und auf die Böckenförde’sche Formel (S. 198 f.), obwohl ihr Gewährsmann Böckenförde in der konkreten Frage die gegensätzliche Position einnimmt, wie sie selber an anderer Stelle zitiert, wenn er schreibt, daß der Schutz religiöser Überzeugungen und ihrer Vertreter vor Diffamierung und Herabsetzung – in konsequenter und unparteiischer Anwendung der Gesetze – „eine Art von einigendem Band über einer pluralen, teilweise auseinanderstrebenden kulturellen Wirklichkeit hervorzubringen“ vermag (S. 193). 2.  Kirchliches Arbeitsrecht In ihrer Funktion als Arbeitgeber beansprucht die Kirche ein höheres Maß an vertraglicher Gestaltungsfreiheit als säkulare Arbeitgeber, weil sie ihren besonderen Auftrag als Kirche verwirklichen muß, wenn sie einen Kindergarten, eine Schule, eine Bildungsstätte, ein Krankenhaus, ein Pflegeheim oder eine andere Einrichtung betreibt. Sie verlangt qua Arbeitsvertrag spezifische Loyalitätsobliegenheiten, und sie bringt ihre Arbeitsverhältnisse in eine spezifische Dienstgemeinschaft ein, innerhalb deren der Ausgleich der widerstreitenden Belange ohne das Instrument des Arbeitskampfes angestrebt wird. Die kirchliche Vertragsfreiheit ist zwiefach verfassungsrechtlich sanktioniert: durch das Grundrecht der kollektiven Religionsfreiheit (Art. 4 Abs. 2 GG) und durch die institutionelle Gewährleistung der Kirchenautonomie (Art. 137 Abs. 3 WRV [Art. 140 GG]). Doch die Sonderposition der Kirche reibt sich am allgemeinen Arbeitsrecht nationaler und supranationaler Provenienz, aber auch an Grundrechten auf Freiheit des Privat- und Familienlebens, vor allem am Gleichheitssatz und am Koalitionsgrundrecht des einzelnen Arbeitnehmers sowie der Gewerkschaften (Art. 9 Abs. 3 S. 1 10 

BVerfGE 124, 300 (335) – Wunsiedel-Beschluß. Martin Mosebach, Vom Wert des Verbietens, in: Berliner Zeitung v. 18. 6. 2012; Robert Spaemann, Beleidigung Gottes oder der Gläubigen?, in: FAZ v. 25. 7. 2012, S. 33; Christian Hillgruber, Ein Integrationshindernis ersten Ranges, in: FAZ v. 26. 1. 2015, S. 6. 11 Vgl.

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und 2 GG). Nivellierungsdruck geht vor allem von der („Einheits“-)Gewerkschaft „ver.di“ aus, die, ihrer Struktur nach kirchenfremd und in ihren sozialistischen Traditionsresiduen sogar kirchenfeindlich, darauf ausgeht, die kirchlichen Mitarbeiter in ihren Machtbereich zu ziehen. Schon deren Menge weckt gewerkschaftliche Begehrlichkeit: fast eine Mio. potentielle Mitglieder in den Einrichtungen von Diakonie und Caritas, etwa 1,3 Mio. im kirchlichen Bereich überhaupt. Hermann Reichold, der „verfassungs- und europarechtliche Fragen der Kirchenautonomie im Arbeitsrecht“ behandelt (S. 111 ff.), nennt als Ursachen für die wachsenden Akzeptanzschwierigkeiten die fortschreitende Säkularisierung und Pluralisierung in Geisteshaltung und Lebensgefühl, die Krise der Volkskirchen, die Schrumpfung des kerngemeindlichen Milieus (obwohl vergleichbare Milieus wie die Arbeiterbewegung wesentlich stärker und nachhaltiger erodiert seien). Den kulturkampf-ähnlichen Angriffen auf das kirchliche Arbeitsrecht fehle die nachhaltige juristische Begründung. Reichold weist in seiner sorgfältig fundierten, wohltuend nüchternen Studie nach, daß die verfassungsrechtlichen Grundlagen der in Deutschland besonders ausgeprägten Eigenheiten des kirchlichen Arbeitsrechts durch die aktuelle Rechtsprechung nicht in Frage gestellt werden. Der ‚schleichende’ Verfassungswandel, selbst wenn er durch europäische Einflüsse juristisch manifestiert werden sollte, ist bei den obersten deutschen Gerichten noch nicht angekommen (S. 113). Reichold belegt die These durch jüngere Entscheidungen des Bundesarbeitsgerichts und des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte. Er ordnet die Loyalitätsobliegenheiten der kirchlichen Mitarbeiter, die über die aufgabengerechte Erfüllung des besonderen kirchlichen Auftrags hinaus die glaubwürdige Erfüllung verlangen, ein in das allgemeine System der arbeitsrechtlichen Pflichten. Die Loyalitätsobliegenheiten unterschieden sich nicht wesentlich von den Anforderungen, welche die Parteien, Gewerkschaften und Medien in ihren Tendenzbetrieben an die Tendenzträger erheben. Schließlich suchten auch Gewerbebetriebe ihre Belegschaft über Ethik-Richtlinien auf „good compliance“ einzuschwören. Doch Diakonie und Caritas wollen nicht Gewinnstreben verbrämen, sondern darauf hinwirken, daß die religiöse Ethik die Dienstleistung effektiv prägt. Allein diese historisch erarbeitete Authentizität der religiös motivierten Dienstleistung rechtfertigt ihre verfassungsrechtliche Privilegierung (S. 121). Freilich bedürfen die Obliegenheiten der Abstufung und die Sanktion des Verstoßes, zumal die Kündigung, der Rechtfertigung durch eine gewissenhafte Abwägung der Umstände des Einzelfalls. Ein Faktor der Abwägung ist die Frage, ob der Verstoß (etwa der Kirchenaustritt oder die kirchenrechtswidrige Wiederverheiratung) diskret erfolgt oder öffentlich, vielleicht sogar als offensive Demonstration des Widerspruchs gegen die Kirche. Streitig ist der „dritte Weg“ des kirchlichen Arbeitsrechts, der Tarifverträge kirchlicher Einrichtungen mit Gewerkschaften sowie Streik und Aussperrung ausschließt. Das Bundesarbeitsgericht erkennt diesem Modell zwar den verfas-

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sungsrechtlichen Schutz zu, freilich nur unter dem Vorbehalt, daß Gewerkschaften in dieses Verfahren organisatorisch eingebunden würden und das Verhandlungsergebnis für den Dienstgeber als Mindestarbeitsbedingung verbindlich sei.12 Jedoch meint Reichold, daß das Verfahren der reinen Personenwahl für die arbeitsrechtlichen Kommissionen einer rechtlichen Prüfung standhalten werde, wenn es möglich wäre, bei den Wahlvorschlägen Kandidaten zu benennen, die eine bestimmte Gewerkschaft repräsentieren (S. 125). Praktisch üben die Gewerkschaften keinen Einfluß aus, zumal sie sich den Optionen, welche die Kirchen anbieten, verweigern. Reichold zeigt in einer schönen Parabel die Aspekte der Materie des kirchlichen Arbeitsrechts und die Relativität der Ansichten, worauf es eigentlich ankommt: Beim Bau des Münsters in Freiburg wurden drei Steinmetze nach ihrer Arbeit gefragt. Der Erste antwortete: ‚Ich behaue Steine.’ Der Zweite entgegnete: ‚Ich verdiene Geld.’ Der Dritte überlegte und sprach: ‚Ich baue am Dom.’ (S. 126). 3.  Beschneidung Das Landgericht Köln löste allgemeine Überraschung aus, als es 2012 feststellte, daß die rituelle Beschneidung eines vierjährigen muslimischen Jungen eine rechtswidrige Körperverletzung sei,13 weil sie mit der tiefeingewurzelten, Jahrtausende alten Rechtsauffassung brach, daß die Beschneidung eines Minderjährigen mit Zustimmung der Eltern ohne weiteres legal sei. Heute wird nicht weiter gefragt, ob die Beschneidung aus religiösen oder säkularen, aus hygienischen oder kosmetischen Gründen erfolgt. Immerhin hatte das Urteil diesem Umstand Rechnung getragen und den Täter wegen eines unvermeidbaren Verbotsirrtums freigesprochen. Doch völlig unvorhersehbar kam das Urteil nicht. Denn es konnte auf strafrechtliches Schrifttum zurückgreifen, das die traditionelle Selbstverständlichkeit längst in Frage gestellt und die Qualifikation der Beschneidung als Körperverletzung eingehend – wenngleich streitig – begründet hatte.14 Ein vergleichbarer Diskurs im Kreis der Verfassungsinterpreten war nicht vorausgegangen. Soweit die Kommentare zum Grundgesetz und die Standardwerke des Staatsrechts von dem Thema überhaupt Notiz genommen hatten, begnügten sie sich durchwegs mit einer kursorischen Bemerkung, daß die Beschneidung grundrechtskonform sei. Das hinderte einzelne Staatsrechtslehrer nicht daran, vom hohen Roß ihres Verfassungsverständnisses das Kölner Strafurteil und die diesem konvergierende Strafrechtslehre der juristischen Unbildung zu zeihen. Wittreck wirft ihnen vor, daß sie Jahre, wenn nicht Jahrzehnte hinter der neueren 12 

BAG, in: NZA 2011, S. 634. LG Köln, in: JZ 2012, S. 805 ff. 14  Zum Stand der Judikatur und der Literatur vor dem Kölner Urteil: Holm Putzke, Juristische Positionen zur religiösen Beschneidung, in: NJW 2008, S. 1568 ff. 13 

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Grundrechtsdogmatik zurückhingen (S. 78). Schwarz attestiert ihnen sogar einen erschreckenden verfassungsrechtlichen Analphabetismus (S. 155). Kyrill A. Schwarz, der über „Verfassungsrechtliche Fragen der aus religiösen Gründen gebotenen Beschneidung“ referiert (S. 155 ff.), hält ein kraftvolles, geradezu leidenschaftliches Plädoyer für den grundrechtlichen Schutz der jüdischzeremoniellen Beschneidung in den ersten Lebenstagen. Die Beschneidungsdebatte in Deutschland erscheint ihm als symptomatisch für den religiösen Diskurs in Deutschland, in dem die Anhänger einer säkularen Ordnung Religion oder religiös geprägtes Verhalten als archaischen Sondermüll des Transzendenten begriffen (S. 167). Zutreffend erkennt Schwarz eine mehrpolige grundrechtliche Spannungslage, in der die Koordinaten durch den Staat, durch die Eltern und durch die Religionsgemeinschaften bestimmt werden. Der Staat agiere in einer grundrechtlichen Doppelrolle, indem er in den abwehrrechtlichen Schutzbereich der Eltern und der Religionsgemeinschaften eingreife und gegenüber den Kindern seine grundrechtliche Schutzpflicht erfülle (S. 164). Er geht zu Recht davon aus, daß eine Berufung auf Freiheitsrechte (hier also die Religionsfreiheit) dem Privaten keine Eingriffsbefugnis in Rechte Dritter verleiht (S. 158 f.) – mit der einzigen Ausnahme des Elternrechts, das eine legitime Einwirkungsmacht gegenüber dem Kind verleiht (S. 165). Aus diesen richtigen Prämissen zieht Schwarz jedoch nicht durchgehend die richtigen und notwendigen Folgerungen. Geradezu im Widerspruch zu den Prämissen steht die These, daß der Akt der Beschneidung als solcher von den Grundrechtsgewährleistungen des Art. 4 GG erfaßt werde (S. 163). Denn hier liegt ein nicht nur grundrechtlicher, sondern auch ein real-operativer Eingriff in die körperliche Unversehrtheit des Kindes vor. Die religiöse Intention allein kann von sich heraus überhaupt nicht als Rechtfertigungstitel dienen. Vielmehr bedarf sie der Vermittlung über das Elternrecht, das allein, wenn überhaupt, das von Schwarz angepeilte Ergebnis tragen kann. Daher hat auch die Religionsgemeinschaft kein eigenständiges Verfügungsrecht über die Körperintegrität des Kindes (was Schwarz übersieht). Das Selbstverständnis der betreffenden Gemeinschaft, von dem er redet (S. 161), kann insoweit nicht zum Zuge kommen. Grundrechtliche Freiheit gewährleistet Selbstbestimmung, nicht aber Fremdbestimmung über andere. Das Elternrecht aber, die Ausnahme von der grundrechtlichen Regel, gibt Freiheit nur als treuhänderische Freiheit im Dienste des Kindeswohls. Ihr korrespondiert die Grundpflicht der Eltern zur verantwortlichen Ausübung, über die jedoch der Staat wacht. Im staatlichen Wächteramt bringt sich seine Schutzpflicht zur Geltung.15 Schwarz bemüht sich erst gar nicht, den gordischen Knoten von Abwehrrecht und Schutzpflicht zu entwirren. Er durchhaut ihn mit dem Argu15 Näher Josef Isensee, Das Grundrecht als Abwehrrecht und als staatliche Schutzpflicht, in: HStR IX, 32011, § 191 Rn. 38 ff.

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ment der Primär- und Vorrangkompetenz der Eltern, zumal in Fragen der religiösen Erziehung. Einen Grund, die im Wächteramt begründete Mißbrauchs- und Unvertretbarkeitskontrolle des Staates zu aktivieren, vermag er nicht zu erkennen (S 166). Die grundrechtliche Position des Kindes, zumal seine körperliche Unversehrtheit, immerhin verfassungsrechtliche Gründe, auf die sich das Kölner Strafurteil beruft, werden von Schwarz als bloße Tarnung abgetan (S. 155).16 Jedenfalls liegt sein (von niemandem bestrittener) Hinweis, daß es Sache der Eltern sei, den Kindern die religiösen und weltanschaulichen Überzeugungen zu vermitteln, die sie für richtig hielten (S. 166), neben der Sache, desgleichen die gute Absicht der Eltern, dem Kind mit der irreversiblen körperlichen Beeinträchtigung keinen dauerhaften Nachteil zuzufügen, sondern dem Kind den Weg in die Religionsgemeinschaft zu öffnen (S. 163). Auch die rhetorischen Wo-kämen-wir-hinFragen, wieso der Staat es zulasse, daß kleinen Kindern (gemeint wohl: in der Taufe) Wasser über den Kopf gegossen werde und ob das Gesundheitsamt Weihwasserbecken unter Hinweis auf Keimbelastungen trockenlegen dürfe (S. 164), enthalten keinen Lösungsvorschlag für die grundrechtliche Rechtfertigung der Beschneidung als Eingriff in die körperliche Unversehrtheit, des Kindes. Die Schutzpflicht des Staates wird gegen Null hinuntergeschraubt, wenn die Risiken der Operation für Schwarz nicht zählen und wenn er den Aufschub auf das Alter der Zustimmungsfähigkeit des Kindes als unzulässige Entscheidung des Staates über die Frist eines göttlichen Gebots verwirft (S. 175). Er äußert kein Bedenken, daß gemäß der neuen gesetzlichen Regelung des § 1631d Abs. 2 BGB besonders ausgebildete nichtärztliche Beschneider den Eingriff durchführen dürfen, und das, ohne daß die Erfordernisse der Anästhesie und der Hygiene gewährleistet sind. Die „Deutungshoheit“ der Religionsgemeinschaft und des Gläubigen müßte folglich auch das archaische Ritual decken, daß der Beschneider das Blut der Operationswunde mit dem Mund absaugt (vgl. S. 169 Anm. 2) oder – im Text nicht erwähnt – daß er die Vorhaut mit seinen Zähnen abbeißt oder, als Ersatz für eine Anästhesie lege artis, dem Säugling einen mit süßem Wein getränkten Schnuller verabreicht. Die Kinderärzte protestieren nicht ohne Grund gegen das neue Gesetz. Dennoch soll die Deutungshoheit ihre Grenzen finden in der Genitalverstümmelung von Frauen (S. 157), obgleich auch diese religiös motiviert sein könnte. Wäre auch ein Menschenopfer, wie einst Abraham es auf Geheiß Gottes zu erbringen bereit war, durch die Religionsfreiheit gerechtfertigt? Eine verallgemeinerungsfähige Grenze gibt Schwarz nicht an, wohl aber eine situationsbedingte: 16  Dagegen versucht Schwarz, das Strafurteil dadurch zu delegitimieren, daß er berichtet, die zuständige Oberstaatsanwältin sei mit dem Strafrechtler Putzke „gut befreundet“ gewesen, der die These von der Beschneidung als Körperverletzung im Schrifttum vertreten habe (S. 170).

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daß es um die Achtung vor dem Judentum gehe (S. 163 f., 171 f.) Er hält die Beschneidungslizenz für die ersten sechs Monate für ein Sonderrecht jüdischer Gemeinden, und das im Blick auf die deutsche Geschichte für legitim. Die Muslime, die in der Regel Jungen erst ab dem vierten Lebensjahr beschneiden, können sich nicht auf das Privileg berufen (S. 171). Doch haben nicht auch sie teil an der Religionsfreiheit und am Elternrecht? Leiden die Juristen, die Grundrechtsnormen nach verallgemeinerungsfähigen, objektiven Maßstäben interpretieren und die Grundrechte der nicht einsichts- und urteilsfähigen Kinder sowie die korrespondierenden Schutzpflichten des Staates einfordern, denn nun samt und sonders an dem erschreckenden verfassungsrechtlichen Analphabetismus, den Schwarz ihnen attestiert (S. 155)? 4.  Kirchensteuer Während alle sonstigen Autoren ein Kapitel des Staat-Kirchen-Verhältnisses als Sachthema behandeln, schildert Hartmut Zapp primär seinen persönlichen Kampf wider die Kirchensteuer im allgemeinen und wider die innerkirchlichen Sanktionen des Kirchenaustritts im besonderen („Römisch-katholisch ,im Geltungsbereich des Kirchensteuergesetzes‘“, S. 209 ff.). Seine Parole: Ceterum censeo, tributum ecclesiasticum teutonicum esse delendum (S. 222). Unausgesprochen hält der Freiburger Theologieprofessor für katholisches Kirchenrecht es aber auch mit Sir John Falstaff, daß der bessere Teil der Tapferkeit Vorsicht ist, wenn er seine Salven erst feuert, nachdem er den sicheren Unterstand des Emeritenstatus erreicht hat, wo er gefeit ist gegen die (heute freilich minimale) Gefahr einer Lehrbeanstandung. Mit der historischen Genese und der dogmatischen Begründung der Kirchensteuer, die ein Geschöpf des staatlichen, nicht des kirchlichen Rechts ist, hält sich Zapp erst gar nicht auf. Dennoch hängt die Plausibilität seiner Thesen ab von den Vorgaben des staatlichen Rechts. Denn die Kirche erhebt die Steuer nicht kraft eigener Kompetenz. Vielmehr ist sie vom Staat mit partieller Steuerhoheit beliehen. Die Kirchensteuer wird erhoben von den Mitgliedern eines kirchlichen Verbandes, dem er die Qualität der Körperschaft des öffentlichen Rechts zuerkannt hat. Der Staat behandelt die Personen als kirchensteuerpflichtig, die nach Kirchenrecht die Mitgliedschaft erworben haben. Insoweit knüpft er an das Kirchenrecht an, für die katholische Kirche an den Rechtsakt der Taufe. Dagegen regelt er von sich aus den Verlust der Mitgliedschaft durch die Möglichkeit des Kirchenaustritts, mit dem die Wirkungen der Mitgliedschaft für das staatliche Recht erlöschen. Der Staat kommt mit der Offerte des Kirchenaustritts seiner Schutzpflicht für die negative Religionsfreiheit des Einzelnen nach: er übt keinen Zwang, Leistungen für die Kirche zu erbringen, hält zu dieser die gebotene Distanz und wahrt so seine religiöse Neutralität auch in einem Bereich, in dem

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er mit ihr zusammenarbeitet. Mit dem Kirchenaustritt endet die Kirchensteuerpflicht. Das mag das Motiv sein, den Austritt zu erklären. Doch handelt es sich um die Folge der Erklärung, nicht um ihren Inhalt. Solange die Mitgliedschaft aus staatlicher Sicht besteht, kann der Einzelne die Kirchensteuer ebensowenig verweigern wie die Einkommens- und Umsatzsteuer. Die Austrittserklärung gegen über dem Standesamt oder dem Amtsgericht als solche tastet den innerkirchlichen Status des Einzelnen nicht, an. Doch ist es Sache der Kirche, von sich aus den Kirchenaustritt zu bewerten und in ihrem Bereich Folgerungen zu ziehen. Ecclesia vivit lege propria. Auch wenn die Taufe nach katholischem Kirchenrecht die irreversible Zugehörigkeit zur Kirche begründet, diese also durch den Kirchenaustritt nicht berührt wird, sind innerkirchliche Sanktionen damit nicht ausgeschlossen.17 Zapp kritisiert die deutschen Bischöfe, die den vor der zivilen Behörde erklärten Kirchenaustritt als Verstoß gegen die geistliche Pflicht, die Gemeinschaft mit der Kirche zu wahren, mit Kirchenstrafen ahnden, lange Zeit mit der Exkommunikation, seit 2006 – auf römischen Druck hin – „nur“ noch mit dem Ausschluß von den Sakramenten, von den kirchlichen Ämtern und dem kirchlichen Begräbnis. Laut Zapp fördert diese Regelung den falschen Eindruck, daß der Austritt aus der Körperschaft mehr sei als eine staatlich-bürokratische Angelegenheit und als bildeten die staatliche Körperschaft und die Glaubensgemeinschaft eine einzige Rechtsperson („Realidentität“). Die Kirchenmitgliedschaft beruhe aber auf der Taufe als „untilgbarem Prägemal“ (can. 849 CIC) und könne gar nicht aufgegeben werden. Im Ansatz richtig sieht Zapp den Kirchenaustritt in seiner Wirkung beschränkt, auf die staatskirchenrechtlich konstituierte kirchliche Körperschaft, in seinem Jargon: auf die staatliche Rechtsfigur der deutschbischöflich-katholischen Körperschaftskirche. Doch möchte er die (steuerfreie) Zugehörigkeit zur Glaubensgemeinschaft beibehalten, zur römisch-katholischen Rituskirche, deren theologisches und kirchenrechtliches Selbstverständnis er nach wie vor teile (S. 210 f.). Hier bewegt er sich in den Spuren eines prominenten Schriftstellers, der den Austritt aus der Körperschaft erklärte, doch dem corpus mysticum weiterhin treu bleiben wollte. Da der Codex Juris Canonici von den Gläubigen nur „Beiträge“ einfordere (can. 222 § 1 CIC), dürften die deutschen Bischöfe nicht die überhöhten Zwangsabgaben der Steuern verlangen. Zapp übersieht die Möglichkeit und die Notwendigkeit, abstrakt globale Regelungen zu konkretisieren und den nationalen 17 Dazu Stefan Mückl, Kirchliche Organisation, in: HStR VII, 32009, § 160 Rn. 25 ff., 30 ff.; Axel Frhr. v. Campenhausen/Heinrich de Wall, Staatskirchenrecht, 42006, S. 151 ff.; Heiner Marré, Das kirchliche Besteuerungsrecht, in: Joseph Listl/Dietrich Pirson (Hrsg.), Handbuch des Staatskirchenrechts der Bundesrepublik Deutschland, 1. Bd., 21994, S. 1101 (1120 ff.).

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Gegebenheiten anzupassen. Dagegen baut er auf den Leitgedanken der Schlußbestimmung des kirchlichen Gesetzbuchs, daß im Fall der Versetzung eines Pfarrers die kanonische Billigkeit zu wahren und das Heil der Seelen oberstes Gesetz sei (can. 1752 CIC). Es bedarf jedoch noch vieler, schwieriger Zwischenschritte, um aus dieser Maxime eine steuersparende Ekklesiologie abzuleiten. Nach seiner Emeritierung versuchte Zapp, seine (bereits publizierte) These in eigener Person auf staatliche Akzeptanz hin zu testen, indem er vor dem Standesamt den Austritt aus der Kirche erklärte und in dem einschlägigen Formular unter der Rubrik „Zugehörigkeit zu einer Kirche, Religionsgesellschaft oder Weltanschauungsgemeinschaft“ eintrug: „römisch-katholisch, Körperschaft des öffentlichen Rechts“ und darunter „Ich trete aus der angegebenen Religionsgesellschaft oder Weltanschauungsgemeinschaft aus“. Das Standesamt händigte ihm die Bescheinigung aus. Die verwaltungsgerichtliche Klage des Erzbistums Freiburg scheiterte in dritter und letzter Instanz vor dem Bundesverwaltungsgericht.18 Zapp hält das für einen Prozeßsieg. Doch er täuscht sich. Sein kirchenrechtliches Thema war überhaupt nicht Streitgegenstand. Streitig war nur, ob sein eigenwillig formulierter Eintrag als Zusatz oder als Bedingung im Sinne des Kirchensteuerrechts hätte gewertet und seine Erklärung als unwirksam hätte verworfen werden müssen. Das aber war nicht der Fall. Die Erklärung, so das Bundesverwaltungsgericht, enthielt keinen Zusatz und keine Bedingung. Sie bezog sich nicht lediglich auf eine von der Glaubensgemeinschaft separierte Körperschaft des öffentlichen Rechts (was eigentlich der Intention Zapps hätte entsprechen müssen), sondern auch auf die Religionsgesellschaft, in staatlicher Sicht also auf die katholische Kirche insgesamt, und zwar vorbehaltlos.19 Über die innerkirchlichen Folgen der nach staatlichem Recht gültigen Austrittserklärung brauchte das Gericht nicht zu entscheiden. Es hätte auch gar nicht entscheiden dürfen: aus prozessualen Gründen, weil sie nicht Thema der Klage, aus inhaltlichen Gründen, weil sie zu den eigenen, inneren Angelegenheiten der Kirche gehören, in die der säkulare Staat nicht intervenieren kann (Art 137 Abs. 3 WRV [Art. 140 GG]). Zwar stellte das Bundesverwaltungsgericht in einem obiter dictum fest, daß es die Mitgliedschaft in einer Glaubensgemeinschaft geben könne, ohne zugleich Mitglied in der Körperschaft des öffentlichen Rechts sein zu müssen, nämlich, wenn nach dem theologischen Selbstverständnis der jeweiligen Religionsgemeinschaft eine Unterscheidung von Glaubensgemeinschaft und Körperschaft möglich sei.20 Ob diese Möglichkeit sich realisiert, hängt jedoch von der Entscheidung der Religionsgemeinschaft ab, und nur von dieser. Die katholische Kirche realisiert sie nicht. 18 

BVerwG, in: NVwZ 2013, S. 64 ff. BVerwG, in: NVwZ 2013, S. 64 (68). 20  BVerwG, in: NVwZ 2013, S. 64 (57). 19 

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Zapp freut sich über seinen Sieg im prozessualen Schattenboxen. Stolz und ausführlich berichtet er über das Verfahren und seine Rezeption in den Medien samt deren Pannen und über eine dem braven Konradsblatt aufgezwungene Gegendarstellung. Hoffnungsfroh blickt er in eine Zukunft ohne Kirchensteuer und ohne Staatsleistungen an die Kirchen. 5.  Islam Vor drei Jahrzehnten wäre die Erwartung begründet gewesen, daß der Religionsimport des Islam sich in die vorgegebenen Strukturen der Verfassung, wie sie sich der herrschenden Lehre und Judikatur darstellte, fügen werde und daß etwaige Konflikte sich mit den konventionellen Mitteln der Interpretation würden lösen lassen. Unter diesen Auspizien war zu erwarten, daß die individuelle und die korporative Religionsfreiheit sogleich in vollem Umfang und ohne jedwede Modifikation den Muslimen zukomme, nicht dagegen ohne weiteres die Institutionen wie der Religionsunterricht, die theologischen Fakultäten oder der Körperschaftsstatus, die eine konsistente, repräsentative, verantwortungsfähige Religionsgemeinschaft voraussetzen, die dem Islam in Deutschland zunächst noch abgeht, und abzuwarten, bis er eine solche Gemeinschaft herstellt. Doch heute zielt der Trend in die Gegenrichtung: nämlich dahin, einerseits dem Islam tunlichst schon heute alle Institutionen wie Religionsunterricht und theologische Fakultäten zu öffnen, andererseits das Grundrecht der Religionsfreiheit für alle restriktiv zu handhaben, um Konflikte wie den um das Kopftuch der Lehrerin zu vermeiden. Die Sachlage hat sich nicht geändert, wohl aber deren politische Wahrnehmung und rechtliche Interpretation. Die Ursachen liegen nicht im Islam, sondern in der deutschen Integrationspolitik und in einer sich mit dieser verbündenden Doktrin. Die Integrationspolitik legt es darauf an, die Institutionen umzufunktionieren und die Offerten an die Religionsgemeinschaften, wie sie sind, zu benutzen als Instrumente zur Schaffung einer Religionsgemeinschaft, wie der Staat sie gern haben möchte: einen Euro-Islam, der sich der westlichen Lebensart anpaßt. Zu ungeduldig, um abzuwarten, ob ein solcher von selbst heranwächst, will der Staat die Sache in die eigene Hand nehmen und die Entwicklung beschleunigen. Er erzeugt damit zusätzliche Zwietracht unter den ohnehin vielfach gespaltenen islamischen Gruppen, die keine homogene Einheit bilden. Überdies nimmt er Partei in dem innerreligiösen Konflikt zwischen den mehr liberalen und den mehr orthodoxen Richtungen und überschreitet die Grenze, die ihm durch das Prinzip der Säkularität gezogen wird. Den neuen Trend (jedoch keineswegs alle seine Motive) repräsentiert Stefan Muckel in seinem Referat über „Islam und Religionsverfassungsrecht“ (S. 133 ff.). Er ist der optimistischen Auffassung, das deutsche Religionsverfassungsrecht sei

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imstande, Rechtsprobleme zu lösen, die sich aus der religiösen Zugehörigkeit von Menschen zum Islam – gleich welcher Richtung – ergäben (S. 133), und stützt sich auf die Grundsätze der Säkularität und der religiösen Neutralität des Staates, auf die religionsrechtliche Parität sowie auf die Religionsfreiheit. Die Neutralität rechtfertige den Kruzifix-Beschluß21 wie das Kopftuchurteil des Bundesverfassungsgerichts22 und gebiete, daß, wenn der muslimischen Lehrerin das Kopftuch verboten werde, dann auch der christlichen Lehrerin das Ordensgewand verboten werden müsse (S. 134 f.). Muckel unterstellt, daß die Muslime in Deutschland an den Gewährleistungen des Religionsverfassungsrechts (Verträge, Religionsunterricht, Körperschaftsausstattung) teilhaben möchten (S. 138 f.), bleibt aber den Beleg schuldig. Er räumt auch den Zweifel nicht aus, ob diese Teilhabe tatsächlich spontaner Wunsch der Muslime ist oder nur Wunsch deutscher Integrationspolitiker, vielleicht auch nur machtpolitische Begehrlichkeit der türkischen Regierung, über Tochterorganisationen einen Fuß in das deutsche System zu setzen. Immerhin werden muslimische Verbände heute als Vertragspartner des Staates anerkannt, so in Hamburg und Bremen. Die Verträge folgen dem Muster von Kirchenverträgen. Da der Hamburger Vertrag davon ausgeht, daß drei muslimische Verbände (DITIB, SCHURA, VIKZ) Religionsgemeinschaften seien, folgert Muckel – im kühnen Schluß vom Sollen auf das Sein –, daß sie es wirklich sind, ohne zu prüfen, was an realer, aber auch an religiöser Substanz hinter den Verbänden steht, und noch nicht einmal anzumerken, daß DITIB, der Dachverband türkisch-islamischer Moscheenvereine, vom türkischen Religionsministerium gesteuert wird, also das Herrschaftsinstrument eines ausländischen Staates ist. Eine Religionsgemeinschaft im Sinne des Grundgesetzes sieht anders aus. Muckel kritisiert das Beiräte-Modell des Landes Nordrhein-Westfalen, das, den unzulänglichen Voraussetzungen Rechnung tragend, eine Notlösung bastelt, indes er die Länder lobt, die diese Voraussetzungen fingieren (S. 139 ff.). Er beobachtet die neuere Tendenz der Verwaltung und der Gerichte, den staatlichen Bildungs- und Erziehungsauftrag gegenüber widerstrebenden muslimischen Eltern durchzusetzen, so die Teilnahme am koedukativen Schwimmunterricht, und er sieht die Schwierigkeiten, die das Bundesverfassungsgericht ausgelöst hat mit seiner Qualifikation der Religionsfreiheit als vorbehaltloses Grundrecht, das lediglich verfassungsimmanente Schranken zuläßt und damit unberechenbare Abwägungen nach sich zieht. Muckel umgeht dieses Dilemma, indem er – an eine neuere Lehre anschließend – den ausdrücklichen Gesetzesvorbehalt im grundgesetzlich fortgeltenden Weimarer Kirchenartikel des Art. 136 Abs. 1 WRV reaktiviert: „Die bürgerlichen und staatsbürgerlichen Rechte und Pflichten werden durch die Ausübung der Religionsfreiheit weder bedingt noch beschränkt.“ Das 21  22 

BVerfGE 93, 1 (15 ff.). BVerfGE 108, 282 (297 ff.).

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ist in der Tat der Schlüssel, um das Schrankenproblem der Religionsfreiheit zu lösen. Der Vorschlag Muckels überzeugt. Ich schließe mich dieser Position an und verabschiede mich von meiner bisherigen Auffassung, die der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts verhaftet war. Allerdings führt die Anwendung des neu entdeckten alten Maßstabs nach erster Einschätzung nicht dazu, daß die prominenten Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts in ihren Ergebnissen korrigiert werden müssen. Wohl aber entfallen die interpretatorischen Verrenkungen, um die Ergebnisse zu begründen. So muß die allgemeine Schulpflicht, mit ihr die Pflicht zur Teilnahme am Sexualkunde- und Sportunterricht, nicht mehr mühsam, weitherholend aus der staatlichen Schulaufsicht (Art. 7 Abs. 1 GG), die Steuerpflicht nicht aus den bundesstaatlichen Steuerkompetenzen (Art. 105 ff. GG), die Eidespflicht nicht aus den Kompetenz- und Verfahrensvorschriften der Gerichtsbarkeit abgeleitet werden. Dem Grundgesetz braucht nicht weiterhin unterlegt zu werden, daß es ein vollständiges Programm der Staatsziele und Staatsaufgaben enthalte mit der Folge, daß seine thematischen Lücken mit dem hochprojizierten Inhalt von Landesverfassungen, einfachem Recht und verfassungstheoretischen Postulaten gestopft werden müssen. Die etwaige Sorge, daß die „bürgerlichen und staatsbürgerlichen Pflichten“ zur Blanko-Ermächtigung geraten könnten, die Religionsfreiheit einzuschränken, wäre unbegründet: denn es handelt sich um die allgemeinen, religionsindifferenten Pflichten der (Staats-) Bürger des säkularen Rechtsstaats, der die Grundrechte zu achten und zu schützen hat. Ein grundrechtliches Korrektiv für einen denkbaren Grenzfall zwischen der sittlichen und religiösen Überzeugung des Einzelnen und der allgemein (staats-)bürgerlichen Pflicht steht ohnehin noch bereit: die Gewissensfreiheit, die von der Schranke des Art. 136 Abs. 1 WRV (Art. 140 GG) nicht erfaßt wird. Man fragt sich, warum die einfache naheliegende Lösung so lange hat auf sich warten lassen. Doch die herkömmliche Auslegung geht von der abschließenden Fassung der Religionsfreiheit, wie sie im Grundrechtsteil des Grundgesetzes steht (Art. 4), aus und greift auf die Weimarer Kirchenartikel des Art. 140 GG nur zurück, soweit sie außergrundrechtliche Regelungen (Körperschaft, Staatsleistungen etc.) enthalten, und vernachlässigt sie, soweit sie sich thematisch mit dem Freiheitsrecht des Art. 4 GG wie auch dem Gleichheitsrecht des Art. 3 Abs. 3 GG berühren. Die traditionelle Position wird verteidigt von Wittreck (S. 94 ff.). Er stützt sich auf das Argument, daß Art. 136 Abs. 1 WRV ein Gleichheitsrecht, als solches für das Freiheitsrecht der Religionsausübung irrelevant sei. Doch Art. 136 Abs. 1 WRV gewährleistet zwar Gleichheit, doch die Gleichheit in den staatsbürgerlichen Rechten und Pflichten gegenüber der (legitimen) Ungleichheit in der Ausübung der Religion. Wenn das Grundgesetz den vormaligen Schrankenvorbehalt des Art. 135 S. 3 WRV, daß die allgemeinen Staatsgesetze von der Religions-

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ausübung unberührt bleiben, nicht übernommen hat, so bleibt das folgenlos, weil dieser sich inhaltlich mit Art. 136 Abs. 1 WRV deckte.23 Wittreck rutscht, ohne es zu merken, vom Thema der bürgerlichen und staatsbürgerlichen Pflichten in das Thema der „allgemeinen Gesetze“, die sich auf die Meinungs- und Medienfreiheit beziehen (Art. 5 Abs. 2 GG), und sorgt sich, die allgemeinen Gesetze könnten einen wahlweise als ‚westlich‘ oder ‚abendländisch‘ zu bezeichnenden Bias in die Entscheidung hineintragen, wo die Grenzen der Religionsfreiheit verlaufen, zumal mit der Frage, ob ein Gesetz sich „gezielt“ gegen die Religion oder religiöse Praktiken richte (S. 97). Die Sorge entzündet sich an der falschen Norm. Gleichwohl fällt auf, daß die Begriffe „westlich“ oder „abendländisch“ als solche schon perhorresziert und als Abirrung vom wahren Grundrechtsweg denunziert werden. Von der Schranke springt Wittreck auf den Schutzbereich und sucht die Lösung (doch wohl des Schrankenproblems) im Rekurs auf den mißverständnisträchtigen Topos des Selbstverständnisses,24 der aus dem Grundrecht des Individuums, seine Religionsfreiheit innerhalb des mit objektiven, allgemeinen Begriffen umschriebenen Schutzbereichs auszuüben, die Freiheit ableitet, den Schutzbereich selbst zu definieren. In der Definitionsanarchie, die damit entbunden wird, geht gerade das verloren, was Wittreck eigentlich absichern möchte; die grundrechtliche Gleichheit. Nun definiert jeder für sich, am Ende aber wohl der Mullah oder das türkische Religionsministerium, ob das Tragen des Kopftuchs, des Tschador, der Burka oder des Burkini Religionsausübung ist oder bloß kulturelles Brauchtum, Folklore, Mode, Lebensstil. Die diffuse Furcht, eine Grundrechtsinterpretation könne „westlich“ oder „abendländisch“ ausfallen, also dem Kulturkreis entsprechen, in dem die Religionsfreiheit geboren und aufgewachsen ist, müßte, konsequent weitergedacht, das Grundgesetz dem Religions- und Freiheitsverständnis der Scharia öffnen. Wenn das Selbstverständnis über Wahl, Inhalt und Umfang der Grundrechtstatbestände entscheidet, läßt sich die Unterscheidung zwischen Staat und Religion, die den geschlossen muslimischen Ländern des Orients fremd ist, nach Belieben des Einzelnen und nach Interesse von Gruppen überspringen und jedwede politische Aktivität als Religionsausübung deklarieren. Die begrifflichen Kriterien der Religionsfreiheit sind nun einmal – horribile dictu – „westlich“, „abendländisch“, ärger noch: ihrer letztlichen Herkunft nach christlich.

23  Gerhard Anschütz, Die Verfassung des Deutschen Reichs, 141933, Art. 136 Anm. 1, S. 623. 24 Dazu Josef Isensee, Wer definiert die Freiheitsrechte?, 1980; ders. Das Grundrecht als Abwehrrecht und als staatliche Schutzpflicht, in: HStR IX, 32011, § 191 Rn. 73 ff.; Stefan Muckel, Religiöse Freiheit und staatliche Letztentscheidung, 1997, S. 61 ff., 121 ff.

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VI.  Das Sammelwerk Das Sammelwerk deckt ein weites Themenspektrum ab. Die zehn Beiträge, die, wie bei Sammelwerken unvermeidbar, von unterschiedlichem intellektuellem Karat sind, informieren über den heutigen Stand des Staat-Kirchen-Verhältnisses und bieten Momentaufnahmen seiner Widersprüche und Prognosen über seine Entwicklung. Sie zeigen und begründen die Position des jeweiligen Referenten. Sie weisen auf die aktuellen Probleme hin, doch manches Referat ist auch seinerseits Teil des Problems, um dessen Lösung es sich abmüht. Die Cusaner hatten mit ihrem Tagungsprogramm eine glückliche Hand. In den vorzüglichen, knappen Diskussionsberichten kommen die aktuellen und ehemaligen Stipendiaten selber zu Wort in Anfragen, die den Referenten zu nützlichen Klarstellungen bewegen, und in Einwänden, die nicht alle widerlegt werden. Die Form des Diskussionsberichts ist übrigens der wörtlichen Wiedergabe der Diskussionsbeiträge vorzuziehen. Lob verdient das Sachregister, eine Ausnahme in Tagungsbänden, die Schule machen sollte.

Cooperatio ad malum? Cooperatio ad malum?

Das moralische Risiko der Zusammenarbeit von Kirche und Staat* Cooperatio ad malum? Das moralische Risiko der Zusammenarbeit von Kirche und Staat

I.  Die moraltheologische Figur der cooperatio ad malum 1.  Exempel: Beratung in Schwangerschaftskonflikten Der deutsche Gesetzgeber stürzt die katholische Kirche in ein Dilemma, indem er ihr anbietet, sich an der Schwangerschaftskonfliktberatung zu beteiligen. Die Beratung soll sich von dem Bemühen leiten lassen, die Frau zur Fortsetzung der Schwangerschaft zu ermutigen, und ihr helfen, eine verantwortliche und gewissenhafte Entscheidung zu treffen, ob sie das Kind austrägt oder nicht.1 Die Schwangere, die innerhalb der ersten zwölf Wochen den Abbruch der Schwangerschaft verlangt, bleibt straflos, wenn sie dem Arzt durch eine Bescheinigung nachweist, daß sie sich mindestens drei Tage vor dem Eingriff hat beraten lassen.2 Dieses Beratungskonzept hat die vormalige Strafdrohung abgelöst.3 Der Kirche bietet sich hier die Chance, Einfluß auf die Schwangere zu gewinnen, das ungeborene Kind anzunehmen, und so Leben zu schützen. Das eben ist auch die Intention des Gesetzes.4 Wenn die Kirche das Angebot annimmt, arbeitet sie mit dem Staat zusammen: sie in Erfüllung ihres karitativen Auftrags, er in Erfüllung seiner grundrechtlichen Schutzpflicht für das Leben.5 Die Kirche gewinnt die Möglichkeit, mit Hilfe des staatlichen Systems ihrem Auftrag weiter und wirksamer zu dienen, als sie es mit ihren eigenen Mitteln vermöchte. Der Staat bindet * Überarbeitete Fassung der Erstveröffentlichung in: Michael Rosenberger/Walter Schaupp (Hrsg.), Ein Pakt mit dem Bösen?, Die moraltheologische Lehre der „cooperatio ad malum“ und ihre Bedeutung heute, 2015, S. 125 – 151. 1 

§ 5 Schwangerschaftskonfliktgesetz; BVerfGE 88, 203 (210 ff., 264 ff.). §§ 218 a, 219 Abs. 1 S. 1 StGB. Zu den verfassungsrechtlichen Prämissen BVerfGE 88, 203 (264 ff., 281 ff.). 3  Die vormalige Rechtsmeinung, daß die Strafdrohung von Verfassungs wegen geboten sei: BVerfGE 39, 1 (45 ff.). 4  § 219 Abs. 1 StGB; § 5 Abs. 1 S. 4 Schwangerschaftskonfliktgesetz. 5  Zur staatlichen Schutzpflicht: BVerfGE 88, 203 (251 ff.). Vgl. auch BVerfGE 39, 1 (36 ff.); Ralf Müller-Terpitz, Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit, in: Josef Isensee/Paul Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland (= HStR), Band VII, 32009, § 147 Rn. 71 ff. 2 

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die Kirche in sein Beratungssystem ein und entlastet sich von eigenen Vorkehrungen, wenn die Kirche ihre karitative Kompetenz bereitstellt. Geht die Kirche auf das staatliche Angebot ein, so erfüllt sie mit der Erteilung des Beratungsscheins die rechtliche Bedingung der Möglichkeit einer straflosen Abtreibung. Sie fürchtet, in eine Handlung hineingezogen zu werden, die ihr als verwerflich gilt,6 und in Widerspruch zu ihrem öffentlichen Einsatz für das ungeborene Leben zu geraten, der geradezu ein katholisches Markenzeichen im sozialethischen Diskurs geworden ist. Aus der Sicht des staatlichen Rechts erscheint die kirchliche Sorge freilich unbegründet. Das Bundesverfassungsgericht hat in seiner Leitentscheidung, die den Weg von der Strafdrohung zur Beratungspflicht geöffnet hat, in juridischer Deutlichkeit erklärt, daß die Rücknahme der Strafe nicht die rechtliche Billigung des Schwangerschaftsabbruchs bedeute. Dieser soll für die ganze Dauer der Schwangerschaft grundsätzlich als Unrecht angesehen werden und demgemäß rechtlich verboten sein, auch soweit die strafrechtliche Ahndung durch das Beratungskonzept abgelöst wird.7 Der Beratungsschein erteilt aus dieser Sicht keine „Tötungslizenz“, wie es zuweilen polemisch heißt. Seine Vorlage führt zu einer Einschränkung des Straftatbestandes, nicht aber zur Rechtfertigung der Tat. Die Frau, die nach der Beratung die Schwangerschaft abbricht, nimmt eine, wenn auch straffreie, so doch von der Rechtsordnung nicht erlaubte Handlung vor. Die Letztverantwortung für den Abbruch liegt bei der Frau, unbeschadet der Verantwortung des familiären und weiteren sozialen Umfeldes.8 Das alles müßte eigentlich die an der Beratung Mitwirkenden von Eigenverantwortung entlasten. Jedoch hat das Bundesverfassungsgericht nicht die Kraft zur Konsequenz. Es unterläuft seine eigenen Prämissen, vollends unterläuft sie der Gesetzgeber.9 Die Beratung, die dem Schutz des ungeborenen Lebens dienen soll, ist gleichwohl „ergebnisoffen“ zu führen, ohne zu belehren10 – doch wie soll das gehen? Die juridischen Vorbehalte und die feinsinnigen Distinktionen haben das Rechtsbewußtsein der Allgemeinheit nicht erreicht. Hier hat sich vielmehr die robuste Vorstellung eingenistet, daß der „Schein“ das Recht auf Abtreibung vermittele. Unter diesen Bedingungen fällt es der Kirche schwer, Distanz zu dem als Möglichkeit drohenden Schwangerschaftsabbruch zu halten, wenn sie es hinnimmt, 6 

Vgl. Can. 1398 CIC/1983; Katechismus der Katholischen Kirche, 1993, n. 2270 ff. BVerfGE 88, 203 (255, 270, 273). 8  BVerfGE 88, 202 (270, 281). 9  BVerfGE 88, 203 (279, 295, 312) – Lohnfortzahlung, Beihilfe, Verbot der Nothilfe; BVerfGE 96, 375 (399 ff.) – „Kind als Schaden“; BVerfGE 98, 265 – Grundrechtsschutz für den Abtreibungsarzt. – Kritik Christian Hillgruber, Verfassungsrecht zwischen normativem Anspruch und politischer Wirklichkeit, in: VVDStRL 67 (2008), S. 7 (26 ff.); Müller-Terpitz (Fn. 5), § 147 Rn. 93 f. 10  § 5 Abs. 1 Schwangerschaftskonfliktgesetz. 7 

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daß in ihrem Namen der „Schein“ ausgestellt wird. Durch ihre Beteiligung billigt sie das System zumindest konkludent. Das ist auch dann der Fall, wenn ihr tatsächlicher Einfluß gering ist. Sie trägt zu seiner Legitimation bei, mag sie noch so deutliche Vorbehalte anmelden. Sie kann nicht gleichzeitig mitmachen und sich distanzieren, ohne ihre Glaubwürdigkeit aufs Spiel zu setzen. Doch wenn sie die Offerte ausschlägt, vertut sie die Möglichkeit, ungeborenes Leben zu retten. Sie zieht sich den Vorwurf zu, aus Sorge, sich die Hände schmutzig zu machen, im Grenzfall den Einsatz zu scheuen. Sie umgeht das Dilemma nicht dadurch, daß sie außerhalb des staatlichen Systems eigene Beratungsstellen bereitstellt, die den prekären „Schein“ nicht ausstellen – aber darum auch nicht die kritischen Fälle erreicht, die um des „Scheins“ willen kommen. Wie immer die Kirche entscheidet, für Annahme oder für Ablehnung des staatlichen Angebots, sie zieht sich moralische Blessuren zu. Die Offerte des Staates wirkt denn auch auf die katholische Kirche in Deutschland wie der Apfel der Eris. Rom versuchte, den gordischen Knoten mit dem Schwertstreich der Weisung zu zerschneiden, aus dem Beratungssystem auszuscheiden. Doch der Befehl von höchster Stelle führte die Einheit nicht herbei. Vielmehr löste er das deutsche Beratungsschisma aus: daß neben dem amtskirchlichen Angebot einer kircheneigenen Beratung ohne „Schein“ sich die spontankirchliche Mitwirkung im staatlichen „Schein“-System (donum vitae) etabliert hat. 2.  Tatbestand Die Beteiligung der Kirche am staatlichen Beratungssystem erfüllt den Tatbestand der cooperatio ad malum, wie ihn die katholische Moraltheologie des 17. und 18. Jahrhunderts erfaßt hat: die „Mitwirkung zur Sünde“ – gemeint: die Erfüllung kirchlicher Aufgaben mit Hilfe kirchlich mißbilligter Mittel und auf kirchlich mißbilligten Wegen.11 Die Formel enthält dem ersten Anschein nach 11  Locus classicus: Alphons Maria de Ligorio, Theologia Moralis (11748), Lib. II, Tract. III, Dubium V, De scandalo, Art. III, n. 59 ff.: „an liceat alterius peccato naturaliter cooperari“ (Ausgabe Rom 1905, 1. Bd., S. 355 ff.). In dieser Tradition: Joseph Mausbach/ Gustav Ermecke, Katholische Moraltheologie, Bd. 1, 91959, S. 356 ff. Aus dem jüngeren Schrifttum: Franz Böckle, Fundamentalmoral, 31981, S. 311 ff.; Wilhelm Korff, Kann der Mensch glücken?, 1985, S. 303 ff., 321 ff.; Klaus Demmer, Bedrängte Freiheit, 2010, S. 72 ff., 79 ff. Vgl. auch Dietmar Mieth, Christliche Überzeugung und gesellschaftlicher Kompromiß, in: Wilhelm Breuning et alii (Hrsg.), Der ethische Kompromiß, 1984, S. 113 (118 ff.); Michael Rosenberger, „Tempelreinigung der deutschen Kirche?“, in: Stimmen der Zeit, 231. Band, 2013, S. 75 – 84 (S. 77 Beispiel der Schwangerenberatung); Stephan Ernst, Die Entwicklung der Lehre von der cooperatio in den moraltheologischen Lehrbüchern des 17. und 18. Jahrhunderts, in: Michael Rosenberger/Walter Schaupp (Hrsg.), Ein Pakt mit dem Bösen?, 2015, S. 21 ff.; Alfonso von Amarante, Die cooperatio in Denken und Werk des heiligen Alfons M. von Liguori, ebd., S. 45 ff.; Werner Wolbert, Kompromisse und Komplizenschaft, ebd. S.59 ff.

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einen Widerspruch zur Vaterunser-Bitte „sed libera nos a malo“. Hier die Abwendung vom Bösen, dort die Zuwendung zum Bösen. Ein latenter Widerspruch, vielleicht auch ein Anflug von moralischer Ironie. Was böse ist, was nicht, entscheidet sich nach kirchlichem Maßstab. Überhaupt wird der Tatbestand aus der Perspektive der Kirche gesehen. Freilich muß diese damit rechnen, daß sie unter der Beobachtung Dritter steht und diese prüfen, ob ihr Handeln ihren eigenen Maßstäben gerecht wird. a)  Partner Der hergebrachte Tatbestand bezieht sich auf den praktischen Umgang der Kirche mit der Welt. Als Akteure kommen alle in Betracht, die für die Kirche handeln oder deren Handeln sie sich zurechnen muß: die „Amtskirche“ in all ihren Gliederungen, Institutionen wie Personen, Amtsträger wie Laien. Als ihre Partner kommen alle nichtkirchlichen Akteure in Betracht, soweit sie in der Lage sind, die Verwirklichung der kirchlichen Aufgaben zu ermöglichen oder zu fördern. Diese Macht liegt in weitem Umfang beim Staat. Vornehmlich kommt er als Partner in Betracht, und das nicht etwa, weil er besonders kirchenfreundlich wäre, sondern deshalb, weil er die Macht hat, die äußeren Bedingungen des kirchlichen Wirkens herzustellen. Es kommt also auf die reale Macht des Partners an, nicht auf seine sittlichen oder religiösen Qualitäten. Die Kirche findet ihn in der Realität vor und hat keine Wahl, wenn sie darauf angewiesen ist, sich mit ihm zu arrangieren. Sie muß ihn nehmen wie er ist. b)  Cooperatio Cooperatio ist der Gegenbegriff zum Für-sich-Sein der Kirche, zur Abwehr der Mächte dieser Welt, zu Berührungsscheu und Abschottung gegen deren Einfluß. Übergänge zur cooperatio liegen in der Öffnung nach außen und im Dialog. Die cooperatio selbst aber bedeutet gegenseitige Annahme als Partner und gemeinsames Handeln. In Betracht kommt nur planvolles, eigenverantwortliches Handeln. Außerhalb verbleiben unbeherrschbare Umstände, entfernte Kausalzusammenhänge, unvorhersehbare Folgen. Die Einsicht, daß alles mit allem zusammenhängt, reicht nicht aus, um eine Handlungsverantwortung zu begründen.12 Cooperatio setzt Freiwilligkeit auf beiden Seiten voraus. Eine Zwangslage, die keine Entscheidung freigibt, fällt nicht unter den Tatbestand, auch nicht der Fall des Notstandes. Die 12  Die scholastische Tradition entwickelt Kriterien einer differenzierten, abgestuften Zurechnung nach positiver oder negativer, formeller oder materieller, beabsichtigter oder nur faktischer Mitwirkung, nach größerer oder geringerer Nähe: Alphons (Fn. 11), Dubium V, Articulus I, n. 43 ff. – S. 336 ff.; Mausbach/Ermecke (Fn. 11), S.358 ff.; Böckle (Fn. 11), S. 311 ff.; Rosenberger (Fn. 11), S. 77 ff.

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Kirche muß die Wahl haben, ob sie sich auf ein weltliches Medium einläßt oder davon absieht. Eine Kooperation läge nicht vor, wenn der Staat das kirchliche Krankenhaus oder die kirchliche Privatschule für seine Zwecke einspannte, die der Kirche inkompatibel wären. Von Zusammenarbeit kann aber auch dann nicht die Rede sein, wenn die Kirche sich gegen das staatliche Recht auflehnt und zivilen oder militanten Widerstand leistet, gleich ob dieser legitim ist oder nicht, wenn sie etwa den Vollzug einer Abschiebungsverfügung vereitelt, indem sie illegalen Zuwanderern „Kirchenasyl“ gewährt, unter fälschlicher Berufung auf die Religionsfreiheit und auf ein längst obsoletes mittelalterliches Rechtsinstitut, im offenen Widerspruch zur staatlichen Gebietshoheit und zum rechtsstaatlichen Verwaltungsverfahren. Dagegen handelt es sich um echte cooperatio, wenn Staat und Kirche sich abstimmen, wie sie die Unterbringung und Versorgung von Flüchtlingen arbeitsteilig bewerkstelligen. In Deutschland wirken Kirche und Staat zusammen im Dienst für eine gemeinsame Sache, etwa Jugenderziehung, Krankendienst, Gefängnisseelsorge. Die Ziele und Motive der Partner brauchen sich nicht zu decken. Beide Seiten erbringen arbeitsteilige Leistungen, die sich auf das Programm wie auf die Ausführung beziehen können. Doch wie Programm und Ausführung verteilt werden, hängt von der jeweiligen Materie ab. Im Religionsunterricht obliegen der Kirche die Bestimmung des Inhalts und die Auswahl des Lehrpersonals, dem Staat der pädagogische Standard, die schulorganisatorischen Rahmenbedingungen, die Finanzierung. Bei der Kirchensteuer kommt der Kirche nur die Ertragshoheit zu, indes die Gesetzgebungs- und die Verwaltungshoheit im Wesentlichen beim Staat verbleiben. Das alles ist legitime Zusammenarbeit, nicht aber cooperatio ad malum. c)  … ad malum Der Tatbestand der cooperatio ad malum setzt ein moralisches Gefälle voraus zwischen dem ethischen Anspruch, den die Kirche an sich selber und an andere stellt, und den ethischen wie rechtlichen Standards des säkularen Umfeldes. Die kirchliche Position ist nach ihrem Selbstverständnis die höhere. Deshalb riskiert sie, wenn sie sich auf eine Kooperation „nach unten“ einläßt, die Senkung des Niveaus oder den Absturz. Die Sorge vor diesem Risiko macht die Pointe der moraltheologischen Figur aus. Das kirchliche Selbstverständnis wird nicht notwendig vom staatlichen Partner geteilt, auch nicht vom unbeteiligten Beobachter. Die Frage, wie sich Moral nach ihrer Höhe messen läßt, etwa nach Strenge, Dichte, Verallgemeinerungsfähigkeit, nach humanitärer Substanz, nach dem Grad an Nächstenliebe, stehe dahin. Jedenfalls sei aus Gründen der Vereinfachung unterstellt, daß die Kategorie der Höhe hier anwendbar und daß die Höhe abstufbar sei. Nicht im Blickfeld der hergebrachten Moraltheologie liegt die Konstellation, daß die rechtlichen Standards des Staates höher liegen als die der Kirche, so in

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Stellung und Behandlung nichtehelicher Kinder. Von der cooperatio ad malum zu unterscheiden ist die cooperatio in malo: daß die Kirche sich an kriminellen Geschäften beteiligt, die Vatikanbank mit der Mafia in der Geldwäsche zusammenarbeitet. Die Kirche begibt sich noch nicht in die Problemzone, wenn sie regulär am allgemeinen rechtlichen und wirtschaftlichen Verkehr teilnimmt,13 wohl aber wenn sie sich, um ihren (an sich legitimen) Finanzbedarf zu decken, der Mittel bedient, die, wenn auch nicht notwendig dem staatlichen Recht, so doch ihren eigenen Moral- und Soziallehren widersprechen. Ein malum kann schon in der Person dessen liegen, mit der sich die Kirche auf Verhandlungen einläßt, ohne daß die Sache, um die es geht, verfänglich wäre. Hier muß freilich differenziert werden. Die Kirche ist nicht selten durch die Umstände genötigt, sich um einen modus vivendi mit Regimen zu bemühen, die religionsfeindlich sind und allen Geboten der Menschenrechte spotten. Die Kirche macht sich nicht mit ihnen gemein, und sie identifiziert sich mit ihnen nicht auf ganzer Linie, wenn sie sich mit ihnen in einer bestimmten Frage verständigt. Ein pragmatischer Ausgleich ist keine Generalabsolution. Die übliche „Freundschaftsklausel“ eines Konkordats betrifft das gute Verfahren, Meinungsverschiedenheiten zu lösen. Aber sie hebt die notwendige Distanz der Partner nicht auf und verwehrt nicht Kritik. Papst Pius XI. rechtfertigte die Kontakte mit Mussolini, Stalin und Hitler: „Wenn es sich darum handeln würde, auch nur eine einzige Seele zu retten, einen größeren Schaden von den Seelen abzuwenden, so würden Wir den Mut aufbringen, sogar mit dem Teufel in Person zu verhandeln.“14 Doch der Pakt mit dem Teufel gerät dem menschlichen Partner zum Verhängnis, der leichtsinnig an dessen Kreditwürdigkeit und Fairneß glaubt, wie auch dem, der, sich selbst überschätzend, meint, er könne ihn überlisten. Das Reichskonkordat, das Papst Pius XI. mit dem Deutschen Reich kurz nach Hitlers Machtergreifung schloß, bildet ein prekäres Beispiel. Angesichts des sich abzeichnenden Untergangs der liberalen Demokratie versuchte er, für die katholische Kirche zu retten, was vermeintlich zu retten war, nämlich die institutionelle Unabhängigkeit der Kirche und die Betreuung der Gläubigen vertraglich abzusichern und so den Rückfall in die geistliche Verödung zu verhindern, wie sie der Kulturkampf bewirkt hatte. Das eben war das fortwirkende Trauma des Episkopats. Der Heilige Stuhl zahlte einen hohen Preis. Er durchbrach die außenpolitische Isolation des neuen 13 Dazu Christoph Grabenwarter, Wirtschaftliche Aktivitäten der Kirchen, in: Studiengesellschaft für Wirtschaft und Recht (Hrsg.), Das Recht der Non-Profit-Organisationen, 2006, S. 293 ff. S. u. III. 1. 14 Rede am 11. Februar 1929. Zitiert und kommentiert von Hubert Wolf, Papst und Teufel, 2008, S. 7.

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Regimes, indes er innenpolitisch – gewollt oder ungewollt – dem Regime Zustimmungsfähigkeit beim Kirchenvolk vermittelte und die Auflösung des politischen Katholizismus in Gang setzte – ohne irgendeine Gewähr für die Vertragstreue der anderen Seite. Die Legitimität des Konkordatsschlußes von 1933 ist Gegenstand anhaltender Kontroversen.15 Freilich läßt es sich vom sichern Port der Historie gemächlich raten. Die cooperatio in malum, unter den Bedingungen der Unsicherheit eingegangen, bleibt für die Kirche immer riskant. Es gibt keine Rückversicherung. Mit der cooperatio in malum setzt die Kirche ihre Glaubwürdigkeit aufs Spiel, und zwar gegenüber ihren Mitgliedern wie gegenüber der Öffentlichkeit. Für sie genügt es nicht, das Böse als solches zu meiden. Sie darf noch nicht einmal den Schein des Bösen aufkommen lassen16 und so Zweifel an der Integrität ihres Handelns nähren: ut scandalum evitetur.17 Auf dieses Gebot können sich aber die kirchlichen Obrigkeiten nicht berufen, die dazu neigen, Vergehen innerhalb ihres Verantwortungsbereichs zu vertuschen (aktuelles Beispiel: sexueller Mißbrauch), damit der „gute Ruf“ der Kirche keinen Schaden nehme. Die geistliche Obrigkeit folgt demselben Reflex wie der Direktor einer Schule, der Leiter eines Geschäfts, der Vorsitzende eines Sportvereins, wenn ein Fehlverhalten des Personals aufkommt. Ihnen allen geht es nicht darum, einen bösen Schein zu vermeiden, sondern einen guten Schein aufrechtzuerhalten und ein malum zu verstecken. Aus Furcht vor dem öffentlichen Ärgernis erliegt die Kirche selbst einem malum. Die tief eingewurzelte bischöfliche Heimlichtuerei hat dazu geführt, die Glaubwürdigkeit der Kirche, die geschützt werden sollte, nachhaltig zu ruinieren. Je höher der kirchliche Standard und je größer die Differenz zu den moralischen Standards der säkularen Umwelt, desto verheerender der Skandal.18 Die Empörung der Öffentlichkeit über Mißbrauchsfälle in katholischen Internaten ist überproportional heftiger als die über die laut Kriminalstatistik viel häufigeren Fälle in weltlichen Einrichtungen, etwa Sportvereinen. Die Öffentlichkeit mißt hier aus gutem Grund mit strengerem Maß und macht darin ungewollt der Kirche mit ihrer strengen Sexualmoral sogar ein Kompliment. 15 Exemplarisch Ernst-Wolfgang Böckenförde, Der deutsche Katholizismus im Jahre 1933 (1961, 1962), in: ders., Der deutsche Katholizismus im Jahr 1933, 1988, S. 39 und S. 39 ff.; Klaus Scholder, Die Kirchen und das Dritte Reich, 2 Bde., 1977/1988; ders., Altes und Neues zur Vorgeschichte des Reichskonkordats, in: Vierteljahresschrift für Zeitgeschichte, 26 (1978), S. 535 ff.; Konrad Repgen, Über die Entstehung der ReichskonkordatsOfferte, ebd., S. 499 ff.; Wolf (Fn. 14), S. 145 ff. 16 Eingehend Ulrich Hilp, „Den bösen Schein vermeiden“, 2004, S. 24 ff. (Nachw.). 17  Alphons behandelt die cooperatio ad malum als Unterfall des scandalum (Fn. 11, Dubium V – S. 336 ff.). Sie werden unterschieden von Mausbach/Ermecke (Fn. 11), 1. Bd., S. 357 f.; 2. Bd., 111960, S. 150 ff. 18  Allgemeine Phänomenologie des Skandals: Hans Mathias Kepplinger, Die Mechanismen der Skandalisierung, München 2012.

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3.  Rechtfertigungszwang Die cooperatio ad malum, für sich genommen, ist weder legitim noch illegitim. Der Tatbestand ist ethisch offen. Aber er zieht den Zwang zur Rechtfertigung nach sich. Diese fordert die Abwägung zwischen den kirchlichen Vorteilen und den moralischen Kosten unter Berücksichtigung aller disponiblen und indisponiblen Faktoren, nicht zuletzt der Folgen und Nebenfolgen.19 Dabei geht es nicht um die Alternative von Gut und Böse, sondern um unterschiedliche Dosierungen beider, nicht um Schwarz oder Weiß, sondern um mehr oder weniger Grau. Die moralischen Gebote stehen unter dem Vorbehalt des Möglichen.20 Die Moral ist „die Kunst der Einlösung und Sicherung des Humanen in seinen tatsächlichen, je und je von den Umständen her gegebenen sachlichen und technischen, individuellen und sozialen Möglichkeiten. Wo sich Moral nur noch vom Realisierungswürdigen, nicht aber zugleich auch vom tatsächlich Realisierbaren bestimmen läßt, wird sie zur bloßen ‚Zuschauerethik‘“.21 Der typische Fall ist ein Dilemma, das keine makellose Lösung zuläßt, sondern nur die Wahl des geringeren Übels.22 Die heilige Gewißheit über Gut und Böse, die der Kirche herkömmlich zu eigen war, ist der Nachdenklichkeit, der Sensibilität und der Vorsicht gewichen, seit die Erfahrungswissenschaften die psychischen und sozialen Bedingtheiten menschlichen Handelns bewußt gemacht haben und die Kirche sich von einer kritischen Öffentlichkeit beobachtet weiß, mit der sie es sich nicht ohne Not verderben möchte. Hier versagt die Faustregel, daß im Zweifel Unterlassen moralisch sicherer sei als Handeln.23 Das ist die Ausrede der Feiglinge und Skrupulanten. Wo eine Garantenpflicht besteht, bedarf es des aktiven Einsatzes. Hier kann das Nichthandeln das ärgere Übel sein als ein fehlsames Handeln.24 Die Moraltheologie hat sich die aristotelische Figur der Epikie zu eigen gemacht, in Grenz- und Konfliktfällen der Gerechtigkeit des Einzelfalles zu folgen, 19 Dazu Korff (Fn. 11), S. 303 ff.; Eberhard Schockenhoff, Grundlegung der Ethik, 2014, S. 619 ff. 20  Zu der staatsrechtlichen Seite des Vorbehalts Otto Depenheuer, Vorbehalt des Möglichen, in: HStR XII, 22014, § 269. 21  Korff (Fn. 11), S. 308 (Zitat: Schöllgen). 22 Grundsätzlich Thomas von Aquin, Quaestio disputata de correctione fraterna, q. un., al ad 5. Thomas rechtfertigt auch die Duldung der Prostitution unter Berufung auf Augustinus, der fürchtet: „Wenn du die Dirnen aus der menschlichen Gesellschaft entfernst, wirst du alle durch die Leidenschaften verwirren.“ Grundsätzlich zum „minus malum“ Korff (Fn. 11), S. 305 ff. 23  „Maius delictum est in faciendo quam in omittendo.“ 24  Korff (Fn. 11), S. 306 f. 2

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wenn die Anwendung der allgemeinen Norm ungerecht wäre.25 Sie hat die Fähigkeit entwickelt, „sittliche Normansprüche in der Situation wo nötig zu verbessern und prospektiv unabhängig vom Gesetz, durch genaues Berücksichtigen der sachlichen und personalen Umstände, das Richtige mit der Vernunft zu finden“. Dazu bedarf es des Mutes, auch unabhängig vom Gesetz zu handeln, und eines Glaubens, der alles menschliche Regelwerk, auch das kirchliche, aufbricht und offenhält für die Führung durch den Geist Gottes.26 Der kirchliche Zweck heiligt nicht unheilige Mittel.27 Daß ihr Zweck letztlich auf Gott bezogen ist, enthebt die Kirche nicht dem Rechtfertigungszwang. Der unmittelbare Rekurs auf Gott führt zu ethischen Kurzschlüssen, weil an Gott alle irdischen Maßstäbe zunichte werden, aber dann auch jedwedes Opfer recht ist. Gott ist kein Gegenstand einer Güterabwägung und darin auch kein „höchstes Gut“, wohl aber sind es die diesseitigen Belange der Kirche, von Gottesdienst und Seelsorge bis hin zu ihren Finanzbedürfnissen. Eine fatale Abwägung zwischen einer Optimierung der Liturgie und einem körperlichen Eingriff liefert der heilige Kirchenlehrer Alphons Maria von Liguori (1696 – 1787), wenn er die Kastration von Sängerknaben aus dem Qualitätsgewinn des Kirchengesangs rechtfertigt: daß die Kastraten dem Gemeinwohl nützten durch den (im Vergleich zu Nichtkastraten) süßeren Wohllaut ihres Kirchengesangs.28 Papst Benedikt XIV. (1740 – 1758) erklärte den Kastratengesang, der in der Capella Sixtina vom späten 16. bis zum frühen 20. Jahrhundert unter 32 Päpsten gepflegt wurde, unter den gegebenen Umständen für unentbehrlich, weil ohne ihn die Gefahr bestehe, daß die Kirchen leer blieben.29 Die kirchliche Praxis erscheint aus heutiger Sicht unsittlich, die moraltheologische Rechtfertigung geradezu pervers, wenn man die scholastisch-naturrechtliche Argumentation an menschenrechtlichen Maßstäben mißt und vom Recht der Person ausgeht, ihrer körperlichen Unversehrtheit und Menschenwürde.30 25 

Aristoteles, Nikomachische Ethik V, 14 (1137b). Günter Virt, Die vergessene Tugend der Epikie, in: ders., Damit Menschsein Zukunft hat. Theologische Ethik im Einsatz für eine humane Gesellschaft, 2007, S. 42 (54 f.). 27  Apologie der Moraltheologie wider den hartnäckigen Vorwurf „jesuitischer“ Moral, daß der kirchliche Zweck auch verwerfliche Mittel heilige (Joseph Mausbach, Die katholische Moral und ihre Gegner, 51921, S. 93 ff.). 28  „… eunuchi utiles sunt bono communi, ad divinas laudes in ecclesiis suavius canendas“ (Alphons [N 11], tract. 4c, 1 dub 1 n. 374). Vgl. auch ders., ebd., Lib. III, Tract IIV, Cap. I, Dulim I n. 374 (Ausgabe Rom 1905, 1. Bd., S. 628): „an liceat pueros castrare, ad vocem in eis conservandam.“ Zu der Praxis, ihrer rechtlichen und moraltheologischen Bewertung Peter Browe, Zur Geschichte der Entmannung, 1936, S. 88 ff., 99 ff. 29  Dazu mit Nachw. Browe (Fn. 28), S. 115 ff. 30 Kritisch Browe (Fn. 28), S. 88 ff.; August Maria Knoll, Katholische Kirche und scholastisches Naturrecht (21968), in: ders., Glaube zwischen Herrschaftsordnung und Heilserwartung, 1996, S. 23 (112 f.). 26 

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Wenn es um die Rechtfertigung einer cooperatio ad malum geht, entscheidet die Kirche in eigener Sache. Ihre Situation ist besonders heikel, weil sie nicht gewaltenteilig, sondern hierarchisch organisiert ist, so daß dem handelnden Organ nicht notwendig ein unabhängiges Kontrollorgan gegenübersteht. 4.  Prämissen Die Figur der cooperatio ad malum gründet auf der Unterscheidung von Kirche und Welt: „Kirche“ in diesem Kontext verstanden als die sichtbare Institution, die sich als Zeichen Gottes unter den Menschen begreift, „Welt“ als ihr gesellschaftliches Umfeld, dessen herrschende Institution der Staat ist.31 Beide sind wesensverschieden. Ihre Beziehung zueinander ist prekär. Dennoch besteht kein feindlicher Gegensatz. Wer die Rechtfertigung einer cooperatio ad malum für möglich hält, daß ihre Ziele in mancherlei Hinsicht praktisch konvergieren und daß sich ihre Wesensunterschiede zu beider Vorteil heilsam ergänzen können im Dienst für die Menschen, die ihnen anvertraut sind. Kirche verkündet die Botschaft vom Reich Gottes, das nicht von dieser Welt ist (Joh 18, 36); doch sie verkündet ihre Botschaft in dieser Welt (Joh 17, 11) und für die Menschen dieser Welt. Sie hütet sich davor, in dieser Welt aufzugehen, und sie kann ihre „Entweltlichung“ doch nicht so weit treiben, daß sie sich völlig von ihr isoliert, wie es Katakomben-Nostalgiker und weltflüchtige Spiritualisten erträumen mögen. Die Spiritualia entheben die Kirche nicht von den Temporalia. Die Abschließung von der sündigen Welt ist das Ethos der Sekte, die sich als die Gemeinschaft der Reinen versteht und die Unreinen ausschließt, nicht aber das Ethos der Kirche, die ihre Türen allen offenhält, die Glaubenswahrheit suchen und der göttlichen Verzeihung bedürfen. Wenn sich die Kirche auf eine Zusammenarbeit einläßt, ist es kaum vermeidlich, daß sie sich, wenn nicht schon durch ihr unmittelbares Tun, so doch durch dessen ungewollte und unübersehbare Fern- und Nebenwirkungen die Hände schmutzig macht. Wenn sie aber, sofern das überhaupt praktisch möglich ist, aus Sorge um die Sauberkeit der Hände sich skrupulös aller Kontakte mit der schmutzigen Menschheit enthielte, vergäße sie ihre Sendung und verlöre sich in spirituellem Autismus. In solcher Entscheidungsängstlichkeit täte ihr der Gottvertrauen atmende Rat Martin Luthers gut: pecca fortiter!32 Die Kirche ist nicht um ihrer selbst willen, sondern um der Menschen willen da, und um diese zu erreichen, muß sie sich ihnen anpassen, ohne sich selbst zu 31  Zur theologischen Mehrdeutigkeit der beiden Begriffe Karl Rahner/Herbert Vorgrimler, Kleines theologisches Wörterbuch, 31961, S. 198 ff., 383. 32  Martin Luther in einem Brief an Philipp Melanchthon vom August 1521: „Esto pervator et pecca fortiter, sed fortius fide et gaude in Christo, qui victor est peccati, mortis et mundi!“ „Sei ein Sünder und sündige kräftig, aber vertraue noch stärker und freue dich in Christus, welcher der Sieger ist über die Sünde, den Tod und die Welt!“

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verleugnen. Sie ist auch nicht autark, so daß sie nicht umhin kann, auch mit den „Kindern dieser Welt“ und deren Institutionen zu kooperieren, nicht zuletzt mit dem säkularen Staat. Eine Theologie, vollends eine kirchliche Praxis, die sich auf eine cooperatio ad malum einläßt, hat von vornherein der gesinnungsethischen Maxime entsagt, allein nach dem Gesetz des Guten zu handeln ohne Rücksicht auf die Folgen und diese allein Gott anheimzustellen. Vielmehr nähern sie sich der verantwortungsethischen Maxime, daß man für die (voraussehbaren) Folgen seines Tuns aufzukommen hat, auch wenn sie sich der Verantwortungsethik nicht so vorbehaltlos überlassen dürfen, wie sie Max Weber der Politik als Beruf zuschreibt.33 Der nur um sein Seelenheil besorgte Christ mag den gesinnungsethischen Rigorismus durchhalten. Doch der kirchliche Amtsträger muß auch die Folgen bedenken, die sein Tun für die kirchliche Gemeinschaft nach sich ziehen kann.34 Die radikale Botschaft des Neuen Testaments wirkt allerdings als Stachel wider allzu heftige Anwandlungen von Kirchenraison. Die Kirche wäre hoffärtig, wenn sie in manichäischer Tradition ihr Verhältnis zur Welt als das von Gut und Böse auffaßte und ignorierte, daß die Menschen in allen Lebensbereichen von der Erbsünde gezeichnet sind. In ihrer langen Geschichte hat sie gelernt, bei ihren Dienern zwischen Amt und Person zu unterscheiden und die objektive Wirksamkeit der Amtshandlung nicht von der Würdigkeit der Person abhängig zu machen.35 Die Kirche wäre blind, wenn sie irdische Gegebenheiten wie Macht und Geld ihrer Natur nach für böse erklärte. Als konfessionelle Minderheit im Deutschen Reich hatte sich das katholische Milieu so weit wie möglich eingeigelt und abgeschottet vor den Einflüssen der glaubens- und sittengefährdenden „akatholischen“ Außenwelt.36 Heute sind die konfessionellen Gräben weitgehend zugeschüttet. Zumal auf den Feldern der Caritas/Diakonie herrscht tätige Ökumene. Die Kirche hat sich „der Welt“ in Grundvertrauen und Wohlwollen geöffnet. Die alten Unterscheidungen haben ihre Schroffheit verloren. Sie sind undeutlich geworden, aber deshalb nicht verschwunden. Daher tut sich die Kirche nun schwerer, die Grenzen zu erkennen, 33 

Max Weber, Politik als Beruf (1919), in: Gesammelte politische Schriften, 1921, S. 396 (441). Eine moraltheologische Adaption der Verantwortungsethik: Korff (Fn. 11), S. 303 ff., 321 ff. 34  Rolf Hochhuts Stück „Der Stellvertreter“ (1963) bezieht seine Polemik gegen das „Schweigen“ Pius XII. in der Judenfrage aus der gesinnungsethischen Prämisse, daß der Papst um jeden Preis weltöffentlich hätte protestieren müssen, ohne Rücksicht auf die mangelnden Erfolgschancen und auf die drohenden Gefahren für die Kirche. 35 Nachw. Josef Isensee, Gemeinwohl und öffentliches Amt, 2014, S. 111 f., 120 ff. 36 Exemplarisch: Joseph Stapf, Die christliche Moral, Bd. 2, 1841, S. 50 ff. Letztes Bollwerk des Ghetto-Katholizismus in der deutschen Moraltheologie: Mausbach/Ermecke (Fn. 17), Bd. 2, S. 52 ff., passim.

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ob und wieweit sie sich auf die Bedingungen der „Welt“ einlassen darf, ohne ihre Botschaft zu verraten oder zu desavouieren. Die Schwierigkeit steigert sich dadurch, daß die hierarchische Entscheidungsstruktur der Kirche zunehmend durch den Eigenwillen des selbstbewußt werdenden Kirchenvolkes konterkariert wird und in Fragen der Weltpraxis sich vielfach die „Laien“ als die Sachverständigen, die Hierarchen als die Laien der Sache nach erweisen. Das Gegenteil eines Fehlers, so Bernard von Brentano, ist ein anderer Fehler. Das Gegenteil der prinzipiellen Abwehr der Welt wäre das prinzipielle Aufgehen in ihr: die Selbstsäkularisierung.37 Wenn die Kirche sich dem säkularen Umfeld vollständig und vorbehaltlos anpaßte und sich darin genügte, den Zeitgeist mit Bibelsprüchen zu umranken, wenn sich der religiös-sittliche Widerspruch zur Welt verlöre, ohne den der Zuspruch zur Welt nicht möglich ist, erledigte sich das Thema einer cooperatio ad malum von selbst.

II.  Divergenzen und Konvergenzen zwischen Kirche und Moderne 1.  Die unvollkommene Versöhnung Zwei Jahrhunderte hindurch betrachtete die katholische Kirche die moderne Welt als feindliches Ausland. Sie verwarf deren Ideen und Ethos, Kultur und rechtliche Strukturen, alles, was den Geist der Aufklärung atmete, die ihr als Empörung gegen Gott erschien und als Lockung der Paradiesesschlange, der Mensch werde sein wie Gott und Gut und Böse erkennen.38 Die Aufklärung hatte sich im Kampf gegen die alten Mächte, darunter die Kirche, entwickelt. Beide gründeten auf konträren philosophischen Prämissen,39 hier die Wahrheit des Glaubens, dort die Freiheit des Individuums. Die Kirche hat nach einem langen, allmählichen Prozeß der Annäherung ihren Frieden mit der Moderne gemacht, wie sie sich in der liberalen Demokratie verkörpert. Der letzte, entscheidende Akt war die Anerkennung der Religionsfreiheit im Zweiten Vaticanum.40 Die Kirche bekennt sich nunmehr zu den lange verfemten Menschenrechten, setzt sich für sie ein und 37  Josef Isensee, Die Säkularisierung der Kirche als Gefährdung der Säkularität des Staates, in: Gerfried W. Hunold/Wilhelm Korff (Hrsg.), Die Welt für morgen, 1986, S. 164 ff.; ders., Kirche und Staat am Anfang des 21. Jahrhunderts, in: öarr 53 (2006), S. 21 (43 f.). 38 Vgl. Pius VI., Enzyklika „Quod aliquantum“. 10. 3. 1791; Leo XIII., „Libertas praestantissimum“ v. 20. 6. 1888. S. auch Lothar Roos, „Anschluß der Moderne“ als Moralprinzip?, in: Die Neue Ordnung 68 (2014), S. 414 (419). Weitere Nachweise Josef Isensee, Keine Freiheit für den Irrtum, in: ZRG Kan. Abt. LXXIII (1987), S. 296 (312 ff.). 39 Näher Isensee (Fn. 38), S. 309 ff. 40  Josef Isensee, Der lange Weg zu „Dignitatis humanae“, Konvergenzen und Divergenzen von kirchlichem Wahrheitsanspruch und verfassungsstaatlichem Freiheitsverständnis, in: Christian Hillgruber (Hrsg.), Das Christentum und der Staat, 2014, S. 51 ff.

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macht sie sogar zum Bestandteil ihrer Mission. Sie findet in ihnen Derivate ihrer eigenen Botschaft und erkennt sie an als ihre eigenen, freilich illegitimen und nicht von ihr erzogenen Sprößlinge.41 Damit ist jedoch das Konfliktpotential nicht vollständig und nicht endgültig entschärft, und das schon deshalb nicht, weil die Kirche ihre frühere Position nicht ausdrücklich und nicht vollständig widerrufen hat. Das ist allerdings auch nicht ihre Art, eine Wende zu vollziehen und Neues aufzunehmen. Im Gegenteil: sie bricht nicht mit der bisherigen Lehre; vielmehr ist sie bemüht um Kontinuität (oder wenigstens um deren Nimbus). Das Alte wird nicht ausgeräumt, sonder nur überlagert. Die jüngere Schicht ruht auf der älteren, und diese, nun unsichtbar geworden, durchsäuert die obere Schicht und bleibt mit diesem Kompostierungs-Effekt unmerklich weiterhin wirksam.42 Die Kirche beruft sich auch für die Grundlagen ihrer Ethik auf die ewige Wahrheit, die sie in biblischen Weisungen und in lehramtlich definierten naturrechtlichen Vorgaben begründet sieht.43 Während sie dazu neigt, die gegenwärtige Lehre zu verabsolutieren, neigt sie andererseits dazu, überholte Positionen, die sie – zumeist nur konkludent – fallenläßt (Folter, Index, Feuerbestattung, Kontaktsperre zu anderen Konfessionen etc.), zu historisieren und somit zu verdrängen. Die theoretischen Widersprüche brauchen sich nicht in praktischen Konflikten zu entladen. Im Gegenteil: der Verfassungsstaat, in dem die politischen Ideen der Aufklärung Gestalt annehmen, bietet weiten Raum für das kirchliche Leben: Er minimiert die Reibungsflächen mit der Religion, weil er sich selbst aus der Frage der religiösen Wahrheit zurückzieht und auf innerweltliche Aufgaben beschränkt. Er regelt nur äußeres Verhalten und fordert nur Rechtsgehorsam (Legalität) ein, nicht aber innere Gesinnung (Moralität), rührt also nicht an die Motive des Verhaltens und achtet das Gewissen als subjektive moralische Instanz. Die klassisch liberalen Grundrechte gewährleisten dem Bürger die Freiheit von staatlichem Zwang und überlassen es ihm, welchen Gebrauch er davon macht. Diese negative Freiheit steht dem – aus kirchlicher Sicht – richtigen wie falschen, guten wie bösen Handeln gleichermaßen offen, indes das kirchliche Freiheitsverständnis prinzipiell positiv ausgerichtet ist: als Freiheit zum richtigen und guten Tun oder Lassen. Darin kann die Kirche geradezu eine komplementäre Bedeutung zu den grundrechtlichen Freiheitsgarantien erhalten: nämlich als Einfluß auf den guten und im praktischen Ergebnis gemeindienlichen Gebrauch, den der

41 Näher

Isensee (Fn. 40). S. 57 ff., 61 ff. Zu Historisierung und Kompostierungseffekt Isensee (Fn. 38), S. 305 f., 307 f. 43  Zum Naturrecht als Kompetenztitel des Lehramtes: Böckle (Fn. 11), S. 325 ff.; Rudolf Uertz, Die katholische Kirche und ihre Kompatibilität mit dem Verfassungsstaat, in: Katharina Ebner et alii (Hrsg.), Staat und Religion, 2014, S. 49 (63 ff.). 42 

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Verfassungsstaat von sich aus um der Freiheit willen nicht erzwingen kann.44 Ein christliches Pflichtenethos leistet heilsamen Widerstand gegen die gängige Anspruchsegozentrik. Das sakramentale Verständnis der Ehe wehrt sich gegen deren Auflösung in subjektive Beliebigkeiten. Die Lebensethik des Christentums verteidigt die Würde des Menschen gerade dort, wo sie durch Machbarkeitswahn, Übergriffe anderer und wirtschaftliche Interessen besonders gefährdet ist: am Anfang und am Ende des Lebens. Doch bildet sich auch praktischer Zündstoff. Die Gesellschaft neigt dazu, alles Handeln, das sich auf grundrechtliche Freiheit berufen kann, ohne weiteres auch als moralisch legitim anzuerkennen, indes die katholische Kirche dazu neigt, alle sittlichen und religiösen Pflichten wie objektive, allgemeine, strikte Rechtsgesetze zu behandeln (wenn sie sich nicht ohnehin zu kirchenrechtlichen Normen verfestigt haben). Ein Beispiel bildet die Sexualmoral. Aus liberal-grundrechtlicher Sicht bestimmt ein jeder selbst über sein sexuelles Verhalten, soweit er nicht das Selbstbestimmungsrecht anderer beeinträchtigt, nicht Abhängige mißbraucht und sich nicht an Minderjährigen vergeht. Dagegen folgt die katholische Sexualmoral überindividuellen naturrechtlichen Vorgaben, wie das kirchliche Lehramt sie deutet: Der objektive Fortpflanzungszweck der menschlichen Gattung leitet und begrenzt das sexuelle Verhalten des Individuums. Die Kirche hat selbst teil an der grundrechtlichen Freiheit, und sie ist ihr nicht verpflichtet wie der Staat. Sie ist Trägerin der Grundrechte, nicht aber deren Adressatin. Daher kann sie sich dem Staat gegenüber auf die Grundrechte berufen, wenn sie Glauben und Sittlichkeit verkündet. Doch unter den Bedingungen gleicher grundrechtlicher Freiheit für jedermann kann sie nicht erwarten, daß ihre Verkündigung bei jedermann ankommt und von jedermann angenommen wird. Ihre Ethik widerspricht in wesentlichen Fragen den Auffassungen des gesellschaftlichen Umfeldes. Ihre hergebrachte Sexualmoral und das kanonische Eherecht finden selbst in dem schrumpfenden Kreis der Kirchentreuen immer weniger Akzeptanz. So manches Verhalten, das die Kirche mißbilligt, erscheint weiten Kreisen der Gesellschaft als ehrenwert, und was die Kirche praktiziert (etwa im Umgang mit Wiederverheirateten), als verwerflich. Die Kirche kann nicht davon ausgehen, daß, soweit sie strengere Moral einfordert als ihr säkulares Umfeld, diese ohne weiteres auch als die höhere Moral eingeschätzt und respektiert wird. Soweit sie moralische Kompromisse „ad malum“ eingeht, darf sie nicht darauf bauen, daß die andere Seite das auch so sieht und sich ihr moralisch unterlegen fühlt. Der ethische Hiatus reißt auf, wenn die Kirche einem ihrer Bediensteten (etwa dem katholischen Chefarzt des Caritas-Krankenhauses) kündigen will, weil er in Verletzung ihrer Loyalitätsobliegenheiten eine Geschiedene 44  Dazu mit Nachw. Josef Isensee, Grundrechtsvoraussetzungen und Verfassungserwartungen an die Grundrechtsausübung, in: HStR IX, 32011, § 190 Rn. 204 ff., 312 ff.

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heiratet oder eine gleichgeschlechtliche Partnerschaft eingeht. Hier zeichnen sich Grundrechtskollisionen ab, für die dem Staat die prekäre Rolle des Schiedsrichters zufällt.45 2.  Die katholische Verspätung Grund zu ekklesiologischer Verlegenheit liegt in der „katholischen Verspätung“: daß die ethische Initiative seit dem 18. Jahrhundert in einem weiten Maße auf die säkulare Moderne übergegangen ist, die Kirche sich nicht selten in deren Abwehr und in der Verteidigung sklerosierter Positionen erschöpft hat, daß sie spät, sehr spät ethische Impulse aufnimmt, die der verpönten Aufklärung entspringen, und erkennen muß, daß diese eben auch christliche Ingredienzien enthalten. Die spektakuläre Wende bildet die um zweihundert Jahre verzögerte Zuwendung zu den Menschenrechten. Die Rezeption der rechtsstaatlichen Regeln eines fairen Verfahrens, zumal des rechtlichen Gehörs innerhalb der Kirche, steht noch aus. Zuweilen hilft ihr ein Skandal auf die Sprünge. So drängt der Skandal um das Finanzgebaren auf Transparenz und Kontrolle im Umgang mit kirchlichem Geld. Erst der Skandal um den sexuellen Mißbrauch in Ordensinternaten, den der Rektor des Canisius-Kollegs in Berlin mit seinem Brief an ehemalige Schüler im Jahre 2010 auslöste,46 mit ihm der Druck der Öffentlichkeit, bewegte die deutschen Bischöfe, sich überhaupt des Themas anzunehmen, das Gewicht der Vorwürfe zu begreifen, die schändlichen Vorwürfe öffentlich zu verurteilen, die Betroffenen endlich als Opfer anzuerkennen und ihnen wenigstens symbolische Genugtuung anzubieten sowie Vorkehrungen der Mißbrauchsprävention aufzubauen. Zuvor hatten sie – darin nicht anders als Organisationsmanager im profanen Bereich – alles getan, um rufgefährdende Vorgänge zu vertuschen und vor allem Polizei und Justiz fernzuhalten. Ihre Fürsorge galt einseitig den kirchlichen Tätern, nicht aber auch den Opfern, die, durch Hierarchie eingeschüchtert, durch Tabuierung des Sexuellen sprachlos, durch soziale Not ausweglos, sich nicht wehren konnten. Die Gleichgültigkeit gegenüber den Opfern ist das eigentliche Versagen der kirchlichen Obrigkeit. Daß sie aus ihrer moralischen Apathie erst durch Politiker und Journalisten, durch eine kirchenferne und hämische Öffentlichkeit geweckt werden mußten, ist mehr als peinlich. Auf die Kirche läßt sich ummünzen, was Marie von Ebner-Eschenbach vom Staat gesagt hat: „Der Staat ist am tiefsten gesunken, dessen Regierung schweigend zuhören muß, wenn die offenkundige Schufterei ihr Sittlichkeit predigt.“47 Mutatis mutandis läßt sich das auch von den 45 

s. u. III. 3. b). Zu dem Brief, seinem Gegenstand und seinen Folgen: Klaus Mertes, Verlorenes Vertrauen. Katholisch sein in der Krise, 2013, S. 19 ff., 207 ff. 47  Marie von Ebner-Eschenbach, Aphorismen, in: dies., Gesammelte Schriften, Bd. 1, 2 1905, S. 35. 46 

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deutschen Bischöfen sagen. Sie erhalten ein moralisches Armutszeugnis, wie es kaum peinlicher ausfallen könnte, wenn sie sich von Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, Friedrich Wilhelm Graf und Claudia Roth belehren lassen müssen, daß sie für das Unrecht, das in ihrem Verantwortungsbereich begangen wird, einstehen müssen und daß sie den Opfern Rechenschaft wie Zuwendung schulden. Wenn die Kirche sich nunmehr um Zusammenarbeit mit dem Staat bemüht, wird sie schwerlich ad malum operieren. Die katholische Verspätung hat auch ihr Gutes. In ihrer erhabenen Langsamkeit läßt sich die katholische Kirche nicht auf Tagesmoden ein, und sie verfällt nicht den Irrungen, Widersprüchen und Exzessen, die der Aufklärung in ihrer Dialektik von jeher eigen gewesen sind.48 Ihre relative Immobilität sichert Distanz zur säkularen Gedanken- und Lebenswelt, hält festen Grund und verwandelt sich nicht in eine Wanderdüne des Zeitgeistes. Sie bietet Halt gegen Beliebigkeiten und macht nicht mit, wenn das Institut der Ehe politisch umdefiniert wird. Ihre Moraltheologie läßt sich nicht auf eine philosophische Ethik reduzieren.49 Sie verwirft einen Humanismus, der Gott ausschließt, als unmenschlich50 und baut auf dem Glauben als einem „Grund, der trägt, nicht weil [sie] ihn gemacht (…), sondern vielmehr eben darum, weil [sie] ihn nicht gemacht [hat]“.51

III.  Freiheitsgarantien und Kooperationsangebote des Staates Der Verfassungsstaat beansprucht nicht, eine societas perfecta et completa im Sinn der aristotelisch-thomasischen Tradition zu sein. In seiner säkularen Begrenztheit bildet er nur eine sektorale Größe, die den Menschen nicht in seiner Ganzheit erfassen will und darf.52 Sein Wirkungskreis beschränkt sich auf innerweltliche Ziele. Die Wahrheit der Religion liegt außerhalb seines Wahrnehmungsund Handlungshorizonts.53 Innerhalb dessen liegt aber die Wirklichkeit der Reli48 

Max Horkheimer/Theodor W. Adorno, Dialektik der Aufklärung, 1947. Roos (Fn. 38), S. 414 ff. – im Widerspruch zu Stephan Goertz, Theozentrik oder Autonomie?, in: Ethica 19 (2011), S. 51 ff.; ders., Naturrecht und Menschenrecht, in: HerderKorrespondenz 68 (2014), S. 509 ff. 50  Benedikt XVI., Enzyklika „Caritas in veritate“, n. 78. 51  Joseph Ratzinger, Einführung in das Christentum, 1968, S. 49. Vgl. auch Roos (Fn. 38), S. 415 ff. 52  Josef Isensee, Staat und Verfassung, in: HStR II, 32004, § 15 Rn. 75 ff., 153; ders., Staat, in: Hanno Kube et alii (Hrsg.), Leitgedanken des Rechts, Bd. 1, 2013, S. 3 ff. 53  Dessen Grenzen werden freilich von deutschen Staatsorganen häufig überschritten, wenn sie von sich aus deklarieren, was „wahrer“ Islam ist, nämlich ein den europäischen Standards kompatibler Islam, und was nicht, nämlich der islamische Terrorismus. Die Anmaßung religiöser Kompetenz folgt gutmeinenden integrationspolitischen Zielen, nicht zuletzt der Abwehr eines „Generalverdachts“ wider alle Muslime auf terroristische Sympathie. 49 

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gion und damit auch die Präsenz der Kirche in der Gesellschaft. Die heterogenen Aufgaben von Staat und Kirche überschneiden sich. Damit erhebt sich die Gefahr der Kollision. Der Staat kommt nicht umhin, sein Verhältnis zu ihr rechtlich zu definieren. Das geschieht in den Grundrechten und den institutionellen Gewährleistungen des Staatskirchenrechts. Drei Ebenen, auf denen die Kirche dem staatlichen Recht begegnet, lassen sich unterscheiden: – Die Kirche nimmt, wie andere Organisationen auch, am allgemeinen Rechtsverkehr teil, ohne daß spezifisch religiöse Belange unmittelbar im Spiel sind. – Die Kirche verwirklicht ihren spezifisch religiösen Auftrag unabhängig von staatlicher Organisation. – Die Kirche arbeitet mit der Staatsorganisation zusammen und genießt deren Förderung. Auf jeder Ebene bietet das staatliche Recht Garantien, auf jeder Ebene trifft die Kirche auf Erwartungen, Chancen und Risiken je besonderer Art. 1.  Teilnahme am allgemeinen Rechtsverkehr Wenn die Kirche sich auf den Markt begibt, um ihren Bedarf an Waren und Dienstleistungen zu decken oder Vermögen zu aquirieren und zu verwalten, so steht ihr die ganze Palette des Privatrechts zur Verfügung.54 Ihre Privatautonomie, zumal die Vertragsfreiheit, wird grundrechtlich unterfangen durch die Berufs- und Eigentumsgarantie oder ein anderes thematisch einschlägiges Grundrecht.55 Des Rekurses auf die Religionsfreiheit bedarf es nicht, weil die erwerbswirtschaftliche Tätigkeit nicht unmittelbar und nicht spezifisch religiös begründet ist, sondern lediglich dazu dient, die materiellen Voraussetzungen der Religionstätigkeit sicherzustellen.56 Der Umfang der grundrechtlichen Freiheit hängt nicht ab von der moralischen Güte ihrer Ausübung. Rechtlich gesehen, kann die Kirche sich alles leisten, was andere nichtstaatliche Organisationen sich im Rahmen der Gesetze unbedenklich leisten können. Nach ihren eigenen Gesetzen darf sie es aber nicht. Sie muß sich 54 

Zum staatlichen wie zum kirchlichen Recht Grabenwarter (Fn. 13), S. 295 ff., 301 ff. Zum grundrechtlichen Schutz der Privatautonomie Josef Isensee, Privatautonomie, in: HStR VII, 32009, § 150 Rn. 57 ff. 56  Allenfalls mag man auch die Kirchenautonomie (Art. 137 Abs. 3 S. 1 WRV i. V. m. Art. 140 GG) für relevant halten; doch erweitert sie hinsichtlich der fiskalischen Hilfsgeschäfte und des Finanzvermögens nicht den effektiven Freiheitsbereich der Kirche über die allgemeinen Grundrechte hinaus. Stefan Mückl rechnet die Verwaltung des Kirchenvermögens pauschal den „eigenen Angelegenheiten“ nach Art. 137 Abs. 3 S. 1 WRV zu (Kirchliche Organisation, in: HStR VII, 32009, § 160 Rn. 67). 55 

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an den Maximen messen lassen, die sie predigt. Sie darf noch nicht einmal den Schein aufkommen lassen, daß sie ihre eigene Moral- und Soziallehre unterläuft. Auf dem weiten Feld, das der wirtschaftlichen Tätigkeit der Kirche durch das staatliche Recht offengehalten wird, lauern moralische Risiken. Die Höhe ihrer moralischen Forderungen entspricht der Fallhöhe im moralischen Skandal. Die außerkirchliche Öffentlichkeit kennt keine Gnade.57 Soweit die Kirche in ihrer Rolle als Auftraggeberin, Arbeitgeberin/Vermieterin, Verpächterin soziale Macht ausübt, darf sie ihre Position nicht mißbrauchen durch zu niedrige Entgelte, zu hohe Forderungen durch unzulängliche soziale Rücksichtnahme. Sie blamiert sich als Kirche, wenn die staatliche Behörde den von ihr über ein Landgut abgeschlossenen Pachtvertrag beanstandet, weil die mehr oder weniger aufgenötigte überhöhte Pachtzinsforderung nicht in einem angemessenen Verhältnis zu dem Ertrag steht, der bei ordnungsmäßiger Bewirtschaftung nachhaltig zu erzielen ist.58 Die Kirche kann maßloses Gewinnstreben nicht damit rechtfertigen, dass es ja nicht dem privaten Vorteil des jeweiligen Amtsträgers, etwa des Bischofs, diene, sondern dem öffentlichen und allgemeinen Vorteil der Kirche als Institution, so daß das nicht ad malum, sondern – letztlich jedenfalls – ad maiorem dei gloriam geschehe. Gott ist aber kein Rechenposten, wenn es um Geschäft und Vertragsgerechtigkeit geht. Wo die Kirche ihren eigenen Prinzipien nicht genügt, muß sie sich fragen lassen, ob sie sich, bewußt oder unbewußt, selber dispensiert, ob sie heuchelt oder ob die Prinzipien weltfremd, überspannt, korrekturbedürftig sind. Schon um ihrer Selbstachtung willen darf sich die Kirche nicht auf Geschäfte einlassen, die sie bei anderen als unmoralisch verwirft (Prostitution, Pornographie, Waffenhandel). Eine Grenzmoral ist ihr versagt (Schwarzarbeit, Steuerumgehung). Die selbstzweckhafte, unbegrenzte Akkumulation von Kapital und Immobilien würde sie desavouieren. Sie steht auf ganzer Linie unter Rechtfertigungszwang. Wirtschaftliche Aktivität ist für sie nur so weit legitim, wieweit diese für die Erfüllung ihres eigentlichen religiösen Auftrags notwendig und förderlich ist. Die Legitimation setzt Publizität voraus. Herkömmlich waltet in wirtschaftlichen Fragen Lichtscheu. Erst langsam, sehr langsam regt sich Publizitätsbereitschaft. Die Kirche mindert ihre Zusammenarbeit mit der „akatholischen“ Außenwelt, wenn sie eigene Versorgungswerke für ihr Personal und eigene Krankenversicherungsgesellschaften für Kleriker betreibt. Doch gewinnt sie dadurch nicht partielle Autarkie, weil diese Einrichtungen ihrerseits auf Kapitaldeckung und somit auf den Markt angewiesen sind. Überhaupt steigt das moralische Risiko, wenn die Kirche sich als Unternehmerin auf den Markt begibt und sich damit sei57  58 

Kepplinger (Fn. 18), S. 67 ff., 95 ff., 107 ff. § 4 Abs. 1 Nr. 3 Landpachtverkehrsgesetz.

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nen Gesetzen unterwirft. Nunmehr wird ein wirtschaftliches Versagen auch zur moralischen Pleite. Die Kirche kann ihren Einfluß nur noch in den Bahnen der jeweiligen Unternehmensverfassung zur Geltung bringen. Das Interesse des Unternehmens und die Rücksicht auf die Beschäftigten gewinnen relativen Eigenwert gegenüber den kirchlichen Belangen. Wenn ein Bischof Anstoß nimmt, daß ein Großhandelsunternehmen, das im Anteilseigentum des Bistums und im alleinigen Eigentum kirchlicher Körperschaften steht, in seinem pluralistisch breiten Angebot auch Schundartikel vertreibt, steht ihm nicht zu, in heiligem Zorn die Unternehmensanteile zu zerschmettern wie einst Moses die Gesetzestafeln. Vielmehr entkommt er nicht seiner gesellschaftsrechtlichen Selbstbindung und nicht der moralischen Folgenverantwortung, die er für das Unternehmen und seine Mitarbeiter trägt.59 Die Kirche würde sich selbst betrügen, wenn sie, um moralischer Verantwortung für wirtschaftliches Handeln zu entgehen, sich immer nur mit Minderheitsbeteiligungen begnügte, um im Fall der Katastrophe die Hände im Wasser der Unschuld waschen zu können.60 Es wären die Hände des Pilatus. Skrupel, sich die Hände bei eigener Erwerbstätigkeit schmutzig zu machen, regen sich übrigens nicht, wenn die Kirche Geld und Gut entgegennimmt, das andere durch rechts- und sittenwidriges Tun erworben haben und das ihr durch Spenden, Erbschaft, Gebühr oder Steuer zufällt. In dieser Hinsicht erweist sich der notorisch große Magen der Kirche von jeher als kräftig und gefeit gegen moralische Verdauungsbeschwerden. 2.  Staatsunabhängiges Wirken Staat und Kirche sind heute organisatorisch voneinander getrennt. Die institutionelle Verzahnung, die das alte Staatskirchenwesen ausmachte, ist aufgelöst. Der Staat verfügt über keine sakrale Kompetenz und rührt daher nicht an die geistliche Identität der Kirche. In seiner Reduktion auf säkulare Aufgaben ist er befähigt, Heimstatt aller Bürger zu werden, der Christen wie der Nichtchristen, der Gläubigen wie der Agnostiker. Die bürgerlichen und staatsbürgerlichen Rechte werden durch die Religionszugehörigkeit und die Religionsausübung weder bedingt noch beschränkt.61 Der Staat darf die Kirche nicht für seine Herrschaftsinteressen instrumentalisieren. Auf der anderen Seite kann diese ihn nicht mehr als bracchium saeculare benutzen und ihm gegenüber eine potestas indirecta beanspruchen. Er billigt ihr keinen Machtanspruch zu, aber er respektiert ihren Freiheitsanspruch und gewährleistet die korporative Religionsfreiheit so-

59  Zur Causa „Weltbild“ Josef Isensee, Gefangen im ewigen Dilemma, in: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung v. 25. 12. 2011, Nr. 51, S. 9. 60  Ethische Vorschläge für Geldanlagen der Kirche Rosenberger (Fn. 11), S. 78 ff. 61  Art. 136 Abs 1 und 2 WRV i. V. m. Art. 140 GG.

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wie die institutionelle Selbstbestimmung über ihre eigenen Angelegenheiten.62 Was zu diesen gehört, folgt grundsätzlich ihrem Selbstverständnis, solange sie die weitgezogenen Rahmenbedingungen des für alle geltenden Gesetzes nicht überschreitet.63 Die Verfassung läßt erkennen, daß jedenfalls Kultus, Unterricht und Wohltätigkeit zum eigenen Wirkungskreis der Kirche gehören.64 In das religiös geprägte Zentrum ihres Wirkungskreises dringt der Staat nicht ein, weil dieser außerhalb seiner, auf das Säkulare beschränkten Kompetenz liegt. Doch nicht alle eigenen Angelegenheiten der Kirche stehen ihr exklusiv zu wie die Glaubenswahrheit, die Glaubensverkündung und die Liturgie. Es gibt auch die res mixtae (in staatsrechtlicher Sicht: die konkurrierenden Aufgaben65) wie das Unterrichts- und Gesundheitswesen. Die „für alle geltenden Gesetze“, in denen die kirchliche Selbstbestimmung auf ihre Grenzen stößt, schließen Sondergesetze gegen die Kirche aus. Aber sie umfassen auch nicht jedwedes reguläres Gesetz, das für jedermann Geltung beansprucht. Judikatur und Literatur haben unterschiedliche Ansätze entwickelt, welche die Qualität der zulässigen gesetzlichen Schranke ausmachen.66 Jedenfalls müssen die staatlichen Belange, um deretwillen die Selbstbestimmung eingeschränkt wird, besonders großes Gewicht für die Staats- und Rechtsordnung haben, und sie müssen einer sensiblen Güterabwägung mit den widerstreitenden kirchlichen Belangen standhalten. Daher verwehrt die Verfassung, daß belastende Regelungen, die der Berufsfreiheit und anderen Grundrechten standhalten, nicht ohne weiteres auf Kirchen und sonstige Religionsgemeinschaften angewendet werden, wenn nicht das Gesetz von vornherein Ausnahmen vorsieht. Die Unabhängigkeit der Kirche vom Staat verwehrt keiner Seite die Zusammenarbeit. Die Kirche entscheidet frei, ob sie die Kooperationsangebote des Staates annimmt oder auf Distanz hält.67 Wenn sie sich für die Kooperation entscheidet, festigt die Unabhängigkeit ihren Status als Partner des Staates und ermöglicht ihr, ihre Belange wirksam in die Verhandlungen einzubringen und Vereinbarun62  Art. 4 Abs. 1 und 2 i. V. m. Art. 19 Abs. 3 GG, Art. 137 Abs. 3 S. 1 WRV i. V. m. Art. 140 GG. 63  Konrad Hesse, Das Selbstbestimmungsrecht der Kirchen und Religionsgemeinschaften, in: Joseph Listl/Dietrich Pirson (Hrsg.), Handbuch des Staatskirchenrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. 1, 21994, S. 521 (538 ff.). – Zur Relevanz des Selbstverständnisses und seinen Grenzen: Josef Isensee, Wer definiert die Freiheitsrechte?, 1980; Stefan Muckel, Religiöse Freiheit und staatliche Letztentscheidung, 1997, S. 71 ff. 64  Arg. Art. 138 Abs. 2 WRV i. V. m. Art. 140 GG. 65  Georg Jellinek, Allgemeine Staatslehre, 31914, S. 255 ff. 66 Übersicht: Stefan Mückl, Grundlagen des Staatskirchenrechts, in: HStR VII, 32009, § 159 Rn. 84; Claus Dieter Classen, Religionsrecht, 22015, S. 133 ff. Aus der Judikatur: BVerfGE 42, 312 (332, 334); 53, 366 (400, 404); 66, 1 (22); 72, 278 (289); 137, 273 (312 f.). 67  BVerfGE 102, 370 (396).

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gen verläßlich einzuhalten. In den Konkordaten und Kirchenverträgen versichern sich beide Seiten der „partnerschaftlichen“ Regelung und des „freundschaftlichen Geistes“, in dem sie ihr Verhältnis festigen und fördern.68 Die Unabhängigkeit begründet für den Staat geradezu die Notwendigkeit der Zusammenarbeit, um seine Aufgaben wirksam zu erfüllen: so in der Sicherstellung seiner pädagogischen Standards in der kirchlichen Privatschule und seiner medizinischen Standards im Caritas-Krankenhaus. Er hat die äußeren Rahmenbedingungen auch für ausschließlich kirchliches Handeln wie den Gottesdienst zu gewährleisten: so die Sicherheit des Gottesdienstes, die Nutzung der Verkehrswege für Prozessionen, den Denkmalschutz für kirchliche Bauten. Wo rechtliche Zäsuren auf praktische Zusammenhänge treffen, wie in der Anstaltsseelsorge, hilft nur Kooperation. Diese bleibt aus im Eherecht. Der Staat hat die obligatorische Zivilehe im Kulturkampf gegen den Widerstand der katholischen Kirche durchgesetzt und ihren zeitlichen Vorrang erzwungen. Die ordnungsrechtliche Sanktion des Vorrangs ist heute entfallen.69 Dennoch hält die Kirche ihn jetzt aus freien Stücken ein, weil sie sonst die Verwirrung um das öffentliche Bild der Ehe nur noch vergrößern würde.70 3.  Förderung durch den Staat – Kooperation mit dem Staat a)  Das Konzept Das deutsche Verfassungsrecht erschöpft sich nicht in Negation und Scheidung. Staat und Kirche haben sich schiedlich-friedlich getrennt. Ihnen ist Berührungsphobie fremd. Darin setzt sich das Staatskirchenrecht von der doktrinären laïcité ab, wie sie in Frankreich kultiviert wird.71 In Deutschland verbindet sich die Unabhängigkeit der Kirche vom Staat mit der Förderung durch den Staat.72 Der Staat erkennt die Kirchen (in der abstrakten, gleichheitswahrenden Terminologie als „Religionsgesellschaften“ oder „Religionsgemeinschaften“) als eigenständige Potenzen innerhalb der offenen Gesellschaft wie als Partner im freiheitlichen Prozeß der Realisierung des Gemeinwohls an. Er fördert sie in den Bereichen, in denen die Aufgaben beider Seiten praktisch konvergieren, wie in 68  Exemplarisch die Präambel des Vertrages zwischen dem Heiligen Stuhl und dem Freistaat Sachsen vom 2. Juli 1996. 69  Streichung des § 67 PStG zum 1. 1. 2009. 70  Für die Einführung der fakultativen Zivilehe aber Stefan Mückl, Die Freiheit kirchlichen Wirkens, in: HStR VII, 32009, § 161 Rn. 9. 71 Vgl. Stefan Mückl (Fn. 66), § 159 Rn. 128 ff.; ders., Europäisierung des Staatskirchenrechts, 2005, S. 220 ff. 72  Wolfgang Clement, Politische Dimension und Praxis der staatlichen Förderung der Kirche, in: Essener Gespräche 28 (1994), S. 41 ff.; Dietrich Pirson, Die Förderung der Kirchen als Aufgabe des säkularen Staates, ebd., S. 83 ff.; Gerhard Robbers, Förderung der Kirchen durch den Staat, in: Listl/Pirson (Fn. 63), S. 867 ff.

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den sozialen Diensten, und in denen die Kirchen ihn vom eigenen Einsatz entlasten. Aber er darf sie auch in ihrem spezifisch religiösen Wirken fördern, um ihnen die Ausübung ihrer Freiheit zu ermöglichen und zu erleichtern.73 Er fördert sie nicht, obwohl ihm religiöse Zwecke entzogen sind, sondern weil sie es sind, und er eine Ergänzung seines Dienstes am Gemeinwohl dort erwarten darf, wohin sein eigener Arm nicht reicht, nämlich in die religiösen, sittlichen und kulturellen Dimensionen des Gemeinwohls. Für manche Agenden wird der Staat schon durch die Bundes- oder Landesverfassung zu Kooperation verpflichtet: so durch die Garantien der Kirchensteuer, der Anstaltsseelsorge, des Religionsunterrichts, der theologischen Fakultäten. Soweit die Förderung in seinem Ermessen liegt, muß er dem Gleichheitssatz, auch in seiner religionsrechtlichen Besonderheit der Parität, Rechnung tragen und die notwendige Distanz wahren, damit seine Neutralität nicht gefährdet wird.74 Wenn der Staat Subventionen erteilt, muß er einen in seiner Sicht gemeindienlichen Zweck verfolgen; aber er darf keine Koppelungsgeschäfte machen, um politische Gefügigkeit der Kirche zu erkaufen. Er darf als Gegenleistung für seine Förderung noch nicht einmal umfassende und uneingeschränkte Loyalität verlangen. So steht der Verleihung des Körperschaftsstatus an die Zeugen Jehovas nicht entgegen, daß sie den Staat und seine Verfassung der „Welt des Satans“ zurechnen und ihren Angehörigen die Teilnahme an Wahlen verbieten.75 Doch darf der Staat sich nicht zu seinem eigenen Recht in Widerspruch setzen, indem er rechtswidrige und sittenwidrige Aktivitäten unterstützt.76 Überhaupt muß er auf Rechtstreue der Kirche bestehen, wenn sie den privilegierten Status der Körperschaft des öffentlichen Rechts erhalten will. Sie muß das geltende Recht beachten und überdies die Gewähr dafür bieten, daß ihr künftiges Verhalten die fundamentalen Verfassungsprinzipien, die dem staatlichen Schutz anvertrauten Grundrechte Dritter sowie die Grundprinzipien des freiheitlichen Religions- und Staatskirchenrechts des Grundgesetzes nicht gefährdet.77 Die Rechtstreue beurteilt sich nicht nach dem (vom säkularen Staat nicht zu beurteilenden) Inhalt des Glaubens, sondern nach dem (vom staatlichen Recht zu beurteilenden) äußeren Verhalten der Glaubensdiener und -anhänger.78 Darüber hinaus wird ein ungeschriebener 73  So sollen die Gewährleistungen der Weimarer Kirchenartikel „funktional auf die Inanspruchnahme und Verwirklichung des Grundrechts der Religionsfreiheit angelegt“ sein (BVerfGE 102, 370 [387]). Kritisch Mückl (Fn. 66), § 159 Rn. 96 (mit Nachw. zur Kontroverse). Vgl. auch Axel Frhr. v. Campenhausen/Heinrich de Wall, Staatskirchenrecht, 4 2006, S. 77 ff. 74  Verfassungsdogmatische Analyse Martin Heckel, Gleichheit oder Privilegien?, 1993. 75  BVerfGE 102, 370 (396, 397 ff.). 76  Zu der Grenze steuerlicher Gemeinnützigkeit Isensee (Fn. 35), S. 45 f. 77  BVerfGE 102, 370 (390 ff.) – Zeugen Jehovas. 78  v. Campenhausen/de Wall (Fn. 73), S. 138.

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„Kulturvorbehalt“ als Voraussetzung für den Status diskutiert.79 Jenseits aller Diskussion liegt die Respektierung des staatlichen Gewaltmonopols. Sie ist die Bedingung sine qua non des modernen Staates, der sich historisch gerade aus der Erfahrung religiös motivierter Gewaltsamkeit in den konfessionellen Bürgerkriegen der frühen Neuzeit entwickelt hat als deren institutionelle Überwindung.80 Die Kirche kann die Steigerung ihrer Wirksamkeit erhoffen. Sie nimmt aber das Risiko (oder dessen bösen Schein), auf sich, daß sie in finanzielle und politische Abhängigkeit vom Staat gerät, sich allzusehr dem säkularen Umfeld anpaßt und verweltlicht. Das Ressentiment der 68er Kulturrevolutionäre, daß sie sich zur „Hure des Systems“ mache, hat die Kirche aus gutem Grund gelassen ignoriert. b)  Formen und Gegenstände der Förderung und Zusammenarbeit Das Repertoire der staatlichen Förderung enthält Offerten, die allein den Kirchen gelten, und solche, die sich an alle gemeinwohlrelevanten gesellschaftlichen Potenzen richten (Subventionen, Gemeinnützigkeit).81 Die Förderung erfolgt durch rechtliche Regelungen, durch Finanzmittel oder durch Bereitstellung staatlicher Organisation und Räumlichkeit. Das staatliche Recht bietet der Kirche Optionen, um ihr Wirken zu erleichtern und ihr Handlungspotential zu erweitern: die bürgerlichrechtliche Rechtsfähigkeit und die staatliche Rechtsform der öffentlichrechtlichen Körperschaft, die Anstaltsseelsorge, den Schutz der Sonn- und Feiertage. Wenn die Kirche die Angebote nutzt, liegt eine cooperatio ad bonum vor. Der Staat stellt der Kirche seine Steuerhoheit zur Verfügung, die ihr nicht zweckgebundene Einnahmen verschafft. Ohne die Kirchensteuer wäre sie wie private Verbände angewiesen auf Spenden, Mitgliedsbeiträge, Leistungsentgelte und Vermögenserträge. Die verfassungsrechtliche Garantie der Kirchensteuer schützt die finanzielle Unabhängigkeit der Kirche vor der politischen Launenhaftigkeit des Staates und sichert sie ab gegen eine Temporaliensperre, wie sie diese im Kulturkampf erlebt hat.82 Die Kirchensteuer schützt sie auch vor dem Einfluß finanzmächtiger Spender, die ihre Leistungen von kirchlichem Wohlverhalten abhängig 79 Richtungweisend Arnd Uhle, Staat – Kirche – Kultur, 2004, S. 125 ff. Dazu v. Campenhausen/de Wall (Fn. 73), S. 139 f. 80 Nachw. Isensee (Fn. 52), § 15 Rn. 83 ff. 81  Hans Heinrich Rupp, Förderung gesellschaftlicher Aktivitäten durch den Staat, in: Essener Gespräche 28 (1994), S. 5 ff.; Josef Isensee, Gemeinwohl und Bürgersinn im Steuerstaat des Grundgesetzes, in: FS für Günter Dürig, 1990, S. 33 ff. Zu den eigens steuerlich geförderten kirchlichen Zwecken nach § 54 AO: Rainer Hüttemann, Gemeinnützigkeitsund Spendenrecht, 32015, S. 226 ff. 82  Ernst Rudolf Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, Bd. 4, 1969, S. 697 ff., 734 ff.

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machen.83 Schuldner der Kirchensteuer sind allein die Kirchenmitglieder, nicht etwa kirchenfremde Personen. Die Religionsfreiheit verwehrt dem Staat nicht, die Steuerrelevanz der Mitgliedschaft in der katholischen Kirche an die Taufe zu knüpfen, wie es kirchlicher Lehre entspricht. Doch das Grundrecht läßt nicht zu, einen Getauften gegen seinen Willen an der Kirchenbindung mit Steuerfolge festzuhalten. Aus diesem Grunde hat der religionsneutrale Staat das säkulare Institut des Kirchenaustritts entwickelt, das allein seine säkular-rechtlichen Beziehungen zum Steuerschuldner betrifft und der Kirche anheimstellt, welche kirchenrechtlichen Wirkungen sie dem Kirchenaustritt beilegt.84 Die Kirche nimmt in Kauf, daß es zweierlei Mitgliedsstatus gibt, den kirchlichen und den staatsrechtlichen.85 Die Unterscheidung ist sachgerecht. Die Glaubwürdigkeit der Kirche leidet nicht. In dieser „gemeinsamen Angelegenheit von Staat und Kirche“86 hängt die Finanzierung in hohem Maße von der staatlichen Steuerpolitik ab. Die Kirche zehrt von der Kompetenz und der Kapazität des Staates. Sie vergütet seine Verwaltungshilfe in angemessener Höhe. Fiele die Kirchensteuer fort (ein Ziel, in dem laikale Politiker und Entweltlichungstheologen sich treffen), so könnte sie die Einbuße durch andere Einnahmequellen nicht ausgleichen. Das staatliche Steuerrecht erspart dem kirchlichen Steuergläubiger, sich ein Gewissen daraus zu machen, ob der Steuerertrag aus sauberen oder aus trüben Quellen fließt. Denn laut § 40 Abgabenordnung ist es für die Besteuerung unerheblich, „ob ein Verhalten, das den Tatbestand eines Steuergesetzes ganz oder zum Teil erfüllt, gegen ein gesetzliches Gebot oder Verbot oder gegen die guten Sitten verstößt“.87 Die lakonische Maxime Kaiser Vespasians „pecunia non olet“ gilt weiterhin und sorgt sogar dafür, daß die Kirche sich moralisch entlastet fühlen darf. Ambivalent ist die Zusammenarbeit in der Denkmalpflege. Hier herrscht Konvergenz in der Wahrung des historisch und künstlerisch wertvollen Erbes der Kirche wie der Kultur überhaupt, aber mögliche Divergenz zwischen lebendigem Gottesdienst und Musealisierung, zwischen liturgischem Funktionalismus und Ehrfurcht vor der Ästhetik des Bauwerks. Ein denkbarer Widerspruch läßt sich hier nicht nach dem Schema von Gut und Böse auflösen.88 83  Dieses

Argument wurde in die Beratungen der Weimarer Nationalversammlung von dem SPD-Abgeordneten Dr. Quarck zugunsten der Kirchensteuer eingebracht (Prot. S. 199). 84  BVerfGE 19, 206 (216); 19, 226 (235 ff.); 19, 242 (247); 30, 415 (422 ff.); Heiner Marré, Das kirchliche Besteuerungsrecht, 1975, S. 1101 (1118 ff.); Axel Freiherr v. Campenhausen, Der Austritt aus den Kirchen und Religionsgemeinschaften, in: Listl/Pirson (Fn. 63), S. 777 ff. 85 Kritik Hartmut Zapp, Römisch-katholisch „im Geltungsbereich des Kirchensteuergesetzes“, in: Ebner ex alii (Fn. 43), S. 209 ff. 86  Marré (Fn. 84). S. 1110 f. 87  Dazu eingehend Rüttger Classen, Besteuerung des Unrechts, 1981. 88 Grundlegend Martin Heckel, Staat, Kirche, Kunst, 1968, S. 18 ff., 125 ff., 188 ff.

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Die Kirche wirkt mit in vielen öffentlichen Gremien, von Ethikräten bis zum Rundfunkrat, als eine von vielen gesellschaftlich relevanten Kräften, erhält ein Mitspracherecht und nimmt in Kauf, überstimmt zu werden in Entscheidungen, die ihrer Lehre zuwiderlaufen. Gleichwohl trägt sie durch ihre Beteiligung zur Legitimation des Gremiums und seiner Entscheidungen bei, so daß sich der Tatbestand der cooperatio ad malum aktualisieren kann. Ein derart zwiespältiger Effekt ist vom konfessionellen Religionsunterricht nicht zu erwarten, den der Staat der Kirche als ordentliches Lehrfach an öffentlichen Schulen anbietet unter dem Vorbehalt, daß er für den organisatorischen Rahmen und für das pädagogische Niveau zuständig ist, die Kirche für den Inhalt. Auch die theologische Fakultät an der staatlichen Universität gehört zu den res mixtae. Der Staat entscheidet über die Errichtung, den organisatorischen Rahmen, den Status des Lehrpersonals, den wissenschaftlichen Standard, die Kirche aber über die Zurechnung der Fakultät zu ihrer Konfession, die Anerkennung als Ausbildungsstätte für ihr Personal, das nihil obstat für die theologischen Hochschullehrer.89 Die Universitätstheologie folgt aber in erster Linie den Gesetzen der Wissenschaft. Der Einfluß des kirchlichen Lehramts stößt auf die grundrechtlich gesicherte Autonomie der Fakultät und die Freiheit in Forschung und Lehre. Das Risiko des Konflikts zwischen kirchlichem Lehramt und akademischem Lehrer ist damit programmiert.90 Der Widerruf des nihil obstat ist eine schroffe Sanktion, die den Schaden vergrößern kann, den sie verhüten soll. Doch die Verbindung der Kirche mit der Freiheit der Wissenschaft kann nur von ängstlichen Hierarchen als cooperatio ad malum aufgefaßt werden. Riskant geworden ist das Feld der Caritas.91 Herkömmlich eine Domäne der Kirche, ist sie heute in den Verantwortungsbereich des Sozialstaats gerückt, der einen Sicherstellungsauftrag für Kinderbetreuung, Gesundheitswesen, Pflege und sonstige sozialen Dienste beansprucht, gleichwohl, dem Subsidiaritätsprinzip gemäß, kirchliche wie andere Leistungsträger respektiert und fördert. Er gibt weitgehend die organisatorischen, die fachlichen, die beruflichen Standards vor, sorgt für den Großteil der Finanzierung und neigt, verstärkt durch europäische Impulse, zu immer dichterer Regulierung. Für kirchliche Träger wird es zunehmend schwieriger, das religiöse Proprium im Geist wie im Symbol, aber auch im Programm der konfessionellen Einschlüsse und der moralischen Ausschlüsse zur Geltung zu bringen. Das Problem wird illustriert durch den katholischen Kinder89 

Stefan Mückl (Fn. 70), § 161 Rn. 40 ff. Martin Heckel, Die theologischen Fakultäten im weltlichen Verfassungsstaat, 1986, S. 47 ff., 84 ff. 91  Dazu mit Nachw. Josef Isensee, Die karitative Betätigung der Kirchen und der Verfassungsstaat, in: Listl/Pirson (Fn. 63), Bd. 2, 21995, S. 665 ff. 90 

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garten, der aus gutgemeinter Rücksicht auf muslimische Kinder auf St. Martinsfeier und Weihnachtslieder verzichtet, und das katholische Pflegeheim, das in allen Räumen die Kreuze abhängt, damit kein sensibler Freigeist Anstoß nehme, so daß am Ende selbst die pflegebedürftige Nonne in ihrem Zimmer kein christliches Zeichen mehr vorfindet. Das katholische Programm der Caritas steht und fällt mit dem Personal. Der kirchliche Arbeitgeber nutzt die Vertragsfreiheit, um den kirchlichen Charakter der Einrichtung zu gewährleisten, und vereinbart besondere Loyalitätsobliegenheiten der Bediensteten in ihrer Arbeit wie Lebensführung. Die Vertragsfreiheit der Kirche ist ein Bestandteil der (korporativen) Religionsfreiheit und der (institutionellen) Selbstbestimmung, während sie für den Bediensteten durch die Berufsfreiheit grundrechtlich geschützt wird.92 Die Arbeits- und die Verfassungsgerichte beanspruchen aber die Kompetenz zu nahezu uneingeschränkter Inhaltskontrolle der Arbeitsverträge, wägen die grundrechtlichen Positionen der Vertragspartner gegeneinander ab und stellen die Position des kirchlichen Arbeitgebers, wie wenn es sich um einen Eingriff handelte, unter Rechtfertigungszwang.93 Abwägung bringt Rechtsunsicherheit. Das Ergebnis im Einzelfall hängt auch ab von den Personen der Richter, zumal von ihrer Prädisposition für den Zeitgeist. Dieser aber wehrt sich gegen jedwede kirchliche Forderung, die über den Standard säkularer Normalität hinausgeht, auch wenn dieser Forderung eine Selbstverpflichtung des Bediensteten korrespondiert. Zunehmend gerät die Kirche in die Defensive, wenn sie die Loyalitätsobliegenheiten bei ihren Mitarbeitern durchsetzen will, wenn die geschiedene Kindergärtnerin wieder heiratet, der Krankenpfleger aus der Kirche austritt oder der Assistenzarzt in der Öffentlichkeit für die Freigabe der Abtreibung wirbt. Der Ausgang eines Kündigungsprozesses ist ungewiß, der Widerspruch der Medienöffentlichkeit aber sicher. Der kirchliche Arbeitgeber hat seine liebe Not, wenn er in einem Fall den Widerspruch zu Loyalitätsobliegenheiten geflissentlich übersieht, ihn im anderen Fall aber ahndet, wenn er dem Geschiedenen, der eine nach kanonischem Recht unzulässige neue Ehe eingeht, kündigt und jede Rücksicht auf dessen Familie vermissen läßt, während er die außereheliche Partnerschaft tolerieren würde: cooperatio ad bonum oder ad malum? Die Verwirrung wächst, wenn zunehmend Nichtkatholiken beschäftigt werden, denen keine Kirchenloyalität abverlangt werden kann, so daß die Sinnhaftigkeit der Loyalitätsforderung für alle fragwürdig wird. Die Kluft zwischen der vertraglich zugesagten Kirchenloyalität und den Moralvorstellungen der zunehmend kirchenfernen Ge92 

Isensee (Fn. 55), § 150 Rn. 61, 63, 69. Jüngst grundlegend BVerfGE 137 , 273 ff. mit Anmerkungen von Claus Dieter Classen in JZ 2015, S. 199 ff. und Stephan Rixen, ebd., S. 202 ff. Vgl. auch Hermann Reichold, Verfassungs- und europarechtliche Fragen der Kirchenautonomie im Arbeitsrecht, in: Ebner et alii (Fn. 43), S. 111 ff. 93 

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sellschaft wird größer. Das Wachstum des kirchlichen Personals – im caritativ/ diakonischen Bereich etwa 1 Mio. Beschäftigte94 – vollzieht sich gegenläufig zur Regression kirchlicher Gesinnung und Lebensführung. Damit nimmt auch das Verständnis ab für das kirchliche Leitbild der Dienstgemeinschaft, die auf einen kircheninternen, schonenden Ausgleich zwischen den Belangen der Beschäftigten und des Arbeitgebers angelegt ist, Tarifautonomie und Arbeitskampf ausschließt und sich abschottet gegen Ingerenzen kirchenfremder Gewerkschaften. So wenig Verständnis und Sympathie die Kirche hier auch erwarten kann, so gern nehmen kirchenskeptische und kirchenferne Personen die karitativen Dienste in Anspruch. Auch muslimische Eltern vertrauen ihre Kinder lieber einem katholischen Kindergarten an als einem kommunalen, dessen aus ihrer Sicht gottlosem Libertinismus sie mißtrauen. Die Kirche sollte sich prüfen, ob ihre religiöse Energie noch ausreicht, das riesige Organisationsareal, das ihren Namen trägt, mit jenem Leben zu füllen, das ihren Namen verdient. Die äußeren Bedingungen, es zu füllen, sind aber allemal gegeben.

94  Die 8.000 rechtlich eigenständigen Träger der Caritas beschäftigen rund 590.000 berufliche und 500.000 ehrenamtliche Mitarbeiter. Quelle: de.wikipedia.org/wiki/Deutscher Caritasverband (Stand: 01. 05. 2015).

IV.  Die Freiheit kirchlichen Wirkens

Die Garantie des Religionsunterrichts im Grundgesetz* Die Garantie des Religionsunterrichts im Grundgesetz Die Garantie des Religionsunterrichts im Grundgesetz

I.  Verfassungstext Das Grundgesetz enthält in seinem Abschnitt „Die Grundrechte“ die institutionelle Garantie des Religionsunterrichts: „Der Religionsunterricht ist in den öffentlichen Schulen mit Ausnahme der bekenntnisfreien Schulen ordentliches Lehrfach. Unbeschadet des staatlichen Aufsichtsrechtes wird der Religionsunterricht in Übereinstimmung mit den Grundsätzen der Religionsgemeinschaften erteilt.“ (Art. 7 Abs. 3 S. 1 und 2 GG). Die Gewährleistung wird flankiert von Freiheitsrechten der Eltern und der Lehrer. Zum einen erkennt das Grundgesetz den Erziehungsberechtigten das Recht zu, über die Teilnahme des Kindes am Religionsunterricht zu bestimmen (Art. 7 Abs. 2 GG). Zum anderen sieht es vor, daß kein Lehrer gegen seinen Willen verpflichtet werden darf, Religionsunterricht zu erteilen (Art. 7 Abs. 3 S. 3 GG). Die Übergangs- und Schlußbestimmungen statuieren eine Sondervorschrift in der sogenannten Bremer Klausel: „Art. 7 Abs. 3 Satz 1 findet keine Anwendung in einem Lande, in dem am 1. Januar 1949 eine andere landesrechtliche Regelung bestand“ (Art. 141 GG).

II.  Coincidentia oppositorum Die Garantie des Religionsunterrichts bildet ein Unikat im Grundgesetz. Der säkulare, zur religiösen Neutralität verpflichtete Verfassungsstaat öffnet die Schulen, deren Träger er ist, der Religion, die „in Übereinstimmung mit den Grundsätzen der Religionsgemeinschaften“ gelehrt wird. Er macht den Religionsunterricht zu seiner Sache, nimmt ihn als ordentliches Lehrfach in sein Unterrichtsprogramm auf und prästiert ihn über seine Lehrkräfte und seine Sachmittel. Er gewährleistet die organisatorischen Standards, die auch sonst für den Unterricht der öffentlichen Schulen gelten. Doch der Inhalt dieses „ordentlichen Lehrfachs“ wird von den Kirchen bestimmt. Das Grundgesetz gewährleistet, wie zuvor bereits die Weimarer Reichsverfassung, Religionsunterricht in „konfessioneller Positivität und Gebundenheit“.1 Der Unterricht kann und soll sich mit der *  Erstveröffentlichung in: Gottfried Bitter (Hrsg.), Religionsunterricht hat Zukunft. Kleine Bonner Theologische Reihe, 2000, S. 19 – 45. 1 Zitat: Gerhard Anschütz, Die Verfassung des Deutschen Reichs vom 11. August 1919, 14. Aufl. 1933, Art. 149 Anm. 4 (S. 691).

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Glaubens- und Sittenlehre der jeweiligen Konfession identifizieren. „Er ist keine überkonfessionelle vergleichende Betrachtung religiöser Lehren, nicht bloße Morallehre, Sittenunterricht, historisierende und relativierende Religionskunde, Religions- oder Bibelgeschichte. Sein Gegenstand ist vielmehr der Bekenntnisinhalt, nämlich die Glaubenssätze der jeweiligen Religionsgemeinschaft. Diese als bestehende Wahrheiten zu vermitteln ist seine Aufgabe.“2 Doch wenn der Religionsunterricht in der staatlichen Schule auch auf eine bestimmte Glaubenswahrheit ausgerichtet ist, so macht sich der Schulträger Staat diese nicht zu eigen. Er gibt und verantwortet die schulische Form, nicht aber den religiösen Inhalt. Dieser ist allein Sache der Religionsgemeinschaft. Der Staat wahrt also seine religiöse Neutralität und hält die Grenzen seiner Wirksamkeit ein, die ihm seit Anbruch der Neuzeit gesteckt sind: daß er sich nur innerweltlichen Aufgaben praktischer Natur widmen darf und es ihm versagt ist, sich mit Religion und Weltanschauung zu identifizieren.3 Die Trennung von Kirche und Staat wird in der Verfassungsgarantie des Religionsunterrichts modifiziert durch ein Kondominium beider, eine Arbeitsteilung, in der jede Seite, ohne ihre Eigenzuständigkeit und Unabhängigkeit aufzugeben, ihren besonderen Beitrag leistet und mit der anderen zusammenwirkt. Das Prinzip der Trennung erfährt hier eine Ausnahme. Doch die Ausnahme bricht nicht das Prinzip. Vielmehr bringt sie das staatskirchenrechtliche Grundverhältnis besonders deutlich zur Geltung: als Unabhängigkeit, die sich in Zuwendung und Zusammenarbeit bewährt. Die Trennung folgt nicht feindseligen Beweggründen. Der Staat führt sie nicht puristisch durch, und er grenzt die Kirche nicht aus dem öffentlichen Leben aus. Laikale Berührungsangst ist ihm fremd. Im Gegenteil: er ist bereit zur Kooperation, soweit diese den Belangen seiner Bürger dienlich ist.4 Der unterschiedliche Auftrag von Staat und Kirche, dort immanent, hier transzendent, wird nicht eingeebnet, auch nicht die Inkongruenz der Wirkungskreise. Doch die Wirkungskreise überschneiden sich in den gemeinsamen Angelegenheiten (res mixtae). Die beiderseitigen Interessen, mögen sie auch heterogen sein, können zu praktischer Konkordanz finden. Zu den res mixtae gehört der Religionsunterricht. Hier sind die Verantwortungsbereiche beider eng miteinander verknüpft. Doch „ungeachtet der sich daraus ergebenden Pflicht zur Kooperation und gegenseitigen Rücksichtnahme 2 

BVerfGE 74, 244 (252). Herbert Krüger, Allgemeine Staatslehre, 2. Aufl. 1966, S. 32 ff., 178 ff.; Klaus Schlaich, Neutralität als verfassungsrechtliches Prinzip, 1972, S. 236 ff: Josef Isensee, Gemeinwohl und Staatsaufgaben im Verfassungsstaat, in: ders./Paul Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland (= HStR) Bd. III, 2. Aufl. 1996, § 57 Rn. 156 f., 161 ff. 4 Dazu Schlaich (Fn. 3), S. 244 ff.; Alexander Hollerbach, Grundlagen des Staatskirchenrechts, in: HStR VI, 1989, § 138 Rn. 84, 112 et passim. 3 Dazu

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müssen die jeweiligen Zuständigkeiten streng voneinander geschieden sein“.5 Der Staat respektiert die Selbstbestimmung der Kirche in eigenen Angelegenheiten der Religion, diese akzeptiert die staatliche Schulaufsicht in den religiös indifferenten Fragen wie solchen der Organisation und der Didaktik. Freilich enthebt die noch so scharfe juristische Unterscheidung der Kompetenzen beide Seiten nicht der Notwendigkeit, ihre schulischen Maßnahmen miteinander abzustimmen und sich zu verständigen. Da der Verfassungsstaat den Religionsgemeinschaften die Verantwortung für den Inhalt eines ordentlichen Lehrfaches zuweist, hat er seinerseits dafür einzustehen, daß die individuelle Religionsfreiheit der Beteiligten nicht Schaden nimmt: die der Schüler und ihrer Eltern sowie die der Lehrer. Der Religionsunterricht befindet sich in einem polygonalen Spannungsfeld verfassungsrechtlicher Positionen.

III.  Kondominium Staat – Kirche 1.  Der staatliche Part: die Form des ordentlichen Lehrfaches Die Verfassungsgarantie bezieht sich auf die öffentlichen Schulen, gleich, ob sie sich in staatlicher oder in kommunaler Hand befinden, auf welcher Stufe auch immer: Grund- wie Hauptschule, Gymnasium wie Berufsschule. Außen vor bleiben die Privatschulen. Diese werden nicht von der Verfassung in die Pflicht genommen. Vielmehr genießen sie ihrerseits grundrechtliche Freiheit. Sie bestimmen von sich aus, ob und wieweit sie Religionsunterricht anbieten. Sie sehen davon ab, wenn er nicht in ihr weltanschauliches Programm paßt. Dagegen gehen die kirchlichen Privatschulen über den Standard der öffentlichen Schulen hinaus dadurch, daß sie nur Schüler aufnehmen, die sich verpflichten, am Religionsunterricht teilzunehmen. Öffentliche Schulen aber haben sämtlich die Verfassungsgarantie einzulösen. In den öffentlichen Schulen ist der Religionsunterricht ordentliches Lehrfach.6 Darin steht er den anderen Lehrfächern des betreffenden Schulzweiges und der 5 

BVerfGE 74, 244 (251). Zu den praktischen Konsequenzen der Garantie als ordentlichem Lehrfach: Wilhelm Rees, Der Religionsunterricht und die katechetische Unterweisung in der kirchlichen und staatlichen Rechtsordnung, 1968, S. 253 ff.; Ernst Friesenhahn, Religionsunterricht und Verfassung, in: Essener Gespräche Bd. 5 (1971), S. 67 (74 ff.); Alexander Hollerbach, Freiheit kirchlichen Wirkens, in: HStR VI, 1989, § 140 Rn. 35 f.; Christoph Link, Religionsunterricht, in: Joseph Listl/Dietrich Pirson (Hrsg.), Handbuch des Staatskirchenrechts der Bundesrepublik Deutschland, 2. Bd., 2. Aufl. 1995, S. 439 (459 – 456) m. zahlr. Nachw.; Janbernd Oebbecke, Reichweite und Voraussetzungen der grundgesetzlichen Garantie des Religionsunterrichts, in: DVBl 1996, S. 336 (337 ff.); Stefan Mückl, Staatskirchenrechtliche Regelungen zum Religionsunterricht, in: AöR 122 (1997), S. 513 (523 ff.); Martin 6 

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betreffenden Jahrgangsstufe gleich. Der Staat behandelt ihn, soweit nicht seine staatskirchenrechtliche Besonderheit zur Wirkung gelangt, nicht anders als den Geschichts- oder Physikunterricht. Er erbringt ihn als integralen Bestandteil des Unterrichtsprogramms über sein Lehrpersonal und finanziert ihn aus seinem Haushalt. Das Lehrangebot erfolgt kontinuierlich in angemessenem zeitlichem Umfang, in der Regel zwei Wochenstunden. Ihm kommt ein regulärer Platz im Stundenplan zu; er darf nicht benachteiligt werden dadurch, daß er etwa auf besonders ungünstige Randstunden abgedrängt und nur außerhalb der üblichen, kompakten Unterrichtszeit angeboten wird. Er nimmt teil an der allgemeinen Entwicklung des Schulwesens. Es gilt eine Art Meistbegünstigungsklausel, daß er von den Vorteilen, die anderen Fächern zugute kommen, nicht ausgeschlossen werden darf. Der Religionsunterricht wird als Pflichtfach eingerichtet und darf nicht zum Wahlfach im Sinne der allgemeinen schulrechtlichen Terminologie abgestuft werden. Der Umstand, daß ein Recht auf Abmeldung besteht, ändert daran nichts.7 Dem Charakter des Pflichtfaches gemäß bedarf es nicht der positiven Anmeldung zum Religionsunterricht für die Schüler, die der betreffenden Religionsgemeinschaft angehören. Der Religionsunterricht fügt sich in die Regeln der äußeren Schulordnung. Die Schuldisziplin gilt unverkürzt. Er hat den allgemeinen Anforderungen an das intellektuelle wie an das pädagogische Niveau zu genügen. Das gilt gleichermaßen auf Seiten der Lehrer wie auf Seiten der Schüler. Es gibt keinen intellektuellen Rabatt aus religiösen Erwägungen. Der Religionsunterricht ist keine missionarische und keine karitative Veranstaltung. Vielmehr dient er der Vermittlung von Wissen und Können, wie es dem Auftrag der Schule entspricht. Diesem Auftrag gemäß leistet er auch religiöse Erziehung. Diese aber vermag – hier sowenig wie schulische Erziehung sonst – fachliche Qualität nicht zu ersetzen und fachliche Ansprüche nicht zurückzudrängen. Der Benotung unterliegt nicht die Frömmigkeit des Schülers, nicht sein Glaubenseifer oder seine Rechtgläubigkeit, sondern allein seine formal-fachliche Leistung. Die Neigung mancher Religionslehrer, Spitzenprädikate zu verschleudern, um die Schüler zu halten, widerspricht den Erfordernissen eines ordentlichen Lehrfachs, das die Standards der Schule einzuhalten hat. Der Religionslehrer hat in der Notengebung nicht Werke der Barmherzigkeit zu üben, nicht religiöses Wohlverhalten zu belobigen, nicht Aufmüpfigkeit abzustrafen, sondern allein Heckel, Religionsunterricht in Brandenburg, 1998, S. 46 ff.; Hartmut Maurer, Die verfassungsrechtliche Grundlage des Religionsunterrichts, in: FS für Hans F. Zacher, 1998, S. 577 ff. – Die Perspektive des kanonischen Rechts: Joseph Listl, Der Religionsunterricht, in: ders./Hubert Müller/Heribert Schmitz (Hrsg.), Handbuch des katholischen Kirchenrechts, 1983, S. 590 ff. 7  BVerfGE 74, 244 (251 f.).

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fachliche Leistung gerecht zu bewerten. Nur unter dieser Voraussetzung kommt der Note im Religionsunterricht das entsprechende Gewicht zu wie sonstigen Noten, kann sie als versetzungserheblich anerkannt und für die Hochschulzulassung in Numerus-clausus-Fächern relevant werden. Der Religionslehrer, gleich, ob im Haupt- oder im Nebenamt, ob Kleriker oder Laie, ist Mitglied des Lehrkörpers der Schule mit allen Rechten und Pflichten. Freilich muß er von seiner Ausbildung und seinen Fähigkeiten her den gleichen Qualifikationserfordernissen genügen wie andere Lehrer auch. Der Staat aber hat kraft seiner Schulaufsicht darüber zu wachen, daß der Religionsunterricht den formalen fachlichen Anforderungen genügt. Unter diesen Aspekten überprüft er die Lehrpläne und die Lehrmaterialien. Dagegen hat er nicht über die Wahrheit der Religion zu befinden und die Richtigkeit oder Wichtigkeit von Lehraussagen zu zensieren. Wohl aber trägt er die Letztverantwortung für das fachliche Niveau. 2.  Der kirchliche Part: der Lehrinhalt der Religion Der Kirche kommt es zu, die Form, die der Staat bereitstellt, mit Substanz zu füllen und ihre Glaubenslehre in den Unterricht der öffentlichen Schule einzubringen. Sie bestimmt damit den Inhalt des Unterrichts, der nach der klassischen Formulierung von Gerhard Anschütz „in konfessioneller Positivität und Gebundenheit“ zu erteilen ist.8 Aufgabe des Religionsunterrichts ist nicht allein die Vermittlung von Wissen, sondern auch und wesentlich Verkündigung und Unterweisung, kurz: religiöse Erziehung. Die Ziele werden umschrieben im sächsischen Konkordat von 1996: „Gegenstand des katholischen Religionsunterrichts ist die Vermittlung der katholischen Glaubens- und Sittenlehre. Er soll zu religiösem Leben und zu verantwortlichem Handeln in Kirche und Gesellschaft motivieren.“9 In der Grundschule steht das praktische Ziel religiöser Erziehung im Vordergrund; mit zunehmender Reife der Schüler „intellektualisiert“ sich der Unterricht und nimmt in der Oberstufe des Gymnasiums Züge eines wissenschaftlichen Faches an. Der Religionsunterricht folgt den Grundsätzen der jeweiligen Religionsgemeinschaft, wird also auf konfessioneller Grundlage erteilt. Der Staat mutet den 8 

Anschütz (Fn. 1), Art. 149 Anm. 4 (S. 691). Affirmativ: BVerfGE 74, 244 (252). Abs. 2 S. 1 und 2 Vertrag zwischen dem Heiligen Stuhl und dem Freistaat Sachsen. – Zu den Zielen auch BVerfGE 74, 244 (253); Joseph Listl, Zur Frage, ob einer Öffnung des bisher nach Konfessionen getrennt erteilten Religionsunterrichts für Schüler eines anderen Bekenntnisses in der Sekundarstufe II des Landes rechtliche Bedenken entgegenstehen, in; ders. (Hrsg.), Der Religionsunterricht als bekenntnisgebundenes Lehrfach, 1983, S. 73 (74 ff.); Karl-Hermann Kästner, Religiöse Bildung und Erziehung in der öffentlichen Schule, in: Essener Gespräche Bd. 32 (1998) S. 61 (63 ff.). 9  Art. 3

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christlichen Kirchen nicht zu, ihre Besonderheit zu verleugnen, sich auf gemeinchristliche Lehren zu beschränken und sich auf eine Art ökumenisches Esperanto zu verständigen. Freilich hindert er die Kirchen auch nicht, gemeinsame Grundsätze zu entwickeln oder gemeinsame Veranstaltungen durchzuführen. Der religiös neutrale Staat nimmt die Glaubenslehren hin, wie die Religionsgemeinschaften sie darstellen, und tastet sie nicht an. Die Übereinstimmung mit der kirchlichen Lehre ist nur gewährleistet, wenn die Kirche mitentscheidet über die Bestellung der Lehrer, die Auswahl der Lehrmittel und die Zulassung der Schulbücher.10 Sie kann sich den Unterricht nur zurechnen lassen, wenn sie Rechte zur Einsicht (Visitation, Inspektion) und zur Beanstandung hat. Darin liegt keine eigenständige geistliche Schulaufsicht. Denn die Kirche wirkt nicht unmittelbar auf Schule, Lehrer und Unterricht ein. Abhilfe leistet der Staat, dem die Schulaufsicht ausschließlich zusteht.11 Die Kompetenzen der Kirche beziehen sich allein auf die inhaltliche Seite des Unterrichts. Dazu gehört aber nicht nur das Was, sondern auch das Wie, nicht nur der Stoff des Unterrichts, sondern auch seine didaktische Aufbereitung und Vermittlung. In der Theorie mag sich der inhaltliche Aspekt der Religionspädagogik als Sache der Kirche unterscheiden vom Aspekt des Niveaus als Sache des Staates, in der Praxis gehören sie untrennbar zusammen, so daß Kirche und Staat gemeinsame pädagogische Verantwortung tragen. Unabweisbar bedarf die Kirche des Einflusses auf den Religionslehrer, der in ihrem Namen Glaubenslehren vermittelt. Nur sie kann über die Authentizität ihrer Lehre befinden und den Auftrag zur Verkündigung erteilen. Daher bedarf die Bestellung eines Religionslehrers ihrer Zustimmung. Sie erteilt das Mandat, den Glauben zu verkünden (missio canonica im katholischen, vocatio im evangelischen Bereich). Der Lehrer hat in seinen Auffassungen wie in seinem Lebenswandel die Gewähr dafür zu bieten, daß der Unterricht mit der Kirche übereinstimmt. Wenn diese Gewähr entfällt, kann die Kirche sich von ihm lösen und dafür sorgen, daß Person und Tätigkeit des Lehrers ihr nicht mehr zugerechnet werden. Deshalb hat sie das Recht, die missio (vocatio) zu widerrufen. Erteilung und Widerruf der geistlichen Sendung sind eine innerkirchliche Angelegenheit, die ausschließlich der kirchlichen Autonomie unterliegt (Art. 137 Abs. 3 WRV 10  Die kirchlichen Befugnisse sind typisches Thema der Konkordate. Repräsentativ ist die Regelung im Vertrag zwischen dem Heiligen Stuhl und dem Land MecklenburgVorpommern von 1998: „Die Kirche wird an der Erarbeitung der Rahmenrichtlinien und Lehrpläne, an der Auswahl der Lehrmittel und der Zulassung der Lernmittel beteiligt. Ihre Zustimmung ist erforderlich, soweit der Inhalt des Religionsunterrichts einschließlich seiner Didaktik berührt wird“ (Art. 4 Abs. 2 S. 3 und 4). 11  Gleichwohl kann man von einer Beteiligung der Kirchen „bei der Aufsicht über den Religionsunterricht“ sprechen, so der Vertrag zwischen dem Heiligen Stuhl und dem Freistaat Sachsen (Art. 3 Abs. 2 S. 4). – Allgemein zur Schulaufsicht: Friesenhahn (Fn. 6), S. 83 f.; Link (Fn. 6), S. 499.

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i. V. m. Art. 140 GG). Dem Staat kommt es nicht zu, die Kirchlichkeit des Religionslehrers und seines Unterrichts zu beurteilen und die kirchliche Entscheidung zu kontrollieren oder zu korrigieren.12 Gegenstand des Unterrichts ist Religion in ihrer Positivität, also Offenbarungsreligion, die auf transzendente Heilswahrheit gegründet ist. Das Thema übersteigt den Horizont des säkularen Staates, der allenfalls Raum bietet für eine politische Zivilreligion à la Rousseau oder für eine moralische Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft, wie Kant sie als philosophische Religionslehre entwirft und der statutarischen Religion entgegensetzt. Reduktionen und Abstraktionen solcher Art liegen dem Grundgesetz fern. Es schreibt auch nicht die Bestimmung des Reichskonkordats von 1933 fort, daß im Religionsunterricht „die Erziehung zu vaterländischem, staatsbürgerlichem und sozialem Pflichtbewußtsein aus dem Geiste des christlichen Glaubens- und Sittengesetzes mit besonderem Nachdruck gepflegt“ werde, ebenso wie es im gesamten übrigen Unterricht geschehe (Art. 21 S. 2).13 Die Verfassung unterwirft die Lehrinhalte auch nicht den Maßstäben, an denen sie staatliches Handeln mißt. Der Staat kontrolliert nicht, ob das Lehrprogramm mit der freiheitlich demokratischen Grundordnung vereinbar ist. Die Grundsätze der Religionsgemeinschaften sind außerstaatlicher Natur, ihre Quellen liegen jenseits des Geltungsbereichs der Verfassung. Der Staat rezipiert nicht die Lehren der Religion, denen er seinen Schulunterricht öffnet. Das bedeutet aber nicht, daß die Frage der Verfassungsverträglichkeit gleichgültig wäre. Hier muß unterschieden werden. Soweit der Religionsunterricht Themen des Glaubens behandelt, ist von vornherein keine Kollision mit der Verfassung des säkularen Staates möglich. Kollisionen können aber auftreten, soweit der Unterricht sich der Lebens­ praxis und der Orientierung im Diesseits zuwendet, also Fragen der Moral, der Kultur, der Politik. Gleichwohl kommen auch hier dem Staat keine Aufsichtsbefugnisse zu. Die Verfassung setzt als selbstverständlich voraus, daß ihr, alles in allem, die Lehren der christlichen Großkirchen zuträglich sind, mögen sich auch im einzelnen Widersprüche und Reibungen ergeben. Auf die Kirchen ist die Verfassungsgarantie des Religionsunterrichts zugeschnitten. Schwierigkeiten können auftreten, wenn neuartige Religionsgemeinschaften, etwa Jugendsekten, 12  Neuere konkordatsrechtliche Regelungen: Art. 3 Abs. 3 Vertrag Sachsens und Art. 4 Abs. 3 Vertrag Mecklenburg-Vorpommerns. – Zur kirchenrechtlichen Seite der missio canonica: Listl (Fn. 6), S. 604 f.; Link (Fn. 6), S. 491 ff. 13  Diese Bestimmung ist inhaltlich unvereinbar mit dem Grundgesetz. Daher stellt sich hier nicht die Frage, ob der Bund die konkordatäre Verpflichtung gegenüber den Ländern durchsetzen kann, die für das Schulwesen einschließlich des Religionsunterrichts die Kompetenz besitzen. Die Durchsetzbarkeit wird vom Bundesverfassungsgericht verneint, obwohl es an der Fortgeltung des Reichskonkordats für Bund und Länder festhält (BVerfGE 6, 309 ff., 336 ff., 342 ff. Bibliographie: Joseph Listl, Die Konkordate und Kirchenverträge in der Bundesrepublik Deutschland, 1. Bd., 1987, S. 30 f., 31 f.).

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oder wenn solche aus fremden Kulturkreisen wie der Islam die Garantie für sich in Anspruch nehmen wollen. Hier hat der Staat jedenfalls den Vorbehalt des ordre public geltend zu machen, der, für die Anwendbarkeit ausländischen Rechts entwickelt, mit gutem Grund vom Bundesverfassungsgericht auf das Verhältnis des Staates zur Kirche erstreckt wird.14 Die Offenheit des Staates für ein heterogenes System endet, wenn dieses gegen elementare Grundsätze verstößt, welche die Identität der Rechts- und Kultureinheit ausmachen. Die Einführung eines islamischen Religionsunterrichts stößt hier auf Widerstand.15 3.  Quis interpretabitur? Von der Frage nach inhaltlichen Vorgaben und nach rechtlichen Schranken zu unterscheiden ist die Frage nach der begrifflichen Qualifikation: was Religionsunterricht im Sinne des Art. 7 GG und was Religion im Rahmen dieses Religionsunterrichts bedeutet. Die Frage wird zum Problem, wenn der Religionsunterricht die transzendenten Bezüge kappt und sich in innerweltlichen Fragen wie solchen der Sozial-, der Asyl- und der Umweltpolitik erschöpft; wenn er die Offenbarungsreligion vertauscht mit Zivilreligion, den geistlichen Auftrag mit bloßer Lebensberatung; wenn er nicht mehr Glaubensunterweisung leistet, sondern distanziert über die Vielzahl der Welt- und Ortsreligionen berichtet; wenn er die Übereinstimmung mit der Religionsgemeinschaft preisgibt und nur noch Privatmeinungen und -bekenntnisse des Lehrers zum Gegenstand hat. Nicht jedes beliebige Thema verwandelt sich in Religion, bloß weil es im Religionsunterricht behandelt wird. Nicht jedwede Gestaltung der Schulstunden bedeutet Religionsunterricht, wie er der Verfassung vorschwebt. Damit erhebt sich die Grundfrage des Thomas Hobbes auch im Staatskirchenrecht: welche Seite im Konfliktfall die Norm des Art. 7 Abs. 3 GG und ihre Begriffe interpretiert.16 Die Antwort liegt nahe, die Kompetenz der Kirche zuzuweisen mit der Folge, daß der Staat hinzunehmen hat, wie diese ihrem Selbstverständnis gemäß Religion und Religionsunterricht definiert.17 Die reli14  Nach BVerfGE 70, 138 (168) findet die Anwendung kirchlicher Vorgaben im Arbeitsrecht ihre Grenze, wenn die Gerichte sich in Widerspruch zu Grundprinzipien der Rechtsordnung begäben, wie sie im allgemeinen Willkürverbot (Art. 3 Abs. 1 GG) sowie im Begriff der „guten Sitten“ (§ 138 Abs. 1 BGB) und des ordre public (Art. 30 EGBGB [nunmehr Art. 6 EGBG])) ihren Niederschlag gefunden haben. 15 Dazu Alfred Albrecht, Religionspolitische Aufgaben angesichts der Präsenz des Islam in der Bundesrepublik Deutschland, in: Essener Gespräche Bd. 20 (1986), S. 82 ff. (besonders S. 114); Wolfgang Loschelder, Der Islam und die religionsrechtliche Ordnung des Grundgesetzes, ebd., S. 149 ff. (besonders S. 168 ff.). 16 Dazu Josef Isensee, Wer definiert die Freiheitsrechte?, 1980. 17  In diesem Sinne allgemein Axel Isak, Das Selbstverständnis der Kirchen und Religionsgemeinschaften und seine Bedeutung für die Auslegung des staatlichen Rechts, 1994,

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giöse Neutralität, so heißt es in der Literatur, ergebe für den Staat ein Definitionsverbot.18 Jedoch ist das Gegenteil der Fall. Der Staat darf gerade wegen seiner Neutralität die Definition der Begriffe und Normen seiner Verfassung nicht den Kirchen und sonstigen außerstaatlichen Gruppen überlassen. Was er nicht definieren kann, das kann er auch nicht gewährleisten. Er beurteilt nicht die Wahrheit der Religionslehre, sondern das richtige Verständnis der staatlichen Verfassung. Es geht nicht um Religion im Sinne der Theologie oder der vergleichenden Religionswissenschaft, sondern um Religion im Sinne der grundgesetzlichen Garantie. So paradox es zunächst klingen mag: der verfassungsrechtliche Begriff von Religion ist nicht religiös, sondern säkular – Tatbestandsmerkmal einer im staatlichen Recht begründeten Garantie. Dieser Begriff von Religion und Religionsunterricht hat formalen Charakter: ein Passepartout, das sich mit unterschiedlichem Inhalt füllen läßt.19 Über Inhalt und Reichweite dieser Garantie mögen sich Kirchen und nichtkirchliche Instanzen, wie jedermann im Gemeinwesen, ihre Meinung bilden. Im Konfliktfall aber entscheidet der Staat. Er hat um der Rechts- und Friedenseinheit des Gemeinwesens willen das letzte Wort in der Interpretation der Begriffe und Normen seiner Verfassung, die diese Einheit begründet.20 Den Kirchen kommt pädagogische Autonomie zu, ob und wie sie den Religionsunterricht dem Wandel der Bedürfnisse und Gegebenheiten (etwa nach Einführung des Kollegsystems in der Oberstufe der Gymnasien) anpassen. Die Autonomie ist nicht unbegrenzt. Sie muß die Sinnidentität der verfassungsrechtlichen Konzepte wahren: die Vermittlung der Glaubenslehre einer Religionsgemeinschaft als „bestehende Wahrheiten“.21 Die Verfassungsgarantie richtet sich an dem Bild des Religionsunterrichts aus, wie er bei der Schaffung des Grundgesetzes praktiziert wurde. Damit wird die Praxis eines bestimmten historischen Moments nicht en bloc verfestigt. Die Entwicklung ist „in die Zeit hinein offen“.22 Unverrückbar aber ist der Begriff der Verfassung. Dieser steckt den Rahmen, innerhalb dessen sich die Entwicklung bewegen kann. Über den Rahmen hinaus ginge, wie das Bundesverfassungsgericht klarstellt, die Gestaltung des Unterrichts als allgemeine Konfessionskunde, als überkonfessionelle, S. 169 ff., 312 (kritische Rezension: Josef Isensee, in: ZevKR 43 [1998], S. 133 ff.); Martin Morlok, Selbstverständnis als Rechtskriterium, 1993, S. 227 ff., 309 ff. (zum Religionsunterricht S. 49 ff., 277). 18  Dazu mit Nachw. Isak (Fn. 17), S. 112 ff., 195 ff.; Morlok (Fn. 17), S. 331 ff. 19  Zu Rahmenbegriffen: Isensee (Fn. 16), S. 49 f. 20 Näher Josef Isensee, Grundrechtsvoraussetzungen und Verfassungserwartungen an die Grundrechtsausübung, in: HStR V, 1992, § 115 Rn. 117 ff. (Nachw.); Stefan Muckel, Religiöse Freiheit und staatliche Letztentscheidung, 1997, S. 61 ff. et passim. 21  Deutlich BVerfGE 74, 244 (252). 22  BVerfGE 74, 244 (252 f. – in Anknüpfung an Axel von Campenhausen).

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vergleichende Betrachtung religiöser Lehren, bloße Morallehre, als Sittenunterricht, historisierende und relativierende Religionskunde, als Religions- oder Bibelgeschichte.23

IV.  Die Akteure des Religionsunterrichts und ihre Rechtsbeziehungen 1.  Staat Die Garantie des Religionsunterrichtes bedeutet einen Auftrag an den Staat. Er ist der Pflichtenadressat. Ihm obliegt, die gesetzlichen Grundlagen zu schaffen und die schulorganisatorischen Voraussetzungen bereitzustellen. Der „Staat“ ist freilich keine kompakte Einheit, sondern bundesstaatlich ausdifferenziert und durch Selbstverwaltung dezentralisiert. Die Verfassungspflicht trifft in erster Linie die Länder, denen die Gesetzgebungs- und die Verwaltungshoheit zukommt. Daß der Staat in Pflicht genommen wird, entspricht der Struktur der Grundrechte. Nicht zufällig findet die Gewähr des Religionsunterrichts ihren Platz im Abschnitt „Die Grundrechte“. Doch im Unterschied zu einem typischen Grundrecht wie dem der Religionsfreiheit, die als subjektives Recht des Einzelnen gefaßt ist, hat die Gewähr ihrem Wortlaut nach den Charakter einer objektiven, sachbezogenen Pflicht des Staates. Auch das ist keine Anomalie. Es handelt sich um die Rechtsfigur der institutionellen Garantie.24 Einer solchen ist die Möglichkeit subjektiver Rechte nicht von vornherein abgeschnitten.25 Aus einer objektiven Gewährleistung können dem Einzelnen Ansprüche zuwachsen. Der Belastung des Staates durch die Garantiepflicht korrespondieren die Begünstigungen der Religionsgemeinschaften wie die der Schüler und ihrer Eltern. Wo die Verfassung aber Vorteile gewahrt, spricht die Vermutung dafür, daß sie dem Destinatar auch einen Anspruch darauf zuerkennt. So zeigt sich auch bei der Garantie des Religionsunterrichts das normale grundrechtliche Bild, das der staatlichen Pflicht die private Berechtigung korrespondiert.

23  BVerfGE 74, 244 (252, 253). Vgl. auch Hans Peters, Elternrecht, Erziehung, Bildung und Schule, in: Karl August Bettermann/Hans Carl Nipperdey/Ulrich Scheuner (Hrsg.), Die Grundrechte, Bd. IV/1, 1960, S. 369 (417); Friesenhahn (Fn. 6), S. 68: Listl (Fn. 9), S. 75; Kästner (Fn. 9), S. 76 ff. 24  Zu der Rechtsfigur Klaus Stern, Idee und Elemente eines Systems der Grundrechte, in: HStR V, 1992, § 108 Rn. 51 f. (Nachw.). 25  So der Fehlschluß von Ernst-Wolfgang Böckenforde, Diskussionsbeitrag, in: Essener Gespräche Bd. 32 (1998), S. 99 (100). Gegenansicht: Josef Isensee, ebd., S. 101 f. Vgl. auch Klaus Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. III/l, 1988, S. 274 f.

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2.  Religionsgemeinschaft Die Verfassungsgarantie wird vornehmlich (aber nicht ausschließlich) geprägt durch die Polarität und die Komplementarität von Staat und Kirche. Die Kirche steht dem Staat gegenüber als unabhängige Größe, die aus eigenem Recht mit ihm kooperiert und Verantwortung teilt. Doch der rechtliche Status ist von Grund auf verschieden. Nur der Staat ist von Verfassungs wegen gebunden, das Angebot des Religionsunterrichts zu machen, die Kirche ist frei, ob sie es annimmt oder nicht. Aus ihrer Sicht bedeutet die Verfassungsgarantie nur eine Option. Ihr subjektivrechtlicher Status gegenüber dem Staat ist differenziert. Ihr kommt ein status negativus zu: gegen ihren Willen darf Religionsunterricht, der ihr zuzurechnen ist, nicht eingerichtet, er darf auch nicht in Widerspruch zu ihren Lehren durchgeführt werden, also etwa katholischer Religionsunterricht im offenen Gegensatz zur „Amtskirche“.26 Darüber hinaus hat die Kirche aber auch einen status positivus: daß die öffentliche Schule überhaupt Religionsunterricht anbietet und daß dieser den Standard des ordentlichen Lehrfachs erhält. Das Grundgesetz spricht von Religionsgemeinschaften (zuvor die Weimarer Reichsverfassung von Religionsgesellschaften), nicht aber von Kirchen. Gleichwohl sind diese die prototypischen Destinatare der Garantie, und zwar die für die Praxis relevanten. Der Sprachgebrauch zeigt an, daß die Verfassung die Garantie nicht auf die bisherigen Destinatare beschränken will, sondern sie auch für andere offenhält. Die Newcomer müssen aber gewissen formalen Bedingungen entsprechen, die sie befähigen, die Aufgaben, die ihnen im Kondominium mit dem Staat zufallen, wirksam und zuverlässig zu erfüllen. Gewisse Anhaltspunkte dafür bieten die Kriterien, die eine Religionsgesellschaft erfüllen muß, um den Status der Körperschaft des öffentlichen Rechts zu erlangen; daß sie durch ihre Verfassung und die Zahl ihrer Mitglieder die Gewähr der Dauer bietet.27 Dem Islam fehlen diese Voraussetzungen. Ihm ist seiner Herkunft nach kirchliche Verfaßtheit fremd. Er ist nicht verbandsförmig organisiert. Ihm fehlen die mitgliedschaftliche Konsistenz und die institutionelle Repräsentanz, die ihn befähigten, wie die christlichen Kirchen dem Staat als Verantwortungspartner gegenüberzutreten und für ihre Mitglieder verbindlich zu reden.28 Ob einzelne muslimische 26  Ein analoges Problem aktualisierte sich bei der Errichtung eines Studienganges für katholische Theologie gegen den Willen der Ortsbistümer. Die Unzulässigkeit wird konstatiert durch das BVerwG, in: NJW 1996, S. 3287 ff.; dazu Martin Morlok/Markus H. Müller, Keine Theologie ohne die Kirche / Keine Theologie gegen die Kirche?, in: JZ 1997, S. 549 ff. 27  Art. 137 Abs. 5 S. 2 WRV i. V. m. Art. 140 GG. Dazu Paul Kirchhof, Die Kirchen und Religionsgemeinschaften als Körperschaften des öffentlichen Rechts, in: Listl/Pirson (Fn. 6), S. 651 (678 ff.). 28 Dazu Loschelder (Fn. 15), S. 169 ff.; Albrecht (Fn. 15), S. 114; Mückl (Fn. 6), S. 548 ff.

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Vereinigungen, die sich derzeit in Deutschland formieren (nicht zuletzt zu dem Zweck, die Möglichkeiten des deutschen Staatskirchenrechts zu nutzen), die Aufgabe einmal für ihre Mitglieder – nicht etwa für den Islam insgesamt – übernehmen können, ist heute noch nicht abzusehen. Es kann jedenfalls nicht Sache des Staates sein, von sich aus einer religiösen Organisation eine Schülerklientel zuzuführen, die ihr von Haus aus nicht angehört. Notwendige Voraussetzung für die Einrichtung eines islamischen Religionsunterrichts ist überdies die theologische Aufbereitung der Materie dergestalt, daß sie, der jeweiligen Schulart und -stufe gemäß, in einem ordentlichen Lehrfach ohne Niveauverlust angeboten werden kann. Dazu gehört auch ein Lehrpersonal, das von seiner Ausbildung wie seiner Qualifikation her den allgemeinen Anforderungen entspricht. 3.  Schüler und Eltern Der Religionsunterricht berührt die grundrechtliche Religionsfreiheit der Schüler. Soweit sie religionsmündig sind, ab dem 14. Lebensjahr,29 nehmen sie ihr Grundrecht selber wahr, zuvor werden sie gesetzlich vertreten durch ihre Eltern. Diese aber werden auch in einem eigenen Grundrecht betroffen. Dieses hat an sich seinen Sitz in der Religionsfreiheit sowie im Elternrecht, erfährt jedoch eine Spezialregelung, die den allgemeinen Grundrechten vorgeht, im Verfassungssatz, daß die Erziehungsberechtigten das Recht haben, über die Teilnahme des Kindes am Religionsunterricht zu bestimmen (Art. 7 Abs. 2 GG).30 Die Grundrechte der Schüler wie ihrer Eltern sichern die Freiwilligkeit des Besuchs. Bei freiwilliger Teilnahme bedeutet der Religionsunterricht keine Beschränkung der Religionsfreiheit, sondern deren Erfüllung. Die Freiwilligkeit wird nicht dadurch in Frage gestellt, daß es nicht der besonderen Anmeldung zum Religionsunterricht bedarf, sondern – hier wirkt sich der Charakter des ordentlichen Lehrfachs als Pflichtfach aus – daß die Schule die Kinder nach ihrer Konfessionszugehörigkeit dem jeweiligen Unterricht zuweist, falls keine ausdrückliche Abmeldung erfolgt. Das Recht zur Abmeldung ist hinlänglicher Garant der Freiwilligkeit. Der Schüler hat Anspruch auf Teilnahme am Religionsunterricht seiner Konfession. Umstritten ist, ob er wählen und die Zulassung zum Unterricht einer anderen Konfession beanspruchen kann.31 Ein solcher Anspruch wird auch für 29 So die gesetzliche Abgrenzung in § 5 S. 1 des als Bundesgesetz fortgeltenden Reichsgesetzes über die religiöse Kinderziehung von 1921. Dazu eingehend Matthias Jestaedt, Das elterliche Erziehungsrecht im Hinblick auf Religion, in: Listl/Pirson (Fn. 6), S. 371 (386 ff., 404 ff.). 30 Dazu Jestaedt (Fn. 29), S. 375 ff., 385 f.; ders., in: Bonner Kommentar, Lieferung 1995, Art. 6 Abs. 2 und 3, Rn. 266 (Nachw.). 31 Zustimmend Friesenhahn (Fn. 6), S. 111 (Diskussionsbeitrag). Dagegen die von Joseph Listl herausgegebenen Rechtsgutachten, Der Religionsunterrieht als bekenntnisgebundenes Lehrfach, 1983; Hollerbach (Fn. 6), § 140 Rn. 37, 40.

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solche Schüler erörtert, die keiner Religionsgemeinschaft angehören, aber wünschen, die christliche Lehre kennenzulernen – ein Wunsch, der heute gerade in den paganisierten Regionen der vormaligen DDR wach ist. Die Vorstellung, daß sich Kinder zum Unterricht eines fremden Bekenntnisses anmelden könnten, lag den Schöpfern des Grundgesetzes wie zuvor denen der Weimarer Reichsverfassung fern.32 Der Staat kann von sich aus die Zulassung nicht erteilen, weil diese Rückwirkung zeitigte auf die inhaltliche wie didaktische Gestaltung des Religionsunterrichts. Dieser fällt unterschiedlich aus, wenn er sich ausschließlich an konfessionszugehörige Schüler wendet oder auch an andere.33 Die innerkirchliche Glaubenserziehung müßte sich in eine Art Missionslehre verwandeln. Die Religionsgemeinschaft befindet darüber, ob konfessionsfremde Schüler Zugang erhalten. Wenn sie sich dafür entscheidet, hält sie sich im Rahmen ihres verfassungsrechtlichen Selbstbestimmungsrechts, solange der Unterricht dadurch nicht seinen Charakter als konfessionsgebundene Veranstaltung einbüßt.34 In der Praxis öffnen die Kirchen den Religionsunterricht zunehmend Andersgläubigen. Auch in den westlichen Regionen Deutschlands gibt es bereits Religionsunterrichtsklassen mit überwiegend ungetauften Schülern. Die Kirchen erkennen und ergreifen die Chance, Kindern aus kirchenfernen Familien und entchristlichter Umwelt den Glauben vorzustellen und nahezubringen – eine neue Funktion, die nicht notwendig verfassungsrechtlichen Identitätsverlust nach sich zieht. Das Recht auf Teilnahme am Religionsunterricht setzt voraus, daß der Unterricht überhaupt angeboten wird. Wo das nicht der Fall ist und der Staat den Verfassungsauftrag nicht erfüllt, haben Schüler wie Eltern den Anspruch darauf, daß der Unterricht eingeführt wird, und zwar auf dem von der Verfassung vorgegebenen Niveau des ordentlichen Lehrfachs.35 4.  Religionslehrer Ob und wie Staat und Kirche die Verfassungsgarantie des Religionsunterrichts verwirklichen, entscheidet sich letztlich in der Leistung, die der Religionslehrer

32 Vgl.

Ulrich Scheuner, Die Teilnahme von Schülern anderer Konfessionen am Religionsunterricht, in: Listl (Fn. 31), S. 57 (58 f.). 33  So BVerfGE 74, 244 (254 f.). 34  BVerfGE 74, 244 (254). 35  Ein solcher Anspruch ist umstritten. Zutreffend wird er bejaht von Theodor Maunz, in: ders./Günter Dürig (Hrsg.), Grundgesetz, Stand: 1980, Art. 7 Rn. 47; Stern (Fn. 25), S. 874; Link (Fn. 6), S. 496 f.; Helmut Lecheler, in: Michael Sachs (Hrsg.), Grundgesetz, 1996, Art. 7 Rn. 44, Kästner (Fn. 9), S. 67 f. – Ablehnend: Dirk Ehlers, Entkonfessionalisierung des Religionsunterrichts, 1975, S. 36; Hollerbach (Fn. 6), § 140 Rn. 34; Konrad Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 20. Aufl. 1995, Rn. 279.

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erbringt.36 Noch so sorgfältige Vorkehrungen auf der Ebene der Institutionen in Schulgesetzen, Konkordaten, Lehrplänen machen die personalen Momente nicht entbehrlich: das fachliche Können, den pädagogischen Einsatz, die religiöse Glaubwürdigkeit, die Amtsloyalität des einzelnen Lehrers. Loyalität schuldet er sowohl dem Staat, in dessen Dienst er steht, als auch der Kirche, mit deren Lehre sein Unterricht übereinstimmen muß. Hier wie dort steht er unter dem Gesetz des Amtes, sich seiner vorgegebenen Sache hinzugeben und seine Subjektivität der Sache unterzuordnen, treuhänderisch anderen zu dienen und nicht privaten Neigungen zu folgen. Amt ist Dienst, nicht Selbstverwirklichung.37 Das Recht trägt dieser zwiefachen Loyalität dadurch Rechnung, daß der Lehrer in einem Dienstverhältnis zum staatlichen Schulträger steht, in der Regel als Beamter, und daß die Übertragung des Religionsunterrichts der Zustimmung der betreffenden Kirche (missio canonica, vocatio) bedarf. Kirchlichkeit aber läßt sich nicht mit rechtlichen Mitteln erzwingen. Der Staat ist aus Gründen der religiösen Neutralität gehindert, dienstrechtlichen Zwang zu üben. Der Kirche aber stehen von vornherein keine Zwangsbefugnisse zu; sie kann freilich im Grenzfall die missio (vocatio) entziehen. Das Grundgesetz schützt die Selbstbestimmung des Lehrers, indem es ausdrücklich zusichert, daß kein Lehrer gegen seinen Willen verpflichtet werden darf, Religionsunterricht zu erteilen (Art. 7 Abs. 3 S. 3 GG). Die Verfassungsvorschrift richtet sich nicht gegen Zwangsrekrutierung; diese ist ohnehin im öffentlichen Dienst nicht möglich. Vielmehr sichert sie zu, daß die (an sich freiwillig übernommene) Dienstpflicht des Lehrers, jedwede amtsgemäße Unterrichtsaufgabe wahrzunehmen, am Religionsunterricht endet. Der Studienrat für die Fächer Deutsch und Religion kann seinen Dienst für das Fach Religion, nicht jedoch für das andere, verweigern, und zwar ohne Angabe von Gründen und ohne dienstrechtliche Sanktionen gewärtigen zu müssen. Für den Dienstherrn können sich erhebliche Schwierigkeiten ergeben, das Stundendeputat des Lehrers aufzufüllen; jedenfalls darf er den Lehrer, der mitten im Schuljahr aus jäher Eingebung heraus seine Absage erklärt, hindern, seine Arbeit sofort abzubrechen, und zur Konsequenz anhalten, die übernommene Aufgabe bis zum Ende des Schuljahres zu erfüllen.38 Die Selbstentpflichtung, die das Grundgesetz hier gestattet, ist eine Anomalie des Beamtenrechts. Kein Beamter kann seinen Dienst aus religiösen oder Gewissensgründen verweigern. Die Sondernorm erklärt sich aus der Besonderheit des Religionsunterrichts, bei dessen Durchführung widerstreitende Prinzipien zum Ausgleich gebracht werden: die religiöse Identifikation des Un36 

Zum Status des Lehrers: Link (Fn. 6), S. 470 ff. zum Prinzip des Amtes Wolfgang Loschelder, Vom besonderen Gewaltverhältnis zur öffentlich-rechtlichen Sonderverbindung, 1982, S. 227 ff. 38  Zu den praktischen Folgeproblemen Link (Fn. 6), S. 471 ff. (Nachw.). 37  Grundlegend

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terrichts, die religiöse Neutralität des staatlichen Schulträgers und die Religionsfreiheit des Lehrers. Im Ergebnis zeigt sich, daß das ordentliche Lehrfach auf Freiwilligkeit gründet. Der Religionsunterricht ist „Pflichtfach für die Schule, aber nicht für die einzelnen Lehrer und Schüler“.39 Die konfessionelle Gebundenheit des Religionsunterrichts ergibt sich aus der Selbstbindung des Lehrers.

V.  Alternativunterricht: Ethik und Philosophie Die Verfassung Bayerns sieht vor, das für Schüler, die nicht am Religionsunterricht teilnehmen, ein Unterricht über die allgemein anerkannten Grundsätze der Sittlichkeit einzurichten ist.40 Das bayerische Beispiel macht Schule. Gemäß den Verfassungen Sachsens, Sachsen-Anhalts und Thüringens sind Ethikunterricht und Religionsunterricht ordentliche Lehrfächer.41 Die sächsische Verfassung stellt es bis zum Eintritt der Religionsmündigkeit den Erziehungsberechtigten anheim, zu entscheiden, in welchem dieser Fächer ihr Kind erzogen wird.42 Die meisten Länder ziehen in ihren Schulgesetzen nach und führen für die Schüler, die nicht am Religionsunterricht teilnehmen, einen Ersatzunterricht in Ethik oder Philosophie ein.43 Anders als der Religionsunterricht ist sein Ersatz nicht abwählbar.44 Das Unterrichtsfach stößt auf Kritik aus verschiedenen Lagern: hier erscheint es als verkappter Religionsunterricht und als Verstoß gegen das Prinzip der Freiwilligkeit, dort als Abwerbung vom Religionsunterricht und Erziehung zu religiöser Indifferenz.45 Gefahren solcher Art mögen im Einzelfall auftreten. Doch der Ersatzunterricht als solcher löst sie nicht aus. Sein Sinn ist es, das Vakuum zu füllen, das sich aus dem Fehlen des Religionsunterrichts für eine zunehmend größere Zahl der Schüler ergibt. Das gelingt freilich nur in den Grenzen, die dem Verfassungsstaat in seiner Gebundenheit an religiös-weltanschauliche Neu39 

Anschütz (Fn. 1), Art. 149 Anm. 1 (S. 689). Art. 137 Abs. 2 Verfassung des Freistaats Bayern. 41  Art. 105 Abs. 2 S. 1 Verfassung des Freistaats Sachsen, Art. 27 Abs. 3 S. 1 Verfassung des Landes Sachsen-Anhalt, Art. 25 Abs. 1 Verfassung des Freistaats Thüringen. 42  Art. 105 Abs. 2 S. 2 Sächs. Verf. 43 Übersicht über Entwicklung und Rechtsquellen: Gitta Werner, Verfassungsrechtliche Fragen des Ersatzunterrichts zum Religionsunterricht, Diss. Bonn 1998, S. 4 ff., 248 ff. Materialien: Wolfram Ellinghaus (Hrsg.), Wozu Ethikunterricht?, 1996. 44 Dazu Werner (Fn. 43), S. 176 ff. 45  Übersicht über die Positionen mit Nachw.: Werner (Fn. 43), S. 43 ff. Gerichtliche Attacke: VG Hannover, Beschluß vom 20.8.1997, in: DVBl 1998, S. 405 ff. mit (kontradiktorischer) Anmerkung von Raimund Wimmer, ebd., S. 407 ff. Vgl. auch Stefan Mückl, Verfassungswidriger Ethikunterricht?, in: VBlBW 1998, S. 86 ff. 40 

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tralität gesteckt sind. Seine kompensatorischen Möglichkeiten bestehen in der Vermittlung von Wissen über Philosophie und Ethik, aber auch über Religion, zumal die christliche, die auch für Nichtchristen als prägende Kraft der kulturellen Herkunft und wesentlicher Bestandteil europäischer Identität bedeutsam ist. Religion, so sie denn zu behandeln ist, wird nicht als Wahrheit vermittelt, sondern als historisches, kulturelles, soziales Faktum. Über bloße Information hinaus soll der Ersatzunterricht aber auch Erziehungsarbeit leisten und dem Schüler ethische Orientierungshilfe bieten. Das mögliche Engagement beschränkt sich auf den Grundstock ethischer Überzeugungen, in dem die pluralistische Gesellschaft einig ist oder doch von Verfassungs wegen einig sein müßte. Das aber ist nur ein fragmentarisches Ethos, das sich vom ganzheitlichen Ethos des Christentums absetzt.46 Der Ersatzunterricht vermag also nicht, den Religionsunterricht vollwertig zu substituieren. Aber seine Einführung kann die Institution des Religionsunterrichts von seinen Voraussetzungen her fördern dadurch, daß sie Chancen- und Lastengleichheit unter allen Schülern herstellt. Nun bringt die Abwahl des Religionsunterrichts nicht mehr Entlastung von einem versetzungserheblichen Fach und nicht mehr Zugewinn an Freizeit. Auf der anderen Seite entsteht eine heilsame Konkurrenz, die dem geistigen Profil und dem pädagogischen Niveau beider Fächer nur zuträglich sein kann.

VI.  Verfassungsrechtlicher Grundsatzkonflikt: L-E-R in Brandenburg 1.  Das Konzept des Brandenburgischen Schulgesetzes Vom Ethikunterricht, wie ihn Bayern oder Sachsen anbieten, unterscheidet sich von Grund auf das Fach „Lebensgestaltung – Ethik – Religionskunde“ (L-ER).47 Dieses Fach tritt nicht neben den Religionsunterricht als subsidiäre Alternative. Vielmehr substituiert es ihn auf ganzer Linie. Als „bekenntnisfreies, religiös und weltanschaulich neutral“ offeriertes Fach ist es für alle Schüler obligatorisch. Der Wille der Erziehungsberechtigten ist unerheblich. Die Eltern werden lediglich über Ziele, Inhalte und Formen des Unterrichts „rechtzeitig und umfassend“ informiert.48 Die Möglichkeit der Abmeldung, wie sie andernorts für den Religionsunterricht vorgesehen ist, besteht nicht. Doch läßt das Gesetz einen Dispens zu. Die staatlichen Schulämter können auf Antrag der Eltern (bzw. des religions46 Dazu Josef Isensee, Verfassung als Erziehungsprogramm?, in: Aloysius Regenbrecht (Hrsg.), Bildungstheorie und Schulstruktur, 1986, S. 190 ff. 47  § 11 Abs. 2 – 4 Gesetz über die Schulen des Landes Brandenburg vom 12. April 1996 (BbgSchulG). 48  § 11 Abs. 3 S. 2 BbgSchulG.

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mündigen Schülers) von der Teilnahme an L-E-R befreien, wenn ein wichtiger Grund das rechtfertigt.49 Das neue Fach L-E-R ist kein Religionsunterricht im Sinne des Grundgesetzes und soll es auch nicht sein nach den Absichten seiner politischen Urheber, die es als Alternative zum hergebrachten Religionsunterricht verstehen.50 Freilich übernimmt das Fach L-E-R einzelne Funktionen, die diesem Lehrfach bisher zukommen: Vermittlung von „Grundlagen für eine wertorientierte Lebensgestaltung, von Wissen über Traditionen philosophischer Ethik und Grundsätzen ethischer Urteilsbildung sowie über Religionen und Weltanschauungen“.51 Es geht nicht nur um Wissen, sondern auch um Erziehung des Schülers zu selbstbestimmter und verantwortlicher Lebensgestaltung, um Hilfe zur eigenständigen und urteilsfähigen Orientierung „in einer demokratischen und pluralistischen Gesellschaft mit ihren vielfältigen Wertvorstellungen und Sinnangeboten“.52 Das Fach L-E-R ist konzipiert als „wertorientierter Unterricht“, in dem die Jugendlichen „unabhängig von ihrer jeweiligen Religionszugehörigkeit und Weltanschauung zu Achtung und Toleranz gegenüber anderen Weltanschauungen und Glaubensbekenntnissen erzogen werden sollen“.53 Gleichwohl soll der Unterricht „bekenntnisfrei religiös und weltanschaulich neutral“ erteilt werden. Ob die Neutralitätsdirektive Wirkung zeitigt, entscheidet sich in der Praxis. Die vagen Formeln des Schulgesetzes gestatten keine Prognose. Der Umstand, daß der Unterricht Lehrern überantwortet wird, die bis 1990 Marxismus-Leninismus indoktriniert haben, weckt Zweifel.54 Der Religionsunterricht wird im Brandenburgischen Schulgesetz aus den Bereichen des Staatlichen und des Schulischen abgedrängt ins Private: zu einer Veranstaltung, die allein von den Religionsgemeinschaften sachlich-inhaltlich und personell-organisatorisch getragen und verantwortet wird. Der Staat ist zu bestimmten Bedingungen bereit, für den Unterricht Schulräume bereitzustellen, finanzielle Zuschüsse zu zahlen und gewisse weitere Unterstützungsleistungen zu erbringen.55 Doch damit ist der Konflikt zwischen dem Brandenburgischen Schulgesetz und der grundgesetzlichen Garantie des Religionsunterrichts programmiert. Die Frage ist, ob sich die brandenburgische Regelung verfassungsrechtlich rechtfertigen läßt. 49 

§ 141 S. 2 und 3 BbgSchulG. Regierungsentwurf zum BbgSchulG, LT-Drucks. 2/1675, Begründung zu § 9,

50  Vgl.

S. 15. 51  § 11 Abs. 2 S. 2 BbgSchulG. 52  § 11 Abs. 2 S. 1 BbgSchulG. 53  So Minister Dr. Hans Otto Bräutigam in der 96. Sitzung des Deutschen Bundestages am 15. März 1996, in: Plenarprotokoll 13/96, S. 9547 (A). 54 Kritisch: Kästner (Fn. 6), S. 84 f. 55  Vgl. §§ 4, 9, 11, 141 BbgSchulG.

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2.  Schulhoheit des Landes und grundgesetzlicher Föderalismus Die politischen Befürworter der Brandenburger Regelung berufen sich darauf, daß das Schulwesen in der bundesstaatlichen Kompetenzordnung den Ländern zukomme und eine der wenigen Materien sei, in denen ihnen volle Entscheidungsverantwortung verblieben sei. Daher widerspreche es dem föderalen Prinzip, daß ihnen in der Frage des Religionsunterrichts durch bundesrechtliche Vorgaben die Hände gebunden werden sollten.56 Die Argumentation geht fehl. Die Normen des Grundrechtsteils, unter ihnen die institutionelle Garantie des Religionsunterrichts, binden die Gesetzgebung im Bund wie in den Ländern (Art. 1 Abs. 3 GG) und machen keinen Unterschied zwischen den beiden Ebenen der föderalen Staatsorganisation. Der Vorrang des Grundrechtsteils der Bundesverfassung wird eigens betont, wenn die Kollisionsnorm des Art. 142 GG Bestimmungen der Landesverfassung auch insoweit in Kraft beläßt, als sie in Übereinstimmung mit den Artikeln 1 bis 18 GG Grundrechte gewährleisten. Landesverfassungsrechtliche Vorschriften, die den Normen aus diesen Artikeln widersprechen, sind gemäß der allgemeinen Kollisionsnorm des Art. 31 GG nichtig.57 Die Grundrechte des Grundgesetzes bilden eine unitarische Komponente innerhalb der bundesstaatlichen Ordnung des Grundgesetzes. Dieses erweist sich hier nicht nur als die Verfassung des Zentralstaates, sondern als die gesamtstaatliche Verfassung, die Zentralstaat und Gliedstaaten gemeinsamen rechtlichen Regeln unterwirft und einen gleichen grundrechtlichen Standard im Gemeinwesen gewährleistet.58 Daß die Bundesverfassung den Religionsunterricht gesamtstaatlich und für alle Länder verbindlich gewährleisten solle,59 gehört zu den tragenden Elementen des Bonner Verfassungskompromisses, für den die Bestimmungen im Erziehungswesen und im Staat-Kirchen-Verhältnis entscheidende Bedeutung hatten.60 56 In diesem Sinne etwa: Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen, in: BTDrucks. 13/4090 vom 13. März 1996. 57 Dazu mit Nachw. Jost Pietzcker, Zuständigkeitsordnung und Kollisionsrecht im Bundesstaat, in: HStR IV, 1990, § 99 Rn. 45 ff. 58  Dazu mit Nachw. Josef Isensee, Idee und Gestalt des Föderalismus im Grundgesetz, in: HStR IV, 1990, § 98 Rn. 84, 227. 59  Die Ausnahme ist der Anwendungsbereich der Bremer Klausel (Art. 141 GG). 60  Repräsentativ die Äußerung des Abg. Süsterhenn (CDU) im Parlamentarischen Rat, daß seine Fraktion dem Elternrecht (sc. gerade in seinen schulorganisatorischen Konsequenzen) noch höhere Bedeutung beimesse als dem Problem der Bundesfinanzverwaltung oder der Länderfinanzverwaltung und daß die Entscheidung darüber für die Gesamthaltung der Fraktion in der Verfassungsfrage wesentlich sein werde: „… Es handelt sich hier um Fragen, die für uns so fundamental sind, daß sie weit über die sonstigen strittigen Punkte, beispielsweise Landes- oder Bundesfinanzverwaltung, hinausgehen. Hier wird

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Die Grundrechte (einschließlich der institutionellen Garantien des Art. 7 Abs. 3 GG) tasten nicht die bundesstaatliche Kompetenzverteilung, diese tastet nicht die Grundrechte an. Die Regelungen bewegen sich auf verschiedenen Ebenen; die Grundrechte auf der zwischen Staat und Privaten, die Kompetenzen auf der zwischen Bund und Ländern. Soweit Grundrechtsnormen Gesetzgebungsaufträge umschließen, werden sie von der für das jeweilige Sachthema zuständigen Ebene des Bundesstaates ausgeführt.61 Der Gesetzgebungsauftrag des Art. 7 Abs. 3 GG, den Religionsunterricht, soweit die staatliche Schulaufsicht reicht, auszugestalten und die kollidierenden Belange der Beteiligten auszugleichen, wird durch die Länder umgesetzt, denen die Gesetzgebungskompetenz im Schulwesen zusteht. Auf der anderen Seite ergibt die Gesetzgebungskompetenz des Landes („Schulhoheit“) kein verfassungsrechtliches Argument dafür, die institutionelle Garantie besonders restriktiv zu interpretieren oder gar zurückzunehmen. Die bundesstaatlichen Normen des Grundgesetzes stehen von vornherein im Kontext der Grundrechte und können nicht gegen diese ausgespielt werden. 3.  Ausnahmefall der bekenntnisfreien Schule Die institutionelle Garantie des Religionsunterrichts erfaßt nicht die bekenntnisfreie Schule. Doch dieser Fall liegt in Brandenburg nicht vor. Die bekenntnisfreie Schule ist ein Ausnahmetypus der öffentlichen Schule, der sich von deren gesetzlichem Regeltypus absetzt, für den der Religionsunterricht ordentliches Lehrfach ist. Sie kommt überhaupt nur in Betracht als Ausnahme von der Regel, an die Art. 7 Abs. 3 GG anknüpft. Denn sie wird nicht in erster Linie konstituiert durch materiale Kriterien der Bekenntnisfreiheit, sondern durch formale Kriterien der Abweichung vom Regeltypus. Welcher Schultypus auch immer dominiert – er kann niemals „bekenntnisfrei“ im Sinne des Art. 7 Abs. 3 GG sein. Diese Bedeutung war bereits dem Ausnahmetatbestand in der Vorgängerbestimmung, Art. 149 Abs. 1 S. 1 WRV, eigen.62 Die Grundschule sollte nach der der weltanschauliche Bereich berührt, da liegt für uns die Möglichkeit zu einem Kompromiß oder zu einem Entgegenkommen gegenüber einer andern Auffassung viel, viel geringer, als auf sämtlichen übrigen Gebieten, die hier die Verfassung berühren. Es ist für uns eine der ernstesten Fragen, und diese Frage wird zweifellos für unsere Gesamthaltung in der ganzen Verfassungsfrage einen entscheidenden Einfluß mit ausüben“ (in: Parlamentarischer Rat, Ausschuß für Grundsatzfragen, 29. Sitzung vom 4. Dezember 1948, in: Der Parlamentarische Rat 1948 – 1949, Bd. 5/11, 1993, S. 815). 61 Zu den Gesetzgebungsaufträgen aus den grundrechtlichen Schutzpflichten: Josef Isensee, Das Grundrecht als Abwehrrecht und als staatliche Schutzpflicht, in: HStR V, 1992, § 111 Rn. 148 (Nachw.). 62 „Der Religionsunterricht ist ordentliches Lehrfach der Schulen mit Ausnahme der bekenntnisfreien (weltlichen) Schulen.“ – Entstehungsgeschichte: Walter Landé,

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Weimarer Verfassung „für alle gemeinsam“ sein (Art. 146 Abs. 1 S. 1): als für alle zugängliche und für alle obligatorische Einheitsschule im sozialen, aber auch im konfessionellen Sinne, also als Simultan- oder Gemeinschaftsschule.63 Die Garantie des Religionsunterrichts bildete im Weimarer Schulkompromiß eine Art konfessionellen Ausgleich für die Simultanschule als Regelschule. Das Wort „weltlich“ wirkte in diesem Zusammenhang mißverständlich, weil die geistliche Schulaufsicht abgeschafft war und das gesamte staatliche Schulwesen weltlichen Charakter besaß. In „bekenntnisfreien (weltlichen)“ Schulen fand das Wort „weltlich“ daher „in noch anderem, stärkerem Sinne“ Anwendung als auf alle übrigen öffentlichen Schulen.64 Das galt nicht minder für die Bezeichnung „bekenntnisfrei“, da auch die „für alle gemeinsame“ Simultanschule nicht an ein Bekenntnis gebunden war. Der Ausnahmetypus wurde als „religionslos“ gekennzeichnet.65 Die Errichtung „bekenntnisfreier (weltlicher)“ Schulen wäre nur unter besonderen formellen wie materiellen Bedingungen zulässig gewesen, als Volksschulen eines Bekenntnisses oder einer Weltanschauung (Art. 146 Abs. 2 WRV). Der Landesgesetzgeber hätte sie nur nach Grundsätzen eines besonderen Reichsgesetzes einführen dürfen (Art. 146 Abs. 2 S. 3 WRV). Dieses Reichsgesetz aber wurde niemals erlassen. Für das Interim bis zu dem (nie erfolgten) Erlaß verfügte die Reichsverfassung eine Änderungssperre (Art. 174 S. 1 WRV), so daß „bekenntnisfreie (weltliche)“ Schulen in dem Provisorium auf Dauer der Weimarer Verfassung nicht errichtet werden durften.66 Das Sächsische Übergangsgesetz für das Volksschulwesen vom 22. Juli 1919, das in § 2 Abs. 2 vorsah, daß Religionsunterricht in der allgemeinen Volksschule nicht mehr erteilt werde, wurde vom Reichsgericht durch Beschluß vom 29. November 1920 für unvereinbar mit Art. 146, 149, 174 WRV erklärt:67 Die Reichsverfassung stehe auf dem Standpunkt, daß in den Volksschulen, die gemäß der Regelvorschrift des Art. 146 Abs. 1 Gemeinschaftsschulen seien, Religionsunterricht erteilt werden müsse und daß der Religionsunterricht nur in den Volksschulen wegfalle, die aufgrund der Ausnahmevorschrift des Art. 146 Abs. 2 als bekenntnisfreie Schulen errichtet seien. Diese aber dürften nach Art. 174 S. 1 WRV vor dem Erlaß des die näheren Grundsätze darüber aufstellenden Reichsgesetzes nicht eingeführt werden. Bekenntnisfreie Schulen seien aber solche, „die neben der in dem betreffenden Art. 143 – 149. Bildung und Schule, in: Hans Carl Nipperdey (Hrsg.), Die Grundrechte und Grundpflichten der Reichsverfassung, 3. Bd., 1930, S. 1 (80 ff.). 63 Vgl. Anschütz (Fn. 1), Art. 146 Anm. 3 und 4 (S. 678 f.). 64 Vgl. Anschütz (Fn. 1), Art. 149 Anm. 1 (S. 689). 65  Anschütz (Fn. 1), Art. 146 Anm. 7 (S. 681). 66 Vgl. Anschütz (Fn. 1), Art. 174 Anm. 2 (S. 757 f.). Dazu auch Walter Landé, Die Schule in der Reichsverfassung, 1929, S. 96 ff.; Reinhard Schmoeckel, Der Religionsunterricht, 1964, S. 91 ff. (Nachw.). 67  RGBl. 1920 S. 2016.

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Lande als Regelform eingeführten Gemeinschaftsschule mit Religionsunterricht ausnahmsweise“ eingerichtet würden. Sachsen verstieß also gegen Art. 149 WRV, wenn es sämtliche öffentlichen Volksschulen in bekenntnisfreie Schulen umwandelte, diese also zur Regelform erhob.68 Der Bonner Verfassunggeber machte sich die Weimarer Garantie des Religionsunterrichts einschließlich des Ausnahmetatbestandes der „bekenntnisfreien Schulen“ zu eigen, obwohl er im Unterschied zum Weimarer Verfassunggeber die Entscheidung zwischen Gemeinschafts- und Bekenntnisschule den Ländern überließ. Die Funktion des Ausnahmetatbestandes ist unverändert. „Bekenntnisfrei“ kann niemals die Regelform der öffentlichen Schule sein, sondern nur eine an besondere Voraussetzungen geknüpfte Sonderform. „Der Begriff öffentliche ‚bekenntnisfreie‘ Schule ist nicht weiter als der entsprechende Begriff der Weimarer Verfassung, wo er zum ersten Mal geprägt worden ist; d. h. es fallen darunter ausschließlich nur solche öffentlichen Schulen (Volksschulen), die gegebenenfalls auf Antrag (von Erziehungsberechtigten) eingerichtet werden. Es wäre ein glatter Verstoß gegen diese Verfassungsbestimmung bzw. ein unzulässiger Umgehungsversuch, wenn etwa ein Land es unternehmen würde, im Wege der Landesgesetzgebung ‚bekenntnisfreie‘ Schulen als staatliche Regelschulen einzuführen bzw. aufrechtzuerhalten“.69 Es ist daher müßig zu erwägen, ob das Brandenburgische Schulgesetz eine bekenntnisfreie Schule einführe, und ob die Ziele und Grundsätze der Erziehung und Bildung sowie das Programm des Faches L-E-R nicht wenigstens in diese Richtung wiesen. Denn nicht allein die weltanschauliche Tendenz macht die bekenntnisfreie Schule, sondern vornehmlich ihr Ausnahmecharakter. Der Gesetzgeber Brandenburgs hat es im Jahre 1996 ebensowenig in der Hand, alle Schulen zu bekenntnisfreien zu machen, wie im Jahre 1919 der Gesetzgeber Sachsens. Das Schrifttum lehnt denn auch einmütig ab, daß auf eine solche Weise die Garantie des Art. 7 Abs. 3 GG durch die Erhebung des Ausnahmefalles zum Regeltatbestand zunichte gemacht und sie durch Entzug ihrer Voraussetzung ausgehebelt werden kann.70 68  RG, in: AöR 40 (1921), S. 98 (100 ff.) mit zustimmender Anm. von Gerhard Lassar, ebd., S. 103 (111 f.). 69 So der Abg. von Brentano, in: Parlamentarischer Rat, Schriftlicher Bericht zum XI. Abschnitt des Entwurfs des Grundgesetzes für die Bundesrepublik Deutschland, Anlage zum stenographischen Bericht der 9. Sitzung des Parlamentarischen Rates am 6. Mai 1949, S. 77. 70 Vgl. Holtkotten, in: Bonner Kommentar, Stand: 75. Lfg., Dez. 1995, Art. 141 Anm. II 1 b; Schmoeckel (Fn. 66), S. 93 ff.; Maunz (Fn. 35), Art. 7 Rn. 53 f.; Hollerbach (Fn. 6), § 140 Rn. 29 ff.; Axel von Campenhausen, in: Hermann von Mangoldt/Friedrich Klein (Hrsg.), Das Bonner Grundgesetz, Bd. 14, 3. Aufl. 1991, Art. 141 Rn. 3; Bernhard Schlink, Religionsunterricht in den neuen Bundesländern, in: NJW 1992, S. 1008 (1009 f.); Ulfried Hemmrich, in: Ingo von Münch/Philip Kunig (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar,

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4.  Verfassungswandel? Die Frage erhebt sich, ob die Garantie des Religionsunterrichts, die auf die westdeutsche Gesellschaft von 1949 zugeschnitten ist, sich auf die der neuen Bundesländer nach 1990 übertragen läßt.71 In der historischen Ausgangssituation gehörte die überwältigende Mehrzahl der Schüler einer der beiden Großkirchen an, nunmehr ist es im Beitrittsgebiet nur noch eine Minderheit. In der Tat ergeben sich erhebliche Schwierigkeiten, ein ordentliches Lehrfach bereitzustellen, wenn nur wenige Schüler, oftmals nur ein einziger, als Destinatar in Betracht kommen. Doch kann aus den Anwendungsproblemen nicht auf den Wegfall der Normgeltung gefolgert werden.72 Von jeher findet Religionsunterricht nur statt, wenn seine tatsächlichen Voraussetzungen vorliegen, also hinreichende Nachfrage besteht.73 Die Verwirklichung des Verfassungsauftrags läßt sich den gegebenen Umständen praktisch anpassen, wenn Staat und Kirche guten Willens sind. Dieses beweisen die Partner des sächsischen Konkordats, wenn sie vereinbaren, daß der Religionsunterricht schulübergreifend abgehalten werden kann, soweit aufgrund der geringen Zahl der in Betracht kommenden Schüler die Durchführung des Religionsunterrichts an einer Schule mit unverhältnismäßig großem Aufwand verbunden ist. Zu einem schulübergreifenden Religionsunterricht ist der Freistaat aber nach Auffassung beider Seiten nur verpflichtet, wenn dieser mit zumutbarem organisatorischem Aufwand eingerichtet werden kann.74 Die Geltung der grundgesetzlichen Garantie wird dadurch nicht in Frage gestellt. Sie bildet ein Angebot an Kirchen, Eltern und Schüler.75 Eben dieses Angebot bleibt das Land Brandenburg schuldig. Darin unterscheidet es sich von den anderen neuen Bundesländern, die in gleicher Lage sich um grundgesetzkonforBd. 1, 4. Aufl. 1992, Art. 7 Rn. 27; Dietrich Franke, in: Helmut Simon/Dietrich Franke/ Michael Sachs (Hrsg.), Handbuch der Verfassung des Landes Brandenburg, 1994, § 6 Rn. 41; Link (Fn. 6), S. 467; Sighart Lörler, Verfassungsrechtliche Maßgaben für den Religionsunterricht in Brandenburg, in: ZRP 1996, S. 121 (123); Lecheler (Fn. 35), Art. 7 Rn. 49; Heckel (Fn. 6), S. 96 ff. 71 So Ernst-Wolfgang Böckenförde, Diskussionsbeitrag, in: Essener Gespräche, Bd. 26 (1992), S. 101. 72 Zutreffend Wolfgang Loschelder, Diskussionsbeitrag, in: Essener Gespräche, Bd. 26 (1992), S. 101 f.; Mückl (Fn. 6), S. 544 ff. – Allgemein zur Unterscheidung von Geltungsund Anwendungsvoraussetzungen: Isensee (Fn. 20), § 115 Rn. 16 ff. 73  Loschelder (Fn. 71), S. 102. 74  Schlußprotokoll zu Art. 3 Abs. 1. 75  Axel Frhr. von Campenhausen, Staatskirchenrecht in den neuen Bundesländern, in: HStR IX, 1997, § 207 Rn. 55; vgl. Jörg Winter, Zur Anwendung des Art. 7 III GG in den neuen Ländern der Bundesrepublik Deutschland, in: NVwZ 1991, S. 753 (754 f.); Holger Kremser, Das Verhältnis von Art. 7 Abs. 3 S. 1 GG und Art. 141 GG im Gebiet der neuen Bundesländer, in: JZ 1995, S. 928 (933).

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me Lösungen bemühen und durch Bestimmungen in ihren Verfassungen und in Kirchenverträgen sich die Gewähr des Religionsunterrichts zu eigen machen. 5.  Bremer Klausel Die Landesregierung Brandenburgs meint, das Land besitze in der Frage des Religionsunterrichts Entscheidungsfreiheit und sei nicht an die Garantie des Art. 7 Abs. 3 GG gebunden.76 Sie beruft sich auf die „Bremer Klausel“, die Ausnahmevorschrift, daß Art. 7 Abs. 3 S. 1 GG keine Anwendung findet „in einem Lande, in dem am 1. Januar 1949 eine andere landesrechtliche Regelung bestand“ (Art. 141 GG).77 In der Tat entsprachen die Länder der sowjetischen Besatzungszone zum maßgebenden Zeitpunkt nicht dem Modell, von dem das Grundgesetz ausgeht. Doch das heutige Land Brandenburg ist nicht das identische Rechtssubjekt wie das 1949 bestehende Land Mark Brandenburg, das mit dem Übergang der DDR zum Einheitsstaat substantiell aufgelöst worden ist. Die Länder der sowjetischen Zone lagen ohnedies nicht im Regelungs- und im Intentionsbereich des Bonner Verfassungswerkes von 1949. Dieses klammerte angebliche oder wirkliche Besonderheiten Bremens aus, die sich unter dem Zeitdruck nicht hinlänglich aufklären ließen und den Gang der Beratungen unangemessen hätten verzögern können. Die Sonderregelung der Bremer Klausel erfaßt nur Länder, die am Zustandekommen des Grundgesetzes beteiligt waren, mit praktischer Relevanz für Bremen und Westberlin. Wenn aber die Klausel dennoch auf die neuen Länder erstreckt würde, schlüge die Ausnahme um in eine den Garantien des Art. 7 Abs. 2 GG gleichwertige Regel. Das Land Brandenburg kann sich nicht auf die Sondervorschrift des Art. 141 GG berufen.78 Im Ergebnis erweist sich die gesetzliche Abkehr vom Religionsunterricht als Verstoß gegen das Grundgesetz. 76 

Begründung zu § 9 SchulG, in: LT-Drucks. 2/1675, S. 15. Für die Anwendbarkeit der „Bremer Klausel“: Schlink (Fn. 70), S. 1008 ff.; Ludwig Renck, Religionsunterricht in den neuen Bundesländern, in: LKV 1993, S. 88 (89); Arnulf Schmitt-Kammler, in: Sachs, Grundgesetz (Fn. 35), Art. 141 Rn. 9 f. 78  Im Ergebnis ebenso von Campenhausen (Fn. 70), Art. 141 GG Rn. 7 f.; ders. (Fn. 75), § 207 Rn. 52; Holger Kremser, Der Weg der Kirchen/Religionsgemeinschaften von der sozialistischen DDR in das vereinte Deutschland, in: JöR n. F. 40 (1991), S. 515 (517 ff.); ders. (Fn. 75), S. 928 ff.; Rupert Scholz, Der Auftrag der Kirchen im Prozeß der deutschen Einheit, in: Essener Gespräche, Bd. 26 (1992), S. 7 (14 ff.), Mückl (Fn. 6), S. 541 ff.; Wilhelm Rees, Religionsunterricht in der Schule, in: KuR 1996, Fach 730, S. 15 ff.; Stefan Muckel/Reiner Tillmanns, „Lebensgestaltung – Ethik – Religionskunde“ statt Religionsunterricht?, in: RdJB 1996, S. 360 (361 ff.); Arnd Uhle, Die Verfassungsgarantie des Religionsunterrichts und ihre territoriale Reichweite, in: DÖV 1997, S. 409 ff: Kästner (Fn. 9), S. 86 ff.; Markus Heintzen, Erziehung, Wissenschaft, Kultur, Sport, in: HStR IX, 1997, § 218 Rn. 32 f.; Heckel (Fn. 6), S. 98 ff. 77 

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VII.  Vorrechtliche Voraussetzungen des Religionsunterrichts und Verfassungserwartungen Die Verwirklichung der grundgesetzlichen Garantie hängt ab von vorrechtlichen, realen Voraussetzungen: von der hinlänglichen Nachfrage nach Religionsunterricht bei Schülern und Eltern, von der Bereitschaft qualifizierter Lehrer in hinreichender Zahl, den Unterricht zu erteilen und mit kirchlichem Geist zu prägen, schließlich vom Willen und von der Fähigkeit der Kirchen, die Option der Verfassung kraftvoll zu ergreifen und weise zu nutzen. Alle diese Voraussetzungen sind prekär, am prekärsten vielleicht auf Seiten der Kirchen.79 In den neuen Bundesländern wirkt eine gewisse Staatsphobie nach und lange Gewöhnung an die Ghettoexistenz inmitten des real existierenden Sozialismus, die nur die Christenlehre im Pfarrhaus kannte. Hier wird der Mut zur Glaubensverkündigung in der öffentlichen Schule im Laufe der Zeit von selbst nachwachsen. Heikler ist die Situation des altetablierten Religionsunterrichts im Westen Deutschlands, die graue Wirklichkeit hinter der imposanten Fassade der kirchenamtlichen Verlautbarungen und Lehrpläne. Eine Passage der Bundestagsdebatte 1996 aus Anlaß der Brandenburger Verfassungskonflikte ist aufschlußreich. Die Bundestagsabgeordnete Dr. Antje Vollmer (Bündnis 90/Die Grünen) sagte in Gegenrede zum Vorsitzenden der CDU/CSU-Fraktion Dr. Wolfgang Schäuble: „Gerade weil ich die Sorge teile, wie eigentlich unsere Kinder vermittelt bekommen, daß dieses Land auch kulturelle Wurzeln hat, die außerhalb des Christentums nicht denkbar sind, und weil ich auch finde, daß man Toleranz nur üben kann, wenn man selbst eine Überzeugung, einen Standpunkt hat, frage ich Sie: Kennen Sie denn nicht auch die tiefe Krankheit unseres heute angebotenen Religionsunterrichts? Ich habe ein Kind, das sehr lange am Religionsunterricht teilgenommen hat, teilweise ganz alleine. Nach sechs Jahren hat es jetzt gesagt, es reiche ihm nun, immer die Themen Sekten, Drogen, Beziehungsprobleme. Das Kind hat einen Hunger nach anderen Wahrheiten. Haben Sie den Eindruck (an Schäuble gerichtet), daß der staatliche Religionsunterricht diese wirklich noch vermittelt? Ich habe den Eindruck, daß da genau das passiert, was man in der Praxis den Brandenburgern vorwirft, nämlich L-E-R: Lebensgestaltung – Ethik – Religionskunde.“ Schäuble wehrte sich zunächst, über die Qualität des Religionsunterrichts zu diskutieren, lenkte dann aber ein. Die Qualität möge wie auch beim Unterricht in anderen Fächern oder beim politischen Engagement unterschiedlich sein. „Ich könnte Ihnen vom Religionsunterricht eines meiner Kinder erzählen, in dem der Religionslehrer gesagt hat, die Mitglieder der Regierung, der ich damals

79  Ernst Friesenhahn warnte die Kirchen davor, sich auf die formalen Sicherungen des Verfassungsrechts zu verlassen. „Was nützt die leere Hülse, wenn die Schüler davonlaufen?“ (Fn. 6, S. 70).

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angehört habe, seien alle Verbrecher. Mein Kind hat dann auch nicht mehr am Religionsunterricht teilgenommen.“80 Hier machte die Kirche es sich zu leicht, wenn sie sich über die Kritik erhaben fühlte, die Vorgänge als private Eskapaden der Lehrer, Einzelfälle am Rande, unvermeidliche Ausreißer abtäte und sich beleidigt gegen Verallgemeinerung verwahrte. In der Tat sind die Vorgänge nicht für den Religionsunterricht insgesamt repräsentativ. Die Wirklichkeit hat hier wie überall viele Gesichter. Doch spiegeln die Fälle eine Grundtendenz, die sich im Religionsunterricht, und nicht nur hier, auf breiter Front regt: die Tendenz zur Selbstsäkularisierung. Selbstsäkularisierung ist freiwillige Preisgabe des Religiösen, Transzendenzvergessenheit, Sinnerschöpfung im Diesseits, Ablösung der geistlichen Sendung durch die zeitgeistliche. Selbstsäkularisierung wird spürbar, wenn der Unterricht auf Materien beschränkt wird, in denen Religion und Sozialmoral konvergieren (etwa Schöpfungstheologie und Umweltethik), die Divergenz des Glaubens, das christliche Ärgernis, aus dem religionspädagogischen Blickfeld verschwindet, der „Hunger nach anderen Wahrheiten“ ungestillt bleibt; wenn der Glaube seinen Wahrheitsanspruch zurückzieht und nur noch ein Angebot neben anderen darstellt auf dem Markt religiöser Möglichkeiten: wenn der Religionsunterricht in vorauseilendem ökumenischem Eifer sich aus seiner konfessionellen Gebundenheit löst und abdriftet in universale Unverbindlichkeiten. Eltern, die stichprobenhafte Einblicke in die Praxis des Schulunterrichts erhalten, staunen, daß zuweilen Bibelkritik nachhaltiger gepflegt wird als biblische Geschichte; daß Warnung vor Aberglauben und Sektenwesen kräftiger zur Wirkung kommt als positive Glaubenserziehung; daß Sextaner, denen Elementarkenntnisse über das Christentum abgehen, eingehend konfrontiert werden mit dem Islam. Gerät mit der Zeit der religionspädagogische Anspruch zur ekklesiologischen Lebenslüge? Dem säkularen Staat leistet die Kirche keinen sonderlichen Dienst, wenn sie sich ihm in den Zielen anpaßt.81 Er macht ihr nicht das verfassungsrechtliche Angebot des Religionsunterrichts, damit dieser mehr oder weniger das gleiche bringt wie Biologie, Geschichte, Gemeinschaftskunde, zudem noch durch Lehrer ohne spezifische Fachkompetenz. Vielmehr erwartet er komplementäre Leistungen, wie er sie selbst nicht erbringen könnte: nämlich solche der Religion. Diese sind ihm seiner säkularen Natur nach und in seiner sektoralen Reichweite versagt. Seine Erziehungsziele sind fragmentarisch, somit angelegt auf Erweiterung und auf Vertiefung. Eben darin können ihn die Kirchen ergänzen, die auf 80  96. Sitzung des 13. Deutschen Bundestages am 15. März 1996, in: Plenarprotokolle 13/96, S. 8549 f. 81  Josef Isensee, Die Säkularisierung der Kirche als Gefährdung der Säkularität des Staates, in: Gerfried W. Hunold/Wilhelm Korff (Hrsg.), Die Welt für morgen, 1986, S. 164 ff.

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ein ganzheitliches Menschen- und Weltbild ausgerichtet sind. Gerade in ihrem Anderssein können sie dazu beitragen, die religiösen und sittlichen Grundlagen zu festigen, aus denen das Gemeinwesen lebt, und die es mit den Mitteln des staatlichen Gesetzes nicht erzwingen, die es allenfalls fördern kann.82 Wie immer es um den Glauben bestellt ist – wenn sich das Wissen über das Christentum in der Abfolge der Generationen erneuert, bleibt kulturelle Kontinuität erhalten, und die Gesellschaft erhält die Fähigkeit, das kulturelle Erbe ihrer Väter zu erwerben, um es zu besitzen. Ein Religionsunterricht, der die verfassungsrechtliche Form „konfessioneller Gebundenheit und Positivität“ füllt, fördert Präsenz und Wirksamkeit der Kirchen in der Gesellschaft, als religiöses Gegengewicht zu den weltlichen Kräften, damit innere Balance des Pluralismus. Das alles ist freilich nicht der eigentliche Sinn der Kirche. Es sind aber heilsame Nebeneffekte für das Gemeinwesen. Im Kondominium des Religionsunterrichts können kirchliche wie staatliche Ziele, so heterogen sie sind, praktisch zusammenfinden und einander ergänzen. Dem Staat liegt es fern, die Kirche für seine Zwecke zu instrumentalisieren. Er bietet ihr eine Chance erhöhter Wirksamkeit und beläßt ihr Freiheit. Auf diese aber richtet er Erwartungen, denen Rechtszwang fernliegt.83 Die Kirche aber mag wenigstens registrieren, daß sie diesen Erwartungen gerade dadurch gerecht wird, wenn sie, ganz Kirche, ihr geistliches proprium verwirklicht.

82  Zu dieser Legitimation des Religionsunterrichts: Hollerbach (Fn. 6), § 140 Rn. 42 f.; Josef Isensee, Verfassungsstaatliche Erwartungen an die Kirche, in: Essener Gespräche, Bd. 25 (1991), S. 110 f.; ders. (Fn. 20), § 115 Rn. 261, 263. Vgl. auch Link (Fn. 6), S. 488 ff., 503 ff. – Allgemein: Ernst-Wolfgang Böckenförde, Die Entstehung des Staates als Vorgang der Säkularisation (1967), in: ders., Recht, Staat, Freiheit, 1991, S. 92 (112). 83  Zur Verfassungserwartung als Kategorie: Isensee, in: Essener Gespräche (Fn. 82), S. 118 ff.; ders. (Fn. 20), § 115 Rn. 163 ff.

Die karitative Betätigung der Kirchen und der Verfassungsstaat* Die karitative Betätigung der Kirchen und der Verfassungsstaat Die karitative Betätigung der Kirchen und der Verfassungsstaat

A.  Caritas als genuine Aufgabe der Kirche I.  Das kirchliche Selbstverständnis 1.  Grundfunktion der Kirche Caritas ist wesentliche Aufgabe der Kirche. Zu ihrem Heilsauftrag in der Welt gehört die tätige Liebe zum Nächsten ebenso wie Seelsorge und Gottesdienst. Die Theologie hebt drei Grundfunktionen der Kirche hervor, welche die Mitte ihres Wirkungsfeldes bilden: Verkündigung des Wortes Gottes, Vollzug der Sakramente und Dienst helfender Liebe.1 Mit anderen Worten: Prophetie, Liturgie *  Erstveröffentlichung in: Joseph Listl/Dietrich Pirson (Hrsg.), Handbuch des Staatskirchenrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. II, 2. Aufl., 1995, S. 665 – 756. 1  So das Dreier-Schema von Walter Kasper, Die Heilssendung der Kirche in der Gegenwart (Bearb.: Karl Lehmann), in: Konferenz der deutschsprachigen Pastoraltheologen (Hrsg.), Pastorale. Handreichung für den pastoralen Dienst. Mainz 1970, S. 69 ff. Repräsentativ für die katholische Sicht der Caritas die Pastoralkonstitution des Zweiten Vatikanums „Gaudium et spes“ vom 7. Dezember 1965, n. 88 (dt. Text in: Karl Rahner/ Herbert Vorgrimler [Hrsg.], Kleines Konzilskompendium. Freiburg i. Br. 1966, S. 449 [547 f .]). – Theologisches Schrifttum: Franz Schaub, Die katholische Caritas und ihre Gegner, Mönchengladbach 1909; Heinrich Weber, Das Wesen der Caritas, Freiburg i. Br. 1938; Karl Rahner, Die Grundfunktion der Kirche. Theologische und pastoraltheologische Vorüberlegung, in: Handbuch der Pastoraltheologie. Praktische Theologie der Kirche in ihrer Gegenwart. Bd. 1, Freiburg i. Br., Basel, Wien 1964, S. 216 ff.; Klaus Hemmerle, Caritas in Kirche und Gesellschaft, Freiburg i. Br. 1970; Johannes B. Hirschmann, Christliche Diakonie (1971), in: ders., Ja zu Gott im Dienst an der Welt, Würzburg 1984, S. 346 ff. ; Richard Völkl, Caritative Diakonie als Auftrag der Kirche, in: EssGespr. 8 (1974), S. 9 ff.; Karl Forster, Caritas: Lebens- und Wesensäußerung der katholischen Kirche – Herausforderung an die Mitarbeiter in kirchlich-caritativen Einrichtungen (1980), in: ders., Glaube und Kirche im Dialog mit der Welt von heute, Bd. 1, Würzburg 1982, S. 210 ff.; Alfred E. Hierold, Grundlegung und Organisation kirchlicher Caritas, St. Ottilien 1979, S. 39 ff.; Konrad Hilpert, Der Ort von Caritas in Kirche und Theologie, in: Caritas ´90. Jb. des DCV, Freiburg 1989, S. 9 ff.; Susanne Eberle, Sozialstationen in kirchlicher Trägerschaft, Essen 1993, S. 34 ff.; Markus Lehner, Caritas als Grundfunktion der Kirche, in: Caritas ´95. Jb. des DCV, Freiburg 1995, S. 16 ff. Die protestantische Sicht: Johannes Meister, Der Auftrag der Kirche zu sozial-caritativem Handeln, in: ZevKR 18 (1973), S. 354 ff.; Axel Frhr. von Campenhausen, Staat – Kirche – Diakonie, in: ders./Hans-Jochen Erhardt, Kirche – Staat – Diakonie. Hannover 1982,

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und Diakonie. Innerhalb der Trias gibt es keine Rangfolge. Diakonie steht der Verkündigung nicht nach. Gottesdienst braucht und fordert den Dienst für die Mitmenschen. Beide sind aufeinander bezogen. Der eine vermag nicht den anderen zu ersetzen. Die Kirche ist nicht allein für die transzendenten Bedürfnisse da, sondern auch für die immanenten Bedürfnisse nach Hilfe in seelischer und materieller Not. Sie darf sich nicht aus ihrer Verpflichtung zur Hilfe zurückziehen. Aber sie darf sich auch nicht in karitativem Engagement erschöpfen. Verzicht auf Caritas machte die Kirche weltlos, Beschränkung auf Caritas machte sie gottlos. Die christlichen Grundgebote der Gottesliebe und der Nächstenliebe sind einander gleich (Mk 12,29 ff.). Auf die Liebe Gottes zum Menschen antwortet der Christ mit der Liebe zu Gott und den Mitmenschen. Wenn Gott die Menschen so sehr liebte, müssen auch sie einander lieben (1. Joh 4,11). In den geringsten ihrer Brüder begegnen sie Christus selbst (Mt 25,40).2 2.  Nächstenliebe als Legitimationsgrund Was Nächstenliebe verlangt, läßt sich nicht umfassend in Regeln einfangen und nicht ein für allemal festmachen. Auf die Frage, wer denn „mein Nächster“ sei, antwortet Jesus nicht mit einer Definition, sondern mit einem Gleichnis, der Geschichte von dem Priester und den Leviten, die ein halbtotes Opfer der Räuber am Wege liegen sahen und vorübergingen – stets drohendes Skandalon für Christenheit und Kirche – und von dem Samariter, der sich seiner annahm und ihm half (Lk 10,25 ff.). Nächstenliebe bewährt sich gegenüber dem Menschen, der Not leidet. Sie fragt nicht danach, ob er Christ ist oder Nichtchrist, Landsmann oder Fremder. Im Christlichen ist das humane Ethos begründet. Nächstenliebe erschöpft sich nicht in Regeln und Normen. Sie hört auf den existentiellen Anruf, der den Einzelnen in seiner jeweiligen Lebenssituation trifft. Sie ist offen für menschliche Not, wo immer und wie immer sie sich regt. Durch alle Epochen der Geschichte hindurch behält sie unversiegbare Aktualität. Das Gebot der Nächstenliebe richtet sich an den einzelnen Christen in seiner konkreten Lebenssituation. Aber es richtet sich auch an ihn als Mitglied der christlichen Gemeinde und als Angehörigen der Institution Kirche. Es wächst damit S. 10 ff.; Paul Philippi/Pieter Johan Roscam Abbing, Diakonie I und II, in: TRE, Bd. 8, 1981, S. 621 ff., 644 ff. (Nachw.); Richard Boeckler, Diakonie, in: EKL3, Bd. 1, 1986, Sp. 850 ff. Eingehende Literaturhinweise: Peter von Tiling, Die karitativen Werke und Einrichtungen im Bereich der evangelischen Kirche, in: Joseph Listl/Dietrich Pirson (Hrsg.), Handbuch des Staatskirchenrechts der Bundesrepublik Deutschland, 2. Bd., 2. Aufl., Berlin 1995 (= HdbStKirchR 2II), S. 809 Fn. 1. 2  Zur neutestamentarischen Begründung der Caritas: Wilhelm Liese, Geschichte der Caritas. Bd. 1, Freiburg i. Br. 1922, S. 29 ff.; Völkl, Caritative Diakonie (Anm. 1), S. 14 f.; Forster, Caritas (Anm. 1), S. 212 f.

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über die individualethische Dimension hinaus und wird zur korporativen Aufgabe der Kirche und ihrer Gemeinden. Doch löst es sich deshalb nicht ab von seinem individualethischen Ursprung. Die karitativen Leistungen der Kirche gründen in den karitativen Leistungen ihrer Mitglieder. Die Nächstenliebe des einzelnen Christen bleibt die Energiequelle, aus der die kirchliche Korporation schöpft. Die korporative Seite der Nächstenliebe zeichnet sich schon im Ursprung des Christentums ab, wenn Jesus die Jünger auffordert, einander zu lieben, wie er sie geliebt hat (Joh 13,34 f.). Die Urgemeinde sieht sich verpflichtet, den Armen materiell zu helfen (Diakonia), zumal den Glaubensgenossen unter ihnen (Gal 5,13), doch nicht allein ihnen, sondern allen Menschen, die der Hilfe bedürfen. Die Spende für die Bedürftigen wird Bestandteil der Liturgie (Agape). Die Urgemeinde erfährt die Schwierigkeit, ihre Verkündigungsaufgabe mit ihrer diakonischen Arbeit praktisch zu vereinen, die eine Aufgabe zu erfüllen, ohne die andere zu vernachlässigen. Sie findet den Ausweg in einer Arbeitsteilung, indem sie Almosenspende und Tischdienst besonderen Diakonen überträgt und so eine Ordnung unterschiedlicher Ämter aufbaut (Apg 6,1 – 6). Jedwedes Amt der Kirche aber steht unter dem Leitbild Christi, daß sein Inhaber dazu da ist, zu dienen, nicht aber, sich bedienen zu lassen (Mt 20,25 – 28; Mk 10,45). Die Geschichte der Kirche entfaltet sich – in einer unspektakulären, aber wesentlichen Hinsicht – als Geschichte der Diakonie. In zwei Jahrtausenden hält sie an ihrer Aufgabe fest, wenn auch die Form und die Intensität ihrer Erfüllung sich verändern.3 Sie nimmt die Bedürfnisse der jeweiligen Gesellschaft auf und entwickelt organisatorische Formen, um ihnen zu antworten, etwa Klöster, Spitäler, mildtätige Stiftungen, Bruderschaften. Lange Zeit ist es allein die Kirche, die sich der Armenpflege, der Krankenversorgung und der Jugenderziehung widmet. Als hier die weltliche Gewalt seit Anbruch der Neuzeit sich zunehmend auf eine eigene Verantwortung für diese Fragen besinnt und von sich aus tätig wird, endet damit nicht die karitative Wirksamkeit der Kirche. Vielmehr ändern sich nur die Rahmenbedingungen ihres karitativen Handelns. 3.  Ökumenische Konvergenz Die katholische und die evangelische Kirche stimmen faktisch überein in ihrer diakonischen Grundfunktion. Dogmatische und ekklesiologische Unterschiede treten in den Hintergrund. Hier wie dort entsprechen sich Ziele und Wege, Legitimation und Motivation. In der tätigen Nächstenliebe waltet ökumenische Konvergenz. Das Zweite Vatikanum stellt in seinem Dekret über den Ökumenismus fest, daß die Zusammenarbeit in sozialen Fragen sehr weit verbreitet sei; alle Men3 Gesamtdarstellung:

Liese, Geschichte (Anm. 2), 2 Bde., Freiburg i. Br. 1922.

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schen ohne Ausnahme seien zu gemeinsamem Dienst gerufen, erst recht diejenigen, die an Gott glaubten, am meisten aber alle Christen.4 Die Gemeinsame Synode der Bistümer in der Bundesrepublik Deutschland hält die ökumenische Zusammenarbeit in sozialen Fragen für notwendig: „Die Kirchen und kirchlichen Gemeinschaften haben gemeinsam Sendung und Auftrag, sei es gelegen oder ungelegen, für die Wahrheit, für die Wahrung menschlicher Würde, für die Erhaltung des Lebens, für den Schutz von Ehe und Familie, für Freiheit und Gerechtigkeit im Raum der Gesellschaft einzutreten […] Die Art, wie Notleidende, auch wenn sie nicht der eigenen Kirche angehören, in kirchlichen Einrichtungen angenommen und behandelt werden, ist ein Prüfstein nicht nur ökumenischer Gesinnung, sondern auch des Dienstes der Nächstenliebe, der mit christlichem Glauben unlösbar verbunden ist. Dieser notwendige Dienst – und nicht erst der Schwund an Helfern – macht eine Zusammenarbeit im sozial-caritativen Bereich erforderlich. Auch bei berechtigter Wahrung eines konfessionell geprägten vielfältigen Angebots müssen sich die Träger der freien Wohlfahrtspflege mehr und mehr auf Formen gemeinsamer Dienste einstellen und unter Berücksichtigung der örtlichen Gegebenheiten geeignete Kooperationsmodelle entwickeln.“5 Zur Terminologie: Das Wort „Caritas“ und das Wort „Diakonie“, das eine mehr im katholischen, das andere mehr im evangelischen Bereich vorherrschend, bezeichnen keine konfessionellen Unterschiede mehr. Sie werden im folgenden synonym verwendet, es sei denn, daß von Besonderheiten der einen oder der anderen Seite, zumal von den verbandsorganisatorischen des Deutschen Caritasverbandes oder dem Diakonischen Werk der Evangelischen Kirche in Deutschland, die Rede ist.6

4  „Unitatis Redintegratio“ vom 21. November 1964, n. 12. Text in: Rahner/Vorgrimler, Konzilskompendium (Anm. 1), S. 229 (240). Zur ökumenischen Komponente: Konrad Deufel, Sozialstaat und christliche Diakonie, in: Christlicher Glaube in moderner Gesellschaft. Teilbd. 15, Freiburg i. Br. u. a. 1982, S. 121 (127 f.). 5  Als Beispiele solcher Kooperation nennt die Synode die Bahnhofsmission, die häusliche Krankenpflege, den Besuchsdienst in Gemeinde und Krankenhaus (Pastorale Zusammenarbeit der Kirchen im Dienst an der christlichen Einheit. „Ökumene-Beschluß“ vom 24. November 1974, n. 8. 2.1 – 4, in: Gemeinsame Synode der Bistümer in der Bundesrepublik Deutschland, Beschlüsse der Vollversammlung. Offizielle Gesamtausgabe I, Freiburg i. Br., Basel, Wien 1976, S. 774 [800 f.]). 6  Zu Etymologie und Terminologie von „Caritas“ und „Diakonie“: Schaub, Kath. Caritas (Anm. 1), S. 1 ff.; Heinrich Weber, Das Wesen (Anm. 1), S. 1 ff.; Hierold, Grundlegung (Anm. 1), S. 5 ff.; Heinrich Pompey, Caritas, in: LThK3 II, 1994, Sp. 947; Philippi, Diakonie I (Anm. 1), S. 621.

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II.  Nächstenliebe durch kirchliche Organisation 1.  Steigerung der Wirksamkeit Soweit Nächstenliebe nicht Sache des Einzelnen ist, sondern Sache der kirchlichen Gemeinschaft, und ihre Wahrnehmung Verbänden und Einrichtungen obliegt, vermag sie ihre Wirksamkeit zu steigern. Sie löst sich ab von den kontingenten Absichten und Fähigkeiten des Einzelnen und verfestigt sich zu einer gemeinsamen Aufgabe, die nach allgemeinen Regeln arbeitsteilig zu erfüllen ist. Damit wird sie unabhängig von Leben und Laune des Einzelnen und verstetigt sich in Institutionen, die auf Dauer angelegt sind. Die Organisation kann disparate Kräfte bündeln und für einen Gesamtzweck planvoll nutzen, ihre Verzettelung vermeiden, die knappen Mittel ökonomisch einsetzen, das Angebot zusammenfassen, verbessern, verbreitern und ausdifferenzieren. Die Organisation bietet die Voraussetzungen dafür, daß Erfahrungen gespeichert und überliefert, daß Informationen gesammelt und ausgewertet werden, daß Transparenz über Angebot und Nachfrage hergestellt und rational über Prioritäten entschieden wird. Die Arbeitsteilung ermöglicht spezifische Sachkunde. Sie ist die Bedingung für Professionalität. Solche Vorzüge sind keine Besonderheit der Kirche und ihrer karitativen Tätigkeit. Sie gehören zum Potential formaler Organisation. Organisationstechnisch gesehen erscheint Caritas als Funktion wie säkulare Funktionen, Kirche als System unter anderen Systemen. Die karitativen Einrichtungen stellen sich als Subsysteme dar. Auf der Abstraktionsebene als Organisationstypen lassen sie sich begreifen als Betriebe, Betriebsverbände, Anstalten und Vereine.7 In der Tat macht sich die Kirche heute gerade auf dem Gebiet der Diakonie die technischen Vorteile der Organisation zunutze und ist damit in der Lage, Einrichtungen – wie Kindergärten und Krankenhäuser – zu unterhalten und Leistungen zu erbringen, zu denen angesichts der großen Erwartungen der Destinatare, des hohen technischen Standards und des erheblichen finanziellen Aufwandes Einzelne nicht mehr fähig sind. Nur in organisierter Form vermag die Kirche heute mit ihrer Diakonie in der pluralistischen Gesellschaft präsent zu sein und sich der Konkurrenz der Leistungsanbieter zu stellen. Sie findet für ihre karitative Tätigkeit ein Maß an Akzeptanz bei Christen und Nichtchristen, das sie in ihrem spezifisch religiösen Wirken der Glaubenslehre und des Gottesdienstes nicht erreicht.8 7  Vgl. die Typologie Max Webers, Wirtschaft und Gesellschaft (1922). Studienausgabe. 1. Hbbd., Köln, Berlin 1956, S. 37 f. – Allgemein zur Organisationstheorie Niklas Luhmann, Funktionen und Folgen formaler Organisation, Berlin 1964; ders., Zweckbegriff und Systemrationalität, Tübingen 1968. 8 Informativ: Gerhard Schmidtchen, Was den Deutschen heilig ist. München 1979, S. 111, 117 f., 191, passim.

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2.  Gefahren der Organisation Organisation zeitigt aber auch Gefahren: Schwerfälligkeit und Immobilität, Erstarrung in Schematismus und Routine, Expansionsdrang nach dem Parkinsonschen Gesetz, Mutation der Organisation vom Mittel zum Selbstzweck, Hypertrophie der eigennützigen Organisations- und Personalinteressen, Übergang vom Dienst an der Sache zur Herrschaft der Bediensteten. Die kirchliche Organisation erweist sich diesen Gefahren gegenüber nicht als immun. Im Gegenteil: sie ist vielleicht sogar anfälliger als Wirtschaftsunternehmen, die auf Markterfolge angewiesen sind, und staatliche Einrichtungen, die demokratischen wie rechtsstaatliehen Steuerungs- und Kontrollmechanismen unterworfen sind. Die Schäden aber, die der Kirche drohen, fallen schwerer aus, weil ihr spiritueller Anspruch höher reicht als der weltlicher Einrichtungen und weil sie auf Glaubwürdigkeit angewiesen ist, die über bloße Funktionalität hinausgeht. Die diakonische Organisation ist aus ihrem Heilsauftrag heraus dazu gehalten, hellhörig zu sein für die Not, schnell auf sie zu reagieren, sich ihr beweglich anzupassen und individuell zu helfen. Eine Organisation neigt dazu, sich nicht auf atypische und unvertraute Herausforderungen einzulassen. Doch die Diakonie muß bereit sein, sich in ungesichertes Terrain zu wagen, wenn die Not des Nächsten ruft. Caritas verdient ihren Namen nur, solange ihre Tätigkeit personal geprägt ist.9 Der personale Charakter wird durch Großorganisation gefährdet. Dennoch muß die alltägliche Praxis das Dilemma bewältigen und das Personale auch im Betrieb des modernen Krankenhauses zur Geltung bringen. Hier hat das christliche Ethos der Nächstenliebe, das sich niemals ohne Rest organisieren und verrechtlichen läßt, seine Kraft zu erweisen, damit der Bedienstete einer Einrichtung im Benutzer seinen Nächsten erkennt. Die organisierte Nächstenliebe darf die individuelle nicht verdrängen, die professionelle nicht die ehrenamtliche. Das Subsidiaritätsprinzip findet hier einen wichtigen Anwendungsbereich. Die institutionalisierte Hilfe der Kirche bedarf des Rückhalts in der spontanen Hilfsbereitschaft ihrer Mitglieder. Diese sind aber leicht versucht, sich ihrer christlichen Grundpflicht durch Abgaben und Spenden, durch Geld also, zu entledigen und sie auf die Organisation abzuwälzen.

9 Dazu Karl Forster, Die Gewährleistung des katholischen Charakters des katholischen Krankenhauses (1981), in: ders., Glaube und Kirche (Anm. 1), Bd. 1, S. 232 (236 f.).

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III.  Externe Funktionsvoraussetzungen der Caritas 1.  Sachgesetzliche Standards Die kirchlichen Krankenhäuser, Kindergärten, Heime und Beratungsstellen stehen im Anbieterwettbewerb mit nichtkirchlichen Einrichtungen und haben sich in ihm zu behaupten. Die Funktionen karitativer Organisationen und die ihrer säkularen Konkurrenz in freier oder öffentlicher Trägerschaft sind vergleichbar. Eben deshalb lassen sie sich über das staatliche Recht auf gemeinsame Begriffe bringen: als Träger (freier) Wohlfahrtspflege, als Mittler von Jugend- oder Sozialhilfe, als Leistungserbringer im System der Gesetzlichen Kranken- und Pflegeversicherung.10 Der Deutsche Caritasverband definiert sich selbst nach Kriterien des staatlichen Rechts, die von der kirchlichen Eigenschaft abstrahieren, wenn er sich als „Verband der freien Wohlfahrtspflege“ bezeichnet (§ 1 Abs. 2 der Satzung in der Fassung vom 4. Mai 1993) und seine Tätigkeit in der Begrifflichkeit der „steuerbegünstigten Zwecke“ der Abgabenordnung umschreibt (§ 1 Abs. 3). Alle Leistungsträger müssen sich an denselben fachlichen Standards messen lassen, die sich aus dem Stand der Wissenschaft und Technik ergeben, aus den Vorschriften des Staates und den Erwartungen des Publikums: etwa therapeutischen, pädagogischen, technischen und baulichen Standards. Diese unterliegen nicht kirchlicher Disposition. Sie folgen, unabhängig von Religion, Weltanschauung und Moral, der Sachgesetzlichkeit des jeweiligen Tätigkeitsgebietes. Kirchliche Träger dürfen auch nicht hoffen, daß die allgemeinen Erwartungen an die fachliche Qualität gerade für sie gesenkt würden oder daß ein fachliches Defizit sich durch besondere geistliche Anstrengung kompensieren lasse. Berufliche Inkompetenz eines Krankenhausarztes wird nicht aufgewogen durch private Frömmigkeit. Gegen Unzulänglichkeit der baulichen Anlage eines kirchlichen Krankenhauses, gegen hygienische Mißstände, gegen den Mangel notwendiger Geräte hilft Beten (allein) nicht. Die Kirche trägt den Sacherfordernissen Rechnung und achtet die Eigengesetzlichkeit der Lebensbereiche, in denen sie diakonisch wirken will.11 Die säkularen Sachbereiche, in denen die Kirche sich karitativ betätigt, gehören zu der Regelungskompetenz des Staates. Ihm obliegt es, die fachlichen 10  Vgl. § 17 Abs. 3 SGB I, §§ 3 ff. SGB VIII, § 10 BSHG, §§ 2 Abs. 3, 107 ff. SGB V. Vgl. dazu Roland Wegener, Staat und Verbände im Sachbereich Wohlfahrtspflege. Berlin 1978, S. 21 ff., 49 ff., passim; Peter Mrozynski, Sozialgesetzbuch – Allgemeiner Teil (SGB I). München 1995, § 17, Rn. 24 f. Zur Zusammenarbeit im Bereich der Kinder- und Jugendhilfe: Reinhard Wiesner, in: ders./Ferdinand Kaufmann/Thomas Mörsberger/Helga Oberloskamp/Jutta Struck, SGB VIII. Kinder- und Jugendhilfe. München 1995, § 4, Rn. 4 ff. 11 Zur Autonomie irdischer Wirklichkeiten die Pastoralkonstitution „Gaudium et spes“ (Anm. 1), n. 36. Vgl. auch Forster, Caritas (Anm. 1), S. 214; ders., Gewährleistung (Anm. 9), S. 235 f.

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Standards rechtsverbindlich auszuformulieren und die Erwartungen der Hilfesuchenden rechtlich abzusichern. Damit sind Gefahren der Über- und Fehlreglementierung angelegt, wenn etwa das diakonische Krankenhaus sich der staatlichen Fasson anpassen soll nach Aufgabe, Kapazität, Organisationsstruktur, nach Therapie und Pflegemodalitäten. 2.  Arbeitsbedingungen für kirchliche Mitarbeiter Die fachliche Qualität der diakonischen Dienste hängt ab von der fachlichen Qualifikation des diakonischen Personals. Die Kirchen sind darauf angewiesen, entsprechende Mitarbeiter zu werben und an sich zu binden. Sie müssen ihre Einstellungskriterien, ihre Aus- und Fortbildungsziele den Funktionserfordernissen anpassen. Die wichtigsten Personalressourcen, aus denen gerade die katholische Kirche herkömmlich für die Krankenpflege hat schöpfen können, die geistlichen Orden, drohen heute zu versiegen. Der Anteil ihrer Angehörigen in der Caritas nimmt rapide ab.12 Damit schwindet die Möglichkeit der Kirche, zurückzugreifen auf die in den Orden verkörperte religiöse Hingabe an die karitative Aufgabe, auf unbedingten Altruismus, auf Anspruchslosigkeit in materiellen Dingen. Das heißt nicht, daß nicht wie eh und je Uneigennützigkeit, Zuwendung zum Nächsten und Gemeinsinn nachwachsen, mögen sie nun christlich oder sozial motiviert sein. Im übrigen bleibt der ehrenamtliche Dienst weiterhin unentbehrlich, nicht zuletzt für die Kirchen, welche die Bereitschaft dazu in besonderem Maße zu wecken und zu fördern vermögen. Dennoch ist der Zug zur Professionalisierung auch im diakonischen Bereich unaufhaltsam (mag er auch teilweise weniger durch Sacherfordernisse als durch Prestigebedürfnisse in Gang gehalten werden). Die Einrichtungen müssen ihr Personal auf dem Arbeitsmarkt gewinnen. Um im Wettbewerb zu bestehen, haben sie die marktüblichen Arbeitsbedingungen anzubieten, zumal hinsichtlich Arbeitszeit und Arbeitsentgelt, und dürfen nicht erwarten, daß qualifizierte und umworbene Kandidaten, etwa der Chefarzt-Prätendent, sich mit der Aussicht auf Gotteslohn vertrösten lassen. Die Caritas bedient sich des staatlichen Arbeitsrechts und paßt sich insoweit der Arbeitswelt an. Der Staat tritt auf den Plan, um arbeitsrechtliche Vorschriften 12  1945 lag der Anteil der Ordensangehörigen unter den Mitarbeitern im karitativen Bereich der katholischen Kirche über 60 %, 1950 bei 57 %, 1992 liegt der Anteil bei 4,63 %, 1994 bei 3,87 %. Die Schwesternschaften sind überaltert, der Nachwuchs bleibt aus. Dazu Hans Harro Bühler, Altersaufbau, Nachwuchs und Tätigkeitsfelder der katholischen caritativen Schwesterngemeinschaften, in: Caritas, 95. Jb. des DCV. Freiburg 1994, S. 435 ff. Statistik Josef Schmitz-Elsen, Die karitativen Werke und Einrichtungen im Bereich der katholischen Kirche, in: HdbStKirchR 2II, S. 789 ff.

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zum Schutz der kirchlichen Bediensteten durchzusetzen, die Kirche wie einen üblichen Arbeitgeber zu behandeln und sie den allgemeinen Regeln über Berufsausbildung und Kündigungsschutz, Tarifautonomie, Mitbestimmung und soziale Sicherheit zu unterwerfen. Über die Institute des kollektiven Arbeitsrechts öffnet das staatliche Recht die diakonischen Werke dem Einfluß der Gewerkschaften. Den kirchlichen Einrichtungen droht Gleichschaltung mit den nichtkirchlichen. 3.  Finanzieller Bedarf Errichtung, Betrieb und Unterhalt diakonischer Einrichtungen erfordern erheblichen und stetigen Finanzaufwand. Das gilt vor allem für Krankenhäuser, Pflegestationen und Kindergärten. Einrichtungen dieser Art können nicht darauf bauen, daß ihre Benutzer kostendeckende Entgelte erbringen; diese sind durchwegs dazu nicht in der Lage. Die Kirche darf aber ihr Angebot prinzipiell nicht auf den Kreis leistungsfähiger Destinatare beschränken, ohne mit ihrer karitativen Sendung in Widerspruch zu geraten. Karitative Einrichtungen zielen ohnehin nicht auf Gewinn. Sie erbringen ihre Dienste selbstlos, ausschließlich und unmittelbar gemeinnützig oder mildtätig, wie es der steuerrechtlichen Konzeption der steuerbegünstigten Zwecke entspricht.13 Die Kirche erbringt hohe Eigenleistungen für ihre karitativen Einrichtungen, die sie aus dem Aufkommen der Kirchensteuer und aus Spenden finanziert. Sie tut gut daran, gerade Kirchensteuermittel zu verwenden,14 weil diese politisch immer wieder umstrittene Steuer daraus eine besondere altruistische Legitimation erhält; denn die karitativen Ausgaben kommen auch Nichtmitgliedern zugute, die der Kirchensteuer nicht unterliegen. Doch die Last der karitativen Einrichtungen, zumal der Krankenhäuser, übersteigt um vieles die Finanzkraft der Kirche. Der marktwirtschaftliche Mechanismus von Angebot und Nachfrage ist im Bereich der sozialen Dienste und im Gesundheitswesen weitreichend außer Kraft gesetzt und abgelöst durch sozialstaatliche Verteilungssysteme wie Sozialversicherung und Sozialhilfe. Die Kirche ist unabweislich angewiesen auf direkte oder indirekte Finanzmittel des Staates.15 13  Dem entspricht die Regelung in § 1 Abs. 3 der Satzung des Deutschen Caritasverbandes. 14  Im Jahr 1986 erhielten Einrichtungen und Verbände der Caritas von der katholischen Kirche 970 Mio. DM an Zuwendungen (16, 7 % des Gesamtaufkommens an Kirchensteuer und Kirchgeld). In der evangelischen Kirche lag der Betrag für die Diakonie bei 760 Mio. DM (13,1 %). Quelle: Eberhard Goll, Die freie Wohlfahrtspflege als eigener Wirtschaftssektor. Baden-Baden 1991, S. 305 ff. 15  Übersicht über die öffentlichen Zuwendungen an die freie Wohlfahrtspflege und Jugendhilfe: Goll, Freie Wohlfahrtspflege (Anm. 14), S. 290 ff. Zu Finanzierungsfragen Otto Depenheuer, Finanzierung und Organisation der kirchlichen Krankenhäuser, in: HdbSt-

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Eben dadurch droht ihr auch Abhängigkeit vom Staat, nicht nur in finanzieller Hinsicht. Für den Staat liegt es nahe, seine Zuwendungen an die Bedingung zu knüpfen, daß die Kirche sich seinen Vorgaben über Organisation und Leistung anpaßt und sich in ein von ihm vorgefertigtes Kooperationsschema fügt: „Wer zahlt, schafft an.“ Scheinbar nimmt die Kirche die Bedingungen des Staates freiwillig an. Scheinbar schaltet sie sich selbst gleich. Doch nur scheinbar. Praktisch bleibt ihr jedoch keine andere Wahl, wenn sie nicht auf Präsenz in kostenträchtigen Feldern der Caritas verzichten will. Als Preis, den die staatliche Finanzierung kostet, droht im äußersten Fall die kalte Sozialisierung. 4.  Ausblick: Folgerungen für das staatliche Recht a)  Diakonie ist angewiesen auf Freiheit von staatlicher Regulierung, um ihre Wirksamkeit entfalten und selbst über ihre Organisationsstrukturen und Dienstverhältnisse bestimmen zu können. b)  Das staatliche Recht hat die Rahmenbedingungen der Selbstbestimmung zu gewährleisten. c)  Kirchliche Tätigkeit und Organisation darf rechtlich nicht schlechter stehen als die der anderen Leistungsanbieter. Das Recht hat Chancengleichheit im Leistungswettbewerb zu sichern. d)  Das staatliche Recht hat den diakonischen Einrichtungen die Chance zu bieten, kostendeckende Entgelte zu erzielen. Soweit das staatliche Recht ihnen diese Chance vorenthält (wie bei den Investitionskosten des Krankenhauses) und sie zu defizitärem Handeln zwingt,16 hat es für angemessenen Ausgleich durch öffentliche Mittel zu sorgen. e)  Soweit die Diakonie den Staat von Leistungen entlastet, die er sonst kraft seiner eigenen Gemeinwohlpflichten zu erbringen hätte, verdient sie seine rechtliche und finanzielle Förderung.

IV.  Interne Kirchlichkeitsvoraussetzungen der Caritas 1.  Identifikation mit dem Christentum Karitative Tätigkeit identifiziert sich per definitionem mit dem Christentum. Eine Tätigkeit, der dieser Bezug abgeht, mag noch so philanthropisch oder sozial ausgerichtet sein, das Prädikat „karitativ“ kommt ihr nicht zu. KirchR 2II, S. 757 (773 ff.); Burkhard Kämper, Kindergärten in kirchlicher Trägerschaft, ebd., S. 831 (835 ff.). 16 Dazu Otto Depenheuer, Staatliche Finanzierung und Planung im Krankenhauswesen. Berlin 1986, S. 228 ff.

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Caritas und Diakonie sind nicht Sache bloßer Semantik. Der Heiligenname in der Firma macht noch kein katholisches Krankenhaus, auch nicht das Kreuz neben der Pförtnerloge, obwohl Name und Symbol, in ihrer Bedeutung nicht zu unterschätzen, den christlichen Anspruch repräsentieren. Notwendige Bedingung der karitativen Qualität ist die rechtliche Zuordnung der Tätigkeit zu einem kirchlichen Träger. Doch das ist nur notwendige, nicht auch hinreichende Bedingung. Sie zeigt das kirchlich-institutionelle Moment an, nicht aber die religiöse Substanz. Diese aber ist nicht immer leicht auszumachen, zumal im kirchlichen Krankenhaus, dessen Funktionen, für sich genommen, weithin unspezifisch sind; die Herzoperation und die Computertomographie weisen keine christlichen Besonderheiten auf. Es liegt nahe, die Besonderheit darin zu sehen, daß kirchliche Einrichtungen, zumal Krankenhäuser, der Seelsorge Raum geben. Seelsorge ist eine kirchliche Grundfunktion, aber darum ist sie nicht Diakonie, auch wenn Diakonie und Glaube zusammenhängen.17 Sie bildet nicht die eigentliche Bestimmung des Krankenhauses, ist dieser vielmehr akzessorisch. Sie stellt noch nicht einmal einen religiösen Vorzug des kirchlichen Krankenhauses dar. Denn der Seelsorge steht von Verfassungs wegen auch der Zugang zum staatlichen Krankenhaus offen, ebenso der Zugang zu Kasernen und Gefängnissen,18 ohne daß diese Anstalten dadurch kirchlichen Charakter annähmen. Das Krankenhaus ist nicht um der Krankenhausseelsorge willen da, sondern die Krankenhausseelsorge findet statt, weil Kranke, die in einer klinischen Einrichtung behandelt werden, der Seelsorge bedürfen. Nicht auf einzelne religiöse Aktivitäten kommt es an, die gleichsam kirchliche Randnutzungen einer vorhandenen Anstalt sind,19 sondern auf die eigentliche Bestimmung dieser Anstalt. Das kirchliche Wirken in einer Einrichtung ist zu unterscheiden von der Bestimmung der Einrichtung für kirchliche Zwecke. Der kirchliche Träger definiert den religiösen Anspruch, den die Einrichtung erfüllen soll: allgemein-christlich, konfessionell oder spezifisch ausgerichtet auf die Regel einer Ordensgemeinschaft oder die Widmung durch einen Stifter. Von der Bestimmung durch den Träger und von der täglichen Praxis hängt es ab, ob und wieweit die Einrichtung religiöses Profil gewinnt oder sich der nichtkirchlichen Konkurrenz angleicht und verwechselbar wird, ob und wieweit sie sichtbar Zeugnis ablegt für den Glauben, aus dem sie handelt, oder ob sie es timide zu17 Gegen die Identifikation von Glaube und Diakonie Forster, Gewährleistung (Anm. 9), S. 240. 18  Art. 140 GG i. V. m. Art. 141 WRV. Dazu Rudolf Seiler, Seelsorge in Bundeswehr und Bundesgrenzschutz, in: HdbStKirchR 2II, S. 961 ff.; Susanne Eick-Wildgans, Anstaltsseelsorge, ebd., S. 995 ff. 19  „Nicht einmal die Hauskapelle bringt die entscheidende Aussage, worin das Katholische eines katholischen Krankenhauses besteht“ (Forster, Gewährleistung [Anm. 9], S. 233).

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rücknimmt und in der säkularen Umwelt zur Mimikry übergeht. Die Kirche steht von außen wie von innen unter Druck, jedenfalls in ihrer karitativen Tätigkeit von der Berufung auf den Transzendenzglauben abzusehen, sich mit einer innerweltlichen Begründung als soziales Engagement, das dem ideologischen Grundkonsens der heutigen Gesellschaft gemäß ist, zu begnügen. Der kirchliche Träger gewährleistet, daß das Wirken der Einrichtung mit der christlichen Lehre übereinstimmt. Die Konsequenzen der christlichen Lehre für die karitative Praxis decken sich in weitem Umfang mit den Erwartungen von Staat und Gesellschaft. Doch treten in einzelnen Fragen, zumal in der Verfügbarkeit über das menschliche Leben an seinem Anfang und an seinem Ende, fundamentale Divergenzen auf. Hier muß die karitative Praxis den Widerspruch zur Umwelt durchhalten, wenn sie sich nicht selbst preisgeben will. So offeriert das katholische Krankenhaus nicht Leistungen, welche als unsittlich und rechtswidrig von der Kirche verworfen werden: Abtreibung und Euthanasie. Die Kirche gerät in ein Dilemma, wenn der Staat ihr anbietet, sich an dem Beratungsverfahren zu beteiligen, das die rechtliche Voraussetzung für eine Abtreibung bildet. Macht sie mit, verstrickt sie sich in Vorbereitungshandlungen zur Tötung des ungeborenen Kindes, verweigert sie sich, begibt sie sich der Chance, sich für das Leben einzusetzen und es zu retten, riegelt sich ab gegen die Realität und wählt das größere Übel.20 Der karitative Auftrag einer Organisation erschöpft sich nicht darin, den Widerspruch zur christlichen Botschaft zu vermeiden. Die Organisation soll auf ihre Weise die Botschaft erfüllen und bekunden. Diese positive Dimension ist eher sichtbar zu machen in der Bildung und Erziehung als in der Verteilung von Geld und Sachmitteln, eher in der Krankenpflege als in der ärztlichen Operation. Damit wird die Schwierigkeit erkennbar, wie das diakonische Proprium in einer funktionsbeherrschten Einrichtung wirksam werden kann. Die Frage spitzt sich zu, worin denn das Katholische im katholischen Krankenhaus bestehen soll.21 Es kann nur erkennbar werden jenseits der medizinisch-technischen Funk20  Zu dem Problem eingehend Herbert Tröndle, Die Neureglung des Abtreibungsstrafrechts und die Frage der Mitwirkung kirchlicher Beratungsstellen, in: Zeitschrift für Lebensrecht 1995, S. 46 (49 ff.). S. auch ders., Kirchliche Mitverantwortung für ein Unrechtssystem?, in: Die Neue Ordnung 50 (1996), S. 51 ff. 21 Dazu Forster, Gewährleistung (Anm. 9), S. 232 ff.; Anton Rauscher, Aufgabe und Verantwortung des Katholischen Krankenhauses heute, in: Die Neue Ordnung 47 (1993), S. 31 ff. – Aus der Sicht des staatlichen Rechts: Willi Geiger, Caritas im freiheitlichen Rechtsstaat. Freiburg i. Br. 1977, S. 9 ff.; Josef Isensee, Das katholische Krankenhaus und die Verfassung des sozialen Rechtsstaats, in: Katholischer Krankenhausverband Deutschlands e. V. (Hrsg.), Eigene Wege im Katholischen Krankenhaus. Freiburg i. Br. 1982, S. 7 (15 ff.); Walter Leisner, Das kirchliche Krankenhaus im Staatskirchenrecht der Bundesrepublik Deutschland, in: EssGespr. 17 (1983), S. 9 (26 f.).

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tionalität. In der Funktionalität kann sich die Aufgabe des Krankenhauses nicht erschöpfen. Krankheit, Leiden, Hilflosigkeit und Todesnähe sind Grenzerfahrungen menschlicher Existenz, die sich nicht ohne Rest schulmedizinisch und psychotherapeutisch bewältigen lassen. Vollends versagen irdisches Hoffen und humanes Trösten vor der Realität des Sterbens. Eben hier können sich die christlichen Tugenden des Glaubens, der Hoffnung und der Liebe bewähren, um seelische Not, um Angst und Verzweiflung aufzunehmen, um zu bergen, wo keine ärztliche Rettung möglich ist, zu helfen, wo sich „nichts mehr machen“ läßt. Der christliche Geist, der das Haus beseelen sollte, transzendiert die ärztlichen und pflegerischen Funktionen. Er durchdringt sie und bringt sie ein in einen geistlichen Sinnzusammenhang.22 Die christliche Identität des kirchlichen Krankenhauses läßt sich ihrerseits nicht auf eine vereinzelte, spezielle Funktion reduzieren, auf Krankenpastoral, auf religiöses Sinnangebot und Sterbebegleitung oder auf den geschulten Spezialisten konzentrieren.23 Es geht nicht um eine abgegrenzte Funktion, sondern um die Atmosphäre, innerhalb derer Funktionen ausgeübt werden, um den Geist, der die gesamte Tätigkeit „imprägniert“, biblisch gesprochen, um den Sauerteig, der den Teig durchsäuert. Die Identifikation mit dem Christentum ist nicht so sehr ein Tun als ein Sein, als solches – idealiter – nicht Ziel besonderer beruflicher Anstrengung der Beteiligten, sondern die Voraussetzung, von der aus sie handeln, ihre selbstverständliche Berufs- und Lebensform. Das karitative Krankenhaus sollte sich von anderen Krankenhäusern unterscheiden durch die persönliche Zuwendung, die der Patient von Ärzten und Schwestern erwarten darf. Eben deshalb darf sich der karitative Dienst nicht völlig durchrationalisieren und konfektionieren lassen. Das Idealbild des kirchlichen Krankenhauses wird sich nie mehr als annäherungsweise verwirklichen lassen. Zwischen dem karitativen Anspruch und seiner praktischen Einlösung wird immer eine Differenz übrigbleiben. Doch darf sie nicht so groß ausfallen, daß der Anspruch seine Wirksamkeit verliert. Eine kirchliche Organisation ist höheren ethischen Erwartungen ausgesetzt als ihr nichtkirchlicher Wettbewerber, mit gutem Grund, weil die Kirche das hohe Ethos des Christentums predigt. Es wäre um ihre Glaubwürdigkeit geschehen, wenn sich in 22  Exemplarisch sei die religiöse Zweckwidmung des Deutschen Caritasverbandes genannt. Dazu Franz Klein, Die Verfassung der Deutschen Caritas. Freiburg i. Br. 1966, S. 23 ff.; Generalsekretariat des Deutschen Caritasverbandes e. V. (Hrsg.), Caritasverband in Kirche, Staat und Gesellschaft. Ein Positionspapier des Deutschen Caritasverbandes zu Selbstverständnis und Auftrag verbandlich organisierter Caritas im heutigen kirchlichen und gesellschaftlichen Kontext. Freiburg i. Br. 1983, S. 9 ff. 23  Zu dem neuartigen Typus der Säkularisierung: Josef Isensee, Kirchenautonomie und sozialstaatliche Säkularisierung in der Krankenpflegeausbildung. Freiburg i. Br., Stuttgart 1980, S. 77 ff.

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ihr das Sprichwort bestätigte, daß es am Fuße des Leuchtturms am dunkelsten ist. Mehr als andere hat die Kirche den Skandal zu vermeiden. Solange die kirchliche Einrichtung ihre besondere Legitimation glaubhaft machen kann, darf sie nicht als arbeitsrechtlicher Tendenzbetrieb behandelt werden wie ein Redaktionsbüro, in dem die für die redaktionelle Linie verantwortlichen Tendenzträger von tendenzindifferentem, technischem Personal, etwa den Schreibkräften, unterschieden werden. Die diakonische Einrichtung, gleich, ob Krankenhaus, Pflegeanstalt, Kindergarten oder Jugendheim, bildet eine integrale Wirkungseinheit, zu der alle Beteiligten beitragen, auch das technische und das administrative Personal.24 Je dichter der Staat die Sachbereiche der Caritas reguliert, desto geringer wird ihre Chance, Besonderheit zu entwickeln und zu wahren. Die Gefahr, die sich in der Ära des Sozialstaats abzeichnet, ist die der kalten Säkularisierung. Diese unterscheidet sich von der klassischen dadurch, daß sie nicht kirchenfeindlicher Absicht entspringt, sondern wohlwollender Vielregiererei im Dienste legitimer öffentlicher Belange wie der Volksgesundheit und der Erziehung, durch Maßnahmen zur Förderung der Hilfesuchenden und zum sozialen Schutz der kirchlichen Arbeitnehmer. Die staatlichen Maßnahmen richten sich auch nicht allein gegen die Kirche. Vielmehr wird sie nicht anders behandelt als private Unternehmen aller Art. Die Säkularisierung neuer Art ist auch kein großer Coup; sie entspringt nicht zentralem Plan. Sie ergibt sich aus einer Vielzahl von unmerklichen, zufälligen, kleinen Nebenfolgen kirchenindifferenter Maßnahmen.25 2.  Institutionelle Verflechtung mit der Kirche Christliche Motivation läßt sich in jeden Beruf einbringen. Der Krankenhauspfleger kann auch in einer staatlichen Universitätsklinik seine Arbeit aus der Nächstenliebe religiös begründen, desgleichen die Kindergärtnerin in einer kommunalen Kindertagesstätte. Doch kirchliche Caritas setzt voraus, daß der jeweilige Dienst der Kirche als Institution zugerechnet wird. Die Einrichtung und ihr Träger müssen mittelbar oder unmittelbar mit der Kirche verbunden sein.26

24  Arbeitsrechtliche Sicht: Josef Jurina, Das Dienst- und Arbeitsrecht im Bereich der Kirchen in der Bundesrepublik Deutschland. Berlin 1979, S. 41 f.; Reinhard Richardi, Arbeitsrecht in der Kirche. 2. Aufl., München 1992, S. 39 ff., 55 ff., 170 ff. (bes. S. 175 ff.). Verfassungsrechtliche Sicht: Josef Isensee, Kirchliche Loyalität im Rahmen des staatlichen Arbeitsrechts, in: Rechtsstaat – Kirche – Sinnverantwortung. FS für Klaus Obermayer. München 1986, S. 203 ff.; Wolfgang Rüfner, Individualrechtliche Aspekte des kirchlichen Dienst- und Arbeitsrechts, in: HdbStKirchR 2II, S. 901 ff. 25 Vgl. Forster, Gewährleistung (Anm. 9), S. 234. 26 Dazu Leisner, Kirchl. Krankenhaus (Anm. 21), S. 25 f.

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Im Einzelfall ist eine solche Verbindung nicht immer leicht auszumachen, weil diakonische Werke häufig aus privaten Initiativen entstanden sind und ihre eigenen Strukturen entwickelt haben. Überdies bewegen sich Organisationen dieser Art nach ihren eigenen Funktionsgesetzen und neigen dazu, auch gegenüber der kirchlichen Hierarchie auf ihre Autonomie zu pochen, was sie nicht hindert, wenn von staatlicher Seite her Gefahr droht, unter dem Schutzmantel der Kirche Zuflucht zu suchen;27 das verspricht allerdings Erfolg nur unter der Voraussetzung, daß sie die institutionelle Zugehörigkeit zur Kirche nach den Kriterien des staatlichen Rechts plausibel machen können28 und zeigen, daß sie nach kirchlichem Selbstverständnis ihrem Zweck oder ihrer Aufgabe entsprechend berufen sind, „ein Stück des Auftrags der Kirche wahrzunehmen und zu erfüllen“.29 Diakonische Träger sind gut beraten, wenn sie ihre Bindung an die Kirche durch klare Satzungsvorschriften rechtlich bekunden.30 Indikatoren der institutionellen Zurechnung zur Kirche sind etwa: förmliche Anerkennung durch diese, Mitwirkung ihrer Vertreter in Leitungsorganen, Genehmigungsvorbehalte und Aufsichtsbefugnisse.31

27  Ulrich Scheuner, ein hervorragender Kenner der Diakonie in Recht und Realität, pflegte die Einrichtungen mit Küken zu vergleichen, die ausschwärmen, aber, sowie der Habicht naht, sich wieder an die Glucke drängen. 28  Schulbeispiele einer kirchlichen Zuordnung in der Parallelwertung des staatlichen Rechts sind: die Qualifikation des Wilhelm-Anton-Hospitals zu Goch als katholisches Krankenhaus in BVerfGE 46, 73 (75 ff.) und die entsprechende Qualifikation des MarienHospitals Wesel e. V., des Evangelischen Krankenhauses Dinslaken GmbH und anderer Einrichtungen in BVerfGE 53, 366 (391 ff.). 29  BVerfGE 46, 73 (LS 1, 85). Vgl. auch 53, 366 (391) – st. Rspr. 30  Die Satzung des Deutschen Caritasverbandes liefert dafür Exempel, zumal in der Bestimmung über die Aufsicht in § 2: „(1) Der Deutsche Caritasverband steht unter der Aufsicht der deutschen Bischöfe. Sie wird durch den Vorsitzenden der Bischöflichen Kommission ,Caritas und Soziales‘ ausgeübt. Dieser führt den Titel ,Protektor des Deutschen Caritasverbandes‘. (2) Der Protektor wacht über Geist und Wirken des Deutschen Caritasverbandes und bildet die Verbindung zwischen dem Deutschen Caritasverband und den zuständigen Stellen des Episkopates. Er hat das Recht, an den Sitzungen der Verbandsorgane teilzunehmen.“ Zur kirchenrechtlichen Stellung der Caritas in der katholischen Kirche: Heribert Heinemann, Die Rechtsstellung des Deutschen Caritasverbandes und der Diözesanverbände und ihre Einordnung in das Gesetzbuch der Kirche, in: ArchKathKR 158 (1989), S. 416 ff.; ders., Die Stellung der Caritas im Verfassungsrecht der Kirche, in: Norbert Feldhoff/ Alfred Dünner (Hrsg.), Die verbandliche Caritas. Praktisch-theologische und kirchenrechtliche Aspekte. Freiburg i. Br. 1991, S. 150 ff. ; Eberle, Sozialstationen (Anm. 1), S. 124 ff. Zur kirchenrechtlichen Stellung der Diakonie in der evangelischen Kirche: Eberle, ebd., S. 142 ff. 31 Dazu die markanten Vorschläge von Leisner, Kirchl. Krankenhaus (Anm. 21), S. 25 f.

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3.  Kirchenloyalität der Mitarbeiter und Dienstgemeinschaft In den karitativen Einrichtungen wird das Gebot der Nächstenliebe objektiviert zu einer Aufgabe, die im Rahmen einer arbeitsteiligen und kompetenzdifferenzierten Ordnung zu erfüllen ist. Das christliche Gebot stellt sich für den einzelnen Mitarbeiter dar als ein Amt, ein gegenständlich bestimmter und begrenzter Tätigkeitskreis, den er, unter Verzicht auf Eigennutz und Eigenmacht, als loyaler Treuhänder der kirchlichen Gemeinschaft auszufüllen hat.32 Das Amt dient nicht der Selbstverwirklichung seines Inhabers, auch nicht seiner religiösen Selbstverwirklichung, als Instrument, eine Privatmission durchzusetzen. Insofern löst sich die Diakonie ab von der Subjektivität des einzelnen Mitarbeiters, auch von seinen persönlichen religiösen Empfindungen und moralischen Absichten. Das bedeutet jedoch nicht, daß sich die Mitarbeiter – ohne Schaden für die Sache – auf funktional korrekte Arbeit beschränken, ihre Tätigkeit als begrenzte und auswechselbare Rolle betrachten und aus innerer Distanz als Job ausüben könnten. Karitative Einrichtungen sind auch auf die christliche Gesinnung und auf die Kirchentreue der Personen angewiesen, die ihre Aufgaben und Befugnisse im Namen der Kirche ausüben. Die Subjektivität der Mitarbeiter bleibt nicht außen vor. Es kommt grundsätzlich auch auf ihre persönliche Religiosität an. Das objektive und das subjektive Prinzip sind zu versöhnen. Caritas ist darauf angewiesen, daß ihre Sachwalter sich die ihnen gegebene Aufgabe zu eigen und das ihnen obliegende Amt zu ihrem inneren Beruf machen. Weil Diakonie mehr ist als Funktion, schulden die diakonisch Tätigen nicht nur funktionsgerechte Leistung, sondern auch persönliche Identifikation mit Christentum und Kirche, sowohl in ihrer diakonischen Arbeit als auch in ihrer Lebensführung.33 Arbeitsrechtlich qualifiziert sind sie nicht nur dazu verpflichtet, die vertraglich über32  Amt wird hier im funktionalen Sinne verstanden, der sich nicht mit dem theologischen Verständnis deckt und der auch kirchenrechtliche Unterscheidungen beiseite läßt. Zum diakonischen Amt: von Campenhausen, Staat – Kirche – Diakonie (Anm. 1), S. 12 ff. Allgemein zum theologischen und kirchenrechtlichen Verständnis des Amtes in den Kirchen: Ralf Dreier, Das kirchliche Amt, München 1972; Walter Kasper/Richard Puza/Dietrich Pirson, Kirchenamt, in: StL III, 71987, Sp. 413 ff. m. w. N. 33  In der Erklärung der deutschen Bischöfe zum kirchlichen Dienst vom 22. September 1993 heißt es unter III 3 (1): „Von den katholischen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern wird erwartet, daß sie die Grundsätze der katholischen Glaubens- und Sittenlehre anerkennen und beachten. Insbesondere im pastoralen, katechetischen und erzieherischen Dienst sowie bei Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, die aufgrund einer Missio canonica tätig sind, ist das persönliche Lebenszeugnis im Sinne der Grundsätze der katholischen Glaubens- und Sittenlehre erforderlich. Dies gilt auch für leitende Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter.“ Die Erklärung ist veröffentlicht in allen Amtsblättern der deutschen Diözesen, hier zitiert nach dem ABI. des Erzbistums Köln 133 (1993), S. 219 (220). Desgleichen auch Forster, Caritas (Anm. 1), S. 217 ff.; ders., Gewährleistung (Anm. 9), S. 249.

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nommene Arbeit so zu leisten, daß die Kirche ihren bekenntnismäßig geprägten Auftrag zu erfüllen vermag (Leistungstreuepflicht), sondern darüber hinaus, in ihrer Lebensführung die kirchliche Ordnung zu respektieren (Loyalitätsobliegenheit). Die Kirche kann die Loyalität zwar nicht erzwingen, aber sie kann sich von einem Mitarbeiter, der sie verletzt, durch Kündigung trennen.34 Das Erfordernis der persönlichen Grundübereinstimmung mit der Kirche ergibt sich daraus, daß die diakonische Tätigkeit personal geprägt ist und die kirchliche Sendung nur glaubwürdig ist durch die Person, die sie konkret wahrnimmt.35 Da die Gesamtatmosphäre eines Krankenhauses oder eines Kindergartens für den karitativen Charakter bestimmend ist, beschränkt sich die Loyalitätsobliegenheit nicht auf einzelne Funktionsinhaber (Tendenzträger); auch administrative Dienste scheiden nicht von vornherein aus. Die Kirche erschwert sich die Möglichkeit religiöser Identifikation, sofern sie Personen einstellt, die nicht ihre Mitglieder sind, etwa Christen anderer Konfession, vollends Nichtchristen, etwa Muslime oder auch Agnostiker. Von diesen kann sie nicht erwarten und nicht verlangen, daß sie sich die religiösen Grundlagen diakonischen Handelns zu eigen machen. Sie darf zwar auch von ihnen arbeitsrechtliche Leistungstreue verlangen (praktisch nicht viel mehr als die Unterlassung kirchenfeindlichen Verhaltens), nicht jedoch aber Kirchentreue als arbeitsrechtliche Loyalitätsobliegenheit.36 Je größer der Anteil der Kirchenexternen unter den Beschäftigten ist, desto größer ist die Schwierigkeit der Kirche, besondere Loyalitätsgebote gegenüber ihren Mitgliedern zu legitimieren und durchzusetzen. Die kirchlichen Verhaltensnormen, die über Funktionserfordernisse hinausgehen, finden ohnehin immer weniger Verständnis in der Gesellschaft, zumal wenn sie die außerberufliche Lebensführung betreffen. Der anti-institutionelle Affekt des Zeitgeistes richtet sich auch gegen die Institution 34 

Dazu eingehend Richardi, Arbeitsrecht (Anm. 24), S. 55 ff. Katholische am katholischen Krankenhaus besteht … darin, daß der gesamtmenschliche Dienst des Helfens und Heilens von den Mitarbeitern aus der Perspektive des christlichen Glaubens und aus der Kraft ihres Lebens in der katholischen Kirche geleistet wird“ (Forster, Gewährleistung [Anm. 9], S. 239). 36  Die Deutsche Bischofskonferenz stellt in ihrer Erklärung vom 22. September 1993 unter III 3 (2) und (3) fest: „Von nichtkatholischen christlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern wird erwartet, daß sie die Wahrheiten und Werte des Evangeliums achten und dazu beitragen, sie in der Einrichtung zur Geltung zu bringen. Nichtchristliche Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter müssen bereit sein, die ihnen in einer kirchlichen Einrichtung zu übertragenden Aufgaben im Sinne der Kirche zu erfüllen. Alle Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter haben kirchenfeindliches Verhalten zu unterlassen. Sie dürfen in ihrer persönlichen Lebensführung und in ihrem dienstlichen Verhalten die Glaubwürdigkeit der Kirche und der Einrichtung, in der sie beschäftigt sind, nicht gefährden.“ (Anm. 33). – Zur arbeitsrechtlichen Lage Richardi, Arbeitsrecht (Anm. 24), S. 55 ff. 35  „Das

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Kirche und hat längst übergegriffen auf das Kirchenvolk und die kirchlichen Bediensteten.37 Die Kirche kann sich gegen den äußeren und inneren Druck nur behaupten, wenn es ihr gelingt, aus sich heraus für ihre Dienstverhältnisse individual- und kollektivrechtliche Konzepte eines gerechten Interessenausgleichs zu entwickeln, die auch den gerade hier sensiblen Anforderungen der säkularen Gesellschaft genügen. Gleichwohl: Wann immer sie nach eigenen Wegen sucht, stößt die Kirche auf Widerstand. Dieser erhebt sich, weil sie im karitativen Bereich nicht die privatwirtschaftlichen Schemata des Tarifvertrags, des Arbeitskampfes und der Mitbestimmung übernimmt, die aus der Spannung von Kapital und Arbeit hervorgegangen sind, vielmehr ihrem Selbstverständnis gemäß das Leitbild der Dienstgemeinschaft aufrichtet und eigene Verfahren entwickelt, in denen Arbeitsbedingungen geregelt und Interessenkonflikte ausgetragen werden.38 Säkularer Anpassungsdruck geht hier vom Sozialstaat aus und von den Gewerkschaften, die – kirchenfern und kirchenfremd, wie sie nach Herkunft und Zielsetzung sind – nach Einfluß auf die kirchlichen Einrichtungen streben, gestützt auf die Ideologie der Arbeitnehmergesellschaft, die eine Gruppe als die gesamtgesellschaftlich maßgebliche ausgibt und deren einheitsgewerkschaftlich definierte Interessen mit dem Gemeinwohl identifiziert, so daß, wer sich nicht gewerkschaftlich definieren läßt, außerhalb des Gemeinwohls verbleibt. 4.  Ausblick: Folgerungen für das staatliche Recht a)  Die Kirche erwartet vom Staat, daß er ihr den Freiraum beläßt, der erforderlich ist, damit sie gemäß ihrem Auftrag, unbehindert durch das staatliche Recht, karitativ wirken kann. Im bürgerlichen Rechtsstaat, der für Privatautonomie und gesellschaftliche Selbstregulierung weitestmöglichen Spielraum gäbe, wäre diese Wirksamkeitsbedingung von vornherein erfüllt, wenn er die Kirche nicht diskriminierte, sondern ihr die gleiche Teilhabe an der bürgerlichen Freiheit gewährleistete wie jedermann. b)  Doch das gilt nicht ohne weiteres für den sozialen Rechtsstaat – wie er heute in Deutschland besteht –, der um der sozialen Gerechtigkeit willen in die gesellschaftlichen Binnenbeziehungen eingreift und privatautonome Regelun37  Damit verbinden sich Tendenzen zu einer kirchlich emanzipierten subjektiven Religiosität, auch mit karitativen Impulsen. Dazu allgemein Karl Forster, Persönliche Religiosität und kirchliche Institution (1976), in: ders., Glaube und Kirche (Anm. 1), Bd. 1, S. 372 ff. 38 Dazu Richardi, Arbeitsrecht (Anm. 24), S. 55 ff., 101 ff., 125 ff., passim; Reinhard Richardi, Das kollektive kirchliche Dienst- und Arbeitsrecht, in: HdbStKirchR 2II, S. 927 ff.

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gen zugunsten des Schwächeren korrigiert, zumal im Arbeitsvertrag und in der Arbeitsorganisation. Unter diesen Prämissen muß die Diakonie, wenn sie ihr Proprium bewahren will, darauf bestehen, daß sie von allgemein geltenden sozialstaatlichen Regelungen, zumal solchen des individuellen und des kollektiven Arbeitsrechts, freigestellt und nicht behandelt wird wie ein gewerbliches Unternehmen oder ein politischer Interessenverband, damit sie sich in ihrer Eigenart entfalten und ihrem Selbstverständnis gemäße organisations- und dienstrechtliche Formen autonom entwickeln kann. Ihre Identität als kirchliche Organisation würde gefährdet, wenn das staatliche Recht sie zwänge, sich der Einwirkung durch die Gewerkschaften zu öffnen. Das Interesse der Kirche gegenüber dem sozialen Rechtsstaat geht also dahin, daß er für ihren Bereich generell sozialstaatliche Einschränkungen der Privatautonomie mit Rücksicht auf ihre besonderen Bedürfnisse suspendiert. c)  Soweit der soziale Rechtsstaat das Wirkungsfeld der Diakonie mit einem sozialen Netz überzieht, hat er der Diakonie hinreichend weite Betätigungschancen offen zu halten, daß diese sich auch in ihrer kirchlichen Besonderheit zur Geltung bringen kann.

V.  Kirchliche Vitalität als Bedingung und Grenze Caritas ist die Wachstumsbranche der Kirche in der modernen Gesellschaft. Ihre Leistungen werden heute mehr denn je nachgefragt. Sie vergrößert ihr Angebot und offeriert nun auch Drogen- und Schwangerschaftsberatung, Rechtsberatung für ausländische Flüchtlinge39 und Asylbewerber, Pflege im Rahmen der Pflegeversicherung. Die neuartigen Agenden entspringen nicht eigener Initiative, sondern der des Staates, der, so 1995 mit der Einführung der Pflegeversicherung, das Tätigkeitsfeld vorab rechtlich und finanziell aufbereitet, Ziel und Methode des Beackerns festlegt und die Parzellen verteilt. Die Caritas, die sich auf diese Option einläßt, wächst damit an Reichweite, an Organisation, an Personal und an finanzieller Verpflichtung. Es handelt sich um quantitatives Wachstum. Das kostet seinen Preis. Der Preis kann die innere Neutralisierung des kirchlichen Propriums sein. Das ergibt sich etwa für den konfessionellen Kindergarten, soweit er eine lokale Monopolstellung erlangt und damit Rücksicht auf Empfindungen kirchenferner und kirchenfremder Eltern und Kinder geboten ist, die faktisch keine andere Wahl haben, als den einzigen Kindergarten vor Ort zu nutzen. Der Preis kann auch die kalte Säkularisierung der Caritas sein. Die Akzeptanz, die ihre Leistungen finden, erstreckt sich nicht unbedingt auf die religiösen 39  Dazu die vom Deutschen Caritasverband herausgegebene Festschrift „25 Jahre Caritas-Rechtsberatung für ausländische Flüchtlinge“, Freiburg i. Br. 1985.

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Voraussetzungen. Die Gesellschaft weiß zwar die karitativen Früchte am Baume der Kirche zu schätzen, aber sie führt dem Baum nicht genug an spirituellen Nährstoffen zu, die er braucht, damit seine Früchte ihren besonderen Geschmack entwickeln. Die religiösen Ressourcen erneuern sich nicht hinreichend und nehmen sogar ab, jedenfalls die Ressourcen an kirchlich gebundener Religiosität, aus der die Caritas in erster Linie schöpfen muß. Deutliches Symptom ist der erhebliche Rückgang der geistlichen Berufe im karitativen Bereich.40 Die Caritas ist weithin nicht mehr in der Lage, die Stellen, über die sie in gewaltiger Zahl verfügt,41 mit hinlänglich kirchlich gesonnenen Personen zu besetzen. Dem Säkularisierungsdruck, den das gesellschaftliche Umfeld von außen übt, korrespondiert die innere Versuchung der Kirche zur Selbstsäkularisierung.42 Sie geht dahin, Caritas nur noch als Sozialarbeit zu verstehen, allein der Funktionsgesetzlichkeit zu folgen und die religiöse Fundierung dahinstehen zu lassen oder aber sie durch eine humanitäre Legitimation, durch eine heute landläufige Sozialideologie zu ersetzen,43 in der sich das Seelenheil zum Sozialheil, die Nächstenliebe zum Randgruppenkult wandelt und so das soziale Prinzip, an sich ein Derivat des Christentums, zu seinem Surrogat mutiert, zum Religionsersatz, und die geistliche Legitimation verkommt zur zeitgeistliehen Legitimation.44 In diese Hohlräume des Religiösen nistet sich gern die politische Eigenmacht ein, die für 40 

s. oben Anm. 12. Bereich der katholischen Caritas, beschränkt auf die alten Bundesländer, sind insgesamt 407.561 hauptberufliche Mitarbeiter (davon 280.631 in Vollzeit) beschäftigt (Stand 1992). Hinzu kommen die hauptberuflichen Mitarbeiter in den neuen Bundesländern, insgesamt 10.098 (Stand 1990). Näher Schmitz-Elsen, (Anm. 12), S. 927 ff. Die entsprechenden Zahlen der evangelischen Diakonie vom Stand des Jahres 1991 für Gesamtdeutschland: 326.877 hauptamtliche Mitarbeiter, darunter 216.577 Vollzeitmitarbeiter. Näher mit Nachw. von Tiling (Anm. 1), S. 809 ff. Das gängige Klischee, „die Kirchen“ oder „die Caritas“ seien der zweitgrößte Arbeitgeber nach dem Staat, ist aber dahin zu modifizieren, daß Arbeitgeber eine Vielzahl von autonomen Trägern sind, die sich nur zu relativ lockeren Dachverbänden zusammengeschlossen haben. 42 Dazu Josef Isensee, Die Säkularisierung der Kirche als Gefährdung der Säkularität des Staates, in: Gerfried W. Hunold/Wilhelm Korff (Hrsg.), Die Welt für morgen. München 1986, S. 164 ff. 43  Dazu aus der Anfangszeit der modernen Caritas die theologische Apologetik von Schaub, Kath. Caritas (Anm. 1), S. 185 ff. 44  Zur Metamorphose des Seelenheils zum Sozialheil: Helmut Schelsky, Die Arbeit tun die anderen. dtv-Ausg., München 1977, S. 426 ff. Zu den einschlägigen Tendenzen der Ideologie und Politisierung der Kirchen: Martin Kriele, Befreiung und politische Aufklärung. Freiburg i. Br. 1980, S. 218 ff.; Wilhelm Weber, Wenn aber das Salz schal wird … Würzburg 1984, §§ 31 ff., passim; Rupert Hofmann, Politik als Religion, in: FS für Helmut Kuhn. Weinheim 1989, S. 77 ff.; ders., Soziologie als theologische Grunddisziplin?, in: Communio 19 (1990), S. 453 ff. 41  Im

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ihre Zwecke von kirchlicher Reputation, kirchlicher Immunität und kirchlichem Gelde zehrt. Die Schrumpfung der religiösen Vitalität vollzieht sich in auffälligem Kontrast zu der organisatorischen Expansion. Das Bild liegt nahe vom Caritas-Dinosaurier mit überdimensioniertem Personalrumpf und winzigem geistlichem Kopf, der zunehmend unfähig wird, sich selbst zu erhalten.45 Der christliche Anspruch droht zu verkommen zur Lebenslüge der Organisation und zum Werbespot für Spendensammlungen. Am Ende bleibt ein autonomer Großapparat, der, niemandem verantwortlich, von nichts anderem mehr bewegt wird als von seinem Selbsterhaltungsinteresse. Der staatskirchenrechtliche Status, der nicht mehr vom kirchlichen Leben erfüllt wird, gerät zum leeren Privileg. Es ist kein Zufall, wenn sich innerhalb der Kirche Bestrebungen regen, sich der karitativen Einrichtungen mit ihrer Organisations- und Personalmasse zu entledigen, die für die gesamte Kirche institutionelle Gefahren zeitigen können, welche durch die spirituellen Vorteile nicht mehr auf Dauer aufgewogen werden können: Gefahren der Immobilisierung, der finanziellen Überlastung und Abhängigkeit, der Haftung für Handlungen, die sich aus dem kirchlichen Zentrum heraus immer schwerer beeinflussen lassen. Der Staat kann und will der Kirche hier die Entscheidung nicht abnehmen. Wenn er ihr in seiner Verfassung die Freiheit auch zum karitativen Wirken gewährleistet, so läßt er es ihre Sache sein, ob sie ihre rechtliche Freiheit auch tatsächlich ausfüllen und sinnvoll ausüben kann. Vitalität und Urteilskraft sind vorrechtliche Verfassungserwartungen, die der Staat von sich aus nicht einlöst.46 Die Kirche aber wäre gut beraten, wenn sie dem Hang der Caritas zum quantitativen Wachstum Einhalt geböte und den Personal- und Organisationsbestand nur weitete oder hielte, sofern und soweit sie in der Lage wäre, die Tätigkeit geistig zu prägen und zu durchdringen: Caritas also nach Maßgabe der religiösen Potenz. Die richtige Reichweite ist, mit Goethe, „der Kreis, den meine Wirksamkeit erfüllt! Nichts drunter und nichts drüber!“.

45  Isensee, Kath. Krankenhaus (Anm. 21), S. 23. Das Bild wird aufgenommen vom Erzbischof von Köln, Joachim Kardinal Meisner, in seiner Ansprache beim Neujahrsempfang am 31. Dezember 1994 (Pressedienst des Presseamtes des Erzbistums Köln v. 3. 1. 1995, Nr. 291, S. 4). 46 Dazu Josef Isensee, Verfassungsstaatliche Erwartungen an die Kirche, in: EssGespr. 25 (1991), S. 104 (118 ff., 142 f.).

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B.  Ortsbestimmung der Caritas im verfassungsstaatlichen System I.  Der kirchliche Gegenstand der staatskirchenrechtlichen Regelungen Die nachfolgende staatskirchenrechtliche Untersuchung bezieht sich auf die organisierte karitative Tätigkeit, die sich die Kirche nach ihrem Selbstverständnis zurechnet. Das typische Untersuchungsobjekt bildet die Tätigkeit jener Träger, die im Deutschen Caritasverband auf katholischer47 und auf evangelischer Seite im Diakonischen Werk der Evangelischen Kirche in Deutschland48 verbandsmäßig zusammengefaßt werden. Die wichtigsten Erscheinungsformen sind Gesundheits-, Jugend-, Familien-, Alten- und Behindertenhilfe. Die Materie der kirchlichen Privatschule bleibt außen vor. Außerhalb des thematischen Blickfeldes liegt die tätige Nächstenliebe des Einzelnen, aber auch die durch Organisationen, soweit diese nicht im institutionalisierten Zusammenhang mit einer Kirche stehen.

II.  Überschneidungsbereich der Wirkungskreise von Staat und Kirche 1.  Säkularer Horizont des Staates Der Verfassungsstaat, wie er dem Grundgesetz als Leitbild vorausliegt, ist säkularer Staat.49 Er beschränkt sich auf innerweltliche Ziele und setzt die begrenzten Mittel, die ihm von Verfassungs wegen verfügbar sind, nach zweckrationalen Maximen ein. Die religiöse Grundlage der karitativen Betätigung liegt jenseits seines Wirkungskreises. Das christliche Proprium ist seinem Wesen nach unstaatlich. Der Staat hat keinen Zugriff auf den Ursprung der karitativen Grundfunktion der Kirche.

47 Dazu Hierold, Grundlegung (Anm. 1), S. 81 ff.; Franz Klein, Verfassung (Anm. 22), S. 23 ff.; Bernd-Otto Kuper, Deutscher Caritasverband, in: StL II, 71986, Sp. 1 ff.; SchmitzElsen (Anm. 12). 48 Dazu von Tiling (Anm. 1). 49 Dazu Herbert Krüger, Allgemeine Staatslehre. 2. Aufl., Stuttgart 1966, S. 32 ff., 178 ff.; Helmut Quaritsch, Staat und Souveränität. Bd. 1, Frankfurt a.M. 1970, S. 284 ff.; Klaus Schlaich, Neutralität als verfassungsrechtliches Prinzip. Tübingen 1972, S. 129 ff.; Martin Heckel, Säkularisierung (1980), in: ders., Gesammelte Schriften. Bd. 2, Tübingen 1989, S. 773 ff. (Nachw.).

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2.  Konkurrierende Staatsaufgaben Dagegen zeitigt die Diakonie säkulare Wirkung und greift unvermeidlich über in den Verantwortungsbereich des Staates. Der Staat beansprucht Regelungsgewalt hinsichtlich ihrer weltlichen Aspekte. In der Sprache der Kanonistik gehören die karitativen Angelegenheiten zu den res mixtae, die Staat und Kirche gemeinsam angehen.50 Armenfürsorge und Wohlfahrt, Gesundheit und Erziehung- Aufgaben, die in älterer Zeit im wesentlichen allein von der Kirche wahrgenommen wurden, sind in einem langen historischen Prozeß auch dem Staat zugewachsen.51 Der Verfassungsstaat macht sie sich als selbstverständlich zu eigen und begreift sie als Pflichtaufgaben. Er braucht sie nicht ausdrücklich zu regeln. Das Grundgesetz setzt in der sozialen Staatszielbestimmung ganz allgemein ein Zeichen dafür, daß sich hier ein Feld staatlicher Verantwortung auftut, doch es sagt nicht, welche Staatsaufgaben im einzelnen auf diesem Felde liegen. Die Verfassung steckt den Wirkungskreis des Staates gegenüber der Gesellschaft nicht ab in einem Katalog der Staatsaufgaben, wie sie den Wirkungskreis des Bundes gegenüber den Ländern durch Kataloge der Kompetenzen abgrenzt.52 Gleichwohl lassen sich die Staatsaufgaben, die für die karitative Betätigung der Kirche bedeutsam sind, in einer vorläufigen wissenschaftlichen Systematisierung bestimmen als: Gewähr sozialer Sicherheit, als Sicherstellungsauftrag im Gesundheitswesen und als Erziehungs- und Bildungsmandat des Staates. Die Zuordnung der karitativen Agenden im einzelnen ist nicht immer einfach. Der Betrieb eines Krankenhauses berührt den Sicherstellungsauftrag, seine Finanzierung über die Gesetzliche Krankenversicherung die soziale Sicherheit. Der Kindergarten wurde herkömmlich als eine soziale Materie behandelt und unter den Kompetenztitel der „öffentlichen Fürsorge“ (Art. 74 Abs. 1 Nr. 7 GG) subsumiert; doch seine Bestimmung hat sich gewandelt, so daß der Kindergarten seinem Funktionsschwerpunkt nach als Stätte vorschulischer Bildung anzusehen ist.53

50 Vgl. Wolfgang Rüfner, Rechtsschutz gegen kirchliche Rechtshandlungen und Nachprüfung kirchlicher Entscheidungen durch staatliche Gerichte, in: HdbStKirchR 1I (1974), S. 759 (770 ff.); Axel Frhr. von Campenhausen, Staatskirchenrecht. 2. Aufl., München 1983, S. 73. – Die Kategorie der res mixtae sollte nicht im Staatsrecht (einschließlich des Staatskirchenrechts) verwendet werden, weil sie dessen rechtlichen Distinktionen, zumal denen der Grundrechte, nicht gemäß ist und Verwirrung stiften kann. Dazu Isensee, Kirchenautonomie (Anm. 23), S. 52 f. 51 Dazu Liese, Geschichte (Anm. 2), Bd. 1, S. 231 ff., 307 ff. 52 Dazu Josef Isensee, Gemeinwohl und Staatsaufgaben im Verfassungsstaat, in: HStR III, 1988, § 57, Rn. 132 ff. 53  Zutreffend BayVerfGHE 29, 191 (206), anders aber OVG Berlin, in: OVGE 15, 259 (262 f.). Näher mit Nachw. Josef Isensee, Der Rechtsanspruch auf einen Kindergartenplatz, in: DVBl. 1995, S. 1 (5 f.).

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In allen Fällen handelt es sich um konkurrierende Staatsaufgaben, nicht um ausschließliche, um solche also, deren Wahrnehmung der Staat nicht allein für sich beansprucht, sondern ganz oder teilweise auch Privaten belassen kann.54 Den Gemeinwohlerfordernissen können öffentliche wie private Hände genügen, letztere vielfach sogar besser. Die konkurrierenden Staatsaufgaben bilden den Anwendungsbereich des Subsidiaritätsprinzips.55 Der Verfassungsstaat absorbiert nicht die Caritas. Im Gegenteil: er gewährleistet ihr die institutionelle Eigenständigkeit und die Freiheit der Betätigung. 3.  Kooperation kein Ersatz für rechtliche Gewährleistung Da staatliche und kirchliche Agenden in der Caritas aufeinander treffen, müssen sie zum praktischen Ausgleich finden, auch wenn ihre jeweilige Legitimation von Grund auf verschieden ist. Es liegt nahe, beide Seiten auf den Weg der Verständigung, der Partnerschaft56 und der Kooperation57 zu verweisen. Nach ausdrücklicher Vorschrift des Sozialgesetzbuches wirken die öffentlichen Leistungsträger „in der Zusammenarbeit mit gemeinnützigen und freien Einrichtungen und Organisationen“ darauf hin, daß sich ihrer aller Tätigkeiten „zum Wohl der Leistungsempfänger wirksam ergänzen“ (§ 17 Abs. 3 S. 1 SGB I). Doch lassen sich die Zusammenarbeit und deren Wirksamkeitserfolg nicht von Gesetzes wegen herbeizwingen. Das Gesetz formuliert keinen Befehl, sondern eine Einladung und eine Hoffnung. Zusammenarbeit ist eine pragmatische Prozedur, keine rechtliche Lösung, und sie bildet auch dafür keinen Ersatz. Die Kirche kann sich auf solche Verfahren nur gefahrlos einlassen und auf faire und sachgerechte Lösungen hoffen, wenn sie bestimmte Grundpositionen rechtlich abgesichert weiß. Aus guten Gründen ergänzt das Sozialgesetzbuch seine Kooperationsofferte durch den Auftrag an die öffentlichen Träger, daß sie die Selbständigkeit ihrer freien Partner „in Zielsetzung und Durchführung ihrer Aufgaben zu achten“ haben (§ 17 Abs. 3 S. 2 SGB I).

54 Kategorie:

Georg Jellinek, Allgemeine Staatslehre. Nachdr. der 3. Aufl., Darmstadt 1959, S. 255. Dazu Isensee, Gemeinwohl (Anm. 52), Rn. 150 f. 55  Dazu mit Nachw. Isensee, Gemeinwohl (Anm. 52), Rn. 165 ff. 56  Zum Topos „Partnerschaft“ Wegener, Staat und Verbände (Anm. 10), S. 227. Kritik: Isensee, Kath. Krankenhaus (Anm. 21), S. 20. 57 Zum Topos „Kooperation“ („Zusammenarbeit“): BVerfGE 22, 180 (200 ff.) zur „Zusammenarbeit“ von Staat und freien Jugend- und Wohlfahrtsorganisationen; Wegener, Staat und Verbände (Anm. 10), S. 227 ff.; Alfred Rinken, Die karitative Betätigung der Kirchen und Religionsgemeinschaften, in: HdbStKirchR 1II (1975), S. 345 (372 ff.); Geiger, Caritas (Anm. 21), S. 23 f.; Volker Neumann, Freiheitsgefährdung im kooperativen Sozialstaat. Köln u. a. 1992, S. 47 f., 49 f., 393, 431 ff., passim.

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Auf der anderen Seite hat sich auch der Staat seiner besonderen Verantwortung und der rechtlichen Grenzen seiner Wirksamkeit zu vergewissern, ehe er mit einem ungleichen „Partner“ zusammenarbeitet. Je deutlicher und fester die Belange rechtlich definiert werden, desto gelassener können sich beide Seiten verständigen. Die Verständigung aber ist unerläßlich, wenn auch nicht als Gebot der Verfassung,58 so doch als Gebot gemeinwohlbezogener praktischer Vernunft. Die knappen personellen und finanziellen Kapazitäten, die im Gesundheits-, Erziehungs- und Sozialwesen vorhanden sind, müssen gebündelt und in wechselseitiger Abstimmung so wirksam wie möglich im Interesse der Hilfsbedürftigen eingesetzt werden. Dem Grundgesetz liegt nicht die Erwartung zugrunde, daß die Ausübung der Freiheit der Caritas introvertiert erfolgen solle, in berührungsscheuer Distanz zu anderen freien und zu den öffentlichen Trägern. Die verfassungsrechtliche Freiheit zum Helfen bewährt sich gerade in der fairen Zusammenarbeit der Helfer, als „Erfüllung eines Grundanliegens der freiheitlichen Ordnung“.59 So wird das liberale Konzept der Subordinationsbeziehung zwischen Grundrechtsträger und Staatsgewalt und ihrer rechtlichen Abgrenzung vernünftig realisiert durch einen Föderalismus der freien wie öffentlichen Träger im Dienst für die gemeinsame Sache des Helfens. 4.  Relative Homogenität staatlicher und kirchlicher Belange Kirche und Staat unterscheiden sich in ihren geistigen Fundamenten: dort Identifikation mit der Religion, hier religiöse Neutralität. Der Unterschied der Prinzipien schwächt sich freilich ab in der Praxis. Aber auch die Prinzipien stehen einander nicht unversöhnlich gegenüber, weil die säkularen Belange des Gemeinwohls, die der Staat zu vertreten hat, ihrerseits letztlich Erbe der Kirche sind, geprägt durch christliche Moralvorstellungen und so den kirchlichen Belangen kompatibel. Wenn der Sozialstaat die Bedürfnisse der Schwächsten als Belange der Allgemeinheit begreift, folgt er, bewußt oder unbewußt, dem christlichen Ethos des Nächsten. Das Prinzip der Solidarität, auf dem die sozialstaatlich organisierte Umverteilung baut, greift seinerseits zurück auf die religiöse Leitvorstellung, daß einer des anderen Last zu tragen habe. Selbst in den Berufsbildern der Krankenpflege sind Momente kirchlicher Ordenstradition erkennbar. „Die kulturellen Voraussetzungen des modernen Sozialstaats, die nicht zur Disposition seiner eigenen institutionellen Organe stehen, enthalten Orientierungen, die nicht nur im historischen Sinne religiöser Herkunft sind, vielmehr fortdauernde Religion repräsentieren – Kulturreligion eben, zu der die kirchlich gebundene Religion über die institutionellen Grenzen 58 Zutreffend Ulrich Scheuner, Die karitative Tätigkeit der Kirchen im Sozialstaat, in: EssGespr. 8 (1974), S. 43 (69). 59 Zitat: Scheuner, ebd., S. 70.

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der Kirche weit hinaus in den allgemeinen Lebenszusammenhang einschließlich seiner vollsäkularisierten Bereiche hinein diffundiert ist.“60

III.  Grundrechtliche Legitimation der Caritas Die fundamentale Unterscheidung, von der das verfassungsstaatliche System ausgeht, ist die zwischen der Sphäre der ursprunghaften und zunächst unbeschränkten Freiheit des Privaten und der Sphäre der begrenzten und rechtfertigungsbedürftigen Staatsgewalt. Die Ausübung der Freiheit legitimiert sich aus den Grundrechten, die Ausübung der Staatsgewalt aus dem demokratischen Prinzip. Diese polare Legitimation begründet heute die Unterscheidung von Gesellschaft und Staat.61 Der Ort der Kirche ist die Gesellschaft. Die karitative Betätigung zieht ihre verfassungsrechtliche Legitimation aus den Grundrechten.62 Die Dichotomie der Legitimationsquellen wird nicht durchbrochen durch die staatskirchenrechtlichen Garantien, die das Grundgesetz in Art. 140 fortschreibt. Diese sind Medien der korporativen Religionsfreiheit und haben als solche teil an der grundrechtliehen Legitimation.63 Die karitative Aktivität der Kirche braucht sich also nicht vor dem Staat zu rechtfertigen, weil sie vorab grundrechtlich legitimiert ist. Dagegen bedarf die staatliche Beschränkung der karitativen Tätigkeit der Rechtfertigung vor den Grundrechten, deren Schutzbereich berührt wird.

IV.  Keine Grundrechtsbindung der Caritas 1.  Träger, nicht Adressat der Grundrechte Aus der Feststellung, daß die Kirche in ihrer karitativen Betätigung den Schutz der Grundrechte genießt, folgt, daß sie nicht ihrerseits an die Grundrechte gebun60 

Hermann Lübbe, Religion nach der Aufklärung. Graz, Wien, Köln 1986, S. 291. Josef Isensee, Subsidiaritätsprinzip und Verfassungsrecht Berlin 1968, S. 149 ff.; ders., Grundrechte und Demokratie – Die polare Legitimation im grundgesetzliehen Gemeinwesen, Bonn 1981; Ernst-Wolfgang Böckenförde, Die verfassungstheoretische Unterscheidung von Staat und Gesellschaft als Bedingung der individuellen Freiheit (= Rheinisch-Westfälische Akademie der Wissenschaften, Vorträge G 183), Opladen 1973; Hans Heinrich Rupp, Die Unterscheidung von Staat und Gesellschaft, in: HStR I, 2. Aufl. 1995, § 28, Rn. 29 ff.; Christian Starck, Grundrechtliche und demokratische Freiheitsidee, in: HStR II, 1987, § 29, Rn. 1 ff.; Matthias Jestaedt, Demokratieprinzip und Kondominialverwaltung. Berlin 1993, S. 204 ff., 265 ff., 579 ff. 62  Dazu mit Nachw. Isensee, Erwartungen (Anm. 46), S. 104 (111 ff.). 63 Dazu Joseph Listl, Glaubens-, Bekenntnis- und Kirchenfreiheit, in HdbStKirchR 2I, S. 439 (444 f.) mit Nachw. 61 Dazu

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den ist. Kein Rechtsträger ist in derselben Hinsicht grundrechtsberechtigt und grundrechtsverpflichtet.64 Das wird zuweilen in der Literatur verkannt, wenn sie karitative Organisationen als Adressaten der Grundrechte ansieht.65 Die Grundrechte richten sich ausschließlich auf die öffentliche Gewalt (Art. 1 Abs. 3 GG), nicht dagegen auf nichtstaatliche Einrichtungen. Versuche, eine Drittwirkung auch gegenüber Privaten einzuführen, scheiterten an der liberalen Logik der Grundrechte.66 2.  Beleihung mit Staatsfunktionen Eine Grundrechtsbindung nichtstaatlicher Organisation kommt überhaupt nur in Betracht, soweit sie mit einer Staatsfunktion beliehen ist. Denn mit der Staatsfunktion geht notwendig die Grundrechtsverpflichtung auf den Beliehenen über.67 Ein Beispiel gibt die Kirchensteuer ab. Die Kirche nimmt teil an der Ausübung der genuin staatlichen Besteuerungsgewalt und ist somit grundrechtsgebunden.68 Doch die karitative Betätigung ist genuin kirchlicher Natur. Hier können allenfalls marginale Tätigkeiten auf staatliche Delegation zurückgehen. a)  Familienrechtliche Maßnahmen Ein Träger der Caritas kann nach dem Gesetz zum Vereinsvormund oder zum Vereinspfleger bestellt werden.69 Doch damit wird ihm nicht eine Staatsfunktion übertragen, sondern die private Erziehungsberechtigung. Er wird seinerseits Grundrechtsträger nach Art. 6 Abs. 3 GG; gegen seinen Willen darf das ihm anvertraute Kind von der Familie nur unter der Voraussetzung getrennt werden, daß es zu verwahrlosen droht.70 64 Dazu Rupp, Unterscheidung (Anm. 61), Rn. 29 ff.; Wolfgang Rüfner, Grundrechtsadressaten, in: HStR V, 1992, § 117, Rn. 5 ff.; Josef lsensee, Anwendung der Grundrechte auf juristische Personen, ebd., § 118, Rn. 24 ff. 65 So Rinken, Karitative Betätigung (Anm. 57), S. 377. Allgemein auch: Hermann Weber, Die Grundrechtsbindung der Kirchen, in: ZevKR 17 (1972), S. 386 (404 ff.); Michael Stolleis, Sozialstaat und karitative Tätigkeit der Kirchen, in: ZevKR 18 (1973), S. 376 (402 ff.). – Dagegen die zutreffende Position, daß die Kirchen in der Regel nicht als Grundrechtsadressaten in Betracht kommen: Günter Dürig, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz (1958), Art. 1 Abs. III, Rn. 114; Rüfner, Grundrechtsadressaten (Anm. 64), Rn. 50 ff. 66 Dazu Rupp, Unterscheidung (Anm. 61), Rn. 34; Rüfner, Grundrechtsadressaten (Anm. 64), Rn. 54 ff. 67  Rüfner, Grundrechtsadressaten (Anm. 64), Rn. 9, 19. 68  Vgl. BVerfGE 19, 288 (289); Rüfner, Grundrechtsadressaten (Anm. 64), Rn. 52. 69  Vgl. §§ 1791a, 1915 BGB, §§ 53, 54 SGB VIII. 70 Vgl. Matthias Jestaedt, in: BK. Stand 1995, Art. 6 Abs. 2 und 3 (Zweitbearbeitung), Rn. 229.

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Der Staat kann sich auch zur Erfüllung seiner Schutzpflicht aus dem Wächteramt nach Art. 6 Abs. 2 S. 2 GG der Hilfe der Caritas bedienen.71 Doch der private Fürsorgeträger unterliegt nicht der Bindung an die Grundrechte. Der staatliche Übertragungs- oder Bestellungsakt ist keine Delegation von Staatsfunktionen; er zeitigt keine Grundrechtsbindung. b)  Durchführung von Sozialhilfe und Jugendhilfe Wenn öffentliche Träger von Sozialhilfe an der Durchführung ihrer gesetzlichen Aufgaben die Verbände der freien Wohlfahrtspflege beteiligen oder ihnen die Durchführung solcher Aufgaben übertragen können (§ 10 Abs. 5 S. 1 BSHG, § 76 SGB VIII), so übertragen sie keine hoheitlichen Befugnisse72 und keine sonstigen Staatsfunktionen; darum gehen auch keine grundrechtlichen Pflichten auf die Verbände über. Es handelt sich nicht um einen Fall der Beleihung, die zur selbständigen Wahrnehmung einer staatlichen Ausübung ermächtigen würde.73 Die Verwaltungsaufgabe verbleibt dem öffentlichen Träger. Dieser trägt gegenüber dem Hilfesuchenden die rechtliche Verantwortung für die Erfüllung der gesetzlichen Aufgabe (§ 10 Abs. 5 S. 2 BSHG, § 76 Abs. 2 SGB VIII) – auch in grundrechtlicher Hinsicht. Dagegen ist für den Privaten die vertragliche Übernahme der (in der Regel weisungsabhängigen) Arbeit für den öffentlichen Träger ein Akt der Grundrechtsausübung.74 Es gilt auch hier: Die freien Träger und Verbände handeln „nicht als beliehene Träger öffentlicher Verwaltung, sondern als private Organisationen, die freie Jugendhilfe und freie Wohlfahrtspflege leisten. Es wird also nicht eine staatliche Aufgabe im Wege der Gesetzgebung ,privatisiert‘“.75 71  Der Staat wird dadurch, daß er sich Privater zur Erfüllung seiner Wächterpflichten bedient, nicht frei. Vielmehr muß er – sei es unmittelbar durch Gesetz, sei es durch das Jugendamt, sei es durch den Vormundschaftsrichter – sicherstellen, daß die privaten Fürsorgeträger ihrerseits dem Pflichtenmaß genügen, dem er selbst in Ausübung seines Wächteramtes von Verfassungs wegen entsprechen muß. Soweit ihm dies – etwa wegen der ihrerseits grundrechtsfundierten Stellung der betreffenden Fürsorgeträger – aus Rechtsgründen nicht möglich ist, ist er darauf verwiesen, die Wächtermaßnahmen mit eigenen personellen, institutionellen und finanziellen Mitteln zu treffen. Dazu Hans F. Zacher, Elternrecht, in: HStR VI, 1989, § 134, Rn. 77 ff.; Jestaedt, in: BK (Anm. 70), Art. 6 Abs. 2 und 3, Rn. 182. 72 Vgl. Walter Schellhorn/Hans Jirasek/Paul Seip, Das Bundessozialhilfegesetz. 14. Aufl., Neuwied 1993, § 10, Rn. 31, 33. Vgl. auch Franz Klein, Die Caritas der Katholischen Kirche im demokratischen sozialen Rechtsstaat, in: 75 Jahre Deutscher Caritasverband. Freiburg i. Br. 1972, S. 152 (158). 73 Vgl. Wiesner (Anm. 10), § 76, Rn. 10 ff. 74  Die grundrechtlichen Regeln, die für die abstrakte Figur des Verwaltungshelfers entwickelt werden (Fritz Ossenbühl, Die Erfüllung von Verwaltungsaufgaben durch Private, in: VVDStRL 29 [1971], S. 137 [192 f.]), greifen hier nicht. 75  BVerfGE 22, 180 (203 f.).

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Bei Zwangseinweisung eines Infizierten in die Seuchenabteilung eines kirchlichen Krankenhauses setzt Grundrechtsbindung nur dann ein, wenn dieses nicht nur medizinische Versorgung leistet, sondern wenn es auch von der einweisenden Behörde mit Zwangsbefugnissen zur Aufrechterhaltung der Einweisung betraut wird und diese ausübt.76 c)  Staatliche Zuwendungen Die Grundrechtsbindung für karitative Einrichtungen wird auch für den Fall gefordert, daß sie aus öffentlichen Mitteln finanziert und gemeinsam mit den Einrichtungen der öffentlichen und anderer freier Träger in ein Gesamtangebot eingeplant und einbezogen seien.77 Doch die Subvention ist kein Akt der Beleihung. Finanzhilfe ist ein übliches Mittel des Staates, um Voraussetzungen der Grundrechtsausübung herzustellen.78 Die Finanzhilfe dieser Art ist dazu bestimmt, die Realisierbarkeit grundrechtlicher Freiheit zu fördern, nicht aber sie aufzuheben und auch nicht dazu, grundrechtliche Bindung zu erzeugen und den Grundrechtsträger in einen Grundrechtsadressaten zu verwandeln. Das gilt auch für Zuwendungen an die Caritas, die dazu bestimmt sind, die Möglichkeiten des Helfens zu erweitern, und die sie nach eigenen Maßstäben an Hilfsbedürftige vergibt. Wenn sie dagegen nur Verwaltungshilfe leistet, wie eine Außenstelle der Staatsverwaltung fungiert und staatliche Mittel nach staatlichen Direktiven weiterleitet, ist sie als „Beliehene“ zu betrachten und insofern grundrechtsverpflichtet. 3.  Karitative Monopole – „soziale Macht“ der Kirche Im Schrifttum findet sich die These, daß die kirchliche Diakonie sogar „strengeren Grundrechtsbindungen“ unterliege, wo sie eine Monopolstellung einnehme und den Aufbau von Paralleleinrichtungen verhindere, in denen den Bedürfnissen von Minderheiten Rechnung getragen werden könne.79 Hier zeigt sich ein Relikt der abgelebten Drittwirkungslehre, die sich vom liberalen Grundrechtskonzept des Art. 1 Abs. 3 GG zu lösen versuchte, um, sozialistischen Vorstellungen gemäß, von der Ausrichtung auf die Staatsgewalt auf die der sozialen Macht überzugehen. Doch die Grundrechte liberaler Observanz stehen jedem Träger nach gleichen Rechtsbedingungen zu, dem sozial Mächtigen 76 Undifferenziert:

Rinken, Karitative Betätigung (Anm. 57), S. 376.

77 So Stolleis, Sozialstaat (Anm. 65), S. 403; H. Weber, Grundrechtsbindung (Anm. 65),

S. 411; Rinken, Karitative Betätigung (Anm. 57), S. 377. 78  Dazu allgemein Erhard Denninger, Staatliche Hilfe zur Grundrechtsausübung durch Verfahren, Organisation und Finanzierung, in: HStR V, 1992, § 113, Rn. 40 ff. 79 So H. Weber, Grundrechtsbindung (Anm. 65), S. 411; Stolleis, Sozialstaat (Anm. 65), S. 403; Rinken, Karitative Betätigung (Anm. 57), S. 377.

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wie den sozial Schwachen. Dem wirtschaftlich Stärkeren ist es nicht verwehrt, seine Grundrechte auszuüben.80 Soziale Macht kann sogar Voraussetzung der Grundrechtsausübung sein, so die „Koalitionsmächtigkeit“ der Gewerkschaften. Diese, politische Parteien, Rundfunkanstalten und sonstige Grundrechtsmonopolisten sind nicht per se grundrechtsgebunden. Ein vorhandenes Monopol kann für den Gesetzgeber Grund sein, besondere Grundrechtsschranken einzuführen. Doch eine Grundrechtsbindung ergibt sich nicht. 4.  Öffentliche Aufgabe – öffentlicher Status Nach allgemeiner Auffassung erfüllt die Caritas eine öffentliche Aufgabe.81 Doch „öffentlich“ bedeutet nicht notwendig „staatlich“.82 Von öffentlicher Aufgabe kann hier nur in dem Sinne die Rede sein, daß die Caritas von sich aus einen Beitrag leistet zur Herstellung des Gemeinwohls. Das Gemeinwohl aber ist nicht allein Sache der Staatsorganisation. Unter den Bedingungen verfassungsstaatlicher Freiheit wirken Bürger und Staatsorgane, Gesellschaft und Staat arbeitsteilig an seiner Herstellung mit.83 In der Tat erweist sich Caritas als nützlich für das Gemeinwesen. Dabei spielt es keine Rolle, ob sie ihrer religiösen Begründung nach diesen Nutzen überhaupt anstrebt. Entscheidend sind die Wirkungen, und diese kommen der staatlichen Allgemeinheit zugute. Die Caritas befriedigt elementare Bedürfnisse, für die der Staat Verantwortung trägt, und entlastet damit das staatliche System von der Notwendigkeit, eigene Leistungen zu erbringen.84 Der säkulare Staat aber erweist sich als Nutznießer von Anstrengungen, deren religiöse Beweggründe außerhalb seines Aktionskreises liegen. 80  Vgl. BVerfGE 25, 256 (264). – Zur grundrechtliehen Relevanz der sozialen Macht: Klaus Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland. Bd. III/1, München 1988, S. 1590; Markus Heintzen, Auswärtige Beziehungen privater Verbände. Berlin 1988, S. 209 ff., 221 ff.; Isensee, Anwendung (Anm. 64), Rn. 76 ff., jeweils mit Nachw. 81 Zu den „öffentlichen Aufgaben“ der Kirchen: BVerfGE 53, 366 (400); Theodor Maunz, Der öffentliche Charakter der kirchlichen Aufgaben, in: FS für Ernst Forsthoff. München 1972, S. 229 (231). Allgemein zu den „öffentlichen“ Aufgaben der freien Wohlfahrtspflege: Joseph H. Kaiser, Die Verfassung der öffentlichen Wohlfahrtspflege, in: FS für Ulrich Scheuner, München 1973, S. 241 (245); Hans F. Zacher, Freiheit und Gleichheit in der Wohlfahrtspflege. Köln 1964, S. 57; Wolfgang Kirberger, Staatsentlastung durch private Verbände. Baden-Baden 1978, S. 122 ff.; Gunnar Folke Schuppert, Zur Anatomie und Analyse des Dritten Sektors, in: Die Verwaltung 28 (1995), S. 137 (163 ff.). 82  Zum kirchlichen Krankenhaus: BVerfGE 53, 366 (401). Zum Rundfunk: BVerfGE 12, 205 (245 f.); zur Kategorie der öffentlichen Aufgabe: Isensee, Gemeinwohl (Anm. 52), Rn. 136. 83 Dazu Isensee, Gemeinwohl (Anm. 52), Rn. 18 ff. (Nachw.). 84 Dazu allgemein die Untersuchung von Kirberger, Staatsentlastung (Anm. 81), S. 235 ff.; Goll, Freie Wohlfahrtspflege (Anm. 14), S. 191 ff.

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Doch die grundrechtliche Demarkationslinie zwischen Gesellschaft und Staat, zwischen dem Bereich der Grundrechtsberechtigung und dem der Grundrechtsverpflichtung, wird durch das (diffuse und sinnvariable) Attribut des Öffentlichen nicht beseitigt, nicht überlagert und auch nicht verschoben. Die Erbringer und Mittler öffentlicher Leistungen behalten ihren grundrechtlichen Status, und zwar unverkürzt.85 Die gemeindienliche öffentliche Bedeutung der Caritas hat jedoch auch grundrechtliche Relevanz. Sie kann rechtliche Vorteile vor dem Gleichheitssatz rechtfertigen, zumal Steuervergünstigungen, wie sie für gemeinnützige und mildtätige Zwecke nach §§ 51 ff. AO vorgesehen werden.86 Mehrere Landesverfassungen erkennen ausdrücklich die von den Kirchen und Religionsgemeinschaften unterhaltenen sozialen und karitativen Einrichtungen nach Maßgabe der Gesetze als gemeinnützig an,87 sehen vor, daß das Land sie schützt und fördert,88 und statuieren unter bestimmten Voraussetzungen einen Anspruch auf angemessene Kostenerstattung für im öffentlichen Interesse liegende gemeinnützige Einrichtungen oder Anstalten der Kirchen und Religionsgemeinschaften.89 Die öffentliche Aufgabe der Caritas kann jedoch auch dem Gesetzgeber den Grund dafür geben, besondere Grundrechtsbeschränkungen einzuführen, die Belange der Allgemeinheit sicherstellen sollen. Die Kategorie der öffentlichen Aufgabe erweist sich also in ihren rechtlichen Wirkungen als ambivalent.90 Mit der Zuschreibung einer öffentlichen Aufgabe von Caritas und Kirche verbindet sich zuweilen die Zuschreibung eines öffentlichen (Gesamt-)Status, der ihnen, unabhängig von ihrer privat- oder öffentlich-rechtlichen Organisationsform, zukommen soll.91 Die Kirche erhält kraft dieses öffentlichen Status entweder 85  Dazu näher: Depenheuer, Staatl. Finanzierung (Anm. 16), S. 104 ff.; Isensee, Gemeinwohl (Anm. 52), Rn. 169. 86 Zur Rechtfertigung der Steuervergünstigungen: Josef Isensee, Gemeinwohl und Bürgersinn im Steuerstaat des Grundgesetzes, in: FS für Günter Dürig. München 1990, S. 33 ff. (47 ff., 61 ff.). 87  So Art. 32 Abs. 3 Sachs.-Anh. Verf. Ähnlich Art. 63 BremVerf., Art. 46 Rheinl.PfalzVerf., Art. 40 SaarVerf., Art. 41 S. 1 ThürVerf. – Die Verfassungsgarantien der Länder haben freilich mehr symbolische als praktische Bedeutung, weil das Recht der Gemeinnützigkeit in die Gesetzgebungskompetenz des Bundes fällt. 88  Art. 32 Abs. 3 Sachs.-Anh. Verf. Analoge Regelungen: Art. 19 Abs. 2 Meckl.Vorp. Verf., Art. 41 S. 1 ThürVerf. 89  Art. 110 Abs. 1 SächsVerf. 90  Der öffentliche Status dient als Einfallstor für gesetzliche Regelungen bei Rinken, Karitative Betätigung (Anm. 57), S. 37 f. Konträre Position: BVerfGE 53, 366 (400, 401). – Zur Ambivalenz der Kategorie: Ernst Forsthoff, Tagespresse und Grundgesetz, in: DÖV 1963, S. 633 (634 f.). 91  Paul Mikat, Das Verhältnis von Kirche und Staat in der Bundesrepublik. Berlin 1964, S. 18 f.; Rinken, Karitative Betätigung (Anm. 57), S. 368 ff.; Klaus Schlaich, Der

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Platz neben dem Staat, außerhalb der privaten und gesellschaftlichen Sphäre,92 oder zwischen Staat und Markt in einem „dritten Sektor“ der freigemeinnützigen Einrichtungen.93 Diese theoretischen Raster haben keine unmittelbare verfassungsrechtliche Bedeutung. Sie rühren nicht an die Grundrechtsfähigkeit des öffentlichen Trägers, sie erzeugen keine Grundrechtsbindung und durchbrechen nicht die binäre Codierung des grundrechtsberechtigten Privaten und der grundrechtspflichtigen Staatsgewalt.

V.  Bedeutung des sozialen Staatsziels 1.  Caritas – Agentur des Sozialstaats? Nach einer vielfach im Schrifttum vertretenen Meinung hat die Diakonie ihren verfassungsrechtlichen Sitz „im Sozialstaat“.94 Das Sozialstaatsprinzip des Grundgesetzes (Art. 20 Abs. 1, Art. 28 Abs. 1 S. 1) erscheint als das eigentliche verfassungsrechtliche Fundament. Die Ortsbestimmung mit Hilfe des Verfassungsadjektivs „sozial“ (das seinerseits vieldeutig und deutungsbedürftig ist) präsentiert sich im „progressiven“ Lichte als zeitgerecht und, angesichts der rechtlichen und finanziellen Symbiose von Kirche und Staat im karitativen Bereich, auch als realitätsgerecht. Mit der „ungewohnten sozialstaatlichen Beleuchtung“ (die heute freilich zu der in Theorie und Praxis gewöhnlichen geworden ist) verbindet sich das Versprechen, das Verhältnis von Staat und Kirche „im Bereich der Sozialarbeit“ herauszuhalten „aus dem Einflußbereich überholter, dem neunzehnten Jahrhundert verpflichteter Leitbilder“, „die das Staatskirchenrecht bis in die Gegenwart belasten“ – gemeint: vor allem der liberale Dualismus von Staat und Gesellschaft.95 Öffentlichkeitsauftrag der Kirchen, in: HdbStKirchR 1II, S. 231 (237 ff.). – Allgemein: Alfred Rinken, Das Öffentliche als verfassungstheoretisches Problem. Berlin 1971, S. 67 ff., 87 ff. 92  Das entspricht auch dem Selbstverständnis der Kirche des 19. Jahrhunderts, die sich gegen die liberale Verortung in der Gesellschaft, außerhalb des Staates, wehrte und darin eine capitis diminutio erblickte. 93 Die freie Wohlfahrtspflege wird von der neueren Sozialwissenschaft auch dem „dritten Sektor“ zwischen Markt und Staat zugerechnet (dazu Franz Spiegelhalter, Der dritte Sozialpartner, Freiburg i. Br. 1990; Goll, Freie Wohlfahrtspflege [Anm. 14], S. 45 ff.; Schuppert, Zur Anatomie [Anm. 81], S. 137 ff.). 94 Vgl. Scheuner, Karitative Tätigkeit (Anm. 58), S. 43 ff.; Franz Klein, Die kirchliche Liebestätigkeit im Sozialstaat des Grundgesetzes, in: ArchKathKR 130 (1961), S. 124 ff.; Ulrich Nembach (Hrsg.), Diakonie im sozialen Rechtsstaat, Stuttgart 1990; Neumann, Freiheitsgefährdung (Anm. 57), S. 9 ff., 57 ff. 95  So das Programm Rinkens, Karitative Betätigung (Anm. 57), S. 346. Theoretischer Überbau: ders., Das Öffentliche (Anm. 91), S. 67 ff., 87 ff., 214 ff., 293. – Eingehende Kritik: Walter Leisner, Karitas – innere Angelegenheit der Kirchen, in: DÖV 1977, S. 475

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Die Emanzipation aus religiöser Bindung bereitet sich bereits sprachlich vor, wenn karitative Tätigkeit als „Sozialarbeit“ qualifiziert wird gleich jener staatlicher wie kommunaler Träger.96 Sie unterliege der „gesamtplanenden Gesamtverantwortung“ des Sozialstaats, auch wenn seiner Pflicht zur Gesamtverantwortung kein Monopol auf Sozialarbeit korrespondiere und Grundrechte der Kirchen an sich bestehenblieben.97 Doch bleiben in diesem Kontext die Grundrechte an Gewicht zurück hinter dem Gesamtmandat des Sozialstaats. Daher besteht dann auch nicht die Notwendigkeit, noch nicht einmal die Möglichkeit, praktische Konkordanz zwischen beiden herzustellen.98 „Die Problematik von staatlich-kommunaler Gesamt- und Letztverantwortung und kirchlich-eigenständiger Diakonie“ könne nicht durch abstrakte Begriffe wie Subsidiarität gelöst werden,99 sondern durch Kooperation, einen wiederum durch den Sozialstaat zu initiierenden und zu organisierenden Prozeß „in dem erst durch gelungene Zusammenarbeit die sozialstaatliche Freiheitsordnung verwirklicht wird“.100 Der Grundrechtsschutz der Caritas hindere den Gesetzgeber nicht, deren Einrichtungen in grundsätzliche Regelungen auf dem Gebiet der sozialen Arbeit einzubeziehen und, jedenfalls als Voraussetzung für eine Finanzierung, eine Mindestbettenzahl, Gliederung in Fachabteilungen, finanzielle Beteiligung der ärztlichen Mitarbeiter zu fordern, Mitbestimmung zu erzwingen, das Modell des „klassenlosen Krankenhauses“ zu oktroyieren und die Staatsaufsicht über Altenheime und Pflegeheime zu etablieren – alles freilich unter dem praktisch folgenarmen Vorbehalt, daß ein spezifisch religiös motivierter Krankendienst nicht beeinträchtigt werde.101 Im Ergebnis werden die Kirchen vor die Wahl gestellt, sich unter das gesamtplanerische Joch des Sozialstaats zu beugen oder auf staatliche Finanzmittel (deren Legitimation offenbleibt) zu verzichten; entweder „in ,pflichtengeneigter‘ Kooperation auf dem Gesamtfeld der Sozialarbeit präsent (zu) bleiben oder … auf dem engeren Gebiet vor allem der sogenannten ,strapaziösen Caritas‘ ein ex-

(477 f.). Die grundsätzliche Gegenposition markiert auch Geiger, Caritas (Anm. 21), S. 17 ff. 96  Rinken, Karitative Betätigung (Anm. 57), S. 347. 97  Rinken, ebd., S. 360 ff. 98  So trotz semantischer Pflichtübung zugunsten einer praktischen Konkordanz: Rinken, ebd., S. 365. Kritik: Isensee, Kirchenautonomie (Anm. 23), S. 69. Vgl. auch Theo Mayer-Maly, Die arbeitsrechtliche Tragweite des kirchlichen Selbstbestimmungsrechts, in: BB 1978, Beil. 3, S. 8 f. 99  Rinken, Karitative Betätigung (Anm. 57), S. 366 ff. 100  Rinken, ebd., S. 373. 101  Rinken, ebd., S. 378 ff. – auch unter Berufung auf Scheuner, Karitative Tätigkeit (Anm. 58), S. 61, der jedoch viel vorsichtiger argumentiert.

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emplarisches Zeugnis ab(zu)legen“102 – praktisch also: kirchliche Krankenhäuser und Kindergärten zu schließen. In diesem Sozialstaatskonzept verbleibt der Kirche gerade noch das, was ihr auch in totalitären Systemen des Sozialismus verblieben ist: eine Gesinnungsnische als nützliche Idiotin. Die grundrechtliche Freiheit reduziert sich auf das forum internum religiöser Motivation, indes die karitative Betätigung, die notwendig auf das forum externum übergreift, sozialstaatliehen Direktiven folgt. Die Kirche sinkt ab zur Sozialagentur im Dienst des Sozialstaats, mit dem sie, um in der Gesellschaft präsent zu bleiben, auf Gedeih und Verderb kooperieren muß, nach Maßgabe von Pflichten, die der ungleiche Partner diktiert. Der Kirche soll zwar ein gewisses Maß an Planungsbeteiligung verbleiben103, doch die formelle Mitbestimmung wiegt den Verlust an substantieller Selbstbestimmung nicht auf. Die Theorie von der gesamtplanerischen Gesamtverantwortung des Sozialstaats leugnet zwar nicht den grundrechtliehen Schutz der Kirche. Doch sie kehrt das liberale Verteilungsprinzip der Grundrechte um. Sie geht nicht von der grundrechtlichen Freiheit aus, sondern von der Staatsgewalt, stellt so die karitative Betätigung der Kirche unter staatlichen Rechtfertigungszwang und gönnt ihr Entfaltung nur innerhalb der planerischen, rechtlichen und finanziellen Vorgaben des Sozialstaats.104 Damit gibt sie den Weg frei zu einer kalten Sozialisierung. Die Theorie von der gesamtplanerischen Gesamtverantwortung des Sozialstaats entspricht an sich einem mächtigen sozialpolitischen Trend. Dennoch übt sie keinen nennenswerten Einfluß auf die Lehre des Staatskirchenrechts aus. Vollends bleibt die Judikatur des Bundesverfassungsgerichts von ihr unberührt. 2.  Marginale Bedeutung der Sozialstaatsklausel in der Judikatur des Bundesverfassungsgerichts Die Grundsatzentscheidungen des Bundesverfassungsgerichts zur karitativen Betätigung der Kirche gehen aus vom Grundrecht der korporativen Religionsfreiheit und von der staatskirchenrechtlichen Garantie der kirchlichen Selbstbestimmung. Die Sozialstaatsklausel wird nur in etwa jeder zweiten der einschlägigen Entscheidungen erwähnt105 und auch dann spielt sie nur eine bescheidene Rolle. Die Aussagen fallen alle negativ aus: 102 Zitate: Rinken, Karitative Betätigung (Anm. 57), S. 381. Gleiche Grundtendenz: Richter Joachim Rottmann, Sondervotum, in: BVerfGE 53, 408 (410 f.); Neumann, Freiheitsgefährdung (Anm. 57), S. 57 ff. 103 Vgl. Rinken, Karitative Betätigung (Anm. 57), S. 380 f. 104  „Nach der Rinkenschen Theorie läßt sich jeder staatliche Eingriff rechtfertigen, aus der sozialstaatliehen Aufgabe und ihrer effizienten Verwirklichung. Sie leistet im Ergebnis nicht eine Abgrenzung von Staat und Kirchen, sie legitimiert die Verdrängung der Kirchen. Damit aber steht sie ganz grundsätzlich im Widerspruch zum zentralen Prinzip des deutschen Staatskirchenrechts …“ (Leisner, Karitas [Anm. 95], S. 478).

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– Christliche Liebestätigkeit sei nach dem Selbstverständnis der christlichen Kirchen etwas anderes als ein sozialer Vorgang.106 105

– Dem Gesetzgeber stehe es frei, sich zur Erreichung des sozialen Staatszieles der Mithilfe privater Wohlfahrtsorganisationen zu bedienen; ein Monopol staatlicher sozialer Betätigung bestehe nicht.107 – Im Bereich der – sozialstaatlich bedeutsamen – Hilfe für Suchtkranke könnten sowohl staatliche Stellen als auch organisierte Kräfte der freien Gesellschaft tätig sein. Für das Gewicht des öffentlichen Interesses an solchen Hilfsmaßnahmen sei es unerheblich, von welchen Stellen sie erbracht werden.108 – Ein gesetzlicher Eingriff in die Organisation kirchlicher Krankenhäuser könne nicht damit gerechtfertigt werden, daß ihre Betätigung im modernen sozialen Rechtsstaat zwangsläufig in den staatlichen Zuständigkeitsbereich hinein wirke.109 – Das Berufsbildungsgesetz diene zwar in Konkretisierung des Sozialstaatsprinzips vorrangig dem Schutz des Auszubildenden als dem sozial Schwächeren, sei aber gleichwohl in seinen Vorschriften über die Berufsbildungsausschüsse unvereinbar mit dem der Kirche verfassungsrechtlich zustehenden Selbstbestimmungsrecht.110 Die einschlägigen dicta des Bundesverfassungsgerichts fallen bei der Prüfung der Frage, ob das Sozialstaatsprinzip die Religionsfreiheit oder die Kirchenautonomie beschränke. Die Frage wird immer verneint. Die Zurückhaltung, die das Gericht hier übt, hat gute verfassungsdogmatische Gründe. 3.  Keine gegenständliche Kongruenz des Karitativen und Sozialen In Rechtsprechung und Schrifttum herrscht Konsens darüber, daß die Klausel „sozial“ im Grundgesetz ein Staatsziel bestimmt, ohne daß jedoch Klarheit darüber besteht, was denn der Inhalt dieses Zieles ist.111 Die Formel „sozial“ ist 105  Fünf einschlägige Leitentscheidungen zitieren die Sozialstaatsklausel nicht: BVerfGE 20, 150 ff. – Sammlungswesen; E 46, 73 ff. – Goch; E 57, 229 ff. – Volmarstein; E 66, 1 ff. – Konkursausfallgeld; E 70, 128 ff. – Salesianum. – Auch die (nicht spezifisch caritasbezogene) Bremer Pastoren-Entscheidung (BVerfGE 42, 312 ff.) berührt nicht das Thema. 106  BVerfGE 24, 236 (249) – Lumpensammler. 107  BVerfGE 22, 181 (204) – Jugendwohlfahrt, Sozialhilfe. 108  BVerfGE 44, 353 (375) – Suchtkrankenberatungsstelle. 109  BVerfGE 53, 366 (400 f.) – St. Marien. 110  BVerfGE 72, 278 (279, 288 ff.) – Berufsbildungsausschüsse. 111 Dazu Hans F. Zacher, Was können wir über das Sozialstaatsprinzip wissen?, in: FS für Hans Peter Ipsen. Tübingen 1977, S. 207 ff.; ders., Das soziale Staatsziel, in: HStR I, 2. Aufl. 1995, § 25 (Nachw.).

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weit, diffus, sinnvariabel. Ihr werden in der Literatur heterogene Staatsziele und Staatsaufgaben zugerechnet, weil sich derzeit noch keine verfassungsangemessene wissenschaftliche Typologie entwickelt und durchgesetzt hat.112 Soll das soziale Staatsziel überhaupt ein Minimum an inhaltlichen Konturen erlangen, so muß es als Ergänzung und als Korrektiv zum liberalen Prinzip der Freiheit vom Staat gesehen werden, wie es der Privatautonomie, der Marktwirtschaft und dem Rechtsstaat zugrunde liegt. Dem Sozialstaat obliegt es, ein Minimum an sozialer Gerechtigkeit und sozialer Sicherheit zu gewährleisten. Die sozialstaatliche Thematik deckt weite Teile des karitativen Wirkungsfeldes ab, zumal die Mitwirkung in der Sozialhilfe und sozialversicherungsrechtliche Leistungserbringung wie Finanzierung. Dennoch deckt sie nicht das Ganze ab. Caritas erschöpft sich, auch wenn sie allein mit den Kategorien des staatlichen Rechts beurteilt wird, nicht in sozialen Diensten. Kindergärten, Krankenhäuser und Seniorenwohnheime in kirchlicher Hand dienen nicht nur dazu, sozial Schwache zu versorgen, sondern jedermann. Die Bedürfnisse, denen sie gewidmet sind – Kinderbetreuung, Krankenversorgung, Altersresidenz –, ergeben sich nicht aus sozialer Ungleichheit und wirtschaftlicher Defizienz, sie gehören zur normalen Biographie. Eben deshalb leisten die Kindergärtnerin und die Krankenschwester, der Arzt und der Heimleiter nicht „Sozialarbeit“, sondern ihre jeweilige fachliche Arbeit, die von Fall zu Fall mehr oder weniger sozial bedeutsam werden kann. Die karitative Tätigkeit greift also über den sozialen Sektor hinaus und korreliert mit anderen Staatsaufgaben: Gesundheitswesen, Erziehung und Bildung.113 Vollends läßt sich das geistliche Proprium der Caritas nicht sozialstaatlich verrechnen. Das wird vom Bundesverfassungsgericht klar zum Ausdruck gebracht: „Christliche Liebestätigkeit ist nach dem Selbstverständnis der christlichen Kirchen also etwas anderes als ein sozialer Vorgang, der sich in der Fürsorge für Arme, Elende und Bedürftige aus Mitverantwortung für den Nächsten im Interesse eines friedlichen Zusammenlebens im Staat erschöpft und lediglich aus sozialen Gründen das Existenzminimum des Nächsten sichert, um die Führung eines Lebens in der Gemeinschaft zu ermöglichen, die der Würde des Menschen entspricht.“114

112  Zum Stand der Lehre von den Staatszielen und Staatsaufgaben: Heinz-Christoph Link und Georg Ress, Staatszwecke im Verfassungsstaat – nach 40 Jahren Grundgesetz, in: VVDStRL 48 (1990), S. 7 ff. und 56 ff. 113  s. auch o. B. II. 2. 114  BVerfGE 24, 236 (249) – Lumpensammler.

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4.  Resümee: Soziales Staatsziel nach Maßgabe der Grundrechte a)  Die Caritas hat ihren Ort nicht „im“ Sozialstaat,115 sondern ihm gegenüber, gesichert durch grundrechtliche und staatskirchenrechtliche Garantien und, dergestalt gesichert, als Partner, der mit ihm kooperiert. Die Kirche verdankt ihr Recht zu karitativer Betätigung nicht der Lizenz des Sozialstaates. Sie folgt ihrem eigenen Auftrag, den die Verfassung als dem Sozialstaat vorgegeben achtet. b)  Das soziale Staatsziel realisiert sich über die Entscheidungsverfahren der gewaltenteiligen Demokratie und innerhalb der Grenzen des Rechtsstaates wie der Grundrechte. Soweit es die Grundrechte der Kirche auf karitative Betätigung thematisch berührt, bildet es keine verfassungsunmittelbare Schranke; vielmehr bedarf es der Umsetzung durch Gesetz.116 Da das Grundrecht der Religionsfreiheit nicht unter Gesetzesvorbehalt steht, kommt ein gesetzlicher Grundrechtseingriff zur Realisierung des sozialen Staatszieles nicht in Betracht. Dagegen besteht die Möglichkeit, die Kirchenautonomie über das Medium des für alle geltenden Gesetzes zu beschränken, soweit den besonderen Anforderungen eines solchen Gesetzes Genüge getan wird.117 Die gesetzliche Realisierung des sozialen Staatsziels ist also nicht freigestellt vom grundrechtlichen Rechtfertigungszwang. c)  Das soziale Staatsziel umfaßt die Sorge des Staates für die realen Voraussetzungen der Grundrechtsausübung.118 Zu ihnen gehören heute die gesetzlichen Systeme der sozialen Sicherheit, Sozialhilfe und Sozialversicherung. Sie dienen den schutzbedürftigen Individuen. Indirekt kommen sie auch den karitativen Leistungserbringern und Leistungsmittlern zugute. Der Sozialstaat kann diese fördern, um das Leistungsangebot für die Destinatare der Sozialleistungen zu verbreitern und auszudifferenzieren.119 d)  Das Grundgesetz verbindet mit dem sozialen Staatsziel keinen Staatsvorbehalt für seine Durchführung. Es errichtet kein Staatsmonopol für soziale Dienste.120 Das soziale Staatsziel enthält keine Aussage über die Wege der 115  So aber Scheuner, Karitative Tätigkeit (Anm. 58), und Franz Klein, Kirchl. Liebes­ tätigkeit (Anm. 94). 116  BVerfGE 59, 231 (262 f.). 117  Just diesen Erfordernissen genügte das Krankenhausgesetz Nordrhein-Westfalens nicht: BVerfGE 53, 366 (400 ff.). Allgemein zum Schrankenproblem: Axel Frhr. von Campenhausen, Religionsfreiheit, in: HStR VI, 1989, § 136, Rn. 79 ff.; Alexander Hollerbach, Grundlagen des Staatskirchenrechts, ebd., § 138, Rn. 117 ff.; Listl, Glaubensfreiheit (Anm. 63), S. 465 ff. 118 Dazu: Josef Isensee, Grundrechtsvoraussetzungen und Verfassungserwartungen an die Grundrechtsausübung, in: HStR V, 1992, § 115, Rn. 158 ff. 119 Zum sozialen Staatsziel als Rechtfertigung kirchlicher Förderung: Wilhelm Kewenig, Das Grundgesetz und die staatliche Förderung der Religionsgemeinschaften, in: EssGespr. 6 (1972), S. 9 (19 ff.). 120  BVerfGE 22, 180 (204). Vgl. auch BVerfGE 44, 353 (375).

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Zielverwirklichung und damit auch keine Zuständigkeitsverteilung zwischen Staat und Privaten.121 Die Verteilung ergibt sich dagegen aus den Grundrechten. Diese wie auch die grundrechtliche Kirchenautonomie gewährleisten eine dezentrale Ordnung der Realisierung des Gemeinwohls auch in seinen sozialen Aspekten. Die Dezentralisierung ermöglicht Personennähe, Wahlmöglichkeiten für den Hilfesuchenden, Anbieterwettbewerb und Effizienzdruck. Sie setzt eine soziale Gewaltenteilung frei zwischen öffentlichen und unter den freien Trägern.

C.  Verfassungsrechtliche Grundlagen der karitativen Betätigung Unter den Gewährleistungen des Grundgesetzes, auf die sich die Kirchen in ihrer karitativen Betätigung stützen können, ist zu unterscheiden zwischen – solchen, die indifferent sind zu Religion und Kirche: vor allem die Berufsfreiheit (unspezifische Grundrechte), – und denen, die sich eigens auf Religion und Kirche beziehen: das Grundrecht der Religionsfreiheit und die grundrechtsgleichen Garantien des Staatskirchenrechts, zumal die Kirchenautonomie (religionsspezifische Gewährlei­ stungen).

I.  Unspezifische Grundrechte 1.  Berufsfreiheit a)  Schutzbereich und Schranken Die kirchlichen Träger haben wie alle freien Träger teil am Grundrecht der Berufsfreiheit. Dieses ist seinem Wesen nach auch anwendbar auf juristische Personen.122 Juristische Personen des kirchlichen Bereichs werden davon nicht ausgenommen. Dabei kommt es nicht an auf Rechtsfähigkeit im Sinne des bürgerlichen Rechts. Grundrechtsfähig nach Maßgabe des Art. 19 Abs. 3 GG sind auch Träger, die als Regiebetrieb eines Wohlfahrtsverbandes organisiert sind oder als nichtrechtsfähiger Trägerverbund (Arbeitsgemeinschaft oder Kooperationsverband). Es spielt auch keine Rolle, ob sie der Rechtsform nach dem Privatrecht angehören (als eingetragener oder nichtrechtsfähiger Verein, als gemeinnützige GmbH, 121 

BVerfGE 22, 180 (204). Vgl. auch Geiger, Caritas (Anm. 21), S. 18. Zur Anwendbarkeit des Art. 12 Abs. 1 GG auf juristische Personen: Rüdiger Breuer, Freiheit des Berufs, in: HStR VI, 1989, § 147, Rn. 22 f.; Josef Isensee, Kassenarztmonopol und nichtärztliche Leistungserbringer. Köln u. a . 1995, S. 31 ff. 122 

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privatrechtliche Stiftung) oder dem öffentlichen Recht, sei es als Körperschaft (Kirchengemeinde, Gemeindeverband) oder als Stiftung.123 Der Gesetzgeber kann Berufsbilder prägen124 und so die Sachbereiche, in denen kirchliche Träger tätig sind, rechtlich aufbereiten, ordnen und abgrenzen, etwa für das Krankenhaus, die Pflegeeinrichtung, den Kindergarten, das Heim. Er gestaltet den Schutzbereich aus durch typisierende Regelungen. Diese kanalisieren die Berufswahl wie die Berufsausübung und beschränken damit auch die grundrechtliche Freiheit, indem sie die Vielzahl der Möglichkeiten auf eine oder wenige reduzieren. Insoweit müssen die Berufsbilder den Anforderungen an Grundrechtsschranken genügen.125 Staatliche Eingriffe in den Schutzbereich sind nur zulässig in der Abstufung, wie sie sich aus der tatbestandliehen Unterscheidung von Wahl und Ausübung sowie von objektiven und subjektiven Schranken der Wahl ergeben.126 Karitative Betätigung, die in staatliche Kooperationsprogramme eingebunden und auf staatliche Zuwendungen angewiesen ist, wird zuweilen qualifiziert als „staatlich gebundener Beruf“.127 Ein solcher ist mehr oder weniger dem öffentlichen Dienst angepaßt; der Schutz der Berufsfreiheit tritt zurück oder schwächt sich ab zugunsten staatsorganisatorischer Regelungen.128 Doch die Voraussetzungen liegen bei den kirchlichen Einrichtungen nicht vor. Sie wahren in ihrer Organisation Distanz zum Staat und nehmen eigene Aufgaben wahr, nicht solche des Staates.129 Im übrigen wird die Kunstfigur des staatlich gebundenen Berufs mit guten Gründen kritisiert, weil sie staatliche Beschränkungen der Berufsfreiheit als Grund akzeptiert, den Schutz dieses Grundrechts zurückzunehmen, statt die Beschränkung am Maßstab des Grundrechts auf 123  Zu den Organisationsformen kirchlicher Träger am Beispiel der Sozialstationen: Eberle, Sozialstationen (Anm. 1), S. 20 ff. Zum Begriff der juristischen Person im Sinn des Art. 19 Abs. 3 GG und zur Anwendbarkeit der Grundrechte: Wolfgang Rüfner, Grundrechtsträger, in: HStR V, 1992, § 116, Rn. 29 ff.; Isensee, Anwendung (Anm. 64), Rn. 21 ff. 124 Eingehend Breuer, Freiheit des Berufs (Anm. 122), Rn. 35 ff. (Nachw.). Allgemein zur Grundrechtsprägung: Peter Lerche, Grundrechtlicher Schutzbereich, Grundrechtsprägung und Grundrechtseingriff, in: HStR V, 1992, § 121, Rn. 38 ff. 125  Breuer, Freiheit des Berufs (Anm. 122), Rn. 39. 126 Richtungweisend BVerfGE 7, 377 (400 ff.). Zur Stufentheorie näher Rüdiger ­Breuer, Die staatliche Berufsregelung und Wirtschaftslenkung, in: HStR VI, 1989, § 148, Rn. 6 ff. (Nachw.). 127  Depenheuer, Staatl. Finanzierung (Anm. 16), S. 118 ff. – zum freigemeinnützigen Plankrankenhaus. Ablehnend für karitative Einrichtungen: Neumann, Freiheitsgefährdung (Anm. 57), S. 12. 128  Dazu mit Nachw. Walter Leisner, Öffentliches Amt und Berufsfreiheit (1968), in: ders., Beamtentum. Berlin 1995, S. 3 (37 ff.); Breuer, Freiheit des Berufs (Anm. 122), Rn. 45 ff. 129  Neumann, Freiheitsgefährdung (Anm. 57), S. 12.

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ihre Rechtmäßigkeit zu prüfen. Rechtsprechung und Lehre kehren sich denn auch von dem Konstrukt ab.130 b)  Gemeinnützigkeit als Beruf Längere Zeit umstritten war die Frage, ob der Grundrechtstatbestand der Berufsfreiheit für freigemeinnützige Träger nicht deshalb von vornherein entfällt, weil ihre Tätigkeit nicht auf Gewinn ausgerichtet ist. So wird die These vertreten, daß das Erwerbsstreben zum Wesen des Berufs gehöre131 und das rein altruistische Handeln nicht beruflicher Natur sein könne.132 Richtig ist, daß das Grundrecht den wirtschaftlichen Eigennutz legitimiert. Doch setzt es ihn nicht unbedingt voraus. Der Beruf ist seiner Bestimmung nach die Grundlage der Lebensführung.133 Doch dazu bedarf es nicht der Erwerbsabsicht. Es genügt, daß eine Tätigkeit prinzipiell auf Kostendeckung angelegt ist. Das ist bei freigemeinnützigen Trägern in der Regel der Fall. Das professionelle Helfen, das sich diakonische Werke zur Aufgabe machen, fällt in den Schutzbereich des Art. 12 Abs. 1 GG.134 Ein diakonisches Werk verliert auch dann nicht den Schutz der Berufsfreiheit, wenn es planmäßig ein gewisses Maß an Unterdeckung in Kauf nimmt und mit kirchlichen Zuschüssen rechnet.135 c)  Schutz der Kostendeckung – Problemfall Krankenhausfinanzierung Die Entscheidung des Kostenträgers, ob und wieweit er auf wirtschaftlichen Vorteil ausgeht oder sich mit Kostendeckung, gänzlich oder teilweise, begnügen will, konstituiert nicht den grundrechtlichen Berufsbegriff und nicht den grund130 Vgl.

Breuer, Freiheit des Berufs (Anm. 122), Rn. 57. Scheuner, Karitative Tätigkeit (Anm. 58), S. 69; Otto Bachof/Dieter Helmut Scheuing, Krankenhausfinanzierung und Grundgesetz. Stuttgart u. a. 1971, S. 30 f. (anders jedoch dies., Verfassungsrechtliche Probleme der Novellierung des Krankenhausfinanzierungsgesetzes. Freiburg i. Br., Stuttgart 1979, S. 13 ff.); Wegener, Staat und Verbände (Anm. 10), S. 275; Joachim Wieland, Anm. zum Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 22. 12. 1993, in: JZ 1995, S. 96 (97). 132 So Zacher, Freiheit und Gleichheit (Anm. 81), S. 102. 133 Vgl. Breuer, Freiheit des Berufs (Anm. 122), Rn. 27. 134  Die Geltung der Berufsfreiheit für gemeinnützige Träger vertreten: BVerwGE 95, 15 (19 f.); Bachof/Scheuing, Verfassungsrechtliche Probleme (Anm. 131), S. 15 (unter ausdrücklicher Aufgabe ihrer früheren Rechtsauffassung); Walter Leisner, Die Lenkungsauflage. Stuttgart 1982, S. 15; ders., Kostendeckung. Köln u. a. 1984, S. 34; Depenheuer, Staatl. Finanzierung (Anm. 16), S. 109 ff.; Josef Isensee, Verfassungsrechtliche Rahmenbedingungen einer Krankenhausreform, in: Robert Bosch Stiftung (Hrsg.), Krankenhausfinanzierung in Selbstverwaltung – verfassungsrechtliche Stellungnahmen. T. 2, Gerlingen 1990, S. 97 (134); ders., Kassenarztmonopol (Anm. 122), S. 45 f. 135  s. o. bei Anm. 14. 131 So

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rechtlichen Schutzbereich. Sie unterliegt vielmehr der grundrechtlich geschützten Selbstbestimmung des Berufsinhabers und bildet einen Akt der Berufsausübung.136 Staatliche Vorgaben für die Wirtschaftsführung und für die Bemessung der Entgelte greifen in den grundrechtlichen Schutzbereich ein und lösen den grundrechtliehen Rechtfertigungszwang aus. Das trifft besonders zu für das Recht der dualen Krankenhausfinanzierung.137 Dieses gewährleistet den Krankenhäusern nur die Deckung der Betriebskosten über die Pflegesätze, während die Investitionskosten außen vor bleiben, um die Beitragszahler der Gesetzlichen Krankenversicherung zu entlasten, ohne aber den Leistungserbringern einen Ausgleich zu geben. Diese Abweichung vom Kostendeckungsprinzip ist unter den heutigen Gegebenheiten mehr als eine übliche Regulierung der Berufsausübung; sie kommt einer Beschränkung der Berufswahl zumindest nahe, weil die Gesetzliche Krankenversicherung, mithin der Anwendungsbereich der Pflegesätze, mehr als 90% der Bevölkerung erfaßt und das freigemeinnützige Krankenhaus nicht auf die privatversicherte Minderheit ausweichen kann.138 Der Eingriff in das Grundrecht des Krankenhausträgers muß jedenfalls den Mindestanforderungen der Verfassung genügen und sich aus vernünftigen Gründen des Gemeinwohls rechtfertigen.139 Dafür genügt es nicht, daß das Ziel an sich legitim ist, hier also das Ziel, die Kassen zu entlasten und höhere Beiträge zu vermeiden. Vielmehr bedarf es der Begründung, daß der Grundrechtseingriff gerade gegenüber dem Krankenhaus um dieses Zieles willen erforderlich und angemessen ist. Eben das läßt sich nicht dartun.140 Der Gesetzgeber entbindet die Kassen von einer Finanzierungsaufgabe und schafft damit eine Finanzierungslücke für die Krankenhäuser, obwohl diese

136 Zutreffend

Depenheuer, Staatl. Finanzierung (Anm. 16), S. 111. des dualen Systems: Depenheuer, ebd., S. 38 ff.; Jürgen Faltin, Freigemeinnützige Krankenhausträger im System staatlicher Krankenhausfinanzierung. Köln u. a. 1986, S. 79 ff., 115 ff.; Christian Graf von Pestalozza, Rechtsfragen der Krankenhausfinanzierung in Berlin. Typoskript 1988, S. 23 ff. Vgl. auch die rechtspolitische Studie: Bericht der Kommission Krankenhausfinanzierung der Robert Bosch Stiftung, Krankenhausfinanzierung in Selbstverwaltung. T. 1, Gerlingen 1987, S. 42 ff., 85 ff. 138  Den Gedankengang entwickelt das Bundesverfassungsgericht am Fall des Kassenarztes (E 11, 30 [41 ff.]) und des Kassenzahnarztes (E 12, 144 [147]). 139 Repräsentativ BVerfGE 7, 377 (405 f.). Näher Breuer, Staatl. Berufsregelung (Anm. 126), Rn. 20 ff. 140 Die Unvereinbarkeit mit der Berufsfreiheit nehmen an: Bachof/Scheuing, Verfassungsrechtliche Probleme (Anm. 131), S. 15 f.; Depenheuer, Staatl. Finanzierung (Anm. 16), S. 189 ff.; Isensee, Rahmenbedingungen (Anm. 134), S. 124 ff.; Alexander Hollerbach, Freiheit kirchlichen Wirkens, in: HStR VI, 1989, § 140, Rn. 21. A. A. Graf Pestalozza, Rechtsfragen (Anm. 137), S. 45 ff. 137  Darstellung

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keine spezifische Finanzierungsverantwortung für jene tragen. Es handelt sich um eine staatliche Wohltat auf Kosten Dritter.141 Die Krankenhausförderung der Länder schafft keinen angemessenen Ausgleich. Denn sie bemißt sich nicht nach der Inanspruchnahme der Leistungen durch die Patienten, sondern nach den Daten der staatlichen Bedarfsplanung. Der Staat bedient sich der Finanzierungslücke für seinen Planungsehrgeiz und etabliert eine Form der Investitionslenkung. Diese bildet ihrerseits einen grundrechtlichen Eingriff in die Berufsfreiheit, der vergeblich nach grundrechtlicher Rechtfertigung ruft. Die Lenkungsbefugnis läßt sich nicht damit rechtfertigen, daß die Krankenhausträger von staatlichen Investitionsleistungen abhängig seien. Denn diese Abhängigkeit ist von Staats wegen oktroyiert. Die Krankenhausförderung gleicht sie nicht aus, sondern macht sie sich zunutze. Freilich kann sich nach Maßgabe der Plandaten im Einzelfall ergeben, daß ein Krankenhausträger mehr Mittel erhält, als ihm bei voller Kostendeckung zustünden. Doch das ändert nichts an dem rechtlichen Befund, daß das geltende Recht seiner Struktur nach das Äquivalenzprinzip durchbricht und so gegen die Berufsfreiheit verstößt.142 2.  Eigentumsgarantie Die Eigentumsgarantie schützt die karitativen Einrichtungen in ihrem Bestand an Sachen und vermögenswerten Rechten. Die uneigennützige, karitative Zweckbestimmung des kirchlichen Vermögens schließt den grundrechtlichen Schutz nicht aus. Es gehört zur Freiheit des Eigentümers, zu befinden, welchen Gebrauch er von seinem Eigentum macht, ob er dem an sich legitimen Eigennutz in den Grenzen des Gesetzes folgt oder sich ausschließlich in den Dienst der Allgemeinheit stellt.143 Juristische Personen, auch kirchliche Körperschaften, genießen ebenfalls Eigentumsschutz.144 Das Bundesverfassungsgericht hält offen, ob das Grundrecht über die Summe der einzelnen Gegenstände (Grundstücke, Inventar etc.) und vermögenswerten 141 Die verfassungsrechtliche Dimension derartiger Förderung aus privater Tasche wird bisher vornehmlich erörtert für fremdnützige Abgaben nichtsteuerlicher Art. Vgl. BVerfGE 55, 139 (167 f.), 274 (297 ff.); 67, 256 (275 ff.); Karl Heinrich Friauf, Öffentliche Sonderlasten und Gleichheit der Steuerbürger, in: FS für Hermann Jahrreiß. Köln, Berlin u. a. 1974, S. 45 (48); Josef Isensee, Nichtsteuerliche Abgaben – ein weißer Fleck in der Finanzverfassung, in: Staatsfinanzierung im Wandel (= Schriften des Vereins für Socialpolitik, N. F., Bd. 134). Berlin 1984, S. 435 ff., 454 ff.; ders., Gemeinwohl (Anm. 52), Rn. 175 f. 142  Zur verfassungsrechtlichen Gesamtproblematik eingehend Depenheuer, Staatl. Finanzierung (Anm. 16), S. 189 ff. (Nachw.); ders. (Anm. 15), S. 773 ff. Im Ergebnis ähnlich Graf Pestalozza, Rechtsfragen (Anm. 137), S. 71 ff. 143  Bachof/Scheuing, Krankenhausfinanzierung (Anm. 131), S. 27 f.; Depenheuer, Staatl. Finanzierung (Anm. 16), S. 127 ff. 144  Bachof/Scheuing, Krankenhausfinanzierung (Anm. 131), S. 29.

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Rechte hinaus auch das Betriebseigentum als solches schützt („Recht am eingerichteten und ausgeübten Gewerbebetrieb“).145 Der Grundrechtsschutz des Betriebseigentums ist zu bejahen, weil das Ganze als wirtschaftliche Funktionseinheit einen Vermögenswert hat, der den der Teile übertrifft.146 Das zeigt sich im geltenden System der Krankenhausfinanzierung.147 Der Rechtszwang zum Defizit und die staatliche Investitionslenkung tasten nicht das zivilrechtliche Eigentum an den baulichen Anlagen und den Geräten des Krankenhauses an. Doch sie entwerten den Betrieb insgesamt, weil sie ihm die Chance nehmen, die Anlagen ökonomisch zu nutzen, die Investitionskosten zu erwirtschaften und eigene Investitionsentscheidungen zu treffen. Sie hindern den wirtschaftlichen Gebrauch und verkürzen die durch das Eigentum vermittelte Dispositionsfreiheit. Die Beschränkung des Eigentums läßt sich nicht plausibel begründen; sie ist unvereinbar mit der Eigentumsgarantie.148 Eine Investitionslenkung der freien Krankenhäuser nach gemeinwirtschaftlichen Zielen überschritte die Schwelle zur Sozialisierung149 und wäre schon deshalb verfassungswidrig, weil Dienstleistungseinrichtungen nicht zu den von der Verfassung vorgesehenen sozialisierungsfähigen Produktionsmitteln gehören.150 Gegenständen, die freien Trägern als bürgerlichrechtliches Eigentum gehören, wird der grundrechtliche Schutz aus Art. 14 GG nicht deshalb versagt, weil sie mit Hilfe staatlicher Förderungsmittel erworben worden sind oder erhalten werden. Dabei bedarf es nicht des Rückgriffs auf das Argument, daß die Träger selbst auch Kapital und Arbeit aufgewendet hätten. Dieses Kriterium spielt eine Rolle, wenn grundrechtlich schutzfähige öffentlich-rechtliche Leistungsansprüche und -anwartschaften zu unterscheiden sind von nicht schutzfähigen, die allein der staatlichen Fürsorge entspringen.151 Doch auch Geld- und Sachleistungen der Sozialhilfe werden in der Hand ihres Empfängers zu Eigentum, das unter dem Schutz des Art. 14 GG steht. Ebenso erfaßt das Grundrecht das private Wohnungsbaueigentum, das auf staatliche Wohnungsbauförderung zurückgeht; deren 145 

BVerfGE 1, 264 (277 f.); 45, 142 (137); 51, 193 (222); 68, 193 (222 f.). Walter Leisner, Eigentum, in: HStR VI, 1989, § 149, Rn. 109. 147 Eingehend Depenheuer, Staatl. Finanzierung (Anm. 16), S. 255 ff. Gegenposition: Neumann, Freiheitsgefährdung (Anm. 57), S. 13 f. 148  Depenheuer, Staatl. Finanzierung (Anm. 16), S. 265 ff. 149  Die Sozialisierungsermächtigung in Art. 15 GG bewirkt durch ihre tatbestandlichen Voraussetzungen und ihre Rechtsfolgen mittelbar Eigentumsschutz. Dazu Walter Leisner, Der Sozialisierungsartikel als Eigentumsgarantie, in: JZ 1975, S. 272 ff. 150 Vgl. BVerfGE 53, 257 (289) – st. Rspr. Dazu Leisner, Eigentum (Anm. 146), Rn. 119 ff. 151  Dazu BVerfGE 53, 257 (289 ff.); 92, 365 (405 ff.); Leisner, Eigentum (Anm. 146), Rn. 85 ff. Für den Grundrechtsschutz des öffentlich geförderten Eigentums: Depenheuer, Staatl. Finanzierung (Anm. 16), S. 132 ff. 146 Zutreffend

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Sinn ist es gerade, den Erwerb von Privateigentum zu ermöglichen. Gleich, ob ein Anspruch auf staatliche Zuwendung besteht oder nicht: zweckgerecht verwendet und „ins Werk“ gesetzt, wird sie unterfangen von der Verfassungsgarantie. Vermögensrechte des Privaten finden den Schutz der Verfassung, gleich, ob sie durch eigene Leistung „verdient“ sind oder sich dem Glück verdanken. So erlangen die freien Krankenhausträger über die Investitionsförderung der Länder grundrechtlich geschütztes Eigentum an ihren Investivgütern,152 ohne daß danach gefragt werden muß, ob die Zuwendungen als (unvollkommenes) Äquivalent der erbrachten Pflegeleistungen ausgewiesen werden können oder ob sie darüber hinausgehen. Das Ergebnis der Investitionen genießt grundrechtlichen Schutz, ohne Rücksicht auf die verfassungsrechtlich maroden Grundlagen ihrer Finanzierung. 3.  Vereinsfreiheit Die Vereinsfreiheit schützt das Recht der Individuen, Vereine und Gesellschaften zu bilden, und deren Recht, sich ihrerseits zusammenschließen. Das Grundrecht kommt auch freien Trägern zugute, die, jedenfalls in der Vergangenheit, vielfach aus privaten Initiativen und Assoziationen hervorgegangen sind, nicht zuletzt aus Ordensgenossenschaften und aus Vereinen.153 Es legitimiert die mehrstufige Verbandsstruktur der Caritas, der Diakonie und der freien Wohlfahrtsverbände. Das Grundrecht erfaßt den Prozeß des Sich-Zusammenschließens aber auch dessen Ergebnis, den Zusammenschluß. Es gewährleistet diesem das Recht auf Bestand und auf Selbstbestimmung über Aufgaben und Binnenstruktur.154 Problematisch ist, ob die Vereinsfreiheit darüber hinaus auch die externe Tätigkeit des Verbandes abdeckt. Träfe das zu, so wäre dieser doppelt geschützt, durch die Vereinsfreiheit sowie durch die über Art. 19 Abs. 3 GG vermittelten besonderen Grundrechte wie die Berufs- oder Meinungsfreiheit. Diese Lehre vom Doppelgrundrecht ist abzulehnen, weil sie die differenzierende Zuordnung der Grundrechte an juristische Personen, wie sie das Grundgesetz in Art. 19 Abs. 3 vorsieht, unterläuft.155 Die Vereinsfreiheit erfaßt also die verbandsförmige karitative Organisation, nicht aber deren Betätigung.156 Der Schutzbereich der Vereinsfreiheit wird berührt, wenn der Staat einen freien Träger gegen seinen Willen in einen öffentlich-rechtlichen Verband inkorpo152 

Dazu näher Depenheuer, ebd., S. 134. Liese, Geschichte (Anm. 2), Bd. 1, S. 322 ff.; Scheuner, Karitative Tätigkeit (Anm. 58), S. 57 f. 154  Dazu mit Nachw. Detlef Merten, Vereinsfreiheit, in: HStR VI, 1989, § 144, Rn. 35 ff. 155  Merten, ebd., Rn. 50; Isensee, Anwendung (Anm. 64), Rn. 162 ff. 156  Wegener, Staat und Verbände (Anm. 10), S. 147 ff.; Depenheuer, Staatl. Finanzierung (Anm. 16), S. 107 f.; Neumann, Freiheitsgefährdung (Anm. 57), S. 10. 153 Vgl.

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riert.157 Das Bundesverfassungsgericht hält freilich die Allgemeine Handlungsfreiheit (Art. 2 Abs. 1 GG) für die Rechtsgrundlage158 und verortet so die negative Vereinsfreiheit anders als die positive. Der älteren Rechtsprechung galt es als Sache des gesetzgeberischen Ermessens, zu unterscheiden, ob der Staat eine legitime öffentliche Aufgabe statt durch eigene Behörden durch eine eigens gegründete öffentlich-rechtliche Körperschaft erfülle.159 Nunmehr wird aber das Erfordernis der legitimen öffentlichen Aufgabe ausdifferenziert durch das Subsidiaritätsprinzip: Aus dem Grundgesetz sei der Vorrang der freien Verbandsbildung zu folgern; daher müsse die Notwendigkeit der Errichtung einer öffentlichen Körperschaft besonders dargelegt werden.160 Das grundrechtliche Problem der Zwangskorporierung erhöbe sich, wenn ein Gesetz die Teilhabe der freigemeinnützigen Krankenhäuser an der Versorgung im System der Gesetzlichen Krankenversicherung davon abhängig machte, daß sie sich in eine Körperschaft der Leistungserbringer eingliederten, ähnlich wie die Kassenärzte in die Kassenärztlichen Vereinigungen.161 4.  Allgemeine Handlungsfreiheit Herkömmlich wird die fremdnützige Tätigkeit als Ausdruck der freien Persönlichkeitsentfaltung gesehen und dem Grundrecht der Allgemeinen Handlungsfreiheit zugeordnet (Art. 2 Abs. 1 i. V. m. Art. 19 Abs. 3 GG).162 Die Freiheit zu mitmenschlicher Hilfe soll daher in dem Grundrecht verortet werden, das nach heutigem Verständnis den weitesten und undifferenziertesten Schutzbereich aufweist, aber auch das umfassendste und undifferenzierteste Schrankenregime. Eben dieser Eigenschaften wegen fungiert die Allgemeine Handlungsfreiheit nur als Auffanggrundrecht, das gegenüber speziellen Freiheitsgrundrechten als subsidiär zurücktritt.163 Solche Freiheitsgrundrechte greifen hier aber ein.

157 

Merten, Vereinsfreiheit (Anm. 154), Rn. 58 ff. BVerfGE 10, 89 (102 ff.); 38, 281 (297 f.). Vgl. zu dieser Rechtsprechung: Hans-Uwe Erichsen, Allgemeine Handlungsfreiheit, in: HStR VI, 1989, § 152, Rn. 68 ff.; Isensee, Rahmenbedingungen (Anm. 134), S. 157 ff. 159  BVerfGE 10, 89 (102), 354 (364). 160  BVerfGE 38, 281 (298 ff.). 161  Dazu unten D. V. 162  So BVerfGE 20, 150 (157, 159) – zu karitativen Sammlungen; 44, 353 (372) – Suchtberatungsstelle der Caritas; BVerwG, in: DÖV 1965, S. 84 ff. – Blindenverein; vgl. auch Rinken, Karitative Betätigung (Anm. 57), S. 361; Wegener, Staat und Verbände (Anm. 10), S. 147 ff.; Depenheuer, Staatl. Finanzierung (Anm. 16), S. 105 ff.; Neumann, Freiheitsgefährdung (Anm. 57), S. 10. 163  Erichsen, Allg. Handlungsfreiheit (Anm. 158), Rn. 25 ff. 158 

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Das Grundrecht aus Art. 2 Abs. 1 GG besaß praktische Bedeutung, solange die Berufsfreiheit nicht auf fremdnütziges Handeln angewendet wurde. Seit das aber der Fall ist und Helfen als Beruf anerkannt wird, dürften im Grundrechtsschutz kaum Lücken übrigbleiben, die durch den Rückgriff auf das Auffanggrundrecht gefüllt werden müßten.164 Die „Freiheit zum Helfen“ braucht sich nur noch dann auf das Auffanggrundrecht zu berufen, wenn es sich um die Hilfe durch einen Einzelnen und um unprofessionelle Hilfe handelt. Für die karitative Betätigung der Kirche hat die Allgemeine Handlungsfreiheit ihre aktuelle Bedeutung weithin verloren.165 5.  Grundrechtsstandard der freien Träger als Mindeststandard der kirchlichen Träger Die genannten Freiheitsrechte gewährleisten den kirchlichen Trägern den gleichen grundrechtlichen Standard wie den anderen freigemeinnützigen Organisationen, etwa dem Roten Kreuz oder der Arbeiterwohlfahrt. Jedes Freiheitsrecht enthält eine Gleichheitsgarantie, indem es seinen Inhabern gleiche Freiheit bietet.166 Der allgemeine Gleichheitssatz (Art. 3 Abs. 1 GG) kommt allen freigemeinnützigen Trägern zugute. Er verbietet dem Staat willkürliche Unterscheidungen. Er ist verletzt, wenn der Staat eine Gruppe von Normadressaten im Vergleich zu anderen Normadressaten anders behandelt, obwohl zwischen beiden keine Unterschiede von solcher Art und solchem Gewicht bestehen, daß sie die ungleiche Behandlung rechtfertigen könnten.167 Die Gleichheit der kirchlichen Träger un164  Zunächst wurden öffentliche Sammlungen einschließlich der kirchlichen, generell dem Grundrecht aus Art. 2 Abs. 1 GG zugeordnet (BVerfGE 20, 150 [153 ff.]). Jedoch gilt seit BVerfGE 24, 236 (245 ff.) als sedes materiae für kirchliche Sammlungen die Religionsfreiheit (Art. 4 Abs. 1 und 2 GG). Dagegen wird später die Beschlagnahme von Akten bei einer Suchtberatungsstelle der Caritas am Grundrecht des Art. 2 Abs. 1 i. V. m. Art. 1 Abs. 1 GG gemessen (BVerfGE 44, 353 [372 ff.]). 165  A. A. Depenheuer, Staatl. Finanzierung (Anm. 16), S. 105, Anm. 7: den Aspekt des „Helfens“ als solchen könnten die Grundrechte aus Art. 12 und 14 GG nicht erfassen; sie beinhalteten ihn nicht, sondern setzten ihn voraus. Im Ergebnis gleich: Ernst Friesenhahn, Kirchliche Wohlfahrtspflege unter dem Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, in: Auf dem Weg zur Menschenwürde und Gerechtigkeit. FS für Hans R. Klecatsky. Teilbd. 1, Wien 1980, S. 247 (252); Wegener, Staat und Verbände (Anm. 10), S. 147 ff.; Neumann, Freiheitsgefährdung (Anm. 57), S. 10. 166 Vgl. Paul Kirchhof, Der allgemeine Gleichheitssatz, in: HStR V, 1992, § 124, Rn. 167 ff. 167  So die „neue Formel“ des Gleichheitssatzes: BVerfGE 55, 72 (88); 82, 60 (86); 83, 395 (401) – st. Rspr. Dazu Konrad Hesse, Der allgemeine Gleichheitssatz in der neueren Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zur Rechtsetzungsgleichheit, in: Wege und Verfahren des Verfassungslebens. FS für Peter Lerche. München 1993, S. 121 ff.; Kirchhof, Allg. Gleichheitssatz (Anm. 166), Rn. 235 ff.

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tereinander und im Verhältnis zu anderen freien Trägern wird zunächst durch die besonderen Gleichheitsrechte des Art. 3 Abs. 3 GG gewährleistet, die Benachteiligungen und Bevorzugungen wegen des Glaubens oder wegen der religiösen Anschauungen verbieten.168 Die kirchlichen Träger werden also vor Diskriminierung geschützt, sie dürfen aber auch nicht privilegiert werden. Soweit es um staatliche Förderung geht, finden sie in den Gleichheitsgarantien eine Art verfassungsrechtliche Meistbegünstigungsklausel, daß Vorteile, die vergleichbaren Trägern zugewendet werden, ihnen nicht versagt werden dürfen. Der gleiche Grundrechtsstandard, den das Grundgesetz den freigemeinnützigen Trägern gewährleistet, erweist sich für die kirchlichen Träger allerdings nur als grundrechtlicher Mindeststandard, soweit ihnen die besonderen Garantien der Religionsfreiheit und des Staatskirchenrechts zugutekommen. Diese gehen als leges speciales den allgemeinen Grundrechten vor. Sie bieten den Religionsgemeinschaften in ihrer karitativen Betätigung stärkeren Schutz vor staatlicher Ingerenz als den weltlichen Organisationen der Wohlfahrtspflege. Damit kommt ihnen ein exponierter grundrechtlicher Status zu, der nicht von den Gleichbehandlungsgeboten der Verfassung her in Frage gestellt werden kann, weil er selbst in der Verfassung begründet ist. Für die Kirche behalten die unspezifischen Grundrechte rechtspraktische Bedeutung. Sie bilden für die Auslegung der religionsspezifischen Garantien aus Art. 4 und 140 GG eine wichtige Vergleichsgröße. Unter den allgemeinen Grundrechtslevel darf das Maß an Freiheit nicht sinken. Der allgemeine Mindeststandard ist den karitativen Einrichtungen sicher, wenn im Einzelfall die realen Voraussetzungen der religionsspezifischen Gewährleistungen fragwürdig sind. Den unspezifischen Grundrechten verbleibt auf jeden Fall eine Auffangfunktion.169 Die Auffangfunktion wird wichtig für bestimmte Sekten, deren Status als Religionsgemeinschaft umstritten ist, zumal dann, wenn sich bei ihnen spirituelle, politische und ökonomische Momente dergestalt mischen, daß eine Zuordnung zum Schutzbereich der Religionsfreiheit nicht in Betracht kommt.170 168  Das besondere Gleichheitsrecht des Art. 3 Abs. 3 GG gilt auch für die Kirchen (v. Mangoldt/Klein/Starck, Art. 3 Abs. 3, Rn. 259). Vgl. BVerfGE 19, 1 (11) – zum Verhältnis zwischen großen und kleinen Kirchen. 169  So behält das Grundrecht der Wohnungsfreiheit Bedeutung durch den Richtervorbehalt des Art. 13 Abs. 2 GG, der nicht durch ein für alle geltendes Gesetz derogiert werden darf, vielmehr diesem das Maß setzt. Allein das Grundrecht aus Art. 13 GG liegt der Entscheidung in BVerfGE 44, 353 (371 f. – Durchsuchung einer Caritas-Beratungsstelle) zugrunde. 170  Zu diesem Problemkreis BVerwGE 61, 152 (159 ff.) – Scientology; BVerwG, Urt. v. 27. 3. 1992, in: JZ 1993, S. 33 ff. – Bhagwan; von Campenhausen, Religionsfreiheit (Anm. 117), Rn. 73; Ingo von Münch, in: ders., Grundgesetz-Kommentar. 4. Aufl., München 1992, Art. 4, Rn. 34, 43 f., 58 ff.; Rainer Scholz, Rechtsfragen bei der wirtschaftlichen Betätigung von „neuen Jugendreligionen“, in: NVwZ 1993, S. 629 ff.

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II.  Religionsspezifische Gewährleistungen 1.  Religionsfreiheit a)  Problematische Grundrechtsqualifikation der Wohltätigkeit des Einzelnen Die Zuordnung der karitativen Betätigung zum Grundrecht der Religionsfreiheit versteht sich nicht von selbst. Evident ist allein, daß die religiöse Motivation, die den Nächstendienst leitet, in den Schutzbereich dieses Grundrechts gehört. Das wird besonders deutlich in der Grundrechtsposition des Individuums. Wer aus christlichem Ethos den Beruf des Arztes oder des Krankenpflegers ergreift und wer das Ethos in seinen Beruf einbringt, aktualisiert die Freiheit des Glaubens. Doch das Handeln als solches, Wahl und Ausübung des Berufes, fällt in den Schutzbereich der religionsindifferenten Berufsfreiheit, die dem homo religiosus ebenso zusteht wie dem homo oeconomicus. Der Schutz der Religionsfreiheit beschränkt sich insoweit auf die Gesinnung (forum internum). Das bedeutet jedoch nicht, daß sich die Religionsfreiheit generell im Schutz des forum internum erschöpfte. Im Gegenteil: sie wirkt auch in das forum externum hinein und gewährleistet nicht nur das Recht, einen Glauben zu haben, sondern auch das Recht, gemäß seinem Glauben zu handeln und seine äußere Lebensgestaltung nach dem Glauben auszurichten.171 So erfaßt die Religionsfreiheit des Einzelnen die Teilnahme am Gottesdienst, die Werbung für den Glauben, die religiöse Kindererziehung, also Akte, deren religiöser Charakter evident ist. Prekär sind jedoch solche, die, obwohl religiös motiviert, sich in ihrem äußeren Erscheinungsbild und in ihren sozialen Wirkungen nicht von anderweit motiviertem Tun unterscheiden, etwa religiös begründete politische, wirtschaftliche, aber auch soziale Aktivitäten.172 Diese werden den Grundrechten zugerechnet, die generell auf politisches und wirtschaftliches Wirken zugeschnitten sind, vor allem der Meinungs- und der Berufsfreiheit.173 Der christliche Impuls der Nächstenliebe, der die Berufstätigkeit oder den Eigentumsgebrauch leitet, führt nicht dazu, den allgemeinen Grundrechtsschutz aus Art. 12 und 14 GG abzulösen durch den günstigeren aus Art. 4 GG.174 Auch die private Wohltätigkeit, christlich begründet oder nicht, findet grundsätzlich den ihr gemäßen grundrechtlichen Ort in der

171  BVerfGE 32, 98 (106); 41, 29 (49); von Campenhausen, Religionsfreiheit (Anm. 117), Rn. 52 ff.; von Münch (Anm. 170), Art. 4, Rn. 22. 172 Dazu von Campenhausen, Religionsfreiheit (Anm. 117), Rn. 71 ff. 173 Zutreffend von Campenhausen, ebd., Rn. 72. A. A. Leisner, Kirchl. Krankenhaus (Anm. 21), S. 12. 174  Auch die Bediensteten karitativer Einrichtungen können sich für ihre Berufs- und Vermögensbelange nur auf Art. 12 und 14 GG berufen, nicht etwa auf Art. 4 GG.

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Allgemeinen Handlungsfreiheit, nicht aber in der Religionsfreiheit.175 Hinge der grundrechtliche Schutzbereich ab von subjektiven Momenten, so könnten praktisch unnachprüfbare Behauptungen über das Schrankenregime bestimmen, und die grundrechtliche Gleichheit litte Schaden. Dagegen wird die religiöse Qualität objektiviert und damit sichtbar, wenn Wohltätigkeit sich in den Dienst kirchlicher Ziele stellt und an die kirchliche Organisation anlehnt, wie es der Fall ist bei der Kleidersammlung, die ein katholischer Jugendverband, durch Werbung von der Kanzel unterstützt, zugunsten der Dritten Welt durchführt.176 Die subjektiven Absichten der Sammler partizipieren an der religiös-karitativen Grundfunktion der Kirche als Institution. b)  Caritas als Gegenstand der korporativen Religionsfreiheit So schwierig es ist, die karitative Betätigung des Einzelnen als Ausübung der Religionsfreiheit zu qualifizieren, so einfach ist diese Qualifikation, wenn die Kirche als Institution handelt. Caritas ist Gegenstand der korporativen Religionsfreiheit gemäß Art. 4 Abs. 1 und 2 i. V. m. Art. 19 Abs. 3 GG. Die Religionsausübung durch die Kirche umfaßt „nicht nur den Bereich des Glaubens und des Gottesdienstes, sondern auch die Freiheit zur Entfaltung und Wirksamkeit in der Welt, wie es ihrer religiösen und diakonischen Aufgabe entspricht“.177 Das Grundrecht deckt die karitative Grundfunktion der Kirche ab.178 In der Kasuistik des Bundesverfassungsgerichts gehören zur Ausübung der Religionsfreiheit: – die aus religiös-karitativen Motiven veranstalteten Sammlungen mitsamt der Werbung von der Kanzel;179 – Krankenpflege und Betrieb eines Krankenhauses180 sowie orthopädischer Anstalten;181 – Jugenderziehung und Betrieb eines Jugendheims.182 175 

s. o. C. I. 4. BVerfGE 24, 236 (246 f.) – Lumpensammler. 177  So zum (grundrechtlich beachtlichen) Selbstverständnis der Kirche: BVerfGE 24, 236 (248). 178 Richtungweisend Ulrich Scheuner, Zum Schutz der karitativen Tätigkeit nach Art. 4 GG (1967), in: ders., Schriften zum Staatskirchenrecht. Berlin 1973, S. 55 ff. 179  BVerfGE 24, 236 (247 ff.) – Lumpensammler. 180  BVerfGE 46, 73 (83) – Goch; 53, 366 (387 f.) – St. Marien; 70, 138 (160 f.) – St. Elisabeth-Krankenhaus. Ablehnend: Friesenhahn, Kirchl. Wohlfahrtspflege (Anm. 165), S. 263. 181  BVerfGE 57, 220 (240 f.) – Volmarstein. 182  BVerfGE 70, 138 (161 f.) – Jugendwohnheim Salesianum. 176 

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Bei der Würdigung dessen, was im Einzelfall als organisierte Ausübung von Religion zu werten ist, berücksichtigt das Bundesverfassungsgericht das Selbstverständnis der jeweiligen Religionsgemeinschaft.183 Dabei überläßt es jedoch nicht deren Belieben, ihre Tätigkeiten als Religionsausübung zu deklarieren, mit der Folge, daß sie von sich aus über Grundlagen und Reichweite staatlicher Verfassungsrechte verfügen könnte. Vielmehr stellt es ab auf ein objektiviertes, durch traditionelle Lehre begründetes und durch gegenwärtige Praxis bestätigtes Selbstverständnis, nämlich das der katholischen und der evangelischen Kirche hinsichtlich ihrer religiösen und diakonischen Aufgabe.184 Caritas gehört zum klassischen Wirkungsfeld der christlichen Religionsgemeinschaften, das der Verfassunggeber vorgefunden und in sein Konzept der Religionsfreiheit aufgenommen hat. Insofern entspricht das Auslegungsresultat der gebotenen objektivierenden Betrachtungsweise bei der Definition grundrechtlicher Schutzbereiche.185 Der Text des Art. 4 GG weist einzelne Subtatbestände der Religionsfreiheit aus: die Freiheit des Glaubens und des religiösen Bekenntnisses (Art. 4 Abs. 1 GG) sowie die ungestörte Religionsausübung (Art. 4 Abs. 2 GG). Das Bundesverfassungsgericht ortet die karitative Betätigung der Kirche im Bereich des Art. 4 Abs. 2 GG.186 Doch die im Grundgesetz einzeln aufgezählten Momente sind in ihrer Besonderheit nur historisch erklärbar. Eine dogmatische Abgrenzung zu versuchen wäre müßig. Denn sie alle bilden den einen, identischen Schutzbereich der Religionsfreiheit. Innerhalb dessen markieren sie keine praktisch bedeutsamen Unterscheidungen.187 Der Einwand liegt nahe, daß die Kirchen in ihrer karitativen Betätigung besser gestellt seien als der Einzelne, weil sie generell über Art. 4 GG einen gesteigerten Grundrechtsschutz genössen, und daß die Vorzugsstellung der Korporation vor dem Individuum nicht vereinbar sei mit der individualistischen Struktur der 183  BVerfGE 24, 244 (247 f.) – im Anschluß an BVerfGE 18, 385 (386 f.). Vgl. zum Thema Leisner, Kirchl. Krankenhaus (Anm. 21), S. 16 f.; Axel Isak, Das Selbstverständnis der Kirchen und Religionsgemeinschaften und seine Bedeutung für die Auslegung staatlichen Rechts, Berlin 1994. Zu dem allgemeinen Problem der Grundrechtsdogmatik: Josef Isensee, Wer definiert die Freiheitsrechte?, Heidelberg 1980; ders., Grundrechtsvoraussetzungen (Anm. 118), Rn. 117 ff. (Nachwort). 184 Das Selbstverständnis hinsichtlich der diakonischen Grundfunktion wird in BVerfGE 24, 236 (248) belegt mit der neutestamentarischen Lehre, der Pastoralkonstitution „Gaudium et spes“ des Zweiten Vatikanums und der Grundordnung der EKD sowie neueren Kirchenverträgen. 185  Isensee, Freiheitsrechte (Anm. 183), S. 60 ff.; von Campenhausen, Religionsfreiheit (Anm. 117), Rn. 70. Vgl. auch Leisner, Kirchl. Krankenhaus (Anm. 21), S. 16 f. 186  Gründlich: BVerfGE 24, 236 (244 ff.). Vgl. auch BVerfGE 46,· 73 (83); 53, 366 (387); 57, 220 (241); 70, 138 (161). 187 Deutlich: von Campenhausen, Religionsfreiheit (Anm. 117), Rn. 36.

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Grundrechte. Doch so pauschal trifft die These nicht zu, weil, wie die Kollektivgrundrechte Koalitionsfreiheit (Art. 9 Abs. 3) und Parteifreiheit (Art. 21 GG) zeigen, ein Verband über grundrechtliches Handlungspotential verfügen kann, das dem Individuum abgeht.188 Auf der Ebene des einfachen Steuerrechts vermögen Körperschaften den steuerbegünstigten Status der Gemeinnützigkeit zu erlangen, der den natürlichen Personen verschlossen ist (§§ 51 ff. AO). Darin liegt keine Diskriminierung. Nur juristische Personen lassen sich auf bestimmte (gemeinnützige) Ziele und Mittel dauerhaft festlegen und als zweckrationale Gebilde objektivieren. Dagegen ist die Subjektivität des Menschen in seinen Absichten, Motiven und Handlungsweisen um seiner Freiheit willen unaufhebbar. Die Diakonie genießt damit einen besonderen verfassungsrechtlichen Schutz, wie er nichtreligiösen Formen der Wohlfahrtspflege versagt ist. So wird die Arbeiterwohlfahrt nicht etwa eigens vom Tatbestand der Koalitionsfreiheit (Art. 9 Abs. 3 GG) erfaßt. Denn sie ist kein koalitionsspezifisches Mittel. Sie ist eine zwar traditionelle, aber nicht essentielle Aufgabe der Gewerkschaften, essentiell im Sinne der Koalitionsfreiheit, wie die Diakonie im Sinne der Religionsfreiheit essentiell ist. c)  Grundrechtsfähigkeit Die Kirche ist in allen ihren Gliederungen, welche Rechtsform ihnen auch eignet, grundrechtsfähig, soweit sie wie jedermann eigene Rechte gegen den Staat geltend macht.189 Das gilt auch für die Untergliederungen und rechtlich selbständigen Einrichtungen der Kirche, sofern deren Zweck auf die Erfüllung karitativer Aufgaben in Verwirklichung einer Grundforderung des religiösen Bekenntnisses gerichtet ist.190 Dabei kommt es nicht auf die Rechtsform an und nicht auf die bürgerlich-rechtliche Rechtsfähigkeit.191 Im Unterschied zur Kirchenautonomie nach Art. 140 GG i. V. m. Art. 137 Abs. 3 S. 1 WRV erfordert der Schutz der korporativen Religionsfreiheit nicht die institutionelle Einbindung des Trägers in eine Religionsgemeinschaft, weil er seine grundrechtliche Position nicht von der ihren ableiten muß, sondern die eigene grundrechtliche Legitimation ausreicht. 188 Näher

Isensee, Anwendung (Anm. 64), Rn. 75 ff. BVerfGE 30, 112 (119 f.); 42, 312 (321 f.); 53, 366 (387 f.); 70, 138 (160 f.). Vgl. auch Rüfner, Grundrechtsträger (Anm. 123), Rn. 73; von Münch (Anm. 170), Art. 4, Rn. 9. 190  BVerfGE 53, 366 (387 f.). Vgl. auch BVerfGE 46, 73 (83); 57, 220 (240 f.). 191  Beispiele der Verfassungsjudikatur für grundrechtsfähige Träger sind: katholische und evangelische Kirchengemeinden (BVerfGE 53, 366 [386 f.]), Vereine und GmbH (BVerfGE 53, 366 [386 f.]), eine rechtsfähige Stiftung des Privatrechts (BVerfGE 57, 220 [240 f.]), eine „alte kirchliche Stiftung“ (BVerfGE 70, 138 [142 ff.]) und eine Stiftung nach katholischem Kirchenrecht und nach staatlichem Recht (BVerfGE 46, 73 [83 ff.]). 189 

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d)  Schutzbereich der korporativen Religionsfreiheit Nicht alles, was die Kirche tut, ist Religionsausübung im Sinne des Art. 4 GG. Nicht alles, was irgendeinen Bezug zur Caritas hat, weist diese grundrechtliche Qualität auf. Im Schrifttum ist die Frage noch nicht abschließend geklärt, wieweit Organisation und Wirken der Caritas zum Schutzbereich der korporativen Religionsfreiheit gehören. Eine extensive Auslegung bemißt die Religionsfreiheit nach dem Selbstbestimmungsrecht der Kirche (Art. 140 GG i. V. m. Art. 137 Abs. 3 S. 1 WRV) dergestalt, daß beide Garantien in ihrer thematischen Reichweite völlig übereinstimmen oder daß die erstere jedenfalls den Kernbereich der letzteren abdeckt.192 Organisation und Wirken der Caritas sind eigene Angelegenheiten der Kirche. Sie unterliegen ihrer Selbstbestimmung.193 Das steht außer Streit. Keine Übereinstimmung besteht jedoch darüber, ob sie auch den grundrechtlichen Schutz der Religionsfreiheit genießen. Eine restriktive Position des Schrifttums verneint die Frage und beschränkt die Schutzfunktion des Grundrechts darauf, daß der Staat die in den weltlichen Raum wirkende kirchliche Sozialarbeit nicht völlig verbieten und nicht in den innerkirchlichen Bereich zurückdrängen, daß er auch nicht durch die Expansion eigener Einrichtungen der kirchlichen Aktivität faktisch den Wirkraum nehmen dürfe, solange Caritas als Angebot lebendig und bei den Hilfsbedürftigen erwünscht sei.194 Ein derart restriktives Verständnis beläßt der kirchlichen Diakonie nicht mehr als ein Recht auf bloßes Dabeisein und läuft nahezu leer. Die Religionsfreiheit bietet keinen Anhalt für einen derartigen interpretatorischen Minimalismus, wie er denn auch der Auslegung anderer Grundrechte fremd ist, von der Medien- bis zur Koalitionsfreiheit. In der herrschenden, zutreffenden Auslegung gewährleistet das Grundrecht der Kirche, auf allen Feldern, die für ihren religiös-karitativen Auftrag bedeutsam sind, präsent zu sein und zu wirken und sich dazu der jeweils sachgerechten Mittel zu bedienen. Doch müssen bestimmte Bedingungen erfüllt werden. aa) Zum Schutzbereich der Religionsfreiheit gehört nur die unmittelbare karitative Betätigung. Erwerbswirtschaftliche Unternehmen der Kirche, deren Erträge für mildtätige Zwecke verwendet werden, fallen nicht unter den Tatbestand des Art. 4 GG, sondern den des Art. 12 GG. Das gilt etwa für die Vermögensver192 So Walter Leisner: „Caritas ist religiöses Tun, ohne Wenn und Aber … dann ist jeder wahre Christ ‚immer im Dienst‘, eben am Nächsten“ (Kirchl. Krankenhaus [Anm. 21], S. 12). Vgl. auch ders., Karitas (Anm. 95), S. 479 (jedenfalls „Kern“ des Art. 137 Abs. 3 WRV); Ulrich Scheuner, Die Religionsfreiheit im Grundgesetz (1967), in: ders., Schriften (Anm. 178), S. 33 (48). 193  Leisner, Karitas (Anm. 95), S. 479. 194  Rinken, Karitative Betätigung (Anm. 57), S. 364 f.; restriktiv auch Friesenhahn, Kirchl. Wohlfahrtspflege (Anm. 165), S. 264 ff., 269.

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waltung einer Stiftung, die mit ihrem Aufkommen ausschließlich ein Waisenhaus unterstützt und so mittelbar einem karitativen Zweck dient. Der mittelbare Bezug genügt nicht.195 bb) Die religiöse Ausrichtung der Betätigung muß nach außen erkennbar werden. Will die Kirche für ihr Wirken im weltlichen Raum das Grundrecht der Religionsfreiheit aktivieren, so muß sie sich unmißverständlich zu den religiösen Gründen ihres Tuns bekennen und glaubwürdig bekunden, daß ihr Tun dem Glauben verpflichtet ist. Insofern liegt es an ihr, die Religionsfreiheit zu aktivieren. In dem Maße, in dem eine kirchliche Einrichtung sich der säkularen Umwelt anpaßt, geht auch die aktuelle Reichweite der Religionsfreiheit zurück. Das Erfordernis der Erkennbarkeit des Religiösen widerspricht nicht der weltanschaulichen Neutralität des Staates. Denn dieser fragt nicht nach Wert und Wahrheit von Religion, sondern danach, ob der säkulargrundrechtliche Tatbestand der Religionsfreiheit erfüllt ist. Eine Kleidersammlung für karitative Zwecke hat nicht ohne weiteres den Charakter der Religionsausübung, weil sie mit kirchenamtlicher Unterstützung durchgeführt wird. Der Sammlung muß es darum gehen, beim Spender Barmherzigkeit, Nächstenliebe, Einsatz für eine gute Sache aus glaubensmäßiger Überzeugung zu aktivieren. Den Spendern müssen auch der verfolgte Zweck und die Verwendung des Sammlungsgutes erkennbar sein, damit sie ihre Entscheidung nicht auf falsche Vorstellungen gründen und die Öffentlichkeit über den Zweck der Sammlung nicht getäuscht wird.196 cc) Wenn die Wahrnehmung einer karitativen Aufgabe wie die Kranken­ hausversorgung insgesamt zum Grundrechtstatbestand des Art. 4 GG gehört, so müssen deshalb nicht auch alle Verrichtungen des Krankenhauses, für sich genommen, Religionsausübung sein: Blinddarmoperation, Fiebermessen, Wäsche, Küche, Buchhaltung, Chefarztliquidation. Das Grundrecht schützt das karitative Wirken der Kirche, doch darum nicht auch die medizinischen und technischen Funktionen, über die es sich vollzieht, nicht die Organisation, in der es stattfindet, nicht das Instrumentarium, dessen es sich bedient. Die grundrechtliche Differenzierung entspricht den zwiefachen Forderungen, denen das kirchliche Krankenhaus genügen will, dem christlichen Glauben und 195  BVerfGE 19, 129 (133) – entgeltliche Abgabe von Speisen und Unterkünften durch eine Missionsgesellschaft. Vgl. auch von Münch (Anm. 170), Art. 4, Rn. 44. Die verfassungsrechtliche Begrenzung entspricht dem steuerrechtliehen Kriterium der unmittelbaren Zweckverfolgung als Bedingung der Gemeinnützigkeit (§ 57 AO). 196  Das Bundesverfassungsgericht übersieht jedoch, wenn es eine „bestimmte religiöse Gesinnung oder Haltung des Spenders“ verlangt, daß diese vom Veranstalter der Sammlung nicht garantiert werden können und ihm auch nicht zuzumuten ist, bei Zweifeln am religiösen Motiv die Spende zurückzuweisen (E 24, 236 [249]).

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der Sachgesetzlichkeit.197 Die Sachgesetzlichkeit aber hat ihren grundrechtlichen Sitz nicht in der Religionsfreiheit, sondern, soweit nicht die Kirchenautonomie nach Art. Art. 140 GG i. V. m. Art. 137 Abs. 3 WRV anwendbar ist, in dem jeweils geltenden Spezialgrundrecht, etwa der Berufsfreiheit. Organisation und Funktion werden mehr oder weniger vom Glauben geprägt. Der Schutz wird aber durch die grundrechtliche Unterscheidung nicht hinfällig. Zur Religionsfreiheit gehört nur die religiöse Prägung, deren Substrat liegt dagegen in einem anderen Schutzbereich. Die Religionsfreiheit aber aktualisiert sich in unterschiedlicher Intensität, je nachdem, wie tief die Prägung reicht. Wenn der Bereich der Sachgesetzlichkeit thematisch nicht zum Grundrecht der Religionsfreiheit gehört, so bildet er doch eine reale Voraussetzung seiner Ausübung. Diese gehört nicht selber zum Grundrechtstatbestand, genießt aber um des grundrechtlichen Freiheitsgutes willen den mittelbaren Schutz der Verfassung. Die Grundrechtsvoraussetzungen zu entwickeln und zu wahren ist – auch – Aufgabe des Staates.198 Doch die verfassungsrechtliche Bedeutung der Grundrechtsvoraussetzungen im allgemeinen bedarf hier keiner Erörterung. Denn die funktionellen und institutionellen Voraussetzungen der Religionsausübung sind Gegenstand einer selbständigen Verfassungsgarantie, der Kirchenautonomie nach Art. 140 GG i. V. m. Art. 137 Abs. 3 WRV.199 e)  Schranken der korporativen Religionsfreiheit Das Grundrecht der Religionsfreiheit kennt keinen Gesetzesvorbehalt. Als vorbehaltloses Grundrecht unterliegt es allein den verfassungsimmanenten gegenläufigen Normen der Verfassung. Diese müssen durch Interpretation mit der Grundrechtsgarantie zum schonenden Ausgleich gebracht werden.200 Das Fehlen des Gesetzesvorbehalts führte in ein Dilemma, falls man die karitativen Einrichtungen und ihre Tätigkeit en bloc dem Schutz der Religionsfreiheit unterstellte und damit der Regelung durch Gesetz entzöge. Das kirchliche Krankenhaus würde nahezu exemt, nicht nur in religiöser Hinsicht, sondern auch in therapeutischer, sanitärer, baulicher, wirtschaftlicher, ohne daß der Rekurs auf die verfassungsunmittelbaren Schranken effektive Kompensation bringen könn197  Die Religionsfreiheit wird insoweit substituiert durch die religionsunspezifischen Grundrechte wie Art. 12 GG. s. o. C. I. 198 Dazu Isensee, Grundrechtsvoraussetzungen (Anm. 118), Rn. 136 ff. 199  s. u. C. II. 2. 200  BVerfGE 32, 98 (107 f.); 33, 23 (28 ff.); 44, 37 (50); 52, 223 (246 f.) – st. Rspr. Vgl. auch von Campenhausen, Religionsfreiheit (Anm. 117), Rn. 81; v. Mangoldt/Klein/Starck, Art. 4, Rn. 45 ff.; Listl, Glaubensfreiheit (Anm. 63), S. 465 ff. – Allgemein zum Problem der verfassungsimmanenten Schranken: Peter Lerche, Grundrechtsschranken, in: HStR V, 1992, § 122, Rn. 23 f.; Isensee, Gemeinwohl (Anm. 52), Rn. 126.

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te. Damit gerieten nicht nur legitime Belange des Gemeinwohls in Gefahr, sondern auch legitime Interessen des Krankenhauses selber, weil Mangel an Rechtsverpflichtetheit das Vertrauen des Publikums irritieren dürfte. Das Dilemma wird vermieden durch die hier vertretene, differenzierende Zuordnung, nach der das Grundrecht des Art. 4 GG die religiöse Imprägnierung erfaßt, nicht aber Funktion und Organisation. Das funktionelle und institutionelle Substrat aber unterliegt im Kontext der Kirchenautonomie des Art. 137 Abs. 3 S. 1 WRV den Schranken des für alle geltenden Gesetzes und ist damit dem Ausgleich der widerstrebenden Belange zugänglich. Die eigentlichen Reibungsflächen der Caritas liegen daher im Schutzbereich der Kirchenautonomie. Dagegen sind die Konfliktmöglichkeiten im Schutzbereich der korporativen Religionsfreiheit gering. Die Präsenz der Caritas in der Gesellschaft und die religiöse Prägung ihres Wirkens vertragen in der Tat keine Schranke durch Gesetz. Der Verfassungsstaat markiert über den Vorbehalt der verfassungsimmanenten Schranken nur äußerste Grenzen. Diese entsprechen dem ordre public der abendländischen Zivilisation.201 Der aber ist seiner Herkunft nach wesentlich bestimmt durch das Christentum und stimmt so prinzipiell überein mit dem Ethos der Kirche. Ein struktureller Gegensatz zur karitativen Betätigung ist kaum vorstellbar. Ein solcher mag sich eher auftun bei Religionsgemeinschaften außereuropäischen Ursprungs und bei Sekten neuer Art. 2.  Kirchenautonomie a)  Verknüpfung von Kirchenautonomie und Religionsfreiheit Die karitative Betätigung der Kirche findet ihren „nächstliegenden Maßstab“202 in der Kirchenautonomie: „Jede Religionsgesellschaft ordnet und verwaltet ihre Angelegenheiten selbständig innerhalb der Schranken des für alle geltenden Gesetzes“ (Art. 140 GG i. V. m. Art. 137 Abs. 3 S. 1 WRV). Das Bundesverfassungsgericht mißt staatliche Eingriffe in den diakonischen Bereich vornehmlich an dieser Verfassungsgarantie.203 Sie derogiert andere thematisch einschlägige Grundrechte wie die aus Art. 12, 13, 14 und 2 Abs. 1 GG.204 Die korporative 201  „Rahmen gewisser übereinstimmender sittlicher Grundanschauungen der heutigen Kulturvölker“ (BVerfGE 24, 236 [246]). 202  BVerfGE 46, 73 (85). 203  BVerfGE 46, 73 (85 ff.); 53, 366 (391 ff.); 57, 220 (241 ff.); 66, 1 (19 ff.); 70, 138 (162 ff.); 72, 278 (289 ff.). Zustimmend Hollerbach, Grundlagen (Anm. 117), Rn. 20 ff.; v. Mangoldt/Klein/v. Campenhausen, Art. 140 GG/ Art. 137 Abs. 3 WRV, Rn. 41. 204  Im Selbstbestimmungsrecht finden auch die aus dem Hausrecht karitativer Anstalten (Art. 13 GG) und aus der Eigentumsgarantie (Art. 14 GG, Art. 140 GG i. V. m. Art. 138 Abs. 2 WRV) sich ergebenden Rechtspositionen und Abwehrrechte ihre Zusammenfassung und Konkretisierung (BVerfGE 57, 220 [243 f.]).

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Religionsfreiheit fungiert nur als verfahrensrechtliches Vehikel für die Verfassungsbeschwerde. Deren Zulässigkeit wird nur durch die Rüge der Verletzung von Grundrechten oder grundrechtsgleichen Rechten indiziert, die ausdrücklich in Art. 93 Abs. 1 Nr. 4 a GG und in § 90 Abs. 1 BVerfGG aufgeführt werden. Die Kirchenautonomie gehört aber nicht dazu, obwohl sie ihrer Substanz nach einem Grundrecht gleichkommt. Das Bundesverfassungsgericht hat bisher nicht den Mut gefunden, sie in formeller Hinsicht gleichzubehandeln, und läßt bei Verfassungsstreitigkeiten zwischen Kirche und Staat nur die Religionsfreiheit als Maßstab der Zulässigkeit gelten. Bei der Prüfung der Begründetheit wechselt es den Maßstab aus und hält sich an die Kirchenautonomie. Die praktische Bedeutung der Religionsfreiheit tritt insoweit zurück. Das Bundesverfassungsgericht beläßt die dogmatische Beziehung der Garantien zueinander in der Schwebe.205 Beide sind Freiheitsrechte. Daher kann auch die Kirchenautonomie als Grundrecht im materiellen Sinne qualifiziert werden. Die Religionsfreiheit setzt ein bei der Freiheit des Individuums und erweitert sich über Art. 19 Abs. 3 GG zur Freiheit des Verbandes, während die Kirchenautonomie sich von vornherein auf die Religionsgesellschaft als Verband bezieht. In ihrer subjektiven Reichweite ist sie enger zugeschnitten, weiter dagegen in der objektiven. Der Schutzbereich erfaßt nicht nur die eigentliche Religionsausübung, sondern auch deren organisatorische und funktionelle Voraussetzungen; diese aber werden vom Grundrechtstatbestand des Art. 4 GG nicht abgedeckt. Der thematische Überhang der Kirchenautonomie bildet die institutionelle Hülle für das eigentliche, das religiöse Leben der Kirche. „Die Garantie freier Ordnung und Verwaltung der eigenen Angelegenheiten erweist sich … als notwendige, rechtlich selbständige Gewährleistung, die der Freiheit des religiösen Lebens und Wirkens der Kirchen die zur Wahrnehmung ihrer Aufgaben unerläßliche Freiheit der Bestimmung über Organisation, Normsetzung und Verwaltung hinzufügt.“206 b)  Caritas als Gegenstand der Kirchenautonomie Caritas gehört zu den eigenen Angelegenheiten der Kirche und unterliegt damit ihrer Selbstbestimmung gemäß Art. 140 GG i. V. m. Art. 137 Abs. 3 S. 1 WRV. Die staatskirchenrechtliche Freiheitsgarantie bleibt in ihrer gegenständlichen Reichweite nicht zurück hinter der Vermögensgarantie, die sich nicht nur auf Kultuszwecke bezieht, sondern gleicherweise Unterrichts- und Wohltätig205  Vgl. BVerfGE 46, 73 (85). – Zum Verhältnis beider Garantien: Hollerbach, Grundlagen (Anm. 117), Rn. 121 ff.; Depenheuer, Staatl. Finanzierung (Anm. 16), S. 140 ff.; Listl, Glaubensfreiheit (Anm. 63), S. 444 f.; Paul Mikat, Staat, Kirchen und Religionsgemeinschaften, in: Ernst Benda/Werner Maihofer/Hans-Jochen Vogel (Hrsg.), Handbuch des Verfassungsrechts. 2. Aufl., Berlin, New York 1994, § 29, Rn. 7 ff.; Jörg Lücke, Zur Dogmatik der kollektiven Glaubensfreiheit, in: EuGRZ 1995, S. 651 ff. 206  BVerfGE 66, 1 (20).

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keitszwecke abdeckt (Art. 140 GG i. V. m. Art. 138 Abs. 2 WRV). Die Verfassung spiegelt also das Selbstverständnis der Kirche über ihren Auftrag in der Welt. Sie respektiert den Wirkungskreis, wie er sich in der Tradition zweier Jahrtausende entwickelt hat. c)  Institutionelle Selbstbestimmung und geistliches Proprium Der Schutzbereich der Kirchenautonomie umfaßt Spiritualia und Temporalia, so daß es nicht notwendig ist, bei jeder technischen oder administrativen Angelegenheit im karitativen Bereich zu fragen, ob sie in sich auch theologisch zu rechtfertigen und als Religionsausübung ausweisbar sei. Dennoch bleibt der Zusammenhang mit der Religionsausübung wichtig. Die Verfassung gewährleistet den Religionsgesellschaften das qualifizierte Selbstbestimmungsrecht, in dem sie sich von säkularen Verbänden unterscheiden, nicht als Privileg, sondern unter der Prämisse, daß der religiöse Charakter diese Unterscheidung rechtfertigt, und in der (rechtlich nicht sanktionierten) Erwartung, daß sie aufgrund ihres religiösen Charakters dem Gemeinwesen besondere Dienste erbringen.207 Einrichtungen und Wirken der Caritas haben teil an der staatskirchenrechtlichen Freiheitsgewähr, da sie Medien des Glaubenslebens sind. Um ihrer religiösen Relevanz willen werden sie besonders geschützt. Das „Selbstverwaltungsund Selbstbestimmungsrecht umfaßt alle Maßnahmen, die in Verfolgung der vom kirchlichen Grundauftrag her bestimmten diakonischen Aufgaben zu treffen sind, z. B. Vorgaben struktureller Art, die Personalauswahl und die mit all diesen Entscheidungen untrennbar verbundene Vorsorge zur Sicherstellung der ,religiösen Dimension‘ des Wirkens im Sinne kirchlichen Selbstverständnisses.“208 Die Kirchenautonomie dient nicht Selbsterhaltungsinteressen einer Großorganisation, sondern den Lebensbedürfnissen des kirchlich verfaßten Glaubens. Bei religiöser Verödung der karitativen Einrichtungen entfiele der Schutz der religionsbezogenen Freiheitsgarantie. Darin läge kein Widerspruch zur religiösen Neutralität des Verfassungsstaates. Vielmehr zeigte sich hier die Konsequenz des säkularen Prinzips der Rechtsgleichheit. d)  Teilhabe mittelbar kirchlicher Träger an der Kirchenautonomie Das Selbstbestimmungsrecht aus Art. 137 Abs. 3 S. 1 WRV kommt jeder „Religionsgesellschaft“ zu. Prototyp einer solchen ist die Kirche. Rechtssubjekt ist nicht nur deren Gesamtheit, sondern sind auch ihre einzelnen Gliederungen, zu207 Näher

Isensee, Erwartungen (Anm. 46), S. 104 ff. 57, 220 (243). Vgl. auch BVerfGE 53, 366 (399). Zur verfassungsrechtlichen Notwendigkeit der „religiösen Dimension“ Leisner, Kirchl. Krankenhaus (Anm. 21), S. 26 ff. 208  BVerfGE

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mal die Kirchengemeinden. Wenn eine Gemeinde eine diakonische Einrichtung führt, steht sie unter dem Schutz der Kirchenautonomie.209 Doch ein Trägerverband, der sich nur einem einzelnen diakonischen Zweck widmet, etwa ein Krankenhaus betreibt, ist keine Religionsgesellschaft. Der Deutsche Caritasverband als solcher, desgleichen seine Mitgliedsorganisationen sind aus sich heraus nicht Subjekte der Kirchenautonomie, und sie genießen deren Schutz nicht aus eigenem Recht. Vielmehr haben sie an ihm nur teil, weil und soweit sie organisatorisch zur Kirche gehören und der Erfüllung einer kirchlichen Aufgabe dienen. Der Status, der dem Trägerverband aufgrund der Kirchenautonomie zukommt, wird durch die Kirche vermittelt, während der Status der korporativen Religionsfreiheit darauf nicht angewiesen ist; er kann sich ableiten von den einzelnen Mitgliedern. Daß aber mittelbar kirchliche Träger am Schutz der institutionellen Kirchenfreiheit teilhaben, zeigt die Kirchengutsgarantie, die das „Eigentum und andere Rechte der Religionsgesellschaften und religiösen Vereine an ihren für Kultus-, Unterrichts- und Wohltätigkeitszwecke bestimmten Anstalten, Stiftungen und sonstigen Vermögen“ gewährleistet (Art. 140 GG i. V. m. Art. 138 Abs. 2 WRV).210 Trägerverbände, die gegenüber der kirchlichen Zentrale rechtlich eigenständig sind, partizipieren nur dann am Schutz der staatskirchenrechtlichen Garantie, wenn sie im lebendigen Konnex mit der Kirche tätig sind. Dazu sind mehrere Bedingungen zu erfüllen: (1)  Sie müssen in ihrem satzungsmäßigen Zweck und in ihrer Aufgabe dazu bestimmt sein, ein Stück des Auftrags der Kirche wahrzunehmen, im Einklang mit deren Bekenntnis.211 Evident ist die Konkordanz beim kirchlichen Orden, dessen Zweck in der Intensivierung gesamtkirchlicher Aufgaben liegt.212 (2) Rechtlich selbständige Träger bedürfen der Anerkennung durch die „Amtskirche“ und der Verbindung mit ihren Amtsinhabern.213 Das staatliche Verfassungsrecht kann der Kirche nur solche Einrichtungen zurechnen, die sie von sich aus als die ihren akzeptiert. Es achtet ihre Selbstbestimmung und drängt ihr nicht fremde oder dissentierende Organisationen auf. (3)  Der Träger muß mit der amtskirchlichen Organisation, durch Satzung abgesichert, institutionell verbunden sein. Satzungsmäßige Vorkehrungen ergeben sich etwa aus der Definition des Zwecks und der Mitgliedschaft, aus der Zusammensetzung der Leitungsgremien, aus Aufsicht und Genehmigungsvorbehalten 209 

BVerfGE 53, 366 (393 f.) – Krankenhaus einer Kirchengemeinde. Vgl. BVerfGE 46, 73 (86); Depenheuer, Staatl. Finanzierung (Anm. 16), S. 144 ff. 211  BVerfGE 46, 73 (85 ff.); 53, 366 (391 f.). 212  BVerfGE 24, 236 (247); 46, 73 (86 f.); 53, 366 (392). 213  Zum zweiten Kriterium: BVerfGE 46, 73 (87); 53, 366 (392). Dazu Leisner, Kirchl. Krankenhaus (Anm. 21), S. 25 f. 210 

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des Bischofs.214 Dabei kommt es aber nicht auf einzelne rechtliche Kautelen an, sondern auf den nach außen erkennbaren, gelebten Konnex. Die Zuordnung zur Kirche wird nicht in Frage gestellt durch die Mitwirkung von Laien.215 Die Organisationsform des Trägers ist unerheblich. Sie kann auf staatlichem wie auf kirchlichem Recht gründen, dem öffentlichen wie dem Privatrecht angehören.216 e)  Eigene Angelegenheiten der Kirche im karitativen Bereich Der Schutzbereich der Kirchenautonomie deckt den der korporativen Religionsfreiheit ab und erfaßt darüber hinaus die an sich religionsindifferenten, realen Voraussetzungen des karitativen Wirkens in der heutigen Gesellschaft. Dazu gehören Ziele wie Mittel, Dienste für den Hilfsbedürftigen wie Organisation dieser Dienste, output wie input. „Eigene“ Angelegenheiten, die Gegenstand kirchlicher Selbstbestimmung sind, können „äußere“ wie „innere“ sein: Wirken in der Gesellschaft wie kircheninterne Willensbildung. Im einzelnen: aa)  Die Kirche definiert ihre Aufgabe selbst. Sie bestimmt Art, Gegenstand, Umfang und Adressatenkreis ihres karitativen Angebots und befindet darüber, ob sie eine neuartige Agende übernimmt oder sich aus einem bisherigen Tätigkeitsgebiet zurückzieht. Sie kann sich auf eine Offerte des Staates einlassen oder sie ausschlagen, etwa die Offerte, sich an der Schwangerenberatung als Vorschaltverfahren einer möglichen Abtreibung zu beteiligen. Sie sucht die Destinatare ihres Hilfsangebots aus und befindet über den Inhalt ihrer Hilfe, damit auch über die Nutzungsbedingungen eines Kindergartens oder eines Seniorenheims. bb)  Sie führt ihre Aufgaben eigenverantwortlich aus in verfassungsrechtlich gesicherter Distanz zum Staat. Mit der Unabhängigkeit des Wirkens wird auch die Privatheit geschützt. Der räumliche Tätigkeitsbereich wird abgeschirmt gegen staatliche Ingerenz, ebenso die Daten.217 214  Exemplarisch für den eingetragenen Verein „Marien-Hospital Wesel“: BVerfGE 53, 366 (394 f.). Allgemein Leisner, Kirchl. Krankenhaus (Anm. 21), S. 25 f. 215  BVerfGE 53, 366 (392) – im Anschluß an Reinhard Richardi. 216  Vgl. BVerfGE 46, 73 (85 ff.) – rechtsfähige Stiftung nach staatlichem Recht zugleich als Stiftung des katholischen Kirchenrechts; 53, 366 (394 ff.) – eingetragener Verein, GmbH; 57, 220 (242) – Stiftung privaten Rechts; 70, 138 (162 ff.) – kirchliche Stiftung und katholische Ordensgemeinschaft. 217  Der Beschluß eines Amtsgerichts, der die Durchsuchung der Räume einer Suchtkrankenberatungsstelle des Caritasverbandes und die Beschlagnahme von Klientenakten anordnet, wird allerdings vom BVerfG an Art. 13 und Art. 2 Abs. 1 GG gemessen, nicht an Art. 137 Abs. 3 WRV (E 44, 353 [371 ff.]). Darin liegt zwar eine Inkonsequenz. Doch der Rekurs auf Art. 13 GG ist deshalb unentbehrlich, weil das differenzierte Schrankenregime (Richtervorbehalt!) den grundrechtlichen Mindeststandard sichert und durch die Schranke des Art. 137 Abs. 3 WRV nicht unterboten werden darf.

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cc)  Zu den eigenen Angelegenheiten zählt die Organisation: Errichtung, Ausbau und Schließung von Einrichtungen, Bestimmung der Organisationsform nach staatlichem oder nach kirchlichem Recht, innere Verfassung. Sache der Kirche sind die Binnenstrukturen einer karitativen Einrichtung, die Willensbildung des Trägers und seine Anbindung an die Amtskirche. Zu diesen Interna gehört auch eine Mitbestimmung des Personals.218 Sie bestimmt darüber, ob ihre Träger und ihre Einrichtungen einem staatlich organisierten Verband beitreten. dd)  Der Kirche obliegt die Selbstverwaltung ihrer Einrichtungen: Betriebsführung, Beschaffungswesen, Vermögensverwaltung, Finanzierung, Planung. Falls eine kirchliche Einrichtung an der Erfüllung einer (säkularen) öffentlichen Aufgabe mitwirkt, wie das kirchliche Krankenhaus beim Sicherstellungsauftrag im Gesundheitswesen, bleibt das „Procedere“ in Willensbildung und Organisation grundsätzlich eigene Sache der Kirche.219 Ihr steht das Hausrecht in ihren Anstalten zu und die Entscheidung darüber, ob etwa fremde Gewerkschaftssekretäre Zutritt erhalten.220 Zur Selbstbestimmung gehört die Entscheidung, ob ein Krankenhaus sich einem Informationsnetz anschließt.221 ee)  Gegenstand der Kirchenautonomie ist das Personalwesen: Auswahl der Mitarbeiter, Ausbildung222 und Fortbildung, Personalführung, Gestaltung des individuellen und kollektiven Dienstrechts.223 Die Kirche kann ein Dienstrecht entwickeln und die Idee der Dienstgemeinschaft realisieren oder aber sich der Formen des staatlichen Arbeitsrechts bedienen und ihre besonderen Belange im Rahmen des Arbeitsvertrages rechtlich absichern.224 Die „eigenen Angelegenheiten“, die der kirchlichen Selbstbestimmung nach Art. 140 GG i. V. m. Art. 137 Abs. 3 WRV unterliegen, sind nicht schlechthin tabu für das staatliche Recht. Die virtuelle Allzuständigkeit des Staates endet nur 218 

BVerfGE 46, 73 (94 f.); 53, 366 (403). BVerfGE 53, 366 (402); Leisner, Karitas (Anm. 95), S. 480 ff. 220  BVerfGE 57, 220 (243 ff.). Bei staatlichen Eingriffen in die Wohnungsfreiheit darf aber das grundrechtliche Schutzniveau des Art. 13 GG (Richtervorbehalt!) nicht unterschritten werden. S.o. Anm. 217. 221  Leisner, Karitas (Anm. 95), S. 482. Offengelassen in BVerfGE 53, 366 (388 f.). 222  BVerfGE 72, 278 (289 ff.); Isensee, Kirchenautonomie (Anm. 23), S. 48 ff. 223  BVerfGE 46, 74 (94 ff.) – Mitbestimmung im Krankenhaus; 53, 366 (403 f.) – Leitbild christlicher Dienstgemeinschaft; 57, 220 (224 ff.) – Zutritt der Gewerkschaft; 70, 138 (164 ff.) – Loyalitätsobliegenheit kirchlicher Mitarbeiter; 72, 278 (289 ff.) – Berufsausbildung. 224  BVerfGE 70, 138 (164 ff.); Richardi, Arbeitsrecht (Anm. 24), S. 39 ff.; Alexander Hollerbach, Der verfassungsrechtliche Schutz kirchlicher Organisation, in: HStR VI, 1989, § 139, Rn. 41 ff.; v. Mangoldt/Klein/v. Campenhausen, Art. 140 GG/ Art. 137 Abs. 3 WRV, Rn. 74 ff.; Isensee, Kirchl. Loyalität (Anm. 24), S. 203 ff.; Rainer Keßler, Loyalitätspflichten kirchlicher Arbeitnehmer und Kündigungsschutz, in: FS für Wolfgang Gitter. Wiesbaden 1995, S. 461 ff. 219 

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vor dem inneren Bezirk des Religiösen. Im übrigen entzieht sich der karitative Wirkungskreis nicht von vornherein dem Anspruch des für alle geltenden Gesetzes. Die „eigenen Angelegenheiten“ sind also durchweg gemeinsame Angelegenheiten von Staat und Kirche (res mixtae).225 Doch damit scheiden sie nicht aus dem Schutzbereich der Kirchenautonomie aus. Sie sind darum auch nicht weniger schutzwürdig und schutzfähig.226 Nahezu jedes Handeln der Kirche greift über in den gesellschaftlichen Bereich und gerät in mögliche Kollision mit dem staatlichen Recht.227 Eben deshalb kann es auch nicht von vornherein aus dem Schutzbereich des kirchlichen Selbstbestimmungsrechts ausgegrenzt werden. Dieser hat die gleiche Funktion wie jener der Grundrechte: er ist für die Staatsgewalt nicht schlechthin impermeabel, aber er löst für staatliche Beschränkungen den Rechtfertigungszwang aus: sie müssen bestimmten formellen und materiellen Kautelen genügen. f)  Schrankenregime des für alle geltenden Gesetzes aa)  Abstrakte Kriterien Die Beschränkungen ergeben sich aus dem für alle geltenden Gesetz. Der Gesetzesvorbehalt bezieht sich nicht auf den Kern der Kirchenautonomie, der sich deckt mit dem Schutzbereich der (vorbehaltlos gewährleisteten) korporativen Religionsfreiheit, sondern nur auf den Randbereich.228 Nicht jedes geltende Gesetz ist ein „für alle geltendes“ Gesetz. Was dessen Besonderheit ausmacht, hat seit der Weimarer Verfassungsära die verfassungsdogmatische Phantasie zu mancherlei Vorschlägen angeregt.229 Übereinstimmung besteht darin, daß die Beschränkung der kirchlichen Selbstbestimmung nicht Ziel, sondern allenfalls unvermeidbare Folge des Gesetzes sein darf.230 Damit

225 

s. o. B. II. 2. aber Richter Joachim Rottmann, Sondervotum, in: BVerfGE 53, 408 (410 ff.). Kritik: Isensee, Kirchenautonomie (Anm. 23), S. 52 f.; v. Campenhausen, der die wenig glückliche Kategorie der „gemeinsamen Angelegenheiten“ weiter verwendet, stellt fest, daß der soziale und karitative Bereich nicht dazu gehöre (v. Mangoldt/Klein/v. Campenhausen, Art. 140 GG/ Art. 137 Abs. 3 WRV, Rn. 116). 227  BVerfGE 42, 312 (334 f.). Vgl. auch BVerfGE 53, 366 (400). 228  Zu dieser Richtung Leisner, Karitas (Anm. 95), S. 479, 480; Lücke, Zur Dogmatik (Anm. 205), S. 665 ff. 229  Dazu näher mit Nachw.: Werner Weber, „Allgemeines Gesetz“ und „für alle geltendes Gesetz“, in: FS für Ernst Rudolf Huber. Göttingen 1973, S. 181 ff.; v. Mangoldt/Klein/ v. Campenhausen, Art. 140 GG/Art. 137 Abs. 3 WRV, Rn. 123 ff. 230  Dieses entspricht einem Merkmal des „allgemeinen Gesetzes“ im Sinne von Art. 5 Abs. 2 GG (vgl. BVerfGE 7, 198 [209 f.]; 59, 231 [263 f.]). 226  So

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scheiden freilich kirchengünstige Sonderregelungen nicht aus, etwa Befreiungstatbestände im Abgaben- oder Baurecht. Die eigentliche Gefahr für die karitative Betätigung der Kirchen liegt heute jedoch nicht in kirchenfeindlichen Maßnahmen, sondern in kirchenindifferenter Regulierung des Sozialstaates, der dazu neigt, alle gesellschaftlichen Unterschiede niederzulegen und auch kirchliche Besonderheiten einzuebnen.231 Das Freiheitsproblem der Kirche ergibt sich damit weniger aus dem Geltungsanspruch und Geltungsumfang des üblichen Gesetzes, sondern aus seiner praktischen Wirkung. Hier setzt mit Recht die Jedermann-Formel des Bundesverfassungsgerichts an: Für alle geltende Gesetze sind solche, die für die Kirche dieselbe Bedeutung haben wie für den jedermann. „Trifft das Gesetz die Kirche nicht wie den Jedermann, sondern in ihrer Besonderheit als Kirche härter, ihr Selbstverständnis, insbesondere ihren geistig-religiösen Auftrag beschränkend, also anders als den normalen Adressaten, dann bildet es insoweit keine Schranke“.232 Die JedermannFormel wird ergänzt durch das Gebot der Güterabwägung zwischen – dem selbständigen Ordnen und Verwalten der eigenen Angelegenheiten durch die Kirchen und – dem staatlichen Schutz anderer für das Gemeinwesen bedeutsamer Rechtsgüter.233 Das Erfordernis der Güterabwägung entspricht dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, wie er allgemein als Regulativ der Grundrechtsbeschränkungen fungiert. Hier aber hat die Abwägung spezifische Rücksicht zu nehmen auf das zwingende Erfordernis friedlichen Zusammenlebens von Staat und Kirche.234 bb)  Konkrete Kollisionen Dem staatlichen Gesetzgeber bleibt grundsätzlich die Befugnis, die religiös indifferenten Rahmenbedingungen des kirchlichen Handelns festzulegen, etwa die baulichen und hygienischen Anforderungen, die diakonische Anstalten nicht anders betreffen als ihre weltlichen Pendants. Er definiert die öffentlichen Aufgaben, zu deren Dienst sich karitative Träger in Kooperation mit anderen Trägern bereitfinden, etwa den Sicherstellungsauftrag im Gesundheitswesen, und legt die fachlich-technischen Standards fest.235 Doch kann er die Kirche nicht gegen ihren Willen verpflichten, bestimmte soziale Aufgaben zu überneh-

231 

s. o. A. III. und IV., B. V. BVerfGE 42, 312 (334). 233  BVerfGE 53, 366 (400 f.). 234  BVerfGE 53, 366 (400). 235  Leisner, Kirchl. Krankenhaus (Anm. 21), S. 19 ff. 232 

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men.236 Unter keinen Umständen darf er Druck ausüben, Maßnahmen durchzuführen, die sie sittlich verurteilt, etwa Abtreibung und Euthanasie. Auch eine Drohung, im Falle der Weigerung die Förderung zu entziehen, wäre verfassungswidrig. Aus der staatlichen Kompetenz, das Ziel festzulegen, ergibt sich jedoch nicht zwingend die Kompetenz, den Weg vorzuschreiten und das „Procedere“ zu regeln. Gerade soweit das „Was“ der Dienstleistungen durch Sachgesetzlichkeit und staatliches Recht determiniert wird, muß der Diakonie die Freiheit im „Wie“ zukommen und die Möglichkeit offenstehen, Verfahren, Stil und Atmosphäre spezifisch zu prägen. Bloße Nützlichkeits- und Effizienzerwägungen des Staates reichen nicht aus, um die innere Ordnung des Krankenhauses zu regulieren.237 Die innere Willensbildung karitativer Einrichtungen entzieht sich prinzipiell der staatlichen Regulierung. Das gilt an sich für jede grundrechtsfähige Organisation, weil Selbstbestimmung und Identität davon abhängen.238 Kirchliche Einrichtungen vertragen aber um des kirchlichen Propriums willen auch nicht solche Regelungen, die sonstigen Einrichtungen grundrechtlich zumutbar sind, etwa Oktroi von Mitbestimmungsmodellen239 oder von außenstehenden Mitentscheidern in den Berufsbildungsausschüssen.240 Sie brauchen sich auch nicht der Fremdbestimmung durch Gewerkschaften zu unterwerfen und ihrer Propaganda zu öffnen.241 Das äußere Wirken der Caritas ist staatlicher Regulierung eher zugänglich als ihre innere Verfassung, weil sich in ihr das kirchliche Eigenverständnis zur Geltung bringt. Diesem aber ist allgemein dann besonderes Gewicht beizumessen, wenn und soweit es in der Religionsfreiheit wurzelt und dieses (keinem Gesetzesvorbehalt unterliegende) Grundrecht verwirklicht.242 Zu dem besonders eingriffsempfindlichen Innenbereich gehört das Personalwesen. Die Anwendung der regulären Vorschriften des Arbeitsrechts träfe die kirchlichen Träger vielfach in ihrem besonderen Auftrag und damit schärfer als den jedermann.243 So kann der Staat der Kirche nicht zumuten, in Personalfragen 236 

Zum Schutz Privater vor staatlicher Inpflichtnahme für öffentliche Aufgaben Isensee, Gemeinwohl (Anm. 52), Rn. 174 (Nachw.). 237 BVerfGE 53, 366 (402); 72, 278 (294). Vgl. auch Leisner, Karitas (Anm. 95), S. 481 ff. – A. A. Friesenhahn, Kirchl. Wohlfahrtspflege (Anm. 165), S. 265 f. 238 Näher Isensee, Anwendung (Anm. 64), Rn. 14, 57 f., 59 ff. 239  BVerfGE 46, 73 (94 ff.) – Betriebsverfassung für die kirchliche Krankenanstalt. 240  BVerfGE 72, 278 (290 ff.). Dazu Isensee, Kirchenautonomie (Anm. 23), S. 55 ff. 241  Vgl. BVerfGE 57, 220 (244 ff.) – Zugang von Gewerkschaftsvertretern; 72, 278 (293 ff.) – Berufsbildungsausschüsse. 242  BVerfGE 53, 366 (401). 243  s. o. A. IV. 3.

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eine bestimmte Frauenquote einzuhalten, desgleichen nicht, an Mitarbeitern festzuhalten, die Loyalitätsobliegenheiten kraß verletzen, und zwar unabhängig von der Funktion, die sie jeweils wahrnehmen.244 Wohl aber darf und muß er fordern, daß die Arbeitgeberin Caritas den rechtlich gebotenen Mutterschutz und den Behindertenschutz einhält. Gegen die Gebote des staatlichen Rechts könnte die Kirche hier kein Selbstverständnis aktivieren ohne sich rechtlich und auch moralisch zu diskreditieren.245 Der Staat kann der Kirche nicht die Institutionen des kollektiven Arbeitsrechts wie Tarifvertrag, Arbeitskampf und Mitbestimmung aufzwingen.246 Etwaige Kollisionen zwischen dem Selbstbestimmungsrecht der kirchlichen Institutionen und dem Koalitionsgrundrecht ihrer Bediensteten müssen durch Gesetz nach der Maxime des schonendsten Ausgleichs aufgelöst werden.247 Der weitgesteckte Schutz der Kirchenautonomie bedeutet nicht, daß die Kirche die Dinge treiben lassen und daß sich ein Regelungsvakuum bilden darf, wo die Natur der Sache Regelungen erfordert, wie im Arbeitsverhältnis sowie im Austrag und Ausgleich des kollektiven Interessenwiderstreits zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmern. Hier hat die Kirche eigene Lösungen zu entwickeln. Das unternimmt sie mit der Definition von Loyalitätsobliegenheiten und dem Entwurf der Dienstgemeinschaft.248 Versagte sie sich dieser Aufgabe, so füllte notfalls das staatliche Recht die Lücke. Im Außen- wie im Innenbereich des karitativen Wirkens hat der Staat durch das für alle geltende Gesetz den ordre public der Rechts- und Kulturgemeinschaft zu garantieren.249 Da der ordre public weithin vorgeprägt ist durch christliches Herkommen, erkennt auch die Kirche für sich den Auftrag an, ihn zu wahren. Im Grunde stimmen staatliches Recht und kirchliches Ethos hier überein. 244  BVerfGE 70, 138 (165 ff.). Allgemein zur Anwendbarkeit des Individualarbeitsrechts Richardi, Arbeitsrecht (Anm. 24), S. 39 ff.; Keßler, Loyalitätspflichten (Anm. 224), S. 461 ff. 245  So darf sie sich auch nicht vom Mutterschutz freizeichnen, wenn eine Mitarbeiterin ein außereheliches Kind erwartet. Sie würde nicht nur der Mutter, sondern auch dem ungeborenen Kind gegenüber das ethische Minimum verletzen und die von ihr mißbilligte Notlagenindikation einer Abtreibung provozieren. 246  BVerfGE 46, 73 (94 ff.); 72, 278 (288 ff.). Allgemein zur Anwendbarkeit des kollektiven Arbeitsrechts Richardi, Arbeitsrecht (Anm. 24), S. 149 ff.; v. Mangoldt/Klein/ v. Campenhausen, Art. 140 GG I Art. 137 Abs. 3 WRV, Rn. 87 ff. 247  Zum Erfordernis des Gesetzes BVerfGE 57, 220 (247 f.). Allgemein zur Kollision Richardi, Arbeitsrecht (Anm. 24), S. 101 ff. – Allgemein zum Grundrechtsschutz der juristischen Person vor Fremdbestimmung Isensee, Anwendung (Anm. 64), Rn. 73 f. 248 Vgl. BVerfGE 46, 73 (95 f.); 53, 366 (403 f.). Allgemein Richardi, Arbeitsrecht (Anm. 24), S. 41 ff., 54 ff.; v. Mangoldt/Klein/v. Campenhausen, Art. 140 GG I Art. 137 Abs. 3 WRV, Rn. 82 ff. 249  Dazu BVerfGE 70, 138 (168).

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cc)  Exemplarischer Konflikt: „Asylmißbrauch“ Ein exemplarischer Konflikt ist denkbar in der Ausländerbetreuung durch die Caritas. Nach dem Selbstverständnis der Kirche gehört es zu ihrem Auftrag, sich ausländischer Flüchtlinge anzunehmen, ohne zu fragen, ob sie sich legal oder illegal im Inland aufhalten, wenn sie in Not sind. Es ist eigene Angelegenheit der Kirche, auch im Sinne des Art. 137 Abs. 3 WRV, daß sie sich der Not annimmt und daß sie nicht nur für den Lebensbedarf sorgt, sondern auch Rechtsbeistand gegenüber staatlichen Behörden und Gerichten vermittelt. Doch das Einreise- und Aufenthaltsrecht einschließlich des Asylrechts fallen in die ausschließliche Kompetenz des Staates. Diese sind kein Gegenstand für die Selbstbestimmung der Kirche, wenn ihr auch unbenommen ist, ihre Meinung zur Ausländerpolitik zu äußern. Sie verletzt das für alle geltende Gesetz, falls sie über karitative Stellen illegales Einreisen organisiert, mit Rat oder Tat den Mißbrauch von Asylanträgen fördert, die Erschleichung von Aufenthaltstiteln unterstützt oder die Abschiebung vereitelt dadurch, daß sie wechselnde Unterkünfte bereitstellt oder sonst die Behörden irreführt.250 Sollten Mitarbeiter der Caritas die Grenzen legitimer Rechtshilfe überschreiten und als Täter oder Teilnehmer einen Straftatbestand verwirklichen, so könnten sie nicht erwarten, daß ihnen ein karitatives Mandat nach etwaigem kirchlichem Selbstverständnis oder das Motiv der Nächstenliebe einen Rechtfertigungsgrund und damit einen strafrechtlichen Freibrief verschaffte.251 Für alle geltendes Gesetz sind auch die Strafvorschriften, mit denen der Staat das Ausländerrecht sanktioniert. Die Möglichkeit, daß subjektive Nächstenliebe im Einzelfall252 mit dem objektiven, für alle geltenden Gesetz des Rechtsstaates kollidiert, läßt sich nicht von vornherein ausschließen. Wenn die Kirche sich außerhalb ihres Wirkungskreises bewegt, in dem ihr Selbstbestimmung zukommt, kann sie, wie jeder andere auch, von ihrer Meinungsfreiheit Gebrauch machen, aber sie kann nicht die Durchsetzung des staatlichen Rechts vereiteln, tätigen Ungehorsam leisten und so nach ihren Vorstellungen den Geltungsanspruch des für alle geltenden Gesetzes relativieren. Der Verfassungsstaat gäbe sein Fundament der säkularen Allgemeinheit preis, wenn er das Recht seiner Gebietshoheit der Disposition kirchlicher Stellen anheimgäbe und duldete, daß diese das Ergebnis demokratischer und rechtsstaat-

250 Zutreffend Gerhard Robbers, Ausländerarbeit der Caritas zwischen strafrechtlicher Verantwortung und verfassungsrechtlichem Schutz. Unveröff. Gutachten. Typoskript 1995, S. 41. 251 Unsicher Robbers, ebd., S. 41 f. 252  Im Einzelfall mag aber das Argument der Nächstenliebe die politische Ablehnung staatlicher Rechtsvorschriften kaschieren.

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licher Verfahren torpedierten, etwa durch die Anmaßung, ein „Kirchenasyl“ zu prästieren. 3.  Kirchengutsgarantie Die Kirchengutsgarantie gemäß Art. 140 GG i. V. m. Art. 138 Abs. 2 WRV schützt den Kirchen die verfassungsrechtlichen Voraussetzungen der korporativen Religionsfreiheit, und zwar in ihrer karitativen Dimension, wenn sie das Eigentum und andere Rechte an Anstalten, Stiftungen und sonstigen Vermögen gewährleistet, die für Wohltätigkeitszwecke bestimmt sind. Die Literatur hat einige Mühe darauf verwendet, der Kirchengutsgarantie eine besondere Funktion zu attestieren.253 Dennoch läuft sie praktisch leer. Den eigentlichen Vermögensschutz bietet differenzierter und wirksamer die Eigentumsgarantie des Art. 14 GG. Die spezifische kirchliche Widmung (für „Wohltätigkeitszwecke“) wird bereits abgedeckt durch das Selbstbestimmungsrecht nach Art. 137 Abs. 3 WRV. Diese Freiheitsgarantie umfaßt auch das Hausrecht an kirchlichen Anstalten254 und die Verwaltungs- und Verfügungsbefugnis über das Kirchenvermögen, mithin auch die Thematik der kirchlichen Konkursunfähigkeit.255 Die Kirchen und ihre Organisationen sind aufgrund ihrer verfassungsrechtlichen Stellung konkursunfähig, damit befreit von der Umlage für Konkursausfallgeld.256

D.  Grundrechtliche Reibungsflächen I.  Grundrechtliche Koordination zwischen Leistungsdestinataren und Leistungsträgern Den Schutz der Grundrechte genießt nicht nur der karitative Leistungsträger, sondern auch der Destinatar der Leistungen. Auch der Hilfsbedürftige ist Subjekt der Freiheitsrechte, nicht nur Objekt der Hilfe. In der Grenzsituation der Not kann der Grund der Grundrechte sichtbar werden: die Würde des Menschen. Die Annahme oder Nichtannahme des Leistungsangebots gehört zur Allgemeinen Handlungsfreiheit.257 Sofern beim Empfänger religiöse Momente bestimmend sind, aktualisiert sich auch die Religionsfreiheit.

253 Nachw. v. Mangoldt/Klein/v. Campenhausen, Art. 140 GG/ Art. 138 Abs. 2 WRV, Rn. 22 ff.; Karl-Hermann Kästner, Die zweite Eigentumsgarantie im Grundgesetz, in: JuS 1995, S. 784 ff. 254  BVerfGE 57, 220 (243 f.). Zur Wohnungsfreiheit s. aber Anm. 169. 255  BVerfGE 66, 1 (20 ff.). 256  BVerfGE 66, 1 (18 ff.).

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Dem Rechtsstaat obliegt es, in dem Dreieck der Rechtsbeziehungen die grundrechtliche Freiheit des Leistungsdestinatars mit der des Leistungsträgers zu koordinieren.258 Er stellt dafür den rechtlichen Rahmen des bürgerlichen Rechts bereit. Der Ausgleich der Interessen beider Seiten vollzieht sich grundsätzlich auf dem Boden der Privatautonomie unter gleichen rechtlichen Bedingungen durch Vertrag. Der grundrechtlichen Schutzpflicht gegen etwaige Übergriffe des einen auf Rechte des anderen genügt er in der Regel mit den allgemeinen Mitteln des bürgerlichen Deliktrechts, des Strafrechts, des Polizei- und Ordnungsrechts.259 257

Sonderregelungen der Rechtsbeziehungen greifen in die Grundrechte der Beteiligten ein, bedürfen daher des förmlichen Gesetzes als Grundlage und lösen den grundrechtlichen Rechtfertigungszwang aus. Die Intervention zugunsten der einen Seite belastet die andere. Schutzvorkehrungen zugunsten des Hilfesuchenden, des Pflegebedürftigen oder des Heimbewohners (etwa Kontrahierungszwang, Leistungsansprüche, Preisregulierung) müssen sich an den Grundrechten des Trägers messen lassen, zumal an der Kirchenautonomie. Ein legitimes Regelungsinteresse, das sich letztlich auf das soziale Staatsziel zurückführen läßt, besteht darin, die Stellung des Leistungsempfängers rechtlich abzusichern oder zu stärken. Eine solche Korrektur ist dann angebracht, wenn der Leistungsträger praktisch ein so starkes Übergewicht einzusetzen vermag, daß er die Bedingungen diktieren könnte.260 Doch darf eine solche strukturelle Unterlegenheit nicht generell und nicht pauschal bei jedwedem Hilfesuchenden und für den ganzen karitativen Bereich unterstellt werden.261 Grundrechtskollisionen können sich ergeben, wenn ein Privater, der einen gesetzlichen Anspruch auf Hilfe hat (auf Sozialhilfe, auf einen Kindergartenplatz), unter Berufung auf seine (negative) Religionsfreiheit sich weigert, die Leistung eines kirchlichen Trägers entgegenzunehmen, jedoch kein anderer Träger be257  Zum grundrechtlichen Status des Hilfsbedürftigen und seines Wahlrechts: Zacher, Freiheit und Gleichheit (Anm. 81), S. 85 ff.; Wegener, Staat und Verbände (Anm. 10), S. 189 ff.; Neumann, Freiheitsgefährdung (Anm. 57), S. 50 ff. 258  Zur Dreier-Beziehung in der freien Wohlfahrtspflege Neumann, Freiheitsgefährdung (Anm. 57), S. 3, 49 ff. 259  Zur Schutzpflicht allgemein: Josef Isensee, Das Grundrecht als Abwehrrecht und als staatliche Schutzpflicht, in: HStR V, 1992, § 111, Rn. 93 ff. 260  Dazu BVerfGE 81, 242 (255); 89, 214 (232) – freilich unter der falschen Annahme, daß hier der Richter von sich aus das Vertragsrecht korrigieren könne. Vergleichbare Tendenzen für die karitative Betätigung: H. Weber, Grundrechtsbindung (Anm. 65), S. 411; Stolleis, Sozialstaat (Anm. 65), S. 403; Rinken, Karitative Betätigung (Anm. 57), S. 377. 261  Grund für sozialstaatliche Intervention bietet im Alten-, Pflege- und Behindertenheim das (auf privatrechtlichen Vertrag gegründete) Verhältnis zwischen Träger und Bewohner. Das Heimgesetz trifft Vorkehrungen zum Schutz des letzteren (dazu Neumann, Freiheitsgefährdung [Anm. 57], S. 202 ff.). Allgemein zur „sozialen Macht“ der Diakonie s.o. B. IV. 3.

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reitsteht, zu dem er ausweichen könnte. Dem Rechtsstaat obliegt es, die widerstrebenden grundrechtlichen Belange der negativen und der positiven Religionsfreiheit zum Ausgleich zu bringen. Der Appell an allseitige Toleranz mag die praktische Lösung bewirken, kann jedoch die rechtliche nicht herbeiführen. Toleranz ist eine Tugend, und Tugend vermag der Staat nicht zu erzwingen. Er kann dem kirchlichen Träger nicht gesetzlich befehlen, sein religiöses Engagement aus Rücksicht auf die (grundrechtlich geschützte) Empfindlichkeit des Benutzers zurückzunehmen.262 Im Grenzfall muß eine zumutbare Ausweichmöglichkeit eröffnet werden dadurch, daß überörtliche Mobilität ermöglicht oder daß eine konkurrierende Einrichtung (unter Umständen eine „religionsneutrale“ öffentliche) geschaffen und so die Voraussetzung der Wahlfreiheit hergestellt wird. Das (in der Praxis häufig überstrapazierte) Argument der religiösen Neutralität als Interventionstitel des Staates verliert in dem Maße an Gewicht, in dem Pluralität der Leistungserbringer gedeiht.263 Soweit der Staat freie Träger in sein eigenes Leistungsprogramm einbezieht (§ 10 Abs. 5 S. 1 BSHG, § 76 SGB VIII), bleibt er der Pflichtadressat und der Garant der Grundrechte. Er hat dafür einzustehen, daß die Rechte des Hilfesuchenden gewahrt und verwirklicht werden. In den Sonderfällen, in denen freie Träger mit Staatsfunktionen beliehen werden, sind sie allerdings selber grundrechtsgebunden und verpflichtet, die Grundrechte ihrer Destinatare zu beachten.264

II.  Grundrechtlicher Schutz der freien Träger vor staatlicher Konkurrenz – Subsidiaritätsprinzip 1.  Thema des Subsidiaritätsprinzips Das Verhältnis der freien zu den öffentlichen Trägern wird seit Jahrzehnten kontrovers diskutiert unter dem Stichwort „Subsidiaritätsprinzip“, dem Grundsatz, daß bei konkurrierender Zuständigkeit der unteren Ebene der Handlungsvorrang vor der höheren zukommt.265 Da Staat und Gesellschaft in der sozialen Sicherheit, im Gesundheits- und Bildungswesen gemeinsame öffentliche Aufgaben zu erfüllen haben,266 stellen sich die gesellschaftlichen Aktivitäten als die untere Ebene dar gegenüber den staatlichen Veranstaltungen. Nach dem Subsi262 

BVerfGE 22, 181 (209). Isensee, Subsidiaritätsprinzip (Anm. 61), S. 292 ff. Vgl. auch Wegener, Staat und Verbände (Anm. 10), S. 208 ff., 216 ff. 264  B. IV. 2. 265  Zu Inhalt, Sinn und Normstruktur des Subsidiaritätsprinzips: Isensee, Subsidiaritätsprinzip (Anm. 61), S. 14 ff., 264 ff., 313 ff.; ders., Gemeinwohl (Anm. 52), Rn. 165 ff. (Nachw.). 266  s. o. B. II. 2. 263 

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diaritätsprinzip genießen die freien Träger also den Vorrang in der Wahrnehmung ihrer Aufgaben. Das gilt für alle freien Träger, die sich auf Grundrechte stützen können, für kirchliche wie nichtkirchliche, für freigemeinnützige wie (erwerbswirtschaftlich ausgerichtete) private Träger. Die öffentliche Hand darf unter dieser Prämisse nur dann eigene Leistungsangebote machen, wenn die freien Anbieter der Aufgabe nicht genügen, sei es, daß sie den Erfordernissen des Gemeinwohls nicht gerecht werden, sei es, daß sie überhaupt nicht tätig werden. In der Diskussion, ob das Subsidiaritätsprinzip als Rechtsgebot anwendbar ist, geht es praktisch darum, ob die strukturell wie finanziell überlegene öffentliche Hand auf rechtliche Schranken stößt, wenn sie mit freien Trägern konkurriert, oder ob sie diese nach Belieben verdrängen darf. Der rechtliche Grundsatzstreit ist mit mancherlei Ressentiments (auch konfessionell getönten) belastet.267 Das Bundessozialhilfegesetz macht sich wesentliche Momente des Subsidiaritätsprinzips zu eigen, wenn es anordnet, daß – die Träger der Sozialhilfe in der Zusammenarbeit mit den Kirchen und Religionsgesellschaften des öffentlichen Rechts sowie den Verbänden der freien Wohlfahrtspflege deren Selbständigkeit in Zielsetzung und Durchführung ihrer Aufgaben achten sollen (§ 10 Abs. 2); – beide Seiten in ihrer Zusammenarbeit einander wirksam ergänzen (§ 10 Abs. 3 S. 1); – die Träger der Sozialhilfe die Verbände der freien Wohlfahrtspflege angemessen unterstützen sollen (§ 10 Abs. 3 S. 2); – die Träger der Sozialhilfe von eigenen Maßnahmen absehen sollen, wenn persönliche Hilfe oder Sachleistung im Einzelfall durch die freie Wohlfahrtspflege gewährleistet wird (§ 10 Abs. 4). Ähnliche Bestimmungen gelten für die Jugendhilfe (§§ 3, 4 SGB VIII). Die Subsidiarität ist hier markanter ausgeprägt. „Soweit geeignete Einrichtungen, Dienste und Veranstaltungen von anerkannten Trägern der freien Jugendhilfe betrieben werden oder rechtzeitig geschaffen werden können, soll die öffentliche Jugendhilfe von eigenen Maßnahmen absehen“ (§ 4 Abs. 2 SGB VIII). Vergleichbare Regelungen, die das Subsidiaritätsprinzip zumindest ansatzweise umsetzen, enthalten das Recht der Gesetzlichen Krankenversicherung (§ 2 Abs. 3 SGB V), der Pflegeversicherung (§ 11 Abs. 2 SGB XI) und der Krankenhausfinanzierung (§ 1 Abs. 2 KHG).268 267  Aus der Diskussion mit weiteren Nachw.: Zacher, Freiheit und Gleichheit (Anm. 81), S. 72 ff.; Wegener, Staat und Verbände (Anm. 10), S. 134 ff.; Burkhard Kämper, Kindergärten in kirchlicher Trägerschaft. Berlin 1991, S. 66 ff.; Neumann, Freiheitsgefährdung (Anm. 57), S. 1, 41, 46 f. 268  Die Vorschriften des BSHG und des JWG (heute: SGB VIII) werden von Joseph H. Kaiser als Konkretisierung des Subsidiaritätsprinzips gedeutet (Verfassung der öff.

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Die Konkurrenzschutzregelungen haben die verfassungsrechtliche Prüfung durch das Bundesverfassungsgericht bestanden. Das Gericht sieht den Sinn der Regelungen vornehmlich in einer vernünftigen Aufgabenverteilung zwischen Gemeinden und freien Trägern und darin, eine möglichst wirtschaftliche Verwendung der zur Verfügung stehenden öffentlichen und privaten Mittel sicherzustellen. Die Gemeinden sollten sich bei allen Planungen vorher vergewissern, ob und inwieweit die freien Verbände die Aufgaben erfüllen können. Diese aber brauchten nicht mit öffentlicher Förderung rechnen, wenn sie ihrerseits am Bedarf vorbei planten oder bestehende Einrichtungen der Gemeinden ausreichten. Soweit geeignete Einrichtungen der öffentlichen Hand zur Verfügung stünden, könnten die freien Träger nicht deren Schließung verlangen, um eigene aufzubauen.269 Das Gericht hält die Vorrangregelungen für vereinbar mit der Religionsfreiheit und mit dem Elternrecht, weil der Hilfesuchende eine Inanspruchnahme des freien Trägers ablehnen könne und seinen Wünschen auch in konfessioneller Hinsicht entsprochen werden solle.270 2.  Grundrechte als Schutz vor staatlicher Konkurrenz Verfassungsrechtlich entscheidend ist der Umstand, daß kirchliche wie sonstige freie Träger den Schutz der Grundrechte genießen, nicht dagegen die staatlichen (einschließlich der kommunalen) Träger, die grundrechtsverpflichtet sind, nicht grundrechtsberechtigt.271 Für die freien Träger ist die Betätigung Ausübung grundrechtlicher Freiheit, die keiner Rechtfertigung bedarf. Das gilt auch für die karitative Betätigung der Kirche im Rahmen ihres Selbstbestimmungsrechts. Die öffentliche Gewalt steht dagegen unter Rechtfertigungszwang, soweit ihre Aktivitäten die Entfaltungsmöglichkeiten der Grundrechtsträger verkürzen. Konkurrierende Staatstätigkeit beschränkt die virtuelle Freiheit des Privaten, die der Schutzbereich umschreibt und ist damit nach heutigem Verständnis ein faktischer Grundrechtseingriff.272 Dieser muß den Kriterien des Übermaßverbotes genüWohlfahrtspflege [Anm. 81], S. 241 [252 f.]). Als Ausdruck des Prinzips wird auch der gesetzliche Auftrag, die Vielfalt der Krankenhausträger zu wahren (§ 1 Abs. 2 KHG), verstanden (Graf Pestalozza, Rechtsfragen [Anm. 137], S. 82 f.). 269  BVerfGE 22, 181 (201, 206). 270  BVerfGE 22, 181 (209). 271  Depenheuer, Staatl. Finanzierung (Anm. 16), S. 100 ff. 272  Zum erweiterten Verständnis des Grundrechtseingriffs, zumal des faktischen Eingriffs: Hans-Ullrich Gallwas, Faktische Beeinträchtigungen im Bereich der Grundrechte. Berlin 1970, S. 94 ff.; Isensee, Abwehrrecht (Anm. 259), Rn. 61 ff.; Rolf Eckhoff, Der Grundrechtseingriff. Köln u. a. 1992, S. 236 ff., 252 ff., 277 ff. Zum Eingriff durch Konkurrenz Isensee, Subsidiaritätsprinzip (Anm. 61), S. 286 ff.; ders., Gemeinwohl (Anm. 52), Rn. 169. Zum Schutz karitativer Einrichtungen vor Verdrängung durch staatliche und kommunale Konkurrenz: Hollerbach, Freiheit (Anm. 140), Rn. 22; v. Mangoldt/Klein/

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gen.273 Die Feststellung einer öffentlichen Aufgabe sozialstaatlicher Observanz läßt nicht ohne weiteres den Schluß auf die Zulässigkeit des Eingriffs durch Konkurrenz zu. Denn das soziale Staatsziel begründet gerade kein Staatsmonopol sozialer Dienste.274 Vielmehr ist im grundrechtsfundierten sozialen Rechtsstaat die dezentrale Aufgabenerfüllung die Regel. Die öffentliche Hand muß sich daher dafür rechtfertigen, daß in der gegebenen Lage nur sie die öffentliche Aufgabe zu erfüllen oder jedenfalls besser zu erfüllen imstande sei. Der Rechtfertigungszwang intensiviert sich, wenn eine Kollision mit der Kirchenautonomie oder gar der korporativen Religionsfreiheit droht. 3.  Keine grundrechtsrelevante Sonderstellung der Kommunen Das grundrechtliche Verteilungsprinzip, das die Freiheit des Privaten der Bindung des Staates gegenüberstellt, wird nicht durchbrochen durch die verfassungsrechtliche Garantie der kommunalen Selbstverwaltung (Art. 28 Abs. 2 GG). Die kommunalen Gebietskörperschaften stehen im Koordinatensystem der Verfassung auf der Seite des Staates. Selbstverwaltung ist hier mittelbare Staatsverwaltung, folglich grundrechtsgebunden, nicht grundrechtsberechtigt, dagegen angewiesen auf demokratische Legitimation.275 Die institutionelle Garantie des Art. 28 Abs. 2 GG schützt den Kernbereich der kommunalen Selbstverwaltung gegenüber Ingerenzen der unmittelbaren Staatsgewalt. Doch richtet sie sich nicht gegen Private. Wenn das Grundgesetz den Gemeinden die Angelegenheiten der

v. Campenhausen, Art. 140 GG/ Art. 137 Abs. 3 WRV, Rn. 41. Allgemein zum „Eingriff durch Konkurrenz“ Rupert Scholz, Öffentliche und Privatversicherung unter der grundgesetzliehen Wirtschafts- und Sozialverfassung, in: FS für Karl Sieg. Karlsruhe 1976, S. 507 (515 ff.); Peter-Michael Huber, Konkurrenzschutz im Verwaltungsrecht. Tübingen 1991, S. 74 f., 316 ff. (Nachw.). 273  Dagegen gilt der Vorbehalt des Gesetzes in der Regel nicht für faktische Eingriffe. 274 BVerfGE 22, 181 (204). Verfassungsrechtlichen Schutz kirchlicher Träger vor Verdrängung durch staatliche und kommunale Konkurrenz bejahen Hollerbach, Freiheit (Anm. 140), Rn. 22, und v. Mangoldt/Klein/v. Campenhausen, Art. 140 GG/ Art. 137 Abs. 3 WRV, Rn. 11. Auf einer anderen Ebene als das hier behandelte Verhältnis zwischen Staat und freigemeinnützigen Trägern liegt deren nicht mehr mit dem Subsidiaritätsprinzip zu begründender Vorrang nach § 10 BSHG vor den privaten Trägern. Dazu näher: Neumann, Freiheitsgefährdung (Anm. 57), S. 184 ff. 275  Grundlegend BVerfGE 83, 37 (53 ff.), 60 (76 ff.). Die klassische Deutung der Gemeinde als Glied und als Geschöpf des Staates: Hans Peters, Grenzen der kommunalen Selbstverwaltung in Preußen. Berlin 1926, S. 22 ff., 55. – Zum staatlichen Charakter der kommunalen Aufgaben: Rolf Grawert, Gemeinden und Kreise vor den öffentlichen Aufgaben der Gegenwart, in: VVDStRL 36 {1978), S. 277 (278 ff.); Joachim Burmeister, Verfassungstheoretische Neukonzeption der kommunalen Selbstverwaltungsgarantie. München 1977, S. 97 ff.

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örtlichen Gemeinschaft vorbehält, so begründet es damit keine Staatsaufgaben, sondern setzt sie als gegeben voraus. Hier liegt vielmehr eine Kompetenzregelung vor. Entschließt sich der Staat dazu, bestimmte Aufgaben wahrzunehmen, so kommen diese, soweit sie örtlichen Charakter haben, der Gemeinde zu. Die institutionelle Garantie des Art. 28 Abs. 2 GG enthält keine Ermächtigung für Gemeinden, in Grundrechte freier Träger einzugreifen und sie aus dem örtlichen Raum zu verdrängen. Die gesetzlichen Vorkehrungen zugunsten der freien Jugend- und Sozialhilfe lassen, wie das Bundesverfassungsgericht treffend feststellt, den Kernbereich der Selbstverwaltung „unangetastet“. Die Gemeinden können aus der Verfassungsgarantie ihrer Selbstverwaltung nicht den Satz ableiten, sie brauchten keinerlei gesetzliche Beschränkung ihres Aufgabenkreises zugunsten der Tätigkeit der freien Jugendhilfe und der Wohlfahrtsverbände hinzunehmen.276 4.  Grundrechtlicher Rechtfertigungszwang für öffentliche Leistungskonkurrenz Der Staat steht nicht nur unter grundrechtlichem Rechtfertigungszwang, wenn er den freien Trägern hoheitlich begegnet und gesetzliche wie behördliche Befehlsgewalt einsetzt, sondern auch wenn er, in welcher rechtlichen Form auch immer, zu ihnen in Wettbewerb tritt. Gegen die öffentliche Konkurrenz aktualisieren sich die grundrechtlichen Abwehrrechte der freien Träger. Der Eingriff durch Konkurrenz läßt sich nur rechtfertigen, wenn er sich auf einen legitimen öffentlichen Zweck stützt und zu dessen Erreichung geeignet, erforderlich und angemessen ist. Wo ein privates Monopol besteht, kann die öffentliche Hand eine eigene Einrichtung unter Umständen damit rechtfertigen, daß das Leistungsangebot vergrößert und ein Wahlrecht der Destinatare ermöglicht werden soll. Der Grund kann sich aktualisieren, wenn die einzige Einrichtung im Ort, etwa der Kindergarten, in kirchlicher Hand ist, und die Gemeinde, um religiöse Konflikte zu vermeiden, einen religionsneutralen Kindergarten errichtet. Im konkreten Fall muß jedoch berücksichtigt werden, daß die „religiöse Neutralität“ angesichts der schwindenden Amtsdisziplin der Staatsbediensteten zuweilen nur eine juristische Argumentationsattrappe abgibt, wie auf der anderen Seite zuweilen die konfessionelle Identität der karitativen Einrichtung angesichts der schwindenden Kirchenbindung.

276 

BVerfGE 22, 180 (205). Vgl. auch Isensee, Subsidiaritätsprinzip (Anm. 61), S. 241 ff.

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Die Grundrechte, einschließlich der Kirchenautonomie, setzen das Subsidiaritätsprinzip sachdifferenziert um.277 In der Grundrechtsjudikatur des Bundesverfassungsgerichts hat sich das Prinzip der Sache nach durchgesetzt.278 Damit aber ist die langwierige Grundsatzdebatte geräuschlos an ihr rechtspraktisches Ziel gelangt, ohne daß alle ihre Teilnehmer es gemerkt hätten. Aus den Grundrechten ergibt sich die institutionelle Garantie der Vielfalt der Leistungsträger.279 Diese bildet die Voraussetzung für die Wahlfreiheit der Leistungsbedürftigen. Die dezentrale Erfüllung der gemeinwohlpflichtigen Aufgaben schafft im Ergebnis freiheitssichernde soziale Gewaltenteilung.

III.  Staatliche Finanzierung Die Freiheitsrechte, auf die sich die Kirche in ihrer karitativen Betätigung stützt, sind als Abwehrrechte konzipiert, nicht als Leistungsansprüche. Sie gewährleisten einen status negativus gegenüber staatlichen Eingriffen, nicht jedoch auch einen status positivus auf Teilhabe an staatlicher Finanzierung. Wenn der Staat aber Finanzleistungen erbringt, hat er den Gleichheitsgrundrechten Genüge zu tun.280 Innerhalb der kirchlichen Träger wird der Gleichheitssatz überlagert durch das Prinzip der Parität.281 Wenn ein Träger dem Gleichheitssatz zuwider gefördert wird, kann der nicht geförderte Konkurrent verlangen, daß die Förderung unterlassen oder auf ihn selber ausgeweitet wird. Das abwehrrechtliche Konzept der Grundrechte beruht auf der Voraussetzung, daß der Grundrechtsträger in der Regel seine Leistungen über den Markt finan277 Subtile Anwendung des Subsidiaritätsprinzips im grundrechtliehen Kontext: BVerfGE 38, 281 (298 ff.) – Arbeitnehmerkammer. – Dagegen bejaht das BVerfG keinen entsprechenden Schutz der privaten Fachhochschule vor staatlicher Konkurrenz (BVerfGE 37, 314 [319]). Im Bereich des Art. 7 GG dominiert die Staatshochschule. 278  Das konstatiert Richter Joachim Rottmann mit Recht in seinem Sondervotum, in dem er (an sich zu Unrecht) die Auslegung der Kirchenautonomie tadelt (BVerfGE 53, 408 [414]). 279 Vgl. Depenheuer, Staatl. Finanzierung (Anm. 16), S. 162 ff. 280 Zum Konkurrentenschutz durch den Gleichheitssatz Neumann, Freiheitsgefährdung (Anm. 57), S. 361 ff. Zum Subventionsanspruch aus dem Gleichheitssatz oder dem Gebot des Vertrauensschutzes Rüdiger Breuer, Grundrechte als Anspruchsnormen, in: Verwaltungsrecht zwischen Freiheit, Teilhabe und Bindung. Festg. aus Anlaß des 25jährigen Bestehens des Bundesverwaltungsgerichts. München 1978, S. 89 (100 ff.). Zur Differenzierung zwischen „armen“ und „reichen“ Trägern Kämper, Kindergärten (Anm. 267), S. 166 ff.; Neumann, S. 365 ff. Allgemein zum Konkurrenzschutz als Gleichheitsproblem Huber, Konkurrenzschutz (Anm. 272), S. 507 f. (Nachw.). 281  Dazu eingehend Martin Heckel, Die religionsrechtliche Parität, in: HdbStKirchR 2I, S. 589 ff. – Kritisch zu dem Ansatz des BVerwG, freigemeinnützigen Trägern aufgrund § 10 BSHG eine Vorzugsstellung vor gewinnorientierten Trägern bei der Vergabe von Zuschüssen zu attestieren: Neumann, Freiheitsgefährdung (Anm. 57), S. 364.

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ziert. Doch im Sozial- und Gesundheitswesen ist die Marktbalance von Angebot und Nachfrage weithin gestört, wenn nicht außer Kraft gesetzt. So erhebt sich die Frage, ob das liberale Grundrechtsmodell nicht korrigiert werden muß und der Staat gehalten ist, die freien Träger zu fördern und damit in den Stand zu setzen, ihre Aufgabe wahrzunehmen. Im Schrifttum wird die These vertreten, der Staat müsse die freien Einrichtungen finanziell fördern, die ihn unter Einsatz eigener Mittel von solchen öffentlichen Aufgaben entlasteten, die er sonst selbst erfüllen und finanzieren müßte. Er müsse sie so mit Mitteln ausstatten, daß sie den Standard erreichen könnten, den er bei Einrichtungen in eigener Regie verwirkliche.282 Der Gedanke wird jedenfalls im Ansatz akzeptiert durch die Verfassung des Freistaates Sachsen. Sie räumt den Kirchen und Religionsgemeinschaften sowie vergleichbaren freien Trägern einen Anspruch ein auf angemessene Kostenerstattung nach Maßgabe der Gesetze, falls sie im öffentlichen Interesse liegende gemeinnützige Einrichtungen oder Anstalten unterhalten (Art. 110 SächsVerf.). Doch bundesweit besteht eine solche Rechtspflicht nicht. Das freiwillige und selbstlose Engagement für eine öffentliche Aufgabe reicht nicht aus, um einen Anspruch auf Finanzierung zu begründen und den Staat zum finanziellen Ausgleich für Leistungen zu zwingen, um die er nicht nachgesucht hat. Wenn er deswegen keine Zuwendungen von Rechts wegen erbringen muß, so kann er es doch aus freien Stücken tun und sich vor dem Gleichheitssatz rechtfertigen, soweit er abgilt, was Private im freiwilligen Dienst für das Gemeinwohl leisten. Der Staatsentlastungseffekt vermag, auch Steuerverschonungen zu begründen, wie sie für gemeinnützige und mildtätige Körperschaften vorgesehen sind.283 Die Grundrechte schützen in ihrer klassischen Abwehrfunktion die Chance der freien Träger, für ihre Leistungen auf dem Markt kostendeckende Entgelte zu erzielen. Der Staat kann ihnen nur solche Auflagen machen, die sie über ihre Entgelte abwälzen können. Der Umstand, daß die Kirche ihre karitativen Leistungen zum Teil aus eigenen Mitteln finanziert, zumal aus Kirchensteuerund Spendenaufkommen,284 gibt dem Staat keinen Freibrief dafür, insoweit die Kirche für seine Aufgaben zu belasten. Wenn er ihr die Möglichkeit der Kosten282 So Friesenhahn, Kirchl. Wohlfahrtspflege (Anm. 165), S. 253 f. Hollerbach bejaht einen „Anspruch dem Grunde nach“ auf Beteiligung an sozialstaatlichen Leistungen (Freiheit [Anm. 140], Rn. 22). 283  Zur Legitimation der Steuervergünstigungen: Gutachten der Unabhängigen Sachverständigenkommission zur Prüfung des Gemeinnützigkeits- und Spendenrechts (hrsg. vom Bundesministerium der Finanzen). Bonn 1988, S. 101 ff., 344. Vgl. auch Isensee, Bürgersinn (Anm. 86), S. 33 (47 ff.). Mehrere Landesverfassungen erkennen die karitativen Einrichtungen als gemeinnützig an (Art. 63 BremVerf.; Art. 40 SaarVerf.; Art. 41 ThürVerf.; Art. 32 Abs. 3 Sachs.Anh. Verf.). s. u. E. I. 2. 284  s. o. bei Anm. 14.

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deckung im Kindergarten oder im Krankenhaus durch rechtliche Anordnungen mindert oder entzieht, so greift er in ihre Grundrechte ein, gleich, ob sie nach ihrem Selbstverständnis überhaupt gewillt ist, die Möglichkeit zu nutzen oder nicht. Der Grundrechtseingriff kann, wenn überhaupt, nur gerechtfertigt werden, wenn der Staat den angemessenen finanziellen Ausgleich bereitstellt. Die Ausgleichspflicht findet eine gewisse Analogie in der staatlichen Förderung der privaten Ersatzschulen, die besondere, von Verfassungs wegen bestehende soziale Auflagen (Art. 7 Abs. 4 S. 3 und 4 GG) kompensiert.285 Das duale System der Krankenhausfinanzierung, das den Trägern die Deckung der Investitionskosten über die Pflegesätze vorenthält, gleicht das oktroyierte Defizit nicht in angemessener Weise aus und ist deshalb unvereinbar mit den Grundrechten aus Art. 12 und 14 GG sowie mit den staatskirchenrechtlichen Garantien aus Art. 140 GG i. V. m. Art. 137 Abs. 3 S. 1 und Art. 138 Abs. 2 WRV.286 Wenn der Staat nach seinem Ermessen karitative Agenden der Kirche fördert, kann er, um die zweckentsprechende Verwendung der Mittel zu gewährleisten, Auflagen vorsehen. Doch diese müssen den rechtsstaatlichen Kautelen von Nebenbestimmungen genügen, vor allem dem Kopplungsverbot (§ 48 VwVfG). Der Staat darf die Vergabe von Subventionen nicht dazu mißbrauchen, um weitere Ziele (mögen sie in sich auch legitim sein) durchzusetzen und die geförderte Einrichtung einem Regime staatlicher Lenkungsmaßnahmen zu unterwerfen.287 Die Kirche tauscht ihr grundrechtliches Erstgeburtsrecht nicht ein gegen ein finanzielles Linsengericht. Daher müssen die Nebenbestimmungen, die mit Zuwendungen verknüpft sind, sich an den Grundrechten, insbesondere an der Kirchenautonomie, messen lassen.288 Diese verfassungsrechtlichen Maßstäbe setzen auch der Kompetenz des staatlichen Rechnungshofs und der Ausübung seiner Befugnisse Grenzen.289 285  Vgl. BVerfGE 75, 40 (61 ff.); BVerwGE 23, 347 (348 ff.); 27, 360 (361 ff.); 79, 154 (158) – st. Rspr. Dazu Breuer, Grundrechte (Anm. 280), S. 98 ff.; Denninger, Staatl. Hilfe (Anm. 78), Rn. 44 f. 286  s. o. C. I. 1. b). 287 Näher Michael Stolleis, Behindertenwerkstätten zwischen freier Wohlfahrtspflege und staatlicher Arbeitsverwaltung. Stuttgart, Freiburg i. Br. 1980, S. 19 ff.; Leisner, Lenkungsauflage (Anm. 134), S. 13 ff., 26 ff. 288  Stolleis, Behindertenwerkstätten (Anm. 287), S. 27 ff.; Leisner, Lenkungsauflage (Anm. 134), S. 76 ff. Vgl. auch Friesenhahn, Kirchl. Wohlfahrtspflege (Anm. 165), S. 259 f. 289 Exemplarisch ist das verfassungsrechtliche Problem der staatlichen Rechnungsprüfung karitativer Einrichtungen. Dazu Walter Leisner, Staatliche Rechnungsprüfung kirchlicher Einrichtungen unter besonderer Berücksichtigung der karitativen Tätigkeit, Berlin 1991; Jost Delbrück, Gutachten zu den Prüfungsrechten des Landesrechnungshofes Schleswig-Holstein gegenüber den Freien Wohlfahrtsverbänden. Kiel 1993, S. 37 ff. Anschauungsmaterial des Konflikts lieferten die Bemerkungen des Landesrechnungshofs

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IV.  Grundrechtsausübung in Kooperation mit dem Staat Wenn die Kirche sich in der Wohlfahrtspflege auf eine Kooperation mit dem Staat einläßt, verzichtet sie nicht auf ihre Freiheitsrechte.290 Vielmehr übt sie durch Kooperation ihre Freiheit aus.291 Grundrechtliche Freiheit braucht nicht zu Vereinzelung und nicht zu splendid isolation gegenüber dem Staat zu führen. Selbstbestimmung schließt die Fähigkeit zur Selbstbindung ein. Die Kirche kann die Verständigung mit dem Staat suchen und mit ihm im Interesse aller zusammenarbeiten, ohne daß ihre grundrechtliche Eigenständigkeit verlorengeht. Die Feststellung ist nicht selbstverständlich. Die Notwendigkeit des Grundrechtsschutzes tritt deutlicher hervor in der Subordinationsbeziehung als in der Koordination, deutlicher in der rechtsstaatlichen Distanz als in der sozialstaatlichen Nähe. In ihrer Euphorie, im kooperativen Staat eine „moderne“ Alternative zum hergebrachten Hoheitsstaat entdeckt zu haben, neigen die Verfassungstheoretiker dazu, das grundrechtliche Kind mit dem obrigkeitlichen Bade auszuschütten und die verfassungsrechtlichen Distinktionen durch evasorische Konkordanz- und Integrationsvokabeln zu ersetzen.292 Die „partnerschaftlichen“ Beziehungen zwischen Staat und Kirche erzeugen neuartige, verfassungsrechtliche Schwierigkeiten, die bisher noch nicht gelöst sind. Der grundrechtliche Status bedeutet jedoch nicht, daß die Kirche jederzeit eine vereinbarte Zusammenarbeit aufkündigen oder einzelne Verpflichtungen, die lästig werden, nach Belieben abstreifen könnte. Sie muß sich an den Pflichten, die sie unter den Bedingungen grundrechtlicher Freiheit übernommen hat, rechtlich festhalten lassen, als Konsequenz der Selbstbindung. Voraussetzung ist allerdings, daß die Kooperation auch freiwillig unter fairen Bedingungen zustande gekommen ist.293 Der Satz „coactus tamen voluit“ hat im sozialen Rechtsstaat seine herkömmliche Unbedingtheit verloren.

Schleswig-Holstein (Nachtrag zu den Bemerkungen 1994 v. 27. Juni 1994, S. 30 ff.). Vgl. auch Neumann, Freiheitsgefährdung (Anm. 57), S. 422 ff. – zu Kostennachweis- und Prüfpflicht. 290  Zum Grundrechtsverzicht des freien Trägers des Plankrankenhauses Depenheuer, Staatl. Finanzierung (Anm. 16), S. 190 ff. Vgl. auch Neumann, Freiheitsgefährdung (Anm. 57), S. 417 ff. – Allgemein: Christian Hillgruber, Der Schutz des Menschen vor sich selbst. München 1992, S. 134 ff.; Stern, Staatsrecht (Anm. 80), Bd. III/2, 1994, S. 887 ff. 291  s. o. B. II. 3. 292  So die Grundtendenz bei Wegener, Staat und Verbände (Anm. 10), S. 224 ff., und Neumann, Freiheitsgefährdung (Anm. 57), S. 393 ff., 425 ff. 293  Zur ungleichen Verhandlungsmacht von Leistungserbringern und Kassenverbänden nach § 111 Abs. 2 SGB V: Neumann, Freiheitsgefährdung (Anm. 57), S. 281 f., 418 f.

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V.  Zwangszusammenschluß In der sozial- und gesundheitspolitischen Debatte über eine Reform des Krankenhauses taucht der Vorschlag auf, alle (Plan-)Krankenhäuser, die Leistungserbringer im System der Gesetzlichen Krankenversicherung sind, in einer Zwangskörperschaft zusammenzufassen, ähnlich wie die Kassenärzte in der Kassenärztlichen Vereinigung, und diesem Verband die Befugnis zu geben, über die Verteilung der Vergütungen und Investitionsmittel, über Ausbau und Abbau der Kapazitäten, letztlich über den Verbleib im System der Gesetzlichen Krankenversicherung, unter den heutigen Gegebenheiten praktisch also über die wirtschaftliche Existenz, zu entscheiden.294 Wesentliche unternehmerische Entscheidungen sollen den einzelnen Trägern entzogen und auf die Körperschaft übergeleitet werden. An die Stelle der Selbstbestimmung träte Mitbestimmung. Eine solche Körperschaft wäre heterogen zusammengesetzt. Neben der Mehrheit öffentlicher Träger, die keinen Grundrechtsschutz genössen, stünden die freien, die sich auf die Grundrechte berufen könnten, freilich nicht alle auf dieselben wie die Kirche. Ihrer grundrechtlichen Besonderheit und ihrer Selbstbestimmung könnte nicht Rechnung getragen werden durch Vorkehrungen eines Minderheitenschutzes. Denn Sinn einer solchen Körperschaft wäre es gerade, Probleme durch den Mehrheitsentscheid der Betroffenen zu lösen. Dieser aber würde vereitelt, wenn einzelne sich nicht überstimmen lassen müßten. Damit zeigt sich ein grundrechtliches Dilemma. Entweder wäre die Körperschaft handlungsfähig, dann würde die grundrechtliche Selbstbestimmung aufgehoben. Oder die Selbstbestimmung bliebe erhalten, dann wäre die Körperschaft nicht imstande, ihre Aufgabe zu erfüllen. Für eine nicht zwecktaugliche Körperschaft ließe sich wiederum die Sinnhaftigkeit einer Pflichtmitgliedschaft nicht grundrechtlich plausibel machen.295 Die kirchlichen Krankenhausträger könnten sich unter Berufung auf ihre Grundrechte gegen die Eingliederung in eine Körperschaft mit Aussicht auf Erfolg wehren.

294  Exemplarisch der von der Robert Bosch Stiftung initiierte und editierte Vorschlag „Krankenhausfinanzierung in Selbstverwaltung“ (Anm. 137). 295 Näher Peter Lerche/Christoph Degenhart, Verfassungsfragen einer Neuordnung der Krankenhausfinanzierung, in: Robert Bosch Stiftung (Hrsg.), Krankenhausfinanzierung, T. 2 (Anm. 134), S. 11 (33 ff., 53 ff.); Isensee, Rahmenbedingungen (Anm. 134), S. 97 (130 ff., 141 ff.); Wolfgang Rüfner, Zum Problem der Zusammenfassung kirchlicher und anderer Krankenhausträger in Körperschaften des öffentlichen Rechts, in: NZS 1996, S. 49 ff.

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E.  Anhang: Caritas als Gegenstand des staatlichen Rechts – Übersicht über die Rechtsquellen I.  Verfassungsrechtliche Bestimmungen 1.  Grundgesetz Die Bundesverfassung enthält die wesentlichen Grundlagen für die karitative Betätigung der Kirche in Grundrechten und staatskirchenrechtlichen Gewährleistungen.296 Doch diese erfassen die Diakonie nur einschlußweise. Die Ausnahme bildet die Kirchengutsgarantie des Art. 140 GG i. V. m. Art. 138 Abs. 2 WRV. Sie hebt die „Wohltätigkeitszwecke“ hervor, denen das Kirchengut gewidmet sein kann, und stellt auch ab auf die differenzierte Situation der mittelbar kirchlichen Einrichtungen: „Anstalten, Stiftungen und sonstige Vermögen“. Doch just dieser besonders auf den karitativen Aspekt eigens zugeschnittene Kirchenartikel zeitigt in der Praxis keine aktuelle Bedeutung.297 2.  Verfassungen der Länder Eine Reihe von Ländern macht sich die Weimarer Kirchenartikel zu eigen und leistet die Gewähr des Kirchenguts nach dem redaktionellen Vorbild des Art. 138 Abs. 2 WRV unter Nennung der „Wohltätigkeitszwecke“ (Art. 146 BayVerf., Art. 37 Abs. 1 BrandenbVerf., Art. 44 Rheinl.-PfalzVerf.).298 Darüber hinaus werden Caritas und Wohlfahrtspflege, Kirchen und Wohlfahrtsverbände in den Landesverfassungen zum Teil ausdrücklich thematisiert. Der Freistaat Sachsen gewährleistet die „diakonische und karitative Arbeit der Kirchen und Religionsgemeinschaften“ (Art. 109 Abs. 3 Verf.), Baden-Württemberg die „Wohlfahrtspflege der Kirchen und der anerkannten Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften“ (Art. 6 Verf.) sowie allgemein die „Wohlfahrtspflege der freien Wohlfahrtsverbände“ (Art. 87 Verf.). In Mecklenburg-Vorpommern fördern das Land, die Gemeinden und die Kreise Initiativen, die auf das Gemeinwohl gerichtet sind und der Selbsthilfe sowie dem solidarischen Handeln dienen (Art. 19 Abs. 1 Verf.). Gegenstand des Schutzes und der Förderung ist insbesondere die soziale Tätigkeit der Kirchen, der Träger der freien Wohlfahrtspflege und der freien Jugendhilfe (Art. 19 Abs. 2 Verf.). Rheinland-Pfalz gewährleistet in den Angelegenheiten der Pflege und Förderung der Familie und der Erziehung 296 

s. o. C. s. o. C. II. 3. 298  Eine allgemeine Verweisung auf die Kirchenartikel des Art. 140 GG, damit auch auf die Kirchengutsgarantie, enthalten: Art. 5 Bad.-Württ. Verf, Art. 109 Abs. 4 SächsVerf., Art. 32 Abs. 5 Sachs.-Anh. Verf., Art. 40 ThürVerf. 297 

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der Jugend die Mitwirkung der Kirchen, Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften und Verbände der freien Wohlfahrtspflege nach Maßgabe der Gesetze (Art. 26 Verf.). Berlin verpflichtet sich in seiner Verfassung, die Errichtung und Unterhaltung von Einrichtungen für die Beratung, Betreuung und Pflege im Alter, bei Krankheit, Behinderung, Invalidität und Pflegebedürftigkeit sowie für andere soziale und karitative Zwecke staatlich zu fördern, unabhängig von ihrer Trägerschaft (Art. 22 Abs. 2). Das gleiche Programm enthält die Verfassung von Brandenburg (Art. 45 Abs. 3 S. 1). Baden-Württemberg und das Saarland gewähren der freien Wohlfahrtspflege Beteiligung an der Aufgabe des Jugendschutzes (Art. 13 S. 3 Bad.-Württ. Verf., Art. 25 Abs. 1 S. 3 SaarVerf.). Die Verfassung des Freistaates Sachsen exponiert sich in der Finanzierungsregelung: „Werden durch die Kirchen und Religionsgemeinschaften im öffentlichen Interesse liegende gemeinnützige Einrichtungen oder Anstalten unterhalten, so besteht Anspruch auf angemessene Kostenerstattung durch das Land nach Maßgabe der Gesetze. Freie Träger mit vergleichbarer Tätigkeit und gleichwertigen Leistungen haben den gleichen Anspruch“ (Art. 110 Verf.). Die Freie Hansestadt Bremen begnügt sich damit, die von den anerkannten Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften oder ihren Organisationen unterhaltenen Krankenhäuser, Schulen, Fürsorgeanstalten und ähnlichen Häuser als gemeinnützige Einrichtungen anzuerkennen (Art. 63 Verf.). Ebenso das Saarland (Art. 40 Verf.) und Rheinland-Pfalz (Art. 46 Verf.). Die Anerkennung kostet die Länder wenig, weil der steuerrechtliche Tatbestand der Gemeinnützigkeit bundesrechtlich vorgegeben ist und die entsprechenden Bereiche abdeckt (§§ 51 ff. AO). Thüringen will die sozialen und karitativen Einrichtungen der Kirchen, Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften sowie der Verbände der freien Wohlfahrtspflege nicht nur als gemeinnützig anerkennen, sondern darüber hinaus auch fördern (Art. 41 ThürVerf.), Sachsen-Anhalt sogar schützen und fördern (Art. 32 Abs. 3 Sachs.-Anh. Verf.).

II.  Einigungsvertrag Der Vertrag zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik über die Herstellung der Einheit Deutschlands (Einigungsvertrag) enthält in Art. 32 eine Aussage über die Tätigkeit freier gesellschaftlicher Kräfte: „Die Verbände der Freien Wohlfahrtspflege und die Träger der Freien Jugendhilfe leisten mit ihren Einrichtungen und Diensten einen unverzichtbaren Beitrag zur Sozialstaatlichkeit des Grundgesetzes. Der Auf- und Ausbau einer Freien Wohlfahrtspflege und einer Freien Jugendhilfe in dem in Artikel 3 genannten Gebiet wird im Rahmen der grundgesetzlichen Zuständigkeit gefördert.“299 299  Dagegen erwähnt der Vertrag über die Schaffung einer Währungs-, Wirtschaftsund Sozialunion zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik nur die privaten und freigemeinnützigen Leistungserbringer, wenn

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III.  Verträge zwischen Staat und Kirche Das Reichskonkordat vom 20. Juli 1933 trifft in Art. 31 eine Regelung für die Caritas: Diejenigen katholischen Organisationen und Verbände, die ausschließlich religiösen, rein kulturellen und karitativen Zwecken dienen und als solche der kirchlichen Behörde unterstellt sind, werden in ihren Einrichtungen und in ihrer Tätigkeit geschützt. Diejenigen katholischen Organisationen, die außer religiösen, kulturellen oder karitativen Zwecken auch anderen, darunter auch sozialen oder berufsständischen Aufgaben dienen, sollen, unbeschadet einer etwaigen Einordnung in staatliche Verbände, den gleichen Schutz genießen, sofern sie Gewähr dafür bieten, ihre Tätigkeit außerhalb jeder politischen Partei zu entfalten. Die Feststellung der Organisationen und Verbände, die unter die Bestimmungen dieses Artikels fallen, bleibt vereinbarlicher Abmachung zwischen der Reichsregierung und dem deutschen Episkopat vorbehalten. Das Land Niedersachsen verpflichtet sich im Konkordat mit dem Heiligen Stuhl von 1965, der Freiheit, den katholischen Glauben zu bekennen und auszuüben, und der „Liebestätigkeit der katholischen Kirche“ den gesetzlichen Schutz zu gewähren (Art. 1 Abs. 1). Der (Loccumer) Vertrag Niedersachsens mit den evangelischen Landeskirchen enthält keine entsprechende Formel. Jedoch heißt es in der Regierungsbegründung zu Art. 14 Abs. 1 (Sammlungen für kirchliche Zwecke): „Die Erfüllung von Werken der Nächstenliebe ist ein wesentlicher Teil christlicher Religionsausübung.“300 Die Verträge der evangelischen Kirchen mit den neuen Bundesländern bestätigen den Kirchen und ihren diakonischen Werken das Recht, im Bildungs- und Sozialbereich sowie im Gesundheitswesen Einrichtungen für die Betreuung und Beratung besonderer Zielgruppen zu unterhalten. Soweit diese Einrichtungen allgemeine Aufgaben erfüllen und ohne Rücksicht auf Kirchenzugehörigkeit in Anspruch genommen werden können, besteht Anspruch auf angemessene Förde-

er den Übergang zu einer Gesundheitsversorgung durch private Leistungserbringer zum Ziel setzt (Art. 22 Abs. 2). – Für die DDR ungewöhnlich, fand sie sich zu kirchenvertraglichen Vereinbarungen mit der Evangelischen Kirche über diakonische Angelegenheiten bereit. Dazu Wilfrid Koltzenburg, Vereinbarungen zwischen Staat und Kirche in der ehemaligen DDR zur diakonischen Arbeit, in: ZevKR 38 (1993), S. 429 ff.; Axel Frhr. von Campenhausen, Staatskirchenrecht in den neuen Bundesländern, in: HStR IX, 1996, § 207, Rn. 39 f., 43. 300  Regierungsbegründung zum Niedersächsischen Kirchenvertrag, Abdruck bei Jo­ seph Listl, Die Konkordate und Kirchenverträge in der Bundesrepublik Deutschland. Bd. 2, Berlin 1987, S. 119 (124). Die Regierungsbegründung zum Niedersächsischen Konkordat konstatiert daher, die Einbeziehung der „Liebestätigkeit der katholischen Kirche“ liege in der mit Art. 14 des Loccumer Vertrages begonnenen Linie der neueren Kirchenverträge (zu Art. 1 Abs. 1, Abdruck bei Listl, ebd., S. 37 [40]).

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rung.301 Die Verträge mit Sachsen (Art. 11) und Thüringen (Art. 10) gewährleisten für Kirchen und andere kirchliche Gebäude, die im staatlichen Eigentum stehen und zu kirchlichen oder diakonischen Zwecken genutzt werden, den Widmungszweck. Der Staat verpflichtet sich, für die Bauunterhaltung im Rahmen seiner Baulastpflicht zu sorgen, vorbehaltlich einer späteren Vereinbarung über eine Ablösung. Die Kirchen und ihre diakonischen Einrichtungen erhalten das Recht zu alljährlich zwei öffentlichen Haus- und Straßensammlungen (Art. 16 ThürKV; siehe auch Art. 19 Meckl.-Vorp. KV und Art. 18 SächsKV). Die Kirchen, ihre Gemeinden sowie ihre öffentlich-rechtlichen Anstalten, Stiftungen und Verbände werden von bestimmten Gebühren befreit (so Art. 17 ThürKV; siehe auch Art. 16 Meckl.-Vorp. KV, Art. 19 SächsKV und Art. 17 Sachs.-Anh. KV).

IV.  Gesetzesrecht 1.  Sozialrecht a)  Allgemeine Bestimmungen Der Allgemeine Teil des Sozialgesetzbuches gibt das Leitbild einer Kooperation von freier Wohlfahrtspflege und Sozialleistungsträgern: „In der Zusammenarbeit mit gemeinnützigen und freien Einrichtungen und Organisationen wirken die Leistungsträger darauf hin, daß sich ihre Tätigkeit und die der genannten Einrichtungen und Organisationen zum Wohl der Leistungsempfänger wirksam ergänzen.“ Sie haben dabei deren Selbständigkeit in Zielsetzung und Durchführung ihrer Aufgaben zu achten (§ 17 Abs. 3 SGB I). Das Verhältnis der Sozialleistungsträger zu den Leistungserbringern, ihre Zusammenarbeit und deren Organisation erfahren allgemeine Regelungen (§§ 86 ff. SGB X), die in den einzelnen Zweigen des Sozialrechts modifiziert werden. b)  Gesetzliche Krankenversicherung (SGB V) und Pflegeversicherung (SGB XI) In der gesetzlichen Krankenversicherung ist bei der Auswahl der Leistungserbringer ihre Vielfalt zu achten. Den religiösen Bedürfnissen der Versicherten ist dabei Rechnung zu tragen (§ 2 Abs. 3 SGB V). Entsprechendes gilt für die Soziale Pflegeversicherung. Bei ihrer Durchführung ist die Vielfalt der Träger von Pflegeeinrichtungen zu wahren sowie deren Selbständigkeit, Selbstverständnis und Unabhängigkeit zu achten. Dem Auftrag 301  Art. 20 SächsKV; Art. 18 Sachs.-Anh. KV; ähnlich auch Art. 19 ThürKV sowie Art. 5, 22 Meckl.-Vorp. KV. Ähnliche Bestimmungen enthalten die Entwürfe von Konkordaten mit den Ländern Sachsen, Sachsen-Anhalt, Thüringen und Mecklenburg-Vorpommern.

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kirchlicher und sonstiger Träger der freien Wohlfahrtspflege, kranke, gebrechliche und pflegebedürftige Menschen zu pflegen, zu betreuen, zu trösten und sie im Sterben zu begleiten, ist Rechnung zu tragen. Freigemeinnützige und private Träger haben Vorrang gegenüber öffentlichen Trägern (§ 11 Abs. 2 SGB XI). Bei der notwendigen Auswahl zwischen mehreren geeigneten Pflegeeinrichtungen werden die Versorgungsverträge, kraft deren die Zulassung von Pflegeeinrichtungen zu ambulanter und stationärer Pflege erfolgt, vorrangig mit freigemeinnützigen und privaten Trägern abgeschlossen (§ 72 Abs. 3 S. 2 SGB XI). c)  Kinder- und Jugendhilfe (SGB VIII) Die Jugendhilfe lebt in Vielfalt von Trägern unterschiedlicher Wertorientierungen und Vielfalt von Inhalten, Methoden und Arbeitsformen. Die öffentliche Jugendhilfe soll mit der freien Jugendhilfe zum Wohl junger Menschen und ihrer Familien partnerschaftlich zusammenarbeiten. Dabei ist die Selbständigkeit der freien Jugendhilfe in Zielsetzung und Durchführung ihrer Aufgaben sowie in Gestaltung ihrer Organisationsstruktur zu achten (§ 4 Abs. 1 SGB VIII). Der Vorrang der freien Träger wird gesetzlich statuiert. Soweit geeignete Einrichtungen, Dienste und Veranstaltungen von anerkannten Trägern der freien Jugendhilfe betrieben werden oder rechtzeitig geschaffen werden können, soll die öffentliche Jugendhilfe von eigenen Maßnahmen absehen (§ 4 Abs. 2 SGB VIII). Die öffentliche Jugendhilfe ist von Gesetzes wegen gehalten, die freie Jugendhilfe zu fördern und dabei die verschiedenen Formen der Selbsthilfe zu stärken (§ 4 Abs. 3 SGB VIII). Der Leistungsberechtigte hat das Recht, zwischen den Einrichtungen und Diensten verschiedener Träger zu wählen. Der Wahl und den Wünschen soll entsprochen werden, sofern dies nicht mit unverhältnismäßigen Mehrkosten verbunden ist (§ 5 SGB V). Bei der Ausgestaltung der Leistungen und der Erfüllung der Aufgaben sind die Rechte zur religiösen Erziehung zu beachten (§ 9 Nr. 1 SGB VIII). Das Gesetz regelt Näheres zur Förderung der freien Jugendhilfe (§ 74), zu der Anerkennung als Träger der freien Jugendhilfe(§ 75) sowie zur Kostentragung (§ 77). Bestimmungen über die Zusammenarbeit für die Errichtung und den Betrieb von Kindergärten finden sich in den jeweiligen Landesgesetzen über Kindergärten, so im nordrhein-westfälischen Gesetz über Tageseinrichtungen für Kinder: „Die Planungsverantwortung für die Einrichtung neuer Tageseinrichtungen obliegt dem örtlichen Träger der öffentlichen Jugendhilfe, der die Planung im Benehmen mit den anerkannten Trägern der freien Jugendhilfe und den Gemeinden durchführt un diese in allen Phasen frühzeitig beteiligt“ (§ 10 Abs. 1 GTK). Jeder Träger, auch der freie, muß bereit und in der Lage sein, bedarfsgerechte und geeignete Einrichtungen zu schaffen, zu betreiben und die geforderten Eigenleistungen zu erbringen (§ 11 Abs. 2 GTK). Ist weder ein anerkannter Träger der

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freien Jugendhilfe noch eine Gemeinde oder ein Gemeindeverband bereit oder in der Lage, eine notwendige Einrichtung zu errichten und zu unterhalten, so hat der örtliche Träger der öffentlichen Jugendhilfe die erforderlichen Einrichtungen selbst zu errichten und zu betreiben (§ 11 Abs. 3 GTK). d)  Sozialhilfe Das Bundessozialhilfegesetz hebt die Stellung der Kirchen und Religionsgesellschaften des öffentlichen Rechts sowie der Verbände der freien Wohlfahrtspflege als Träger eigener sozialer Aufgaben ausdrücklich hervor (§ 10 Abs. 1 BSHG). Die Träger der Sozialhilfe sollen bei der Durchführung des Bundessozialhilfegesetzes mit ihnen zusammenarbeiten und dabei ihre Selbständigkeit in Zielsetzung und Durchführung ihrer Aufgaben achten (§ 10 Abs. 2 BSHG). Ziel der Zusammenarbeit ist nach dem Gesetz, daß sich die Sozialhilfe und die Tätigkeit der freien Wohlfahrtspflege zum Wohle des Hilfesuchenden wirksam ergänzen. Die Träger der Sozialhilfe sollen die Verbände der freien Wohlfahrtspflege in ihrer Tätigkeit angemessen unterstützen (§ 10 Abs. 3 BSHG). Sie können an der Durchführung ihrer Aufgaben die Verbände der freien Wohlfahrtspflege beteiligen oder ihnen die Durchführung von Aufgaben übertragen, wenn die Verbände mit der Beteiligung oder Übertragung einverstanden sind (§ 10 Abs. 5 BSHG).302 Das Bundessozialhilfegesetz ordnet das Verhältnis der freien zur öffentlichen Sozialhilfe nach dem Subsidiaritätsprinzip. Wird Hilfe im Einzelfall durch die freie Wohlfahrtspflege gewährleistet, sollen die Sozialhilfeträger von der Durchführung eigener Maßnahmen absehen (§ 10 Abs. 4 BSHG).303 Die Sozialhilfeträger sollen keine eigenen Einrichtungen neu schaffen, soweit geeignete Einrichtungen der Kirchen und Religionsgesellschaften sowie der Verbände der freien Wohlfahrtspflege vorhanden sind, ausgebaut oder geschaffen werden können (§ 93 Abs. 1 BSHG). Sind sowohl Einrichtungen dieser als auch anderer Träger vorhanden, so werden vorrangig die Träger der freien Wohlfahrtspflege berücksichtigt (§ 93 Abs. 6 BSHG).304 Der Hilfeempfänger soll auf seinen Wunsch hin in einer Einrichtung untergebracht werden, in der er durch Geistliche seines Bekenntnisses betreut werden kann (§ 3 Abs. 3 BSHG). e)  Heimgesetz Die Kirchen und Religionsgemeinschaften des öffentlichen Rechts sowie die Verbände der freien Wohlfahrtspflege sind freigestellt von der Erlaubnispflicht, der nach § 6 Heimgesetz der Betreiber eines Heimes unterliegt, in dem alte Men302 

s. o. B. IV. 2. b). So auch § 8 Abs. 2 BSHG für die Beratung. 304  s. o. D. II. 303 

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schen sowie Pflegebedürftige oder behinderte Volljährige nicht nur vorübergehend aufgenommen werden. Die Landesverbände der freien Wohlfahrtspflege sind auf Antrag an der behördlichen Überwachung der ihnen angehörenden Träger angemessen zu beteiligen, wenn ihr jeweiliger Träger zustimmt (§ 10 Heimgesetz). f)  Krankenhauswesen Das freigemeinnützige Krankenhaus (einschlußweise das kirchliche) ist Thema der Krankenhausgesetze. Das Krankenhausfinanzierungsgesetz des Bundes gibt den Auftrag, die Vielfalt der Krankenhausträger und insbesondere die Stellung des kirchlichen Krankenhauses zu gewährleisten: Bei der Durchführung des Krankenhausfinanzierungsgesetzes ist die Vielfalt der Krankenhausträger zu beachten. „Dabei ist nach Maßgabe des Landesrechts insbesondere die wirtschaftliche Sicherung freigemeinnütziger und privater Krankenhäuser zu gewährleisten. Die Gewährung von Fördermitteln darf nicht mit Auflagen verbunden werden, durch welche die Selbständigkeit und Unabhängigkeit von Krankenhäusern über die Erfordernisse der Krankenhausplanung und der wirtschaftlichen Betriebsführung hinaus beeinträchtigt werden“ (§ 1 Abs. 2 KHG).305 Gemäß dem Krankenhausgesetz des Landes Nordrhein-Westfalen sind Krankenhausträger in der Regel freigemeinnützige, kommunale, private Träger und das Land (§ 1 Abs. 3 KHG NW). Falls sich kein anderer geeigneter Träger findet, sind Gemeinden und Gemeindeverbände verpflichtet, Krankenhäuser zu errichten und zu betreiben, kreisangehörige Gemeinden jedoch nur, wenn sie die erforderliche Finanzkraft besitzen (§ 1 Abs 3 S. 2 KHG NW). Ähnliche Bestimmungen existieren beispielsweise in Baden-Württemberg (§ 1 Abs. 2 LKHG BW), in Hessen (§ 1 Abs. 2 Hess. KHG) oder in Sachsen-Anhalt (§ 1 Sachs.-Anh. KHG). 2.  Steuerrecht In den einzelnen Steuergesetzen sind Steuerbefreiungen oder steuerliche Vergünstigungen vorgesehen zugunsten der Erfüllung gemeinnütziger, mildtätiger oder kirchlicher Zwecke.306 Die Abgabenordnung definiert allgemein die steuerbegünstigten Zwecke (§§ 51 ff.). Eine Körperschaft verfolgt gemeinnützige Zwecke, wenn ihre Tätigkeit darauf gerichtet ist, die Allgemeinheit auf materiellem, geistigem oder sittlichem Gebiet selbstlos zu fördern (§ 52 Abs. 1 AO). 305 

s. o. C. I. 1. c). Beispielsweise: Befreiung von der Körperschaftsteuer (§ 5 Abs. 1 Nr. 9 KStG); von der Vermögensteuer (§ 3 Abs. 1 Nr. 12 VStG); von der Erbschaftsteuer (§ 13 Abs. 1 Nr. 16, 17 ErbStG); von der Gewerbesteuer (§ 3 Nr. 6 GewStG). Nachw.: Gutachten der Unabhängigen Sachverständigenkommission (Anm. 283), S. 23 ff. 306 

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Als Förderung der Allgemeinheit werden eigens anerkannt die Förderung der Jugendhilfe, Altenhilfe, des öffentlichen Gesundheitswesens und des öffentlichen Wohlfahrtswesens (§ 52 Abs. 1 Nr. 2 AO). Mildtätige Zwecke einer Körperschaft richten sich darauf, Personen selbstlos zu unterstützen, die infolge ihres körperlichen, geistigen oder seelischen Zustandes auf selbstlose Hilfe anderer angewiesen sind (§ 53 AO). Kirchliche Zwecke liegen vor, wenn eine Körperschaft ihre Tätigkeit darauf richtet, eine Religionsgemeinschaft, die Körperschaft des öffentlichen Rechts ist, selbstlos zu fördern, zumal in kultischen Handlungen, Unterhalt von Gottesdiensten, Besoldung und Versorgung kirchlichen Personals (§ 54 AO). Karitative Einrichtungen, die Einnahmen oder wirtschaftliche Vorteile erzielen und damit wirtschaftlichen Geschäftsbetrieben nahestehen, verlieren die Steuervergünstigung nicht, soweit sie Zweckbetriebe sind, dazu bestimmt, die steuerbegünstigten Zwecke ihrer Trägerkörperschaft zu verwirklichen (§§ 64 Abs. 1, 65 AO). Das Gesetz legt im einzelnen die Kriterien des Zweckbetriebs fest für Einrichtungen der Wohlfahrtspflege im allgemeinen (§ 66 AO) sowie für (Plan-)Krankenhäuser (§ 68 AO), Alten-, Altenwohn- und Pflegeheime, Mahlzeitendienste, Behindertenwerkstätten, Einrichtungen der Fürsorgeerziehung und freiwilligen Erziehungshilfe (§ 68 AO).

Das katholische Krankenhaus und die Verfassung des sozialen Rechtsstaats* Das katholische Krankenhaus und die Verfassung des sozialen Rechtsstaats Das katholische Krankenhaus und die Verfassung des sozialen Rechtsstaats

I.  Das Maß legitimer Freiheit Ein Gedankenspiel: Angenommen, die Bundesrepublik Deutschland sollte jetzt eine neue Verfassung erhalten. Alle Verbände, also auch der Katholische Krankenhausverband, wären aufgerufen, ihre Wünsche anzumelden und Regelungsmodelle zu entwerfen, die ihre Interessen am besten absicherten. Einer Auflage hätten sie sich aber zu unterwerfen: sie müßten ihre verfassungspolitischen Forderungen begründen, und zwar so begründen, daß sie der Mehrheit der Bürger als annehmbar einleuchteten. Unbegründete und unbegründbare Forderungen wären zum Scheitern verurteilt. Welche rechtliche Stellung könnte das katholische Krankenhaus für sich im freiheitlichen Gemeinwesen beanspruchen und dabei auf allgemeinen Konsens hoffen? Wie kann Caritas heute ihren Anspruch und ihr Selbstverständnis legitimieren in einer pluralistischen, weithin säkularisierten Gesellschaft, die einer rein religiösen Rechtfertigung kaum noch Gehör schenkt, die für geschichtliche Gründe und traditionsgeheiligte Privilegien kein Verständnis aufbringt, die allergisch ist gegen selbstzweckhafte Verbandsmacht? Ein realistisches Ideal, das Anspruchs-Optimum der praktischen Vernunft, findet sich in einer Formulierung Goethes: „Der Kreis, den meine Wirksamkeit erfüllt, nichts drunter und nichts drüber.“ Legitimationsgrund ist die Wirksamkeit, zeitgemäß ausgedrückt: die Arbeit. Arbeitskraft und Arbeitswille bedürfen der Freiheit. Der Freiheitsanspruch muß aber durch Leistung eingelöst werden. Ein Staat, der den Verbänden die Wirkungsfelder einengt oder entzieht, verletzt die Freiheit. Ein Verband, der seine Freiheit nicht als Auftrag zur Arbeit begreift und wahrnimmt, verwirkt die Freiheit. Ein Kreis, den die Wirksamkeit der Caritas erfüllt, nichts drunter und nichts drüber – genügt das Grundgesetz diesem Maßstab?

II.  Die zwei Fundamente der Caritas im Verfassungssystem Die neueren Entscheidungen, die das Bundesverfassungsgericht zu Problemen des Staatskirchenrechts im allgemeinen und des kirchlichen Krankenhauses im * Erstveröffentlichung in: Katholischer Krankenhausverband Deutschlands e.  V. (Hrsg.), Eigene Wege im katholischen Krankenhaus, Freiburg i.Br. 1982, S. 7 – 23.

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besonderen getroffen hat,1 können rasch den Eindruck hervorrufen, daß die Verfassung alles gewährleiste, was ein kirchlicher Verband gerechterweise verlangen könne. Die kirchliche Seite hat alle Prozesse gewonnen. Sie hat ihren Rechtsstandpunkt in den konkreten Streitfragen durchgesetzt. Das Bundesverfassungsgericht erkennt der kirchlichen Liebestätigkeit einen weiten Freiraum zu, der weitgehend abgeschirmt ist gegen den staatlichen Gesetzgeber, aber auch gegen staatlich aufgenötigte Einflußnahme der Gewerkschaften. Wichtiger noch: Die verfassungsrechtliche Ortsbestimmung, die das kirchliche Krankenhaus in der Rechtsprechung erfährt, entspricht dem Selbstverständnis der Kirche. Caritas wird anerkannt als Religionsausübung; sie genießt damit den Schutz des Grundrechts der Religionsfreiheit. Eine zweite Grundsatzentscheidung: das kirchliche Krankenhaus ist eine eigene Angelegenheit der Kirchen; sie bestimmen hier selbst kraft ihrer verfassungsrechtlich gewährleisteten Autonomie innerhalb der Schranke des für alle geltenden staatlichen Gesetzes. Die Verfassung verbürgt also den Kirchen im Bereich ihrer Krankenhäuser Freiheit. Sie bietet der caritativen Freiheit ein doppeltes Fundament: das Grundrecht der Religionsfreiheit, an dem die Kirchen als juristische Personen teilhaben (Art. 4 Abs. 2, 19 Abs. 3 GG), und die korporative Kirchenautonomie, die das Grundgesetz von der Weimarer Reichsverfassung übernommen hat (Art. 140 GG i. V. m. Art. 137 Abs. 3 S. 1 WRV). Die beiden Garantien des kirchlichen Selbstbestimmungsrechts sind unterschiedlich konzipiert. Sie überschneiden sich teilweise und sie ergänzen einander. Es ist dieselbe kirchliche Kompetenz, der sie Schutz bieten. Das Bundesverfassungsgericht sieht das staatskirchenrechtliche Selbstbestimmungsrecht „als notwendige, wenngleich rechtlich selbständige Gewährleistung, die der Freiheit des religiösen Lebens und Wirkens der Kirchen und Reli­gionsgemeinschaften die zur Wahrnehmung dieser Aufgaben unerläß­ liche Freiheit der Bestimmung über Organisation, Normsetzung und Verwaltung hinzufügt.“2 1  Entscheidungen zum verfassungsrechtlichen Status des kirchlichen Krankenhauses: BVerfG, B. v. 11. 10. 1977, E 46, 73 – Fall Wilhelm-Anton-Hospital Goch; B. v. 25. 3. 1980, E 53, 366 – Krankenhausgesetz Nordrhein-Westfalens; B. v. 17. 2. 1981, E 57, 220 – Fall Orthopädische Anstalten Volmarstein. – Zur caritativen Tätigkeit der Kirchen auch: B. v. 16. 10. 1968, E 24, 236 – „Lumpensammler-Entscheidung“. Staatskirchenrechtliche Grundlagen: B. v. 21. 9. 1976, E 42, 312 – „Bremer Pastorenentscheidung“. – Analyse der neueren Rechtsprechung des BVerfG: A. Hollerbach, in: AöR 106 (1981), S. 218 – 283. Aus der staatskirchenrechtlichen Literatur zum Thema „Caritas“: U. Scheuner, in: Essener Gespräche 8 (1974), S. 42 – 71; A. Rinken, in: Handbuch des Staatskirchenrechts, 2. Bd. 1975, S.  345 – 400; W. Leisner, in: DÖV 1977, S. 475 – 484; ders., in: BayVBl 1980, S. 321 – 328; R. Wegener, Staat und Verbände im Sachbereich Wohlfahrtspflege, 1978, S. 169 – 189 und passim; E. Friesenhahn, in: FS Klecatsky, 1980, S. 247 – 269; J. Isensee, Kirchenautonomie und sozialstaatliche Säkularisierung in der Krankenpflegeausbildung, 1980, S. 44 – 80 (weit. Nachw.). 2  Zitat: BVerfGE 53, 355 (367).

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Die Doppelgarantie deckt den Wirkungskreis der Kirche im wesentlichen ab. Andere Grundrechte, die an sich auch der Kirche zustehen, wie das Eigentumsrecht und die Kirchengutsgarantie, spielen praktisch keine Rolle mehr. Das kirchliche Selbstbestimmungsrecht in seinem heutigen Verständnis hat sie absorbiert.3 Bemerkenswert ist der Umfang, den der Schutzbereich der Religionsfreiheit und der Kirchenautonomie im Grundgesetz aufweist. Das Grundgesetz reduziert Religion nicht auf den Glauben als innerseelische Überzeugung. Religion ist auch nicht allein der öffentliche Kultus, also Glaubensverkündung, Gottesdienst, Seelsorge. Religion ist darüber hinaus die kirchliche Wohlfahrtspflege. Der Verfassungsstaat respektiert hier die doppelte Aufgabe, in der sich die christliche Religionsgemeinschaft wie der einzelne Christ zu bewähren hat: Gottesliebe und Nächstenliebe. Der Dienst am Nächsten ist für die Kirche schlechthin konstitutiv – und zwar in einem tieferen Sinne, als es etwa für den Staat die sozialpolitische Aktivität ist; der Staat ist erst in neuerer Zeit Sozialstaat geworden. In einer seiner großartigsten Epochen, der liberalen, in der Menschenrechte, Rechtsstaat und Demokratie geboren wurden, entsagte er sogar aus Prinzip jedwedem sozialen und wohltätigen Engagement, um damit seine Rechtlichkeit und seine Liberalität zu beweisen. – Für die Kirche dagegen ist Caritas seit den Tagen ihres Stifters wesensnotwendig.4 Das Skandalon des Christentums ist das Verhalten des Priesters zu dem Manne, der unter die Räuber gefallen war: „[…] sah ihn und ging vorüber“. Und es war schon die Erfahrung der Urkirche, daß die Liebestätigkeit der Gemeinde auch ein Problem der Organisation und der Verteilungsgerechtigkeit ist. (Die Apostelgeschichte berichtet anschaulich, weshalb die sich rasch vergrößernde erste Christengemeinde das besondere Amt des Diakons geschaffen habe: es sei ein Murren der Hellenisten wider die Hebräer entstanden, weil ihre Witwen bei der täglichen Almosenspende zurückgesetzt würden, die Apostel aber hätten erkannt, es gehe nicht an, daß sie das Wort Gottes vernachlässigten und die Tische bedienten [Apg. 6,1 – 2]).

3 Vgl. BVerfGE 57, 220 (243): „Im kirchlichen Selbstbestimmungsrecht finden auch die aus dem Hausrecht der Anstalten (Art. 13 GG) und aus der Eigentumsgarantie (Art. 14 GG, Art. 140 GG i. V. m. Art. 138 Abs. 2 WRV) sich ergebenden Rechtspositionen und Abwehransprüche ihre Zusammenfassung und Konkretisierung“. – Zur Abwertung des allgemeinen Eigentumsgrundrechts und der besonderen Kirchengutsgarantie und zur gegenläufigen Aufwertung des ideellen kirchlichen Selbstbestimmungsrechts: Isensee (Fn. 1), S. 77 – 79. 4  Caritas ist für die Kirche nicht nur eine sinnvolle Nebentätigkeit, wie es die Arbeiterwohlfahrt für die Gewerkschaften ist. Die Gewerkschaften genießen auch in dieser Funktion den Schutz der Grundrechte, vor allem den der Berufsfreiheit und der Allgemeinen Handlungsfreiheit. Aber sie können sich nicht auf ihr Sondergrundrecht, die Koalitionsfreiheit, berufen, weil Wohlfahrtspflege nicht zum Wesenskern koalitionsspezifischer Betätigung gehört.

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Die Verfassungsgarantien richten sich nicht auf spiritualistisches Gewölk, sondern auf die erdenschweren Bedingungen des caritativen Wirkens. Sie umfassen die kirchliche Selbstbestimmung in Organisation und Betrieb der Anstalten, in Personalhoheit und Hausrecht. So haben sie sich in praktischen Konflikten gerichtlich bewähren können. Die Freiheitsgewährleistungen passen sich den Besonderheiten der kirchlichen Institution an. Das Grundrecht der freien Religionsausübung ist zunächst zwar angelegt auf das Individuum. Aber die Kirchen sind Medien für die Grundrechtsausübung ihrer Mitglieder. Sie gewinnen damit selbst Grundrechtsfähigkeit. Sie können sich als Verbände auf das Grundrecht der Religionsfreiheit berufen. Die Weimarer Kirchenautonomie ist dagegen von vornherein auf die Religionsgemeinschaft als überindividuelle Ganzheit zugeschnitten. Sie gilt ausschließlich als korporative Freiheitsgarantie. Das korporative Selbstbestimmungsrecht schützt nicht nur die organisierte Kirche, sondern auch alle ihr zugeordneten Einrichtungen, die dazu bestimmt sind, ein Stück ihres Auftrags in der Welt wahrzunehmen. Auf die Rechtsform der mittelbar kirchlichen Einrichtung kommt es nicht an. Entscheidend ist allein, daß ein organisatorischer Zusammenhang mit der Kirche besteht und die Ausrichtung auf einen kirchlichen Zweck gewährleistet ist. So kommt die korporative Religionsfreiheit dem Wilhelm-Anton-Hospital in Goch zugute, einem gemeinnützigen katholischen Krankenhaus in der Rechtsform einer Stiftung des privaten Rechts,5 ebenso den Orthopädischen Heil-, Lehrund Pflegeanstalten für Körperbehinderte zu Volmarstein, die Einrichtungen der Inneren Mission sind – der Evangelischen Kirche bekenntnismäßig verbunden und organisatorisch verflochten, teilhabend „an dem Auftrag zu caritativ-diakonischem Wirken, zur tätigen Nächstenliebe, der nicht nur die kirchlich getragene Krankenpflege, sondern auch allgemein die an den religiösen Grundanforderungen ausgerichtete Fürsorge für hilfsbedürftige Menschen einschließlich ihrer Erziehung und Ausbildung umfaßt.“6 Das Bild, das die Verfassungslage auf den ersten Blick ergibt, ist für die Kirchen überaus günstig. Die Kirchen scheinen guten Grund zu haben, sich unter den Fittichen der staatlichen Verfassung geborgen zu fühlen.

III.  Der Wechselbalg des Staatskirchenrechts: das für alle geltende Gesetz Das kirchengünstige Bild gerät ins Wanken, wenn man die verfassungsrechtlichen Begründungszusammenhänge der Einzelfallentscheidungen näher untersucht: 5  6 

BVerfGE 46, 73 (83 – 96). BVerfGE 57, 220 (242).

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1.  Die Divergenz der Freiheitsgarantien Die doppelte Absicherung des kirchlichen Selbstbestimmungsrechts verdoppelt nicht unbedingt die Rechtssicherheit. Im Gesetzesrecht hält doppelt Genähtes schlechter, jedenfalls dann, wenn die Nähte nicht aufeinander abgestimmt sind. Die beiden Verfassungsgrundlagen sind heterogen. Der wichtigste Unterschied liegt in der jeweiligen Möglichkeit zur gesetzlichen Freiheitsbeschränkung. Das Grundrecht der Religionsfreiheit gilt ohne Gesetzesvorbehalt. Das bedeutet: dem Gesetzgeber ist es verwehrt, nach eigenem Ermessen der Freiheit Grenzen zu ziehen. Die Kirchenautonomie Weimarer Provenienz hingegen besteht ausdrücklich nur „innerhalb der Schranken des für alle geltenden Gesetzes“. Welche der beiden Freiheitsgarantien dominiert? Der Jurist muß diese Frage entscheiden, wenn es zum Konflikt zwischen kirchlicher Selbstordnung und staatlichem Gesetz kommt. Die Frage löst sich nicht von selbst nach der formal-juristischen Maxime, daß die Spezialnorm der Generalnorm vorgeht. Denn keine der beiden Regelungen kann schlechthin als die speziellere gelten, weil beide einen besonderen Garantiegehalt und eine eigene Schrankenanlage besitzen. Gäbe das Grundrecht den Ausschlag, so verlöre der Vorbehalt des für alle geltenden Gesetzes seine praktische Bedeutung. Setzte sich dagegen der Weimarer Kirchenartikel durch, so gewänne der Gesetzgeber Verfügungsmacht über den Bereich der korporativen Religionsausübung – und die Kirchen stünden schlechter da, als wenn sie sich allein auf das Grundrecht stützen müßten und die traditionelle staatskirchenrechtliche Zusatzgarantie fehlte. Vereinfachend läßt sich sagen, daß der Ausgleich der Schranken-Divergenz zugunsten des Grundrechts im kirchlichen, der zugunsten der Weimarer Gewährleistung dagegen im staatlichen Interesse liegen müßte. Das Bundesverfassungsgericht hat die zweite Alternative gewählt. Es hält an dem traditionellen Gesetzesvorbehalt fest. Freilich geht das Gericht auf einen interpretatorischen Kompromiß aus: der Vorbehalt wird eng ausgelegt; nicht jedes staatliche Gesetz kommt als Schranke der Kirchenautonomie in Betracht. Nunmehr spitzt sich das Problem auf die Frage zu nach dem Wesen und nach der Anwendbarkeit des „für alle geltenden Gesetzes“. Hier tut sich ein weites Feld der Interpretationsansätze und Kontroversen auf. Seit Weimarer Tagen müht jeder Staatskirchenrechtler, der etwas auf sich hält, sich redlich ab, eine neue Definition auf den juristischen Markt zu bringen.7 Doch die Nachfrage nach weiteren Begriffsbestimmungen wird damit nicht gestillt. Selbst das Bundesverfassungsgericht erreichte dieses Ziel nicht, als es 1976 eine 7 Übersichten: Werner Weber, in: FS Huber, 1973, S. 181 – 199; K. Hesse, in: Handbuch des Staatskirchenrechts Bd. 1, 1974, S. 430 – 441. Vgl. dazu: lsensee (Fn. 1), S. 57 – 62, 79.

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eigene (und die bisher wohl klügste) Deutung einführte, die „Jedermann-Formel“. Vier Jahre später bildete das Gericht selbst seine Formel weiter durch die „Güterabwägungs-Klausel“ und schuf damit wieder eine neue Entscheidungslage. 2.  Vom liberalen zum sozialen Gesetzesstaat Das Dilemma kommt nicht von ungefähr. Das für alle geltende Gesetz ist, wörtlich verstanden, eine rechtsstaatliche Tautologie. Denn jedes Gesetz des Rechtsstaats richtet sich an die Allgemeinheit und gilt für alle. Das Grundgesetz stellt ausdrücklich klar, daß ein grundrechtsbeschränkendes Gesetz allgemein und nicht nur für den Einzelfall gelten muß (Art. 19 Abs. 1 S. 1 GG). Sondergesetze zu Lasten der Kirche sind daher ohnehin verboten. In der liberalen Epoche hatte die Kirche auch nichts anderes vom Gesetzgeber zu befürchten als die kirchenfeindliche Ausnahmeregelung. Das reguläre Gesetz aber, das nur den für jedermann gleichen, weiten Rahmen der öffentlichen Sicherheit und Ordnung festlegte, schonte die Besonderheiten der pluralistischen Gesellschaft. Es hielt jedermann den gleichen, großen Freiraum offen: den Kirchen wie den säkularen Kräften. Diese Freiheitsvoraussetzungen sind aber im Zeitalter des Sozialstaats entfallen. Der Sozialstaat hat volksbeglückerisches Sendungsbewußtsein und unersättliche Regelungslust. Er geht darauf aus, die Gesellschaft nach seinem Bilde umzuformen, vor allem die bestehenden Unterschiede einzuebnen. Ihm sind kirchenfeindliche Regungen fremd. Die Kirche hat jetzt nicht mehr, wie einst vom liberal-laizistischen Staat, Diskriminierung zu fürchten, sondern Gleichschaltung. Das nivellierende Gesetz des Sozialstaats gilt für das gesamte Gesundheitswesen, für alle Krankenanstalten, für jeden Arbeitgeber – gleich, ob kirchlich oder säkular. Der Staat nötigt dem katholischen Krankenhaus das gleiche Mitbestimmungsmodell und das gleiche Berufsbildungsschema auf wie dem Betrieb der gewerblichen Wirtschaft. Er öffnet zwangsweise die kirchlichen Häuser für hausfremde Gewerkschaftsagitatoren, wie er ihnen Zugang zu den Fabriken verschafft. Die soziale Walze rollt ungerührt über kirchliche und nichtkirchliche Besonderheiten hinweg und macht alles gleich. Das für jedermann gleiche Gesetz, das der Kirche in der liberalen Ära Freiheit verbürgt hat, wird ihr in der sozialstaatlichen zum Verhängnis. Sie ist nunmehr auf Sonderregelungen, auf Ausnahmen und Befreiungen vom sozialen Egalisierungsgesetz angewiesen, damit ihre Eigenart noch Entfaltungsmöglichkeiten behält. 3.  Freiheitssicherung durch die Jedermann-Formel Das Bundesverfassungsgericht trägt dieser sozialstaatlichen Lage dadurch Rechnung, daß es das für alle geltende Gesetz von der Besonderheit der Kirche her neu bestimmt. Es erkennt die Qualität des für alle geltenden Gesetzes

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nur den Normen zu, „die für die Kirche die selbe Bedeutung haben wie für den Jedermann. Trifft das Gesetz die Kirche nicht wie den Jedermann, sondern in ihrer Besonderheit als Kirche härter, ihr Selbstverständnis, insbesondere ihren geistig religiösen Auftrag beschränkend, also anders als den normalen Adressaten, dann bildet es insoweit keine Schranke.“8 Die „Jedermann-Formel“ hat sich bereits in mehreren verfassungsrechtlichen Konflikten bewährt, Bereiche kirchlicher Selbstbestimmung gegen staatliche Fremdbestimmung abzusichern. Der realitätsgerechte Ansatz des Bundesverfassungsgerichts erweist sich den hergebrachten Definitionsvorschlägen der Literatur als überlegen, die (wie die vielzitierte Heckel‘sche Formel) nur von den Ordnungsbedürfnissen des Staates, nicht aber von den Freiheitsbedürfnissen der Kirche ausgehen und, wenn sie auch die staatlichen Vorschriften auf das unentbehrliche Maß zurückzudrängen suchen, doch keine praktikable Schranke erkennen lassen gegenüber einem stetig expandierenden Sozialstaat, der immer dichtere Regelungsnetze für unentbehrlich hält. Die Schwäche der Jedermann-Formel liegt in dem Rückgriff auf das Selbstverständnis der Kirche, der leicht als Blankoscheck für deren wechselnde Machtansprüche und als Abdankung des rechtsstaatlichen Souveräns gedeutet werden könnte und der die Begehrlichkeit aller anderen gesellschaftlichen Verbände wecken dürfte, auch ihr Selbstverständnis anzumelden und ihren verfassungsrechtlichen Freiraum nach ihrem jeweiligen Selbstverständnis auf Kosten der anderen Freiheitssubjekte und der Allgemeinheit authentisch auszuweiten. Doch alle diese Folgen sind nicht gewollt. Das Definitionsmerkmal „Selbstverständnis“ hat einen anderen Sinn. Das Gericht respektiert nicht ein beliebiges Selbstverständnis, sondern ein traditionsgefestigtes, institutionalisiertes und objektiviertes, das der Verfassunggeber bereits vorgefunden und sogar im Verfassungstext anerkannt hat, nämlich in den Kultus-, Unterrichts- und Wohltätigkeitszwecken, die in die Weimarer Kirchengutsgarantie eingegangen sind (Art. 138 Abs. 2 WRV i. V. m. Art. 140 GG). Letztlich soll das Selbstverständnis dazu dienen, den objektiven Schutzbereich der Religionsfreiheit näher zu erfassen.9 In der Tat kann auf diesem Wege echte Grundrechtssicherheit entstehen. Es müßten ein spezifisch religiöser Zentralbereich kirchlicher Wirksamkeit herausgearbeitet werden, der jedweder staatlichen Einwirkung entzogen ist, und breite Zonen, die grundsätzlich der kirchlichen Selbstbestimmung überantwortet sind und in denen staatliche Fremdbestimmung nur stattfindet, soweit die Kirche gemeinschaftsnotwendigen Anforderungen nicht genügt.

8 

So BVerfGE 42, 312 (334); 46, 73 (95). Problematik des „Selbstverständnisses“ J. Isensee, Wer definiert die Freiheitsrechte?, 1980, S. 60 – 64 et passim. 9  Zur

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4.  Die allseitige Relativierung der Rechtsgarantie durch Güterabwägung Die freiheitssichernde Wirkung der Jedermann-Formel wird vom Bundesverfassungsgericht praktisch wieder in Frage gestellt dadurch, daß das Gericht das Gebot der Güterabwägung einführt, einen Auslegungstopos, der für die Meinungs- und Pressefreiheit entworfen worden ist. Das Gericht sieht nunmehr die Bonn-Weimarer Verfassungsnorm als ambivalent: sie biete sowohl Kirchenschutz als auch Staatsschutz. Sie gewährleiste „in Rücksicht auf das zwingende Erfordernis friedlichen Zusammenlebens von Staat und Kirche sowohl das selbständige Ordnen und Verwalten der eigenen Angelegenheiten durch die Kirchen als auch den staatlichen Schutz anderer für das Gemeinwesen bedeutsamer Rechtsgüter.“10 Die Verfassungsnorm soll also zwei Herren dienen. Sie wird zum allseits freundlichen Formelkompromiß umgedeutet, der den Konfliktfall nicht löst, weil er keine Entscheidung bereithält. Die Lösung soll sich aus einer Güterabwägung ergeben, die der Wechselwirkung von Kirchenfreiheit und Schrankenzweck entspreche. Auf den ersten Blick scheint es, das Verfahren der Güterabwägung biete der Kirche noch mehr Freiheitssicherung als alle bisherigen Begriffseinengungen des für alle geltenden Gesetzes. Denn selbst dann, wenn eine staatliche Regelung an sich als ein für alle geltendes Gesetz anerkannt werden müsse, sei damit noch nicht gesagt, daß diese in jedem Falle dem kirchlichen Selbstbestimmungsrecht vorgehe.11 In der Tat wird nunmehr das Eingriffsrecht des Gesetzgebers relativiert. Er muß jetzt gewärtigen, daß jede seiner generellen Vorschriften auf der Einzelfall-Waage des Bundesverfassungsgerichts gewägt, gewogen und zu leicht befunden wird. Letztlich kommt alles auf den Einzelfall an. Über diesen aber entscheidet der Richter. Die Güterabwägung verlagert die Macht von der Legislative auf die Gerichtsbarkeit. Güterabwägung ist keine materiale Entscheidung, sondern ein inhaltsleeres Verfahren. Woher aber nimmt das Gericht die Maßstäbe, um die Werte zu wiegen in einem Gemeinwesen, das keine geschlossene ethische Wertordnung mehr kennt und dessen vielbeschworene Grundwerte sich immer mehr zu Streitgegenständen entwickeln? Im übrigen dürften die Grundwerte sogar dann, wenn sie wieder als sakrosankt akzeptiert würden, sich weder als hierarchisch gestuft noch als quantitativ meßbar erweisen. Fände die Güterabwägung jedoch ohne vorgegebene Güterordnung statt, so würde alles, Staatsgesetz und Kirchenfreiheit, relativiert und der Unberechenbarkeit des wägenden Gerichts ausgeliefert. Ein Ansatz zu materialer Gewichtung liegt in der These des Gerichts, daß dem Eigenverständ10  11 

BVerfGE 53, 366 (400 f.). BVerfGE 53, 366 (400).

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nis der Kirchen, soweit es in dem Bereich der grundgesetzlich als unverletzlich gewährleisteten Glaubens- und Bekenntnisfreiheit wurzele und sich in der grundrechtlich geschützten Religionsfreiheit verwirkliche, „ein besonderes Gewicht“ zuzumessen sei. Doch das Gericht schweigt darüber, wieviel Gewicht denn die Kirchenfreiheit im Vergleich zum Gegengewicht der Staatszwecke tatsächlich auf die Waage bringt. Das Gericht läßt allerdings erkennen, daß der Staat nicht ohne weiteres auf das „Procedere“ im kirchlichen Krankenhaus Einfluß nehmen dürfe, auf kirchliche Willensbildung und Organisation. Aus der Feststellung folgt aber keine Ausgrenzung kirchenautonomer Bereiche, sondern lediglich eine Staatspflicht zu „größtmöglicher Zurückhaltung“. Dieses Zurückhaltungsgebot wiederum steht unter Vorbehalt: Es müsse zumindest solange gelten, „wie die kirchlichen Einrichtungen den aus staatlicher Sicht gestellten Ansprüchen bei der Erfüllung ihrer Aufgaben genügen, sich in die auf dem Sektor ‚Gesundheitswesen‘ erforderliche Zusammenarbeit mit anderen Einrichtungen einfügen und die Gemeinsamkeiten mit diesen ausreichen, sie als festen Faktor bei der staatlichen Krankenhausbedarfsplanung der Gesundheitsvorsorge in einer Weise in Rechnung stellen zu können, wie es ihrem hohen Anteil an der insgesamt zur Verfügung stehenden Krankenhauskapazität entspricht.“12 Der Vorbehalt ist zwar durch die Formel „zumindest“ vorsichtig gefaßt. Aber er bildet doch ein Damoklesschwert, das über der Kirchenautonomie im Krankenhaus hängt. Es wirkt als Drohung für den Fall, daß die Kirche sich nicht in das staatlich vorgegebene Konzept fügt. Die Freiheit des freien Krankenhausträgers beschränkt sich also im wesentlichen auf eine einzige Möglichkeit der Ausübung und besteht im freiwilligen Gehorsam gegenüber den staatlichen Vorgaben, damit ihr der gesetzliche Zwang erspart bleibe. Unter der Harmonieformel des Bundesverfassungsgerichts vom „friedlichen Zusammenleben von Staat und Kirche“, deren nicht notwendig harmonierende Interessen von derselben Verfassungsnorm gewährleistet sein sollen, lauert eben doch die potentielle Allzuständigkeit des einen Partners, des Staates. „Und willst du nicht mein Partner sein, …“. Das Bundesverfassungsgericht hat mit der Güterabwägungsformel die juristische Möglichkeit gewonnen, jeden künftigen Konflikt beliebig zu entscheiden, ohne in Widerspruch zu seiner eigenen Judikatur zu geraten. Das der Richtermacht so Günstige des Güterabwägungsprinzips und das der Rechtssicherheit so Fatale liegt darin, daß es verallgemeinerungsfähige Ergebnisse und dauerhafte gerichtliche Selbstbindung nicht schafft. Die kirchliche Seite hat im ersten Anwendungsfall des Prinzips den Prozeßsieg davongetragen. Doch dieser Sieg müßte sie eigentlich das Fürchten lehren.

12 

BVerfGE 53, 366 (406).

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IV.  Das kirchliche Krankenhaus im Spannungsfeld säkularer und religiöser Forderungen 1.  Säkularer Anpassungsdruck und Notwendigkeit religiöser Selbstbehauptung Die kirchlichen Krankenhausträger stehen vor zwei Aufgaben, die das Bundesverfassungsgericht deutlich beschreibt, und zwar: „einerseits ihrem religiösen Grundauftrag und dem kirchlichen Selbstverständnis treu zu bleiben und andererseits den Anforderungen an ihre medizinische, soziale und wirtschaftliche Leistungsfähigkeit gerecht zu werden.“13 Das kirchliche Krankenhaus will sich nicht in religiöse Selbstgenügsamkeit einigeln. Es stellt sich der Herausforderung durch die säkularen Mächte: dem medizinischen, dem hygienischen und dem technischen Fortschritt, den Ansprüchen der Patienten an die Dienste des Krankenhauses und den Ansprüchen des Personals, das die Dienste erbringt. Das kirchliche Krankenhaus muß dem allgemeinen medizinischen und sozialen Standard genügen, den es in der Gesellschaft vorfindet. Es wirkt mit im Wettbewerb mit den anderen Einrichtungen, den Standard zu heben. Aber es hütet sich, dem säkularen Anpassungsdruck in einer Weise nachzugeben, daß es sein kirchliches proprium einbüßt. Es folgt also zwei Prinzipien, die einander scheinbar widersprechen: dem Prinzip des Mit-der-Zeit-Gehens und dem Prinzip der Selbstbehauptung, das den Widerstand gegen den säkularen Zeitgeist einschließt. Der doppelte Auftrag, dem es gerecht werden will, erzeugt geistige Spannung, die in der tagtäglichen Arbeit durchzuhalten ist. Aus dieser polaren Grundverfassung erwachsen die Rechtsprobleme der kirchlichen Einrichtung gegenüber den Kräften der pluralistischen Gesellschaft, für die und unter denen sie Dienste erbringt, und gegenüber dem religiös neutralen Staat, der die säkularen Interessen der Allgemeinheit gewährleistet. Patienten, Kassen und Staat erwarten grundsätzlich von den Krankenhäusern, unabhängig von der Trägerschaft, gleichwertige Leistungen. Darf der Staat, um die gleichwertige Krankenversorgung sicherzustellen, die Organisationsstruktur und die Arbeitsweise der Krankenhäuser vereinheitlichen? Der Arzt, der im kirchlichen Krankenhaus tätig ist, kompensiert Kunstfehler nicht durch Kirchenbesuch, der Krankenpfleger Arbeitsverdrossenheit nicht durch Gebetseifer. Aber läßt sich die Feststellung umkehren: ersetzt fachliche Tüchtigkeit die religiöse Motivation? Das kirchliche Krankenhaus geht nicht auf Gewinn aus. Jedoch kann es deshalb seine Angestellten nicht mit dem Hinweis auf Gotteslohn abspeisen. Es schuldet ihnen das Entgelt, das die vergleichbare Arbeit im außerkirchlichen Raum wert 13 

BVerfGE 53, 366 (406).

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ist. Auch die sonstigen Arbeitsbedingungen, vom Urlaub bis zum Mutterschutz, können nicht hinter dem gesamtgesellschaftlichen Standard zurückbleiben. Das ist für die Kirche ein Gebot der Selbstachtung, aber auch ein Erfordernis des Wettbewerbs auf dem Arbeitsmarkt, schließlich eine soziale Forderung, der gegebenenfalls der Gesetzgeber Nachdruck verleihen kann. Erstreckt sich der Angleichungszwang aber auch auf das kollektive Arbeitsrecht? Darf der Gesetzgeber die kirchlichen Einrichtungen auf das Prokrustesbett der Organisationsmodelle legen, die er für die gewerbliche Wirtschaft entworfen hat, oder die sich in diese entwickelt haben: Mitbestimmung, Berufsbildung, Tarifvertrag, Arbeitskampf, Zugangsfreiheit hausfremder Gewerkschaftsfunktionäre? Zwei Problemzentren sind hier zu unterscheiden: – die organisatorische Gestaltungsfreiheit der Kirchen im Verhältnis zur Organisationsmacht des Staates und – die Wahrung der kirchlichen Identität gegenüber der Macht der Gewerkschaften. 2.  Organisationsfreiheit als Grundlage zur Bergung und zur Entfaltung der religiösen Substanz In einem Punkte sind sich laikale Gesellschaftspolitiker und spiritualistische Theologen einig: das Kirchliche im kirchlichen Krankenhaus erschöpfe sich (falls es überhaupt existiere) im Geistigen; in der Organisation wie in der Funktion sei das kirchliche Krankenhaus ein Krankenhaus wie jedes andere. Die Argumentation gipfelt in den unvermeidlichen Witzen über die katholische Blinddarmoperation und den evangelischen Herzschrittmacher. Die gesetzespolitische Konsequenz dieser Sichtweise ist die Reglementierung des kirchlichen Krankenhauses in Form der Betriebsleitung wie Einrichtung einer Arztvertretung, Anstellungsvertrag und Privatliquidation des Chefarztes sowie Umverteilung seiner Honorare, Buchführung und Pflichtanschluß an Rechenzentren, Bettenzahl, Zimmergröße, Besuchszeiten … Das Resultat ist das staatlich geplante, gesetzlich gleichgeschaltete Einheitskrankenhaus, das allenfalls noch im Namen andeutet, wer sein jeweiliger Träger ist. Die Organisation wird gleichförmig und starr wie die einer staatlichen Behörde. Damit ist bereits eine wesentliche Voraussetzung für die kirchliche wie jedwede sonstige freie Trägerschaft zerstört: Initiative, Beweglichkeit, Fähigkeit, Pionierchancen wahrzunehmen und durch Neuerungen wie durch Besonderheiten einen Wettbewerbsvorsprung zu erreichen. Das kirchliche proprium aber bedarf zusätzlicher organisatorischer Freiheit. Es muß seine eigene institutionelle Gestalt finden. Es ist ein wesentlicher Unterschied, ob der einzelne katholische Arzt oder die einzelne katholische Krankenschwester ihre religiöse Gesinnung in ihren Beruf einbringen – das ist ihnen im Rahmen der allgemeinen Arbeitsdis-

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ziplin auch als Angestellte eines staatlichen Krankenhauses möglich – oder ob die katholische Kirche eine Institution schafft, die ihren Geist objektiv verkörpern und ihre Sendung überindividuell verwirklichen soll. Aus diesem Grunde bedarf sie auch der Freiheit in organisatorischen Angelegenheiten, die, für sich genommen, religiös indifferent sind. Die Organisationsstruktur, einschließlich der Personalverfassung, ist das bergende Gehäuse des proprium. Aber es ist auch sein Medium und seine Manifestation. Das Bundesverfassungsgericht bekundet Sinn für diese organisatorische Dimension des Religiösen: der Gesetzgeber müsse den religiösen Vereinigungen eigene Wege offen halten, auf denen sie die etwa erforderlichen Strukturverbesserungen und Erneuerungen an der Organisation des Krankenhauses unter Berücksichtigung der besonderen kirchlichen Aspekte und in der vom kirchlichen Selbstverständnis gebotenen Form verwirklichen.14 Der Skeptiker wird freilich einwenden, wo denn der kirchliche Geist heute noch so mächtig wehe, daß er eine moderne Großklinik durchdringen und ihre Verfassung aufbauen könne. Diese Frage zielt auf die Realisierung der vorhandenen Freiheit. Die Antwort muß die Kirche selbst geben. Das kirchliche Selbstbestimmungsrecht im caritativen Bereich gewährleistet nicht die effektive Prägekraft des Religiösen, ebensowenig wie das Grundrecht der Pressefreiheit schon die Existenz guter Zeitungen verbürgt. Das Recht des kirchlichen Krankenhauses ist nicht seine Wirklichkeit, aber eine Bedingung ihrer Möglichkeit. 3.  Kirchliche Dienstgemeinschaft oder gewerkschaftliche Arbeitnehmergesellschaft Die religiöse Prägung des Krankenhauses äußert sich in der Einstellung und in der Tätigkeit seiner Mitarbeiter. Diese müssen sich in ihrer Arbeit den caritativen Auftrag der Kirche zu eigen und ihn glaubwürdig machen. Sie haben mehr zu leisten als fachkorrekte Arbeit und mehr einzubringen als geldmotivierte Jobmentalität. Der kirchliche Arbeitgeber kann berufliche Identifikation mit der Kirche, eine kirchliche Treupflicht, fordern.15 Die Personalverfassung folgt dem Leitbild der Dienstgemeinschaft, das bestimmt wird durch die gemeinsame Aufgabe aller Mitarbeiter, den christlichen Dienst am Nächsten, und das arbeitsteilige Zusammenwirken in der Erfüllung der Aufgabe. Der Stil der Kooperation, die Form der internen Interessenvertretung, die Verfahren der Regelung und Konfliktlösung 14 BVerfGE 53, 366 (405). Antithese: Sondervotum des Richters Rottmann, ebd., S. 408 – 420. Kritik auch in einer Unterbewertung der organisatorischen Bedürfnisse des Religiösen: Friesenhahn (Fn. 1), S. 260 – 269. 15 Zu den arbeitsrechtlichen Problemen des kirchlichen „Tendenzbetriebs“ s. etwa: B. Rüthers, in: NJW 1978, S. 2066 – 2070; ders., in: Caritas-Verband Dortmund 75 Jahre, 1981, S.  20 – 29. Systematische Darstellung mit Nachw.: J. Jurina, Das Dienst- und Arbeitsrecht der Kirchen der BRD, 1979.

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passen sich den gewachsenen Besonderheiten des kirchlichen Dienstes und der kirchlichen Struktur an.16 So wahren die Schwesternschaften die Kontinuität zum Ethos der Krankenpflegeorden. Diese kirchenautonome Personalverfassung würde zerstört werden, wenn der staatliche Gesetzgeber oder Richter das kirchliche Krankenhaus den Organisations- und Verfahrensschemata des kollektiven Arbeitsrechts unterwürfe. Das Leitbild der Dienstgemeinschaft würde durch das Kapital-Arbeit-Konfrontationsmodell verdrängt. Der Staat risse künstlich den Arbeitgeber-ArbeitnehmerGegensatz auf, den die Gewerkschaften zu hegen und zu pflegen wüßten, um ihre Daseinsberechtigung als Streitmacht und als Ordnungsmacht dauerhaft zu beweisen. Für die Gewerkschaften ist es seit einigen Jahren ein Ziel, in den größten Dienstleistungsbereich einzudringen, der sich bisher ihrer Macht entzieht: den kirchlichen Bereich mit etwa einer halben Million Mitarbeitern. Für die Kirchen ist es eine Frage ihrer kirchlichen Identität, sich der Fremdbestimmung durch die („Einheits“-)Gewerkschaften zu entziehen, die, aufs Ganze gesehen, weder bereit noch fähig sind, sich den kirchlichen Besonderheiten anzupassen, die vielmehr, mit oder ohne staatliche Unterstützung, die Kampf- wie Friedensverfahren der gewerblichen Wirtschaft und ihre eigene antagonistische, sozialismus-affine Ideologie importieren wollen. Wenn die Kirchen ihre Einrichtungen den bestehenden monopolistischen Gewerkschaften vorbehaltlos öffneten, hätten sie zu gewärtigen, daß ihr proprium sich in der Arbeitnehmergesellschaft auflöste. Sie riskierten die Säkularisierung durch Syndikalisierung.17 Gutmeinende Zeitgenossen mögen diese Prognose bestreiten mit dem Hinweis darauf, daß zwischen Kirchen und Gewerkschaften ein Gemeinsames bestehe: das soziale Engagement. Die jeweiligen „Sozial“-Ideale stimmen aber so viel oder so wenig überein wie der Prototyp der Ordensschwester mit dem Prototyp des Sozialarbeiters: hier die selbstlose, demütige, lebenslängliche Hingabe an den Krankendienst aus Liebe zu Christus – dort die auf Selbstverwirklichung zielende, zeit- und aufwandbegrenzte berufliche Arbeit, gelenkt vom Willen nach Gesellschaftsveränderung.

16  Das Bundesverfassungsgericht erkennt das besondere Leitbild christlicher Dienstgemeinschaft aller Mitarbeiter des Krankenhauses und die Erwartung des Krankenhausträgers an, „daß jedes Mitglied und jeder Mitarbeiter das kirchliche Selbstverständnis der Einrichtung anerkennt und es sich in seinem dienstlichen Handeln zu eigen macht“ (E 53, 366 [403 f.]). – Zur rechtlichen Verfassung der Dienstgemeinschaft in der Grundordnung des Katholischen Krankenhauses und zu ihrer Begründung: Kessels/Klein/Lauer (Hrsg.), Die Gestalt des Katholischen Krankenhauses, o. J. (1981). 17 Dazu näher mit Nachw. am Beispiel der Krankenhauspflegeausbildung: Isensee (Fn. 1), S. 29 – 31, 62 – 68, 77.

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Das verfassungsrechtliche Fazit ist durch das Feuer verfassungsgerichtlicher Entscheidungen gehärtet: Das Grundgesetz schützt das kirchliche Selbstbestimmungsrecht auch gegen das staatliche Oktroi gewerkschaftlicher Fremdbestimmung.

V.  Sozialmonopol des Staates oder Pluralismus sozialer Dienste? Es bedarf keiner umständlichen verfassungsrechtlichen Deduktion, um darzutun, daß der Staat der Gegenwart für die Leistungsfähigkeit der Krankenhäuser im Ganzen Verantwortung trägt. Er kommt ihr nach durch Planung und Regelung, durch Leistung und Unterhalt eigener Einrichtungen. Die freien Träger sind in vielfältiger Weise angewiesen auf Vorkehrungen des Staates, insbesondere auf das System der Gesetzlichen Krankenversicherung. Die Zulässigkeit der staatlichen Aktivität wird dem Grunde nach allseits anerkannt. Umstritten ist dagegen die Reichweite. 1.  Freiheitsgrundrechte als Schutz gegen den totalen Sozialstaat Mächtige politische Tendenzen gehen heute dahin, dem Staat die umfassende Regelungs- und Organisationskompetenz im Krankenhausbereich zuzuweisen. Die verfassungsrechtliche Legitimation soll die Sozialstaatsklausel bieten. Eine typische Legitimationsthese lautet: Alle Krankenhäuser unterfielen der „gesamtplanerischen Gesamtverantwortung“ des Sozialstaats. Die kirchlichen Träger hätten sich trotz ihres Grundrechtsschutzes dieser Gesamtverantwortung unterzuordnen. Es sei ihnen zwar weiterhin gestattet, auf dem Gebiet der Sozialarbeit präsent zu bleiben, aber nur in „pflichtengeneigter“ Kooperation; sie müßten die Pflichten übernehmen, die ihnen der souveräne Kooperator Sozialstaat zuweise.18 Ergebnis: Die Kirchen dürfen das Gnadenbrot des Sozialstaats essen, sofern sie sich seinen Plänen gefügig erweisen. Es bedarf keines juristischen Aufwandes, um eine politische Wunschvorstellung an die Sozialstaatsklausel zu hängen, weil das Adjektiv „sozial“ weit, undeutlich, ohne scharfe rechtliche Kontur und Ausprägung im Verfassungstext steht. Es ist dagegen nicht einfach, Inhalt und Grenzen der Klausel in Zusammenschau mit den sonstigen Verfassungsregelungen am Einzelfall zu bestimmen. Die Sozialstaatsklausel enthält das hochabstrakte Staatsziel, das menschenwürdige Mindestmaß in den gesellschaftlichen Verhältnissen zu gewährleisten. Der Sozialstaat ist angelegt auf ein Gegenüber: die Gesellschaft als den Bereich grundrechtlicher Freiheit. Er setzt die gesellschaftlichen Freiheitsrechte, zu denen die Kirchenautonomie gehört, voraus. Er sichert dieser Freiheit die realen 18 So Rinken (Fn. 1), S. 357 – 381. – Kritisch dazu: W. Leisner, in: DÖV 1977, S. 474 f. Vgl. auch W. Geiger, Caritas im freiheitlichen Rechtsstaat, 1977, S. 17 – 21.

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Entfaltungsbedingungen und die Breitenwirkung; er korrigiert Mißstände, greift ein, wo gesellschaftliche Autonomie versagt, um ein Mindestmaß an menschenwürdigen Lebensbedingungen für jedermann zu erreichen. Die Aktivität des grundrechtsfördernden und grundrechtsgebundenen Sozialstaats wird gesteuert durch das Subsidiaritätsprinzip. Nur dort hat er ein Mandat zum Handeln, wo die grundrechtslegitimierten freien Träger nicht fähig und nicht bereit sind, gemeinschaftswichtige öffentliche Aufgaben der Gesundheitsvorsorge und der Krankenversorgung angemessen zu erfüllen. Konkrete Formen nimmt das Subsidiaritätsprinzip an in den Grundrechten, insbesondere in der Kirchenautonomie, und ihren Schranken.19 Eine pauschale Berufung auf die Sozialstaatsklausel schafft keine Rechtfertigung. Die Grundrechte, die nicht nur dem einzelnen, sondern auch den gesellschaftlichen Verbänden zukommen, die nicht nur die private Tätigkeit, sondern auch das öffentliche Wirken schützen, ermöglichen Freiheit und Vielfalt in der Erfüllung sozialer Aufgaben. Alle Grundrechtsträger sind berufen, nach ihren Fähigkeiten an der Herstellung des Gemeinwohls, auch in seiner sozialen Dimension, mitzuarbeiten. Der arbeitsteilige Dienst der freien Leistungsträger für das Gemeinwohl und die korrespondierende subsidiäre Letztverantwortung des Sozialstaates machen den freiheitlichen Verfassungsstaat aus. Die Aktivierung der Grundrechte verhindert, daß der Sozialstaat ein Sozialmonopol gewinnt und zum totalen Betreuungsstaat auswächst.20 Ein Machiavelli der Sozialpolitik könnte dem Sozialstaat raten, die Tätigkeit der kirchlichen Träger zu dulden und sogar zu fördern, um aus ihnen für sich Nutzen zu ziehen. In den Kirchen wirken religiöse und moralische Kräfte, die der Staat nicht von sich aus aktivieren und in Pflicht nehmen könnte, weil sie außerhalb seines säkularrechtlichen Horizonts entspringen. Diese Kräfte aber bringen Leistungen hervor, die der ganzen Gesellschaft zugute kommen und den Staat entlasten. 2.  Sozialethische Harmonieformeln kein Ersatz für rechtliche Freiheitsausgrenzung Der Pluralismus sozialer Dienste, den die Verfassung des freiheitlichen Gemeinwesens gewährleistet, wird vom Sozialgesetzbuch vorausgesetzt, das ein Modell der Kooperation unterschiedlicher Leistungsträger zeichnet: „In der Zusammenarbeit mit gemeinnützigen und freien Einrichtungen und Organisationen wirken die (sc. öffentlichen) Leistungsträger darauf hin, daß sich ihre Tätigkeit 19  Zur

caritativen Tätigkeit: Friesenhahn (Fn. 1), S. 252 f.; Geiger (Fn. 18), S. 13 – 17. Allgemein: J. Isensee, Subsidiaritätsprinzip und Verfassungsrecht, 1968, S. 268 – 312. 20  Ablehnung eines Sozialmonopols für den Sozialstaat: BVerfGE 22, 180 (204); 29, 221 (236). Vgl. auch Friesenhahn (Fn. 1), S. 252.

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und die der genannten Einrichtungen und Organisationen zum Wohl der Leistungsempfänger wirksam ergänzen. Sie haben dabei deren Selbständigkeit in Zielsetzung und Durchführung ihrer Aufgaben zu achten.“21 Die Kooperation der Leistungsträger ist auch im Krankenhausbereich ein Gebot der praktischen Vernunft. Es wäre jedoch naiv, wenn die Kirchen glaubten, mit löblichen Harmonisierungsformeln wie „Zusammenarbeit“ und „Partnerschaft“ Konflikte meiden oder lösen zu können. Staat und Kirche sind nach Legitimation wie Mächtigkeit wesentlich ungleich. Der kirchliche „Partner“ bedarf der verfassungsrechtlichen Absicherung seiner Basis, damit er zur Zusammenarbeit fähig ist, ohne fürchten zu müssen, von der Umarmung seines staatlichen Partners erdrückt zu werden. Die Kirchen können in den sozialethischen Harmonisierungsidealen ebensowenig Ersatz für ihre grundrechtliehen und staatskirchenrechtlichen Gewährleistungen finden, wie die Gewerkschaften in der Lage wären, angesichts der Prinzipien von Sozialpartnerschaft und konzertierter Aktion das Grundrecht der Koalitionsfreiheit zu entbehren.

VI.  Schafft an, wer zahlt? 1.  Leistungsdirigismus durch Krankenhausförderung Was die Partnerschaft in Wahrheit bedeutet, tritt zutage in der Regelung der Finanzierungsfrage. Das Krankenhaus arbeitet heute defizitär. Die Finanzlasten übersteigen auch die Kräfte der Kirchen, obwohl sie, im Unterschied zu den sonstigen freien Trägern, über Steuerhoheit verfügen. Das kirchliche Krankenhaus ist daher angewiesen auf Zuschüsse des Staates. Der Staat leistet auch Zuschüsse. Und zwar übernimmt er, in bestimmtem Umfang, die Investitionskosten, falls das Krankenhaus in den Krankenhausbedarfsplan, den das jeweilige Land aufstellt, Aufnahme gefunden hat.22 Als Gegenleistung für seine Förderung verlangt er die Unterwerfung unter die staatliche Planung und unter die staatsprogrammierte Baugestaltung, Einrichtung, Ausstattung, Organisationsstruktur, Betriebsführung, Bettenzahl, „Klassenlosigkeit“ etc. Anordnungen, die der Staat auf dem Wege des gesetzlichen „Eingriffs“ nicht treffen könnte, ohne mit Grundrechten der freien Träger in Konflikt zu geraten, werden über Planungsmaßnahmen sowie über Förderungsauflagen und -bedin21 

§ 17 Abs. 3 S. 1, 2 SGB I. Entscheidung über die Aufnahme in den Krankenhausbedarfsplan wird von der Praxis als Ermessensentscheidung behandelt, die sich grundsätzlich der gerichtlichen Kontrolle entzieht. Entsprechendes soll für die Beschränkung der Bettenzahl eines Krankenhauses gelten. So die (freilich rechtlich bedenkliche) Auffassung des OVG Lüneburg, U. v. 23. 2. 1979, Az. VIII OVG A 22/78; des OVG Rheinland-Pfalz, U. v. 21. 2. 1979, Az. 7 A 51/79. 22 Die

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gungen durchgesetzt – nach der lakonischen Grundnorm des Subventionsrechts: „Wer zahlt, schafft an.“23 Die Subventionsreglementierung, die öffentliche und freie Krankenhäuser gleichmäßig erfaßt, trifft letztere härter, weil es ihnen die privatwirtschaftliche Anpassungsfähigkeit und ihren bisherigen Wettbewerbsvorsprung damit nimmt, ohne ihnen die steuerstaatliche Finanzierungssicherheit zu geben, welche die ersteren besitzen.24 Der planende und lenkende Staat hat ein gutes Gewissen, wenn er die rationelle Verwendung öffentlicher Mittel im Dienste öffentlicher Aufgaben streng überwacht; immerhin stimmen die Leistungsträger zu; sie könnten sich ja dem Subventionsreglement entziehen dadurch, daß sie die Zuwendungen ausschlügen und, außerhalb des Krankenhausbedarfsplans, Einrichtungen nach eigenem Zuschnitt aus eigener Finanzkraft betrieben. In der Tat ist ihnen diese Freiheit verblieben. Doch kein kirchlicher Träger könnte es sich leisten, allein auf sie zu bauen; er verlöre nicht nur die Förderung, sondern auch die Belegung durch die Krankenkassen.25 Die Jurisprudenz hat den kirchlichen Einrichtungen bisher nur wenig gegen staatlichen Leistungsdirigismus helfen können. Die herkömmliche Lehre des Staatskirchenrechts war primär darauf bedacht, die Kirchenfreiheit gegenüber dem staatlichen Eingriff zu schützen, kaum aber darauf, sie vor dem goldenen Zügel der staatlichen Leistungsabhängigkeit zu bewahren. Gerade hier aber entstehen die schwierigsten staatskirchenrechtlichen Probleme der Gegenwart. Immerhin gilt der verwaltungsrechtliche Grundsatz, daß Nebenbestimmungen zu einer staatlichen Leistung dem Zweck der Leistung entsprechen müssen.26 Der Zweck der Krankenhausförderung ist aber von bedrohlicher Weite. Eindeutig zweckfern und rechtswidrig wäre allerdings die Kopplung der Zuwendung an staatsfrommes und regierungsparteifrommes Verhalten der Kirchen, also die Schaffung eines subventionsrechtlichen Kanzelparagraphen. Immerhin wurde die Temporaliensperre im Jahre 1980 mehr oder weniger verhalten der katholischen Kirche angedroht, nachdem die Bischöfe in ihrem Wahl-Hirtenbrief an das den regierenden Parteien peinliche Thema Staatsverschuldung gerührt hatten. Der nordrhein-westfälische Sozialminister Farthmann (SPD) rechnete der Katholischen Kirche eilig vor, daß sie zur Staatsverschuldung beigetragen habe; sein Land habe nämlich für kirchliche Krankenhäuser seit 1973 knapp vier Milliarden 23 Dieser Maxime gemäß versucht Rottmann, die Subventionsreglementierung zu rechtfertigen (Fn. 14, S. 417 f.). 24 Vgl. F. Spiegelhalter, in: Kessels/Klein/Lauer (Fn. 16), S. 129. 25  Vgl. § 371 RVO. Vgl. auch Friesenhahn (Fn. 1), S. 262. 26 Vgl. § 14 KHG – Zur verwaltungsrechtlichen und staatskirchenrechtlichen Problematik von Nebenbestimmungen: M. Stolleis, Behindertenwerkstätten zwischen freier Wohlfahrtspflege und staatlicher Arbeitsverwaltung, 1980, S. 19 – 39.

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Mark gezahlt, den größeren Teil an katholische Häuser, weitere hohe Beträge seien anderen caritativen Einrichtungen zugeflossen.27 2.  Das gesetzliche Täuschungskonzept Die Rechnung beruht auf einem fundamentalen Fehler: die Krankenhausförderung (die öffentlichen wie freien, kirchlichen wie nichtkirchlichen Trägern zukommt) ist nicht Ausfluß staatlicher Großzügigkeit und Kirchenfreundlichkeit. Sie ist auch keine echte Subvention – jedenfalls keine Subventionierung der kirchlichen Einrichtungen. Das bedarf der Erläuterung. Der Staat diktiert dem Krankenhaus „sozial tragbare“ Pflegesätze, die nicht die Selbstkosten des Krankenhauses (also die Betriebs- und die Investitionskosten) decken. Er begünstigt damit die Kassen, denen er die kostengerechten Entgelte erspart, und entlastet mittelbar die beitragspflichtigen Kassenmitglieder. Den Preis dieser sozialpolitischen Wohltat wälzt er auf die Krankenhausträger über dadurch, daß er sie zum defizitären Wirtschaften zwingt. Soweit der Staat über die Krankenhausförderung das von ihm selbst künstlich verursachte Defizit ausgleicht, leistet er Kostenerstattung. Die Erstattung gleicht aber das sozialpolitische Opfer, das die Träger für die Kassen bringen müssen, nicht in voller Höhe aus. Die Staatsleistungen richten sich nicht nach der Höhe des staatsverursachten Verlusts, sondern nach den Zielen der staatlichen Krankenhausplanung. Entschädigungsleistungen vertragen auch keine verhaltenssteuernden Nebenbestimmungen. Als Kompensation bleibt die Krankenhausförderung also unzulänglich. Sie schützt das Krankenhausfinanzierungssystem nicht vor dem Vorwurf, daß es die freien Träger verfassungswidrig enteigne.28 Das Finanzierungssystem erweist sich als Formenmißbrauch. Der Staat macht das freie Krankenhaus künstlich zum Sozialfall, um als Retter einzuspringen. Er entwindet dabei den freien Trägern die Freiheit der Investitionsentscheidung (ein wesentliches Element unternehmerischer Selbstbestimmung) und führt die staatliche Investitionslenkung ein. Er hat damit eine kalte Teilsozialisierung erreicht. Er erzeugt in der Öffentlichkeit das Trugbild, er fördere die freien, insbesondere die kirchlichen Einrichtungen, während die effektiv Begünstigten der UmwegSubvention, die Kassen, unsichtbar bleiben. Den Kirchen kann der Vorwurf nicht erspart bleiben, daß sie sich leichtgläubig und kurzsichtig auf das System der geltenden Krankenhausfinanzierung eingelassen und daß sie auch seither die Öffentlichkeit nicht wirksam aufgeklärt haben. 27 

Bericht: Bonner Rundschau v. 18. 9. 1980. O. Bachof/D. Scheuing, Krankenhausfinanzierung und Grundgesetz, 1971, S. 26 – 79; dies., Verfassungsrechtliche Probleme der Novellierung des Krankenhausfinanzierungsgesetzes, 1979, S. 9 – 17; Spiegelhalter (Fn. 23), S. 124 – 131. – Zur Subventionsproblematik im Bereich Wohlfahrtspflege allgemein: Wegener (Fn. 1), S. 279 – 289. 28 Dazu

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VII.  Legitimation durch Leistung Der Blick auf einige Problemfelder des Krankenhausrechts zeigt, daß für die Kirche kein Grund besteht, sich in verfassungsrechtlicher Sicherheit zu wiegen. Auch die Prozeßsiege der letzten Jahre dürfen nur Ansporn sein, die verfassungsrechtlich gewährleistete Freiheit, die das Bundesverfassungsgericht bestätigt hat, sinnvoll zu nutzen. Sonst könnte leicht der Vorwurf aufkommen: vincere scis, Ecclesia, victoria uti nescis. Das Gedankenspiel, das am Anfang der Überlegungen stand, ist ernst: Die Kirche muß den Kreis, den die Verfassung ihr offen hält, mit Wirksamkeit füllen, wenn sie ihn legitim beanspruchen und dauerhaft wahren will. Je stärker der religiöse Elan das Krankenhaus prägt, desto glaubwürdiger wird seine verfassungsrechtliche Grundlegung in der Religionsfreiheit. Die Kirche zieht keine Legitimation aus jener Megalomanie, der sie in den letzten Jahren nicht selten erlegen ist: einem quantitativen Wachstum der Organisationen ohne entsprechend wachsende religiöse Energie; einer zahlenmäßigen Ausweitung des Personals bei Schrumpfung der geistlichen Berufe; einem Aktionismus klerikalen Managertums. Die Schaffung eines Großklinikums in kirchlicher Trägerschaft wäre noch keine nachhaltig legitime Bekundung der Kirchenautonomie, wenn nach der Einweihung durch den Bischof nichts Kirchliches mehr zurückbliebe außer ein paar juristischen Zuständigkeiten, einem Kreuz in der Eingangshalle und dem Namen eines Heiligen in der Firma. Eine AlptraumVision: ein hypertrophischer Personalrumpf mit winzigem geistlichen Kopf – der Caritas-Dinosaurier, der sich rasch entwickelt aus einem lebensuntüchtigen Lebewesen in ein Fossil. Das Verfassungsrecht gewährleistet die Freiheit zur Caritas als Chance. Sie zu ergreifen, sie mit Leben und Sinn zu füllen, ist Sache eines jeden, der im Krankenhaus und für das Krankenhaus arbeitet. Je stärker die religiös begründete Wirksamkeit, desto geringer der Bedarf nach juristischer Absicherung.

Anstaltsseelsorge und Diakonie in den Kirchenverträgen des Freistaates Sachsen* Anstaltsseelsorge in den Kirchenverträgen des Freistaates Sachsen Anstaltsseelsorge und Diakonie in den Kirchenverträgen des Freistaates Sachsen

I.  Trennung – Eigenständigkeit – Vertrag Im Plenarsaal des Landtags feiert Dresden sein zweites Blaues Wunder: die Kirchenverträge des Freistaates Sachsen. In der Tat kommen sie einem Wunder nahe. Vor dreißig Jahren wären Verträge dieser Art und dieses Inhalts undenkbar gewesen. Vor zwanzig Jahren aber wurde das Unwahrscheinliche Ereignis: dass sich Staat und Kirche auf der Grundlage beiderseitiger Unabhängigkeit und in Achtung vor ihrem jeweiligen Auftrag verständigten – nach zwei totalitären Systemen, nach der Vertreibung der Kirchen aus der Öffentlichkeit, nach der planmäßigen Verödung der christlichen Wurzeln der Gesellschaft, nach planmäßiger Paganisierung.1 Am Ende der DDR war der christliche Anteil an der Bevölkerung Sachsens auf ein Drittel des Bestandes von 1945 gesunken. Im Jahre 1992, zur Zeit der Verfassungsberatungen, waren gerade noch 27,5 % der Sachsen evangelisch und 3,9 % katholisch – Tendenz fallend. 2008 nennt die Statistik 20,7 % Protestanten und 3,6 % Katholiken.2 Die DDR ist in ihrem Endziel, das kommunistische Heilsreich heraufzuführen, jämmerlich gescheitert. Dagegen war sie in ihrem Zwischenziel in einem hohen Grade erfolgreich: die bürgerliche Gesellschaft wie auch das religiöse Leben zu zerstören. Alldem zum Trotz: die Kirchen haben überlebt. In der Zeit der Unterdrückung hatten sie sich im Kern resistent erwiesen gegenüber der SED-Herrschaft und der Opposition Zuflucht geboten. Als die Stunde der Freiheit anbrach, gingen aus den Kirchen Kräfte der friedlichen Revolution hervor.3 Der wiedererstande*  Erstveröffentlichung in: Arnd Uhle (Hrsg.), 20 Jahre Staatskirchenverträge in Sachsen, 2016, S. 87 – 107. 1 Zum Staatskirchenrecht der DDR Axel Freiherr v. Campenhausen, Staatskirchenrecht in den neuen Bundesländern, in: Josef Isensee/Paul Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. 4, 1. Aufl. 1997, § 207 Rn. 9 ff. Vgl. auch Richard Puza, Verträge zwischen Kirche und Staat in den neuen Bundesländern, in: Theologische Quartalschrift 176 (1996), S. 177 (180 ff.); Guido Burger, Staatskirchenrecht in Sachsen, 1998, S. 25 ff.; Stefan Korta, Der katholische Kirchenvertrag Sachsen, 2001, S. 17 ff. 2 Statistik: Annette Rehfeld-Staudt, Kirchen in Sachsen, unter: http://www.infoseiten. slpb.de/politik/sachsen/sachsenallgemein/religion/ (aufgerufen am 12. 08. 2015). 3 Zu diesem Motiv des sächsischen Staatskirchenrechts Helmut Goerlich/Torsten Schmidt, Das Staatskirchenrecht der Sächsischen Verfassung vom 27. Mai 1992, in: Uhle (Hrsg.), 20 Jahre Sächsische Verfassung, 2013, S. 111 (123 f.).

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ne Freistaat Sachsen lädt nunmehr die Kirchen ein, am Aufbau einer freiheitlichen, pluralen Gesellschaft mitzuwirken, und richtet gerade auf sie Hoffnungen, dass sie heilsamen Einfluss in der schwierigen Zeit des Neuanfangs ausüben können.4 Die Verfassung erkennt die Bedeutung an, die sie „für die Bewahrung und Festigung der religiösen und sittlichen Grundlagen des menschlichen Lebens“ haben.5 Die Präambel des Evangelischen Kirchenvertrages spricht vom „Bewußtsein der gemeinsamen Verantwortung für das Wohl des Landes“. Noch deutlicher heißt es in der Präambel des drei Jahre jüngeren Vertrages des Heiligen Stuhls mit dem Lande Mecklenburg-Vorpommern, „daß christlicher Glaube, kirchliches Leben und karitatives Wirken einen Beitrag für das Gemeinwohl und den Gemeinsinn der Bürger in einer pluralen Gesellschaft leisten“.6 Man kann sich nur schwer vorstellen, dass ein „altes“, westliches Bundesland solch eine Anerkennung heute ausspräche. Völlig ausgeschlossen ist das für die Europäische Union, die, so üppig auch die Formeln ihrer Verfassungspräambeln ausfallen, ihre Christophobie kultiviert und schon das Wort christlich meidet wie der Teufel das Weihwasser. Aus der gesellschaftlichen Minderheitsposition erwachsen den Kirchen Probleme, die in diesem Maße in den westlichen Bundesländern nicht bestehen: wie sie ihre verfassungs- und vertragsrechtlichen Sonderrechte gegenüber einer kirchenfremden Öffentlichkeit rechtfertigen,7 aber auch, wie sie den weiten Freiraum nutzen, den ihnen das staatliche Recht offenhält. Diese Probleme nehmen freilich auch in der „alten“ Bundesrepublik zu. Seit langem zeigen sich hier Ermüdungserscheinungen und Legitimationsdefekte. Die Verfassung des Freistaates Sachsen macht sich das gemeindeutsche Konzept der Staat-Kirchen-Beziehungen zu eigen, formuliert es deutlicher und gestaltet es weiter aus als das Grundgesetz. Sie begnügt sich nicht damit, auf Weimarer Kirchenartikel zu verweisen; das tut sie freilich auch. Vielmehr setzt sie eigene Akzente, die, wenn auch nicht durchwegs in der Sache, so jedenfalls in

4  Axel Vulpius, Betrachtungen zu den evangelischen Kirchenverträgen in den neuen Ländern, in: Grabenwarter/Lüdecke (Hrsg.), Standpunkte im Kirchen- und Staatskirchenrecht, 2002, S. 217. 5  Art. 109 Abs. 1 SächsVerf. 6 Vertrag zwischen dem Heiligen Stuhl und dem Land Mecklenburg-Vorpommern vom 15. September 1997 (GVOBl. MV 1998 S. 2). 7 Dazu Christoph Degenhart, in: Degenhart/Meissner (Hrsg.), Handbuch der Verfassung des Freistaates Sachsen, 1997, § 9 Rn. 5; Hermann Weber, Neue Staatskirchenverträge mit der Katholischen Kirche in den neuen Bundesländern, in: FS für Martin Heckel zum siebzigsten Geburtstag, 1999, S. 463 (493); Axel Vulpius, Betrachtungen zu den evangelischen Kirchenverträgen in den neuen Ländern, in: Grabenwarter/Lüdecke (Hrsg.), Standpunkte im Kirchen- und Staatskirchenrecht, 2002, S. 217.

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der ausdrücklichen Regelung, über das Grundgesetz hinausgehen.8 Sie nennt die Kirchen als die Prototypen der Regelungsadressaten beim Namen und stellt sie neben die (übrigen) Religionsgemeinschaften.9 Sie führt widerstrebende Prinzipien zusammen: die Weltlichkeit des Staates und die Freiheit der Kirche; die Säkularität als äußere Grenze staatlicher Allzuständigkeit und die grundrechtliche Freiheit der Religion als innere Grenze; die Trennung von Staat und Kirche und ihren freundschaftlichen Umgang; die Unabhängigkeit der Kirche vom Staat und ihre Förderung durch den Staat; die wesenhafte Unterschiedlichkeit von Staat und Kirche und ihre praktische Konvergenz in ihrem heterogenen Dienst für das Gemeinwohl. Der Trennung ist politische Feindseligkeit ebenso fremd wie laikale Berührungsscheu. Vielmehr gewährleistet die Verfassung die Eigenständigkeit beider Seiten in ihrem jeweiligen, hier säkularen, dort religiösen Wirkungskreis. Sie verbindet die Sorge um dieselben Menschen. Ihre Aufgaben überschneiden und ihre Mittel ergänzen sich teilweise. Zusammenarbeit ist daher sinnvoll. Die Staatsverfassung und das für alle geltende Gesetz enthalten nur abstrakte und sektorale Vorgaben. Die Verfassung verweist ausdrücklich auf den Vertrag als die Form, in der die Beziehungen des Landes zu den Kirchen des weiteren und des näheren („im übrigen“) geregelt werden.10 Das Institut des Vertrages baut auf der rechtlichen Unabhängigkeit der Partner und auf der praktischen Konvergenz in verschiedenen ihrer Ziele. Es eröffnet die Möglichkeit, widerstreitende Interessen auszugleichen und sich im gemeinsamen Interesse zu verbinden. All diese Momente bringen sich in den Kirchenverträgen des Freistaates glücklich zur Geltung.11 8  Das sächsische Religionsverfassungsrecht im Verfassungsvergleich: Helmut Goer­ lich/Torsten Schmidt, Das Staatskirchenrecht der Sächsischen Verfassung vom 27. Mai 1992, in: Uhle (Hrsg.), 20 Jahre Sächsische Verfassung, 2013, S. 111 (122 ff.). 9  Im Folgenden soll zur Vereinfachung nur von den Kirchen die Rede sein, obwohl die paritätische Übertragung auf vergleichbare Religionsgemeinschaften als Möglichkeit immer mitzudenken bleibt. 10  Art. 109 Abs. 2 SächsVerf. Zum sächsischen Vertragskirchenrecht: Helmut Goer­ lich/Torsten Schmidt, Das Staatskirchenrecht der Sächsischen Verfassung vom 27. Mai 1992, in: Uhle (Hrsg.), 20 Jahre Sächsische Verfassung, 2013, S. 111 (113 ff.). 11 Dokumentation: Reiner Tillmanns (Hrsg.), Staatskirchenverträge im Freistaat Sachsen, Die Neuordnung des Verhältnisses von Staat und Kirche nach der Wiedervereinigung durch kodifikatorische Verträge, 2001, S. 169 ff. Dort auch die Berichte über die Vertragsverhandlungen: aus der Sicht des Freistaates Sachsen (Rolf Raum, Die Verhandlungen zu den Staatskirchenverträgen aus Sicht des Freistaates Sachsen, ebd., S. 45 ff.), aus der Sicht der evangelischen Landeskirchen (Jürgen Bergmann, Die Verhandlungen zum Vertrag zwischen den evangelischen Landeskirchen im Freistaat Sachsen und dem Freistaat Sachsen vom 24. März 1994 aus Sicht der evangelischen Landeskirche, ebd., S. 129 ff.) und der katholischen Kirche (Dieter Grande, Die Verhandlungen zum Vertrag zwischen dem Heiligen Stuhl und dem Freistaat Sachsen vom 2. Juli 1996 aus Sicht der katholischen Kirche, ebd., S. 151 ff.).

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II.  Anstaltsseelsorge und Diakonie 1.  Themen des Landesrechts Anstaltsseelsorge und Diakonie sind Themen des Vertrags des Freistaates Sachsen mit den evangelischen Landeskirchen12 und mit dem Heiligen Stuhl.13 Der evangelische Vertrag von 1994 geht dem katholischen von 1996 um zwei Jahre voraus. Er ist das Vorbild. Der Einfachheit halber orientiere ich mich im Folgenden am Text des älteren Vertrages, der ohnehin weitgehend wörtlich im jüngeren Vertrag wiederkehrt. Die beiden Verträge sowie ihre Ausführungsvereinbarungen regeln praxiserhebliche Funktions-, Personal-, Raum- und Finanzfragen. Anstaltsseelsorge und Diakonie waren zuvor bereits Gegenstände der Verfassung des Freistaates. Sie gewährleistet die diakonische und karitative Arbeit (Art. 109 Abs. 3), und sie bietet den Kirchen einen Anspruch auf angemessene Kostenerstattung durch das Land, wenn sie im öffentlichen Interesse liegende gemeinnützige Einrichtungen und Anstalten unterhalten (Art. 110 Abs. 1). Die Anstaltsseelsorge wird indirekt zum Regelungsgegenstand der Verfassung über die nach grundgesetzlichem Muster erfolgende Verweisung auf einen Weimarer Kirchenartikel, nämlich auf Art. 141 WRV: „Soweit das Bedürfnis nach Gottesdienst und Seelsorge im Heer, in Krankenhäusern, Strafanstalten oder sonstigen öffentlichen Anstalten besteht, sind die Religionsgesellschaften zur Vornahme religiöser Handlungen zuzulassen, wobei jeder Zwang fernzuhalten ist.“ Die rechtliche Bedeutung der landesverfassungsrechtlichen Regelungen wird freilich von vornherein eingeschränkt dadurch, dass die Gesetzgebungs- oder sogar die Verwaltungskompetenz in erheblichem Umfang beim Bund liegt. So fällt die Militärseelsorge völlig in den Bundesbereich; die Seelsorge im Justizvollzug findet einen bundesgesetzlichen Rahmen im Strafvollzugsgesetz (§§ 53 – 55). Die Diakonie kommt mit den Sozialgesetzen, dem Krankenhausfinanzierungsgesetz, dem Berufsbildungsgesetz des Bundes in Berührung, nicht zuletzt mit dem Arbeitsrecht, das seinerseits durch europarechtliche Vorgaben imprägniert ist. Die staatlichen Determinanten für diakonische Einrichtungen reichen bis in die Personalschlüssel hinein. Es zeigt sich, dass jede einzelne Regelung nur als Bestandteil eines größeren, differenzierten Ganzen zu verstehen ist, das sich aus Verfassung und einfachem 12  Art. 20 Abs. 1 des Vertrags des Freistaates Sachsen mit den Evangelischen Landeskirchen im Freistaat Sachsen (Evangelischer Kirchenvertrag Sachsen [SächsEvKV]) vom 24. März 1994 (SächsGVBl. S. 1252 ff.). 13  Art. 9 Abs. 1 des Vertrags zwischen dem Heiligen Stuhl und dem Freistaat Sachsen (Katholischer Kirchenvertrag Sachsen [SächsKathKV]) vom 2. Juni 1996 (SächsGVBl. 1997 S. 17 ff.).

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Recht, aus Gesetz und Vertrag, Bundesrecht und Landesrecht, supranationalem und nationalem Recht, aus staatlichem und kirchlichem Recht zusammensetzt. 2.  Ausschließliche und konkurrierende Aufgaben Anstaltsseelsorge und Diakonie sind auf Zusammenarbeit von Staat und Kirche angelegt. Doch die Ausgangslage ist unterschiedlich. Die Seelsorge ist dem säkularen Staat verschlossen, die Anstaltsgewalt aber entzieht sich der Kirche. Die Kirche kann ihrer ureigenen Aufgabe der Seelsorge in den staatlichen Räumen des Kindergartens, des Pflegeheims, des Krankenhauses, der Polizeikaserne nur nachgehen, wenn der Staat ihr die Türe öffnet. Er bietet ihr die äußeren Bedingungen ihres Wirkens, ohne auf dessen Inhalt Einfluss zu nehmen. Werden in der Anstaltsseelsorge ausschließlich staatliche und ausschließlich kirchliche Aufgaben koordiniert, so treffen auf dem Felde der Diakonie Materien aufeinander, für die keine Seite eine exklusive Kompetenz beanspruchen kann. Beide Seiten betreiben aus eigenem Recht Kindergärten und Kindertagesstätten, Krankenhäuser, Alten- und Pflegeheime und bieten soziale Dienste aller Art. Die kirchlichen Einrichtungen folgen nicht allein kirchlichem Recht. Vielmehr legt der Staat in vielerlei Hinsicht die rechtlichen Rahmenbedingungen fest. Das Staatsrecht spricht hier von konkurrierenden Staatsaufgaben,14 das Kirchenrecht von res mixtae.

III.  Gefängnisseelsorge als Beispiel der Anstaltsseelsorge 1.  Gegenstand der Kirchenverträge Die Kirchenverträge15 gewährleisten „Gottesdienst und Seelsorge in staatlichen Krankenhäusern, Justizvollzugsanstalten, Polizeiausbildungsstätten und entsprechenden Einrichtungen des Freistaates“. Der Freistaat übernimmt die Sorge dafür, dass die notwendigen Räumlichkeiten zur Verfügung stehen. Er behält sich vor, dass das zuständige Staatsministerium ins Benehmen gesetzt wird, wenn die Kirchenleitung einen Anstaltspfarrer beruft. Das Gros der Regelungen über das Zusammenwirken von Staat und Kirche in der Anstaltsseelsorge wird auf besondere Vereinbarungen verlagert, die heute für die Seelsorge in Justizvollzugsanstalten, in Krankenhäusern und für die Polizeiseelsorge

14  Georg Jellinek, Allgemeine Staatslehre, 3. Aufl. 1914, S. 255 (259); Josef Isensee, Karitative Betätigung der Kirche im Verfassungsstaat, in: Joseph Listl/Dietrich Pirson (Hrsg.), Handbuch des Staatskirchenrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. 2, 2. Aufl. 1995, § 59, S. 665 (689 f.). 15  Art. 20 SächsEvKV und Art. 9 SächsKathKV.

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vorliegen.16 Die Anstaltsseelsorge, die hier als Sonderseelsorge firmiert, hat vielfältige Erscheinungen. Prototyp ist die Seelsorge in Justizvollzugsanstalten. Hier geben sich die Eigenart dieser Materie und die besondere Form der Zusammenarbeit von Staat und Kirche besonders klar zu erkennen. 2.  Grundrechtliche Ausgangslage der Gefängnisseelsorge Die Gefängnisseelsorge gründet letztlich in der Religionsfreiheit des einzelnen Gefangenen. Die Gefangenschaft hindert ihn, sein Grundrecht aktiv wahrzunehmen. Wer die Freiheit der Person genießt und selbst über seinen Aufenthalt bestimmt, entscheidet von sich aus, ob und wie er seine Religion ausübt und am kirchlichen Leben teilnimmt. Das ist seine Privatangelegenheit, wie es auch seine Privatangelegenheit ist, für seine Ernährung zu sorgen, sich um Kleidung und Wohnung zu kümmern. In der Haft fällt die Sorge für die materiellen wie für die spirituellen Bedürfnisse dem Staat zu.17 Dieser aber vermag in seiner säkularen Begrenztheit von sich aus keine religiösen Leistungen wie Gottesdienst und ­pastorale Betreuung zu erbringen, so dass ihm nur die Möglichkeit bleibt, reli­ giösen Institutionen, die das Bedürfnis des Häftlings erfüllen können, den Zu16  Art. 4 Vereinbarung des Freistaates Sachsen mit den Evangelischen Kirchen im Freistaat Sachsen zur Regelung der seelsorgerischen Tätigkeit in Justizvollzugsanstalten vom 25. Januar 1993 (= EvSeelsorgeV) (ABl. EKKPS 1994 S. 97). Das katholische Pendant: Vereinbarung des Freistaates Sachsen mit dem Bistum Meißen, der Apostolischen Administratur Görlitz und dem Bischöflichen Amt Magdeburg zur Regelung der seelsorgerischen Tätigkeit in den Justizvollzugsanstalten vom 15. Januar 1993 (Schlußprotokoll zu Art. 12 Abs. 3 SächsKathKV). Literatur zur Rechtslage: Dietrich Pirson, Die Seelsorge in staatlichen Einrichtungen als Gegenstand des Staatskirchenrechts, in: Essener Gespräche zum Thema Staat und Kirche 23 (1989), S. 4 (23); Balthasar Gareis, Seelsorge in Justizvollzugsanstalten, in: Essener Gespräche zum Thema Staat und Kirche 23 (1989), S. 58 (68 f.); Susanne Eick-Wildgans, Anstaltsseelsorge, in: Joseph Listl/Dietrich Pirson (Hrsg.), Handbuch des Staatskirchenrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. 2, 2. Aufl. 1995, § 70 S. 995 (998 f.); Stefan Mückl, Freiheit kirchlichen Wirkens, in: Josef Isensee/Paul Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. 7, 3. Aufl. 2009, § 161 Rn. 56, 58 f.; Guido Burger, Staatskirchenrecht in Sachsen, 1998, S. 175 ff.; Stefan Korta, Der katholische Kirchenvertrag Sachsen, 2001, S. 160 ff. Zur Praxis: Wolfram Reiss, Anwalt für religiöse Bedürfnisse, in: Weiß/Federschmitt/Temme (Hrsg.), Handbuch für interreligiöse Seelsorge, 2010, S. 299 ff. 17 So sieht es die Regierungsbegründung zu Art. 13 SächsEvKV (LT-Drs. Sachsen 1/4649, Regierungsbegründung zum Vertrag zwischen den evangelischen Landeskirchen im Freistaat Sachsen und dem Freistaat Sachsen, S. 18) wie zu Art. 12 SächsKathKV (LTDrs. Sachsen 2/3612, Regierungsbegründung zum Vertrag zwischen dem Heiligen Stuhl und dem Freistaat Sachsen [Katholischer Kirchenvertrag Sachsen], S. 20): dass sich die Anstaltsseelsorge auch auf einen Personenkreis bezieht, der in seiner Bewegungsmöglichkeit eingeschränkt und deshalb am Besuch des Gottesdienstes wie auch allgemein in der Nachfrage nach seelsorgerischer Betreuung gehindert sei, wie es vor allem für Krankenhäuser und Justizvollzugsanstalten zutreffe.

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gang zum Inhaftierten zu öffnen. Die Religionsfreiheit, an sich auf Abwehr des Staates angelegt, verwandelt sich in der Sonderbeziehung des Strafvollzugs in einen Leistungsanspruch. Der status negativus schlägt um in den status positivus. Der säkulare Staat ist grundrechtlich verpflichtet, dem Häftling die Voraussetzungen für die Religionsausübung, damit den Kontakt zur Kirche, zu gewährleisten.18 Für die Kirche aber ist es heilige Pflicht, sich den Gefangenen zuzuwenden. Aufforderung und Drohung zugleich ist das Wort Christi beim Weltgericht: „Ich bin im Gefängnis gewesen und ihr seid zu mir gekommen“ – oder aber: „[…] ihr habt mich nicht besucht“ (Mt 25, 36 und 43).19 Verfassungsrechtlich gesehen, besteht eine Dreieckskonstellation zwischen dem Häftling als dem Adressaten der Anstaltsseelsorge, dem Staat als deren Mittler und der Kirche als deren Erbringer. Am Anfang steht der Gefangene, der als Person und Inhaber grundrechtlicher Freiheit zu achten ist. Von ihm her bestimmt sich die Fürsorgepflicht des staatlichen Trägers der Anstalt und das Angebot religiöser Dienste, die die Kirche leistet. Gleichwohl bleibt auch unter den Bedingungen der Haft die negative Religionsfreiheit erhalten. Der Einzelne entscheidet, ob er am Gottesdienst teilnimmt und pastorale Dienste empfängt. Falls niemand das Verlangen nach Gottesdienst und Seelsorge spürt, finden sie auch nicht statt. Die Verfassung knüpft die Zulassung der Religionsgesellschaften zur Vornahme religiöser Handlungen an das Vorliegen eines Bedürfnisses. Der Wunsch nach Seelsorge muss jedoch nicht ausdrücklich geäußert werden. Ein Bedürfnis ist schon dann gegeben, wenn Häftlinge der jeweiligen Kirche angehören und sie die religiöse Betreuung nicht ausdrücklich ablehnen.20 Die Religionsfreiheit aktualisiert sich sowohl als Abwehrrecht wie auch als Schutzpflicht. Der Staat steht dafür ein, dass bei religiösen Kontakten „jeder Zwang fernzuhalten ist“.21 Das gilt für Zwang von Seiten der Anstalt wie von Seiten der Religionsgemeinschaft. Der Staat benutzt die Anstaltsseelsorge nicht als Instrument dazu, die Häftlinge mit pastoralen Mitteln resozialisieren zu las18 Grundlegend Wolfgang Loschelder, Vom besonderen Gewaltverhältnis zur öffentlich-rechtlichen Sonderbindung, 1982, S. 435 f., 444. Verfassungsrechtliche Rechtfertigung der Militärseelsorge: Jörg Ennuschat, Militärseelsorge, 1996, S. 108 ff. 19  Zum kirchlichen Auftrag Balthasar Gareis, Seelsorge in Justizvollzugsanstalten, in: Essener Gespräche zum Thema Staat und Kirche 23 (1989), S. 58 ff. (65 f., 83 f.). 20  Dietrich Pirson, Die Seelsorge in staatlichen Einrichtungen als Gegenstand des Staatskirchenrechts, in: Essener Gespräche zum Thema Staat und Kirche 23 (1989), S. 4 (12); Susanne Eick-Wildgans, Anstaltsseelsorge, in: Joseph Listl/Dietrich Pirson (Hrsg.), Handbuch des Staatskirchenrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. 2, 2. Aufl. 1995, § 70 S. 995 (1002, 1009); Stefan Korta, Der katholische Kirchenvertrag Sachsen, 2001, S. 161 f. 21  Art. 141 WRV (Art. 140 GG, Art. 109 Abs. 4 SächsVerf).

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sen. Die Resozialisierung mag erwünschte Folge der Anstaltsseelsorge sein; ihr Zweck ist es nicht. Im Übrigen nutzt die Kirche die Situation, in der ihr inhaftierter Adressat ihr nicht ausweichen kann, nicht aus, um ihn umzuerziehen, zu missionieren und ihm ihre Botschaft aufzudrängen.22 Vom kirchlichen Angebot gehen auch außerreligiöse Anreize aus. Es bringt Farbe in den grauen Zellenalltag und Würze in das fade Gefangenenleben. In der Strafanstalt finden sich viel mehr Sänger für den Kirchenchor und viel mehr Messdiener als außerhalb der Gitter. Überhaupt liegt die Quote der Gottesdienstbesucher deutlich über dem außeranstaltlichen Niveau. 3.  Aufgabenteilung zwischen Staat und Kirche Die Seelsorgevereinbarung zwischen den Evangelischen Kirchen und dem Freistaat Sachsen sieht für den Anstaltspfarrer pastorale Aufgaben vor: regelmäßige Gottesdienste, Einzelseelsorge einschließlich der Zellenbesuche und Aussprache mit einzelnen Gefangenen, ferner die Abnahme der Beichte, Spende der Sakramente, Krankenseelsorge, Beratung und Beistand der Angehörigen.23 Der offene Katalog der Aufgaben nennt aber auch die Mitwirkung beim Vollzugsplan und in der Freizeitgestaltung, bei Gnadensachen, soziale Hilfe für den Gefangenen und seine Familie, Hilfe zur Wiedereingliederung, Rat für die Anschaffung von Büchern der Gefangenenbibliothek. Hier handelt es sich aber nicht mehr um Anstaltsseelsorge, sondern um Sozialarbeit. Diese wird von der Verfassungsgarantie der Anstaltsseelsorge nicht erfasst, die nur einen Mindeststandard kirchlichen Wirkens im Anstaltsbereich garantiert. Sie steht aber einer Ausweitung nicht im Weg.24 Von Verfassungs wegen unbedenklich ist denn auch, dass der Anstaltspfarrer an der Weiterbildung des Vollzugspersonals mitwirkt und ihnen Seelsorge anbietet, und dass er Öffentlichkeitsarbeit in Gesellschaft und Kirche leistet.25 Der Anstaltspfarrer hat Anspruch auf die Bereitstellung des gottesdienstlichen Raumes und des Dienstzimmers sowie auf die Inanspruchnahme aller Einrichtungen und die Veranlassung organisatorischer Maßnahmen, die geeignet und erforderlich sind, seine Aufgaben zu erfüllen.26 22 Vgl.

Susanne Eick-Wildgans, Anstaltsseelsorge, in: Joseph Listl/Dietrich Pirson (Hrsg.), Handbuch des Staatskirchenrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. 2, 2. Aufl. 1995, § 70 S. 995 (1009). Dagegen werden evangelikale Gruppen und Zeugen Jehovas missionarische Aktivitäten entwickeln, weil diese ihrem Religionssinn entsprechen (Wolfram Reiss, Anwalt für religiöse Bedürfnisse, in: Weiß/Federschmitt/Temme (Hrsg.), Handbuch für interreligiöse Seelsorge, 2010, S. 305). 23  Art. 4 Abs. 1 EvSeelsorgeV. 24  Susanne Eick-Wildgans, Anstaltsseelsorge, in: Joseph Listl/Dietrich Pirson (Hrsg.), Handbuch des Staatskirchenrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. 2, 2. Aufl. 1995, § 70 S. 995 (1008, 1011). 25  Art. 4 Abs. 1 EvSeelsorgeV.

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Der Anstaltspfarrer hat ein zweifaches Amt. Einerseits steht er im Dienst seiner Landeskirche und ist in seelsorgerischen Angelegenheiten frei.27 Andererseits hat er die anstaltlichen Vorschriften und Anordnungen des Vollzugs zu beachten.28 Innerhalb der Anstalt kommen dem durchwegs nur nebenamtlich tätigen Pfarrer grundsätzlich die gleichen Rechte zu wie den Vollzugsbediensteten. Er arbeitet mit ihnen zusammen und nimmt an den Dienstbesprechungen sowie den allgemeinen Beamtenkonferenzen teil. Er hat das Dienstgeheimnis zu wahren.29 Der Staat aber respektiert das Beicht- und Seelsorgegeheimnis.30 26

Die Bestellung des Anstaltspfarrers steht der Landeskirche zu, jedoch im Benehmen mit dem Staatsministerium der Justiz. Der Freistaat kann die Abberufung des Anstaltspfarrers verlangen, wenn sich gegen die Person oder die Tätigkeit schwerwiegende Bedenken ergeben und diese nicht einvernehmlich behoben werden können.31 Die Aufgaben werden von dem Vertrauen getragen, das der Freistaat den Kirchen entgegenbringt. Er respektiert die Freiheit der Verkündigung.32 Jedoch kann er seine Verantwortung für die Ordnung der Anstalt nicht delegieren und nicht preisgeben. Der Anstaltspfarrer steckt in einer heiklen Lage: einerseits steht er, obwohl im Auftrag der Kirche, im selben Lager wie das staatliche Vollzugspersonal und hat Distanz zum Gefangenen zu wahren. Andererseits wirbt er um dessen Vertrauen und sucht die seelsorgerische Nähe, die jedoch nicht zur Kollusion geraten darf.33 Wie der Zugang von vornherein verbaut werden kann, zeigt das Beispiel aus einer rheinischen Justizvollzugsanstalt: Der Strafverteidiger fragt seinen türkischen Mandanten, ob er Kontakt zu dem mit der Gefangenenseelsorge betrauten Hodscha halte. Die Antwort: er meide diesen, weil er alle Häftlinge dafür beschimpfe, dass sie Schlimmes getan hätten und so im Gefängnis gelandet seien. Das Kontrastbild zeichnet Theodor Fontane, der als Kriegsinternierter im Jahr 1870 die Bekanntschaft mit mehreren französischen Gefängnissen gemacht und jeweils den Besuch eines Geistlichen in seiner Zelle empfangen hatte: „Dies ist eine sehr schöne Sitte. Freilich müssen die Geistlichen danach sein. Wenn sie 26 

Art. 3 Abs. 1, 2 EvSeelsorgeV. Art. 2 Abs. 1, Abs. 2 S. 1, Abs. 3 S. 1 EvSeelsorgeV. 28  Art. 2 Abs. 2 S. 2 EvSeelsorgeV. 29  Art. 2 Abs. 2 S. 2, 3, Abs. 3 S. 2, 3 EvSeelsorgeV. 30  Art. 1 Abs. 3 EvSeelsorgeV. 31  Art. 5 Abs. 2 EvSeelsorgeV. Zu den staatlichen Vorbehalten in der Militärseelsorge: Jörg Ennuschat, Militärseelsorge, 1996, S. 275 ff. 32  Art. 1 Abs. 3 EvSeelsorgeV. 33  Zum Dilemma Balthasar Gareis, Seelsorge in Justizvollzugsanstalten, in: Essener Gespräche zum Thema Staat und Kirche 23 (1989), S. 58 (75 f.). 27 

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kommen, um einem die Hölle heiß zu machen, oder auch nur, um einen Sermon zu halten, steif, langweilig, salbungsvoll, so sind sie unerträglich, wenn sie kommen, wie diese französischen Aumoniers, so kann kein Herz so roh, so verschlossen, so religionslos sein, daß es nicht Freude empfände an so menschlich schönem Zuspruch.“34 Auf dieser Linie liegen die Erinnerungen des wohl prominentesten Insassen des Zuchthauses Waldheim im Königreich Sachsen, Karl May. Er erlebte eine konfessionsüberspringende Anstaltsseelsorge ohne direkte seelsorgerische Intention. Obwohl Protestant, mit dem Orgelspiel für den katholischen Gottesdienst in der Anstaltskirche betraut, kam er in Kontakt mit dem katholischen Katecheten und dem katholischen Pfarrer, die nie über konfessionelle Dinge mit ihm gesprochen hätten, aber deren Schweigen beredt, deren Gegenwart wohltuend gewesen sei. „Es liegt noch heute eine unendliche Dankbarkeit für diese Wärme und Güte in mir, die sich meiner annahm und keinen einzigen Vorwurf für mich hatte, als alles andere gegen mich war.“35 Der Staat sichert sich dagegen, dass der Anstaltspfarrer seine Position missbraucht, dass er die Anstaltsordnung unterläuft, den Anstaltsfrieden stört oder den Strafzweck vereitelt, indem er negativen Einfluss auf den Gefangenen ausübt, in eigenwilligem Verständnis von Nächstenliebe Alkohol, Drogen, Kassiber und Mobiltelefone schmuggelt oder zum Ausbau krimineller Netzwerke beiträgt. Doch das Vertragsrecht baut darauf, dass beide Seiten sich loyal verhalten, dass ihre unterschiedlichen Belange in der Anstaltsseelsorge sich vertragen und etwaige Konflikte sich auf freundschaftliche Weise beilegen lassen, wie es der Freundschaftsklausel entspricht, die zum festen Bestand aller Konkordate und Kirchenverträge gehört. Das Grundvertrauen des Staates zu den Großkirchen in Deutschland lässt sich aber nicht unbesehen auf jedwede Religionsgemeinschaft übertragen, nicht auf amerikanische Importsekten, nicht auf den Islam, obwohl auch deren Angehörige an der Anstaltsseelsorge teilhaben.36 Diesen Religionsgemeinschaften fehlt bereits die institutionelle Verfestigung zu einer kirchenanalogen Organisation, die Eigenverantwortung tragen und politischen Kredit sichern könnte. Gleichwohl kann auch der Häftling, der keiner etablierten, organisatorisch gefestigten Religionsgemeinschaft angehört, seelsorgerische Betreuung verlangen. Ein Alb34  Theodor Fontane, Kriegsgefangen: Erlebtes 1870, in: Fontane, Gesammelte Romane und Novellen, Bd. 7, 1891, S. 42 (174). 35  Karl May, Mein Leben und Streben (1910), in: May, „Ich“, 37. Aufl. 1985, S. 25 (187 ff., 190 f.). 36  Zu dem Problem neuer Religionen Susanne Eick-Wildgans, Anstaltsseelsorge, in: Joseph Listl/Dietrich Pirson (Hrsg.), Handbuch des Staatskirchenrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. 2, 2. Aufl. 1995, § 70 S. 995 (1015). Zum Problem des Islam Wolfram Reiss, Anwalt für religiöse Bedürfnisse, in: Weiß/Federschmitt/Temme (Hrsg.), Handbuch für interreligiöse Seelsorge, 2010, S. 299 ff.. 304 ff.

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traum: dass salafistische Prediger die Gefangenenseelsorge dazu nutzen könnten, Rekruten für den Heiligen Krieg einzuwerben, dschihadistische Verbindungen zu pflegen und Terrorakte zu organisieren. Wäre das noch Anstaltsseelsorge im Sinne der Verfassung? Wäre das noch Religion und Seelsorge nur deshalb, weil es dem Selbstverständnis salafistischer Kreise entspräche? Müsste der religiös neutrale, grundrechtsgebundene Verfassungsstaat ein solches Selbstverständnis akzeptieren? Immerhin lassen sich im juristischen Schrifttum Ansätze zu einer bedingungslosen Akzeptanz erkennen.37

IV.  Diakonie (Caritas) 1.  Wesentliche Aufgabe der Kirche Jedoch gehört nach dem Selbstverständnis der christlichen Kirchen die Diakonie (Caritas) zum Kernbereich ihres Wirkens. Sie bildet die organisierte Form der Nächstenliebe. Christentum ist keine rein spirituelle Angelegenheit. Es ist auf praktisches Wirken angelegt, und zwar nicht nur auf individuell-spontanes, sondern auch auf organisiertes, öffentliches Wirken, wie es sich in den Einrichtungen von Diakonie und Caritas vollzieht. Ließe sich Christentum auf die Beziehung zu Gott reduzieren, so würde es weltlos. Eine Diakonie aber, die ihre Bindung an den Glauben kappte, wäre gottlos. Sie verdiente nicht den Namen christlich. Sie wäre Wohlfahrtspflege, wie sie humanitäre Einrichtungen aller Art auch leisten. Wenn die Kirche, angesichts der Schwierigkeiten, die ihr die Diakonie zuweilen bereitet, sie aufgeben wollte, würde sie sich selbst amputieren. Diakonie ist Inhalt der Religion und ihre Realisierung. Dieses Selbstverständnis hat sich in der zweitausendjährigen Tradition des Christentums objektiviert; und es erneuert sich stetig in der Gegenwart. Es geht allen säkularen Verfassungsgarantien der Religionsfreiheit voraus und liegt ihnen zugrunde. Das gilt für das Grundgesetz wie für die Landesverfassung in ihren Gewährleistungen der Religionsfreiheit und der Kirchenautonomie.38 Die Verfassung des Freistaates Sachsen hebt die Gewähr der diakonischen und karitativen Arbeit aus-

37  Martin Morlok, Selbstverständnis als Rechtskriterium, 1993, S. 78 ff. – Kritik m. w. N. des Pro und Contra: Josef Isensee, Das Grundrecht als Abwehrrecht und als staatliche Schutzpflicht, in: Josef Isensee/Paul Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. 4, 3. Aufl. 2011, § 191 Rn. 73 ff. 38  Zu den verfassungsrechtlichen Grundlagen von Diakonie (Caritas) im Grundgesetz: Roland Wegener, Staat und Verbände im Sachbereich Wohlfahrtspflege, 1978, S. 147 ff.; Josef Isensee, Die karitative Betätigung der Kirchen und der Verfassungsstaat, in: Jo­ seph Listl/Dietrich Pirson (Hrsg.), Handbuch des Staatskirchenrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. 2, 2. Aufl. 1995, § 59 S. 665 (692 ff., 705 ff., 716 ff., 724 ff.).

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drücklich hervor.39 Die Kirchenverträge sichern den diakonischen und karitativen Einrichtungen das Recht zu, im Sozial- und Gesundheitswesen eigene Einrichtungen für die Betreuung und Beratung besonderer Zielgruppen zu unterhalten und eigene Bildungsstätten für die Aus-, Fort- und Weiterbildung ihres Personals zu betreiben.40 Diakonisch-karitative Leistungen, die jeder Bedürftige, unabhängig von der Kirchenzugehörigkeit, in Anspruch nehmen kann, werden vom Freistaat angemessen gefördert.41 Das ist freilich eine sächsische Besonderheit, die sich nicht bundesrechtlich verallgemeinern lässt.42 Die Kirchenverträge, wie die Regierungsbegründung zu den Vertragsgesetzen feststellt, erkennen das „christliche Grundverständnis“ an, dass Einrichtungen im Sozial- und Gesundheitsbereich als Ausfluss tätiger Nächstenliebe eine wesentliche Aufgabe innerhalb der Gesellschaft darstellen und dass diese zum verfassungsrechtlich geschützten Wirkungskreis der Kirchen gehören. Die Kirchenverträge, so die Begründung, würdigen, dass die Kirchen hier Aufgaben übernommen haben, die ansonsten der Staat im Rahmen seiner Pflicht zur Daseinsvorsorge zu erfüllen hätte.43 Die staatsentlastende Bedeutung rechtfertigt den Anspruch auf staatliche Förderung, den die Kirchenverträge bestätigen.44 Der Staat folgt einem freiheitlichen Verständnis des dezentralen Gemeinwohls, das aus privaten und öffentlichen, aus pluralistischen Aktivitäten hervorgeht, sich aus säkularen wie religiösen Quellen speist und dem Leitbild des Subsidiaritätsprinzips entspricht.45 39  Art. 103 Abs. 3 SächsVerf. Das Grundgesetz rührt an das Thema in der Kirchengutsgarantie, die auch das für „Wohltätigkeitszwecke“ bestimmte Kirchengut anführt (Art. 138 Abs. 2 WRV i. V. m. Art. 140 GG). Dazu Guido Burger, Staatskirchenrecht in Sachsen, 1998, S. 147 f. 40  Art. 20 Abs. 1 S. 1 und Abs. 2 SächsEvKV, Art. 9 Abs. 1 S. 1 und Abs. 2 Sächs­KathKV. 41  Art. 20 Abs. 1 S. 2 SächsEvKV, Art. 9 Abs. 1 S. 2 SächsKathKV. Dazu Guido Burger, Staatskirchenrecht in Sachsen, 1998, S. 148 f. 42  Josef Isensee, Die karitative Betätigung der Kirchen und der Verfassungsstaat, in: Joseph Listl/Dietrich Pirson (Hrsg.), Handbuch des Staatskirchenrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. 2, 2. Aufl. 1995, § 59 S. 665 (744 f.). 43  Regierungsbegründungen zu Art. 20 SächsEvKV (LT-Drs. Sachsen 1/4649, Regierungsbegründung zum Vertrag zwischen den evangelischen Landeskirchen im Freistaat Sachsen und dem Freistaat Sachsen, S. 33) und zu Art. 9 SächsKathKV (LT-Drs. Sachsen 2/3612, Regierungsbegründung zum Vertrag zwischen dem Heiligen Stuhl und dem Freistaat Sachsen [Katholischer Kirchenvertrag Sachsen], S. 17). 44  Art. 20 Abs. 1 S. 2 SächsEvKV; Art. 9 Abs. 1 S. 2 SächsKathKV. Zu den Finanzierungsfragen: Roland Wegener, Staat und Verbände im Sachbereich Wohlfahrtspflege, 1978, S. 279 ff.; Helmut Goerlich/Torsten Schmidt, Das Staatskirchenrecht der Sächsischen Verfassung vom 27. Mai 1992, in: Uhle (Hrsg.), 20 Jahre Sächsische Verfassung, 2013, S. 136 ff.; Sebastian Müller-Franken, Die Finanzierung der Religionsgemeinschaften, in: Uhle (Hrsg.), Kirchenfinanzen in der Diskussion, 2015, S. 43 (57 ff.). 45 Näher Josef Isensee, Gemeinwohl im Verfassungsstaat, in: Josef Isensee/Paul Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. 4, 3. Aufl.

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Die freien Träger, die sich in ihrer Tätigkeit und ihren Leistungen mit den Kirchen vergleichen lassen, stehen diesen auch in finanzieller Hinsicht gleich (Art. 110 Abs. 2 SächsVerf). In ihrer Eigenschaft als Verbände der Freien Wohlfahrtspflege und als Träger der Freien Jugendhilfe werden die kirchlichen Organisationen einschlussweise bereits im Einigungsvertrag gewürdigt, dass diese „einen unverzichtbaren Beitrag zur Sozialstaatlichkeit des Grundgesetzes“ leisten. Der Einigungsvertrag hat ihnen auch die Förderung ihres Auf- und Ausbaus zugesagt.46 Die Diakonie ist zu einem der größten Wohlfahrtsverbände Sachsens geworden. Die Statistik nennt 33.282 hauptberuflich angestellte Mitarbeiter in 2.308 Diensten und Einrichtungen.47 2.  Perspektiven von Diakonie und Staat Evangelische Diakonie und katholische Caritas stimmen in ihrer Begründung wie ihrer Tätigkeit überein. In unterschiedlicher konfessioneller Trägerschaft waltet praktische Ökumene.48 Der Einfachheit halber spreche ich im Folgenden von Diakonie, wenn ich auch die Caritas meine. Die Vielfalt der diakonischen Dienste für Kinder, Jugendliche, Familien, für Kranke, Alte, Pflegebedürftige, Behinderte, für Arme, Flüchtlinge, Drogensüchtige, für Hilfsbedürftige aller Art zeigt sich aus kirchlicher Sicht als Erfüllung eines einheitlichen Auftrags zum Dienst am Nächsten, biblisch gesprochen, an „den Geringsten unter meinen Brüdern“. Aus staatlicher Sicht handelt es sich dagegen um verschiedene Aufgabenfelder. Die Kirchenverträge nennen das Sozialund Gesundheitswesen.49 Doch diese an sich weiten, abstrakt bezeichneten Aufgabenfelder decken den Umfang des diakonischen Arbeitsfeldes nicht vollständig ab. Vollends lassen sie nicht erkennen, was an konkreten Diensten geleistet wird, von der Kinderbetreuung über die Schwangerenberatung und die ambulante Hilfe für Behinderte bis zur juristischen Assistenz für Flüchtlinge. Die Diakonie hat eine andere Sicht auf den Einzelfall als der Staat. Dieser setzt allgemeine Regeln, die er nach verallgemeinerungsfähigen Kriterien auf 2006, § 73 Rn. 55 ff., 65 ff.; Josef Isensee, Die karitative Betätigung der Kirchen und der Verfassungsstaat, in: Joseph Listl/Dietrich Pirson (Hrsg.), Handbuch des Staatskirchenrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. 2, 2. Aufl. 1995, § 59 S. 665 (705, 738 ff., 742 f.). Vgl. auch Roland Wegener, Staat und Verbände im Sachbereich Wohlfahrtspflege, 1978, S. 118. 46  Art. 32 EV. 47  BWG-Statistik für 2013. 48  Josef Isensee, Die karitative Betätigung der Kirchen und der Verfassungsstaat, in: Joseph Listl/Dietrich Pirson (Hrsg.), Handbuch des Staatskirchenrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. 2, 2. Aufl. 1995, § 59 S. 665 (668 f.). 49  Art. 20 Abs. 1 S. 1 SächsEvKV.

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den Einzelfall anwendet und sich so als Rechtsstaat bewährt. Ungeachtet ihrer organisationsbedingten Regelbedürftigkeit sieht die Diakonie zunächst auf den einzelnen Menschen. Sie blickt auf sein Gesicht, sie sieht seine Tränen, hört seine Hoffnungen. Sie spürt seine persönliche Not (zuweilen auch seine Hinterlist), sein persönliches Schicksal, angesichts dessen die allgemeinen Gesetze in Tatbestand und Rechtsfolge verblassen. Die kirchliche Einrichtung vermag, mehr und anders zu helfen als die öffentliche Verwaltung. Das Mitleid mit dem bestimmten Menschen, der spontane Impuls zur Nächstenliebe, kann die Diakonie in Widerspruch zum staatlichen Gesetz und in eine moralische Zwickmühle bringen, wenn sie dem illegalen Zuwanderer winkeladvokatorisch die Aufenthaltserlaubnis verschafft, wenn sie den zur Abschiebung anstehenden Ausländern ein anachronistisches Kirchenasyl offeriert, das allen Strukturen des modernen Staates spottet.50 Hier bricht zuweilen der Widerspruch zwischen kirchlicher Gesinnungsethik und staatlicher Verantwortungsethik auf. Letztere hat nicht durchwegs den sittlich minderen Rang; eher trifft das Gegenteil zu. Wenn sich ein Konflikt entzündet, sind beide Seiten gut beraten, sich tunlichst in diskretem Pragmatismus gemäß der Freundschaftsklausel der Kirchenverträge zu verständigen. Die Kirche sollte nicht auf die hohe Kanzel der Grundsätzlichkeit steigen. Der Staat sollte, soweit es sich um das Recht der Gefahrenabwehr handelt, die Möglichkeiten nutzen, die ihm das Opportunitätsprinzip bietet, beweglich auf die Herausforderung reagieren, auch einmal „Fünfe gerade sein lassen“ und taktische Toleranz gegenüber illegalem Verhalten üben, solange sich die taktische Toleranz nicht zu rechtlicher und ethischer Toleranz oder auch nur zum Anschein einer solchen auswächst und die Glaubwürdigkeit des Gesetzes nicht Schaden nimmt. 3.  Kirchliches Proprium im sozialstaatlichen System a)  Der sichtbare Glaube Nach äußerem Erscheinungsbild ist das diakonische Krankenhaus kaum vom kommunalen Krankenhaus zu unterscheiden. Die medizinischen, die hygienischen und die pflegerischen Funktionen haben dieselben Standards. Es gibt keine evangelische Blinddarmoperation und keine katholische Chemotherapie. Hier trifft die Rede von konkurrierenden Aufgaben zu. Doch brechen sittliche Unterschiede auf, wo staatliches Recht und christliches Gebot auseinandergehen, 50  Josef Isensee, Die karitative Betätigung der Kirchen und der Verfassungsstaat, in: Joseph Listl/Dietrich Pirson (Hrsg.), Handbuch des Staatskirchenrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. 2, 2. Aufl. 1995, § 59 S. 665 (734 f.); Stefan Mückl, Freiheit kirchlichen Wirkens, in: Josef Isensee/Paul Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. 7, 3. Aufl. 2009, § 161 Rn. 54. Zu analogen Phänomenen in den USA Gabriela Stukenborg, Kirchenasyl in den Vereinigten Staaten von Amerika, 1998.

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im Schutz des Menschen am Beginn seines Lebens, demnächst vielleicht auch am Ende des Lebens, wenn sich der politische Trend durchsetzt, den assistierten Suizid freizugeben.51 Die eigentliche Differenz der kirchlichen zu den staatlichen Einrichtungen liegt in der religiösen Begründung, die dem weltlichen Staat fremd ist. Zwar können sich die Kirchen auch säkular-sozialstaatliche Impulse zugunsten der Hilfsbedürftigen zu Eigen machen. Jedoch kann sich der Sozialstaat nicht umgekehrt auf religiöse Gründe stützen. Allerdings nimmt er gern die sozialen Leistungen der Kirchen entgegen, die ihn der eigenen Anstrengung entheben, zumal sie ihre Dienste jedem erbringen, der ihrer bedarf, Christen wie Nichtchristen, Gläubigen wie Ungläubigen. Der Sozialstaat erntet, wo er nicht gesät hat. Aber er weiß es auch, und er vergütet den freien Trägern wenigstens teilweise finanziell, was sie aus eigenem Antrieb für das Gemeinwohl leisten. Für Diakonie und Caritas bedeutet der christliche Glaube die Basis und den Antrieb zum Handeln. Der Glaube bewährt sich im Dienst am Nächsten. Nächstendienst ist auch Gottesdienst. Das Christliche ist gleichsam der Sauerteig, der das diakonische (karitative) Werk durchsäuert. Theologisch formuliert: das Christliche macht das Proprium der kirchlichen Krankenhäuser, Pflegeheime, Kindergärten aus: das spezifische Element, das dem kirchlichen Betrieb spirituelle Energie, Sinn und Legitimation zuführt: den „Geist“ der Organisation, der sich seinerseits nicht organisieren und nicht in Regeln einfangen lässt.52 Aber er muss sich in Wort und Tat zu erkennen geben. Er sollte sich nicht verstecken, und er braucht sich auch nicht zu verstecken. Der Staat, der die konfessionelle Krankenanstalt in beachtlichem Umfang finanziert, verlangt gar nicht, dass sie ihre Konfession verleugnet und aus Rücksicht auf ihren säkularen Geldgeber oder auf ihre nichtchristlichen Patienten das Kreuz aus der Eingangshalle und aus dem Krankenzimmer entfernt. Die Diakonie steht in weit höherem gesellschaftlichem Ansehen als die „Amtskirche“, die sie trägt, und als der Glaube, aus dem sie sich legitimiert. Sogar mancher hartgesottene Atheist, nicht zuletzt mancher ideologiegetreue SED-Zögling, wählt im biologischen Ernstfall nicht das kommunale Krankenhaus, sondern das kirchliche Krankenhaus. Daher tut sich dieses nicht allzu schwer, sich in einer entchristlichten Gesellschaft zu behaupten. Die Kirche braucht nicht aus Gründen der Toleranz die Christlichkeit aus ihren diakonischen Einrichtungen zurückzunehmen. Nur wenn sie ihre christliche Identität behauptet, kann sie Toleranz üben und darf sie Toleranz erwar51  Zu

Wertungsdifferenzen am Ende des Lebens Franziska M. Buchwald, Zwischen Religion und Selbstbestimmung, 2013, S. 45 ff. 52  Zum Proprium Roland Wegener, Staat und Verbände im Sachbereich Wohlfahrtspflege, 1978, S. 169 f.

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ten. Selbstsäkularisierung wäre die Kapitulation der Religionsfreiheit. So wäre es töricht, wenn die kirchliche Kindertagesstätte auf ihr konfessionelles wie ihr allgemeinchristliches Programm, auf Gebete, Lieder, Bräuche, Feier, Kirchenjahr verzichtete, um die Gefühle der nichtchristlichen Kinder und Eltern zu schonen. Diese nehmen die konfessionelle, die christliche Prägung nicht nur in Kauf. Vielmehr suchen sie die Begegnung mit dem Christentum, das sie in ihrer von der DDR hinterlassenen Lebenswelt nicht vorfinden. Im Rheinland bemühen sich muslimische Eltern häufig, ihre Kinder in katholischen Kindergärten unterzubringen, um sie nicht kommunalen Kindergärten ausliefern zu müssen, die sie für gottlos und dekadent halten. Sie scheuen nicht die Begegnung mit dem christlichen Glauben, sondern die mit dem säkularen Unglauben, der penetranten Inklusion, der religionsnegierenden, leerlaufenden Toleranz. b)  Das diakonische Personal aa)  Loyalitätsobliegenheit Das christliche Proprium steht und fällt mit dem kirchlichen Personal, das den Glauben glaubwürdig verkörpert. Die Kirche muss bei der Wahl ihrer Mitarbeiter darauf achten, dass sie diesem Erfordernis genügen. Damit stehen die Mitarbeiter unter einem anderen, in gewisser Hinsicht strengeren Gesetz als die in kommunalen Anstalten und die in der sonstigen Arbeitswelt. Sie haben sich zu spezifischer Kirchenloyalität verpflichtet.53 Die diakonische Einrichtung ist kein bloßer Tendenzbetrieb wie ein Presseunternehmen oder eine Parteiorganisation, die be53  Dazu Richtlinien des Rates über die Anforderungen der privatrechtlichen beruflichen Mitarbeit in der Evangelischen Kirche in Deutschland und des Diakonischen Werkes der EKD vom 1. Juli 2005 (ABl. EKD 2005, S. 413); Art. 3 – 5 der Grundordnung des kirchlichen Dienstes im Rahmen kirchlicher Arbeitsverhältnisse vom 22. September 1993 (abgedruckt in: Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz (Hrsg.), Erklärung der deutschen Bischöfe zum kirchlichen Dienst. Grundordnung des kirchlichen Dienstes im Rahmen kirchlicher Arbeitsverhältnisse [Die deutschen Bischöfe 51], 11. Aufl. 2008, S. 16 ff.) – Aus der Literatur zu den Loyalitätspflichten der kirchlichen Mitarbeiter, zumal aus der Perspektive des staatlichen Arbeitsrechts: Joseph Listl, Die Arbeitsverhältnisse der kirchlichen Dienstnehmer in der Rechtsprechung der Gerichte der Bundesrepublik Deutschland, in: Jahrbuch für christliche Sozialwissenschaften 27 (1986), S. 131 ff.; Christoph Link, Antidiskriminierung und kirchliches Arbeitsrecht, in: Krause/Veelken/Vieweg (Hrsg.), Recht der Wirtschaft und der Arbeit in Europa. Gedächtnisschrift für Wolfgang Blomeyer, 2004, S. 675 ff.; Stefan Mückl, Kirchliche Organisation, in: Josef Isensee/Paul Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. 7, 3. Aufl. 2009, § 160 Rn. 43 f.; Gregor Thüsing, Grund und Grenzen der besonderen Loyalitätspflichten des öffentlichen Dienstes, in: Essener Gespräche zum Thema Staat und Kirche 46 (2012), S. 129 ff.; Hermann Reichold, Verfassungs- und europarechtliche Fragen der Kirchenautonomie im Arbeitsrecht, in: Ebner/Kraneis/Minkner/Neuefeind/Wolff (Hrsg.), Staat und Religion. Neue Anfragen an eine vermeintlich eingespielte Beziehung, 2014, S. 111 ff.; Peter Unruh, Religionsverfassungsrecht, 3. Aufl. 2015, S. 111 ff. (124 ff.).

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sondere Loyalität (Tendenztreue) der eigentlichen Tendenzträger (Journalisten, Funktionäre) erfordern, nicht aber vom sonstigen Personal wie den Schreibkräften oder Hausverwaltern. Das diakonische Werk muss von allen getragen werden, vom Chefarzt bis zum Krankenpfleger, von der Leiterin der Kindertagesstätte bis zur Helferin. Von ihnen allen hängt es ab, ob die Einrichtung ein evangelisches Profil gewinnt oder nicht. Die Kirche kann das diakonische Personal nicht mit Hoheitsgewalt zwingen, sich den diakonischen Zielen und Bedürfnissen gemäß zu verhalten. Sie müssen sich aus freien Stücken zu kirchlicher Loyalität verpflichten. Die Rechtsgrundlage der Loyalitätsobliegenheiten ist die Selbstbindung des Bediensteten durch Vertrag. Das staatliche Recht gewährleistet dem kirchlichen Träger wie dem Bediensteten Vertragsfreiheit in ihrer zwiefachen Funktion: als Freiheit zu bestimmen, mit wem man einen Dienst- oder Arbeitsvertrag schließt (Abschlussfreiheit) und wie dieser Vertrag inhaltlich ausgestaltet wird (Ausgestaltungsfreiheit).54 In einer rein liberalen Ordnung wäre es daher unverfänglich, dass die Kirche auf der Basis individueller Verträge ihr besonderes diakonisches Dienstrecht aufrichtet. Doch der Sozialstaat der Gegenwart misstraut der Privatautonomie. Er nimmt die Verträge nicht ohne weiteres hin. Vielmehr beansprucht er die Kontrolle ihres Inhalts daraufhin, ob nicht der sozial mächtigere Partner – als dieser gilt der kirchliche Arbeitgeber – dem schwächeren – dem kirchlichen Arbeitnehmer also – die Bedingungen aufgenötigt hat.55 Der Sozialstaat neigt dazu, die Vertragsfreiheit einzuschränken, um den Arbeitnehmer zu schützen und den Vertragsinhalt immer mehr zu nivellieren, den Arbeitgeber ähnlichen Bindungen zu unterwerfen, wie sie die Grundrechte der Staatsgewalt auferlegen, obwohl der Arbeitgeber von Verfassungs wegen nicht grundrechtsgebunden ist, sondern grundrechtsberechtigt, in grundrechtlicher Hinsicht also dem Arbeitnehmer gleichsteht. In der Rechtspraxis rollt die sozialstaatliche Nivellierungswalze über die individuellen Arbeitsverträge hinweg, ohne dass allgemeine Grundrechte wie die Berufsfreiheit und die Allgemeine Handlungsfreiheit wirksamen und nachhaltigen Widerstand leisteten. Anders jedoch die Religionsfreiheit und die Kirchenautonomie, die sich als Refugien der Privatautonomie erweisen. Sie ermöglichen der Kirche, ihr Proprium in ihre diakonischen Einrichtungen einzubringen und in ihnen aufrechtzuerhalten. 54  Zur verfassungsrechtlichen Grundlage der Vertragsfreiheit Josef Isensee, Privatautonomie, in: Josef Isensee/Paul Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. 7, 3. Aufl. 2009, § 150 Rn. 1 ff., 6 ff., 50 ff. 55  Zur verfassungsrechtlichen Sanktion der Vertragsfreiheit und der Inhaltskontrolle: Josef Isensee, Privatautonomie, in: Josef Isensee/Paul Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. 7, 3. Aufl. 2009, § 150 Rn. 113 ff. Zur Relevanz für die Kirchen: Josef Isensee, Kirchliche Loyalität im Rahmen staatlichen Arbeitsrechts, in: FS für Klaus Obermayer, 1986, S. 203 ff.

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Dennoch steht der kirchliche Arbeitgeber unter heiklem Rechtfertigungszwang, wenn er einem Bediensteten kündigt, weil dieser seine vertraglichen Loyalitätsobliegenheiten verletzt, sei es in seiner Tätigkeit (ethisch verwerfliche Eingriffe), sei es außerhalb: dass etwa der Krankenhausarzt sich öffentlich für die vorbehaltlose Freigabe der Abtreibung einsetzt, aus der Kirche austritt oder – ein Problemfall katholischer Einrichtungen – nach Scheidung eine neue Ehe eingeht. Grosso modo haben die Gerichte die kirchliche Position anerkannt, zuletzt das Bundesverfassungsgericht in einer Grundsatzentscheidung.56 Doch die öffentliche Meinung hat immer weniger Verständnis, wenn die Kirche ihre eigenen, strengen Moralprinzipien mit arbeitsrechtlichen Mitteln sanktionieren möchte. Sie erhebt Widerspruch und setzt die Kirche unter Rechtfertigungszwang. Ihr fällt die Rechtfertigung besonders schwer, wenn die Diakonie vermehrt auf Mitarbeiter zurückgreift, die ihrer Kirche nicht angehören, denen Religion überhaupt fremd ist und denen sie keine innere Identifikation zumuten kann, so, wenn sie einen muslimischen Pfleger einstellt oder einem Agnostiker als dem fachlich besten Bewerber die Chefarztstelle überträgt. Probleme dieser Art erheben sich für alle Kirchen in allen Bundesländern, besonders große aber für die katholische Kirche in Sachsen wegen ihres nur schmalen Anteils an der Bevölkerung. Die Caritas beschäftigt im Bistum Dresden-Meißen zu 31 % katholische, zu 23 % evangelische, zu 45 % religionslose Mitarbeiter.57 Vollends manövriert sich die Kirche in ein Dilemma, wenn sie bei der Durchsetzung der Loyalitätspflichten keine Konsequenz walten lässt, sondern den Eindruck der Willkür erzeugt. Kirchenrechtliche Prinzipienreiterei ist hier nicht angebracht. Gefordert werden Fingerspitzengefühl, Klugheit, Takt, Verantwortungssinn, Menschlichkeit. Die Kirche ist gut beraten, wenn sie Divergenzen mit dem einzelnen Mitarbeiter nicht vor dem staatlichen Gericht austrägt, sondern in camera caritatis (im zwiefachen Wortsinn) beilegt. Vor wenigen Wochen hat die katholische Bischofskonferenz eine Art Frontbegradigung vorgenommen und ihre harte Linie bei Widersprüchen zwischen kirchlichem Anspruch und persönlicher Lebensführung zurückgenommen und modifiziert.58 Ein „Brüsseler Kreis“ von Funktionären der Diakonie und der Caritas plädiert für eine fundamentale Reform dahin, die „rein formale Kirchenmitgliedschaft“ als Einstellungsvoraussetzung aufzugeben mit der Begründung, dass sie den vielfältigen Säkularisierungstendenzen in unserer Gesellschaft nicht mehr gerecht zu werden vermöge. Die konfessionelle Exklusivität unterschreite theologisch die 56 

BVerfG, Beschl. v. 22. 10. 2014, JZ 2015, S. 188 ff. Personalreport 2013, Caritasverband für das Bistum Dresden-Meißen v. 31. 12. 2013. 58  Art. 5 Grundordnung des kirchlichen Dienstes im Rahmen kirchlicher Arbeitsverhältnisse in der Fassung des Beschlusses der Vollversammlung des Verbandes der Diözesen Deutschlands vom 27. April 2015. Dazu Pressemeldung der Deutschen Bischofskonferenz zur Änderung des Kirchlichen Arbeitsrechts vom 5. Mai 2015 – Nr. 072. 57 

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Universalitätsdynamik des biblischen Zeugnisses, sei mit einer Inklusionsperspektive nicht vereinbar und führe in eine unternehmensstrategische Sackgasse. Die Sackgasse werde vermieden durch einen „konfessionsgebundenen Überzeugungspluralismus“. Dieser beinhalte die „Überwindung formaler Kirchenmitgliedschaftsbindungen und Einstellungsvoraussetzungen durch die inhaltliche Beschreibung einer Inklusionsorientierung und durch Orientierungs- und Spiritualitätsangebote auf der Basis der christlichen Tradition“.59 Die Konfessionsbindung des Unternehmens, die nicht mehr die Mitarbeiter erfassen solle, zeige sich in Basisprozessen über die Angebotspalette einer bestimmten Abteilung bis zu einer spezifischen Reflexions- und Beteiligungskultur einschließlich der Eröffnung spiritueller Erfahrungsräume im Arbeitsalltag. Christliche Identität erscheint nicht als eine an der Zahl kirchlich gebundener Mitarbeiter festgemachte quantitative Größe, sondern als Prozess von Bezügen und Interdependenzen, der von christlichen Überzeugungen und Ritualen lebe. Das universalistische Hilfeethos des Christentums bilde sich nicht in einem homogenisierungsbedürftigen Personal ab, sondern in einer „Willkommenshaltung gegenüber Mitarbeitenden unterschiedlicher Überzeugungen“. Die Verankerung des Unternehmens verweise auf „einen Entstehungszusammenhang, der einen spezifischen Deutehorizont umschließt und sich in einer besonderen Reflexions- und Unterbrechungskultur niederschlägt“. Die Praxis der Unternehmen werde erweisen, dass die Christlichkeit des Unternehmens nicht an der Vielfalt der Überzeugungen zerbreche, sondern an der Gestaltlosigkeit der Diskurskultur.60 Der Jurist, ob solch ungewohnter sozio-theologischer, rauschhafter Visionen verstört und sich fragend, ob diese nicht unter das Betäubungsmittelgesetz fallen, meint hinter dem semantischen Qualm den Plan zu erkennen, Diakonie und Caritas zu entkonfessionalisieren, zu entkirchlichen und in ein freischwebendes Gebilde jenseits von Kirche und Staat zu verwandeln, in dem das diakonisch-karitative Personal, genauer seine Funktionäre, sich selbst verwalten und verwirklichen. Die grundrechtlichen und menschenrechtlichen Garantien und Unterscheidungen werden auf den Kopf gestellt. Die Kirchen und ihre Einrichtungen werden den Bindungen unterworfen, die auf den Staat zugeschnitten sind. Der Außenpluralismus der Gesellschaft wird auf die interne Personalstruktur verpflanzt. Das geistliche Proprium entschwebt in die Stratosphäre der Floskeln. Das Modell entzieht sich den geltenden Regeln des Staatsrechts, des Kirchenrechts und der Kirchenverträge, mithin auch unserem Thema. 59  Hanns-Stephan Haas/Dirk Starnitzke (Hrsg.), Diversität und Identität. Konfessionsbindung und Überzeugungspluralismus in caritativen und diakonischen Unternehmen, 2015, These 4 S. 22. Dazu „Das aktuelle Buch“, in: F.A.Z. vom 22. 4. 2015, S. 8. 60  Entfaltung der Thesen bei Hanns-Stephan Haas/Dirk Starnitzke (Hrsg.), Diversität und Identität. Konfessionsbindung und Überzeugungspluralismus in caritativen und diakonischen Unternehmen, 2015, S. 25 ff. (57 und 62).

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bb)  „Dritter Weg“ Analoge Konflikte wie im Individualarbeitsrecht brechen im kollektiven Arbeitsrecht auf.61 Hier setzen sich die Kirchen vom privatwirtschaftlichen Modell der Mitbestimmung, der Tarifautonomie und des Arbeitskampfes ab durch das Modell des „dritten Weges“: dem Leitbild der Dienstgemeinschaft, die den Ausgleich der Interessen durch innerkirchliche Verfahren vorsieht und den Arbeitskampf aus dem diakonischen Bereich verbannt. Die Gewerkschaften stoßen auf eine Grenze ihrer Einfluss- und Regelungsmacht. Sie drängen auf Zugang zu diesem Sektor der Arbeitswelt, in dem bundesweit mehr als 1 Million Arbeitskräfte beschäftigt sind (allein im Freistaat Sachsen etwa 43.000 hauptberufliche Mitarbeiter),62 um ihn zu besetzen und gleichzuschalten. Verständnis für das geistliche Proprium ist von kirchenfremden, ihrer Tradition nach sogar kirchenfeindlichen DGB-Gewerkschaften nicht zu erwarten. Der „dritte Weg“ ist der verfassungsrechtlichen Kritik ausgesetzt, dass er dem Grundrecht der Koalitionsfreiheit widerspreche.63 Doch die Freiheit der einzelnen Bediensteten, zur Wahrung ihrer Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen einer Gewerkschaft ihrer Wahl beizutreten, ist ihnen unbenommen. Problematisch ist allein, ob kollektive Positionen der Gewerkschaften verkürzt werden dadurch, dass ihnen die Koalitionsinstrumente der Mitbestimmung, des Tarifvertrags und des Arbeitskampfes entzogen werden. Doch der Wortlaut des Schutzbereichs deckt diese Instrumente nicht ab.64 Sie sind lediglich Geschöpfe des einfachen Rechts, des Gesetzes, vornehmlich überhaupt nur des Richterrechts. Sie lassen sich als Ausgestaltung der kollektiven Koalitionsfreiheit deuten. Damit sind sie jedoch nicht selbst deren Bestandteile. Sie haben nicht teil am Verfassungsrang 61 Dazu

Stefan Mückl, Kirchliche Organisation, in: Josef Isensee/Paul Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. 7, 3. Aufl. 2009, § 160 Rn. 45 ff.; Franz-Josef Overbeck, Die Dienstgemeinschaft und das katholische Profil kirchlicher Einrichtungen, in: Essener Gespräche zum Thema Staat und Kirche 46 (2012), S. 7 ff.; Jacob Joussen, Grundlagen, Entwicklungen und Perspektiven des kollektiven Arbeitsrechts der Kirchen, in: Essener Gespräche zum Thema Staat und Kirche 46 (2012), S. 53 ff.; Hermann Reichold, Verfassungs- und europarechtliche Fragen der Kirchenautonomie im Arbeitsrecht, in: Ebner/Kraneis/Minkner/Neuefeind/Wolff (Hrsg.), Staat und Religion. Neue Anfragen an eine vermeintlich eingespielte Beziehung, 2014, S. 122 ff.; Peter Unruh, Religionsverfassungsrecht, 3. Aufl. 2015, S. 134 ff. 62  Laut BWG-Statistik des Jahres 2013 beschäftigte die Diakonie im Freistaat Sachsen 33.282 hauptberuflich angestellte Mitarbeiter (25.645 Vollkräfte, 8.646 ehrenamtliche Kräfte). – Der Caritasverband für Sachsen beschäftigte 9.634 hauptberuflich angestellte Mitarbeiter (Stand 2013). Quelle: Personalreport 2013, Caritasverband für das Bistum Dresden-Meißen v. 31. 12. 2013. 63  Art. 9 Abs. 3 GG; Art. 26 SächsVerf. 64 Letztere werden lediglich gegen Eingriffe durch Notstandsmaßnahmen gesichert (Art. 9 Abs. 3 S. 3 GG).

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des Grundrechts. Daher besteht auch keine Grundrechtskollision zwischen der Koalitionsfreiheit auf der einen Seite und der Religionsfreiheit auf der anderen Seite. Mangels Kollision besteht auch nicht die Notwendigkeit des schonenden Ausgleichs der Grundrechte.65 Die Kirchen bieten jedoch aus eigenem Antrieb den Gewerkschaften eine Beteiligung in ihren Gremien an. Ob sie mit ihrem Zugeständnis den Dritten Weg stabilisieren oder schwächen, stehe dahin. Jedenfalls genügen sie damit den Forderungen der Gewerkschaften nicht. Bisher hat sich politische Ruhe nicht eingestellt. Die Diakonie kann ihr Reservat nur halten, solange es ihr gelingt, ihre Mitarbeiter von der Sinnhaftigkeit einer christlich imprägnierten Dienstgemeinschaft zu überzeugen, und solange die Mitarbeiter von sich aus diese Dienstgemeinschaft tragen. Diese Voraussetzung wird immer brüchiger, je mehr sich die Gesellschaft dem Christlichen entfremdet, je mehr die Akzeptanz der kirchlichen Institutionen schwindet und das kirchliche Personal sich der säkularen Jobmentalität anpasst, der alles höhere Ethos abgeht. 4.  Die religiöse Kapazität Diakonie und Caritas, die in den letzten Jahrzehnten erheblich an Personal und Organisation gewachsen sind, müssen sich fragen lassen, ob sie nicht mehr dem Parkinson’schen Gesetz gefolgt sind als dem christlichen Gesetz der Nächstenliebe und so riskieren, dass ihre Identität ausdünnt. Der Staat hat das quantitative Wachstum sogar gefördert. Freilich ist es nicht seine Sorge, ob das religiös-qualitative Wachstum mithält. Doch Diakonie und Caritas müssen sich dieser Frage stellen. Überhaupt haben die Kirchen ihre liebe Not damit, die großzügigen Angebote des staatlichen Rechts angesichts der schmalen personalen Kapazität anzunehmen. Ihnen kommt es zu, das richtige Maß zu finden. Was aber das richtige Maß sein sollte, wird von Goethe glücklich in Worte gefasst als „den Kreis, der meine Wirksamkeit erfüllt, nichts drunter und nichts drüber“.

65  Anders die Judikatur und die herrschende Lehre des Arbeitsrechts. Repräsentativ BAG, Urt. v. 20. 11. 2012, NZA 2013, S. 448 (456 ff.). Dazu mit Nachweis zu den unterschiedlichen Positionen Hermann Reichold, Verfassungs- und europarechtliche Fragen der Kirchenautonomie im Arbeitsrecht, in: Ebner/Kraneis/Minkner/Neuefeind/Wolff (Hrsg.), Staat und Religion. Neue Anfragen an eine vermeintlich eingespielte Beziehung, 2014, S. 122 ff.

Res sacrae unter kircheneigenem Denkmalschutz Res sacrae unter kircheneigenem Denkmalschutz

Substitution staatlicher durch kirchliche Normen aufgrund des Denkmalschutzgesetzes Baden-Württembergs* Res sacrae unter kircheneigenem Denkmalschutz. Substitution staatlicher durch kirchliche Normen aufgrund des Denkmalschutzgesetzes Baden-Württembergs

I.  Praktische Konvergenz der Belange von Staat und Kirche im Denkmalschutz Der Schutz von Kulturdenkmalen, die dem Gottesdienst gewidmet sind, ist sowohl Sache des Staates als auch Sache der Kirche, darin geradezu Prototyp einer res mixta. Beide Seiten verbindet das Interesse, das Erbe des Christentums an Kulturdenkmalen zu schützen, zu pflegen und so auch den künftigen Generationen zu erhalten. Die wechselseitigen Bedingtheiten von Kultur, Staat und Religion1 werden nicht nur wirksam, wenn die großen Kathedralen erbaut und eingeweiht, sondern auch wenn sie genutzt und unterhalten werden und späte Nachfahren der Erbauer vor der Pflicht stehen, das Ererbte zu erwerben, ,,um es zu besitzen“. Grundsätzlich waltet im Denkmalschutz praktische Konvergenz der Belange von Staat und Kirche. Doch die Interessen als solche decken sich nicht völlig. Der säkulare Kulturstaat schützt Objekte, an deren Erhaltung aus wissenschaftlichen, künstlerischen oder heimatgeschichtlichen Gründen ein öffentliches Interesse besteht.2 Er schützt die Kirchengebäude und ihre Ausstattung um ihrer außerkirchlichen, außerreligiösen Qualitäten willen: als Zeugnisse der Geschichte, als Kunstwerke, als Wahrzeichen von Gemeinde und Land, als Bestandteile der kulturellen Umwelt, die nicht minder wesentlich für den Lebenswert eines Ortes ist als die ökologische Umwelt. Es ist kein Zufall, daß die Verfassungen Bayerns und Baden-Württembergs den Denkmalschutz in den (nicht nur textlichen) Zusammenhang der natürlichen Lebensgrundlagen stellen (Art. 141 Abs. 1 und 2 BayVerf.; Art. 86 BWVerf.) Die Parallelität von Denkmalschutz und Landschaftsschutz wies bereits die Wei*  Erstveröffentlichung in: Kirche und Recht 1999, S. 117 – 125. 1  Dazu grundsätzlich Burckhardt, Weltgeschichtliche Betrachtungen (1905), Ausgabe Rudolf Stadelmann 1949, S. 113 ff. 2  Vgl. die Definition des Kulturdenkmals in § 2 Abs. 1 des baden-württembergischen Gesetzes zum Schutz der Kulturdenkmale (Denkmalschutzgesetz – DSchG-BW). Zu den Interessen des Staates im Denkmalschutz: Heckel, Staat – Kirche – Kunst, 1968, S. 41 ff., 97 ff.

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marer Reichsverfassung auf, die in Art. 150 Abs. 1 das Muster späterer Verfassungsgewährleistungen in Deutschland herstellte: „Die Denkmäler der Kunst, der Geschichte und der Natur sowie die Landschaft genießen den Schutz und die Pflege des Staates.“ Heute wird der Denkmalschutz in den Landesverfassungen als Aufgabe des Staates gewährleistet, und zwar als Pflichtaufgabe. Gemäß Art. 86 BWVerf „genießen die Denkmale der Kunst, der Geschichte und der Kultur öffentlichen Schutz und die Pflege des Staates und der Gemeinden“.3 Denkmalschutz konkretisiert die Aufgabe von Denkmalschutz und Denkmalpflege: „die Kulturdenkmale zu schützen und zu pflegen, insbesondere den Zustand der Kulturdenkmale zu überwachen sowie auf die Abwendung von Gefährdungen und die Bergung von Kulturdenkmalen hinzuwirken“ (§ 1 Abs. 1 DSchG-BW). Die Aufgabe wird vom Land und im Rahmen ihrer Leistungsfähigkeit von den Gemeinden erfüllt (§ 1 Abs. 2 DSchG-BW). Die Kirche verschließt sich diesen Belangen nicht und kann sie sich grundsätzlich zu eigen machen. Doch sieht sie ihren Auftrag als Kirche nicht darin, als Kustodin von Kunstwerken zu fungieren. Sie hat das vitale Interesse, die Kirchengebäude für den Gottesdienst zu nutzen. Eben dadurch erfüllt sie die Bauten mit Leben und Geist und bewahrt ihnen jene Zweckbestimmung, der sie von Anfang an gewidmet gewesen sind. Darin sichert sie ihnen die Sinnauthentizität als res sacrae,4 die dem säkularen Staat verschlossen ist, und erspart ihnen das Schicksal der Historisierung, der Ästhetisierung, der Musealisierung. Für die Kirche sind die res sacrae nicht nur Funktionsräume, sondern auch Symbole, Zeichen ihrer geistlichen Sendung in dieser Welt.5 Gerade die symbolische Bedeutung der Bauten erleichtert die Konvergenz mit den Belangen des staatlichen Denkmalschutzes, weil die Selbstdarstellung der Kirche ihre ästhetische Dimension aufweist und weil in der Bewahrung des baulichen Erbes das Kontinuum des kirchlichen Wirkens im Ablauf der Epochen sichtbar wird. So ist denn aus der Sicht der Kirche der Denkmalschutz mehr Wirkung als Ziel, mehr Mittel als Zweck. Auch wenn zwischen den ungleichen Partnern des Denkmalschutzes prinzipielle Konvergenz der Interessen herrscht, sind Interessenkonflikte nicht ausgeschlossen, so, wenn auf der einen Seite staatliche Reglementierung die Kirche 3  Zu dieser Staatsaufgabe: Heckel (Fn. 2), S. 18 ff., 41 ff.; Albrecht, Kirchliche Denkmalpflege, in: Handbuch des Staatskirchenrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. II, 1. Aufl. 1975, S. 205 ff. 4  Zur Relevanz der res sacrae des kanonischen Rechts für das staatliche Recht: Axer, Die Widmung als Schlüsselbegriff des Rechts der öffentlichen Sachen, 1994, S. 202 ff. (Nachw.). 5  Nachweise zu Theologie und Kirchenrecht in Sachen Denkmalschutz: Hollerbach, Kunst- und Denkmalpflege, in: Handbuch des katholischen Kirchenrechts, 1983, S. 915 (916 ff.); Kremer, Denkmalschutz und Denkmalpflege im Bereich der Kirchen, in: Handbuch des Staatskirchenrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. II, 2. Aufl. 1995, S. 77 (80 f.).

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hindert, den Kirchenraum gewandelten gottesdienstlichen Bedürfnissen anzupassen, oder auf der anderen Seite, die Kirche, wie es nach dem Zweiten Vaticanum vielerorts erfolgte, im Namen der Liturgiereform den Bildersturm praktiziert.6

II.  Gesetzliche Formen des Interessenausgleichs Die Natur der Sache zwingt Staat und Kirche zur Kooperation auf dem Gebiet des Denkmalschutzes. Die meisten Denkmalschutzgesetze der Länder, denen die Gesetzgebungskompetenz für den Denkmalschutz im wesentlichen obliegt, desgleichen einzelne Kirchenverträge, enthalten eigene Bestimmungen über kirchliche Denkmale.7 In Nordrhein-Westfalen bestimmt das Gesetz plakativ: „Mit den Kirchen und Religionsgemeinschaften soll die Zusammenarbeit bei Schutz und Pflege ihrer Denkmäler fortgesetzt werden.“8 Das ist freilich, bei juridischem Lichte betrachtet, eine Platitüde, die der Moral der Partnerschaft von Staat und Kirche korrespondiert.9 Zusammenarbeit läßt sich nicht gesetzlich anordnen, weil sie nur aus Freiwilligkeit unter Bedingungen der Gleichheit hervorgeht. Soweit sie gelingt, ist die Norm überflüssig, soweit sie fehlschlägt, ist die Norm nicht wirksam. Daher treffen die Gesetze denn auch Bestimmungen, die der Kirche gewährleisten, ihre Belange und ihre Sicht geltend zu machen. Doch dem Staat behalten sie für den Fall des Dissenses die verbindliche Entscheidung in Form des Verwaltungsaktes vor. Regelungsthema ist durchwegs die Pflicht der staatlichen Denkmalbehörden, bei Entscheidungen über kirchliche Denkmäler die von den Kirchen und Religionsgemeinschaften festgestellten Belange „zu beachten“10 oder sogar „vorrangig zu beachten“.11 Die Kirchen und Religionsgemeinschaften erhalten von Gesetzes wegen auch einen besonderen Status im Verwaltungsverfahren: Vor der Durchführung von Maßnahmen setzen sich die Denkmalschutzbehörden mit der oberen Kirchenbehörde oder der entsprechenden Stelle der betroffenen Religionsgemeinschaft ins Benehmen.12 Diese speziellen Vorschriften enthalten kein inhaltliches Sonderrecht und schaffen keine Privilegien. Vielmehr zeichnen sie 6 Bemerkenswerte Kritik am „Konzilsvandalismus“ aus der Sicht der Frankfurter Schule der Soziologie: Lorenzer, Das Konzil der Buchhalter. Die Zerstörung der Sinnlichkeit. Eine Religionskritik, 1981. 7  Übersicht über die landesrechtlichen Bestimmungen: Heckel, Denkmalschutz und Sakralbauten in Deutschland, in: Deutsch-französische Kolloquien Kirche – Staat – Gesellschaft, Bd. 7, 1987, S. 85 (87 ff.); Kremer (Fn. 5), S. 77 f. 8  § 38 S. 1 DSchG-NRW. 9  Affirmativ zur „Partnerschaft“ Heckel (Fn. 2), S. 255. 10  Exemplarisch: § 38 S. 2 DSchG-NRW. 11  § 11 Abs. 1 S. 1 DSchG-BW; § 18 Abs. 1 DSchG-Sachsen. 12  § 11 Abs. 1 S. 2 DSchG-BW. Ähnlich § 18 Abs. 2 DSchG-Sachsen.

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nur die materielle wie formelle Rechtslage nach, die für belastende Verwaltungsakte besteht, die in rechtlich geschützte Positionen eingreifen. Die Position der Kirchen und der sonstigen Religionsgemeinschaften gegenüber dem staatlichen Denkmalschutz wird verfassungsrechtlich unterfangen von grundrechtlichen und staatskirchenrechtlichen Garantien.13

III.  Heteronomer oder autonomer Denkmalschutz in Baden-Württemberg Die subordinationsrechtliche Lösung findet sich im Recht Baden-Württembergs, auf das sich die folgende Untersuchung beschränkt,14 ähnlich wie in dem der anderen Länder. Die Denkmalschutzbehörden haben aufgrund der allgemeinen Schutzvorschriften des Gesetzes zur Wahrnehmung ihrer Aufgaben diejenigen Maßnahmen zu treffen, die ihnen nach pflichtgemäßem Ermessen erforderlich erscheinen (§ 7 Abs. 1 S. 1 DSchG-BW), sowie die Genehmigungen zu erteilen, die das Gesetz für die Fälle vorsieht, daß ein Kulturdenkmal zerstört oder beseitigt, in seinem Erscheinungsbild beeinträchtigt oder aus seiner Umgebung entfernt werden soll (§ 8 Abs. 1 DSchG-BW). Darüber hinaus stehen den Denkmalschutzbehörden qualifizierte Befugnisse zu für Kulturdenkmale von besonderer Bedeutung, die in das Denkmalbuch eingetragen sind (§§ 12 ff. DSchG-BW). Diese Denkmale genießen verstärkten staatlichen Schutz. Das Gesetz stellt damit alle Änderungen von Belang unter Genehmigungsvorbehalt (§ 15 DSchG-BW). Eigentümer und Besitzer von Kulturdenkmalen sind insoweit in ihren Dispositionen rechtlich abhängig von Denkmalschutzbehörden. Die Kompetenz der staatlichen Behörden bezieht sich auch auf kirchliche Kulturdenkmale. Für solche, die dem Gottesdienst dienen (ohne daß es auf das Eigentum eines kirchlichen oder sonstigen religiösen Trägers ankäme), gilt die Sondervorschrift, daß die Denkmalschutzbehörden die gottesdienstlichen Belange vorrangig zu beachten haben (§ 11 Abs. 1 S. 1 DSchG-BW). Diese Belange werden von der oberen Kirchenbehörde oder der entsprechenden Stelle der betroffenen Religionsgemeinschaft festgestellt. Sie bestimmen sich also nach kirchlichem Selbstverständnis.15 Das eben erklärt die Verfahrensregelung, daß sich die Denkmalschutzbehörden vor der Durchführung von Maßnahmen mit der oberen Kirchenbehörde oder der entsprechenden Stelle der betroffenen Religionsgemeinschaft ins Benehmen setzen müssen (§ 11 Abs. 1 S. 3 DSchG-BW). 13  Zum verfassungsrechtlichen Status im Denkmalschutz eingehend: Heckel (Fn. 2), S. 224 ff.; Kremer (Fn. 5), S. 84 ff. 14  Inhaltsanalog sind die einschlägigen Normen des Denkmalschutzgesetzes des Freistaates Sachsen, dem Baden-Württemberg Pate gestanden hat. 15 Dazu: Heckel (Fn. 2), S. 41 ff.; Kremer (Fn. 5), S. 89 ff.

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Nicht auf kircheneigene Kulturdenkmale anwendbar sind die Vorschriften über Enteignung (§ 11 Abs. 3 DSchG-BW). Baden-Württemberg sieht jedoch eine Alternative zu der staatlichen Entscheidung vor: die kirchenautonome Regelung des Denkmalschutzes. Das Gesetz gibt den Kirchen (hingegen nicht den sonstigen Religionsgemeinschaften) die Möglichkeit, Eingriffsbefugnisse der Denkmalschutzbehörden auszuschalten und ihre Anwendung auf Kulturdenkmale, die im kirchlichen Eigentum stehen, zu verhindern, soweit sie dem Gottesdienst dienen. Bedingung ist, daß die Kirchen selber Vorschriften zum Schutz dieser Kulturdenkmale erlassen.16 Die Kirchen haben es also in der Hand, in dem für sie zentralen Bereich das heteronome Denkmalschutzrecht des Staates durch autonome Regelungen abzulösen. Freilich zieht sich der Staat in diesem Fall nicht völlig zurück. Die kircheneigenen Vorschriften bedürfen des Einvernehmens der obersten Denkmalschutzbehörde. Die staatlichen Denkmalschutzbehörden behalten eine Art Aufsicht über die Praxis des kirchlichen Denkmalschutzes. Bevor Kirchen „Vorhaben im Sinne der erwähnten Bestimmungen“ durchführen, ist das Landesdenkmalamt „zu hören“.17 Das Gesetz statuiert aber mehr als eine schlichte Anhörungspflicht; es strebt die Einigung zwischen Staat und Kirche an. Für den Fall, daß eine Einigung nicht zustande kommt, überläßt das Gesetz der kirchlichen Seite den Letztentscheid. Die Prozedur sieht nach dem Modell des Gesetzes so aus, daß die kirchliche Stelle zunächst versuchen soll, sich mit dem Landesdenkmalamt zu einigen und, falls sich eine Einigung nicht ergibt, mit der höheren Denkmalschutzbehörde. Falls es auch hier nicht zum Konsens kommt, entscheidet die obere Kirchenbehörde. Sie hat sich zuvor mit der höheren Denkmalschutzbehörde ins Benehmen zu setzen, mehr aber auch nicht.18 Dagegen sieht der Freistaat Sachsen für den Ernstfall die umgekehrte Lösung vor und weist den Letztentscheid der obersten Denkmalschutzbehörde zu, die zwar „im Benehmen“ mit der kirchlichen Stelle zu handeln hat, aber damit nicht inhaltlich präjudiziert ist.19 Der Freistaat Sachsen behält sich also auch im Alternativverfahren das Recht des letzten Wortes vor.

16 

§ 11 Abs. 2 S. 1 DSchG-BW. Vgl. auch § 18 Abs. 3 DSchG-Sachsen. Abs. 2 S. 2 DSchG-BW. Dagegen ist gem. § 18 Abs. 3 S. 2 DSchG-Sachsen Einvernehmen herzustellen. 18  § 11 Abs. 2 S. 3 DSchG-BW. Analyse der subordinations- und koordinationsrechtlichen Modelle: Heckel (Fn. 2), S. 251 ff. 19  § 18 Abs. 3 S. 3 DSchG-Sachsen. Unbegründete verfassungsrechtliche Bedenken: Kremer (Fn. 5), S. 99. 17  § 11

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IV.  Friktionen der Praxis Das Konzept des kirchenautonomen Denkmalschutzes ist bisher noch niemals erprobt worden, weder in Baden-Württemberg noch im Freistaat Sachsen. Die Kirchen haben bislang auf das konventionelle Verfahren nach Maßgabe des rein staatlichen Rechts gesetzt in der Hoffnung, in diesem rechtlichen Rahmen einvernehmliche Regelungen der Einzelfälle20 zu erreichen. Die Hoffnung wird in jüngerer Zeit enttäuscht. Zunehmend treten Reibungen auf. Die höhere Denkmalschutzbehörde neigt dazu, Kirchengebäude in immer größerer Zahl gemäß §§ 12 ff. DSchG in das Denkmalbuch einzutragen und damit die gesetzliche Folge auszulösen, daß praktisch jedwede Maßnahme des kirchlichen Trägers, die auf die Bausubstanz oder auf das Erscheinungsbild einwirkt, der staatlichen Genehmigung unterworfen wird. Die Vertreter der staatlichen Denkmalprüfung sind der Rechtsauffassung, daß, wenn ein Kulturdenkmal von besonderer Bedeutung vorliegt (gleich, in wessen Eigentum es steht), die Verwaltung die Eintragung in das Denkmalbuch veranlassen müsse. Die Konsequenzen sind für die Kirche drückend. Konzept und Ausführung einer Renovierung, das Erscheinungsbild im Inneren wie im Äußeren werden im wesentlichen vom Staat vorgegeben. Für die Verwirklichung der eigenen kirchlichen Vorstellungen bleibt wenig Raum. Die Berücksichtigung gottesdienstlicher Belange, die gesetzlich geboten ist (§ 11 Abs. 1 S. 1 DSchG-BW), erweist sich als nicht ausreichend, weil die Kirche sich nicht damit begnügen kann, über die kultischen Prinzipalstücke wie Altar und Taufstein zu verfügen. Sie betrachtet den Kirchenraum als Einheit und beansprucht, das Gesamtbild des Sakralbaus im Inneren wie im Äußeren als Ausdruck ihrer Sendung zu bestimmen.21 Angesichts dieser Schwierigkeiten stellt sich für die kirchliche Seite die Frage, ob ihre eigenen Belange im bisher praktizierten heteronomen Konzept noch hinlänglich gesichert sind und ob es für sie nicht günstiger, vielleicht sogar unausweichlich ist, die gesetzliche Option des autonomen Modells zu ergreifen.

V.  Verfassung als Schranke des staatlichen Denkmalschutzes Das Denkmalschutzgesetz und sein Vollzug müssen, wenn sie mit den Intentionen der Kirche kollidieren, sich an den grundrechtlichen und staatskirchenrechtlichen Gewährleistungen kirchlicher Selbstbestimmung messen lassen und sich vor ihnen rechtfertigen.22 In Betracht kommen das Grundrecht der korpo20 

Hinweis bei Kremer (Fn. 5), S. 92. Zum kirchlichen Verständnis des Sakralbaus Kremer (Fn. 5), S. 77 f. (Nachw.). 22  Überblick über die verfassungsrechtlichen Schutznormen zugunsten der Kirchen: Heckel (Fn. 2), S. 188 ff.; ders. (Fn. 6), S. 97 ff.; Albrecht (Fn. 3), S. 223 f.; Kremer (Fn. 5), S. 84 ff. 21 

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rativen Religionsfreiheit (Art. 4 Abs. 1 und 2 i. V. m. Art. 19 Abs. 3 GG) und religionsindifferente Grundrechte, wie sie jedem anderen Verband auch zustehen: die Eigentumsgarantie (Art. 14 GG), die Kunstfreiheit (Art. 5 Abs. 3 GG) und als Auffanggrundrecht die allgemeine Handlungsfreiheit (Art. 2 Abs. 1 GG ). Doch in erster Linie ist die staatskirchenrechtliche Gewähr der Kirchenautonomie relevant (Art. 137 Abs. 3 S. 1 WRV i. V. m. Art. 140 GG). Sie deckt das Thema der kirchlichen Selbstbestimmung gegenüber dem staatlichen Denkmalschutz zur Gänze ab. Der Rekurs auf die Grundrechte ist hier praktisch entbehrlich.23 Die Kirchenautonomie umschließt auch die Dispositionsfreiheit, die sich aus dem Eigentum am Kirchengebäude ergibt: daher bedarf es nicht des Rückgriffs auf die – für die Praxis ohnehin nicht hinlänglich erschlossene – Kirchengutsgarantie des Art. 138 Abs. 2 WRV. Die grundrechtlichen und die staatskirchenrechtlichen Garantien der Landesverfassung binden ebenfalls den Landesgesetzgeber, bringen aber keine materielle Erweiterung des Schutzes der Kirchen.24 Die folgenden Überlegungen dürfen sich also auf die Kirchenautonomie gemäß Art. 137 Abs. 3 S. 1 WRV beschränken. Diese staatskirchenrechtliche Gewähr umfaßt die Freiheit der Kirche, das Erscheinungsbild ihrer Sakralbauten zu bestimmen. Die Freiheit findet ihre Schranken in den „für alle geltenden Gesetzen“. Die Qualität als für alle geltendes Gesetz kommt dem Denkmalschutzgesetz im Prinzip zu, das eine legitime allgemeine Staatsaufgabe umsetzt, ohne daß es darauf ausginge, die Kirche spezifisch zu belasten. Doch diese abstrakten Merkmale reichen nicht aus, um eine konkrete Beschränkung der kirchlichen Selbstbestimmung zu rechtfertigen. Es kommt nicht nur auf die Ziele des ,,für alle geltenden“ Gesetzes an, sondern auch auf seine Wirkungen, die es für die Kirche zeitigt. Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts bildet ein Gesetz keine Schranke, wenn es die Kirche nicht wie den Jedermann trifft, sondern „in ihrer Besonderheit als Kirche härter, ihr Selbstverständnis, insbesondere ihren geistig-religiösen Auftrag beschränkend, also anders als den normalen Adressaten“.25 Die „Jedermann-Formel“ wird ergänzt durch das Erfordernis der Güterabwägung zwischen – dem selbständigen Ordnen und Verwalten der eigenen Angelegenheiten durch die Kirchen und – dem staatlichen Schutz anderer für das Gemeinwesen bedeutsamer Rechtsgüter. 23  Unerläßlich ist er allerdings im Rahmen der Verfassungsbeschwerde, weil die Rechte aus Art. 140 GG nicht die Zulässigkeit eröffnen können; gleichwohl findet die Kirchenautonomie im Rahmen der Begründetheit Anwendung. 24  Zur staatskirchenrechtlichen Lage nach der Verfassung Baden-Württembergs: Heckel, Staatskirchenrecht, in: Maurer/Hendler (Hrsg.), Baden-Württembergisches Staatsund Verwaltungsrecht, 1990, S. 580 (589 f.); ders. (Fn. 2), S. 67 ff. 25  BVerfGE 42, 312 (334).

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Diese Abwägung hat Rücksicht zu nehmen auf das friedliche Zusammenleben von Staat und Kirche.26 Unter diesen staatskirchenrechtlichen Auspizien reicht es nicht aus, daß das Denkmalschutzgesetz bei Sakralbauten die gottesdienstlichen Belange als vorrangig beachtet (§ 11 Abs. 1 S. 1 DSchG-BW). Es muß in seiner Anwendung die Selbstbestimmung der Kirche respektieren, wie ihre Sakralbauten aussehen sollen, weil sich darin ihre Sendung sinnfällig manifestiert und sie Position bezieht zu ihrer eigenen Geschichte wie zu den Herausforderungen der Gegenwart. Der Denkmalschutz, wiewohl Staatsaufgabe, ist der Kirche nicht wesensfremd. Im Gegenteil: sie kann ihn, freilich mit Vorbehalten, auch zu ihrer Sache machen und in den Dienst der eigenen Tradition stellen. Die Güterabwägung, die im Rahmen der Garantie der Kirchenautonomie geboten ist, erledigt sich nicht mit dem Argument, daß es der Kirche freistehe, das staatliche Regime des Denkmalschutzes zu vermeiden durch Erlaß autonomer Regelungen, den ihr das Gesetz anheimstellt. Auch wenn die Kirche diese Option nicht ergreift, genießt sie den unverkürzten Schutz der grundrechtlichen wie der staatskirchenrechtlichen Freiheitsgarantien. Das Gesetz kann den Freiraum der Kirchen über das von Verfassungs wegen gebotene Maß ausweiten, aber er darf ihn nicht mindern. Wenn das Gesetz dem Grundrechtsträger ein Wahlrecht einräumt, muß jede Möglichkeit, für sich genommen, den Maßstäben der Verfassung genügen. Das Argument „volenti non fit iniuria“ entlastet nicht.

VI.  Verfassungsrechtlicher Unterschied zwischen staatlichheteronomem und kirchlich-autonomem Denkmalschutz Gleichwohl besteht ein wesentlicher verfassungsrechtlicher Unterschied für die Kirche, ob der Staat ihr gegenüber die Vorschriften des Denkmalschutzes setzt und vollzieht oder ob sie eigene Vorschriften erläßt. Die staatlichen Normen bilden Schranken der Kirchenautonomie, die kirchlichen Normen dagegen entspringen dieser Autonomie. Im ersten Fall muß die Kirche ihre Belange gegenüber dem staatlichen Normanwender geltend machen, im zweiten bringt sie diese ein in eigene Normen. Dort überantwortet sie den Ausgleich der widerstrebenden Belange, der kultischen und der ästhetischen, der funktionalen und der konservatorischen, den staatlichen Behörden und den Verwaltungsgerichten; hier leistet sie den Ausgleich selbst. Sie gewinnt größeren Spielraum, ihre Vorstellungen durchzusetzen, weil sie die Vorhand hat, zu definieren und zu bestimmen, wie die kultischen Bedürfnisse der Gegenwart sich mit den Anforderungen historischer Pietät vertragen sollen und wie sie das Dilemma löst, daß sie ihr Fundament in der Vergangenheit und somit eine Tradition zu wahren 26 

BVerfGE 53, 366 (400 f.).

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hat, aber auch als eine „ecclesia semper reformanda“ im Dienst der Christen der Gegenwart steht.27 Freilich liegt der Einwand nahe, daß die Kirche nicht eigene Rechtsetzungsbefugnis ausübe, sondern die durch Gesetz delegierte des Staates, daß sie mithin als „Beliehene“ fungiere, daß die delegierte Staatsfunktion nicht der kirchlichen Selbstbestimmung unterliege und nicht in den grundrechtlichen Schutzbereich der Religionsfreiheit falle. Doch die Prämisse trifft nicht zu. Der Denkmalschutz steht nicht unter Staatsvorbehalt wie die Ausübung von physischem Zwang. Die Verfassungsgarantie des Denkmalschutzes schafft kein Staatsmonopol für diesen Sektor, wie auch sonst gemeinwohlerhebliche, öffentliche Aufgaben von nichtstaatlichen Trägern wahrgenommen werden dürfen und, unter bestimmten grundrechtlichen Bedingungen, vorrangig, wenn nicht sogar ausschließlich wahrgenommen werden müssen.28 Falls die Kirche den Erwartungen des Gesetzgebers nicht genügt, riskiert sie, daß dieser die kirchenautonome Möglichkeit aufhebt. Von Verfassungs wegen garantiert ist diese nämlich nicht. Über staatliche Normen und ihre Anwendung entscheidet im Streitfall letztverbindlich eine staatliche Instanz. Dagegen fällt der Letztentscheid über eine kirchenautonome Regelung der zuständigen kirchlichen Stelle zu (§ 11 Abs. 2 S. 3 DSchG-BW).29 Es wäre verfehlt, die Regelungsalternativen danach zu unterscheiden, daß die heteronome Lösung auf Kooperation setze, nicht aber die kirchenautonome. Vielmehr sind beide auf Kooperation angelegt und damit dem Leitbild des deutschen Staatskirchenrechts verpf1ichtet. Für die kirchenautonome Lösung wird das deutlich in den gesetzlichen Bestimmungen über Einvernehmen, Benehmen, Anhören, Einigung im Verhältnis von Staat und Kirche. Die Möglichkeit des Konflikts wird damit aber nicht aus der Welt geschafft, mit ihr auch nicht die Notwendigkeit, daß eine bestimmte Stelle letztverbindlich entscheidet. Das aber gilt ebenfalls für die staatliche Lösung, wie sie heute herrscht. Wenn Streit über die Eintragung eines Sakralbaus in das Denkmalbuch besteht und die Kirche Widerspruch einlegt und Anfechtungsklage erhebt, hört die Kooperation auf, und das Verfahren hoheitlich-einseitiger Entscheidung setzt ein. 27 Dilemma-Formel: Beseler, Die Denkmalpflege an den Sakralbauten in der Bundesrepublik Deutschland aus der Sicht des Konservators, in: Straßburger Kolloquien Bd. 7, 1987, S. 33 (48). 28  Zur grundrechtlichen Fundierung des Subsidiaritätsprinzips Isensee, Gemeinwohl und Staatsaufgaben im Verfassungsstaat, in: Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland (= HStR), Bd. III, 2. Aufl., 1996, § 57 Rn. 157 ff. – Voreilige Absage an das Subsidiaritätsprinzip im Denkmalschutz Heckel (Fn. 2), S. 191 ff. 29  Zur Klarstellung: Dieser Letztentscheid steht freilich im Kontext des staatlichen Gesetzes. Die Frage, wer das Gesetz verbindlich auslegt, führt wieder auf den Staat zurück. Dazu Isensee, Wer definiert die Freiheitsrechte?, 1980, S. 29 ff., 59 ff.; Muckel, Religiöse Freiheit und staatliche Letztentscheidung, 1997, S. 27 ff. (mit Nachw. der Kontroversen zum Thema „Selbstverständnis“).

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Wenn die Kirche eigene Vorschriften erläßt, muß sie ihr Selbstverständnis über die richtige Konkordanz der denkmalpflegerischen und der religiösen Belange artikulieren. Doch das ist auch notwendig, wenn sie sich gegen eine Maßnahme der staatlichen Denkmalschutzbehörde zur Wehr setzen will. Der Unterschied besteht darin, daß sie hier nur ad hoc zu argumentieren braucht, während sie dort ihre Vorstellungen allgemein ausformulieren muß. Völlig verschieden fällt die Argumentationslast aus. Wenn der Staat eine allgemeine Regelung des Denkmalschutzes, etwa die Eintragung der Kulturdenkmale von besonderer Bedeutung, gegenüber der Kirche durchsetzen will, muß diese ihre Besonderheit dartun und erklären, wieso die Anwendung der Regel auf sie unangemessen wäre. Sie agiert defensiv. Wenn die Kirche dagegen ein eigenes Regelungskonzept entwickelt, handelt sie offensiv, und dem Staat fällt im Streitfall die Aufgabe zu, seine rechtlichen Bedenken anzumelden und zu begründen, weshalb er sein Einvernehmen verweigert. Hier hat die Kirche den aktiven Part, dort den passiven. Sie macht keine gute Figur, wenn sie dem Staat vorwirft, er nehme zuwenig Rücksicht auf ihre besonderen Belange, wenn sie die gesetzliche Option, ihre Belange durch eigene Normen zur Geltung zu bringen, nicht wahrnimmt. Das ist freilich kein juristischer Gesichtspunkt, sondern ein solcher der Glaubwürdigkeit.

VII.  Voraussetzungen einer kirchenautonomen Regelung Die Voraussetzungen seien thesenförmig aufgeführt: 1.  Die kirchenautonome Regelung muß als allgemeine Norm von der zuständigen kirchlichen Körperschaft erlassen werden, dem Bistum oder der Landeskirche. Dazu ist das Einvernehmen mit der obersten Denkmalschutzbehörde erforderlich. Diese muß ihre Zustimmung erteilen, wenn die kirchliche Regelung allen formellen und materiellen Erfordernissen des Gesetzes entspricht.30 2. Die Regelung muß die erforderlichen Organisations- und Verfahrensbestimmungen enthalten. Sie darf sich darin aber nicht erschöpfen. 3.  Entscheidend ist der Inhalt.31 Die Regelungen müssen die wesentlichen Vorkehrungen zur Sicherung des Denkmalschutzes enthalten und seinen Stellenwert gegenüber etwaig kollidierenden kirchlichen Belangen bestimmen. In seiner thematischen Reichweite hat das kirchenautonome Recht dem staatlichen zu entsprechen, das es verdrängen soll. In seiner Regelungsdichte braucht es nicht weiter zu gehen als das Denkmalschutzgesetz. Wie dieses kann es sich der unbestimmten Rechtsbegriffe und der Generalklauseln bedienen. Unerläßlich ist allerdings die Konkretisierung für die Sakralbauten. 30 Näher

Heckel (Fn. 2), S. 165 ff. Heckel (Fn. 2), S. 151.

31 Zutreffend

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4. Die Kirche braucht keine dem Staat vergleichbare Denkmalverwaltung aufzubauen. Doch muß sie gewährleisten, daß die denkmalpflegerischen Belange tatsächlich und wirksam gewahrt werden.32 Dazu genügt die Anlehnung der kirchlichen Administration an die staatliche.33 Sie kann sich die Kompetenz und Leistungskraft der staatlichen Denkmalpflege zunutze machen und ihren Behörden im Wege der Vereinbarung die Anwendung der kirchlichen Vorschriften teilweise oder ganz überantworten, ähnlich wie sie die Erhebung der Kirchensteuer den staatlichen Finanzämtern überantwortet. Wenn und soweit sie aber den Vollzug in die eigene Hand nimmt, hat sie ein Verwaltungsniveau zu gewährleisten, das hinter dem des Staates nicht zurückbleibt. Auf keinen Fall genügt es, wenn die Kirche sich mit der Normgebung begnügt und deren Realisierung nicht durchsetzt. 5.  Eine stillschweigende Voraussetzung für die Substitution des staatlichen durch das kirchliche Recht liegt darin, daß die Kirche die Aufgabe des Denkmalschutzes als ihre eigene erkennt und sowohl im Eigeninteresse als auch im Dienste des weltlichen Kulturstaates ihn wahrnimmt, daß sie „Überlieferung, wie sie sich in den Sakralbauten und ihrer Ausstattung darstellt“, nicht als Ballast begreift, sondern als Herausforderung.34

VIII.  Fazit Die Kirche stößt nicht auf rechtliche Hindernisse, wenn sie die gesetzliche Option eines eigenen Denkmalschutzes wahrnimmt, die ihr das Recht BadenWürttembergs bereitstellt, wohl aber gehört institutionelle Courage dazu, daß sie ihr Selbstverständnis über den Denkmalschutz der res sacrae öffentlich und auch für sich selbst verbindlich definiert.

32 Zutreffend

Kremer (Fn. 5), S. 92 Anm. 62. Heckel (Fn. 2), S. 153 f. 34  Vgl. die Frage Beselers (Fn. 27), S. 48. 33 Näher

Rechtsschutz gegen Kirchenglocken Rechtsschutz gegen Kirchenglocken Rechtsschutz gegen Kirchenglocken. Rechtsweg und Rechtsqualifikation bei Nachbarklagen auf Unterlassung kirchlicher Immissionen

Rechtsweg und Rechtsqualifikation bei Nachbarklagen auf Unterlassung kirchlicher Immissionen* I.  Die Frage des Rechtsweges Die Bestimmung des Rechtsweges liegt weitab von den materiellen Problemen des richtigen Rechts, vom Kampf der realen Interessen, von der Idee der Gerechtigkeit. Ein Nichtjurist dürfte kaum Verständnis für die rechtlichen Schwierigkeiten aufbringen, die sich im Vorfeld der eigentlichen Rechtsfindung erheben – zumal dann, wenn deren Lösung keinen oder nur geringen Einfluß auf die Sachentscheidung hat, weil die materiellen Rechtsmaßstäbe identisch oder, wie in dem hier zu behandelnden Streitstoff, analog sind und allenfalls das Vorverständnis und die Mentalität der Richter rechtswegtypische Besonderheiten aufweisen. Auch der Jurist mag dazu neigen, die Überdifferenzierung des deutschen Rechtswegewesens und das Folgeproblem der Abgrenzungskonflikte zur Pathologie des Rechtsstaates zu rechnen. Und doch haben Rechtswegfragen für den Juristen eigentümlichen Reiz. Sie verlangen die Ortsbestimmung für eine konkrete Rechtssache im Ganzen des Rechtssystems und die Orientierung an den trigonometrischen Punkten, welche die Dogmatik gesetzt hat. Im folgenden geht es um die Frage, welcher Rechtsweg einer Nachbarklage auf Unterlassung kirchlichen Glockengeläutes offen steht. In Betracht kommt entweder die ordentliche Gerichtsbarkeit, falls es sich um eine „bürgerliche“ Rechtsstreitigkeit nach § 13 GVG handelt, oder die Verwaltungsgerichtsbarkeit, falls eine „öffentlich-rechtliche“ Streitigkeit im Sinne von § 40 Abs. 1 VwGO vorliegt. Das Zuordnungsproblem ergibt sich daraus, daß die Kirchengemeinde, gegen die sich die Klage richtet, einen verfassungsrechtlichen Sonderstatus als Körperschaft des öffentlichen Rechts hat und ihre Wirksamkeit durch die Kirchenautonomie besonders abgesichert wird. Es fragt sich, ob zwischen der Kirchengemeinde, die ihr Läuterecht ausübt, und dem Nachbarn, der seine Geräuschempfindlichkeit geltend macht (mag diese auch nur der unverfängliche Vorwand für antikirchliche Reizbarkeit sein), ein „normales“, privatrechtliches Nachbarverhältnis besteht oder ob die Besonder*  Erstveröffentlichung in: Gerhard Lüke/Georg Ress/Michael R. Will (Hrsg.), Gedächtnisschrift für Léontin-Jean Constantinesco. Schriftenreihe Annales Universitatis Sara­ viensis. Rechts- und Wirtschaftswissenschaftliche Abteilung, Bd. 100, 1983, S. 301 – 324.

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heit des kirchlichen Status eine andere Qualifikation fordert. Die Rechtswegfrage wird zur Systemfrage an das Staatskirchenrecht.

II.  Der Meinungsstand: Positionen und Argumente in der Rechtswegfrage 1.  Der Ausschluß jedweden Rechtsweges Traditionell wird die Klage auf Unterlassung des kirchlichen Geläutes als öffentlich-rechtlich qualifiziert. Im Jahre 1903 entschied das Reichsgericht, daß der (ordentliche) Rechtsweg für Klagen auf Unterlassung des Läutens mit Kirchenglocken nicht zulässig sei.1 Die Begründung: Das Recht der Kirchen, mit Glocken zu läuten, sei ihnen „zum allgemeinen Wohle ihrer Angehörigen und damit zugleich zum Wohle des Gesamtstaates eingeräumt“, somit gehöre es dem Gebiete des öffentlichen Rechts an. Das Recht zum Glockengeläut sei „eine besondere und wichtige Befugnis der Kirchen“, die ihnen als anerkannten christlichen Kirchengemeinschaften zukomme, während sie Privatpersonen und staatlich nicht voll anerkannten religiösen Gesellschaften meist nicht zugestanden werde. Für die öffentlich-rechtliche Qualität spreche auch, daß das Recht zum Läuten nicht etwa dem Kircheneigentümer als solchem, sondern den kirchlichen Behörden und Oberen zustehe. Aber auch soweit das Kirchengeläute, wie üblich, nebenbei zu weltlichen Kundgebungen (z. B. Warnung bei Feuergefahr, Bekanntgabe des Schulbeginns) verwendet werde, geschehe dies im Interesse der Allgemeinheit; es liege nicht privatrechtliche, sondern öffentlich-rechtliche Übung und Befugnis vor. Mit der Ablehnung des ordentlichen Rechtsweges war, vor dem umfassenden Ausbau der Verwaltungsgerichtsbarkeit, die richterliche Kompetenz überhaupt verneint. Das bedeutete allerdings nicht, daß keinerlei Rechtsbehelf gegen einen Mißbrauch des Glockenläutens möglich gewesen wäre. Die Kontrollkompetenz lag bei der staatlichen Exekutive: „Jedenfalls aber sind zur örtlichen oder zeitlichen Beschränkung oder Aufhebung der hervorragend öffentlich-rechtlichen Befugnis zum Läuten mit Kirchenglocken in der Regel nicht die ordentlichen Gerichte, sondern nur die zur Überwachung und Handhabung des öffentlichen Rechts bestellten Behörden berufen, und kann dann eine Klage, wie die vorliegende, auf Unterlassung des Läutens bei den Gerichten nicht zugelassen werden. Sowenig ähnliche Klagen gegen die unter Berücksichtigung der allgemeinen Wohlfahrt der Bevölkerung genehmigten wirtschaftlichen Unternehmungen statthaft sind (§ 26 GewO), ebensowenig, ja noch weniger kann regelmäßig gegenüber der auf uraltem Rechte und Herkommen beruhenden kirchlichen Befugnis des Glockenläutens vor den ordentlichen Gerichten auf Einstellung dieses Läutens geklagt werden“.2 1 

Urt. v. 19. 11. 1903, RGZ 56, 25 – 28.

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Die Prämissen der reichsgerichtliehen Entscheidung sind heute entfallen

– mit der verfassungsrechtlichen Garantie des umfassenden richterlichen Rechts­ schutzes und der verwaltungsgerichtlichen Generalklausel – mit dem verfassungsrechtlichen Auseinanderrücken von Kirche und Staat, angesichts dessen eine Strukturgleichheit kirchlicher und staatlicher Funktionen sowie eine Übereinstimmung kirchlicher und staatlicher Interessen zumindest problematisch geworden sind. Trotzdem pflanzt sich die Argumentation des Reichsgerichts noch im neueren Schrifttum fort – mit der Folge, daß sowohl der ordentliche als auch der Verwaltungsrechtsweg entfallen soll. Der Verwaltungsrechtsweg sei gegen „sämtliche Verwaltungsakte der Religionsgesellschaften ausgeschlossen“3. Das Ergebnis wird auch damit begründet, daß das Glockenläuten ein Teil des verfassungsmäßig garantierten Lebens sei, und „solche erhabenen Werte“ nicht mit „normalen Maßstäben“ veranschlagt werden könnten, allenfalls persönliche Fühlungnahme eines Betroffenen im Pfarrhaus möglich sei.4 2.  Die öffentlich-rechtliche Betrachtung: Zulässigkeit des Verwaltungsrechtsweges Die Rezeption der These des Reichsgerichts, daß der ordentliche Rechtsweg ausgeschlossen sei, führt heute aber auch zu der anderen Folgerung: daß nunmehr der Verwaltungsrechtsweg offen stehe.5 Das Verwaltungsgericht Würzburg gibt eine eigenständige Begründung für die Zulässigkeit des Verwaltungsrechtswegs: die Kirche nehme als Körperschaft des öffentlichen Rechts hoheitliche Funktionen wahr; zu diesen gehöre das Geläute.6 Das OVG Rheinland-Pfalz nennt als weiteren Grund dafür, daß das Läuterecht öffentlich-rechtlicher Natur sei, die Eigenschaft der Kirchenglocken als öffentliche Sachen (res sacrae).7 Der Gebrauch einer öffentlichen Sache beruhe nicht ausschließlich auf den Bestimmungen des bürgerlichen Sachenrechts, sondern überwiegend auf allgemeinen öffentlich-rechtlichen Grundsätzen. Die Regelung 2 

RGZ 56, 25 (26 f.). Wiethaup, Lärmbekämpfung in der Bundesrepublik Deutschland, 2. Aufl. 1967, S. 424 f. Im Ergebnis auch O. Friedrich, Einführung in das Kirchenrecht, 2. Aufl. 1978, S. 470 (ausdrücklich nur Ausschluß des ordentlichen Rechtsweges). 4 So Wiethaup (Fn. 3), S. 426. 5 So Meisner/Stern/Hodes, Nachbarrecht im Bundesgebiet (ohne Bayern) und in Westberlin, 5. Aufl. 1970, § 38 X 2, S. 786. 6  VG Würzburg, B. v. 1. 6. 1971, BayVBl 1972, S. 23. Im Anschluß an diese Entscheidung ebenso: VG Karlsruhe, U. v. 17. 9. 1980, Az. 7 K 35/80. So auch Renck, in: BayVBl 1982, S. 329. 7  OVG Rheinland-Pfalz, U. v. 23. 6. 1955, DVBl 1956, S. 624; Renck (Fn. 6), S. 329 f. 3 So

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des Gebrauchs der Kirchenglocken gehöre zum öffentlich-rechtlichen Bereich der Kirchen. Auch eine politische Gemeinde, die Eigentümerin von Kirchenglocken ist, soll hoheitsrechtlich handeln, wenn sie deren Benutzung durch verschiedene Kirchengemeinden ordnet.8 3.  Die privatrechtliche Betrachtung: Zulässigkeit des ordentlichen Rechtsweges Die Tradition, die das Reichsgericht mit seiner öffentlich-rechtlichen Sicht repräsentiert, ist für die Vertreter der privatrechtlichen Gegenposition heute kraftlos, weil sich die staatskirchenrechtlichen Grundlagen seit der Monarchie geändert hätten und die alte Verflechtung von Staat und Kirche gelöst sei.9 Auch der hergebrachte Status der Kirchen als Körperschaften des öffentlichen Rechts, der den Wechsel der Staatsformen überdauert hat, soll keinen Einfluß auf die Rechtswegfrage üben. Dem verfassungsrechtlich garantierten Status wird nur „verbale“ Bedeutung beigelegt.10 Die Kirchen seien nur Körperschaften im formellen Sinne, nicht in dem materiellen Sinne, wie er typischen juristischen Personen des öffentlichen Rechts innerhalb der mittelbaren Staatsverwaltung eigen sei. Daher werde die Kirche nicht kraft der Anerkennung als Körperschaft schon zum Hoheitsträger und ihr Gottesdienst nicht zur Hoheitstätigkeit.11 Öffentlich-rechtlich im Sinne des § 40 VwGO seien nur die einzelnen obrigkeitlichen Staatsfunktionen, mit denen Staat und Gemeinde die Kirchen in den Bereichen der Kirchensteuer, des Friedhofswesens etc. beliehen hätten.12 Die privatrechtliche Position baut also auf der (stillschweigenden) Voraussetzung, daß nur staatliche Befugnisse öffentlich-rechtlich sein können. Ausdrücklich wird die Möglichkeit verworfen, Kulthandlungen wenigstens in Analogie zu dem schlicht-hoheitlichen Staatshandeln zu setzen: eine solche Analogie würde eine Parallelität vortäuschen, die der Wirklichkeit nicht entspreche.13 Grundsätzlicher noch: die kirchliche Ordnung bilde einen anderen Rechtsboden als die staatliche Ordnung. Sie entziehe sich den Kategorien des staatlich-weltlichen 8 

OVG Rheinland-Pfalz (Fn. 7). W. Martens, in: FS Wacke, 1972, S. 349; W. Rüfner, in: HdbStKirchR Bd. I, 1. Aufl. 1974, S. 768; W. Schatzschneider, in: BayVBl 1980, S. 564. 10 So M. Stolleis, in: BayVBl 1972, S. 23; ders., in: ZevKR 17 (1972), S. 152, mit (nicht ganz stichhaltiger) Berufung auf R. Herzog, in: Maunz/Düring/Herzog/Scholz, Grundgesetz, Stand 1981, Art. 4 Rn. 26. Ähnlich auch Schatzschneider (Fn. 8), S. 565. 11  H. Maurer, in: JuS 1972, S. 335 („äußerer Status einer Körperschaft des öffentlichen Rechts“); W. Martens (Fn. 8), S. 349, 350; A. v. Campenhausen, in: DVBl 1972, S. 319; Schatzschneider (Fn. 8), S. 564 f. 12  W. Martens (Fn. 8), S. 350; Rüfner (Fn. 8), S. 676 f.; Schatzschneider (Fn. 8), S. 564. 13 So Stolleis, in: ZevKR 17 (1972), S. 152; v. Campenhausen (N10), S. 319. 9 

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Rechts. Deshalb sei ihr auch die Unterscheidung zwischen öffentlichem Recht und Privatrecht nicht gemäß.14 Aus dieser Sicht erscheint es folgerichtig, daß kirchliche Handlungen nicht öffentlich-rechtlichen Charakter haben. Aber es wäre nicht minder folgerichtig, ihnen auch den (ebenfalls kirchen-inadäquaten) privatrechtlichen Charakter abzusprechen. Die zweite Konsequenz unterbleibt jedoch. Das Argument wird nur in einer Richtung verwendet. Im Selbstverständnis der Kirchen sind ihr Auftrag und ihr Wirkungsfeld „öffentlich“. Doch „öffentlich“ ist nicht dasselbe wie „öffentlich-rechtlich“. Kirchliches Handeln soll deshalb nicht dadurch Hoheitscharakter annehmen, weil es öffentlichen Zielen dient.15 Für die privatrechtliche Betrachtungsweise wird in der Rechtswegfrage der verfassungsrechtliche Unterschied hinfällig zwischen den Religionsgemeinschaften mit und solchen ohne Körperschaftsstatus. Bei Rechtsstreitigkeiten mit privatrechtlich verfaßten Religionsgemeinschaften, die ebenfalls von Verfassungs wegen das Läuterecht besitzen, ist ohnehin der Zivilrechtsweg gegeben. Daß für die öffentlich-rechtlich organisierten Kirchen ein gleiches gelten solle, wird als Vorzug der privatrechtliehen Position dargestellt.16 Ebenso rechtswegneutral wie der Korporationsstatus der Kirche soll der Status der Kirchenglocke als öffentliche Sache sein; dieser Status gilt zwar auch für die staatliche Rechtsordnung. Die öffentlich-rechtliche Eigenschaft, die der Glocke nach staatlichem Recht kraft der kirchlichen Widmung zukommt, soll jedoch nichts besagen über die Rechtsform ihres widmungsmäßigen Gebrauchs.17 Die Konsequenz: Die immissionsrechtlichen Beziehungen zwischen Kirche und Nachbarn gründen im Privatrecht, genauer: im nachbarrechtlichen Gemeinschaftsverhältnis des bürgerlichen Rechts (§§ 906 ff., 1004, 242 BGB). Die Kirchen stehen also gegenüber ihrem Nachbarn, der sich auf Lärmschutz beruft, nicht anders da als jeder beliebige Private. Rechtskonflikte sind vor dem Zivilgericht auszutragen.18

14 So

Martens (Fn. 8), S. 349; Stolleis (Fn. 12), S. 152. Im Ergebnis: Stolleis (Fn. 12), S. 152 f. 16  Stolleis (Fn. 12), S. 153. 17 So Martens (Fn. 8), S. 350; Schatzschneider (Fn. 8), S. 565. Kritik: Renck (Fn. 6), S. 330. 18  So BayVGH, B. v. 14. 3. 1980, in: BayVBl 1980, S. 563; LG Essen, B. v. 11. 9. 1969, in: MDR 1970, S. 505 (Posaunenmusik in der Kirche); v. Campenhausen (Fn. 10), S. 319; Stolleis, in: BayVBl 1972, S. 23; ders., in: ZevKR 17 (1972), S. 153. 15 

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4.  Der staatskirchenrechtliche Sondercharakter der Rechtswegfrage Das Problem, um das sich die anhaltende Kontroverse bewegt, unterscheidet sich von den konventionellen Zuordnungsschwierigkeiten, wie sie sich im ausgefächerten Rechtswegesystem häufig ergeben. Denn hier versagen die landläufigen Abgrenzungskriterien. Die Bestimmung des Rechtswegs hängt ab von staatskirchenrechtlichen Voraussetzungen. Unterschiede im staatskirchenrechtlichen Vorverständnis wirken sich auf die widersprüchlichen Positionen in der Rechtswegfrage aus. Diesem Zusammenhang ist nachzugehen.

III.  Die Vorfrage: Die staatliche Gerichtsbarkeit in einer Rechtssache mit Kirchenbezug Die Frage des Rechtsweges stellt sich nur dann, wenn der Rechtsstreit überhaupt der Gerichtsbarkeit des Staates unterliegt. Diese Voraussetzung ist für eine Rechtsmaterie aus dem kirchlichen Bereich nicht von vornherein selbstverständlich. Die Jurisdiktionsgewalt des Staates über die Kirche ist begrenzt. Die Grenzen ergeben sich aus der verfassungsrechtlich gesicherten Freiheit der Kirche, ihre Angelegenheiten aus eigenem Recht zu ordnen, und aus dem säkularen Charakter des Staates. Der weltliche Staat kann nur nach weltlichen Rechtsmaßstäben judizieren. Ihm entziehen sich rein religiöse Angelegenheiten wie Glaubenswahrheit, Sakramentenwesen, Gottesdienst, innerkirchliche Organisation oder kirchliche Ämterordnung in ihren geistlichen Aspekten.19 Das Zulässigkeitserfordernis der staatlichen Gerichtsbarkeit ist nicht ausdrücklich gesetzlich geregelt. Es bildet ein Seitenstück zu der Prozeßvoraussetzung der deutschen Gerichtsbarkeit (§§ 18 – 20 GVG). Wie jene den Umfang der gerichtlichen Kompetenz im Verhältnis zur ausländischen Staatshoheit abgrenzt, so diese im Verhältnis zum staatsfreien Bereich der Kirche. Die Zuständigkeit der staatlichen Gerichtsbarkeit setzt ein, wenn kirchliches Handeln auch säkular-staatliche Belange berührt. Das ist beim Glockengeläut der Fall, das über den kircheninternen Raum hinauswirkt und extra muros mit dem Ruhebedürfnis des Nachbarn kollidiert. Der Schutz der Gesundheit und die Lärmabwehr sind Aufgaben des Staates. Sie gehören zu seinem klassischen „polizeilichen“ Wirkungskreis, der Aufrechterhaltung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung.20 Über dieses Ergebnis herrscht in Literatur und Rechtsprechung

19  Praktisches Beispiel: BVerfGE 25, 226 (230 f.); dazu grundsätzlich: U. Scheuner, in: ders., Schriften zum Staatskirchenrecht, 1973, S. 48 f., 104 – 106; W. Rüfner, in: HdbStKirchR Bd. I, 1. Aufl. 1974, S. 759, 763 f.; A. v. Campenhausen, Staatskirchenrecht, 1973, S. 175. 20  Zutreffend: VG Würzburg (Fn. 6), S. 23; VG Karlsruhe (Fn. 6), S. 4.

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im wesentlichen Konsens21: Die Übereinstimmung ist besonders bemerkenswert, weil in vielen Grenzbereichen von Staat und Kirche Ungewißheit und Streit über die Jurisdiktion herrschen.22 Freilich wird die staatliche Gerichtsbarkeit nicht immer als eigenständige Prozeßvoraussetzung neben (bzw. vor) der Zulässigkeit des Rechtsweges erkannt. Wer jedoch die Rechtsweg-Alternative diskutiert, bejaht zumindest einschlußweise deren rechtslogische Voraussetzung: die staatliche Jurisdiktionskompetenz. Der prozeßrechtlichen Kompetenz entspricht die verfassungsrechtliche Pflicht des Staates, Rechtsschutz zu geben. Die Justizgewährleistungspflicht des Staates, der ein Anspruch des Bürgers korrespondiert, erwächst aus dem Prinzip des Rechtsstaates. Die Rechtsschutzgarantie besteht unabhängig von dem Spezialgrundrecht des Art. 19 IV GG, das den Rechtsweg gegen die „öffentliche“ Gewalt des Staates sicherstellt, sich aber nicht auf die staatsfreie ,,Kirchengewalt“ bezieht.23

IV.  Das Erfordernis der Qualifikation kirchlicher Akte nach staatlichen Rechtskriterien Es steht fest, daß ein Rechtsweg gegeben ist. Es steht weiterhin fest, daß entweder der ordentliche Rechtsweg oder der allgemeine Verwaltungsrechtsweg in Frage kommt. Daher ist es unausweichlich, den Charakter des Rechtsstreits – genauer: den des kirchlichen Realakts, dessen Unterlassung begehrt wird – zu qualifizieren. Das Rechtswegesystem läßt nur zwei Möglichkeiten der Qualifikation zu: Das kirchliche Glockenläuten ist entweder „bürgerlich-rechtlich“ gemäß § 13 GVG oder „öffentlich-rechtlich“ gemäß § 40 VwGO. Im staatskirchenrechtlichen Schrifttum erheben sich Bedenken dagegen, kirchliche Akte dieser Fundamentalalternative des staatlichen Rechts zu unter21  Ablehnend nur eine Mindermeinung: Wiethaup (Fn. 3), S. 242 f.; Friedrich (Fn. 3), S. 470. 22  Zu Abgrenzungsproblemen: Rüfner (Fn. 18), S. 762 – 767; v. Campenhausen (Fn. 18), S.  170 – 185; U. Steiner, Offene Rechtsschutzprobleme im Verhältnis von Staat und Kirchen, 1981; A. Hollerbach, in: AöR 106 (1981), S. 246 f.; P. Tiedemann, in: DÖV 1981, S. 428. 23  Das formelle Grundrecht des Art. 19 Abs. 4 GG bietet Rechtsschutz gegen kirchliche Maßnahmen nur dort, wo sich in diesen staatlich verliehene öffentliche Gewalt äußert (etwa die delegierte Steuerhoheit). Das Glockenläuten ist als genuin kirchliche Kompetenz dagegen nicht öffentliche Gewalt im Sinne des Art. 19 Abs. 4 GG. Zur (umstrittenen) Bedeutung des Art. 19 Abs. 4 GG in kirchlichen Angelegenheiten: K. Hesse, Der Rechtsschutz durch staatliche Gerichte im kirchlichen Bereich, 1956, S. 83 – 100; G. Dürig, in: Maunz/Dürig/Herzog/Scholz, Grundgesetz, Stand 1981, Art. 19 Abs. 4 Rn. 20; Rüfner (Fn. 18), S. 761 f.; v. Campenhausen (Fn. 18), S. 173.

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werfen: Die Unterscheidung zwischen öffentlichem Recht und Privatrecht sei vom Staat gesetzt und auf eine bestimmte geschichtliche Situation der Staatlichkeit zugeschnitten. Kirchliche Handlungen paßten nicht in das staatliche ZweierSchema. Es sei heute „eigentlich nicht mehr zulässig, zumindest aber unangebracht und unnötig, Äußerungen der Eigenrechtsmacht im Grundrechtsstatus als öffentlich-rechtlich zu qualifizieren. In ihrem eigenen Bereich lebt die Kirche nicht nach öffentlichem Recht, sondern nach Kirchenrecht, es gilt „ecclesia vivit iure proprio“ …“.24 Die These der kategorialen Inadäquanz provoziert grundsätzliche Einwände: – daß die Kategorien öffentliches Recht und Privatrecht dem positiv-staatlichen Recht vorausliegen und den rechtssystematischen Horizont bilden, in dem auch das Kirchenrecht seinen Ort hat; – daß das Kirchenrecht sich von jeher in die Dichotomie gefügt und daß es sich traditionell als öffentliches Recht. verstanden hat nach der Formel Ulpians: „Ius publicum in sacris, in sacerdotibus, in magistratibus consistit“; – daß jetzt mit der Abweisung der staatlichen Kriterien kirchliche Maßstäbe in das Prozeßrecht eindringen, mit ihnen die Aporien über Möglichkeit und Wesen des Kirchenrechts und die entsprechenden konfessionellen, theologischen, juristischen Kontroversen. Doch die These der kategorialen Inadäquanz braucht hier nicht abschließend erörtert zu werden. Zumeist tritt sie nur als rechtstheoretisches Raisonnement auf. In dieser Form ist sie irrelevant für die anstehende Rechtswegfrage. Soweit sie aber rechtspragmatisch verstanden und auf die anstehende Rechtswegfrage angewendet wird, dient sie einseitig dazu, die Unangemessenheit der öffentlichrechtlichen Qualifikation kirchlichen Handelns zu begründen – mit der Konsequenz, daß deshalb die privatrechtliche Qualifikation stattfinden solle.25 Die Argumentation ist in sich widersprüchlich. Wenn die kirchlichen Akte sich tatsächlich der Dichotomie entzögen, so dürften sie auch nicht als privatrechtlich ausgewiesen werden. Die Divergenz der privatrechtlichen Qualifikation zum kirchlichen Selbstverständnis dürfte sogar noch größer ausfallen als die der öffentlich-rechtlichen Qualifikation.26 Die konsequente Folgerung aber, beide 24  Zitat: A. Hollerbach, in: Essener Gespräche Bd. 1, 1969, S. 57 f. Ähnliche Thesen: Hermann Weber, Die Religionsgemeinschaften als Körperschaften des öffentlichen Rechts im System des Grundgesetzes, 1966, S. 87; W. Martens, Öffentlich als Rechtsbegriff, 1969, S. 139; W. Rüfner, in: Essener Gespräche Bd. 7, 1972, S. 11; ders., in: HdbStKirchR Bd. I, 1. Aufl. 1974, S. 768; L. Schnorr von Carolsfeld, in: FS Liermann, 1964, S. 224 Anm. 11. 25  So zur Frage des Glockenläutens: Nachw. o. Fn. 13. Ferner Weber (Fn. 23) S. 88 f. 26 „Ein Spannungsverhältnis zwischen weltlichen und kirchlichen Rechtsformen bleibt. Unbestreitbar ist allerdings, daß dieses Spannungsverhältnis bei einer Typisierung mit privatrechtlichen Rechtsformen noch größer wäre“ (Hollerbach, in: Essener Gespräche Bd. 1, 1969, S. 56).

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Qualifikationsmöglichkeiten des staatlichen Rechts auszuschlagen, wäre vollends sinnlos, weil das staatliche Recht keinen dritten Weg bereitstellt, der dem Sondercharakter kirchlicher Maßnahmen Rechnung trägt. Die Zuweisung des Rechtsweges innerhalb der staatlichen Gerichtsverfassung kann nicht vom Selbstverständnis der jeweils betroffenen Kirche abhängen. Die Rechtsprechung erkennt zwar dem Selbstverständnis der Kirchen gewichtige (in mancher Hinsicht auch problematische) Bedeutung zu.27 Doch erschöpft sich diese Bedeutung in materiellrechtlichen Fragen grundsätzlicher und staatskirchenrechtlicher Art. Sie erstreckt sich nicht auf das Prozeßrecht. Eine solche Erstreckung ließe sich auch nicht rechtfertigen, weil nicht ein kirchliches Handeln als solches zur Beurteilung ansteht, auch nicht seine kircheninterne Relevanz, sondern seine Außenrelevanz für kirchenfremde Personen. Es geht um Wirkungen, die es im staatlichen Rechtsraum entfaltet. Die Qualifikation für Zwecke des staatlichen Rechtsschutzes folgt allein Kriterien des staatlichen Prozeßrechts.

V.  Rechtsform und verfassungsrechtliche Legitimation: Privatrecht als einzig mögliche Form der Grundrechtsausübung – öffentliches Recht als ausschließliche Form des Staatshandelns? Die privatrechtliche Betrachtungsweise stützt sich darauf, daß kirchliches Handeln wie das Glockenläuten sich aus den Grundrechten legitimiere. Grundrechtlich fundiertes Handeln aber – das ist die Prämisse – könne nur in privatrechtlicher Form erfolgen, während das öffentliche Recht der Staatsgewalt vorbehalten sei. 1.  Die grundrechtliche Legitimation der Kirchen Die Ausgangsthese trifft zu: Die Kirchen üben das Grundrecht der Religionsfreiheit aus, wenn sie die Glocken als Ruf zum Gebet (Angelus-Läuten), Einladung zum Gottesdienst und als öffentliches Zeichen des Glaubens läuten (Art. 4 Abs. 2 GG i. V. m. Art. 19 Abs. 3 GG).28 Damit ist der verfassungsrechtliche Standort der Kirchen in der polaren Legitimationsordnung des Grundgesetzes bestimmt: in der Gesellschaft als dem Bereich grundrechtlicher Freiheit, nicht im Bereich demokratischer Staatsgewalt.29

27  Dazu näher mit Nachw.: J. Isensee, Wer definiert die Freiheitsrechte?, 1980, S. 60 – 64 et passim. 28  BVerfGE 24, 236 (246); J. Listl, in: HdbStKirchR Bd. I, 1. Aufl. 1974, S. 385; M. Baldus, in: DÖV 1971, S. 339 – 341. 29  Zu der Fundamentalalternative grundrechtliche oder demokratische Legitimation: J. lsensee, in: Der Staat 20 (1981), S. 161 – 176, bes. S. 168.

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Der grundrechtlich-gesellschaftliche Charakter des kirchlichen Handelns wird nicht in Frage gestellt durch die staatskirchenrechtliche Gewährleistung der kirchlichen Autonomie und der öffentlich-rechtlichen Korporationsqualität (Art. 137 Abs. 3 und Abs. 5 WRV i. V. m. Art. 140 GG). Das Staatskirchenrecht bietet eine zusätzliche Freiheitsgewährleistung und institutionelle Rahmenbedingungen kirchlicher Unabhängigkeit.30 Die Kirchenautonomie, die das Grundgesetz aus der Weimarer Zeit übernimmt, stellt eine zweite verfassungsrechtliche Absicherung des kirchlichen Rechts zu läuten dar.31 Die verfassungsrechtliche Anerkennung der Kirchen als Körperschaften des öffentlichen Rechts zieht die Kirchen nicht von ihrem grundrechtlichen Ursprung ab in die Sphäre des Staatlichen hinein. Kirchliches Handeln gewinnt kraft des Körperschaftsstatus nicht staatliche Qualität.32 Es bleibt Emanation grundrechtlicher Freiheit, auch wenn es sich der öffentlich-rechtlichen Organisation bedient. 2.  Grundrechtsausübung in hoheitlicher Form – Beispiele: Universität und Rundfunk Die Dichotomie der materialen Legitimation findet eine gewisse Parallele in der Dichotomie der Rechtsformen: Grundrechtliches Handeln vollzieht sich normalerweise in privatrechtlicher, staatliches in öffentlich-rechtlicher Form. Anders ausgedrückt: Das typische Feld des Privatrechts ist die Gesellschaft, das typische Feld des öffentlichen Rechts der Staat, und zwar in seiner Binnenorganisation wie in seiner Beziehung zum Bürger. Das Normale ist aber keine Norm. Die typische Zuordnung ist nicht rechtlich verbindlich und rechtlich exklusiv. Es wäre daher nicht schlüssig, aus der Üblichkeit der privatrechtlichen Form der Grundrechtsausübung zu folgern, daß Grundrechte allein in privatrechtlicher Form verwirklicht werden könnten, oder entsprechend zu argumentieren, daß das öffentliche Recht der Staatsgewalt vorbehalten sei. Das geltende Recht hält die Möglichkeit offen, daß Grundrechte über öffentlich-rechtliche Organisation in öffentlich-rechtlicher Handlungsform realisiert werden. Beispiele bilden die Universitäten und die Rundfunkanstalten. 30 Zum dogmatischen Zusammenhang von Art. 4 und 140 GG: Listl (Fn. 27), S. 402 – 406; R. Herzog, in: Maunz/Dürig/Herzog/Scholz, Grundgesetz, Stand 1981, Art. 4 Rn.  24 – 31; J. Isensee, in: Katholischer Krankenhausverband Deutschlands (Hrsg.), Eigene Wege im katholischen Krankenhaus, 1982, S. 2 – 8. 31 Vgl. Baldus (Fn. 28), S. 339 – 341. 32 Dazu: E. Friesenhahn, in HdbStKirchR, Bd. I, 1. Aufl. 1974, S. 549 f.; H. Quaritsch, in: Quaritsch/Weber (Hrsg.), Staat und Kirche in der Bundesrepublik, 1967, S. 304 – 310; W. Martens, Öffentlich als Rechtsbegriff, 1969, S. 141 – 146; K. Meyer-Teschendorf, in: AöR 103 (1978), S. 293 – 303.

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Die Universität setzt sich als Körperschaft des öffentlichen Rechts zusammen aus Elementen mittelbarer Staatsverwaltung und gesellschaftlicher Selbstverwaltung. Sie ist sowohl staatliche Ausbildungsbehörde als auch grundrechtliches Forum für die freie Forschung und Lehre. In beiden Wirkungskreisen, die sich überschneiden, handelt sie öffentlich-rechtlich. Der Rechtsweg gegen die Universität führt zum Verwaltungsgericht, gleich ob sie ihr Handeln allein auf eine delegierte Staatskompetenz oder ob sie es auch auf das Grundrecht aus Art. 5 Abs. 3 GG stützt.33 Die hoheitliche Kompetenz der Hochschule und das Amt des Hochschullehrers können sich entweder als Staatsfunktion oder als Gefäß grundrechtlicher Freiheit darstellen. Die öffentlich-rechtliche Qualität aber bleibt sich gleich. Das Rundfunkprogramm, das die bestehenden öffentlich-rechtlichen Monopolanstalten ausstrahlen, ist nicht Äußerung der Staatsgewalt, sondern Grundrechtsausübung durch Treuhänder, die für die (als solche nicht handlungsfähige) pluralistische Gesellschaft tätig werden.34 Nicht nur die Organisation der Rundfunkanstalt ist öffentlich-rechtlich, sondern auch ihre Funktion. Das Bundesverfassungsgericht, qualifiziert die aus der Rundfunkfreiheit des Art. 5 GG fließende Aufgabe als „öffentlich-rechtlich“ (nicht also bloß – rechtsformneutral – als „öffentlich“). Die grundrechtslegitimierte Tätigkeit des Rundfunks vollziehe sich „im öffentlich-rechtlichen Bereich“.35 Das Verhältnis der Rundfunkanstalt zu ihren Benutzern ist öffentlich-rechtlich ausgestaltet. Es ist daher folgerichtig, daß das gleiche für die Rechtsbeziehung zu Dritten gilt, deren rechtlich geschützte Interessen, etwa Persönlichkeitsrechte, durch Rundfunksendungen beeinträchtigt werden. Haftungsrechtlich gilt die Ausstrahlung einer Sendung als „öffentliche Gewalt“; der Schadensersatz für Rufschädigung folgt den Regeln der Staatshaftung.36 Umstritten ist, ob für Unterlassungs- und Folgenbeseitigungsklagen gegen ehrverletzende Sendungen der Verwaltungsrechtsweg oder der ordentliche Rechtsweg gegeben ist.37 33 

K. A. Bettermann, in: NJW 1977, S. 514. Dazu etwa: F. Ossenbühl, Rundfunk zwischen Staat und Gesellschaft, 1975. 35  BVerfGE 31, 314 (329). Nach BVerwGE 22, 299 (306) liegt schlichte Hoheitsverwaltung vor. 36 So Bettermann (Fn. 31), S. 516 f.; H. J. Papier, in: MK, 1980, § 839 BGB Rn. 108; B. Bender, Staatshaftungsrecht, 3. Aufl. 1981, S. 64. Anders F. Ossenbühl, Staatshaftungsrecht, 2. Aufl. 1978, S. 30 f. 37  Für den Verwaltungsrechtsweg: Bettermann (Fn. 31), S. 513 – 519; E. Buri, in: NJW 1972, S.  705 – 708; H. Bethge, in: VerwArch 63, S. 152 – 182. Vgl. auch Papier (Fn. 34); P. Lerche, in: FS Löffler, 1980, S. 222 – 229. – Für den ordentlichen Rechtsweg: BGHZ 66, 182 (187 f.); OLG Köln, U. v. 9. 1. 1973, NJW 1973, S. 838 f.; OLG Frankfurt, U. v. 24. 9. 1970, NJW 1971, S. 47; G. Fette, in: NJW 1971, S. 2210 – 2212. – Unabhängig von den materiellrechtlichen Kontroversfragen erhebt sich hier ein prozeßrechtliches Problem: ob der BGH mit seiner privatrechtlichen Qualifikation nicht die Bindungswirkung verletzt, welche kraft § 31 Abs. 1 BVerfGG die öffentlich-rechtliche Qualifikation durch das 34 

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Der Bundesgerichtshof hält den Rechtsstreit für bürgerlich-rechtlich, weil Rundfunk und Fernsehen hier, trotz ihrer öffentlich-rechtlichen Organisation, als Grundrechtsträger „in einer dem Bürger vergleichbaren Rolle“ handelten; sie träten dem in seiner Ehre beeinträchtigten Privaten nicht anders gegenüber als die privatrechtlich organisierte Presse. Der Konflikt zwischen Rundfunkfreiheit und Persönlichkeitsrecht ereigne sich „in der (horizontalen) Spannungslage kollidierender Grundrechte, nicht in der (vertikalen) Gegenüberstellung eines Grundrechtsträgers zum Gemeinwesen“.38 Diese Rechtsauffassung zieht Bedenken auf sich: Sie stellt in der prozeßrechtlichen Frage der Handlungsform einseitig ab auf die materiale verfassungsrechtliche Legitimation und vernachlässigt die Bedeutung der Organisationsform. Die Rundfunksendung unterscheidet sich vom Pressebericht gerade durch die öffentlich-rechtliche Struktur des Mediums: die besondere Effizienz, die durch den Monopolcharakter gegeben ist, die besondere Glaubwürdigkeit der Berichterstattung, die durch die öffentlich-rechtliche Rundfunkverfassung verbürgt mit ihren Sondermaximen der Ausgewogenheit, Sachlichkeit, Unparteilichkeit. Die Grundrechtsausübung im Rundfunk wird über die öffentlich-rechtliche Organisation kanalisiert, domestiziert und kontrolliert. Deshalb spricht für die privatrechtliche Qualifikation auch nicht die „Sonderrechtstheorie“, d. h. die These, daß das öffentliche Recht das Sonderrecht der hoheitlichen Gewalt, ihr Amtsrecht, bilde, das Privatrecht dagegen jedermann zukomme.39 Abgesehen davon, daß diese These nur cum grano salis akzeptiert werden kann und daß sie in den Grenzfällen des „schlichten“ Verwaltungshandelns nur mäßige Abgrenzungskraft aufweist, bedient sich der Rundfunk gerade des staatlichen Sonderrechts. Grundrechtsausübung erfolgt via Amtsrecht. Die Vermutung spricht dafür, daß die Rechtsbeziehungen eines öffentlichen Leistungsträgers zu Dritten dieselbe Rechtsqualität aufweisen wie die zu den Benutzern.40 Die identische Rundfunksendung kann nicht ohne besondere Begründung rechtlich aufgespalten werden in ihren Wirkungen auf ihre bestimmungsmäßigen Empfänger und in ihren Wirkungen auf ihre Objekte und Opfer. Entscheidend ist: Die Koordination widerstreitender Grundrechtsinteressen muß nicht ausschließlich in privatrechtlicher, sie kann auch in öffentlich-rechtlicher Form erfolgen.41 Die Grundrechtskonkordanz mit öffentlich-rechtlichen BVerfG (E 31, 314 [329]) zeitigt (so Bettermann [Fn. 31], S. 513, 519; zustimmend Bender [Fn. 34], Rn. 165). 38  BGHZ 66, 182 (187). 39 Vgl. H. J. Wolff/O. Bachof, Verwaltungsrecht I, 9. Aufl. 1974, § 22 II c. Kritisch dazu: Bettermann (Fn. 31), S. 515 f. 40  Papier (Fn. 34), § 839 Rn. 106, 108. 41 So Bettermann (Fn. 31), S. 514 f.; vgl. auch Bethge (Fn. 35), S. 167.

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Mitteln bewirkt keine Minderung des Rechtsschutzes für die eine oder die andere Seite. Die materiellen Maßstäbe der Abwägung, der Abgrenzung und des Ausgleichs haben auf beiden Ebenen analogen Inhalt.42 3.  Folgerung Die rundfunkrechtlichen Besonderheiten können dahinstehen. Für das staatskirchenrechtliche Rechtsformproblem ist wesentlich, daß Grundrechtsbetätigung in öffentlich-rechtlicher Form möglich ist und daß ein Verwaltungsrechtsstreit zwischen Grundrechtsträgern nicht von vornherein ausgeschlossen werden kann. In Betracht kommt jedoch nur die Möglichkeit des schlichthoheitlichen Handelns: also eines Handelns in Form des öffentlichen Rechts, jedoch ohne Einsatz der obrigkeitlichen Mittel von Befehl und Zwang.43 Das obrigkeitliche Imperium ist ausschließlich dem Staat vorbehalten. Obrigkeitliche Gewalt ist weder möglicher Gegenstand noch mögliches Mittel grundrechtlicher Freiheit.

VI.  Der Rechtsweg bei Immissionsabwehrklagen gegen die staatliche Verwaltung 1.  Die Abgrenzungsschwierigkeit Die Bestimmung des Rechtsweges bereitet bei Immissionsabwehrklagen gegen die staatliche Verwaltung ungewöhnliche Schwierigkeiten. Immissionen sind real-formlose, ungezielte Nebenfolgen der eigentlichen planmäßigen Verwaltungstätigkeit. Es fehlt ihnen jeder rechtliche Regelungsgehalt, wie ihn Rechtsgeschäft oder Verwaltungsakt aufweisen. Immissionen können kein echtes Subordinationsverhältnis zwischen Verwaltung und Betroffenen herstellen. Die Subjektionstheorie ermöglicht in dieser Beziehung keine Abgrenzung. Aus der Sicht des Geschädigten macht es keinen Unterschied, ob die Geräusche, unter denen er leidet, von einer staatlichen oder von einer privaten Einrichtung ausgehen; physikalisch gesehen unterscheidet sich der Verkehrslärm auf einer staatlichen Straße nicht von dem auf einem Privatweg, das Kindergeschrei auf einem kommunalen Spielplatz nicht von dem auf einem privaten Spielplatz. Es liegt daher nahe, Immissionsklagen schlechthin als privatrechtlich zu qualifizieren, wie es die privatrechtliche Betrachtung des Kirchenglockengeläutes tut. Sie beruft sich darauf, daß auch schlichthoheitliche Einrichtungen des Staates, von denen Immissionen ausgingen, wie private Nachbarn auf der Grundlage des § 906 BGB

42 Zutreffend:

Bettermann (Fn. 31), S. 516; Bethge (Fn. 35), S. 167. Kategorie der schlichten Hoheitstätigkeit: W. Jellinek, Verwaltungsrecht, 3. Aufl. 1931, S. 21 – 24. 43 Zur

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behandelt würden; für die Kirchen gelte dies erst recht.44 Diese Auffassung ist jedoch falsch. Die Rechtspraxis verweist Immissionsklagen gegen die öffentliche Verwaltung nicht pauschal auf den ordentlichen Rechtsweg. Sie trifft vielmehr eine differenzierende Lösung. 2.  Das Unterscheidungskriterium Die Rechtspraxis begibt sich nicht auf den Holzweg, in der faktischen Betroffenheit des Nachbarn die Lösung der Rechtswegfrage zu suchen. Sie stellt nicht allein auf die Rechtsform des Verwaltungsträgers ab, von dem die Umwelteinwirkung ausgeht. Denn eine juristische Person des öffentlichen Rechts kann auch privatrechtlich tätig werden; nicht jede ihrer Maßnahmen muß daher den Verwaltungsrechtsweg eröffnen. Jedoch spricht die Vermutung dafür, daß bei öffentlich-rechtlicher Organisation auch öffentlich-rechtliche Funktion gegeben ist.45 Irrelevant ist ferner der „öffentliche“ Charakter der Aufgabe, dem die jeweilige Verwaltungseinrichtung gewidmet ist. Denn die Leistungsverwaltung hat weitgehend die Wahl, ob sie eine „öffentliche“ Aufgabe der Daseinsvorsorge (schlicht-)hoheitlich oder (verwaltungs-)privatrechtlich erbringt. Maßgebend für die Rechtswegfrage ist dagegen, „ob sich der Träger hoheitlicher Gewalt bei der Ausnutzung und Verwendung seines Grundstücks der besonderen Rechtssätze des öffentlichen Rechts oder der allgemein verbindlichen Rechtssätze der Privatrechtsordnung bedient.“46 Der Rechtsweg hängt von der Form der Verwaltungsfunktion ab, deren Nebenwirkung die Immission darstellt. Der Verwaltungsrechtsweg steht offen, wenn die Verwaltungseinrichtung, von der die Immission ausgeht, ihr Dasein Normen des öffentlichen Rechts verdankt und ihr Betrieb nach Maßgabe solcher Bestimmungen abgewickelt wird.47 Das Kriterium bewährt sich in der Vollstreckung; bei Umwelteinwirkung hoheitlicher Tätigkeit müßte die Vollstreckung des Urteils zur Aufhebung oder Änderung einer hoheitlichen Maßnahme führen.48 Die öffentlich-rechtliche Rechtsqualität ist anzunehmen, wenn ein „öffentlich-rechtlicher Planungs- und Funktionszusammenhang“ besteht.49

44 So

A. v. Campenhausen (Fn. 10), S. 319 – ohne Beleg. Papier (Fn. 34), § 839 BGB Rn. 94, 106, 108. 46  Zitat: BGHZ 41, 264 (267). 47 Vgl. W. Martens, in: FS Schack, 1966, S. 88. Ähnlich: Redeker/von Oertzen, VwGO, 5. Aufl. 1975, § 40 VwGO Rn. 27; Palandt-Bassenge, BGB 40. Aufl. 1981, § 906 BGB Rn. 8 b; Meisner/Stern/Hodes (Fn. 5), § 38 X 1, S. 784 – 786. 48  Meisner/Stern/Hodes (Fn. 5), § 38 X 1, S. 784 f. 49  BVerwG U. v. 2. 11. 1973, DVBl 1974, S. 239 – öffentliche Kläranlage; BGH, U. v. 12. 12. 1975, DVBl 1976, S. 210 (211) – Kinderspielplatz. 45 

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Die Verwaltungstätigkeit und ihre Nebenwirkungen müssen einheitlich qualifiziert werden. Die Widmung einer öffentlichen Sache wirkt nicht nur gegenüber den Benutzern der Sache, sondern auch gegenüber den Nachbarn. Die Widmung stiftet ein öffentlich-rechtliches Nachbarrechtsverhältnis.50 Dem immissionsgeschädigten Nachbarn steht also derselbe Rechtsweg offen wie dem Benutzer. Im übrigen erweist sich bei Immissionsklagen ebenso wie bei den geschilderten Klagen gegen rufschädigende Rundfunksendungen, daß die unterschiedliche formelle Zuordnung im Rechtswegesystem grundsätzlich nicht zu unterschiedlichen materiellen Ergebnissen führt. Denn der quasi negatorische Anspruch des bürgerlichen Rechts, der sich aus §§ 823, 906, 1004 BGB ergibt, hat den gleichen Inhalt wie der öffentlich-rechtliche Unterlassungsanspruch, der im Wege der Analogie zum bürgerlichen Recht gewonnen und durch Grundrechte wie das Recht auf körperliche Unversehrtheit und die Eigentumsgarantie abgestützt wird. Es fragt sich, ob sich die Kriterien, die für den Immissionsschutz gegenüber der Staatsverwaltung gelten, auf den Immissionsschutz gegenüber den Kirchen übertragen lassen.

VII.  Rechtsformgarantie der Verfassung für kirchliche Körperschaften Die Analogie in den Rechtswegkriterien von der Staatsverwaltung auf die Kirche könnte ihre Stützen finden in der Organisation der Kirche (bzw. ihrer Pfarrgemeinde) als Körperschaft des öffentlichen Rechts und in der Qualität der Kirchenglocke als öffentlicher Sache. 1.  Sinnwandel und Formidentität des Körperschaftsstatus Wenn der Weimarer Verfassunggeber den Kirchen ihren hergebrachten Korporationsstatus bestätigte und der Bonner Verfassunggeber die Garantie erneuerte (Art. 137 Abs. 5 WRV, Art. 140 GG), so leiteten beide damit nicht die Fossilierung, sondern die Fortentwicklung des traditionellen Organisationsschemas ein. Der Körperschaftsstatus dient unter den neuen verfassungsrechtlichen Auspizien nicht mehr dazu, die Kirchen in den Staat zu inkorporieren. Er ist vielmehr ein Mittel, die Eigenständigkeit und die Selbstbehauptung der Kirchen gegenüber dem säkularen Staat zu schützen. Er ist nicht Medium der Staatsgewalt, sondern Medium der Grundrechtsfreiheit.51 Es wurde also neuer verfassungsrechtlicher Wein in den alten staatskirchenrechtlichen Schlauch gegossen. Doch für die Ent50 

Papier (Fn. 34), § 839 BGB Rn. 107. Zum Sinnwandel des Körperschaftsstatus: E. Friesenhahn, in: HdbStKirchR Bd. I, 1. Aufl. 1974, S. 546 – 565; K. Meyer-Teschendorf, in: AöR 103 (1978), S. 289 – 303. 51 

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scheidung der Rechtswegfrage ergibt sich daraus nichts. Denn der Rechtsweg bezieht sich nicht auf den Wein, sondern auf den Schlauch, nicht auf den Inhalt, sondern auf die Form. Die öffentlich-rechtliche Form aber ist unverändert geblieben. Der Sinnwandel der Korporation zieht nicht den Formwandel nach. Das Verfassungsrecht hat die Form unmittelbar festgeschrieben. Wie bereits dargelegt, ist der Körperschaftsstatus heute nicht mehr Grundlage und nicht mehr Bedingung des Läuterechts, wie es unter der Geltung des Preußischen Allgemeinen Landrechts der Fall war.52 Heute steht das Läuterecht auch den Religionsgemeinschaften ohne Korporationsqualität zu kraft der Religionsfreiheit und der Kirchenautonomie, die für alle religiösen Gemeinschaften gelten, wie auch immer sie verfaßt sind.53 Aber wenn die öffentlich-rechtliche Organisation keinen Einfluß auf den Inhalt des Läuterechts ausübt, so kann sie doch dessen Rechtsnatur bestimmen und damit die Rechtsnatur der möglichen Rechtsstreitigkeiten um seine Ausübung. 2.  Reichweite und Effektivität der verfassungsrechtlichen Formgarantie Die Rechtsformgarantie der Verfassung bedeutet nicht, daß sämtliche Akte kirchlicher Körperschaften als öffentlich-rechtlich gelten müßten. Eine derart totale Öffentlich-Rechtlichkeit gilt noch nicht einmal für staatliche Hoheitsträger.54 Auf der anderen Seite liefe die Formgarantie der Verfassung praktisch leer, wenn nur solche kirchlichen Akte, die auf staatliche Delegation zurückgehen (Maßnahmen im Steuer- oder Friedhofswesen), als öffentlich-rechtlich gelten.55 Der verfassungsrechtliche Aufwand der Korporationsgarantie wäre übertrieben, wenn diese nicht zu mehr nützte als dazu, den Anknüpfungspunkt für eine Beleihung zu bilden, wie sie der Staat auch sonst gegenüber Privaten ohne Körperschaftsstatus vornimmt. Träfe dieses funktionsminimalistische Verständnis zu, so deckte der Körperschaftsstatus die eigentliche, aus eigenem Recht fließende, religiöse Wirklichkeit der Kirchen nicht ab. Die Kirchen wären effektiv zu privatrechtlichen Vereinen degradiert; lediglich in bestimmten Randbereichen wären ihnen noch korporative Rudimente verblieben. 52  Nur

die staatlich genehmigte, nicht die bloß geduldete Kirchengesellschaft besaß das Läuterecht. „Ihr (sc. der bloß geduldeten Kirchengesellschaft) ist es nicht gestattet, sich der Glocken zu bedienen oder öffentliche Feierlichkeiten außerhalb der Mauern ihres Versammlungshauses anzustellen“ (§ 25 pr. ALR II. 1). Vgl. auch § 35 der Beil. II zu Tit. IV, § 9 der bayer. Verfassungsurkunde. 53 Vgl. J. Jurina, in: HdbStKirchR I, 1. Aufl. 1974, S. 595; W. Rüfner (Fn. 18), S. 769. 54  Zu Recht ablehnend gegenüber einem derart öffentlich-rechtlichen „Gesamtstatus“: Friesenhahn (Fn. 49), S. 562. 55  So aber die Meinung von W. Martens, Öffentlich als Rechtsbegriff, 1969, S. 136 – 151; H. Quaritsch, in: Quaritsch/Weber (Hrsg.), Staat und Kirchen in der Bundesrepublik Deutschland 1967, S. 304 – 310. – Fundierte Kritik: Renck (Fn. 6), S. 329 f.

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In der Literatur wird der neue Sinn des Korporationsstatus darin gesehen, den Öffentlichkeitsanspruch und die öffentliche Aufgabe der Kirchen zu bekunden.56 Doch das „Öffentliche“ ist keine verfassungsrechtliche Kategorie, aus der sich juristische Folgerungen ergeben. Vielmehr ist es ein Begriff der Verfassungstheorie, ein sinnvariabler zumal, der hier Publizität, dort politische Mächtigkeit, Gemeinwohlrelevanz und anderes mehr bedeutet; der ebenso auf staatliche wie auf gesellschaftliche Einrichtungen bezogen werden kann; der aber keine Affinität zu einer bestimmten Rechtsform erkennen läßt. Die „Öffentlichkeit“ ist nicht auf die öffentlich-rechtliche Form angewiesen. Öffentlichkeitswirksam sind auch nichtkorporierte Religionsgemeinschaften, privatrechtlich organisierte Parteien, Gewerkschaften, Unternehmen. Der Öffentlichkeits-Topos mag die verfassungsrechtliche Regelung verfassungstheoretisch legitimieren. Jedoch kann er auch zur Entlegitimierung beitragen, dadurch nämlich, daß er suggeriert, den positivrechtlichen Begriff der Verfassung „Körperschaften des öffentlichen Rechts“ zu lesen als „öffentliche Verbände“ und so den Verfassungswortlaut zu retuschieren, die Rechtsformkomponente zu verdrängen, so daß vom Status einer Körperschaft des öffentlichen Rechts letztlich nicht mehr bleibt als eine Art Verdienstorden des Staates, eine Würde ohne rechtspraktische Bedeutung. Die Ambivalenz des Topos kann aber in diesem Zusammenhang dahinstehen. Für die Rechtswegfrage ist die Kategorie „öffentlich“ belanglos. Ein denkbarer Interpretationssatz, der Rechtsformgarantie der Verfassung in engen Grenzen Rechnung zu tragen, könnte darin bestehen, daß als öffentlichrechtlich nur Rechtsstreitigkeiten zwischen der kirchlichen Körperschaft und ihren Mitgliedern, Streitigkeiten mit sonstigen Personen aber als privatrechtlich zu qualifizieren wären. Doch eine personenbezogene Abgrenzung läßt sich praktisch nicht durchführen. Der Streit um das Glockenläuten zeigt es: das Geläute dringt unterschiedslos in die Ohren von Kirchenmitgliedern und Nichtmitgliedern, von Gläubigen und Ungläubigen. Das ist sogar der Sinn des Läutens. Es soll die öffentliche Präsenz der Kirchen in der pluralistischen Gesellschaft hörbar machen: ein Zeichen des Glaubens in dieser Welt. Daher ist es den einen Mahnung, den anderen Ärgernis, den einen Erbauung, den anderen Störung. Auch der mögliche Störeffekt hat nichts zu tun mit Kirchenmitgliedschaft, Kirchennähe oder Kirchendistanz. Die Angelus-Glocke kann den kirchenfrommen Langschläfer belästigen, während sie dem Agnostiker ästhetisches Entzücken bereitet. Soweit die Rechtspraxis zwischen kirchenexternen und kircheninternen Wirkungen unterscheidet, stellt sie nicht auf unterschiedliche Personengruppen ab, sondern darauf, ob die Maßnahmen Auswirkungen im säkular-staatlichen 56  Dazu mit Nachw.: Meyer-Teschendorf (Fn. 49), S. 303 – 306; ders., Staat und Kirche im pluralistischen Gemeinwesen, 1979, S. 121, 128, 134.

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Rechtskreis zeitigen oder nicht.57 Die Unterscheidung zwischen kirchenexternen und kircheninternen Materien hat Bedeutung für die Reichweite der staatlichen Gerichtsbarkeit, aber nicht für den Rechtsweg. So ist der aktuelle Streit über die Judiziabilität des kirchlichen Dienstrechts eine Frage der staatlichen Gerichtsbarkeit überhaupt.58 Der Streit geht nicht darum, die kirchlichen Amtsträger von sonstigen Personengruppen abzugrenzen, sondern darum, ab welcher sachlichen Grenzmarke Herrschaft und Kontrolle des staatlichen Rechts einsetzen. Rechtswegfragen in kirchlichen Angelegenheiten müssen so gelöst werden, daß die verfassungsrechtliche Rechtsformgarantie wirksam wird. Das bedeutet, daß kirchenexterne Streitigkeiten (nur für diese stellt sich die Rechtswegfrage) grundsätzlich als öffentlich-rechtlich gemäß § 40 VwGO zu behandeln sind, es sei denn, daß verfassungsrechtliche Regelungen, die Natur des jeweiligen Rechtsverhältnisses oder die freiwillige Wahl der Rechtsform durch die kirchliche Körperschaft die privatrechtliche Qualifikation rechtfertigen. Die Vermutung spricht für die öffentlich-rechtliche Qualifikation.59 Das Glockenläuten ist eine typische Lebensäußerung der öffentlich-rechtlichen Korporation Kirche und damit öffentlich-rechtlich. Theoretisch kann die öffentlich-rechtliche Qualifikation zu unterschiedlichen Rechtswegen führen bei Klagen gegen Kirchen mit und solche ohne Körperschaftsstatus. Praktisch dürfte es aber kaum Religionsgesellschaften des privaten Rechts geben, die das Läuterecht ausüben. Rechtliche Bedenken ergeben sich aus der unterschiedlichen prozessualen Behandlung nicht, weil der Unterschied in der Verfassung angelegt ist und es im übrigen den privatrechtlichen Religionsgemeinschaften freisteht, den Körperschaftsstatus zu erwerben, falls sie die verfassungsrechtlichen Voraussetzungen erfüllen (Art. 137 Abs. 5 S. 2 WRV i. V. m. Art. 140 GG).

57  Das Begriffspaar kirchenexterne und kircheninterne Angelegenheiten muß unterschieden werden von dem Begriffspaar kircheneigene und staatsverliehene Funktionen. Kircheneigene Funktionen, die aus der Religionsfreiheit und der Kirchenautonomie fließen, können, wie es beim Glockenläuten der Fall ist, kirchenexterne Wirkungen zeitigen. 58  Zu dem Streit: BVerwGE 25, 226 (230 f.). Dazu U. Steiner, Offene Rechtsschutzprobleme im Verhältnis von Staat und Kirchen, 1981. Vgl. auch Tiedemann (Fn. 21), S. 428 f. 59 Zutreffend Friesenhahn: „Sind für die Entscheidung einer Rechtsstreitigkeit aus dem innerkirchlichen Bereich staatliche Gerichte zuständig, so liegt m. E., von der staatlichen Rechtsordnung her gesehen, wegen des Status der öffentlich-rechtlichen Religionsgesellschaft allemal eine öffentlich-rechtliche Streitigkeit vor, die vor die Verwaltungsgerichte gehört, soweit nicht ausdrücklich ein anderer Rechtsweg vorgeschrieben ist“ (Fn. 49, S. 565, Anm. 58).

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VIII.  Die Rechtsweg-Relevanz des öffentlichen Sachstatus der Kirchenglocken Kirchenglocken sind als res sacrae öffentliche Sachen auch im Sinne des staatlichen Verwaltungsrechts.60 Die Widmung durch die Kirche hat ipso iure auch kirchenexterne, säkular-verwaltungsrechtliche Bedeutung. Es bedarf keines Zutuns durch den Staat.61 Die Fähigkeit der Kirchen, von sich aus durch Widmung eine öffentliche Sache zu schaffen, ergibt sich aus ihrem Körperschaftsstatus.62 Die res sacra steht in ihrem Bezug zum staatlichen Recht ebenso da wie die öffentliche Sache des staatlichen Verwaltungsvermögens. Es gilt das öffentliche Recht für Ordnung, Eigentum, Verfügung und Gebrauch. Die Widmung der Glocke zur öffentlichen Sache schafft daher eine öffentlich-rechtliche Beziehung zwischen dem öffentlich-rechtlichen Träger der Sache und dem Nachbarn, dessen Rechte durch den widmungsmäßigen Gebrauch betroffen werden.63 Die privatrechtliche Betrachtungsweise ist inkonsequent, weil sie einerseits die Widmung und den Sachbesitz der Kirchenglocke dem öffentlichen Recht unterstellt, andererseits aber den widmungsmäßigen Sachgebrauch als privatrechtlich qualifiziert.64 Die privatrechtliche Auffassung kann auch nicht für die Fälle gelten, in denen das Glockengeläute kirchenfremde Personen stört, also über den Kreis der Kirchenmitglieder hinauswirkt. Denn die Widmung als adressatloser, „dinglicher“ Verwaltungsakt läßt keine Differenzierung zwischen kirchenangehörigen und kirchenfremden Personen zu. Das Ergebnis folgt auch – wie schon dargelegt – aus der natürlichen Wirkung des Läutens.

IX.  Fazit Für die Klage auf Unterlassung des kirchlichen Glockenläutens steht der Verwaltungsrechtsweg offen. Eine Zuweisung an die ordentliche Gerichtsbarkeit verletzte nicht nur einfaches Gesetzesrecht (§ 40 VwGO, § 13 GVG), sondern auch Verfassungsrecht: die Rechtsformgarantie des Art. 137 Abs. 5 WRV i. V. m. Art. 140 GG.

60 Dazu Werner Weber, Zur staatskirchenrechtlichen Bedeutung des Rechts der öffentlichen Sachen (1964), in: Staat und Kirche in der Gegenwart, 1978, S. 274 f.; A. v. Campenhausen, Staatskirchenrecht, 1973, S. 122; Friesenhahn (Fn. 49), S. 563; Hermann Weber, Die Religionsgemeinschaften als Körperschaften des öffentlichen Rechts im System des Grundgesetzes, 1966, S. 124 f. 61 s. Weber (Fn. 58), S. 274 f. 62 s. Weber (Fn. 58), S. 274; Friesenhahn (Fn. 49), S. 563. 63 s. Papier (Fn. 34), § 839 BGB Rn. 107. 64  Vgl. auch Renck (Fn. 6), S. 330.

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X.  Rechtsvergleichende Anmerkung Das Rechtsproblem ist eine querelle allemande. Der tatsächliche Konflikt zwischen dem traditionellen Kirchengeläute und der neuen Lärmsensibilität (bzw. einem antikirchlichen Affekt, der die Sensibilität vorschiebt) kann zwar in jedem christlich geprägten Lande entstehen. Die vorstehend begründete Lösung des Konflikts aber ist bedingt durch die Besonderheiten des deutschen Rechts. 1.  Zur Problemlage in Österreich Die deutsche Rechtswegzuordnung läßt sich noch nicht einmal auf Österreich übertragen, obwohl die staatskirchenrechtliche Ordnung in manchen Aspekten analog ist. Auch in Österreich haben die „gesetzlich anerkannten“ Kirchen und Religionsgesellschaften den Status von Körperschaften des öffentlichen Rechts.65 Ihnen sind korporative Rechte im Rahmen der „allgemeinen Staatsgesetze“ verfassungskräftig gewährleistet.66 Das korporative „Recht der gemeinsamen öffentlichen Religionsausübung“ umfaßt auch das Läuten.67 Die Regelung und die Ausübung des Läuterechts gehört zu den „inneren Angelegenheiten“, welche die Kirchen selbständig ordnen und verwalten.68 Es ist problematisch, ob eine Klage auf Unterlassung des verfassungsrechtlich gewährleisteten Läutens nicht a limine als unzulässig abgewiesen würde. Denn 65 Vgl. H. Klecatsky/H. Weiler, Österreichisches Staatskirchenrecht, Wien 1958, S. 26 f. (Nachw.); ders., in: FS Maaß, 1973, S. 291 f.; I. Gampl, Österreichisches Staatskirchenrecht, Wien-New York 1971, S. 165 – 167. 66  Art. 15 Staatsgrundgesetz vom 21. Dezember 1867, RGBl. Nr. 142, über die allgemeinen Rechte der Staatsbürger(= StGG): „Jede gesetzlich anerkannte Kirche und Religionsgesellschaft hat das Recht der gemeinsamen öffentlichen Religionsübung, ordnet und verwaltet ihre inneren Angelegenheiten selbständig, bleibt im Besitze und Genusse ihrer für Kultus-, Unterrichts- und Wohltätigkeitszwecke bestimmten Anstalten, Stiftungen und Fonds, ist aber, wie jede Gesellschaft, den allgemeinen Staatsgesetzen unterworfen“. Geltung des StGG als Verfassungsgesetz: Art. 149 Abs. 1 Bundes-Verfassungsgesetz in der Fassung von 1929 (B-VG). 67  Vgl. Verwaltungsgerichtshof, Erkenntnis v. 24. Jänner 1901, Slg. 7921 A; Klecatsky/ Weiler (Fn. 63), S. 50. 68  So gelten nach dem Verfassungsgerichtshof die Vornahme religiöser Feierlichkeiten und die Festlegung ihres Zeitpunktes als „innere Angelegenheiten“ nach Art. 15 StGG (VfGH-Erk. v. 19. Dezember 1955, Slg. 2944). – Gesetzlich geregelt ist ein Kollisionsfall der kirchenautonomen Läuteordnungen, wie er sich etwa ergeben kann, wenn in den Kartagen nach katholischer Liturgie die Glocken schweigen, während nach protestantischer geläutet wird: „Keine Religionsgemeinde kann genötigt werden, sich des Glockengeläutes an Tagen zu enthalten, an welchen dasselbe nach den Satzungen einer anderen Kirche oder Religionsgesellschaft zu unterbleiben hat“ (Art. 14 Gesetz vom 25. Mai 1868, RGBl. Nr. 49, wodurch die interkonfessionellen Verhältnisse der Staatsbürger in den darin angegebenen Beziehungen geregelt werden [in: Klecatsky/Weiler, Fn. 63, S. 93]).

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die „inneren Angelegenheiten“ unterliegen nicht der Gerichtsbarkeit des Staates.69 Die Grenzen der Jurisdiktionskompetenz verlaufen nicht notwendig wie in Deutschland, weil die österreichische Garantie der Kirchenautonomie anders, in mancher Hinsicht kirchenfreundlicher, zugeschnitten ist als die Bonn-Weimarer Garantie.70 Allerdings ist in Österreich die Tradition des josephinistisch geprägten Staatskirchentums besonders zählebig, mit ihr die Vorstellung, daß die Kirchen eine Art mittelbar staatliche (Selbst-)Verwaltung ausübten.71 Freilich herrscht heute die Auffassung vor, daß die „inneren Angelegenheiten“ der Kirchen jenseits des staatlichen Aufgabenbereichs liegen,72 daß die Kirchen hier aus ihrem eigenen Recht handeln.73 Für die Bejahung der staatlichen Gerichtsbarkeit spricht aber, daß sich Immissionsstreitigkeiten auf externe und säkulare Effekte kirchlichen Handelns beziehen, daß es nicht um das körperschaftsinterne Verhältnis zwischen Kirchenmitgliedern und Kirchenorganen geht74 und daß nicht die religiös-gottesdienstlichen Momente in Frage stehen. Der Streit geht um den Umfang der öffentlichen Religionsausübung einerseits und die Reichweite der „allgemeinen Staatsgesetze“ (über den Immissionsschutz) andererseits. In diesem Konflikt dürfte der österreichische Staat, in dem josephinistische Tendenzen noch unterschwellig weiterwirken, letztlich weniger verfassungsrechtliche Bedenken haben als der bundesdeutsche, seine souveräne Kompetenz-Kompetenz geltend zu machen und dem kirchlichen Selbstverständnis nicht das letzte Wort zu überlassen.75 69  Zum Ausschluß der Prüfungskompetenz staatlicher Gerichte über innerkirchliche Akte: VfSlg 868/1927; H. Klecatsky, in: Listl/Müller/Schmitz (Hrsg.), Grundriß des nachkonziliaren Staatskirchenrechts, 1980, S. 887; Klecatsky/Weiler (Fn. 63), S. 38. 70 Vgl. Klecatsky (Fn. 63), S. 304. 71  Nachw. zu dem Österreichischen Streit über die staatliche oder außerstaatliche Natur der inneren Angelegenheiten: Klecatsky/Weiler (Fn. 63), S. 37 – 43; Klecatsky (Fn. 63), S.  287 – 294. 72  Vgl. VfSlg. 3657/1959. 73 Vgl. Gampl (Fn. 63), S. 19 – 21, 26 – 29; Klecatsky (Fn. 63), S. 290 – 294. 74  Zur Begrenzung der „inneren“ Angelegenheiten auf die mitgliedschaftlichen Beziehungen: Klecatsky/Weiler (Fn. 63), S. 29, 35; Gampl (Fn. 63), S. 29. 75  Die Kompetenz-Kompetenz des Staates und seine Qualifikations-Souveränität in staatskirchenrechtlichen Fragen werden eindrucksvoll formuliert im Motivenbericht zum späteren Israelitengesetz von 1890: „Denn im gleichen Maße, als es der Staatsgewalt zukommt, ihre Machtsphäre unverkümmert zu erhalten, ist es ihre Pflicht, sich die Grenzen derselben stets und namentlich auch dann gegenwärtig zu halten, wenn eine diese Grenzen übersteigende Machterweiterung seitens der Betroffenen selbst keiner Anfechtung ausgesetzt wäre. Nicht die einer Konfession eigene Auffassung ihres Verhältnisses zum Staate, sondern nur objektive, insbesondere die durch die Staatsverfassung gegebenen Momente sollen das Verhalten der Staatsgewalt auf konfessionellem Gebiete bestimmen, und diese allein konnten auch für die staatliche Regelung der jüdischen Kultusverhältnisse maßgebend sein“ (zitiert nach Klecatsky [Fn. 63], S. 302). Auf dieser Linie bewegt sich auch die

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An sich ist es auch nach österreichischem Recht konsequent, den Anspruch gegen die kirchliche Körperschaft des öffentlichen Rechts auf Unterlassung körperschaftstypischen Handelns als öffentlich-rechtlich zu qualifizieren. In der Tat gelten kirchliche Akte, die auf Grund der korporativen Rechte des Art. 15 StGG ergehen, als hoheitlich.76 Die Frage, ob die Unterscheidung von öffentlichem und privatem Recht im kirchlichen Internum anwendbar ist,77 spielt bei der Nachbarklage keine Rolle, weil diese Klage das Außenverhältnis der Kirche zu ihrem Nachbarn betrifft und Klageobjekt ein externer Reflex des innerkirchlichen Handelns im staatlichen Rechtskreis ist. Dennoch wird der Verwaltungsrechtsweg nicht eröffnet, weil keiner der möglichen Anfechtungsgegenstände gegeben ist. Die Zulässigkeit wird durch ein Enumerationssystem bestimmt.78 Das österreichische Recht besitzt nicht wie das deutsche eine verwaltungsgerichtliche Generalklausel, die grundsätzlich alle öffentlich-rechtlichen Streitigkeiten erfaßt und nahtlos an die Generalklausel der Zivilgerichtsbarkeit anschließt. Als Anfechtungsgegenstände kommen nur Bescheide und „verfahrensfreie“ Verwaltungsakte in Betracht, also Maßnahmen mit Regelungscharakter.79 Für rein faktische Beeinträchtigungen durch Immissionen aus Hoheitstätigkeit besteht keine verwaltungsgerichtliche Kompetenz. Die dogmatisch folgerichtige Qualifikation der Abwehrklage führte also auf eine Lücke im Rechtsschutz. Daher gibt es im österreichischen Recht, anders als im deutschen, einen pragmatischen Grund, die Unterlassungsklage gegen kirchliche Immissionen wie eine normale Nachbarklage der Zivilgerichtsbarkeit zuzuordnen. Eine solche Lösung wäre zwar dogmatisch inkonsequent. Aber diese Inkonsequenz stände im österreichischen Staatskirchenrecht, das von seinen Kennern als „ein unübersichtlicher und trügerischer Dschungel“ charakterisiert wird,80 nicht allein da.81 Interpretation des Art. 15 StGG durch Klecatsky, ebd., S. 301 – 303. Zum deutschen Streit über die Qualifikationskompetenz: Isensee (Fn. 26). 76  Zur Ableitung der „hoheitlichen kirchlichen Rechtsakte“ aus dem originären kirchlichen Selbstbestimmungsrecht: Klecatsky (Fn. 63), S. 291. 77  Gegen die Anwendbarkeit: Klecatsky (Fn. 63), S. 292. Differenzierend nach dem Selbstverständnis der Kirchen: Gampl (Fn. 63), S. 28 f. 78 Zum österreichischen Enumerativsystem als „Produkt eines formal typisierenden Verwaltungsaktdenkens (formaler Reduktionismus!)“: L. K. Adamovich/B. C. Funk, Allgemeines Verwaltungsrecht, Wien-New York 1980, S. 349 f.; H. Spanner, in: Lehne/ Loebenstein/Schimetschek (Hrsg.), Die Entwicklung der Österreichischen Verwaltungsgerichtsbarkeit, Wien 1976, S. 97 f. 79  Vgl. Art. 129 – 132 B-VG. – Überblick über die Kompetenzen und möglichen Anfechtungsobjekte: J. Azizi, in: Ermacora/Winkler/Koja/Rill/Funk (Hrsg.), Allgemeines Verwaltungsrecht, Wien 1979, S. 570 – 572. 80 Zitat: Klecatsky/Weiler (Fn. 63), S. VII.

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2.  Zur Problemlage in Frankreich

Das deutsche Qualifikationsproblem ergibt sich vor allem aus dem eigentümlichen Mischsystem des deutschen Staatskirchenrechts, der coincidentia oppositorum von staatsanaloger öffentlich-rechtlicher Organisationsform und staatsfreier, grundrechtlicher Kompetenzsubstanz. In einer modellreinen Ordnung des Staat-Kirche-Verhältnisses käme das Problem überhaupt nicht auf. Im idealtypischen System des Staatskirchentums, also bei einer Inkorporierung der Kirchen in die Staatsorganisation, müßten die kirchlichen Akte wie die staatlichen qualifiziert werden, also grundsätzlich als hoheitlich.82 Im reinen System der Trennung von Staat und Kirche, in dem die Kirche auf den privatrechtliehen Vereinsstatus reduziert wird, wären dagegen die Rechtsstreitigkeiten notwendig privatrechtlicher Natur. So gehören kirchliche Verbände in Frankreich seit den Laizismus-Gesetzen zu Beginn des Jahrhunderts in den Bereich des Privatrechts.83 Klagen gegen sie führen vor die Zivilgerichte, weil die Organisationsform über den Rechtsweg entscheidet. Die Kirchen gehören nicht zu den Bereichen der Puissance Publique und des Service Public; es fehlen daher die Voraussetzungen für die Anwendung des staatlichen Sonderrechts und damit für den verwaltungsgerichtlichen Rechtsschutz.84 Paradoxerweise könnte eine Nachbarklage gegen kirchliches Läuten dennoch als öffentlich-rechtliche Streitigkeit im ordre administratif ausgetragen werden – und zwar gerichtet gegen den Staat. Die Kirchengebäude mitsamt den Glocken stehen überwiegend im Eigentum des Staates; sie sind öffentliche Sachen und gehören so zum „domaine public“.85 Die kirchlichen Stellen haben ein Benutzungsrecht an den Gebäuden wie an den Glocken im Rahmen der Widmung und des 81  So haben die Kirchenbeiträge der katholischen und der evangelischen Kirchen hoheitlichen, steuerähnlichen Charakter im Außenverhältnis, im Innenverhältnis aber wegen ihrer Zuweisung an den Zivilrechtsweg privatrechtlichen Charakter. Dazu kritisch: Klecatsky, in: Essener Gespräche Bd. 6, 1972, S. 60; ders. (Fn. 67), S. 894. 82  Exempel einer vom Staatskirchentum geprägten Qualifikation: RGZ 56, 25 – 28. 83  Zum System der Staat-Kirchen-Beziehung in Frankreich: René Metz, Eglises et Etat en France. Situation juridique actuelle, Paris 1977; ders., in: Essener Gespräche, Bd. 6, 1972, S.  103 – 145; ders., in: Listl/Müller/Schmitz (Hrsg.), Grundriß (Fn. 67), S. 907 – 922; A. v. Campenhausen, Staat und Kirche in Frankreich, 1962. – Ausgeklammert bleibt hier das Sonderrecht der drei östlichen Departements Bas-Rhin, Haut-Rhin und Moselle (dazu Metz, in: Listl/Müller/Schmitz, S.  916 – 920). 84  Zur Abgrenzung der Rechtswege: Vlad Constantinesco, in: Constantinesco/Hübner (Hrsg.), Einführung in das französische Recht, 1974, S. 20 – 24. 85 Vgl. v. Campenhausen (Fn. 81), S. 41, 62. – Darstellung der Rechtsentwicklung des Rechts der Kultgebäude nach Erlaß des Trennungsgesetzes v. 9. Dezember 1905: ebd., S.  1 – 30, 36 – 50; vgl. auch Metz (Fn. 81), S. 64 – 69.

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Herkommens (Grundsatz der Kontinuität).86 Der Bürgermeister (bzw. der Präfekt) erläßt die hoheitliche Läuteordnung.87 Er hat dabei die hergebrachten Bedürfnisse der Kirchen gemäß dem Prinzip der Kontinuität zu berücksichtigen, aber auch die allgemeinen Belange der öffentlichen Ordnung wie den Schutz der Nachtruhe.88 Der Bürgermeister ordnet ferner auf Grund einer gesetzlichen Vorschrift oder eines örtlichen Gewohnheitsrechts die Verwendung der kommunaleigenen Kirchenglocken aus nichtkirchlichen („zivilen“) Anlässen an.89 Zwischen der katholischen Kirche und dem laizistischen Staat wurden in den beiden ersten Jahrzehnten der Trennungsgesetzgebung die Streitigkeiten über die kirchlichen Nutzungsrechte und über die Grenzen der staatlichen Läuteordnungen zumeist auf dem Verwaltungsrechtsweg ausgetragen.90 Die maßvolle Rechtsprechung des Conseil d’Etat gebot kirchenfeindlichen Maßnahmen der Verwaltung, wie sie zunächst im Gefolge der Trennungsgesetze aufkamen, Einhalt; sie korrigierte im Effekt auch die Prinzipienreiterei des laikalen Gesetzgebers und stellte damit die Freiheit der Kirchen auf der Basis des Kontinuitätsprinzips wieder her.91 Das immissionsrechtliche Konfliktpotential, das in Deutschland in der (hoheitsrechtlichen) Beziehung zwischen Nachbarn und Kirchengemeinde liegt, 86  Das Benutzungsrecht wurde von Gesetzes wegen Kultvereinen (associations culturelles) zugesprochen. Die katholische Kirche hat dies nicht geduldet; das Recht kommt im Effekt dem Pfarrer zu (dazu näher v. Campenhausen [Fn. 81], S. 8 – 10, 14 – 17, 40). 87  „Les sonneries des cloches seront réglées par arrêté municipal, et, en cas de désaccord entre le maire et le président ou directeur de l’association culturelle, par arrêté préfectoral“ (Art. 27 Abs. 2 Loi rélative A La Séparation des Eglises et de l’Etat v. 9. Dezember 1905). 88 Vgl. Conseil d’Etat: 5.  8. 1908, Rec. 1908, p. 866; 8. 4. 1911, Rec. 1911, p. 464; 20. 6. 1913, Rec. 1913, p. 716. S. auch M. Hauriou, in: Sirey, Recueil Général des Lois et des Arrêts (= S.) 1909 – 3-p. 1 ff. Dabei sind zwei Grundfälle zu unterscheiden: – die Klage des Gemeindepfarrers gegen eine behördlich erlassene Läuteordnung. Vgl. Conseil d’Etat v. 5. 8. 1908, S. 1909, 3. p. 1 ff. – die Klage des Gemeindepfarrers gegen eine einzelne behördliche Verfügung. Vgl. Conseil d’Etat v. 8. 7. 1910, D. 1911. 3. p. 41 f. (Läuteanordnung beim Begräbnis eines Selbstmörders). 89  Vgl. Conseil d’Etat, 3. 6. 1927, Rec. 1927, p. 636. 90  Ein Ausnahmefall: Eine Anordnung des Bürgermeisters (Läuten bei einem zivilen Begräbnis) liegt dermaßen außerhalb seines Aufgabenbereiches, daß er als handelnde Privatperson angesehen werden muß; für die Schadensersatzfrage greift dann der bürgerlichrechtliche Rechtsweg ein. So: Tribunal des conflits D. 1911. 3.41 f. v. 22. 4. 1910; dazu R. Savatier, Traité de la responsabilité civile en droit français civil, administratif, professionnel, procédural, Bd. 2, 2. Aufl. Paris 1951, § 688, Fn. 4. 91 Zu der richterlichen Konkretisierung und Korrektur der Trennungsgesetze mit Nachw.: v. Campenhausen (Fn. 81), S. 15 – 20, 33 f., 37 f. und passim.

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verlagert sich in Frankreich weitgehend auf die Beziehung zwischen Kirche und Staat. Die staatshoheitliche Läuteordnung gewährleistet das notwendige Maß an Lärmschutz gegenüber dem traditionsfundierten Läuterecht der Kirchen. Die Kirchen können ihr Recht auf dem Verwaltungsrechtswege verteidigen. Falls überhaupt noch für eine Nachbarklage Streitstoff verbleibt, kommt der verwaltungsgerichtliche Rechtsschutz gegen die staatliche Instanz in Betracht, soweit diese durch hoheitliche Anordnung im Bereich des domaine public Nachbarrechte verletzt, oder der Zivilrechtsschutz gegen die kirchliche Instanz, soweit diese durch Ausübung des Läuterechts (innerhalb oder außerhalb des Rahmens der Läuteordnung) Rechte beeinträchtigt.92 Vom ausländischen Recht her werden hier die eigentümlich deutschen Voraussetzungen der Problementstehung und der Problemlösung erkennbar. Damit dient die Exkursion über die Grenze des deutschen Rechts hinaus einem der theoretischen Ziele, die Léontin-Jean Constantinesco der Rechtsvergleichung zuweist: einem besseren Verständnis des eigenen Rechts.93

92  Für Drittbetroffene sind Schadensersatzansprüche möglich. Eine Kasuistik liegt vor für den Ersatz von Schäden, die von einem staatseigenen Kirchengebäude ausgehen. Strittig war lange, ob die Haftung das kirchliche Organ trifft, weil die Kirche das Gebäude nutzt, oder die öffentliche Hand als Eigentümerin. Für die kirchliche Haftung zunächst: Cour de Bourges, in: S. 1.916, 1917. v. 2. 12. 1913, 2. p. 49. Heute ist aber wohl herrschende Lehre, daß die öffentliche Hand für den Zustand der ihr gehörenden Kirchengebäude nach den Regeln der Amtshaftung einzustehen hat. (Cour de Cassation, Cass. civ. v. 5. 1. 1921, S.  1921. 1. 145; Metz, Eglises [Fn. 81], S. 67 – 69; Mazeaud/Tunc, Traité théorique et pratique de la responsabilité civile délictuelle et contractuelle, Bd. 2, 6. Aufl. Paris 1970, § 1188, S. 276 f.). Für die Staatshaftung ist der Verwaltungsrechtsweg gegeben (Constantinesco [Fn. 82], S. 89; Murad Ferid, Das Französische Zivilrecht, Bd. I, 1971, S. 855 f.). – Die Haftung kirchlicher Organe für Bauschäden entfällt, von Fällen persönlichen Verschuldens abgesehen (vgl. v. Campenhausen [Fn. 81], S. 41 f.). – In den Laizismuskämpfen des Jahrhundertbeginns wurde dem Priester Geldersatz wegen „dommage moral“ gegenüber dem Maire zugebilligt, der anläßlich einer zivilen Beerdigung gegen den Willen des Priesters die Kirchenglocken läuten ließ (dazu mit Nachw.: D. Nörr, AcP 158 [1959] S. 4; E. v. Caemmerer, Wandlungen des Deliktrechts [1960], in: ders, Gesammelte Schriften I, 1968, S. 520 Anm. 261). Zur Ersatzpflicht eines privaten Schädigers für unübliche Immission nach privatem Nachbarrecht und zur Ersatzpflicht der öffentlichen Verwaltung für Immissionsschäden nach enteignungsgleichem Eingriff: Ferid, Das framzösische Zivilrecht, Bd. II, 1971, S. 988. 93  Leontin-Jean Constantinesco, Rechtsvergleichung, Bd. II, Die rechtsvergleichende Methode, 1972, S. 335 – 337.

V.  Finanzen der Kirche

Die Finanzquellen der Kirchen im deutschen Staatskirchenrecht Die Finanzquellen der Kirchen im deutschen Staatskirchenrecht Die Finanzquellen der Kirchen im deutschen Staatskirchenrecht. Rechtsgrundlagen und Legitimationsgedanken

Rechtsgrundlagen und Legitimationsgedanken* I.  Charakter des staatskirchenrechtlichen Finanzsystems 1.  Dritter Weg zwischen Staatskirchentum und laizistischem Trennungsmodell Das deutsche Verfassungsrecht kann sich nicht sonderlicher Originalität rühmen. Zu den wenigen seiner Elemente, die im internationalen Verfassungsvergleich Eigenständigkeit erweisen, gehört das Staatskirchenrecht. Dessen Charakter bekundet sich am deutlichsten in der Lösung der Finanzierungsfrage. Die Konzeption des Staatskirchenrechts meidet, auch in den finanzrechtlichen Aspekten, theoriereine, idealtypische Regelungen. Sie setzt sich ab vom System des Staatskirchentums und wahrt andererseits Abstand (wenn auch nicht gleichen Abstand) zum Gegenextrem des laizistischen Trennungsmodells.1 Im Staatskirchentum beansprucht der Staat Regelungsmacht über eine Kirche, mit deren Auftrag er sich identifiziert und mit deren Institutionen er die seinen verbindet. Er finanziert die kirchlichen Aufgaben als seine eigenen und hält somit „seine“ Kirche auch wirtschaftlich von sich abhängig. Das deutsche Verfassungsrecht aber verwirft die Staatskirche. Es schafft Trennung von Kirche und Staat. Jedoch treibt es das Trennungsprinzip nicht zu seiner äußersten Konsequenz, wie sie der Laizismus fordert. Dieser verwehrt dem Staat jedwede Unterstützung der Religionsgemeinschaften. Sie werden darauf verwiesen, sich wie privatrechtliche Vereine zu finanzieren, also über bürgerlich-rechtliche Mitgliedsbeiträge, über Spenden und über privatwirtschaftliche Erträge. Nach deutschem Staatskirchenrecht dagegen genießen die Kirchen die direkte wie die indirekte Förderung des Staates. Das deutsche System kombiniert also zwei gegenläufige Prinzipien: Unabhängigkeit der Kirchen vor dem Staat und Unterstützung durch den Staat. Diese coincidentia oppositorum ist das Werk des politischen Kompromisses, den die kirchlichen und die laikalen Kräfte in der Weimarer Nationalversamm-

*  Erstveröffentlichung in: Juristische Schulung 1980, S. 94 – 100. 1 Zu den gegensätzlichen Modellen: Scheuner, Schriften zum Staatskirchenrecht, 1973, S. 189 ff.; v. Campenhausen, Staatskirchenrecht, 1973, S. 185 ff.

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Die Finanzquellen der Kirchen im deutschen Staatskirchenrecht

lung fanden.2 Das Bonner Grundgesetz hat die Formeln des Kompromisses fortgeschrieben und seine Inhalte sich anverwandelt.3 Verstehen läßt sich das heutige System letztlich nur aus der Geschichte. Die Geschichte hebt allerdings nicht erst im Jahre 1919 mit der Verfassung der ersten deutschen Republik an. Die Weimarer Reichsverfassung war zwar die Folge einer Revolution; aber sie ging im Staat-Kirchen-Verhältnis nicht auf Bruch mit der Tradition aus, sondern auf ihre Versöhnung mit der neuen Ordnung, nicht auf radikalen Neubeginn, sondern auf Kontinuität. 2.  Leitgedanken Wesentliche Leitgedanken des Staat-Kirchen-Kompromisses seien hervor­ gehoben:4 a)  Freiheit. Das erste Verfassungsziel ist die Absage an die Staatskirche, also die Auflösung aller überkommenen Verflechtungen von staatlicher und kirchlicher Organisation. Die Verfassung garantiert die individuelle Religionsfreiheit der Bürger, die korporative Unabhängigkeit der Kirchen und die religiöse Neutralität des Staates. b)  Öffentlichkeit. Der Verfassunggeber folgt nicht der realitätsblinden altliberalen Ideologie, daß zwischen Staat und Individuum kein Platz sei für nichtstaatliche Mächte, daß allenfalls privatrechtliche Verbände geduldet werden dürften. Vielmehr akzeptiert der Verfassunggeber die öffentliche Bedeutung, die den Kirchen als Ergebnis langer geschichtlicher Entwicklung im Machthaushalt des Gemeinwesens zukommt. Er billigt ihnen den Status als Körperschaften des öffentlichen Rechts zu, jedoch ohne Aufsicht über sie zu beanspruchen. c)  Parität. Die verfassungsrechtliche Ordnung des Staat-Kirchen-Verhältnisses, mehr noch das geistige Klima, das diese Ordnung hervorgebracht hat, werden bestimmt durch die Idee der Parität. Hier wird eine Besonderheit deutlich, die Deutschland, das Mutterland der Reformation, von allen Ländern unterscheidet, in denen dem Staat eine einzige Großkirche gegenübersteht. In Deutschland sind es deren mehrere mit annähernd gleichem Gewicht. Deutsche Staatsgewalt ist zu Gleichbehandlung der protestantischen und der katholischen Kirche, die Kirchen ihrerseits sind zum Ausgleich untereinander genötigt. Diese konfessionelle Gewaltenteilung hat Kompromisse nahegelegt, extreme, einseitige Machtansprüche 2 Dazu

Israël, Geschichte des Reichskirchenrechts, 1922. Hollerbach, in: Handbuch des Staatskirchenrechts, Bd. I, 1974, S. 215 ff. 4  Zu den Prinzipien des deutschen Staatskirchenrechts s. etwa die Beiträge von Scheuner, Hans Maier, Mikat, Hollerbach, Hesse, Listl, Martin Heckel u. a., alle in: Handbuch des Staatskirchenrechts, Bd. I, 1974; ferner Hermann Weber, Grundprobleme des Staatskirchenrechts, 1970; Schlaich, Neutralität als verfassungsrechtliches Prinzip, 1972; MeyerTeschendorf, Staat und Kirche im pluralistischen Gemeinwesen, 1979. 3 Dazu

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erschwert und jene ideologische Zuspitzung verhindert, wie sie in den Ländern mit einer einzigen Großkirche die Auseinandersetzung zwischen Laizismus und Klerikalismus nicht selten erreicht hat. d)  Kooperation. Die Freiheit ist Grundlage, nicht Hindernis einer Kooperation. Die Unabhängigkeitsgarantien haben nichts zu tun mit laizistischer Berührungsangst. Der Staat akzeptiert die Kirchen als Partner in gemeinsamen (oder besser: teilkongruenten) Wirkungsfeldern, wie Wohlfahrtspflege und Bildung. e)  Finanzielle Förderung. Ein weiteres Prinzip hat Dauer im Wechsel der politischen Verhältnisse bewiesen: die Sorge des Staates für die Finanzausstattung der Kirchen. Gewechselt haben die Gründe, denen die Finanzfürsorge des Staates entsprungen ist: Am Anfang standen religiöse Motive eines mittelalterlich-christlichen Gemeinwesens (soweit überhaupt schon eine Unterscheidung zwischen religiös und profan, kirchlich und staatlich möglich war). Es folgte die paternalistische Fürsorge des Landesherrn für die Religion seiner Untertanen. Seit der Säkularisation zu Beginn des 19. Jahrhunderts rückte der Gedanke der Entschädigung in den Vordergrund; die deutschen Fürsten, die sich an Kirchengut bereichert hatten, übernahmen als Kompensation die Pflicht, für die Finanzbedürfnisse der Kirchen aufzukommen. Heute dominiert die Idee des Sozial- und Kulturstaates, der die gesellschaftlichen Organisationen in vielfältiger Weise fördert, um ihre Wirksamkeit zu ermöglichen.5

II.  Typologie der Finanzquellen Die Kirchen speisen sich aus einer Vielzahl unterschiedlicher Finanzquellen. Man spricht von einem Mischsystem. Vereinfachend lassen sich diese zu drei Gruppen zusammenfassen: (1)  Einkünfte ohne direkte Hilfestellung des Staates: Spenden, Kredite, sonstige privatwirtschaftliche Einkünfte, (2) Zuwendungen aus dem Staatshaushalt: Subventionen und Staatsleistungen, (3) Zuwendungen der Kirchenmitglieder aufgrund organisatorischer Hilfestellung des Staates: die Kirchensteuer. Außerhalb dieses Schemas bleiben finanzielle Aufwendungen des Staates für solche kirchlichen Aufgaben, die er sich selbst zu eigen gemacht hat. So trägt der Staat die Personal- und Sachkosten für den Religionsunterricht an öffentlichen Schulen, weil der Religionsunterricht als ordentliches Lehrfach von Verfassungs 5  Zur Geschichte: Giese, Deutsches Kirchensteuerrecht, 1910 (Nachdruck 1965), bes. S.  9 – 200; Marré-Hoffacker, Das Kirchensteuerrecht im Lande Nordrhein-Westfalen, 1969, S.  11 – 95; Mikat, Religionsrechtliche Schriften, Bd. I, 1974, S. 548 ff.

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wegen gewährleistet wird. Entsprechendes gilt für die theologischen Fakultäten an Staatsuniversitäten, für Militär- und Anstaltsseelsorge. Es gibt kein Rechenwerk, das einen zuverlässigen Überblick über die Höhe der Einnahmen aller kirchlichen Haushalte und über den Anteil der Einnahmearten am Gesamtaufkommen böte. Eine Stichprobe ermöglicht die Statistik über die katholischen Bistümer des Bundeslandes Nordrhein-Westfalen.6 Die erste Gruppe (Einnahmen ohne spezifische Beteiligung des Staates) umfaßt zwischen 12 und 20 % der Gesamteinnahmen (und zwar 7 – 10 % Kollekten und Spenden, 3 – 5 % Vermögenserträge, 2 – 5 % Kreditaufnahmen). Die unmittelbaren Zuweisungen aus dem Staatshaushalt an die Bistümer decken 3 – 6,5 % ab. Der Großteil der Einnahmen, nämlich 75 – 85 %, entfällt auf die Kirchensteuer.

III.  Einnahmen der Kirchen ohne spezifische Unterstützung des Staates Zur Gruppe der kirchlichen Einkünfte, die ohne unmittelbare Beteiligung des Staates der Kirche zufließen, gehören freiwillige Zuwendungen der Kirchenmitglieder: Spenden, Kollekten und erbrechtliche Verfügungen. Hinzu kommen Einkünfte nach innerkirchlichem Gebührenrecht. Erträge aus kircheneigenem Vermögen und Kredite. Die praktisch größte Bedeutung haben die Spenden. Sie kommen bevorzugt den karitativen Werken der Kirche zugute. So erbrachte die Weihnachtskollekte der deutschen Katholiken im Jahre 1978 für das Lateinamerika-Hilfswerk „Adveniat“ mehr als 100 Millionen DM.7 An sich wären diese Einkunftsarten auch in einem System der perfektionistischen Trennung von Kirche und Staat denkbar. Die Einnahmen fließen der Kirche auf dem Boden der Rechtsgleichheit zu, kraft ihrer Fähigkeit, am allgemeinen bürgerlichen Rechtsverkehr teilzunehmen. Die Kirche genießt über die Religionsfreiheit hinaus den Schutz der wirtschaftlichen Grundrechte, insbesondere die Gewährleistungen des Eigentums und des Erbrechts. Gleichwohl lassen auch die unspezifischen Finanzquellen Besonderheiten des deutschen Staatskirchenrechts erkennen. 1.  Verfassungsgarantie des Kirchenguts Das Grundgesetz bietet über das für alle geltende Eigentumsgrundrecht hinaus eine besondere Garantie des Eigentums und anderer Rechte der Religionsge6 Quelle:

Gertz, Die Finanz- und Vermögenslage der (Erz-)Bistümer im Lande Nord­ rhein-Westfalen, 1978, S. 7; vgl. auch den Haushaltsplan des Bistums Münster für das Haushaltsjahr 1979 (1.6). 7  Quelle: KNA – Nr. 102 v. 3. 5. 1979.

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sellschaften und religiösen Vereine an ihrem für Kultus-, Unterrichts- und Wohltätigkeitszwecke bestimmten Vermögen (Art. 138 Abs. 2 WRV i. V. m. Art. 140 GG). Damit wird das Kirchengut gegen den einseitigen Enteignungszugriff des Staates gesichert, der ohne diese Garantie zulässig wäre. Die Kirchen erhalten einen verfassungskräftigen Schutz vor weiteren Säkularisationen.8 2.  Steuerliche Privilegierung der kirchlichen Einkünfte Darüber hinaus wurden die kirchlichen Einkünfte in vielfacher Hinsicht vom Steuerrecht privilegiert. So stellt das Gesetz sie weithin frei von der Körperschaftsteuer, Vermögensteuer, Grundsteuer und Erbschaftsteuer. Das Einkommensteuerrecht begünstigt Spenden. Der Spender kann Ausgaben zur Förderung mildtätiger, kirchlicher und religiöser Zwecke bis zur Höhe von insgesamt 5 % des Gesamtbetrags der Einkünfte einkommensteuerrechtlich absetzen.9 Dieser Steuervorteil kommt unmittelbar dem Spender zugute, mittelbar aber auch dem kirchlichen Spendenempfänger. Die Kirchen werden steuerlich nicht anders behandelt als sonstige gesellschaftliche Verbände, die sich für gemeinnützige Aufgaben engagieren. Bemerkenswert ist die steuerrechtliche Umschreibung der privilegierten Zwecke: Die Förderung von Kirche und Religion steht gleich der Förderung von Wissenschaft und Forschung, von Bildung und Erziehung, von Kunst und Kultur, und anderen gemeinnützigen Zielen.10 Der Staat unterstützt also die Kirchen nicht lediglich in denjenigen ihrer Aufgaben, die sich mit profanen Gemeinwohlintentionen decken, wie es in der Krankenpflege, in der Entwicklungshilfe oder im Denkmalschutz der Fall ist. Vielmehr werden sie gerade auch um ihrer religiösen Substanz willen gefördert.11 Das Religiöse erscheint als Element des Gemeinwohls. Der fördernde Staat tritt in Lebensbereiche ein, die ihm als eingreifender, regelnder Staat verschlossen sind. Der Steuergesetzgeber teilt nicht die verfassungsrechtlichen Bedenken, die im juristischen Schrifttum verfochten werden: daß der Staat durch Förderung der 8 Dazu Johannes Heckel, in: FS für Rudolf Smend, 1952, S. 103 ff.; Hesse, in: ZevKR 5 (1956), S. 62 ff: v. Campenhausen (Fn. 1), S. 159 ff.; Christian Meyer und Siegfried Marx, in: Handbuch des Staatskirchenrechts, Bd. II, 1975, S. 91 ff. bzw. 117 ff. 9  § 10b Abs. 1 EStG. 10  § 52 AO. 11 Vgl. die (nicht abschließende) gesetzliche Kasuistik der „kirchlichen Zwecke“ in § 54 Abs. 2 AO: „ … insbesondere die Errichtung, Ausschmückung und Unterhaltung von Gotteshäusern und kirchlichen Gemeindehäusern, die Abhaltung von Gottesdiensten, die Ausbildung von Geistlichen, die Erteilung von Religionsunterricht, die Beerdigung und die Pflege des Andenkens der Toten, ferner die Verwaltung des Kirchenvermögens, die Besoldung der Geistlichen, Kirchenbeamten und Kirchendiener, die Alters- und Behindertenversorgung für diese Personen und die Versorgung ihrer Witwen und Waisen“.

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Religion sich mit der Religion identifiziere, folglich die Religionsfreiheit verletze und das Neutralitätsgebot breche.12 Würde der Ansatz folgerichtig weiter gedacht, so kreierte der Staat mit der Finanzierung von Forschungsvorhaben eine staatsamtliche Wissenschaft und durch Kulturpflege eine Staatskultur. In der Tat wäre ein solcher dogmatischer Ansatz verfehlt. Die Freiheit der Kunst hindert nicht staatliches Mäzenatentum, im Gegenteil: Sie kann es inspirieren.13 Die Interpreten der Wissenschaftsfreiheit haben sich längst damit abgefunden, daß freie Forschung heute ohne institutionelle und finanzielle Hilfe des Staates nicht lebensfähig wäre.14 In der Grundrechtsdogmatik setzt sich allgemein die Lehre durch, daß jedes Freiheitsrecht über den (ursprünglichen und vorrangig bleibenden) status negativus hinaus einen status positivus begründet, daß jedes Grundrecht außer auf Staatsabwehr auch auf Staatszuwendung, außer auf Freiheitsschutz auch auf Freiheitsermöglichung angelegt ist. Der grundrechtsgebundene Staat hat das Mandat zu grundrechtsermöglichenden und grundrechtsaktivierenden Leistungen.15 Es wäre inkonsequent und diskriminierend, wenn das Grundrecht der Religionsfreiheit ausgenommen würde.16 Destinatare der staatlichen Förderung sind letztlich nicht die Kirchen als Institution, sondern die Individuen, die in den Institutionen ihre Grundrechte entfalten. Es handelt sich um Dienst an der Grundrechtskultur in ihrer sittlichen und religiösen (vielleicht auch ihrer ästhetischen) Dimension.17

IV.  Die staatliche Subvention Der Staat unterstützt in wachsendem Umfang den Einsatz der Kirchen für gemeinnützige Ziele nicht nur negativ durch Verzicht auf Einnahmen, sondern auch positiv durch Zuschüsse aus Haushaltsmitteln.18 Die Kirchen werden in 12  So etwa Herbert Krüger, Allgemeine Staatslehre, 21966, S. 36, 49; Fischer, Trennung von Staat und Kirche, 21971, S. 40 f.; Bull, Die Staatsaufgaben nach dem Grundgesetz, 1969, S. 365; Brauns, Staatsleistungen an die Kirchen und ihre Ablösung, 1970, S. 136. 13  Zur Kunstförderung: BVerfGE 36, 321 (330 ff.); Knies, Schranken der Kunstfreiheit als verfassungsrechtliches Problem, 1965, S. 205 ff.; ders., in: AfP 1978, S. 57 ff. 14  Zur Freiheit der Wissenschaft das Hochschul-Urteil: BVerfGE 35, 79 (109 ff.). 15  Nachw. und Kritik bei H. H. Klein, Die Grundrechte im demokratischen Staat, 1972, S. 60 ff.; Ossenbühl, in: NJW 1976, S. 2104 f. 16  Rechtfertigung der Kirchenförderung als Ausfluß der Sozial- und Kulturstaatlichkeit: M. Heckel (Fn. 4), S. 526 f.; Schlaich (Fn. 4), S. 241 ff.; Kewenig, in: Essener Gespräche 6 (1972), S. 25 ff.; Meyer-Teschendorf (Fn. 4), S. 136 ff., 164 ff., 177 f., 195 ff. – „Zur rechtlichen Bedeutung religiöser Interessen“: Mikat (Fn. 5), S. 303 ff. 17 Näher Isensee, in: Essener Gespräche 11 (1977), S. 102 ff., 112; ders., in: NJW 1977, S. 551. 18 Zur Rechtsfigur der Subvention allgemein: Ipsen und Zacher, in: VVDStRL 25 (1967), S. 257 ff. bzw. 308 ff.; Jarass, in: JuS 1980, S. 115 ff. – Zur Staatssubventionierung

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zahlreichen Wirkungsfeldern subventioniert: in den Bereichen der Erziehung und Bildung (Kindergarten, Privatschule, Erwachsenenbildung), in der Jugend- und Altenhilfe, in der Unterhaltung von Krankenhäusern, in der Entwicklungshilfe. So bezog das katholische Entwicklungshilfe-Werk „Misereor“ im Jahre 1977 Zuschüsse der Bundesregierung und der Kommission der Europäischen Gemeinschaften in einer Höhe, die etwa 50 % der Eigenleistungen ausmachten.19 Die kirchlichen Kindergärten bekommen teilweise mehr als die Hälfte ihrer Einnahmen von der öffentlichen Hand, die kirchlichen Krankenhäuser sogar nahezu das Ganze ihrer Investitionsmittel. Der Anwendungskreis der Subvention ist enger als jener der Steuervergünstigung. Die positiven Zuweisungen aus dem Etat beziehen sich nur auf staats-substituierende Leistungen im Sozial- und Kulturbereich. Die Subvention ist gleichsam das Entgelt der öffentlichen Hand dafür, daß sie durch die freien Verbände von eigenen Veranstaltungen entlastet wird. Wenn kirchliche Träger Kindergärten und Altenheime betreiben und kunsthistorisch bedeutende Sakralbauten unterhalten, entheben sie den Staat der Notwendigkeit, sich dieser unprofitablen Agenden anzunehmen. Gerade deshalb dient die Staatssubvention auch dem Ziel, einer Verstaatlichung, also Verödung, der Kultur zu wehren und eine soziale Gewaltenteilung zwischen Staat und Gesellschaft im Bereich der Wohlfahrtspflege aufrechtzuerhalten. Nicht subventioniert werden kirchenspezifische Aufgaben, solche also, die den Staatsaufgaben nicht kongruent sind. Freilich dürfte auch kein Subventionsbedürfnis für kirchenspezifische Aufgaben bestehen. Diese werden aus anderen Finanzquellen gespeist. In der Praxis macht es einen Unterschied, ob der Staat Ausgaben tätigt oder nur auf Einnahmen verzichtet, ob er eigene Mittel einsetzt oder den finanziellen Einsatz seiner Bürger von der allgemeinen Abgabenpflicht freistellt. Rechtserheblich ist der Unterschied zwischen positiver Subvention und steuerlicher „Verschonungssubvention“20 aber kaum. Eine rechtliche Sperre, ein Subventionsverbot, besteht hier nicht.21 der Kirchen: M. Heckel, Staat – Kirche – Kunst, 1968, S. 179 ff. et passim; Scheuner, in: Essener Gespräche 8 (1974), S. 43 ff.; Roland Wegener, Staat und Verbände im Sachbereich Wohlfahrtspflege, 1979, S. 279 ff. 19  Das Bischöfliche Hilfswerk „Misereor“ bezog im Jahre 1977 Zuwendungen von der Bundesregierung in Höhe von 54,8 Millionen DM, Zuwendungen der Europäischen Kommission von 1,3 Millionen DM. Die Eigenleistungen betrugen 103,8 Millionen DM (davon 84,1 Millionen DM aus Spenden im selben Jahre). Dazu traten 18,3 Millionen DM aus kirchlichen Haushaltsmitteln (Quelle: Misereor-Jahresbericht 1977). 20 Terminus: Zacher, in: VVDStRL 15 (1967), S. 317. 21 Vgl. Häberle, in: AöR 97 (1972), S. 326 ff.; Isensee, in: Handbuch des Staatskirchenrechts, Bd. II, 1975, S. 89. – Zur Gegenthese s. die Nachw. in Fn. 12.

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Die Subvention ist für die Kirchen (und nicht nur für sie) nicht ungefährlich. Die staatliche Finanzhilfe verführt leicht zu ungesunder Expansion; etwa zur Schaffung immer neuer Bildungsstätten, Pflegeheime und sonstiger Einrichtungen, die unabsehbare Folgelasten, vor allem Personalkosten, nach sich ziehen, ohne daß die Kirchen sich sicher sind, diesen Folgelasten auf Dauer gewachsen zu sein. Schon heute haben sie sich zum größten Arbeitgeber Deutschlands nächst dem Staat ausgeweitet: mit einer halben Million Bediensteter (darunter nur einem verschwindend geringen, stetig sinkenden Anteil Geistlicher). Subvention erzeugt Abhängigkeit. Es gibt grundsätzlich keine Rechtsgarantie dafür, daß Staatszuschüsse dauerhaft fließen.22 Der Staat mag leicht in Versuchung geraten, den Subventionsentzug als politisches Druckmittel einzusetzen. Überdies vergibt er seine Finanzhilfen notwendig zweckgebunden.23 Er kontrolliert die Verwendung der Mittel und gewinnt damit auf den Subventionsempfänger einen Einfluß, den bisher noch keine rechtsstaatliche Vorkehrung angemessen kanalisiert hat. Die Frage nach Grund und Grenze der Subvention ist keine Besonderheit des Staatskirchenrechts. Die Kirche als Subventionsmittlerin ist ein Verband unter anderen Verbänden der Gesellschaft.24

V.  Die Staatsleistung Dagegen kommt kirchliche Eigenart, und zwar in geschichtlicher Hinsicht, zur Geltung in den Staatsleistungen, deren Schicksal in Art. 138 Abs. 1 WRV i. V. m. Art. 140 GG eigens geregelt wird.25 Staatsleistungen unterscheiden sich von Sub22  Die juristischen Ansätze dazu, Verläßlichkeit und Stetigkeit der Subvention zu sichern (Plangewährleistung, Vertrauensschutz etc.), haben noch nicht hinreichende juristische Kontur und Anerkennung gefunden. Dagegen haben die Religionsgemeinschaften in Sonderbereichen ein subjektives öffentliches Recht auf Subvention. Das gilt etwa für kirchliche Privatschulen (dazu BVerwGE 23, 347 ff.; 27, 360 ff.; Hermann Weber, in: JZ 1968, S. 779 ff.; Maunz, in: Essener Gespräche 9 [1975], S. 63 ff.: ders., in: Handbuch des Staatskirchenrechts, Bd. II, 11975, S. 555 ff.). Ein Subventionsanspruch besteht auch in bestimmtem Umfang auf Finanzierung der „freigemeinnützigen“ Krankenhäuser, die künstlich subventionsbedürftig gemacht werden, weil die diktierten Pflegesätze die Kosten (insbesondere die Investitionskosten) nicht decken (zur verfassungsrechtlichen Problematik: Bachof-Scheuing, Krankenhausfinanzierung und Grundgesetz, 1971; dies., Verfassungsrechtliche Probleme der Novellierung des Krankenhausfinanzierungsgesetzes, 1979). 23  Vgl. §§ 14, 26 HGrG, §§ 23, 44 BHO. 24  Dazu mit Nachw.: Meyer-Teschendorf (Fn. 4), S. 54 ff. 25 Dazu: Ernst Rudolf Huber, Die Garantie der kirchlichen Vermögensrechte in der Weimarer Reichsverfassung, 1927; Werner Weber, Die Ablösung der Staatsleistungen an die Religionsgesellschaften, 1948; Wehdeking, Die Kirchengutsgarantien und die Bestimmungen über Leistungen der öffentlichen Hand an die Religionsgesellschaften des Bundes und der Länder, 1971; Isensee, in: Handbuch des Staatskirchenrechts, Bd. II, 1975, S. 51 ff.

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ventionen. Subventionen dienen der Durchsetzung aktueller politischer Ziele des Sozial- und Kulturstaates, Staatsleistungen aber der Erfüllung historisch fundierter Unterhaltspflichten. Die Suche nach den Ursprüngen führt zurück auf die Säkularisationen, die reformatorische des 16. wie die napoleonische des 19. Jahrhunderts. Den weltlichen Territorialherren fiel mit dem Kirchengut die Aufgabe zu, für die Unterhaltsbedürfnisse der nunmehr ihrer eigenen wirtschaftlichen Basis beraubten Kirchen zu sorgen. Entwickelt hat sich ein reiches Repertoire an Leistungen, das von der Besoldung der Domkapitel bis zur Kirchenbaulast reicht. Der Weimarer Verfassunggeber versuchte, die überkommenen Leistungsbeziehungen zu entflechten. Allerdings wollte er seine ererbten Pflichten nicht abrupt abwerfen. Vielmehr beauftragte er den Gesetzgeber, die Staatsleistungen abzulösen: d. h. den Kirchen ein zeitgemäßes Äquivalent bereitzustellen. Bis zur Ablösung sollten die vorkonstitutionell begründeten Leistungen beibehalten werden.26 Die provisorische Status-quo-Garantie hat sich in der Folge als dauerhaft erwiesen. Der Veränderungsauftrag hat zu einer Veränderungssperre geführt.27 Das vorgesehene Ablösungsverfahren ist bis heute nicht eingeleitet worden, sei es, weil es sich als zu schwierig erweist, sei es, weil sich keine politische Kraft des Verfassungsauftrags annimmt. Unterdessen führen aber Staat und Kirche in vertraglichen Abreden eine pragmatische Flurbereinigung durch. Die fossilierten, disparaten Leistungen werden durch pauschalierte, periodische Geldzuweisungen ersetzt.28 Unangetastet aber bleiben die „negativen Staatsleistungen“: Steuer- und sonstige Abgabenprivilegien, welche den Kirchen aufgrund historischer Titel zukommen, dürfen ihnen nicht ersatzlos entzogen werden.

26  Die Übergangsbestimmungen des Art. 173 WRV stellte die Aufrechterhaltung des vorkonstitutionellen Besitzstandes ausdrücklich klar. Der Umstand, daß das Grundgesetz diese rein deklaratorische Norm nicht übernimmt, ändert die Rechtslage nicht. 27  Ein solcher Funktions-Umschlag einer Verfassungsnorm ist nichts Einmaliges. Eine Parallele bildet der wundersame Wandel des Art. 21 Abs. 2 GG vom Parteiverbot zum Parteiprivileg: von der kompliziert durchzuführenden Repression zur Konservierung des Repressionsobjekts. 28  So verpflichtet sich das Land Niedersachsen im „Loccumer Vertrag“ v. 18. 4. 1955 den Evangelischen Landeskirchen gegenüber, ihnen „als Dotation für kirchenregimentliche Zwecke und als Zuschüsse für Zwecke der Pfarrbesoldung und -versorgung“ jährlich 7,7 Millionen DM, gekoppelt an die Entwicklung der Beamtenbesoldung, zu zahlen sowie als einmalige Abfindung für den Verzicht auf alle bisherigen Ansprüche auf Geld- und Sachleistungen den Betrag von 5,5 Millionen DM (Art. 16 Abs. 1, 17 Abs. 4 Kirchenvertrag) zu entrichten.

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VI.  Die Kirchensteuer Die ergiebigste der Finanzquellen ist die Kirchensteuer.29 Im Jahre 1977 flossen der evangelischen Kirche 4,2 Milliarden DM, der katholischen 3,8 Milliarden DM zu.30 1.  Beleihung der Kirchen mit Steuerhoheit Die Kirchensteuer ist ein finanzverfassungsrechtliches Unikat: der einzige Fall, daß Steuerhoheit von außerstaatlichen, „gesellschaftlichen“ Korporationen ausgeübt wird. Steuerhoheit ist an sich gesellschaftlichen Organisationen verschlossen. Die Kirche vermag zwar aus eigenem Recht, von ihren Mitgliedern Beiträge zu fordern, nicht jedoch, diese einseitig mit Befehls- und Zwangsgewalt durchzusetzen. Das Monopol der Befehls- und Zwangsgewalt kommt heute dem Staat zu. Dadurch, daß dieser seine Hoheitsmacht den Kirchen bereitstellt, wird Kirchensteuer möglich.31 Diese Delegation wird von Verfassungs wegen abgesichert: „Die Religionsgesellschaften, welche Körperschaften des öffentlichen Rechts sind, sind berechtigt, aufgrund der bürgerlichen Steuerlisten nach Maßgabe der landesrechtliehen Bestimmungen Steuern zu erheben“ (Art. 137 Abs. 6 WRV i. V. m. Art. 140 GG). Diese Steuerbeleihungs-Norm enthält eine Offerte. Die Kirchen sind frei, ob und in welchem Umfang sie diese annehmen. Adressaten des Angebots sind jene Religionsgemeinschaften, die Körperschaften des öffentlichen Rechts sind. Damit sind die Großkirchen steuerberechtigt, denen Steuerhoheit in einem allmählichen historischen Prozeß seit der Mitte des 19. Jahrhunderts zuerkannt wurde. Der Kreis der steuerfähigen Religionsgemeinschaften ist offen, weil auch andere Religionsgesellschaften den Status der Körperschaft des öffentlichen Rechts, 29  Darstellungen des geltenden Kirchensteuerrechts: Engelhardt, Die Kirchensteuer in der Bundesrepublik Deutschland, 1968; Marré-Hoffacker (Fn. 5); Marré, in: Handbuch des Staatskirchenrechts, Bd. II, 1975, S. 5 ff.; Giloy, Kirchensteuerrecht und Kirchensteuerpraxis in den Bundesländern, 1978; Hollerbach, in: Listl/Müller/Schmitz (Hrsg.), Grundriß des nachkonziliaren Kirchenrechts, 1980, S. 720 ff. – Zur Legitimation der Kirchensteuer im heutigen Gemeinwesen: Scheuner (Fn. 1), S. 273 ff.; Rüfner, in: NJW 1971, S. 15 ff.; Kewenig (Fn. 16), S. 9 ff.; Link, Art. Kirchensteuer, in: Evangelisches Staatslexikon, 21966, Sp. 1249 ff.; v. Campenhausen (Fn. 1), S. 146 ff. – Verfassungsrechtliche Kritik: Fischer (Fn. 12), S. 215 ff. – Kirchenrechtliche Kritik: Steinmüller, in: Essener Gespräche 4 (1970), S. 199 ff.; Barion, in: DÖV 1968, S. 532 ff.; ders., in: DÖV 1971, S. 31 ff. (dagegen: v. Nell-Breuning, in: DÖV 1970, S. 148 ff.); Walf, in: Concilium 14 (1978), S. 429 ff. 30  Quelle: Statistisches Bundesamt, Statistisches Jahrbuch 1978 für die Bundesrepublik Deutschland, 1978, S. 88, 89. 31 Vgl. BVerfGE 30, 415 (422). Zum Selbstverständnis der Kirchen: Mikat (Fn. 5), S. 547 ff.

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mithin die Steuerfähigkeit, erwerben können, falls sie durch Organisationsstruktur und Mitgliederzahl die Gewähr der Dauer bieten.32 Ungeachtet der Besonderheiten ist die Kirchensteuer echte Steuer: also eine kraft hoheitlicher Zwangsgewalt auferlegte Geldleistung, der keine Gegenleistung des Steuergläubigers korrespondiert.33 Die Steuereinnahmen sind nicht zweckgebunden, im Unterschied zur Staatssubvention, im Unterschied auch zur privaten Spende, die der Geber nicht selten mit bestimmten Auflagen versieht. Die kirchlichen Organe entscheiden daher autonom darüber, wozu sie ihre Steuereinnahmen verwenden. Der Staat, der den Kirchen seine Hoheitsbefugnisse delegiert, behält die verfassungsrechtliche Verantwortung dafür, daß diese Hoheitsrechte entsprechend den verfassungsrechtlichen Geboten ausgeübt, daß insbesondere die Grundrechte gewahrt werden. Der Steuerpflichtige genießt daher gegenüber der kirchlichen Steuergewalt keinen geringeren Rechtsschutz als gegenüber der staatlichen. Der Weg zu den staatlichen Gerichten steht ihm offen, wenn die kirchlichen Besteuerungsmaßnahmen die staatlich gewährleisteten Rechte verletzen.34 Die Übertragung der Steuerhoheit obliegt ausschließlich dem Landesgesetzgeber.35 Die grundgesetzliche Regelung hält ihm verschiedene Gestaltungsmöglichkeiten offen. Wichtigste Determinanten des Verfassungsrechts sind: die individuelle Religionsfreiheit der Steuerpflichtigen, das korporative Selbstbestimmungsrecht der Kirchen und die staatliche Pflicht zur Neutralität. Die folgende Darstellung beschränkt sich auf die Regelungen, in denen die meisten der geltenden Landesgesetze übereinstimmen, und hier wiederum auf die wichtigsten Regelungselemente. 2.  Gläubiger und Schuldner der Kirchensteuer a)  Überörtliche Kirchenbehörde. Die Gesetze weisen die Ertragshoheit in erster Linie den überörtlichen Kirchenverbänden zu: den evangelischen Landeskirchen und den katholischen Diözesen.

32  Art. 137 Abs. 5 WRV (Art. 140 GG). – Zur Körperschaftsqualität der Kirchen: Friesenhahn, in: Handbuch des Staatskirchenrechts, Bd. I, 1974, S. 545 ff.; Meyer-Teschendorf, in: AöR 103 (1978), S. 289 ff. 33 Zur Steuerqualität: Engelhardt (Fn. 29), S. 14 ff.; Marré-Hoffacker (Fn. 5), § 1 KiStG Anm. I (S. 99 ff.). 34  Vgl. BVerfGE 19, 206 (217 f.); Rüfner, in: Handbuch des Staatskirchenrechts, Bd. I, 1974, S. 770 f.; Marré (Fn. 29), S. 47 f.; v. Campenhausen (Fn. 1), S. 170 ff. – Zur Grundrechtsbindung der Kirchen allgemein: Hermann Weber, in: ZevKR 17 (1972), S. 386 ff.; Kästner, in: JuS 1977, S. 715 ff. 35  Art. 137 Abs. 8 WRV i. V. m. Art. 140 GG.

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Die überörtliche Lösung stärkt in ihrer realen Auswirkung die zentrale Leitungsgewalt der Bischöfe gegenüber den Pfarrgemeinden. Sie ermöglicht überregionale Finanzplanung. Sie erleichtert den Ausgleich unterschiedlicher Finanzkraft zwischen den einzelnen Gemeinden. Der Ausgleich unterschiedlicher Finanzkraft zwischen einzelnen Bistümern oder Landeskirchen ist dagegen der freien Vereinbarung unter ihnen überlassen. b)  Kirchenmitgliedschaft und Kirchenaustritt. Steuerschuldner sind die Mitglieder der Kirchen, und nur die Mitglieder. Die Besonderheit der Kirchensteuer liegt gerade darin, daß sie ausschließlich vom Kirchenvolk erbracht wird, also nicht von der staatlich verfaßten Allgemeinheit. Es handelt sich also um eine kircheneigene Form der Finanzierung, im Unterschied zu den unterschiedlichen Formen der Staatsfinanzierung.36 Die Kirchen definieren auf der Grundlage ihrer Autonomie ihren Mitgliederkreis selbst.37 Der staatliche Gesetzgeber wäre, gebunden an die religiöse Neutralität, auch nicht fähig, von sich aus zu bestimmen, wer einer steuerberechtigten Kirche angehört. Er knüpft an das innerkirchliche Recht an. Es ist daher folgerichtig, daß er die Taufe als Grundlage der Mitgliedschaft in einer christlichen Kirche akzeptiert.38 Der Gesetzgeber gerät selbst dann nicht in Konflikt mit der Religionsfreiheit, wenn er an die Kindestaufe anknüpft. Bei der Kindestaufe erklären die Eltern kraft ihres grundrechtlich geschützten Elternrechts für das noch grundrechtsunmündige Kind den Beitritt zur Glaubensgemeinschaft. Der Wille der Eltern tritt ein für den noch nicht relevanten eigenen Willen des Kindes. Das Kind nimmt die Entscheidung über seine Religionszugehörigkeit in die eigene Hand, wenn es religionsmündig wird. Der Mündige bestätigt die Entscheidung der Eltern, wenn er nunmehr aus freien Stücken an der Kirchenmitgliedschaft festhält. Einer besonderen formellen Erklärung bedarf es dazu nicht.39 Die Religionsfreiheit verbietet, kirchenfremde Personen der Kirchensteuer zu unterwerfen. Wer keiner steuerberechtigten Kirche angehört, darf auch nicht deshalb zur Kirchensteuer herangezogen werden, weil der Ehegatte Kirchenmitglied

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Die Kirchensteuer enthebt die Religionsgemeinschaften der delikaten Rechtsprobleme, wie sie für die politischen Parteien entstehen, die ihre Wahlkämpfe wie viele andere ihrer Aktivitäten zu einem erheblichen Teil aus staatlichen Haushaltsmitteln finanzieren. 37 Zum kircheninternen Mitgliedschaftsrecht der katholischen und protestantischen Kirchen: Mörsdorf und v. Campenhausen, in: Handbuch des Staatskirchenrechts, Bd. I, 11974, S. 609 ff. bzw. 635 ff. 38  Entsprechend hat der Staat das mosaische Recht zu respektieren, wonach die Mitgliedschaft in einer israelitischen Religionsgemeinde schon durch Abstammung von jüdischen Eltern (also ohne eigenen kultischen Akt) erworben wird (so BVerwGE 21, 330 [332 ff.]; abl. Fischer, in: FS für das BVerwG, 1978, S. 183 f.). 39  So BVerfGE 30, 415 (421 ff.).

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ist.40 Verfassungswidrig wäre eine Besteuerung von religionsindifferenten Kapital- und Handelsgesellschaften.41 Die (negative) Religionsfreiheit umschließt das Recht zum Kirchenaustritt. Die staatliche Rechtsordnung gewährleistet den Kirchenaustritt als Verfahren, das die Kirchenmitgliedschaft mit Wirkung für den Staat, allerdings auch nur für den Staat, beendet, mithin die mitgliedschafts-akzessorische Kirchensteuerpflicht erlöschen läßt. Der Gesetzgeber darf diese Aktualisierung der Religionsfreiheit nicht dadurch erschweren, daß er die rechtliche Wirkung der Austrittserklärung durch eine bestimmte „Überlegungsfrist“ hinauszögert und eine „Nachbesteuerung“ vorsieht, die über den auf die Erklärung folgenden Monat hinaus anhält.42 Wer aus einer Kirche mit bürgerlicher Wirkung austreten will, hat einer bestimmten Behörde gegenüber seinen Willen förmlich zu erklären.43 Dieses Formerfordernis ist aus der Sicht der Religionsfreiheit unbedenklich. Es wird gerechtfertigt durch die Notwendigkeit, daß eindeutige und nachprüfbare Tatbestände den steuerrelevanten Rechtsstatus des einzelnen sichtbar machen. Der einzelne kann den Austritt aus der Kirche nicht auf die Steuerpflicht beschränken und sich dem Staat gegenüber die Aufrechterhaltung seines Mitgliedstatus im übrigen sichern. Die Austrittserklärung bezieht sich im Verhältnis zum Staat auf die Mitgliedschaft als Grundlage der Steuerpflicht, nicht auf eine isolierte Konsequenz der Mitgliedschaft. Es gibt aus der Sicht des Staats nur die Alternative der Kirchenzugehörigkeit mit allen ihren Folgerungen oder der Nichtzugehörigkeit. Jede andere Lösung ließe das staatliche Recht ohne Not in den eigenen Regelungsbereich der Kirchen eindringen.44 Der staatlich geregelte Kirchenaustritt zeitigt nicht automatisch innerkirchliche Wirkungen. Den Kirchen steht es frei, aus ihrem Selbstverständnis heraus darüber zu befinden, welche Folgen (Verlust der Mitgliedschaft auch nach innerkirchlichem Recht, Kirchenstrafe etc.) sie an die Austrittserklärung knüpfen. So maßt sich die weltliche Gewalt nicht an, mit dem Institut des Kirchenaustritts die sakramentalen Wirkungen der Taufe anzutasten. Das Institut des Kirchenaustritts bildet lediglich die Vorkehrung des Staates dazu, seine religiöse Neutralität, 40 So zur „glaubensverschiedenen Ehe“ BVerfGE 19, 226 (236 ff.), 242 (246 f.), 268 (273 ff.). Anders aber die Rechtslage der „konfessionsverschiedenen Ehe“: dazu BVerfGE 20, 40 (42 ff.). 41  So BVerfGE 19, 206 (215 ff.). 42  Vgl. BVerfGE 44, 37 (49 ff.); 44, 59 (66 ff.). – Dagegen verletzt die gesetzlich vorgeschriebene Eintragung der Religionszugehörigkeit auf der Lohnsteuerkarte kein Grundrecht (BVerfGE 49, 375 ff. [376] ff.). 43  Von Land zu Land verschieden, ist zuständig das Amtsgericht, das Standesamt oder eine von der Religionsgemeinschaft zu bestimmende Stelle. 44 s. Listl, in: JZ 1971, S. 345 ff.; ders., in: NJW 1975, S. 1902 ff.; BVerwG, in: NJW 1979, S. 2322 ff. – A. A. Hermann Weber, in: NJW 1975, S. 1904 f.

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die positive Förderung der Kirchen und deren Autonomie sowie die Religionsfreiheit des Individuums zum praktischen Ausgleich zu bringen. 3.  Steuergegenstand und Steuermaßstab Die Landeskirchensteuergesetze stellen den Kirchen frei, eine eigene Bemessungsgrundlage nach Maßgabe des Einkommens zu entwickeln oder die Kirchensteuer als Zuschlag zu bestimmten staatlichen Steuern zu erheben (zur Einkommen- und Lohnsteuer sowie zur Vermögens- und Grundsteuer). Die Kirchen verwirklichen die zweite Möglichkeit. Auf der unteren Ebene der Pfarrgemeinden erheben sie kraft gesetzlicher Ermächtigung in manchen Gebieten auch ein Kirchgeld in Form einer Kopfsteuer.45 Das Aufkommen dieses Kirchgeldes ist bescheiden.46 Überragende Bedeutung gewinnt die Kirchensteuer allein als Zuschlag zur Einkommensteuer und zu deren wichtigster Spielart, der Lohnsteuer. Diese Form der Kirchensteuer bringt ungefähr 98 % des gesamten Steuerertrags. Die Anknüpfung der Kirchensteuer an die Einkommensteuer erweist sich als praktikabel. Sie enthebt die Kirchen eigenständiger finanzpolitischer Entscheidungen. Sie ermöglicht, die Kirchensteuer gemeinsam mit der staatlichen Einkommensteuer einzuziehen, ohne daß sich spezifische Verwaltungsprobleme ergäben. Die Allianz von Staats- und Kirchensteuer ist auch finanzpsychologisch geschickt, weil die kirchliche Abgabe nicht isoliert den Steuerpflichtigen trifft, mithin in der Regel nicht als Besonderheit empfunden wird und keinen kirchenspezifischen Steuerwiderstand auslöst. Grundsätzlich ist es sachgerecht, daß die Kirchensteuer wie die Einkommensteuer auf die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit natürlicher Personen abstellt. Gleichwohl ergeben sich Probleme, wenn die Kirchen sich die wechselnde Gestalt der staatlichen Einkommensteuer pauschal zu eigen machen. Die staatliche Einkommensteuer verfolgt über den fiskalischen Zweck hinaus mannigfaltige sozialpolitische und wirtschaftslenkende Ziele. Manches dieser Ziele entspricht auch kirchlichen Intentionen (etwa die Förderung der Ehe, die Berücksichtigung des Aufwands der Kindererziehung). Manche sind kirchenindifferent (etwa Konjunktursteuerung und Einkommensumschichtung). Es kommt zu Ungerechtigkeiten, wenn die Kirchen mit der Rezeption des staatlichen Steuerprogramms die Bezieher von Beamtenpensionen und von privaten Renten zur Kirchensteuer heranziehen, die Bezieher von Sozialversicherungsrenten in gleicher Höhe dagegen nicht. Die Kirchen geraten in finanzielle Schwierigkeiten, wenn der Staat dazu übergeht, weitere Kreise der Bezieher niedriger Einkommen völlig von der 45 Dazu:

Engelhardt (Fn. 29), S. 146 f.; Giloy (Fn. 29), S. 34 ff., 62 ff. Jahre 1977 nahm die katholische Kirche 8 Millionen DM Kirchgeld ein (zum Vergleich: 3,814 Milliarden gesamte Einnahmen an Kirchensteuer). Quelle: Statistisches Bundesamt (Fn. 30), S. 89. 46  Im

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Einkommensteuer freizustellen (mittelbar also auch von der akzessorischen Kirchensteuer), und sich den Ausgleich durch Erhöhung der Mehrwertsteuer verschafft, die den Kirchen verschlossen ist. Die Kirchensteuer übernimmt die Progression der staatlichen Einkommensteuer. Der Progressionseffekt wird allerdings dadurch gemildert, daß der einzelne die gezahlte Kirchensteuer (ebenso wie eine freiwillige Spende) vom steuerpflichtigen Einkommen abziehen kann.47 Die Kirchen gehen wie der Staat im Prinzip davon aus, daß das Maß des zumutbaren Opfers überproportional mit der Höhe des Einkommens wächst. Jedoch geraten sie in Verlegenheit, wenn sie plausible Gründe für die kirchliche Teilnahme am Einkommensnivellement durch Progression suchen, Gründe, die auch einem Steuerpflichtigen einleuchten können, dessen Einkommenssteuer sich dem Spitzensteuersatz von 56 % nähert und der deshalb den Kirchenaustritt erwägt. Die meisten Landeskirchen und Bistümer setzen deshalb Obergrenzen der möglichen Kirchensteuerschuld fest, und zwar mit Sätzen, die sich zwischen 3 und 4 % des steuerpflichtigen Einkommens bewegen.48 4.  Steuersatz Die Kirchen entscheiden autonom darüber, welche Höhe der Zuschlag zur staatlichen Einkommensteuer erreichen soll. In der Praxis liegt sie bei 7 – 9 % der Einkommensteuerschuld. Die Festsetzung des Steuersatzes hängt ab vom jeweiligen Finanzbedarf der Kirchen. Sie darf nicht gegen staatliches Steuerrecht verstoßen und muß eine gewisse Einheitlichkeit mit den Steuerregelungen der anderen Kirchen desselben Geltungsbereichs wahren. Zuständig für die Entscheidung über den Steuersatz sind Gremien, die sich nach innerkirchlichem Recht konstituieren. In den katholischen Diözesen sind Kirchensteuervertretungen eingerichtet, die sich mehrheitlich aus Repräsentanten der Kirchensteuerpflichtigen, im übrigen aus Vertretern der Kirchenhierarchie zusammensetzen.49 Die Steuerbeschlüsse der Kirchen bedürfen der Genehmigung des Staates. Dieser kann die Zustimmung nicht nach Belieben erteilen oder versagen. Er ist verpflichtet zur Zustimmung, soweit sich die kirchliche Entscheidung in das Gesamtkonzept des Steuerrechts einfügt.50 47  Die gezahlte Kirchensteuer gilt als Sonderabgabe, die vom Gesamtbetrag der Einkünfte abgezogen wird (§ 10 Abs. 1 S. 4 EStG). 48  Zum „Kappen“ des Steuertarifs: Marré (Fn. 29), S. 37 f. – Allgemein zur Problematik der Kirchensteuer als Zuschlagsteuer: Meyer, in: ZevKR 16 (1971), S. 291 ff.; Weber (Fn. 4), S. 61 f. 49 Nachw.: Marré (Fn. 29), S. 25. 50  Die näheren Bedingungen, unter denen die Genehmigung zu erteilen ist oder als erteilt gilt, werden teilweise durch Vertrag zwischen Staat und Kirche festgelegt. Dazu Marré (Fn. 29), S. 20 f.

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5.  Einziehung der Kirchensteuer Die Kirchen können die Steuer durch eigene Behörden einziehen. Die Kirchensteuergesetze bieten ihnen jedoch an, die Verwaltung den staatlichen Finanzämtern zu übertragen. Die Kirchen haben dieses Angebot zumeist angenommen.51 Sie bedienen sich der sachkundigen Staatsverwaltung und ersparen sich eine komplizierte, aufwendige Arbeit. Die Lösung ist für beide Seiten rationell. Der Staat kassiert für seine Verwaltungshilfe eine Vergütung, die 2 – 5 % der eingezogenen Kirchensteuer ausmacht. Die Kirchen müßten erheblich mehr für den Aufbau und die Unterhaltung einer eigenen Steuerorganisation aufwenden. Nach Schätzungen wäre es ein Fünftel, wenn nicht gar ein Viertel des Steuerertrags. Mit der Verwaltungshilfe der Finanzämter kommt den Kirchen auch die private Verwaltungshilfe der Arbeitgeber zugute. Diese sind gesetzlich verpflichtet, mit der Lohnsteuer der Arbeitnehmer auch die akzessorische Kirchensteuer einzubehalten und an das Finanzamt abzuführen, ohne dafür Entgelt oder Kostenerstattung zu erhalten. Diese Inpflichtnahme der Arbeitgeber verletzt deren Grundrechte nicht, auch nicht ihre Religionsfreiheit. Sie werden ja nicht gezwungen, den Kirchen Dienste zu leisten, sondern dem Staat, der die eigentlich ihm selbst obliegende Verwaltungsarbeit auf sie abwälzt.52 Das System des Kirchensteuereinzugs durch die Finanzämter hat den Einwand geweckt, die Kirchen könnten sich damit von ihren Angehörigen distanzieren. Die Sorge ist abwegig. Das Steuerinkasso ist ein technischer Vorgang der Massenverwaltung, der keine pastorale Begegnung ermöglicht. Dagegen werden in der Amtskirche geistliche Energien freigesetzt, wenn sie von der Steuererhebung entlastet wird. 6.  Kirchliche Unabhängigkeit durch Kirchensteuer Die Kirchensteuer, die vom Kirchenvolk, nicht vom Staatsvolk aufgebracht wird, befähigt die Kirchen zu Leistungen, die über den Kreis der Kirchenangehörigen hinaus für alle Bürger des pluralistischen Gemeinwesens wirksam werden. Das Zusammenwirken von Staat und Kirche, aus dem die Kirchensteuer hervorgeht, hebt die Unabhängigkeit der Kirche nicht auf, sondern gibt ihr geradezu ein finanzielles Fundament. Der Staat beansprucht keinen Einfluß auf die Verwendung der Steuereinnahmen. Er hat sich sogar der Rechtsmacht begeben, 51  Ausnahme: Kirchliche Verwaltung der Kircheneinkommenssteuer (nicht aber der Kirchenlohnsteuer) in Bayern. 52  Vgl. BVerfGE 44, 103 f. = JuS 1978, S. 127 Nr. 2 (1. Entsch.); v. Campenhausen/ Maunz/Scheuner/Scholtissek, Die Mitwirkung der Arbeitgeber bei der Erhebung der Kirchensteuer, 1971.

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die Kirchen mit der Drohung, den Geldhahn zuzudrehen, politisch zu erpressen und eine „Temporaliensperre“ zu wiederholen, wie sie Bismarck im Kulturkampf durch Einstellung der Staatsleistungen an die katholische Kirche erprobt hat.53 Einem solchen Vorhaben stünde die verfassungsrechtliche Garantie der Kirchensteuer im Wege. Sie beläßt dem Gesetzgeber zwar die Möglichkeit zu Änderungen der geltenden Regelungen; sie verbietet aber auch die Abschaffung der Steuer.54 Eine Aufhebung der Verfassungsgarantie selbst wäre nur durch förmliche Verfassungsrevision möglich. Ein solches Vorhaben fände unter den gegebenen Umständen keine politische Chance. Die Unabhängigkeit, die mit der Kirchensteuer gegeben ist, gilt auch im Verhältnis der Kirche zu Privaten. Wäre die Kirche ausschließlich auf privatrechtliche Beiträge und freie Spenden angewiesen, so drohte ihr leicht die Abhängigkeit von finanzstarken Spendern, die ihre Leistungsbereitschaft von bestimmten Gegenleistungen abhängig machen.55 Alles in allem haben die Kirchen in Deutschland keinen Grund zu finanzieller Sorge (mag ihr angeborener Hang zum Jammern es ihnen auch schwer machen, das zuzugeben). Ihr Problem liegt heute darin, ob sie noch genug der religiösen Energie aufbieten können, um die vorteilhaften materiellen Bedingungen, die das Staatskirchenrecht bereitstellt, auch zu nutzen.

53 Dazu Ernst Rudolf Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, Bd. 4, 1969, S. 697 ff., 734 ff. 54  Die These des FDP-„Kirchenpapiers“ von 1974, die Kirchensteuer solle durch „ein kircheneigenes Beitragssystem“ ersetzt werden, wäre nur durch Verfassungsänderung realisierbar; vgl. Engelhardt, in: JZ 1975, S. 690. 55  Bei den Weimarer Verfassungsberatungen brachte der SPD-Abgeordnete Dr. Quarck dieses Argument vor zugunsten der Kirchensteuer und gegen das privatwirtschaftliche Modell, wie es in den USA praktiziert wird: .,Das amerikanische Vorbild der Unterhaltung von Kirchen durch einzelne Großkapitalisten mit entsprechendem Einfluß des Großkapitals auf das kirchliche Leben ist nicht nachahmenswert und nicht im Sinne des Sozialismus“ (Prot. S. 199).

Staatsleistungen an die Kirchen und Religionsgemeinschaften* Staatsleistungen an die Kirchen und Religionsgemeinschaften Staatsleistungen an die Kirchen und Religionsgemeinschaften

A.  Zum historischen und teleologischen Verständnis der Verfassungsentscheidung über die Staatsleistungen I.  Staatsleistungen als Säkularisations-Ausgleich Es gehört zu den Merkwürdigkeiten des Grundgesetzes, daß die Verfassung des Leistungsstaates Staatsleistungen nur in einer Randbestimmung erwähnt und sich nicht etwa auf die gegenwartsmächtige Wirksamkeit des Sozialstaates bezieht, sondern auf die Bewältigung von Verfassungsgeschichte: Rückstände versunkener Systeme des Staatskirchenrechts. Hier handelt es sich um Geldoder Naturalleistungen, die der Staat aufgrund von Rechtspflichten, die vor dem Jahre 1919 begründet worden sind, den Kirchen und Religionsgemeinschaften zur Bestreitung ihrer Unterhaltsbedürfnisse erbringt. Sedes materiae ist die über Art. 140 GG fortgeschriebene Bestimmung des Art. 138 Abs. 1 WRV: „Die auf Gesetz, Vertrag oder besonderen Rechtstiteln beruhenden Staatsleistungen an die Religionsgesellschaften werden durch die Landesgesetzgebung abgelöst. Die Grundsätze hierfür stellt das Reich auf.“1

1.  Rechtsbegründung aus der Geschichte Die Staatsleistungen, deren rechtliches Schicksal der Verfassunggeber von Weimar geregelt hat, erfassen nicht alle vermögenswerten Zuwendungen des Staates an kirchliche Stellen, sondern nur solche, die zur Bestreitung des kirchlichen Unterhalts dienen, zumal des Aufwandes für den Kultus, und deren Rechtsgrundlagen sich aus den Vorweimarer Staat-Kirchen-Beziehungen herleiten 2. Diese „Dotationen“ fügen sich nicht in die heute üblichen Typologien der *  Erstveröffentlichung in: Joseph Listl/Dietrich Pirson (Hrsg.), Handbuch des Staatskirchenrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. I, 2. Auflage 1994, S. 1009 – 1063. 1  Eine Auswahl-Bibliographie zum Recht der Staatsleistungen ist diesem Beitrag als Anhang beigefügt. 2 Im älteren Schrifttum finden sich aufschlußreiche Zusammenstellungen der erbrachten Staatsleistungen: Johannes Niedner, Die Ausgaben des preußischen Staats für die evangelische Landeskirche der älteren Provinzen, Stuttgart 1904 (Nachdr. Amsterdam 1963), bes. S. 4 – 20; J. Schmitt, Staat (Anh. 1), bes. S. 30 – 102; ders., Ablösung 1921 (Anh. 1), bes. S. 18 – 93, 123 – 170; Breitfeld, Auseinandersetzung (Anh. 1), S. 60 – 342.

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Leistungsverwaltung. Sie sperren sich gegen die Qualifikation als Subvention, Daseinsvorsorge oder soziale Sicherung. Am ehesten dürfen sie den staatlichen Ersatzleistungen im weitesten Sinne zugerechnet werden. Unter Vorbehalt jenes granum salis, das bei der typisierenden Beurteilung vielgestaltiger historischer Sachverhalte unentbehrlich ist, läßt sich nämlich hinter den heterogenen Rechtsgrundlagen eine gemeinsame Legitimation erkennen: Staatsleistungen bilden den Ausgleich für Säkularisationen. Die Übernahme kirchlicher Unterhaltslasten durch den Staat kann nur vor dem geschichtlichen Hintergrund der neuzeitlichen Säkularisations-Vorgänge verstanden werden, wie sie insbesondere die Reformation, der Westfälische Friede, die Reformen Kaiser Josephs II. und der Regensburger Reichsdeputationshauptschluß auslösten. Die weltliche Gewalt, die sich kirchliches Vermögen und geistliches Territorium einverleibte, übernahm die Gewähr für die finanzielle Ausstattung der Religionsgemeinschaften3. Die Verantwortung für die materiEine Gesamtübersicht über den gegenwärtigen Bestand an Staatsleistungen und ihren wirtschaftlichen Wert steht aus. Mit der Erstellung einer solchen Übersicht wären bereits die wesentlichen juristischen und wirtschaftswissenschaftlichen Schwierigkeiten der Ablösung gemeistert. Die juristischen Probleme liegen – abgesehen von der in abstracto umstrittenen Reichweite des Staatsleistungsbegriffs – darin, im Einzelfall die ablösungspflichtige und -fähige Leistung von den sonstigen Zuweisungen, insbesondere den Subventionen, abzugrenzen. Die wirtschaftliche Bewertung ist bei Natural- und Geldbedarfsleistungen, vor allem bei den „negativen“ Staatsleistungen prekär. Die Haushaltspläne geben nur begrenzten Aufschluß. Wenn der Haushaltsplan des Landes Nordrhein-Westfalen 1993 an Ausgaben für „Kirchen, Religionsgemeinschaften und Weltanschauungsvereinigungen“ 48,8 Mio. DM vorsieht (Kapitel 0561), so umfaßt dieser Betrag auch Zuweisungen, die nicht Staatsleistungen im Rechtssinne sind (etwa neubegründete Leistungen und Subventionen). Auf der anderen Seite sind die negativen Staatsleistungen (Abgabenbefreiungen usw.) nicht in ihm enthalten. Echte Staatsleistungen innerhalb des Gesamtbetrages sind jedoch – ausweislich der Erläuterungen zu Titel 68411 und 68412 – die kirchenvertraglich zugesicherten Dotationen für die Evangelischen Landeskirchen (7,255 Mio. DM) sowie für die katholischen Erzdiözesen und Diözesen (9,363 Mio. DM); die Beihilfe zur Besoldung und Versorgung der Pfarrer, Bedarfszuschüsse kraft gewohnheitsrechtlicher Titel (7 Mio. DM für die evangelische, 11,8 Mio. DM für die katholische Kirche); persönliche und sächliche „Zuschüsse nach dem Kataster“, die „in Auswirkung der Säkularisation“ zu leisten sind (182.000 DM an die evangelische, 790.000 DM an die katholische Kirche). Dazu Wolfgang Clement, Politische Dimension und Praxis der staatlichen Förderung der Kirche, in: EssGespr. 28 (1994), S. 46 f. Als Staatsleistungen ausgewiesen werden die kirchenvertraglich zugesagten jährlichen Pauschal-Dotationen, deren Höhe der Beamtenbesoldung angepaßt wird. So schuldet das Land Niedersachsen den Ev. Landeskirchen als Ausgangsgröße 7,70 Mio. DM (Art. 16 Abs. 1 S. 1 NiedersKV), den kath. Diözesen 3,25 Mio. DM (Art. 15 Abs. 1 NiedersK). s. auch unten Fn. 179. 3  Der historische Zusammenhang wird (bei unterschiedlicher Wertung der juristischen Konsequenzen) bejaht von Johannes Baptist Sägmüller, Der Rechtsanspruch der katholischen Kirche in Deutschland auf finanzielle Leistungen seitens des Staates, Freiburg

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ellen Erfordernisse des Kultus verstand sich von selbst für einen „christlichen“ Staat4. Damit Staatsleistungen sich als Kategorie entwickeln konnten, bedurfte es einer verfassungshistorischen Voraussetzung: der Unterscheidung des staatlichen vom geistlichen Wirkungskreise. Bei der Errichtung des Kirchenregiments im Reformationszeitalter hatte die Sorge des Landesherrn für die Besoldung der Geistlichen und den Unterhalt der Gotteshäuser noch als Erfüllung eines genuin staatlichen Amtes gelten können5. Die Kirche mußte sich dem staatlichen Leistungsgeber gegenüber als Träger eigener Aufgaben verselbständigen und als Subjekt eigener ökonomischer Bedürfnisse Anerkennung verschaffen, ein Leistungsverhältnis zwischen Staat und Kirche sich rechtlich konstituieren, damit die Staatsleistungen juristische Relevanz erreichen konnten6. Das Urbild der Begründung von Unterhaltslasten als Säkularisations-Folge findet sich in § 35 des Reichsdeputationshauptschlusses vom 25. Februar 1803: Die „Güter der fundirten Stifter, Abteyen und Klöster“ werden zwar der „freien und vollen Disposition der respectiven Landesherrn“ übertragen; deren Verfügungsfreiheit wird aber an bestimmte Verwendungszwecke gebunden: darunter die Bestreitung des Aufwandes für „Gottesdienst, Unterrichts- und andere gemeinnützige Anstalten“. Überdies steht die Übertragung „unter dem bestimmten Vorbehalte der festen und bleibenden Ausstattung der Domkirchen, welche werden beibehalten werden, und der Pensionen für die aufgehobene Geistlichkeit“. – Deutlicher noch kommt der Rechtsgedanke des Säkularisations-Ausgleichs im preußischen „Edikt über die Einziehung sämtlicher geistlicher Güter in der Monarchie“ vom 30. Oktober 1810 (§ 4) zum Ausdruck. Der König, der die Säkularisierung verfügt, kündigt an: „Wir werden für hinreichende Belohnung der obersten geistlichen Behörden und mit dem Rathe derselben für reichliche Dotirung der Pfarreien, Schulen, milden Stiftungen und selbst derjenigen Klöster sorgen, i. Br. 1913; J. Schmitt, Staat (Anh. 1); ders., Ablösung 1921 (Anh. 1), bes. S. 37 – 88; Duske, Dotationspflicht (Anh. 1), S. 28 – 51; Denkschrift (Anh. 1), S. 24, 28 – 30; Huber, Garantie (Anh. 1), S. 1 – 6; Hans Liermann, Deutsches Evangelisches Kirchenrecht, Stuttgart 1933, S. 373 f. ; Godehard Josef Ebers, Staat und Kirche im neuen Deutschland, München 1930, S.  247 – 249; Adalbert Erler, Kirchenrecht, 5. Aufl., München 1983, S. 107 f.; Scheuner, Bestand (Anh. 2), S. 383; Axel Frhr. v. Campenhausen, Staatskirchenrecht, 2. Aufl., München 1983, S. 27 ff. 4  So übernahm nach Robert v. Mohl die württembergische Regierung „natürlich durch die Säkularisation die Verpflichtung für diejenigen Bedürfnisse der katholischen Kirche in W. zu sorgen, welche nicht durch eigene örtliche Stiftungen und sonstige Einnahmen gedeckt waren“ (Das Staatsrecht des Königreiches Württemberg, 2. Aufl., Bd. 2, Tübingen 1840, S. 505). 5 Dazu Holstein, Rechtsgrundlagen (Anh. 1), S. 165 – 175; Johannes Heckel, Kirchengut und Staatsgewalt, in: Rechtsprobleme in Staat und Kirche. FS für Rudolf Smend, Göttingen 1952, S. 113 – 116; auch Niedner, Ausgaben (Fn. 2), S. 22 – 28. 6 Vgl. Koellreutter, Beiträge (Anh. 1), S. 13; s. aber Holstein, Rechtsgrundlagen (Anh. 1), S. 165 – 185.

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welche sich mit der Erziehung der Jugend und der Krankenpflege beschäftigen und welche durch obige Vorschriften entweder an ihren bisherigen Einnahmen leiden oder deren durchaus neue Fundirung nötig erscheinen dürfte.“ Die Kompensation für Säkularisationsverluste ist das typische Motiv für Zuwendungen des Staates, doch nicht das einzig mögliche. Es ist daher nicht konstitutiv für den rechtlichen Tatbestand der Staatsleistungen7. 2.  Legitimationsprobleme Das System der Staatsleistungen birgt kirchenpolitischen Konfliktstoff, der sich in dem Zeitalter zwischen Reichsdeputationshauptschluß und Weimarer Reichsverfassung mehrfach entzündet: Die Staatsdotationen geben der Kirche nicht jene relative finanzielle Autarkie zurück, die sie auf Grund ihres Besitzstandes vor der Säkularisation hatte. In dem Maße, in dem sie auf staatliche Alimentierung angewiesen ist, gerät sie in Abhängigkeit von der (wankelmütigen) Leistungsbereitschaft der öffentlichen Hand8. Nicht selten herrscht Rechtsunsicherheit. Während die kirchlichen Destinatare auf der Rechtspflicht des Staates zu ihrer angemessenen Dotierung bestehen, neigt der Staat dazu, seine Aufwendungen als Maßnahmen freiwilliger Fürsorge auszugeben und kraft seiner Souveränität Grundlage und Umfang seiner Leistungen selbst zu bestimmen (äußerstenfalls auch unter Bruch kirchenvertraglicher Zusagen). Noch heute schwelt die juristische Kontroverse darüber, ob § 35 Reichsdeputationshauptschluß unmittelbare Leistungspflichten der Länder und korrespondierende Ansprüche der kirchlichen Korporationen begründe oder nicht9. Bereits eine 7  Beispiel für eine nicht säkularisierungsbedingte Staatsleistung sind die Nutzungsrechte des Bistums Dresden-Meißen und die Bau- und Unterhaltslast des Freistaates Sachsen für jene Baulichkeiten, die im 18. Jahrhundert der zum Katholizismus konvertierte Kurfürst von Sachsen auf eigenem Grund und Boden errichtete und der katholischen Geistlichkeit, die in geschlossener protestantischer Umgebung zu wirken hatte, zur Nutzung überließ: die Katholische Hofkirche (heute Kathedrale des Bistums Dresden-Meißen) und das als Amts- und Wohnsitz der Priester bestimmte „Geistliche Haus“. Die Staatsleistung wurde durch förmliche Rechtstitel fundiert: eine Verfügung des Königs von Sachsen v. 28. 7. 1819 sowie ein königliches Mandat v. 16. 2. 1827. Als sich die Unterscheidung von Hof und Staat in finanzrechtlicher Hinsicht durchsetzte, gingen die Pflichten auf den Staat über (vgl. Art. 19 Verf. des Königreichs Sachsen von 1831). 8  Kirchliche Kritik am Dotationssystem: Sägmüller, Rechtsanspruch (Fn. 3), S. 106. 9  Ein Anspruch oder doch eine objektive Leistungspflicht wird bejaht von: Sägmüller, Rechtsanspruch (Fn. 3), bes. S. 23 – 51; J. Schmitt, Staat (Anh. 1), S. 53 – 61; Schott, Rechtsgrundlagen (Anh. 1), S. 26 – 28; Kress, Staat (Anh. 1), insbes. S. 73 – 216; Scheuner, Bestand (Anh. 2), S. 383; v. Campenhausen, Staatskirchenrecht (Fn. 3), S. 31. – Dagegen Niedner, Ausgaben (Fn. 2), S. 153 – 160; Huber, Garantie (Anh. 1), S. 64 – 77; Wehdeking, Kirchengutsgarantien (Anh. 2), S. 46. – S. auch Hermann Müssener, Die finanziellen Ansprüche der katholischen Kirche an den preußischen Staat auf Grund der Bulle „De salute

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Generation nach der Säkularisierung von 1803 erinnert Joseph Görres daran, daß der Schutz, den der Staat der Kirche gewähre – mithin die Sorge „für die würdige Ausstattung des Gottesdienstes und den Unterhalt der Diener des Altars“ –, kein Akt der Wohltätigkeit sei: Denn die Kirche habe nicht als Bettlerin vor der Türe der Regierung angesprochen, um ein Almosen sie ersuchend; „sie fordert nur das Ihre, innerlich, was ihr von Gott und Rechtswegen zukommt, äußerlich aber in Geld und Gut nur den kleinsten Theil dessen, was man ihr genommen, und was man ihr wiederzugeben, schon durch die Gesetze gemeiner Rechtlichkeit und der Ehre verbunden, überdem noch durch feierliches Versprechen ihr angelobt“10. Görres beschreibt, wie gefährlich es für die Kirche ist, sich auf historische Rechtstitel zu verlassen, weil der Staat allzu leicht vergißt, wie er sich auf Kosten der Kirche bereichert hat, und, was er gestern als Ausgleichspflicht übernahm, heute als Gunsterweis ausgibt: „Wie Napoleon gethan, als er mit Preußen Frieden schließend, nicht diese oder jene Provinz genannt, die er ihm abgedrungen, sondern der Reihe nach jene ihm zugezählt, die er ihm wiedergegeben, so hat man von Seite derselben Regierung der Kirche gegenüber es neuerdings gehalten. Man hat dieser vorgehalten, was jene in den Rheinprovinzen für sie gethan; wie sie es gewesen, der sie den Wiederaufbau der Diöcesen zu verdanken habe; wie reichlich sie die Bischofssitze und die Domcapitel ausgestattet; wie sie für die Erziehung vorgesorgt; wie liberal sie in der Bewilligung von Feiertagen und Processionen gewesen, und mehr dergleichen. Das Alles ist lobenswerth und die Kirche wird es gern verdanken; denn die Regierung hätte auch weniger thun können, hätte sie gewissenlos von allen ihren Verbindlichkeiten und Verpflichtungen sich losgesagt. Aber Eines hat man doch dabei vergessen: daß es Kirchenprovinzen, geistliche Churfürstenthümer gewesen, an denen diese Liberalität sich ausgelassen, Länder, die um den geistlichen Landesherrn her einen reich dotirten Clerus besessen; in denen zahlreiche Erziehungsanstalten der Jugend, drei Universitäten der Pflege der Wissenschaften sich angenommen, und in denen man Feiertage und Processionen abhielt, so viel es der Kirche einzusetzen beliebt. Das Meiste davon hatten freilich die Franzosen zerstört, aber das, worauf das Alles ursprünglich sich erbaut, Grund und Boden, und seinen Ertrag, und die darauf haftenden Abgaben an die Regierung haben sie zurücklassen müssen, und man sollte denken, daß der, welcher in den Genuß dieser Erträglichkeiten eingetreten, auch zu den darauf haftenden Leistungen einfachhin verpflichtet ist; wenigstens würde die alte Eigenthümerin kein Bedenken tragen, auf diese Bedingung hin wieder in den alten Besitzstand einzutreten.“11 animarum“ vom 16. Juli 1821, Mönchen-Gladbach 1926, bes. S. 55 – 57. – Zur gewohnheitsrechtlichen Ausbildung von Staatsleistungen aus dem evangelischen Kirchentum seit der Reformation: Holstein, Rechtsgrundlagen (Anh. 1), S. 161 – 187. 10 Zitat: Joseph v. Görres, Athanasius, 2. Aufl., Regensburg 1838, S. 51 f. 11  Görres, Athanasius (Fn. 10), S. 52.

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Je mehr die allgemeine Erinnerung daran verblaßt, wie der Staat sich durch kirchlichen Besitz bereichert hat, und je weniger der moderne Staat sich noch als „christlicher Staat“ zu begreifen vermag, desto leichter können die Staatsleistungen umgedeutet werden: vom Ausgleich vergangener Rechtsverluste zur Prämie auf gegenwärtiges Wohlverhalten. Der Staatsraison bietet sich die Chance, die wirtschaftliche Abhängigkeit zur politischen Abhängigkeit auszuweiten. Die „Temporaliensperre“ läßt sich als Beugemittel erproben, um Staatstreue und Regimehörigkeit der Kirchen zu erzwingen12. Auf der anderen Seite finden die Grundlagen des Dotationswesens bei einer geschichtsblinden Generation kein Verständnis mehr. Vollends werden die Staatsleistungen dem Laizismus zum Stein des Anstoßes: Verfilzung von Staat und Religion, Privilegierung der Großkirchen, Ausschluß der kleinen und der nicht historisch etablierten Religionsgemeinschaften, Versteinerung überalterter Rechts- und Machtpositionen. Hier verbünden sich Trennungsdenken, Egalisierungsstreben, Fortschrittsglaube, Affekt gegen Institutionen und Unduldsamkeit gegen Tradition zu gemeinsamem Widerstand13. Dazu gesellt sich das etatistische Sparsamkeitsprinzip, das auf einen glimpflichen Erfolg hofft, wenn über die Kirche mit ihrem Guten Magen das Fasten verhängt wird.

12  Exemplarisch ist die Temporaliensperre durch Preußen im Kulturkampf (Gesetz betreffend die Einstellung der Leistungen aus Staatsmitteln für die römisch-katholischen Bisthümer und Geistlichen v. 22. 4.1875). Dazu Ernst Rudolf Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, Bd. 4, Stuttgart, Berlin, Köln, Mainz 1969, S. 697 – 699, 734 – 736. 13  Ausdruck der neo-laizistischen Tendenzen war das „FDP-Kirchenpapier“ von 1973, das ein Auslaufen der Staatsleistungen und die Beseitigung der steuer- und gebührenrechtlichen „Sondervorteile“ der Kirchen und Religionsgemeinschaften forderte (Freie Kirche im freien Staat, in: liberal 1973, S. 694 [697]). Vgl. aus damaliger Zeit auch: Silke GerigkGroht/Ingrid Matthäus u. a., Trennung von Kirche und Staat (Hrsg.: Deutsche Jungdemokraten, Landesverband NRW). Typoskript, Düsseldorf 1973, S. 48 ff. – Mit beredtem Schweigen wird das Thema Staatsleistungen übergangen in den Verfassungsmodellen linker Kreise: im Entwurf der „Verfassung der Deutschen Demokratischen Republik“ vom 4. 4. 1990, erstellt von der Arbeitsgruppe „Neue Verfassung der DDR“ des Zentralen Runden Tisches (in: KritVj 1990, S. 167 ff.), sowie im „Verfassungsentwurf für den Bund deutscher Länder“ vom 29. 6. 1991 (in: Eine Verfassung für Deutschland. Hrsg. von Bernd Guggenberger u. a., München, Wien 1991). – In der Gemeinsamen Verfassungskommission von Bundestag und Bundesrat unternahm der Abg. Dr. Wolfgang Ullmann (Bündnis 90/ Die Grünen) einen erfolglosen, von der ganz überwiegenden Mehrheit der Kommission abgelehnten Vorstoß, den Art. 140 GG, „ein Relikt aus vordemokratischen Zeiten“, auch wegen der Staatsleistungen, abzuschaffen (18. Sitzung am 4. 3. 1993, Sten. Ber., S. 9 f.; Kommissionsdrucksache Nr. 37, in: BT-Drucks. 12/6000, S. 106 ff.; Wortlaut des Antrags ebd., S. 149). Transformation der laizistischen Bestrebungen in die verfassungsrechtliche Exegese des Art. 138 Abs. 1 WRV (Art. 140 GG): Brauns, Staatsleistungen (Anh. 2); Ulrich K. Preuß, in: Grundgesetz-Alternativ-Kommentar, 2. Aufl., Neuwied 1989, Art. 140 Rn. 60 ff.

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II.  Die zwiespältige Verfassungsentscheidung: Ablösungsauftrag und Bestandsgarantie Die alte laizistische Forderung, daß für die Kirche keine öffentlichen Mittel aufgewendet werden sollten, erhob sich auch in der Weimarer Nationalversammlung14. Auf den ersten Blick scheint es, als habe diese Idee in dem Verfassungsauftrag, die Staatsleistungen abzulösen, einen Teilsieg errungen. Der zweite Blick lehrt, daß noch nicht einmal von einem Pyrrhussieg die Rede sein kann. Die Initiative dazu, die Staatsleistungen in der Reichsverfassung zu regeln, geht vom kirchenfreundlichen Flügel der Konstituante aus15, alarmiert von der Entwicklung einzelner Länder, in denen nach der Revolution kirchenfeindliche Regierungen dazu übergingen, die staatlichen Subsidien einzustellen. Da von den Ländern Gefahr droht, soll nunmehr das Reich die Garantie für den Fortbestand oder zumindest den Schutz gegen entschädigungslose Beseitigung übernehmen16. Dieses Konzept setzt sich bei der Verfassunggebung durch. Die endgültige Fassung des Art. 138 Abs. 1 WRV weist zwar eine andere Akzentuierung auf als der erste Vorschlag – die ursprünglich vorgesehene bloße Ablösungsmöglichkeit wird zur Ablösungspflicht gesteigert17 – trotzdem bleibt die politische wie die redaktionelle Handschrift des Initiativantrags weiterhin zu erkennen18. 14  Die Forderung entspricht dem traditionellen Programm der Sozialdemokratie (Punkt 6 des Erfurter Programms von 1891). Das Postulat wurde in die Verfassungsberatungen eingebracht vom SPD-Abg. Meerfeld (Sten. Ber. d. NatVers., Bd. 336, S. 188). – Stellung der politischen Parteien zum Problem der Staatsleistungen vor und in den Weimarer Verfassungsberatungen: Carl Israël, Geschichte des Reichskirchenrechts, Berlin 1922, insbes. S. 33 – 35, 47 f., 55 (Nachw. aus den Weimarer Materialien); Brauns, Staatsleistungen (Anh. 2), S.  36 – 40, 84 – 88. 15  Bei der ersten Lesung der Preuß’schen Verfassungsvorlage forderten Zentrum und Rechtsparteien gemeinsam, die Staatsleistungen sollten, soweit sie durch Gesetz, Vertrag oder besondere Rechtstitel festgelegt seien, auf die Dauer erhalten bleiben oder es solle eine angemessene Entschädigung erfolgen (vgl. Israël, Geschichte [Fn. 14], S. 11). Die Initialzündung bewirkten die übereinstimmenden Anträge von Gröber (Zentrum) und Genossen sowie von Kahl (DVP) und Genossen: „Art. 30 b: Die Religionsgemeinschaften bleiben im Besitz der für ihre Kultus-, Unterrichts- und Wohltätigkeitszwecke bestimmten Anstalten, Stiftungen und Fonds. Dasselbe gilt für die auf Gesetz, Vertrag oder besonderen Rechtstiteln beruhenden Staatsleistungen, sofern nicht eine im Gesetz vorgesehene oder frei vereinbarte Ablösung erfolgt“ (Anträge Nr. 91, 92: Sten. Ber. d. NatVers., Bd. 336, S. 175 f.). 16  Zu den zeitgeschichtlichen Hintergründen und Motiven: Israël, Geschichte (Fn. 14), S. 11 f., 14 – 20, 47, 55; Brauns, Staatsleistungen (Anh. 2), S. 39 f. 17  Zugleich wurde im Unterschied zum Antrag Gröber/Kahl (Fn. 15) die Ablösungsdirektive vor die Kirchengutsgarantie gerückt. 18  Die abschließende Fassung des Staatsleistungs-Artikels geht auf den Antrag von Meerfeld (SPD) und Naumann (DDP) zurück, den Exponenten des laizistischen Lagers in der Nationalversammlung (Antrag Nr. 96, Sten. Ber. d. NatVers., Bd. 336, S. 199).

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Der ersatzlose Wegfall der Staatsleistungen wird nunmehr von Verfassung wegen ausgeschlossen. Auch eine Ablösung kann die wirtschaftliche Lebensfähigkeit der Kirchen nicht bedrohen19. Vor allem ist gewährleistet, daß bis zum Zeitpunkt der Ablösung der vorkonstitutionelle Besitzstand nicht angetastet wird; dieser Rechtssachverhalt wird eigens durch eine (vom Grundgesetz nicht rezipierte) Übergangsvorschrift – Art. 173 WRV – klargestellt20. Auf der anderen Seite macht sich die Weimarer Verfassung mit der Ablösungsdirektive auch das Programm zu eigen, daß die vermögensrechtliche Beziehung zwischen Staat und Kirche entflochten, die finanzielle Vorzugsstellung der Großkirchen abgebaut werde, und daß eine Flurbereinigung unter den überkommenen Rechtstiteln stattfinde21. Durch die staatskirchenrechtliche Motivation hindurch wirkt ein allgemeiner rechtsstaatlicher Impuls: das Unbehagen an einer traditionalen Grundlegung und das Drängen auf rationale Legitimation 22. Die Distanzierung von Staat und Kirche soll jedoch nicht zum Kulturkampf führen; die Konkordanz-Maxime lautet: „keine gewaltsame Trennung, sondern schiedlich-friedliche Einigung“23. Der verfassungsmäßige Endzustand besteht – nach Naumanns Wort in der Nationalversammlung – darin, daß „der Staat in Zukunft, nachdem einmal Inventur gemacht und Ablösung erfolgt ist, keine Mittel mehr für die Kirchen aufzuwenden hat“24. Diese Zukunft läßt allerdings noch nach einem dreiviertel Jahrhundert auf sich warten. Der Weimarer Verfassunggeber sieht also davon ab, den gordischen Knoten der staatskirchenrechtlichen Verwicklungen mit revolutionärem Schwertstreich durchzuhauen. Er unterzieht sich aber auch nicht der Mühe, diesen geduldig zu entwirren. Vielmehr schiebt er diese Aufgabe dem Gesetzgeber zu und vertagt sie damit – wie es scheint, nachdem die Legislative auch unter erneuertem Verfassungsauftrag nicht zur Tat geschritten ist – ad Calendas Graecas. Die bisher 19 Darüber bestand Konsens in der Nationalversammlung. Vgl. Israël, Geschichte (Fn. 14), S. 33 – 35, 55 (Nachw.); Denkschrift (Anh. 1), S. 10 – 13. 20 Wortlaut des Art. 173 WRV: „Bis zum Erlaß eines Reichsgesetzes gemäß Artikel 138 bleiben die bisherigen auf Gesetz, Vertrag oder besonderen Rechtstiteln beruhenden Staatsleistungen an die Religionsgesellschaften bestehen.“ 21 Dazu Israël, Geschichte (Fn. 14), S. 12, 55; ders., Reich (Anh. 1), S. 18 – 24; Huber, Garantie (Anh. 1), S. 4 – 6. 22 Vgl. Max Webers Unterscheidung von „traditioneller“ und „legaler“ Legitimation, in: Wirtschaft und Gesellschaft, 1. Hbbd., Tübingen 1956, S. 157 – 178. 23  So die Formulierung des Trennungsgedankens durch den Abg. Meerfeld (Sten. Ber. d. NatVers., Bd. 336, S. 188). Die ratio der Ablösungsdirektive gibt der Abg. Naumann treffend wieder: „Jene alten Verpflichtungen der Staaten, die einst entstanden aus Säkularisationen etwa vom Rastatter Tage oder von den preußischen Kirchenentnahmen während der Freiheitskriege oder aus späteren Verschiebungen, sollen auf einen gerechten Ausgleichszustand gebracht werden“ (Sten. Ber. d. NatVers., Bd. 328, S. 1654). 24  Sten. Ber. d. NatVers., Bd. 336, S. 191.

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einzigen ernsthaften Vorarbeiten wurden vom Reichsministerium des Innern unternommen: 1924 arbeitete es einen Referentenentwurf für ein Ablösungsgesetz aus. 1929 bat es die obersten Kirchenbehörden, Unterlagen bereitzustellen25. Unmittelbare Rechtswirkungen entfaltet dagegen der in Art. 138 Abs. 1 WRV angelegte Schutz der vorkonstitutionell begründeten Staatsleistungen. Da der Besitzstand nur unter den formellen und materiellen Bedingungen der Verfassungsdirektive umgestaltet werden darf, schirmt der Reformimperativ – List einer konservativen Vernunft – im Ergebnis den Status quo ab. Der Veränderungsauftrag erweist sich als Vehikel einer Veränderungssperre26. Der Ablösungsbefehl, den Carl Schmitt treffend als Prototyp eines „dilatorischen Formelkompromisses“ (im Unterschied zu einem echten, aktuellen Sachkompromiß) analysiert hat27, schafft eine Bestandsgarantie auf Widerruf zugunsten der geschichtlich gewordenen Staatsleistungen.

B.  Das Rechtsinstitut der Staatsleistung I.  Begriff 1.  Objekt der Ablösung a)  Die Rechtsfigur der Staatsleistung ist in das geltende Verfassungsrecht eingetreten als Objekt der Ablösung. Von deren Funktion und Zweck her läßt sich der Begriff erfassen. Da die Ablösung ein Verfahren zur vermögensrechtlichen Neuordnung darstellt, kann sie sich nur auf vermögenswerte Positionen beziehen28. Folglich scheiden aus dem Blickfeld des Art. 138 Abs. 1 WRV die immateriellen Vorteile aus, wie sie die Kirchen auf Grund ihres Korporationsstatus (Dienstherrenfähigkeit, Vereidigungsrecht, Vollstreckungsschutz usw.) genießen29. 25 s. W. Weber, Ablösung (Anh. 2), S. 2 Fn. 5. – Schon bei den Verfassungsberatungen hatte sich der Abg. Meerfeld keine Illusion darüber gemacht, daß die Ablösung wegen der nötigen umfangreichen Vorarbeiten „nicht von heute auf morgen“ erfolgen werde (Sten. Ber. d. NatVers., Bd. 336, S. 206). 26  Analoge Rechtswirkungen entfalten die Verfassungstatbestände der Grundrechtsverwirkung (Art. 18 GG) und des Parteiverbots (Art. 21 Abs. 2 GG): Eingriffsermächtigungen, die ein exklusives, anspruchsvolles Verfahren vorsehen, erweisen sich in der Verfassungsrealität als Privileg und Garantie jener Zustände, die sie beseitigen sollen. Zur Schutzfunktion dieser Rechtsentzugstatbestände s. die Judikatur des BVerfG bei Gerhard Leibholz/Hans Justus Rinck, Grundgesetz. 7. Aufl., Köln, Stand 1993, Art. 18 Rn. 2; Art. 21 Rn. 13. 27  Carl Schmitt, Verfassungslehre, 4. Aufl., Berlin 1928, S. 32 – 34. 28  Denkschrift (Anh. 1), S. 13; Huber, Garantie (Anh. 1), S. 61 (Anlehnung an § 241 BGB); Zündorf, Ablösung (Anh. 2), S. 34 – 36. 29 Die Staatsleistungen folgen nicht aus dem Korporationsstatus (Art. 137 Abs. 5 WRV) der Kirchen. Vgl. Brauns, Staatsleistungen (Anh. 2), S. 99 f.

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b)  Der Verfassungsauftrag, der auf eine Umgestaltung und Adaptierung des vorgefundenen staatskirchenrechtlichen Zustandes zielt, ergreift nur solche Vermögensrechte der Religionsgesellschaften, die in den Besonderheiten der vorkonstitutionellen Staat-Kirchen-Beziehungen gründen30. Nur diese bieten der Trennungsidee einen Ansatz. Außerhalb dieses Bereichs halten sich die Ansprüche, die sich aus der Teilnahme am allgemeinen privatrechtlichen Verkehr ergeben. Damit scheiden jedoch nicht alle privatrechtlichen Zuwendungen aus dem Zugriff der Ablösung aus. „Verwaltungsprivatrechtliche“ Staatsleistungen sind möglich31, nicht aber (im strengen Sinne) fiskalische32. Außerhalb der Reichweite des Art. 138 Abs. 1 WRV verbleiben Aufwendungen, die der Staat auf Grund eines – nichthoheitlichen – Patronats erbringt; hier unterscheidet er sich nicht von einem Privaten in entsprechender Rolle33. c) Einer Ablösung – mithin der Subsumtion unter den Begriff „Staatsleistung“ – entziehen sich befristete Verpflichtungen, die sich durch Zeitablauf erledigen. Das gleiche gilt für einmalige Leistungen. Diese sind nicht abzulösen, sondern zu erfüllen34 (etwa die Pflicht zur Realdotation durch Übereignung von Grundstücken35). Der Verfassungsbefehl, die vermögensrechtliche Verschränkung von Staat und Kirche zu beseitigen, ergreift nur Sukzessiv-Leistungsverhältnisse, die auf Dauer angelegt sind.

30 s. Berner, Staatsleistungen (Anh. 1), S. 83; Huber, Rezension (Anh. 1), S. 150; W. ­Weber, Ablösung (Anh. 2), S. 47 f.; Zündorf, Ablösung (Anh. 2), S. 45 – 47. 31 Nach Berner allerdings sollen sich die „historischen“ Privatrechtstitel in öffentlichrechtliche umgewandelt haben (Staatsleistungen [Anh. 1], S. 85). 32 Vgl. Huber, Garantie (Anh. 1), S. 62 f.; ders., Rezension (Anh. 1), S. 150; Berner, Staatsleistungen (Anh. 1), S. 83 f.; Denkschrift (Anh. 1), S. 16. 33  Die Weimarer Verfassungsberatungen gingen davon aus, daß Art. 138 Abs. 1 WRV nicht in die (Privat-Patronate eingreifen solle (Nachw.: Israël, Geschichte [Fn. 14], S. 41 f.). Vgl. auch: Huber, Garantie (Anh. 1), S. 63; J. Heckel, Rezension (Anh. 1), S. 862; W. Weber, Ablösung (Anh. 2), S. 48. 34 Allgemeine Meinung: RGZ 113, 349 (352); StGH, in: RGZ 118, Anh. S. 1 (15); Berner, Staatsleistungen (Anh. 1), S. 85; Huber, Garantie (Anh. 1), S. 59, 83 f., 103; Denkschrift (Anh. 1), S. 14; W. Weber, Ablösung (Anh. 2), S. 50 f. 35  Beispiele für Pflichten zu Realdotationen: Art. IV Abs. 1, Art. V Abs. 1 BayK v. 5. 6. 1817; Art. 10 § 1 a BayK v. 29. 3. 1924. – Wenn die Realdotation als solche keine Leistung i. S. des Art. 138 Abs. 1 WRV ist, so können auch nicht die bis zu deren Erfüllung vorläufig gewährten Zahlungen unter die Ablösungspflicht fallen (so W. Weber, Ablösung [Anh. 2], S. 50 f.; a. A. Huber, Garantie [Anh. 1], S. 82 – 84). Der Anspruch auf die Interims-Geldleistungen steht aber unter dem Schutz des Art. 138 Abs. 2 WRV (Art. 140 GG), falls die tatbestandsmäßigen Verwendungszwecke vorliegen, und unter dem Schutz des Art. 14 GG. Die provisorischen Zahlungen fallen allerdings dann unter die Ablösungsnorm, wenn der Anspruch auf wiederkehrende Leistungen den auf „Fundierung“ durch Novation ersetzt hat (so Ridder, Wiederaubaupflichten [Anh. 2], S. 147).

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d)  Kein Gegenstand einer künftigen Ablösung sind jene Agenden, die bereits durch aktuellen Verfassungsbefehl aufgehoben worden sind. So sind die Staatsfunktionen, die der vorkonstitutionellen Kirchenhoheit entstammen, mit der Gewährung des Selbstbestimmungsrechts der Kirchen (Art. 137 Abs. 3 WRV) entfallen, ohne daß es dazu noch eines gesetzgeberischen Zutuns bedürfte. Als Objekt einer Ablösungsgesetzgebung verblieben sind allerdings die administrativen Dienstleistungen, die mit der Ausübung des Staatskirchenregiments verbunden gewesen sind36. Denn die Emanzipation der Kirchen sollte nicht mit wirtschaftlichen Einbußen bezahlt werden. e)  Auf der anderen Seite will die Verfassung nicht die Förderung solcher Einrichtungen einstellen, die gerade vom geltenden Staatskirchenrecht konstituiert werden: Religionsunterricht, theologische Fakultäten, Militär- und Anstaltsseelsorge, Kirchensteuer37. Der Ablösungsauftrag beschränkt sich auf Pflichten, deren Grundlagen überwundenen und überholten staatskirchenrechtlichen Systemen entstammen. Nur hier hat die Anpassungsdirektive des Art. 138 Abs. 1 WRV Sinn. 2.  Abgrenzung zur Subvention Damit ist im wesentlichen bereits die Begründung dafür vorweggenommen, daß die Subvention, wie sie sich im heutigen Wirtschafts- und Kulturverwaltungsrecht ausgebildet hat, keine Staatsleistung sein kann38. Diese zwei Rechtsfiguren müssen auseinandergehalten werden, zumal die Religionsgesellschaften Zuwendungen beiderlei Art bekommen. Subventionen nehmen sie etwa entgegen in ihrer Eigenschaft als Akteure der Sozial- und Jugendhilfe, der Privatschule, Erwachsenenbildung und Denkmalpflege, also im staatskirchenrechtlichen Aufgabenkreis der res mixtae39. Ein lediglich akzidentieller Unterschied liegt darin, daß Staatsleistungen eine dauerhafte Rechtspflicht der öffentlichen Hand voraussetzen, während die Subventionsvergabe häufig Ermessenssache ist und Subventionsbeziehungen zumeist 36  Aufschlußreiches Beispiel in RGZ 113, 349 (402 f.): Zur Doppelwirkung der staatlichen Kircheninspektion – als Eingriff in die kirchliche Selbstverwaltung und als Unterstützung der Kirche durch den Staat. Vgl. auch Huber, Garantie (Anh. 1), S. 105. 37 Zutreffend: W. Weber, Ablösung (Anh. 2), S. 53, 56. 38  Die Staatsleistung wird gegen die Subvention abgegrenzt von: Scheuner, Bestand (Anh. 2), S. 391; Brauns, Staatsleistungen (Anh. 2), S. 101 f.; Josef Isensee, Die Finanzquellen der Kirchen im deutschen Staatskirchenrecht, in: JuS 1980, S. 96 ff. 39 Die Förderung der Kirchen und Religionsgemeinschaften bei der Wahrnehmung säkular-gemeinnütziger Interessen sehen vor die Verfassungen des Freistaates Sachsen (Art. 110 Abs. 1) und des Landes Sachsen-Anhalt (Art. 32 Abs. 3). Aus der Literatur: Martin Heckel, Staat – Kirche – Kunst. Tübingen 1968, S. 179 ff.; Roland Wegener, Staat und Verbände im Sachbereich Wohlfahrtspflege, Berlin 1978, S. 279 ff.

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befristet oder widerruflich sind40. Immerhin neigt auch die Subvention dazu, sich rechtlich zu verfestigen und zu verewigen. – Die wesentliche Besonderheit der beiden Rechtsfiguren läßt sich auch nicht mit der Unterscheidung erfassen, daß die Staatsleistung zur Bestreitung des Kulturaufwandes diene, die Subvention aber auf säkulare öffentliche Zwecke ausgerichtet sei41. Freilich trifft zu, daß die Staatsleistung einen Unterhaltsbeitrag zur Bestreitung kirchlicher Bedürfnisse darstellt42 und sich nicht unmittelbar an den eigentlich staatlichen Aufgaben ausrichtet. Gleichwohl ist auch der religiös-kirchliche Bereich nicht schlechthin der Finanzhilfe im modernen Sinne versperrt43. Der eigentliche Unterschied liegt darin, daß die Staatsleistung sich aus einer in der Vergangenheit liegenden Rechtsgrundlage rechtfertigt, die Subvention dagegen aus einem künftig zu verwirklichenden öffentlichen Interesse44. Das eine Rechtsinstitut dient der Tilgung von Altlasten des Staates, das andere der Erfüllung heutiger Staatsaufgaben. Dort geht es um Entschädigung, hier um Förderung. Jene Zuwendung ist kausal legitimiert, diese final. Die Kirche erhält Staatsleistungen, weil sie für den Staat hat Opfer bringen müssen, Subventionen aber, damit sie Dienste erbringt, die dem staatlichen Gemeinwesen zugute kommen. Im ersten Falle hat die Kirche das Ihre längst vorgeleistet, im zweiten steht es noch aus. Staatsleistung und Subvention sind keine konvertiblen Formen der Zuwendung. Letztere ist kein angemessenes Äquivalent für erstere, damit kein angemessenes Mittel für die von Verfassungs wegen vorgesehene Ablösung45. Die Staatsleistung bildet im Gegensatz zur Subvention kein Lenkungsmittel. Wenn die öffentliche Hand Zuschüsse zur Besoldung der Domgeistlichen gibt oder Gebäude zu gottesdienstlichen Zwecken bereitstellt, so sind damit nicht 40 Dieser Unterschied wird überakzentuiert von Brauns, Staatsleistungen (Anh. 2), S. 101 f. 41  Zu den säkularen Wirkungen kirchlichen Handelns für das staatliche Gemeinwohl: Josef Isensee, Verfassungsstaatliche Erwartungen an die Kirche, in: EssGespr. 25 (1991), S. 104 ff. 42  Definition der Staatsleistung: RGZ 111, 134 (144). Vgl. auch Lentz, in: Geiler/Kleinrahm/Fleck, Die Verfassung des Landes Nordrhein-Westfalen, 2. Aufl., Göttingen 1963, S. 164 f. 43  Siehe unten G. IV. 44  Zur Legitimation der Subvention allgemein: § 14 HGrG. Aus der Lit. dazu: Hans Peter Ipsen, Öffentliche Subventionierung Privater, in: DVBl. 1956, S. 462 f., 466, 504; ders., Verwaltung durch Subventionen, in: VVDStRL 25 (1967), S. 281, 287; Hans F. Zacher, ebd., S. 317 ff. – Zur Legitimation von Zuschüssen an die Kirche aus öffentlichen Interessen: Art. 110 Abs. 1 SächsVerf. Vgl. auch Isensee, Finanzquellen (Fn. 38), S. 97; Hermann Weber, Die rechtliche Stellung der christlichen Kirchen im modernen demokratischen Staat, in: ZevKR 36 (1991), S. 263 f. 45  Näher unten D. II.

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staatliche Verwaltungsziele bezeichnet, sondern kirchliche Unterhaltsbedürfnisse. Der Staat erhält nicht – wie bei der Subventionsvergabe – die Möglichkeit, die zweckgerechte Verwendung der Leistungen zu erzwingen und zu überwachen, weil die Zweckerfüllung außerhalb seines Interessen- und Pflichtenkreises liegt. Er ist daher nicht befugt, bei Dotationen haushaltsrechtliche Verwendungsnachweise zu fordern, wie sie bei Subventionen nach staatlichem Haushaltsrecht vorgesehen werden46.

II.  Arten Der geschichtliche Wildwuchs der Staatsleistungen fügt sich in keine geschlossene Systematik. 1.  Verwendungszwecke Eine Typologie, die auf die kirchlichen Verwendungszwecke abstellt, weist folgende Arten der Leistungen auf: – Leistungen für den persönlichen und sachlichen Bedarf der allgemeinen kirchlichen Verwaltung (Evangelische Oberkirchenräte, Konsistorien, Superintendenten, bischöfliche Stühle, Domkapitel, bischöfliche Anstalten); – Leistungen für Ausbildung, Besoldung und Versorgung der Geistlichen sowie anderer Kirchenbeamter (Beispiele: Pfarrbesoldungszuschüsse, Stolgebührenentschädigungen, Dotationskapitalien für neu errichtete oder ungenügend dotierte Pfarrstellen); – Aufwendungen für sonstige kirchliche Bedürfnisse: darunter Deckung des Gesamtbedarfs einzelner Kirchengemeinden und Stiftungen, vor allem von Domkirchen; subsidiäre Leistungen für die Gesamtbedürfnisse einer Landeskirche47.

46 Die haushaltsrechtlichen Verwendungsnachweise (vgl. § 26 Abs. 1 HGrG, § 44 Abs. 1 BHO) für Dotationen werden durch einzelne Kirchenverträge ausgeschlossen (vgl. Art. 16 Abs. 3 S. 3 NiedersKV; § 9 Abs. 1 S. 2 Anlage z. NiedersK; Schl.Prot. zu Art. 15 Abs. 5 Sachs.-Anh. KV). Derartige Vereinbarungen sind nur deklaratorisch. Haushaltskontrollen widersprechen dem Sinn der Dotation. (Vgl. Duske, Dotationspflicht [Anh. 1], S.  71 – 73; Brauns, Staatsleistungen [Anh. 2], S. 135). 47  Die Typologie folgt den Gliederungen der Denkschrift (Anh. 1), S. 30 – 33, und Breitfelds (Auseinandersetzung [Anh. 1], S. 60 – 68). Weitere Übersichten nach dem Zweck bieten (teils auf ein Land, teils auf eine Kirche bezogen): Niedner, Ausgaben (Fn. 2), S. 4 – 20, 251 – 319; Duske, Dotationspflicht (Anh. 1), 8.81 – 117.

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2.  Rechtsform Der Rechtsform nach können Staatsleistungen dem öffentlichen Recht oder dem (Verwaltungs-)Privatrecht angehören48. 3.  Natural- und Geldleistungen Nach der Art der Aufwendungen lassen sich Natural- und Geldleistungen unterscheiden49. Das Bild wird heute von den Geldleistungen bestimmt. Sie ersetzen zunehmend die Rückstände des naturalwirtschaftlichen Zeitalters, die den traditionellen Vermögensbeziehungen zwischen Kirche und Staat die eigentümliche Buntheit verliehen haben: etwa Lieferung von Holz und Getreide aus Forstärar und Domänen, Stellung von Meßwein, Kerzen und sonstigen Gegenständen des gottesdienstlichen Bedarfs50. Naturalleistungen können sowohl Sach- als auch Dienstleistungen umfassen. Praktisch bedeutsam geblieben ist die Bereitstellung von Räumen für den Gottesdienst. Die Baulast für kirchlich genutzte Gebäude ist dagegen in ihrer praktischen Bedeutung eine Finanzierungsaufgabe für die öffentliche Hand, also eine Geldleistung51. 4.  Betrags- und Bedarfsleistungen – insbesondere Kirchenbaulasten Zwei Typen der Leistungsbemessung sind zu unterscheiden: die „Betragsleistung“, die nach Gegenstand, Umfang und Fälligkeit objektiv (unabhängig vom aktuellen Bedarf des Destinatars) festliegt, und die „Bedarfsleistung“, die nach dem wechselnden Bedarf des Leistungsempfängers bemessen wird52. Typischer Fall der Bedarfsleistung ist die Kirchenbaulast, die Pflicht also, ein kirchliches Gebäude zu errichten, zu unterhalten, zu ändern und gegebenenfalls wiederherzustellen53. Inhalt und Umfang dieser Last folgen den wechselnden Be48 Dazu: J. Schmitt, Ablösung 1921 (Anh. 1), S. 37; Huber, Garantie (Anh. 1), S. 61, 62 f.; Müssener, Ansprüche (Fn. 9), S. 57 f.; W. Weber, Ablösung (Anh. 2), S. 48. 49  Dazu: RGZ 111, 134 (137); 113, 349 (398 f.); Denkschrift (Anh. 1), S. 37 – 48; Berner, Staatsleistungen (Anh. 1), S. 84; W. Weber, Ablösung (Anh. 2), S. 53 – 56. 50  Zu den faktischen Ablösungen: W. Weber, Ablösung (Anh. 2), S. 53 f. 51 Vgl. Nikolaus Wiesenberger, Kirchenbaulasten politischer Gemeinden und Gewohnheitsrecht, Berlin 1981, S. 31 ff.; Werner J. Schmitt, Zur Rechtslage der staatlichen Kirchenbaulasten, in: ArchKathKR 152 (1983), S. 510 f. – Zum Schutz der Bauten durch Art. 138 Abs. 1 WRV (Art. 140 GG): Helmut Lecheler, Der Gegenstand der staatlichen Baulast nach dem gemeinen Recht, in: FS für Klaus Obermayer, München 1986, S. 217 (219); Link, Rechtsprobleme (Anh. 2), S. 208 f. 52  Dazu: Denkschrift (Anh. 1), S. 48 – 66; W. Weber, Ablösung (Anh. 2), S. 56 – 59. – Die Unterscheidung Bedarfs- und Betragsleistung hängt mit der (heute überholten) Distinktion zwischen Alimentation (Unterhalt) und Dotation (Ausstattung) zusammen – dazu Duske, Dotationspflicht (Anh. 1), S. 71 – 73.

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dürfnissen. Diese Dynamisierung umschreibt das Preußische Oberverwaltungsgericht in seinem Urteil vom 11. Dezember 1908: „Soll aber das Kirchengebäude für alle Zeiten dem Gottesdienste genügen können, so sind die Verbindlichkeiten, welche die zu seiner Unterhaltung Verpflichteten zu erfüllen haben, nach dem Maße der jeweiligen Bedürfnisse, nicht aber nach dem Maße der Bedürfnisse zu bestimmen, welche beim Erlasse des Gesetzes bestanden“.54 Die gottesdienstlichen Bedürfnisse erwachsen aus dem Selbstverständnis der Kirche. Mit der Liturgiereform des Zweiten Vatikanischen Konzils ergibt sich das Erfordernis, den Chorraum des katholischen Gotteshauses umzugestalten. Die Maßnahme wird von der Baulast gedeckt. Das gilt auch für die Erweiterung kirchlicher Gebäude bei wachsendem seelsorgerischen Bedarf55 oder für die Anpassung der Wohnungen an heutigen Standard (Zentralheizung). Die Baulast umschließt die Pflicht, ein ruiniertes Gebäude wiederherzustellen; so obliegt dem Land oder der Gemeinde die Pflicht, einen kriegszerstörten Sakralbau neu zu errichten56. Die Wiederaufbaupflicht umfaßt die wesentlichen Bestandteile und das für die heutige kirchliche Nutzung in der Hauptsache notwendige Zubehör (Altäre, Kirchengestühl, Glocken etc.), und zwar, soweit die Kirche darauf beharrt, in ihrer vormaligen Gestalt. Nicht dazu gerechnet wird allerdings „luxuriöses“ Zubehör, soweit sich dieses im Einzelfall ausgrenzen läßt (Deckenstuck der Barockkirche)57. Doch hier tritt vielfach der Denkmalschutz auf den Plan, ein säkulares, öffentliches Interesse also, das die Kirchenbaulast teils unterfängt, teils ergänzt. Bei chronischem Schrumpfen oder bei endgültigem Wegfall des kirchlichen Bedarfs schrumpft oder endet die Baulast als Staatsleistung. 53

5.  Positive und negative Staatsleistungen Dem bürgerlichrechtlichen Begriff der Leistung, die in einem Tun oder Unterlassen bestehen kann (§ 241 BGB), entspricht die Unterscheidung zwischen „positiven“ und „negativen“ Staatsleistungen58. Hier handelt es sich um Zuwen53  Allgemein zum Recht der Kirchenbaulast: HdbBayStKirchR, S. 172 ff. (Nachw.); Hartmut Böttcher, Art und Rechtsgrund kommunaler Kirchenbaulasten, in: FS für Klaus Obermayer (Fn. 51), S. 155 ff.; Siegfried Zängl, Staatliche Baulast an Kultusgebäuden im Rechtskreis des gemeinen Rechts, in: BayVBl. 1988, S. 609 ff., 649 ff. 54 PreußOVG 53, 226 (229). Weitere Nachw. aus der älteren Rechtsprechung: W. J. Schmitt, Zur Rechtslage (Fn. 51), S. 512. 55 Zutreffend W. J. Schmitt, Zur Rechtslage (Fn. 51), S. 512; vgl. auch PreußOTr., Urt. v. 29.9. und 14. 10. 1871, Bd. 66, 153 (179). 56  Grundlegend HessVGH, in: KirchE 5, 341 (350 f.) m. w. N. Vgl. auch Ridder, Wiederaufbaupflichten (Anh. 2), S. 154 ff. 57 Dazu Lecheler, Gegenstand (Fn. 51), S. 223 ff.; Zängl, Baulast (Fn. 53), S. 649 ff., 651 ff. 58  Seit der richtungweisenden Entscheidung des RG v. 20. 6. 1925 (RGZ 111, 134 – 146) wird die Existenz der negativen Staatsleistungen von einer gefestigten Rechtsmeinung an-

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dungen öffentlicher Mittel, dort um die Verschonung von öffentlichen Lasten, vornehmlich von Steuern und sonstigen Abgaben59. Ein Analogieschluß zu § 241 BGB reicht freilich nicht aus, um die hergebrachten Abgabenprivilegien dem Garantiebereich des Art. 138 Abs. 1 WRV zuzuordnen. Hier ist teleologische Auslegung geboten. Die Entlastung der Kirchen im Abgabenrecht hat vergleichbare Wirkungen für die Subsistenz der Kirchen wie die Zuwendung von Mitteln. Die wirtschaftliche Grundlage der Kirchen, die von Verfassungs wegen sichergestellt werden soll, hängt ab von den positiven wie den negativen Faktoren. Eine ersatzlose Beseitigung der Abgaben-Immunitäten könnte die gleiche Wirkung zeitigen wie eine Temporaliensperre. – Die negativen Staatsleistungen bedürften allerdings dann nicht des Schutzes durch die provisorische Bestandsgarantie des Art. 138 Abs. 1 WRV, wenn sie mit dem Korporationsstatus der Kirchen verbunden und deshalb bereits von Verfassungs wegen (Art. 137 Abs. 5 WRV) auf Dauer gewährleistet wären60. Diese Voraussetzung ist aber nicht erfüllt, weil die Qualität einer Körperschaft des öffentlichen Rechts nicht notwendig Abgabenbefreiungen einschließt. Der Korporationsstatus rechtfertigt eine finanzielle Vorzugsstellung61, jedoch fordert er sie nicht. erkannt: So RG, Beschl. v. 10. 10. 1927, in: Lammers-Simons, Bd. 1, S. 538 = JW 1927, S. 2852, und JW 1928, S. 64 (mit zust. Anm. von Edgar Tatarin-Tarnheyden, ebd.) = W. Weber, Ablösung (Anh. 2), S. 89 f.; RG, Beschl. v. 13. 7. 1931, in: Lammers-Simons, Bd. 4, S. 306 = W. Weber, Ablösung (Anh. 2), S. 90 f.; BVerfGE 19, 1 (13 – 16); BFHE 159, 207 (208 f.); Gerhard Anschütz, Die Verfassung des Deutschen Reichs vom 11. August 1919, 14. Aufl., Berlin 1933 (Nachdr. Darmstadt 1965), Art. 138, Anh. 2; Berner, Staatsleistungen (Anh. 1), S. 84; Denkschrift (Anh. 1), S. 37; Duske, Dotationspflicht (Anh. 1), S. 11; J. Heckel, Rezension (Anh. 1), S. 863; Liermann, Kirchenrecht (Fn. 3), S. 371; W. Weber, Ablösung (Anh. 2), S. 51 – 53; ders., Staatsleistungen (Anh. 2), Sp. 316; Hollerbach, Anmerkung (Anh. 2), in: JZ 1965, S. 614; Zündorf, Ablösung (Anh. 2), S. 47 – 50; Wehdeking, Kirchengutsgarantien (Anh. 2), S. 113; Scheuner, Bestand (Anh. 2), S. 386; v. Campenhausen, Staatskirchenrecht (Fn. 3), S. 196; Lipphardt, Staatsleistungen (Anh. 2), S. 410 ff.; Paul Mikat, Staat, Kirchen und Religionsgemeinschaften, in: HdbVerfR, S. 1084 f.; Axer, Steuervergünstigungen (Anh. 2), S. 467 ff.; Peter Weides, Die Religionsgemeinschaften im Steuerrecht, in: FS der Rechtswissenschaftlichen Fakultät zur 600-Jahr-Feier der Universität Köln, Köln usw. 1988, S. 915 f.; Preuß, in: GG-Alt.-Komm. (Fn. 13), Art. 140 Rn. 60. – Die Möglichkeit „negativer Staatsleistungen“ wird verneint von: Breitfeld, Auseinandersetzung (Anh. 1), S. 38 – 40; Huber, Rezension (Anh. 1), S. 150; Brauns, Staatsleistungen (Anh. 2), S. 41 – 63. 59  Eine solche Übersicht über die Steuervergünstigungen (die freilich nicht alle negative Staatsleistungen sind) geben: Axer, Steuervergünstigungen (Anh. 2), S. 460 ff.; Weides, Religionsgemeinschaften (Fn. 58), S. 885 ff. Eine Analogie findet sich in RGZ 111, 134 (138). Kritik: W. Weber, Ablösung (Anh. 2), S. 51. 60  Die Frage ist umstritten – ablehnend: Brauns, Staatsleistungen (Anh. 2), S. 45 mit Nachw. – Huber bejaht für die Freistellung von Steuern, soweit ein Anspruch der Kirche zugrunde liegt, den Schutz des Art. 138 Abs. 2 oder Art. 153 Abs. 1 WRV (Rezension [Anh. 1], S. 150).

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Die Anerkennung einer negativen Staatsleistung setzt nach der Judikatur des Reichsgerichts voraus, daß die betreffende Exemtion „einen wesentlichen Teil derjenigen Unterstützung bildete, die der Staat der Kirche zur Bestreitung ihrer Bedürfnisse gewährte, und daß er, wenn sie nicht bestanden hätte, statt ihrer entsprechende Leistungen an die Kirche hätte machen müssen“62. Die negative Staatsleistung bestimmt sich nach dem Unterhaltsbedarf der Kirche, soweit dem Staat dafür die Verantwortung zugefallen ist63. Es genügt jedoch, daß der Alimentationszweck ein Sekundärziel des Abgabenprivilegs bildet64. Ob diese Voraussetzung in concreto gegeben ist, erfordert individuelle Prüfung65. Dabei darf aber von der grundsätzlichen Vermutung ausgegangen werden, daß, wenn eine Vorweimarer Exemtion von einer Steuer oder sonstigen Abgabe besteht, diese organischer Bestandteil der zwischen Staat und Kirche bestehenden finanziellen Beziehungen ist und damit die richterrechtlich umschriebene Bedingung einer negativen Staatsleistung erfüllt66. 61

Diesem Erfordernis kann auch eine steuerrechtliche Spendenvergünstigung genügen67. Unmittelbar kommt sie zwar nur dem Spender zugute; mittelbar aber auch dem Destinatar68. Die Abgabenverschonung speist eine der herkömmlich wichtigsten Finanzquellen der Kirchen. 61 Vgl. Hollerbach, Anmerkung (Anh. 2), in: JZ 1965, S. 614; Weides, Religionsgemein­ schaften (Fn. 58), S. 887 ff. 62  Zitat: RGZ 111, 134 (144); auch BVerfGE 19, 1 (13). 63  Vgl. Denkschrift (Anh. 1), S. 36; BVerfGE 19, 1 (13 – 16). 64 Zutreffend Hollerbach, Anmerkung (Anh. 2), in: JZ 1965, S. 614. 65  Das RG (Fn. 58) bejaht die „Staatsleistungs“-Qualität bei landesrechtlichen Exemtionen von der Grundsteuer; so auch BFHE 20, 159, 207 [208]. Das BVerfG verneint sie bei der Exemtion der Gerichtsgebühren nach § 8 Abs. 1 Nr. 4 PreußGKG (BVerfGE 19, 1 [13 – 16]; ablehnende Anm.: Hollerbach, in: JZ 1965, S. 614 f.). Das BVerwG lehnt sie für Verwaltungsgebühren ab (KirchE 16, 140 [141 f.]) – Beispiele aus der Judikatur vor 1919 zu Steuerfreiheiten des geistlichen Grundbesitzes: PreußOVG, in: PrVBl. 30 (1909), S. 204 f.; AS 56, 164 – 169; 57, 145 – 148; 70, 186 – 193. 66  Die Präsumtion wird für Steuer-Befreiungen formuliert von RG, Beschl. v. 10. 10. 1927 und v. 13. 7. 1931 (Fn. 58). Zustimmend: Weides, Religionsgemeinschaften (Fn. 58), S. 916. Die Vermutung wird auf Kosten- und Gebührenbefreiungen ausgedehnt von Hollerbach, Anmerkung (Anh. 2), in: JZ 1965, S. 615; insoweit ablehnend Weides, S. 916. 67  Hier dürfte allerdings in concreto der Nachweis schwierig sein, daß die ratio der Erfüllung der kirchlichen Alimentationsbedürfnisse neben (oder hinter) der ratio der Förderung gemeinnütziger Ziele maßgebend ist. Spendenvergünstigungen werden als negative Staatsleistungen anerkannt durch Axer, Steuervergünstigungen (Anh. 2), S. 475 ff.; v. Campenhausen, Staatskirchenrecht (Fn. 3), S. 196. Ablehnend: Lentz, in: Geiler/Kleinrahm/Fleck, Verfassung NW (Fn. 42), S. 165; Zündorf, Ablösung (Anh. 2), S. 35. 68  Die verfassungsrechtliche Relevanz des Zusammenhangs des steuerlichen Spendenprivilegs mit dem Status des Empfängers wird vom BVerfG für die Parteienfinanzierung bejaht, vgl. BVerfGE 8, 51 (63 – 69).

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III.  Rechtsgrundlagen 1.  Erfordernis eines Rechtstitels Bestandsschutz und Ablösungsauftrag erfassen alle vorkonstitutionellen Leistungsangebote, ohne Rücksicht darauf, ob mit der Verpflichtung des staatlichen Leistungsträgers auch einklagbarer Anspruch des kirchlichen Leistungsempfängers korrespondiert69. Entscheidend ist allein das Vorhandensein eines rechtlichen Verpflichtungsgrundes. Wenn ein solcher gegeben ist, so ist es unerheblich, aus welchem Motiv – aus Gründen der ausgleichenden Gerechtigkeit oder aus solchen der Generosität – der Staat die Pflicht übernommen hat70. Art. 138 Abs. 1 WRV stellt auf „Gesetz, Vertrag oder besondere Rechtstitel“ ab. Diese Formulierung folgt der archaischen Distinktion zwischen dem Gesetz als dem „allgemeinen“ Rechtstitel und den „besonderen“ Titeln, deren Unterfall – nicht deren nebengeordnete Kategorie, wie der mißverständliche Wortlaut nahelegt – der Vertrag ist71. Art. 138 Abs. 1 WRV ist daher zu lesen: „Die auf Gesetz oder auf besonderem Rechtstitel, insbesondere Vertrag, beruhenden Staatsleistungen …“. – Die Abgrenzung der Rechtstitel im einzelnen hat keine praktische Bedeutung, weil die verfassungsrechtliche Behandlung im wesentlichen gleich ist. So bleibt es letztlich eine akademische Frage, ob eine landesherrliche Dotationszusage einen allgemeinen oder einen besonderen Titel bildet72, ob konkordatär zugesicherte Leistungen, im Widerstreit der Vertrags- und der Legaltheorie, auf eine vertragliche oder auf eine gesetzliche Grundlage zurückgeführt werden. 2.  Gesetz Der Leistungstitel des „Gesetzes“ ist als Gesetz im materiellen Sinne zu verstehen: als allgemein-verbindliche Rechtsnorm73. Dagegen spielt es keine Rolle, wie der Rechtssatz zustande gekommen ist: Es kann sich um ein förmliches Parlamentsgesetz, eine Rechtsverordnung oder eine Satzung handeln, um staatlich gesetztes Recht oder um Gewohnheitsrecht. Es macht auch keinen Unterschied, 69  So RGZ 111, 134 (144 f.); 113, 349 (365); J. Schmitt, Ablösung (Anh. 1), S. 37 – 61; Huber, Garantie (Anh. 1), S. 58, 93 f.; Denkschrift (Anh. 1), S. 13 f.; Koellreutter, Beiträge (Anh. 1), S. 18 f.; W. Weber, Ablösung (Anh. 2), S. 72. 70  So zu gesetzlichen Rechtstiteln: RGZ 111, 134 (145); 113, 349 (365). – Übersicht über einschlägige Rechtstitel: HdbBayStKirchR, S. 157 ff. 71 Grundlegend: J. Heckel, Rezension (Anh. 1), S. 861 f. Vgl. auch Berner, Staatsleistungen (Anh. 1), S. 85 – 88. 72  Vgl. Denkschrift (Anh. 1), S. 26. 73  Vgl. RGZ 113, 349 (351 f., 396); Berner, Staatsleistungen (Anh. 1), S. 86 f.; J. Heckel, Rezension (Anh. 1), S. 861 f.; W. Weber, Ablösung (Anh. 2), S. 68.

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welcher staatsrechtlichen Ordnung das jeweilige „Gesetz“ entstammt; es kann auf ein demokratisches, monarchisches oder feudales Entscheidungssystem zurückgehen. Wesentlich ist allerdings, daß die Norm überhaupt dem staatlichen Rechtskreis angehört. Kirchengesetze scheiden aus74. Das Haushaltsgesetz bildet keine tragfähige Grundlage75. Das Budget vermag keine Rechtspflichten zu begründen, die über das staatliche Innenverhältnis von Legislative zu Exekutive hinauswirken. Überdies schafft der Etat wegen seiner begrenzten zeitlichen Reichweite (Grundsatz der Jährlichkeit) keine Dauerbeziehung, wie sie die Staatsleistung voraussetzt. Jedoch kann ein Haushaltsansatz dazu bestimmt sein, der Erfüllung einer anderweitig begründeten materiellen Leistungspflicht des Staates zu dienen. Wenn ein gleichartiger Ansatz periodisch wiederkehrt, so gilt die Vermutung, daß eine solche Leistungspflicht besteht. 3.  Besondere Rechtstitel Diese Vermutung läßt sich verallgemeinern: Wo – vom „Normaljahr“ 1919 her gesehen – eine langwährende, stetige Leistungspraxis nachweisbar ist, beruht sie im Zweifel auf einem Rechtstitel: in dubio pro ecclesia76. Die tatsächliche Übung als solche stellt allerdings keine Grundlage dar77. Bei den Weimarer Verfassungsberatungen ist der Antrag, das (freilich juristisch mehrdeutige) „Herkommen“ ausdrücklich unter die Rechtstitel des Art. 138 Abs. 1 aufzunehmen, abgelehnt worden78. Das Herkommen wirkt sich jedoch mittelbar aus: als Essentiale für die besonderen Rechtstitel des „rechtsbegründenden Herkommens“ und der „unvordenklichen Verjährung“79, vor allem als notwendige (wenn auch nicht hinreichende) Bedingung des Gewohnheitsrechts. Das Gewohnheitsrecht ist „Gesetz“ im

74  So RGZ 113, 349 (351, 396); Berner, Staatsleistungen (Anh. 1), S. 86; W. Weber, Ablösung (Anh. 2), S. 67 f. (Nachw.). 75 Vgl. Denkschrift (Anh. 1), S. 23 f.; Smend, Rechtscharakter (Anh. 2), S. 235 f.; Berner, Staatsleistungen (Anh. 1), S. 85 f. 76  Zur Problematik der Beweislast: Berner, Staatsleistungen (Anh. 1), S. 89; Smend, Rechtscharakter (Anh. 2), S. 236 f. – gegen Huber, Garantie (Anh. 1), S. 93. Zur Beweislastformel s. Israel, Reich (Anh. 1), S. 21. 77  Vgl. RGZ 113, 349 (352); J. Schmitt, Ablösung (Anh. 1), S. 90 – 93; Denkschrift (Anh. 1), S. 26 – 30; Berner, Staatsleistungen (Anh. 1), S. 87; W. Weber, Ablösung (Anh. 2), S. 70 f. 78 Nachw.: Israel, Geschichte (Fn. 14), S. 48, 59, 60. Kritische Würdigung der Verfassungsdebatte: Berner, Staatsleistungen (Anh. 1), S. 86 f.; W. Weber, Ablösung (Anh. 2), S. 70 f. 79  Dazu insbesondere: W. Weber, Ablösung (Anh. 2), S. 80 – 84 (mit kritischer Analyse des verfehlten Klarstellungsvermerks in Art. 18 Abs. 2 Reichskonkordat). – Zum Gewohnheitsrecht als Titel für eine kommunale Kirchenbaulast vgl. VerfGH NW, in: DVBl. 1982, S. 1043 f.

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Sinne des Art. 138 Abs. 1 WRV80. Das gleiche gilt für seine örtlich begrenzte Erscheinungsform, die Observanz. Unter den besonderen Rechtstiteln, die unabhängig von den allgemeinverbindlichen Rechtsnormen Rechte und Pflichten zwischen bestimmten Personen begründen, wird der Vertrag eigens erwähnt. Die Skala der vertraglichen Leistungstitel reicht von den Konkordaten und Zirkumskriptionsbullen bis zu Vergleichen auf kommunaler Ebene81. Im übrigen ist der Formenreichtum der außergesetzlichen Rechtsgrundlagen unabsehbar: rechtsbegründendes Herkommen (Verjährung, Ersitzung), landesherrliches Privileg, Privatwillenserklärung, rechtskräftige Entscheidung, Inkorporation82. In keinem anderen Sektor der geltenden Rechtsordnung dürfte sich heute noch ein ähnlich farbiges Bild zeigen, das die deutsche Rechtskultur in ihrer historischen wie in ihrer territorialen Mannigfaltigkeit spiegelt. Es erhebt sich die Frage, ob die Säkularisationen der Neuzeit – und zwar entweder die historischen Vorgänge als solche oder die einzelnen Säkularisationsnormen wie § 35 Reichsdeputationshauptschluß – nicht bereits selbst Rechtstitel im Sinne des Art. 138 Abs. 1 WRV darstellen83. An sich entspringt aus den Säkularisationen die eigentliche Rechtfertigung der bestehenden Staatsleistungen. Trotzdem bedarf es heute des Rückgangs auf diesen ersten Legitimationsursprung nicht mehr. Die Verfassung bezieht sich auf die einzelnen, näherliegenden Rechtstitel. Diese – gleich, ob ihnen deklaratorische oder konstitutive Bedeutung zukommt – bewirken (jedenfalls im Vergleich zur prima causa) Klarstellungen, Spezifikationen, Konkretisierungen und Novationen. Selbst dort, wo Leistungsbeziehungen in das geschichtliche Dunkel des „Unvordenklichen“ zurückreichen, greifen konkrete Rechtstitel wie Gewohnheitsrecht oder rechtsbegründendes Herkommen ein und ersparen dem Juristen den „Gang zu den Müttern“. – Immerhin tritt der geschichtliche Legitimationszusammenhang in dem bereits dargestellten Beweisprinzip zutage: daß im Regelfall der Aufwand, den der staatliche Säkularisations-Gewinner für Kultuszwecke erbringt, zu den Folgelasten der Säkularisation gehört und auf einer Rechtspflicht zum Ausgleich beruht84. 80  Vgl. RGZ 113, 349 (352, 396); Berner, Staatsleistungen (Anh. 1), S. 86 f.; W. Weber, Ablösung (Anh. 2), S. 67, 73 f. – Qualifikation des Gewohnheitsrechts als besonderer Rechtstitel: Denkschrift (Anh. 1), S. 26. – Zur Begründung einer Kirchenbaulast aus örtlichem Gewohnheitsrecht vgl. BVerwG, in: DVBl. 1979, S. 116 (118 f.). 81  Dazu näher: J. Schmitt, Ablösung (Anh. 1), S. 6 – 17; W. Weber, Ablösung (Anh. 2), S.  75 – 79. 82 Übersichten: J. Schmitt, Ablösung (Anh. 1), S. 61 – 93; Denkschrift (Anh. 1), S. 25; J. Heckel, Rezension (Anh. 1), S. 861 f.; Berner, Staatsleistungen (Anh. 1), S. 87 f.; Giese, Hess. Staatsleistungen (Anh. 1), S. 195 – 198; W. Weber, Ablösung (Anh. 2), S. 74 – 85. 83 Bejahend: Kress, Staat (Anh. 1), S. 73 – 216; Theodor Maunz, in: Maunz/Dürig/Herzog, Grundgesetz. München, Stand: 1973, Art. 140 GG I Art. 138 WRV Rn. 3. – Ablehnend Huber, Garantie (Anh. 1), S. 64 – 77 (Nachw.).

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C.  Die Subjekte der Leistungsbeziehungen 84

I.  Leistungsträger 1.  Bund und Länder Der Ablösungsauftrag ist auf „Staats“-Leistungen abgestellt, die von den Ländern zu erbringen sind. Ihnen fällt die eigentliche Durchführung zu. Mögliche Staatsleistungen des Reiches haben nicht im Blickfeld des Weimarer Verfassunggebers gelegen85. Gleichwohl ist damit nicht ausgeschlossen, daß nunmehr auch der Bund als Leistungsträger in Betracht kommt86. Diese Rolle kann ihm vor allem im Bereich der negativen Leistungen zufallen, soweit er bei einer Verschiebung der Kompetenzordnung die Gesetzgebungshoheit für Abgabenbefreiungen übernommen hat87. Ein solcher Zuständigkeitswechsel (gleich, ob durch Verfassungsänderung oder durch Inanspruchnahme einer konkurrierenden Zuständigkeit ausgelöst) vollzieht sich nur im staatlichen Internum des BundLänder-Verhältnisses, ohne Wirkungen auf die Außenbeziehungen Staat-Kirche. Ablösungslast und Bestandsschutz des Kompetenzsubstrates hängen nicht vom jeweiligen staatlichen Kompetenzträger ab. Für die Qualität der Staatsleistungen ist es unerheblich, ob sie aus allgemeinen Haushaltsmitteln gespeist werden oder aus einem selbständig verwalteten Zweckvermögen (Staatsnebenfonds)88. Auch wenn Baulasten oder Dotationen über einen Klosterfonds abgewickelt werden, 84  Nach der Denkschrift (Anh. 1), S. 30, ist – jedenfalls bei staatlichen Dotationen für eine Landeskirche – nicht der Nachweis eines ausdrücklichen Rechtstitels erforderlich. Es soll die Feststellung genügen, „daß sie mit der früheren organischen Eingliederung der Kirche in den Staat und mit dem Gesamtvorgang der Säkularisationen in Zusammenhang stehen und in diesen nach dem Geist und der Rechtsauffassung, aus denen heraus sie möglich geworden sind, ihren letzten Grund fanden“. 85  Vgl. Denkschrift (Anh. 1), S. 15; W. Weber, Ablösung (Anh. 2), S. 46. – Für die Zulässigkeit von Dotationen des Reichs: Johannes Heckel, Budgetäre Ausgabeninitiative im Reichstag zugunsten eines Reichskultusfonds, in: AöR 51 (1927), S. 435 f.; Anschütz, Verfassung (Fn. 58), Art. 138, Anm. 3. 86  Das nehmen an: Zündorf, Ablösung (Anh. 2), S. 43 – 45; Scheuner, Bestand (Anh. 2), S. 387; Maunz (Fn. 83), Art. 140 GG/Art. 138 WRV Rn. 4. 87  Vgl. die nahezu umfassende Kompetenz des Bundes für die Steuergesetzgebung: Art. 105 GG. – Der Bund hat 1958 und 1961 Dotationspflichten für die in der BRD ansässigen kath. und ev. Kirchenverwaltungen der Oder-Neiße-Gebiete übernommen (Hinweise auf die unveröff. Abkommen: Alexander Hollerbach, Verträge zwischen Staat und Kirche in der Bundesrepublik Deutschland, Frankfurt a. M. 1965, S. 28, 42 f.) – Text des Abkommens v. 27. 6. 1958 mit Anm. abgedr. bei Joseph Listl (Hrsg.), Die Konkordate und Kirchenverträge in der Bundesrepublik Deutschland. Bd. 1, Berlin 1987, S. 62 ff. 88  So die herrschende Meinung: J. Schmitt, Ablösung (Anh. 1), S. 36; Berner, Staatsleistungen (Anh. 1), S. 84; Denkschrift (Anh. 1), S. 17; Duske, Dotationspflicht (Anh. 1), S. 9 f.; W. Weber, Ablösung (Anh. 2), S. 46. Gegenauffassung: Breitfeld, Auseinanderset-

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bleibt der „Staat“, der diese Einrichtung organisiert, der eigentliche, letztverpflichtete Leistungsträger. 2.  Kommunale Gebietskörperschaften Herkömmlich galten die Leistungen der kommunalen Gebietskörperschaften nicht als „Staats“-Leistungen89. Gegen diese enge Sicht des „Staatlichen“ im Tatbestand des Art. 138 Abs. 1 WRV erheben sich heute Bedenken. Mochte noch in der Entstehungszeit der Weimarer Reichsverfassung die Entgegensetzung Staat-Gemeinde lebendig gewesen sein und die außerstaatliche Legitimation der Gemeinde als „gesellschaftliche“ Selbstverwaltung nachgewirkt haben, so fand bereits unter der Herrschaft dieser Verfassung die Zuordnung und Angleichung an den Staat ihren Abschluß. Die Gemeinde ist seither – trotz der ihr verfassungskräftig gewährleisteten relativen Eigenständigkeit – eine staatshomogene Organisationseinheit geworden: mittelbare Staatsverwaltung. Das Grundgesetz geht von diesem Entwicklungsstand aus90. Wenn die Gemeinde heute im Verhältnis zum Individuum als „öffentliche Gewalt“ betrachtet und denselben rechts-„staatlichen“, insbesondere grundrechtzung (Anh. 1), S. 36, 342. – Zur haftungsrechtlichen Stellung der staatlichen Zweckvermögen (Kirchen-, Klosterfonds usw.): J. Schmitt, Staat (Anh. 1), S. 77 – 79. 89  Vgl. RGZ 113, 349 (397); 125, 186 (189); BVerwGE 38, 76 (79); Anschütz, Verfassung (Fn. 58), Art. 138, Anm. 4; Huber, Garantie (Anh. 1), S. 62; Berner, Staatsleistungen (Anh. 1), S. 84; Hans Glade, Die verfassungsrechtliche Grundlage für die Staatsleistungen an die Religionsgesellschaften, Diss. Göttingen 1932, S. 11 – 13; Hofmann, Ablösung (Anh. 2), S. 369; W. Weber, Ablösung (Anh. 2), S. 46; Wehdeking, Kirchengutsgarantien (Anh. 2), S. 112 (Nachw.); Wehrhahn, Rechtsgutachten (Anh. 2), S. 142; Ulrich Scheuner, Fortfall gemeindlicher Kirchenbaulasten durch völlige Änderung der Verhältnisse?, in: ZevKR 14 (1969), S. 359 = ders., Schriften zum Staatskirchenrecht, Berlin 1973, S. 209; ders., Bestand (Anh. 2), S. 387; Wiesenberger, Kirchenbaulasten (Fn. 51), S. 162 ff.; Alexander Hollerbach, Der verfassungsrechtliche Schutz kirchlicher Organisation, in: HStR VI, 1989, § 139 Rn. 61; Hermann Weber, Das Staatskirchenrecht in der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts, in: Bürger – Richter – Staat. FS für Horst Sendler, München 1991, S. 568 f. Für die Erstreckung des Art. 138 Abs. 1 WRV auf die Gemeinden als Teile des Staatsorganismus: LVG Schwerin, Urt. v. 2. 11. 1923, zitiert bei Glade, S. 11. Die neuere Literatur rechnet überwiegend die kommunalen Leistungen dem Schutzbereich des Art. 138 Abs. 2 WRV zu. Nachw. unten Fn. 90 – 92. 90 Richtungweisend in der Weimarer Lehre zur (mittelbar-)staatlichen Qualität der kommunalen Gebietskörperschaften: Hans Peters, Grenzen der kommunalen Selbstverwaltung in Preußen, Berlin 1926, S. 43, 56, 60, 126; Rudolf Smend, Verfassung und Verfassungsrecht (1928), in: ders., Staatsrechtliche Abhandlungen. 2. Aufl., Berlin 1968, S. 271 (Kommunen als „technische Hilfseinrichtungen des Staats“). Repräsentativ für die Rechtslage unter dem Grundgesetz: BVerfGE 73, 118 (191); 83, 37 (53 ff.). Zur Ortsbestimmung der Kommunen im staatlichen Bereich Matthias Jestaedt, Demokratieprinzip und Kondominialverwaltung, Berlin 1993, S. 212 f., 524 ff. (Nachw.).

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lichen Bindungen unterworfen wird wie Land und Bund, so läßt es sich nicht mehr begründen, daß sie von staatskirchenrechtlichen Bindungen freigestellt bleiben soll, obwohl sie längst als integraler Bestandteil der „weltlichen Gewalt“ erkannt wird91. Die Auslegung des Art. 138 Abs. 1 WRV muß sich dem Wandel der Verfassungsstrukturen anpassen. Wenn das Grundgesetz auch die Weimarer Kirchenartikel nur über eine Verweisungsnorm rezipiert hat, so liefert es damit noch keinen Rechtfertigungsgrund für die Sklerosierung der Weimarer Interpretationsergebnisse92. Der in der Ablösungsdirektive verkörperte Distanzierungsgedanke gilt im Verhältnis zu den Kommunen ebenso wie im Verhältnis zum Bund (nicht zuletzt deshalb, weil die herkömmliche konfessionelle Homogenität der Gemeindebevölkerung sich längst aufgelöst hat). Auf der anderen Seite hängt die wirtschaftliche Grundlage der Kirchen nicht minder von den Leistungen der Gemeinden als von denen der Länder ab. Dem Bedürfnis der Destinatare nach umfassendem, effektivem Bestandsschutz kann nur Art. 138 Abs. 1 WRV genügen93. Die Kirchengutsgarantie des Art. 138 Abs. 2 WRV deckt den Schutzbereich jedenfalls nicht ab. Diese Schutznorm wird zwar von der herrschenden Rechtslehre auch auf Leistungsansprüche gegen die Gemeinden erstreckt94. Jedoch erfaßt Art. 138 Abs. 2 WRV nur Zuwendungen zu den eigens aufgeführten Zwecken und nur solche kommunalen Leistungen, auf die dem Empfänger ein Rechtsanspruch zusteht95; gerade die letztere Voraussetzung ist häufig nicht vorhanden oder nur schwierig nachzuweisen. – Die Verfassungsgarantie der kommunalen Selbstverwaltung (Art. 28 Abs. 2 GG) steht der staatskirchenrechtlichen Garantie der kommunalen Leistungen nicht im Wege. Denn sie schützt die Gemeinde in ihrer administra91  Analoge Neubestimmung des Staatsbegriffs in Art. 7 Abs. 1 GG – Staat als „Inbegriff weltlicher, hoheitlicher Gewalt – unter Einschluß der Gemeinden“: Michael Kloepfer, Staatliche Schulaufsicht und gemeindliche Schulhoheit, in: DÖV 1971, S. 837 ff. 92 Richtunggebend: Rudolf Smend, Staat und Kirche nach dem Bonner Grundgesetz (1951), in: ders., Abhandlungen (Fn. 90), S. 411 ff. 93  Bestandsschutz, der sich auf die jeweilige Landeshoheit beschränkt, geben die Regelungen des Landesverfassungsrechts, die expressis verbis auch die Leistungen der politischen Gemeinden gewährleisten (Art. 145 Abs. 1 BayVerf.; Art. 45 Rheinl.-PfalzVerf.; Art. 39 SaarVerf.; Art. 21 NWVerf.; Art. 37 Abs. 2 BrandenbVerf.). Diese Regelungen gelten neben Art. 140 GG weiter – unabhängig davon, ob ihre sachliche Reichweite über Art. 138 Abs. 1 WRV hinausgeht (so die h. M.) oder kongruent ist. Zu den Garantien der Landesverfassungen: Wehdeking, Kirchengutsgarantien (Anh. 2), S. 137 ff. 94 Vgl. J. Heckel, Kirchengut (Fn. 5), S. 136; Konrad Hesse, Das neue Bauplanungsrecht und die Kirchen, in: ZevKR 5 (1956), S. 75; Scheuner, Fortfall (Fn. 89), S. 359; ders., Bestand (Anh. 2), S. 387; Wehrhahn, Rechtsgutachten (Anh. 2), S.142. 95 Dazu Huber, Garantie (Anh. 1), S. 57 f.; Wehdeking, Kirchengutsgarantien (Anh. 2), S. 126 – 132 (Nachw.). – Zur Rechtsunsicherheit im Bereich der kommunalen Leistungen: Scheuner, Bestand (Anh. 2), S. 391 – 396.

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tiven und finanziellen Eigenständigkeit gegenüber der (unmittelbaren) Staatsgewalt; aber sie befreit nicht von Rechtsverbindlichkeiten gegenüber Dritten96. Die teleologische Auslegung gebietet daher, auch die Organisationen der mittelbaren Staatsverwaltung dem Ablösungsauftrag wie der Bestandsgarantie des Art. 138 Abs. 1 WRV zu unterwerfen. Die Auffassung hat sich im neueren Schrifttum des Staatskirchenrechts weithin durchgesetzt97.

II.  Leistungsempfänger Art. 138 Abs. 1 WRV bezeichnet die Destinatare der Staatsleistungen mit dem umfassenden, paritätsgemäßen Terminus „Religionsgesellschaften“. Gleichwohl beziehen tatsächlich nur die altrechtlichen Religionsgemeinschaften Zuwendungen. Die wesentlichen Leistungstitel stehen den beiden Großkirchen zu, welche die Säkularisationsopfer erbracht haben98. Empfänger sind allerdings nicht allein die Kirchen als Gesamtverbände, sondern auch ihre Gliedkörperschaften (Bistümer, Pfarrgemeinden) und sonstigen Institutionen (Anstalten, Stiftungen) sowie ihre einzelnen Amtswalter99. Ein Staatszuschuß zur Besoldung von Kirchenbeamten bleibt Leistung an die „Religionsgesellschaft“, gleich, ob er der Kirche, der Pfarrei oder dem jeweiligen Pfarrer geschuldet wird.

96  Im Ergebnis auch VerfGH NW: die Weimarer Kirchenartikel, die kommunale Kirchenbaulasten absichern, schränken die Garantie der kommunalen Selbstverwaltung ein (DVBl. 1982, S. 1082 f.). 97  Für die Einbeziehung der kommunalen Leistungen: Josef Isensee, Staatsleistungen an die Kirchen und Religionsgemeinschaften, in: HdbStKirchR1, Bd. II, 1. Aufl. 1975, S. 69 ff.; Lipphardt, Negative Staatsleistungen (Anh. 2), S. 414 f. (zur Befreiung von kommunalen Abgaben); v. Campenhausen, Staatskirchenrecht (Fn. 3), S. 194; v. Mangoldt/ Klein/v. Campenhausen, Art. 140 GG/Art. 138 WRV Rn. 5; Axer, Steuervergünstigungen (Anh. 2), S. 469; Link, Rechtsprobleme (Anh. 2), S. 208 f.; Alexander Hollerbach, Rechtsbeziehungen zwischen kirchlicher und politischer Gemeinde, in: Ex aequo et bono. FS für Willibald M. Plöchl, Innsbruck 1977, S. 528 ff.; (anders jedoch ders., Schutz [Fn. 89], Rn. 61); für die Einbeziehung der kommunalen Leistungen wohl auch Maunz (Fn. 83), Art. 140 GG/Art. 138 WRV Rn. 4. – Offen: VerfGH NW, Urt. v. 16. 4. 1982, in: DVBl. 1982, S. 1043 (1044). 98  Neben den Großkirchen werden als Destinatare genannt: die altkatholische und die altlutherische Kirche, die Israelische Synagogengemeinde, Freireligiöse Landesgemeinden und Deutsche Freigemeinden sowie die Methodistenkirche (v. Campenhausen, Staatskirchenrecht [Fn. 3], S. 193). 99  So RGZ 111, 134 (145 f.); 129, 72 (77 f.); RG, Urt. v. 18. 5. 1926, in: JW 1927, S. 1254 (mit zust. Anm. von Hermann Fürstenau, ebd., S. 1255); Denkschrift (Anh. 1), S. 17 f.; Berner, Staatsleistungen (Anh. 1), S. 84; W. Weber, Ablösung (Anh. 2), S. 49 f.

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D.  Der Auftrag zur gesetzlichen Ablösung I.  Gegenstand und Wirkweise der Ablösung Der vom Grundgesetz erneuerte Ablösungsauftrag erfaßt sämtliche Leistungspflichten, die bei Inkrafttreten der Weimarer Reichsverfassung (am 14. August 1919) wirksam gewesen sind100 und im Geltungsbereich des Grundgesetzes fortbestehen. Damit scheiden drei Gruppen von Leistungspflichten aus dem Anwendungsbereich aus: – solche, die bereits vor dem Stichtag erloschen waren (etwa infolge staatlicher Aufhebungsmaßnahmen)101; – solche, die nach dem Stichtag ihr Ende gefunden haben (insbesondere auf Grund wirksamer Ablösungsvereinbarungen)102; – solche, die erst nach dem Stichtag begründet worden sind103. Die Ablösbarkeit hängt nicht davon ab, ob die Leistung im „Normaljahr“ 1919 tatsächlich bewirkt, sondern ob sie von Rechts wegen geschuldet wurde104. Abzulösen sind die Leistungspflichten, nicht die einzelnen Erfüllungshandlungen. Streng genommen sind also Gegenstand des Verfassungsauftrags nicht die Staatsleistungen als solche, sondern die Rechtstitel, die ihnen zugrunde liegen. Die Ablösung umfaßt zwei Rechtsvorgänge: die Aufhebung des bestehenden Leistungsverhältnisses und die Begründung der Ausgleichspflicht105. Darin unterscheidet sie sich grundlegend von Konfiskation, Enteignung und Sozialisierung. Die Ablösung bewirkt weder eine Rechtsminderung noch eine Verschiebung der Rechtszuständigkeit. Es geht allein um einen Austausch der Rechtsgrundlage; dabei wird der Kirche kein Opfer abverlangt. Die verfassungsgebotene Entflechtung der staatskirchenrechtlichen Beziehungen soll die wirtschaftliche Grundlage der Kirche erneuern, aber nicht schmälern. Der Verfassungsauftrag verhält 100  Dazu Denkschrift (Anh. 1), S. 18 f.; Wehdeking, Kirchengutsgarantien (Anh. 2), S. 115 f. 101  Dazu RGZ 117, 27 (29 – 32); Anschütz, Verfassung (Fn. 58), Art. 138, Anm. 5. 102  Zur Zulässigkeit vertraglicher Ablösungsmaßnahmen s. unten E II 4 – Zur Frage, ob die Länder im Interim 1945 – 1949 einseitig ablösen konnten: W. Weber, Ablösung (Anh. 2), S.  9 – 35; Zündorf, Ablösung (Anh. 2), S. 132 – 137. 103 Vgl. Wehdeking, Kirchengutsgarantien (Anh. 2), S. 116. – Für die Ablösungspflicht auch der nach 1919 begründeten Leistungen: Israel, Reich (Anh. 1), S. 25 f.; Berner, Staatsleistungen (Anh. 1), S. 85. Siehe auch unten D. I. 104  Zutreffend für die Ablösbarkeit der praestanda, nicht der praestata: J. Schmitt, Ablösung 1921 (Anh. 1), S. 93 f.: Denkschrift (Anh. 1), S. 19; W. Weber, Ablösung (Anh. 2), S. 66. Abwegig dagegen Breitfeld, Auseinandersetzung (Anh. 1), S. 50 – 55. 105 Dazu Anschütz, Verfassung (Fn. 58), Art. 138, Anm. 3; Huber, Garantie (Anh. 1), S. 58 – 61; Berner, Staatsleistungen (Anh. 1), S. 88; W. Weber, Ablösung (Anh. 2), S. 37 – 41.

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sich gegenüber den kirchlichen Vermögensinteressen neutral106. Eine neue Säkularisation findet nicht statt. Die Gewähr liegt darin, daß das Institut der Ablösung die Verschaffung des vollen Leistungs-Äquivalents einschließt. Ablösung ist „Hingabe einer Leistung an Erfüllungs Statt“107. Die verfassungsrechtliche Kompensationsfolge wird zutreffend vom Bayerischen Konkordat als Garantie von Ausgleichsleistungen umschrieben, „die entsprechend dem Inhalt und Umfange des Rechtsverhältnisses unter Berücksichtigung der Geldwertverhältnisse vollen Ersatz für das weggefallene Recht gewähren“108. Das Äquivalenzprinzip darf daher nicht durch Interessenabwägungen, wie sie Art. 14 Abs. 3 S. 3 GG für die Bemessung der Enteignungsentschädigung vorsieht, relativiert werden. Die Gegenleistung muß dem ökonomischen Wert entsprechen, den die Staatsleistung im Zeitpunkt ihrer Aufhebung (nicht im Zeitpunkt des vorbereitenden Grundsatzgesetzes) für den Empfänger hat. Die wirtschaftliche Betrachtungsweise, die bei der Abfindung bestimmend sein muß, schließt bloß nominelle Ersatzleistungen aus, die keine gleichwertige dauerhafte Vermögenssicherung gewährleisten. So verbietet sich die Abfindung durch einmalige Geldzuweisung in einer Phase des Währungsverfalls109 oder die Ausstattung mit Grundstücken, wenn über diesen bereits das Damoklesschwert einer geplanten Sozialisierung oder Kommunalisierung schwebt.

II.  Modalitäten der Abfindung Die einzelnen Wege der Ablösung sind von der Verfassung nicht vorgezeichnet. Sie können auch nicht spekulativ abschließend ausgeführt werden110. Die Kirchenverträge, die seit der Geltung des Art. 138 Abs. 1 WRV Fragen der Staats106  In der Weimarer Nationalversammlung bestand Konsens darüber, daß die Kirchen durch die Ablösung keinen Schaden erleiden sollten. Nachw.: Israel, Geschichte (Fn. 14), S. 33 – 35. Vgl. auch J. Schmitt, Ablösung 1921 (Anh. 1), S. 2 f. 107 Zitat: Huber, Garantie (Anh. 1), S. 60. 108  Art. 10 § 1 Abs. 2 BayK v. 29. 3.1924. – Sachlich gleich die Formel „angemessener Ausgleich“ in Art. 18 Abs. 3 RK. – Es wäre daher Verfassungsbruch, wenn ein Leistungsträger die Ablösung „durch die bisherigen Zahlungen als erfolgt“ erklärte (so aber der Vorschlag von: Gerigk-Groht/ Matthäus, Trennung [Fn. 13], S. 48, 49, 51). 109  Die Gefahr einer solchen mißbräuchlichen Ablösung wurde bei den Weimarer Verfassungsberatungen gesehen – s. Israel, Geschichte (Fn. 14), S. 34 f. Vgl. auch W. Weber, Ablösung (Anh. 2), S. 40. 110  Vorbereitende Untersuchungen zur Ablösung: J. Schmitt, Ablösung 1921 (Anh. 1), S.  107 – 181; Breitfeld, Auseinandersetzung (Anh. 1), S. 343 – 356. Zur Ablösung der Kultusbaulasten durch Zahlung einer laufenden Rente: Hofmann, Ablösung (Anh. 2), S.  369 – 381.

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leistungen geregelt haben, zeigen brauchbare Möglichkeiten: Kapitalisierung der Naturalleistungen, Pauschalierung der zweckdifferenzierten einzelnen Zuweisungen, Zusammenfassung der Destinatare (Konzentration der dezentralisierten Empfangszuständigkeiten beim Gesamtverband)111. Die Staatsleistungen können aufgewogen werden in Geld, Wertpapieren, Grundstücken, beweglichen Sachen, Rentenberechtigungen. Als Modell einer ausgewogenen Auseinandersetzung mag sich die Regelung des Niedersächsischen Evangelischen Kirchenvertrages empfehlen112: Das Land Niedersachsen zahlt an die Gesamtheit der Evangelischen Landeskirchen eine jährliche Globaldotation, die in ihrer Höhe laufend den Veränderungen der Besoldung der Landesbeamten anzupassen ist. Die Kirchen teilen den Anspruch durch Vereinbarung, die der Landesregierung anzuzeigen ist, untereinander auf. Das Land überträgt das Eigentum an staatlichen Gebäuden und Grundstücken, die ausschließlich evangelischen ortskirchenrechtlichen Zwecken gewidmet sind, den Kirchen oder, wenn darüber ein Einverständnis zwischen Kirchen und Kirchengemeinden hergestellt ist, den Kirchengemeinden. Auf der anderen Seite verzichten die Kirchen gegen eine einmalige Ausgleichszahlung auf alle Rechte, die sich auf die bisher kirchenrechtlichen Zwecken dienenden Gebäude und Grundstücke des Landes beziehen und stellen das Land von allen Verpflichtungen zu Geld- und Sachleistungen an die Kirchengemeinden, insbesondere von denen zur baulichen Unterhaltung von Gebäuden, frei. Rechtliche Bedenken werden gegen eine Abfindung geltend gemacht, die in einer wiederkehrenden Leistung besteht, etwa in der Zahlung einer „ewigen“ Rente: Die Ablösung dürfe nur durch einmaligen Erfüllungsakt erfolgen, weil sonst die verfassungsrechtlich angestrebte Distanzierung von Staat und Kirche nicht verwirklicht werde113. Diese Rechtsmeinung ist nicht haltbar. Sie interpretiert ein Verfassungsprogramm ohne Rücksicht auf die wirtschaftlichen Bedingungen seiner Realisierung. Die Notwendigkeit, die Abfindung uno actu zu erbringen, dürfte auch unter normalen wirtschaftlichen Verhältnissen die Finanzkraft der Länder überfordern114 und das Bedürfnis der Religionsgesellschaften nach dauerhafter finanzieller Sicherung vernachlässigen. Ein puristisches Trennungsideal kann in die Verfassung nicht hineingelesen werden, weil jeder Verfassungsauftrag auf Praktikabilität hin angelegt ist. Ein normativer Rigorismus, der sich über 111  Die Zulässigkeit dieser Zusammenfassung wird bejaht von: RGZ 113, 349 (359); Breitfeld, Auseinandersetzung (Anh. 1), S. 355 f.; W. Weber, Ablösung (Anh. 2), S. 49 f. 112  Art. 16, 17 NiedersKV. 113 So Huber, Garantie (Anh. 1), S. 59 f. – Im gleichen Sinne: Israel, Reich (Anh. 1), S. 28; Brauns, Staatsleistungen (Anh. 2), S. 64 – 82 (Nachw.); Preuß, in: GG-Alt.-Komm. (Fn. 13), Art. 140 Rn. 62. Dagegen: Berner, Staatsleistungen (Anh. 1), S. 88; W. Weber, Ablösung (Anh. 2), S. 41 – 43; Peter Häberle, Rezension, in: AöR 97 (1972), S. 325. 114 Vgl. Clement, Politische Dimension (Fn. 2), S. 47.

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die Vollzugsbedingungen der Ablösungsdirektive hinwegsetzen will, verhindert von vornherein, daß sie jemals in die Tat umgesetzt wird. Immerhin bewirkt auch eine Ablösung durch rechtlich definierte, wiederkehrende Leistungen ein Auseinanderrücken der Beteiligten. In der Praxis zeigt sich die Tendenz, daß Staatsleistungen überlagert werden von Förderungsleistungen neuer Art, daß etwa altrechtliche Abgabenbefreiungen und Dotationen nunmehr paritätisch auf alle Religionsgemeinschaften oder auf alle gemeinnützigen Körperschaften ausgeweitet werden115. Hier werden heikle Legitimationsprobleme umgangen. Als pragmatische Lösung für ein Interim von unbegrenzter Dauer können die Kirchen zufrieden sein, solange die Stetigkeit der Leistungen gesichert ist und kein staatlicher Subventionsdirigismus droht. Doch die Subvention ist kein angemessener Ersatz für die Staatsleistung. Die Umwandlung der altrechtlichen in die moderne Form der Zuwendung ist kein tauglicher Weg zu einer verfassungsmäßigen Ablösung116.

III.  Zuständigkeit und Verfahren 1.  Die Gesetzgebung der Länder Die Durchführung der Ablösung obliegt den Ländern. Daß Art. 138 Abs. 1 S. 1 WRV die Aufgabe gerade der Landes-„Gesetzgebung“ zuweist, bildet keine Besonderheit. Im demokratischen Rechtsstaat bedürfen rechtsgestaltende Eingriffe ohnehin der formell-gesetzlichen Grundlage (Art. 20 Abs. 3 GG). Der Verfassungsauftrag an die Legislative reicht hier nicht weiter als der allgemeine Vorbehalt des Gesetzes. Diesem wird noch Rechnung getragen, wenn das Ablösungsgesetz auf nähere Ausführung durch Rechtsverordnung, Verwaltungsakt und durch öffentlich-rechtlichen Vertrag (das dieser Materie besonders angemessene Rechtsinstitut!) angelegt ist. Bedingung ist aber, daß die untergesetzlichen Vollzugsakte sich auf eine hinreichend bestimmte Ermächtigung im Gesetz stützen können. Die Ablösung kann wie die Enteignung „durch Gesetz oder auf Grund eines Gesetzes“ erfolgen, als Legal- oder als Administrativ-Ablösung117. Eine Legalablösung, die stark individualisierte Regelungen erfordert und Maßnahmecharakter aufweist, gerät ebensowenig in Konflikt mit dem Verbot von Einzelfallgesetzen (Art. 19 Abs. 1 GG) wie die Legalenteignung.

115  Zur Ausweitung der Grundsteuerbefreiung für Dienstwohnungen: BFHE 102, 207 (209 f.). 116  s. oben unter B. I. 2. An der in der 1. Aufl. dieses Handbuchs (vgl. Fn. 97) vertretenen abweichenden Auffassung (S. 62, 75) halte ich nicht fest. 117  Vgl. auch W. Weber, Ablösung (Anh. 2), S. 45. – Dagegen für die alleinige Zulässigkeit der Legalablösung: Huber, Garantie (Anh. 1), S. 60.

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Der Ablösungsauftrag erstreckt sich auf sämtliche Vorweimarer Staatsleistungen. Gleichwohl braucht die – höchst komplizierte – Ausführung nicht in einem einzigen Vorgang zu erfolgen. Das Paritätsgebot verhindert bei jeder Gestaltung des Verfahrens, daß einzelne Destinatare bevorzugt oder benachteiligt werden. – Das Gesetz muß beide Aspekte der Ablösung regeln, die Aufhebung der bestehenden Pflicht sowie Art und Ausmaß der Entschädigung. Dieses Junktim liegt im Wesen der Ablösung; es bedarf daher keiner besonderen Formulierung, wie sie das Enteignungsrecht enthält (Art. 14 Abs. 3 S. 2 GG). – Der Finanzaufwand der Abfindung ist von den Hoheitsträgem aufzubringen, deren Leistungspflichten fortfallen. Es ist allerdings unbedenklich, wenn von nun an nur noch die Länder als Schuldner gegenüber den Religionsgesellschaften in Erscheinung treten, sie allein im Außenverhältnis die Ablösungslast übernehmen und sich im staatsinternen Verhältnis zu den übrigen ehemaligen Leistungsträgern Aufwendungsersatz vorbehalten. Die Kompetenz der Länder erstreckt sich nur auf ihre eigenen Pflichten und die solcher Verwaltungssubjekte, die ihrer Hoheitsgewalt unterliegen (Staatsnebenfonds, kommunale Gebietskörperschaften). Nicht erfaßt werden die Leistungen des Bundes118. Wenn hier der Ablösungsauftrag nicht an einer Kompetenzlücke scheitern soll, muß dem Bund kraft Natur der Sache eine Vollkompetenz zur Ablösung seiner eigenen Pflichten zuerkannt werden. 2.  Die Grundsätze des Bundes Art. 138 Abs. 1 S. 2 WRV weist dem Reich die Aufgabe zu, die Grundsätze für die Ablösungsgesetzgebung der Länder aufzustellen. Da die Grundsätze ins Leere griffen, wenn die Ablösungsgesetze der Länder ihnen zuvorkämen, liegt der Kompetenzverteilung eine klare Zeitfolge zugrunde: Die Länder dürfen (und müssen) erst tätig werden, wenn das Grundsatzgesetz vorliegt. Die Ablösungsinitiative steht damit dem Zentralstaat zu. Die Veränderungssperre, die dem Erlaß der Grundsätze vorgeschaltet ist, war in Art. 173 WRV eigens ausformuliert worden, daß nämlich bis zum Erlaß des Reichsgesetzes die Staatsleistungen bestehen bleiben. Diese Regelung war aber nur deklaratorisch. Dieses Ergebnis entspricht der gefestigten Weimarer Lehre119. Der Bonner Verfassunggeber konnte von ihr ausgehen und brauchte Art. 173 WRV nicht ei118 Die Möglichkeit, Bundes-(Reichs-)Leistungen durch Landesgesetz abzulösen, wird verneint von der Denkschrift (Anh. 1), S. 15; bejaht von Zündorf, Ablösung (Anh. 2), S. 43 – 45 (mit unhaltbarer Begründung). 119  Die Veränderungssperre wird bereits aus Art. 138 Abs. 1 WRV abgeleitet, Art. 173 WRV nur als deklaratorisch („überflüssig“) angesehen von: StGH, in: RGZ 128, Anhang S. 16 (S. 35: „authentische Interpretation“); Anschütz, Verfassung (Fn. 58), Art. 138, Anm. 3, 4; Art. 173, Anh. 1; Berner, Staatsleistungen (Anh. 1), S. 89; Breitfeld, Ausein-

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gens zu rezipieren, um den Bund in die Funktion des Reiches einzuweisen120. – Wenn dem Fortfall der Weimarer Überleitungsbestimmung jedoch die Bedeutung zugemessen würde, daß nunmehr die Wartepflicht der Länder entfiele, so bräche der Weimarer Staatskirchenkompromiß an empfindlicher Stelle zu Lasten der Kirche121: Die Zuweisung der Initiativ- und Direktivgewalt an das Reich, dessen Finanzinteressen von der Ablösungsfrage kaum berührt wurden und das daher in der staatskirchenrechtlichen Auseinandersetzung als neutral gelten durfte, hatte eine Kontrollinstanz über den Ländern geschaffen. Diese sollten bei der Abwicklung ihrer Schulden nicht allein Richter in eigener Sache sein. Die Reichskompetenz bot eine Gewähr für die Einheitlichkeit und Korrektheit des Verfahrens. Zugleich diente sie der Mäßigung und Zähmung der Ländermacht im Interesse der Destinatare. Die Kompetenz-Spaltung verkörperte somit in geradezu reiner Form die Idee vertikaler Gewaltenteilung, die Legitimationsidee des bundesstaatlichen Prinzips unter dem Grundgesetz geworden ist122. Die Fortdauer der Weimarer Kompetenzlage läßt sich auch nicht deshalb bezweifeln, weil das Grundgesetz eine allgemeine Grundsatzkompetenz in der Form der Art. 9, 10 WRV nicht kennt, sondern nur disparate einzelne Kompetenztitel. Denn die Ablösungsgrundsätze des Reiches bildeten schon im ursprünglichen Kontext einen Tatbestand sui generis. Die Verfassung erteilte hier nicht – wie in ihren Vorschriften über normale Reichszuständigkeiten – nur die Ermächtigung, sondern auch den Befehl zum Handeln. Unter der Geltung des Grundgesetzes wäre es ein interpretatorischer Gewaltakt, wenn nunmehr die Bundes-Kompetenz in der Ablösungsfrage unter andersetzung (Anh. 1), S. 53 – 55; Israel, Reich (Anh. 1), S. 30; W. Weber, Ablösung (Anh. 2), S. 18. Diese Rechtsauffassung entspricht der Entstehungsgeschichte – Nachw. s. Israel, Geschichte (Fn. 14), S. 47 f. Dagegen wird Art. 173 WRV eine bestimmte ergänzende Bedeutung zugesprochen von Huber, Garantie (Anh. 1), S. 94 – 96. 120  Der fehlenden Rezeption des Art. 173 WRV wird kein Einfluß auf die Rechtslage zugesprochen von: Adolf Süsterhenn/Hans Schäfer, Kommentar der Verfassung für Rheinland-Pfalz, Koblenz 1950, Art. 45, Anm. 29; Theodor Maunz, Staatskirchenrechtliche Regelungen durch Bundesrecht, in: BayVBl. 1968, S. 3; Scheuner, Bestand (Anh. 2), S. 384; Zündorf, Ablösung (Anh. 2), S. 61 – 108; Wehrhahn, Rechtsgutachten (Anh. 2), S. 140; Wehdeking, Kirchengutsgarantien (Anh. 2), S. 125 f. (Nachw.); v. Campenhausen, Staatskirchenrecht (Fn. 3), S. 195 f. 121  Bei den Beratungen des Grundgesetzes im Parlamentarischen Rat hatte der Vorschlag des Abg. Süsterhenn (CDU), durch eine Verweisungsnorm die Weimarer Kirchenartikel mit Ausnahme des Art. 138 Abs. 1 aufrechtzuerhalten, die Kritik des Abg. Zinn (SPD) auch wegen der Nichtaufnahme dieser Norm provoziert: Die Bestimmungen der Weimarer Verfassung über das Verhältnis von Kirche und Staat bildeten ein geschlossenes Ganzes, aus dem man nicht ein Stück herausnehmen könne, ohne etwas völlig Neues zu schaffen (Nachw.: JöR N. F. 1, S. 905). 122 Dazu Josef Isensee, Subsidiaritätsprinzip und Verfassungsrecht, Berlin 1968, S.  95 – 99, 135 – 137, 237 (Nachw.).

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die Rahmenzuständigkeiten des Art. 75 GG gerechnet würde123. Die Folge wäre, daß der Bund an das besondere Regelungsbedürfnis nach Art. 72 Abs. 2 GG (Art. 75 Abs. 1 GG) gebunden wäre, obwohl mit dem Ablösungsauftrag ein solches Bedürfnis von vornherein feststeht, und daß die Sperre des Art. 138 Abs. 1 S. 2 WRV nunmehr entfallen müßte, weil die Länder gemäß Art. 72 Abs. 1 GG (Art. 75 Abs. 1 GG) so lange die volle gesetzgeberische Freiheit besäßen, bis der Bund das Grundsatzgesetz erlassen hätte124. Die Prämisse dieser Überlegungen trifft nicht zu: die Grundsatzkompetenz läßt sich nicht den Rahmenkompetenzen zuordnen, obwohl eine negative Gemeinsamkeit vorhanden ist: Es handelt sich nicht um Vollkompetenzen. Daß „Grundsatz“ und „Rahmen“ inkommensurable Begriffe des Verfassungsrechts sind, mag bereits die Ermächtigung zum Erlaß von „Rahmen“-Vorschriften über die allgemeinen „Grundsätze“ des Hochschulwesens (Art. 75 Abs. 1 Nr. 1a GG) belegen. Während Rahmenvorschriften – ungeachtet ihrer Ausfüllungsfähigkeit und Ausfüllungsbedürftigkeit – Rechte und Pflichten des Bürgers begründen können, ist das Grundsatzgesetz des Art. 138 Abs. 1 S. 2 WRV „non-self-executing“. Die Grundsätze binden allein die Landesgesetzgeber, ohne unmittelbar auf die abzulösenden Rechtsbeziehungen einzuwirken125. Der Zentralstaat übernimmt eine Koordinierungsaufgabe gegenüber den Ländern in einem Bereich, auf dem diesen im übrigen die ausschließliche Gesetzgebungshoheit zusteht. Hier liegt die Analogie zu den Richtlinien des Art. 65 S. 1 GG nahe. Wie diese sind die Grundsätze nur staatsintern verbindlich, auf Gegenstände von allgemeiner Bedeutung beschränkt und auf eine bestimmte Abstraktionshöhe verwiesen. Im Ergebnis erweist sich die Funktion des Bundes in der Ablösung als Gegenbild einer Rahmenzuständigkeit: Sie gibt keine subsidiäre, sondern die primäre Kompetenz; keine konkurrierende, sondern die ausschließliche. Sie suspendiert nicht – wie Art. 72 Abs. 1 GG – das Gesetzgebungsrecht der Länder; sondern sie läßt es geradezu aufleben. Im übrigen wäre es müßig, wollte man versuchen, die Grundsatzzuständigkeit aus dem Zusammenhang der verschiedenen „Grundsatz“-Regelungen zu interpretieren, die durch heterogene Verfassungsänderungen in das Grundgesetz 123 Übersicht: Hans-Werner Rengeling, Gesetzgebungszuständigkeit, in: HStR IV, 1990, § 100 Rn. 282 ff. So aber Werner Weber, Mitwirkung des Bundes beim Abschluß von Länderkonkordaten, in: DÖV 1965, S. 45; Preuß, in: GG-Alt. Komm. (Fn. 13), Art. 140 Rn. 65. Ablehnend: v. Mangoldt/Klein/v. Campenhausen, Art. 140 GG/Art. 138 WRV Rn. 9. 124  Die letztere Folge bejahen: W. Weber, Mitwirkung (Fn. 123), S. 45; ders., Staatsleistungen (Anh. 2), Sp. 317; Brauns, Staatsleistungen (Anh. 2), S. 114 – 130; Preuß, in: GG-Alt.-Komm. (Fn. 13), Art. 140 Rn. 65. Dagegen: v. Mangoldt/Klein/v. Campenhausen, Art. 140 GG/Art. 138 WRV Rn. 1. 125 Vgl. Burkhard Tiemann, Die Grundsatzgesetzgebung des Bundes, in: BayVBl. 1971, S. 285 f.

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gelangt sind126. Denn die staatskirchenrechtliche „Grundsatz“-Vorschrift, die älteste des Verfassungstextes, findet in ihren ambivalenten Bedeutungen – als Ermächtigung wie als Inpflichtnahme, als Initiativvorbehalt wie als Richtliniengewalt – kein Seitenstück im Grundgesetz. Sie läßt sich in keine Kompetenzschablone pressen. Eine Ausnahme vom dualen Konzept der Grundsatzkompetenz des Bundes und der Ausführungskompetenz der Länder ist jedoch unvermeidlich. Soweit nämlich die abzulösenden Staatsleistungen nach allgemeinen Kompetenzregeln in die Zuständigkeit des Bundes fallen (eine ausschließliche oder eine von ihm absorbierte konkurrierende Zuständigkeit), kommt dem Bund für den Bereich auch die volle Regelungskompetenz zu. Das gilt vor allem für die negativen Staatsleistungen, zumal die Steuerbefreiungen, die durch Bundesgesetze vorgesehen werden127; ferner für solche Leistungen, die der Bund selber aufbringt. 3.  Das „freundschaftliche Einvernehmen mit den Betroffenen“ Der Bund ist in die Konkordatsverpflichtung des Reiches eingetreten, vor der Ausarbeitung der für die Ablösung aufzustellenden Grundsätze rechtzeitig mit dem Heiligen Stuhl ein „freundschaftliches Einvernehmen“ herbeizuführen128. Sinngemäß gilt diese Pflicht auch gegenüber den anderen Leistungsempfängern. Das Paritätsgebot wirkt im Ablösungsverfahren (wie auch bei den materiellen Ablöseregelungen) als eine Art Meistbegünstigungsklausel: Was der Bund einem Beteiligten einräumt, muß er auch den anderen zuerkennen129. Diese Konkordatspflicht gilt nicht für die Gesetze der Länder130. Dem Geist des heutigen Staatskirchenrechts entspricht allerdings auch hier ein procedere, das auf „schiedlich-friedliche Einigung“ ausgeht. Zumindest muß den Betroffenen – gleich, ob eine Legal- oder eine Administrativ-Ablösung vorgesehen wird – rechtliches Gehör gegeben werden. Die Bundesgrundsätze könnten den Ländern vorschreiben, den Inhalt der Ablösungsgesetze mit den Destinataren abzustimmen. Einige Länder haben sich bereits kirchenvertraglich verpflichtet,

126  Art. 75 Nr. 1 a, 91 a Abs. 2 S. 2, 109 Abs. 3 GG. – Gegenüberstellung: Tiemann, Grundsatzgesetzgebung (Fn. 125), S. 285 – 290. 127  Richtiger Ansatz bei Lipphardt, Negative Staatsleistungen (Anh. 2), der allerdings ohne Not auf eine ungeschriebene Kompetenz aus Sachzusammenhang oder Natur der Sache zurückgreift (S. 415). 128  Art. 18 Abs. 1 RK. 129 Vgl. W. Weber, Ablösung (Anh. 2), S. 35, 45; Scheuner, Bestand (Anh. 2), S. 389. 130 Siehe W. Weber, Mitwirkung (Fn. 123), S. 45. – Beispiel einer paritätsgemäßen Meistbegünstigungsklausel: Art. VI Vertrag des Landes Hessen mit den Kath. Bistümern in Hessen v. 9. 3. 1963.

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eine Ablösung nicht ohne Zustimmung der Kirchen durchzuführen131. Das Land Brandenburg bestimmt sogar in seiner Verfassung, daß staatliche und kommunale Leistungen nur durch Vereinbarung abgelöst werden können (Art. 37 Abs. 2).

IV.  Geltung der Verfassungsdirektive Der Ablösungsauftrag gilt als objektives Verfassungsrecht, das die Gesetzgeber in Bund und Ländern bindet. Die Aktualität für die Länder ist allerdings aufschiebend bedingt durch den Erlaß der Bundesgrundsätze. Die Ablösungsinitiative liegt beim Bund. Diesem obliegt zwar die Pflicht, die Initiative zu ergreifen. Er bestimmt aber nach Ermessen über deren Zeitpunkt. Die Erfüllung des Verfassungsgebotes kann weder von den Ländern noch von den Religionsgesellschaften mit rechtlichen Mitteln, etwa über eine Verfassungsklage, erzwungen werden. Die Ablösungsdirektive ist auf kein Sonderinteresse bezogen, aus dem sich eine verfassungsgeschützte, klagbare Rechtsposition ableiten ließe. Der Vollzug braucht keine Frist einzuhalten. Bei Nichtvollzug droht keine Sanktion. Der Verfassungsauftrag ist aber auch nicht als Folge jahrzehntelanger Nichterfüllung obsolet geworden132. Ein derogierendes Gewohnheitsrecht hat sich nicht gebildet. Daß die Vorschrift weiterhin von der allgemeinen opinio iuris ac necessitatis getragen wird, erhellt daraus, daß das Grundgesetz nach jahrzehntelanger Stagnation den Auftrag erneuert hat. Überdies tragen die Kirchenverträge auch in der Bonner Verfassungsära der vorgesehenen Ablösung Rechnung133. Daß die Ablösung trotzdem nur Programm geblieben ist, erklärt sich zum einen daraus, daß sich mit ihr kein wirkmächtiges politisches Interesse verbündet hat; zum anderen, daß der verfassungsmäßig vorgezeichnete Weg sich als zu schwierig erwiesen hat. Die Rechtspraxis hat einen einfacheren gefunden und vielfach beschritten: die einvernehmliche Regelung unter den Beteiligten. Wenn diese Entwicklung stetig und folgerichtig fortschreitet, wird das Verfassungsziel der Vermögensentflechtung erfüllt werden, ohne daß der schwerfällige verfassungsrechtliche Mechanismus in Betrieb gesetzt werden muß, und der Verfassungsauftrag wird sich erledigt haben, weil sein Substrat beseitigt sein wird. In der Tat hindert der Vorbehalt eines Bundes-Grundsatzgesetzes die Schuldner von

131 Schlesw.-Holst. KV Art. 18 Abs. 2 S. 2; HessKV Schl.Prot. zu Art. 5 Abs. 5; Rheinl.-Pfälz. KV Schl.Prot. zu Art. 6 Abs. 3. – Für die allgemeine Geltung der Pflicht zu vorheriger Absprache: Scheuner, Bestand (Anh. 2), S. 389. 132 Für die Fortgeltung: Wehdeking, Kirchengutsgarantien (Anh. 2), S. 220  – 230; Brauns, Staatsleistungen (Anh. 2), S. 137; Scheuner, Bestand (Anh. 2), S. 388 f. 133  Beispielhaft sind die Regelungen in Art. 16 Abs. 2 NiedersKV und Art. 15 Abs. 2 NiedersK. Übersicht über die kirchenvertraglichen Verweisungen auf Art. 138 Abs. 1 WRV (Art. 140 GG): Wehdeking, Kirchengutsgarantien (Anh. 2), S. 227 – 229.

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Staatsleistungen nicht, sich mit den Destinataren zu arrangieren und sich auf eine Ablösung zu verständigen.

E.  Der Bestandsschutz Während die Verwirklichung des Ablösungsauftrags, der evolutionären Komponente der Staatsleistungs-Norm, auf sich warten läßt, hat die konservative Komponente aktuelle Geltung. Art. 138 Abs. 1 WRV (Art. 140 GG) gewährleistet in dreierlei Hinsicht den Besitzstand der Destinatare: – als dauerhafte Wertgarantie der Staatsleistungen, die sich sogar (und erst recht) im Fall der Ablösung auswirkt dadurch, daß die Kompensation für die aufzuhebenden Rechte sichergestellt ist; – als vorläufige Status-quo-Garantie bis zur Durchführung der verfassungsmäßig angeordneten Auseinandersetzung; – als authentische Klarstellung des Verfassunggebers, daß die fortbestehenden vorkonstitutionellen Dotationen mit der Verfassung vereinbar sind. Dieser dritte Aspekt bedarf vorweg der Erläuterung.

I.  Authentische Feststellung über Verfassungsmäßigkeit und Fortbestehen Wenn der Verfassunggeber die Vorweimarer Staatsleistungen zur Ablösung bestimmt, so setzt er deren Fortbestand voraus und schließt damit aus, daß sie mit Inkrafttreten der Weimarer oder Bonner Verfassung erloschen sind, weil sie anderen Verfassungsnormen widersprechen. Das Interpretationsgebot der praktischen Konkordanz aller Verfassungsbestimmungen verbietet, einzelne Bestandteile des Verfassungskompromisses polemisch gegeneinander auszuspielen. Daher ist es von vornherein durch Art. 138 Abs. 1 WRV (Art. 140 GG) ausgeschlossen, daß die Existenz der Staatsleistungen aus der Sicht der Grundrechte oder objektiver Verfassungsnormen in Frage gestellt werden kann134. So sind die Dotationen vor verfassungsrechtlichen Angriffen geschützt, die unter Berufung auf das Verbot der Staatskirche bzw. die weltanschauliche Neutralität (1), die Parität (2) oder auf die allgemeine Änderung der Verfassungslage (3) geführt werden könnten. Gleichwohl seien diese Gesichtspunkte näher geprüft.

134 

Zutreffend BVerwG, in: DVBl. 1979, S. 116 (117).

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1.  Neutralität des Staates Das Verbot der Staatskirche (Art. 137 Abs. 1 WRV/Art. 140 GG) bezieht sich auf institutionelle Verschränkungen, wie sie im landesherrlichen Summepiskopat der protestantischen Territorien bestanden haben135, nicht aber auf Finanzzuweisungen der öffentlichen Hand. Auch ohne die Vorschrift des Art. 138 Abs. 1 WRV (Art. 140 GG) wäre der Fortbestand der Staatsleistungen nicht vom Verbot der Staatskirche berührt worden136. Ebenso scheidet ein Konflikt mit dem Gebot der weltanschaulichen Neutralität des Staates aus, wie es in Art. 4 GG und in den staatskirchenrechtlichen Verbürgungen wirksam ist137. Die Staatsleistungen verwirklichen kein Engagement der öffentlichen Hand zugunsten bestimmter Konfessionen, sondern erfüllen vorkonstitutionell begründete Rechtspflichten. Die Neutralität des Staates wird durch die Aufbringung der Säkularisationslasten ebensowenig beeinträchtigt wie durch den fortdauernden Genuß der Säkularisationsvorteile. Der Umstand, daß staatliche Haushaltsmittel, die von der konfessionell inhomogenen Allgemeinheit aufgebracht werden, bestimmten Religionsgemeinschaften zufließen, begründet ebenfalls keine Neutralitätsverletzung138. Die Verfassung des modernen Subventions- und Umverteilungsstaates erlaubt (und legitimiert) erheblich empfindlichere Interventionen in die grundrechtlich geschützten, staatsneutralisierten Eigenbereiche der politischen Willensbildung, der Wirtschaft und der Kultur139. Die Aufrechterhaltung der Dotationen verstößt ebensowenig gegen konfessionelle Neutralität, wie die Einführung der staatlichen Parteifinanzierung der parteipolitischen Neutralität widerspricht140. 2.  Rechtsgleichheit und konfessionelle Parität Dagegen erlangt Art. 138 Abs. 1 WRV (Art. 140 GG) Bedeutung, um Angriffe von der Warte des Gleichheitssatzes und des Paritätsgebotes abzuwehren. Die Beschränkung der Staatsleistungen auf die „altrechtlichen“ Religionsgesellschaf135 Dazu Anschütz, Verfassung (Fn. 58), Art. 137, Anh. 1; Klaus Schlaich, Neutralität als verfassungsrechtliches Prinzip, Tübingen 1972, S.170 – 173; v. Campenhausen, Staatskirchenrecht (Fn. 3), S. 73 – 82. 136 Gegenansicht Brauns, Staatsleistungen (Anh. 2), S. 95 – 100. 137  Zu diesem Gebot grundsätzlich: Schlaich, Neutralität (Fn. 135), insbes. S. 129 – 217. 138 Zutreffend: BVerwGE 38, 76 (78 f., 80); Scheuner, Bestand (Anh. 2), S. 395 f.; Maunz (Fn. 83), Art. 140 GG/Art. 138 WRV Rn. 1, 5, 6; HdbBayStKirchR, S. 196; Link, Rechtsprobleme (Anh. 2), S. 212 f. – Verfehlt dagegen OVG Münster, Urt. v. 13. 10. 1969, in: ZevKR 15 (1970), S. 275 (278 ff.). 139 Vgl. Schlaich, Neutralität (Fn. 135), S. 242 f., 250 – 256. 140  Nachw. der BVerfG-Judikatur zur Parteienfinanzierung: Leibholz/Rinck, Grundgesetz (Fn. 26), Art. 21, Anm. 121 ff.

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ten entspricht nicht abstrakten Egalitäts- und zeitgemäßen Paritätsvorstellungen. Hier stellt Art. 138 Abs. 1 WRV (Art. 140 GG) klar, – daß die traditionellen Leistungen nicht wegen der historisch begründeten Ungleichheit eingestellt werden dürfen, sondern erst künftig gegen Abfindung aufzuheben sind141; – daß die Dotationen nicht nach Gleichbehandlungs- und Paritätsgesichtspunkten auch solchen Religionsgemeinschaften zuerkannt werden müssen, die sich auf keinen vorkonstitutionellen Rechtstitel berufen können142. Allerdings wird eine Ausweitung auch nicht verhindert143. 3.  Gesellschaftlicher Wandel – Wegfall der Geschäftsgrundlage? Der Wegfall oder die Kündbarkeit von Leistungspflichten kann nicht auf Gründe gestützt werden, die der Verfassunggeber von Weimar oder Bonn selber geliefert oder die er, weil sie ihm vertraut gewesen sind, billigend in Kauf genommen hat: So hat es keinen Einfluß auf den Fortbestand der Staatsleistungen, daß nunmehr die Kirchensteuer die primäre Finanzierungsgrundlage bildet. Denn Art. 137 Abs. 6 WRV (Art. 140 GG) läßt erkennen, daß bis zur Ablösung Kirchensteuer und Staatsleistungen nebeneinander bestehen bleiben sollen144. Die Kirchensteuer ist schon deshalb kein möglicher Ersatz, weil sie vom Kirchenvolk 141  Art. 138 Abs. 1 WRV (Art. 140 GG) wird als zulässiger Differenzierungsgrund sub specie des Art. 3 Abs. 1 GG anerkannt von BVerfGE 19, 1 (13 – 16); s. auch BVerwGE 38, 76 (80); Hollerbach, Anmerkung (Anh. 2), in: JZ 1965, S. 612 – 615; Scheuner, Bestand (Anh. 2), S. 395. – Unzutreffend: OVG Münster (Fn. 138), S. 276 ff. 142  So einschlußweise BVerfGE 19, 1 (13, 16). Ebenso Hollerbach, Anmerkung (Anh. 2), in: JZ 1965, S. 614 (unzutreffend aber die These, für positive Staatsleistungen sei Ausweitung verboten). Zu Unrecht sieht BFHE 159, 207 (208 f.) „rechtsstaatliche Bedenken“ gegen eine Grundsteuerbefreiung als negative Staatsleistung. Kommunale Kirchenbaulasten, auch soweit sie nicht auf Art. 138 Abs. 1 WRV gestützt werden, verstoßen nicht gegen den Neutralitätsgrundsatz und das Paritätsgebot des Grundgesetzes (BVerwGE 38, 78 [80 f.]); BVerwG, in: KirchE 22, 38 [39 f.]). 143  Dazu unten G. 144  Die Staatsleistung ist keine subsidiäre Einnahmequelle gegenüber der heutigen Kirchensteuer. Das RG stellte bereits 1926 fest, der Staat habe sich von einer bei Inkrafttreten der WRV bestehenden Leistungspflicht aus eigener Machtvollkommenheit nicht dadurch befreien können, daß er einer Landeskirche das Besteuerungsrecht eingeräumt habe (RGZ 113, 349 [379]; ähnlich RGZ 125, 186 [190]). Der StGH lehnte 1929 ab, die Kirche als Ersatz für Staatsleistungen auf die Steuererhebung zu verweisen: Die Erhebung einer übermäßig hohen Steuer sei unzumutbar, da dies erfahrungsgemäß die Kirchenaustrittsbewegung fördere (in: RGZ 128, Anhang S. 16 [44]). Nach dem BVerwG liefert die heutige Kirchensteuer kein Argument gegen die Fortdauer kommunaler Leistungspflichten (BVerwGE 38, 76 [81] – entgegen OVG Münster [Fn. 138], S. 280 ff.). Vgl. auch Eberhard Sperling, Zum Fortbestand herkömmlicher Kirchenbaulasten der politischen Gemeinden, in: DÖV 1973, S. 270.

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aufgebracht wird (wenn auch von der Staatsverwaltung eingezogen), indes die Staatsleistungen der staatlich organisierten Allgemeinheit obliegen. Desgleichen ergibt sich kein Einwand aus dem allgemeinen Wandel der staatskirchenrechtlichen Beziehungen – dem Auseinanderrücken von Staat und Kirche, dem Rückzug des Staates aus sakralen, dem der Kirche aus profanen Aufgaben145. Denn dieser Wandel ist von der Weimarer Reichsverfassung bejaht oder sogar bewirkt worden. – Im Jahre 1919 konnte der Verfassunggeber nicht mehr ohne weiteres voraussetzen, daß die Bevölkerung der leistungspflichtigen Gebietskörperschaften noch so konfessionell geschlossen war wie bei der Begründung der Pflichten und daß sie auch in Zukunft unverändert bleiben werde. Vollends durfte das der Verfassunggeber von 1949 nicht mehr erwarten, nachdem die Bevölkerungsbewegungen von Jahrzehnten, vor allem Flucht und Vertreibung nach 1945, die Gesellschaft neu durchmischt hatten. Schon deshalb ist der Verlust der konfessionellen Homogenität unerheblich – abgesehen davon, daß die Rechtspflichten einer Körperschaft nicht von der soziologischen Struktur des jeweiligen Mitgliederbestandes abhängen146. Da die Staatsleistungen auf dem Stand von 1919 eingefroren sind, bleiben nachträgliche Änderungen schon aus tatbestandlichen Gründen grundsätzlich irrelevant. Ohnehin hat nach Allgemeiner Rechtslehre der Fortfall des ursprünglichen Leistungszwecks oder der ursprünglich vorausgesetzten Rechtsverhältnisse nur geringen Einfluß auf den Bestand von Schuldverhältnissen147. Vollends minimiert ist dieser Einfluß im Geltungsbereich des Art. 138 Abs. 1 WRV (Art. 140 GG): Wenn die Zuwendung einen wesentlichen Teil der Unterstützung bildet, die der Staat der Kirche zur Bestreitung ihrer wirtschaftlichen Bedürfnisse gewährt, so greift die Veränderungssperre ein, solange die Bedürfnisse andauern. Auf die 145  Die Topoi „Veränderung der Verhältnisse“ oder „Veränderung der Normsituation“ werden unkritisch gegen kommunale Kirchenbaulasten ausgespielt: BVerwGE 28, 179 (183); OVG Münster, Urt. v. 14. 2. 1966, in: KirchE 8, 32 – 41; OVG Münster (Fn. 138), S. 280 – 282. – Zurückhaltender BVerwGE 38, 76 (81). – Zur nachträglichen „Unmöglichkeit“ im Recht der Staatsleistungen zutreffend: Zündorf, Ablösung (Anh. 2), S. 121 – 126. 146  Unzutreffend: BVerwGE 38, 76 (82 f.) – freilich bezogen auf die Kirchengutsgarantie des Art. 138 Abs. 2 WRV, nicht auf die anders gelagerte Norm des Art. 138 Abs. 1 WRV. 147  So wird der Vorbehalt der clausula rebus sic stantibus an sich auch für öffentlichrechtliche Verträge anerkannt. Wenn allerdings wegen der Änderung der bei Vertragsschluß vorausgesetzten Verhältnisse das Festhalten an einer Vertragspflicht unzumutbar wird, entbindet diese Klausel grundsätzlich nicht vom Vertrag im Ganzen; vielmehr ermöglicht sie in erster Linie die Anpassung an die neue Lage, allenfalls auch die Geldabfindung (vgl. BVerfGE 34, 216 [232 f.]). Für das heutige Gesetzesrecht gilt der Vorbehalt von vornherein nicht. Der gemeinrechtliche Satz „Cessante ratione legis cessat lex ipsa“ hat im modernen Gesetzesstaat seine Kraft verloren (vgl. Karl Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft. 6. Aufl., Berlin, Heidelberg, New York 1991, S. 351; Wolfgang Löwer, Cessante ratione legis cessat ipsa lex. Berlin und New York 1989).

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weiteren Ziele, die der öffentliche Geber – vielleicht sogar vorrangig – verfolgt hat, kommt es nicht an. Das Verfassungsrecht hält den vorgefundenen Vermögensstand vorläufig aufrecht, obwohl dessen Gründe weitgehend überholt sind. Für die Adaptierung an die rechtlichen und gesellschaftlichen Verhältnisse der Gegenwart ist die Ablösung vorgesehen. Daneben bleibt wenig Raum für das sonstige Anpassungsinstrumentarium der Rechtsordnung, wie die clausula rebus sie stantibus oder den Fortfall der Geschäftsgrundlage148. Die Verwaltungsgerichte erkennen freilich der Änderung der Verhältnisse eine gewisse Relevanz zu für den Bestand kommunaler Baulasten, soweit diese nach traditioneller Auffassung auf die Kirchengutsgarantie (Art. 138 Abs. 2 WRV) gestützt werden149. Die Judikatur zu dieser Norm läßt sich nicht auf die Staatsleistungsgarantie des Art. 138 Abs. 1 WRV übertragen, weil diese auf das „Normaljahr“ 1919 abstellt und so gewisse Distanz gewinnt zu späteren Entwicklungen. Immerhin: am ehesten mag der Wandel der Verhältnisse sich auf kommunale Leistungen auswirken, auch wenn diese dem Schutzbereich des Art. 138 Abs. 1 WRV zugeordnet werden. Die kommunale Rechtspflicht kann entfallen, wenn deren ortsgebundener Zweck sich auf Dauer erledigt, weil das Pfarrhaus, für das der Gemeinde die radizierte Baulast obliegt, nicht mehr der örtlichen Pfarrei dient, sondern von der Kirche umgewidmet wird für überörtliche Aufgaben, etwa solche der Diakonie, oder erwerbswirtschaftlich zur Vermietung genutzt wird. Doch mit der Kriegszerstörung eines Kirchengebäudes erledigt sich nicht die Baulast, vielmehr aktualisiert sie sich als Wiederaufbaupflicht150.

II.  Status-quo-Garantie auf Widerruf und vertragliche Ablösung 1. Art. 138 Abs. 1 WRV (Art. 140 GG) entfaltet seine aktuelle Wirkung als vorläufige Status-quo-Garantie. Diese Regelung ist nicht das einzige Provisorium des Verfassungsrechts, das sich als dauerhaft erweist. – Die Veränderungssperre, die der Ablösung vorgeschaltet ist, vermittelt den Destinataren ein verfassungskräftiges subjektives Recht auf Aufrechterhaltung der Leistungen, ohne Rück148  Diese Rechtsinstitute können bei Leistungspflichten eingreifen, die nicht der Ablösung unterliegen: etwa Pflichten auf einmalige Realdotation oder nach 1919 begründete Pflichten. 149  Exemplarisch BVerwGE 38, 76 (81 ff.); BVerwG, in: KirchE 22, 38 (40); BVerwG, in: DVBl. 1979, S. 116 (117 f.). Die Anwendung der clausula rebus sic stantibus geht auch im Geltungsbereich der Kirchengutsgarantie zu weit. Kritik: Scheuner, Fortfall (Fn. 89), S. 353 – 361, und Bestand (Anh. 2), S. 391 – 396 mit Nachw.; vgl. auch Huber, Rezension (Anh. 1), S. 150 ; Sperling, Fortbestand (Fn. 144), S. 271 f.; Mikat, Staat (Fn. 58), S. 1086; HdbBayStKirchR, S. 166. Gleichwohl bleiben die kommunalen Leistungen eine verfassungsrechtlich relativ schwach geschützte Flanke des Leistungssystems, solange die herrschende Verfassungsinterpretation ihnen den Schutz der Staatsleistungsgarantie nicht zuerkennt. 150  s. oben B. II. 4.

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sicht darauf, ob der jeweilige Leistungstitel schon aus sich heraus einen Anspruch gewährt151. Die öffentlich- oder privatrechtliche Form der jeweiligen Leistungspflicht bleibt dadurch unverändert. Von der Rechtsform hängt die Zulässigkeit des ordentlichen oder des Verwaltungsrechtswegs ab. Die prozessuale Durchsetzbarkeit als solche ist nunmehr für alle Staatsleistungen im Rahmen des Art. 138 Abs. 1 WRV (Art. 140 GG) sichergestellt152. 2. Der Bestandsschutz erfaßt die Staatsleistungen in ihrem vollen wirtschaftlichen Wert. Beitragsleistungen müssen den jeweiligen Währungsverhältnissen angepaßt und in Perioden der Geldentwertung „inflationsbereinigt“ werden153. Die Pflicht zur Überlassung von Bauten für kirchlichen Wohn- und Verwaltungsbedarf entfällt nicht, wenn die Häuser im Kriege zerstört werden. Vielmehr ist der Staat von Verfassungs wegen gehalten, die Baulichkeiten wiederherzustellen154. 3. Die Verfassungsgarantie schließt jede Form einer „Temporaliensperre“ aus. Dem Leistungsschuldner ist es verwehrt, die Erfüllung seiner Pflichten von kirchlichem Wohlverhalten abhängig zu machen und sich deshalb auf Zurückbehaltungsrechte, Auflagen oder Bedingungen zu berufen. Der Versuch, die Staatsleistung als kirchenpolitisches Steuerungsinstrument zu handhaben, verletzt nicht nur die Garantie des Art. 138 Abs. 1 WRV (Art. 140 GG), sondern auch das Verbot kirchenregimentlicher Staatsfunktionen (Art. 137 Abs. 1 WRV/Art. 140 GG), das Selbstbestimmungsrecht der Religionsgesellschaften (Art. 137 Abs. 3 WRV/Art. 140 GG), die Religionsfreiheit (Art. 4 Abs. 1 GG) und das Willkürverbot (Art. 3 Abs. 1 GG). 4. Die Veränderungssperre hat die Länder nicht gehindert, Staatsleistungen im Wege der Vereinbarung mit den Kirchen abzulösen155. Die Rechtspraxis versteht 151  Huber unterscheidet zutreffend den Anspruch, der aus dem Rechtstitel, und das subjektive öffentliche Recht, das aus Art. 138 Abs. 1 WRV kommt (Garantie [Anh. 1], S. 94). 152  Zu den Rechtsfragen: Huber, Garantie (Anh. 1), S. 61; Müssener, Ansprüche (Fn. 9), S. 58 f. Zur Zulässigkeit der Verfassungsbeschwerde s. unten III 2. 153  Die Pflicht des Leistungsträgers, Inflationsverluste durch Aufwertung der geleisteten Beträge auszugleichen, wird allgemein anerkannt: StGH, in: RGZ 118, Anhang S. 1 (8 – 15), und in: RGZ 128, Anhang S. 16 (35, 37); RG, Urt. v. 18. 5. 1926, in: JW 1927, S. 1253 (1254); Schott, Rechtsgrundlagen (Anh. 1), S. 27, 54; Peter Kahl, Schlußwort (betreffend die Kontroverse Conrad-Mess), in: DJZ 28 (1923), S. 340; Huber, Garantie (Anh. 1), S. 72 f., 100, 101; Ebers, Staat (Fn. 3), S. 246 – 252; Karl Loewenstein, Die Rechtsgültigkeit der gesetzlichen Neuregelung der Biersteuerentschädigung, in: AöR 52 (1927), S. 242; W. Weber, Ablösung (Anh. 2), S. 40 f. 154  Näher s. oben B. II. 4. 155 Beispiele für kirchenvertragliche De-facto-Ablösungen: Art. 16, 17 NiedersKV; Art. 15, 16 NiedersK; Art. 5 – 7 HessKV; Art. I-IV Vertrag des Landes Hessen mit den Kath. Bistümern in Hessen v. 9. 3. 1963; Art. 18 – 20 Schlesw.Holst. KV; Art. 13 Abs. 1 und 3 Sachs.-Anh. KV; Übersicht über vertragliche Auseinandersetzungen: W. Weber, Ablösung (Anh. 2), S. 4 – 9; Hofmann, Ablösung (Anh. 2), S. 372 – 377.

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das Ablösungsverbot lediglich als Verbot einseitiger Ablösungsmaßnahmen156. Gegen dieses nicht eigens verfassungsgesetzlich vorgesehene procedere werden Bedenken erhoben: In der Ablösungsnorm seien Staatsinteressen verkörpert, die nicht zur Disposition der Vertragspartner stünden157. Jedoch sperrt dieser Einwand nicht den einzig gangbaren Weg, den sich die Rechtspraxis gebahnt hat, um dem Verfassungsziel einer Erneuerung der fossilierten Vermögensbeziehungen näherzukommen. Die Destinatare können auf die Einhaltung von Formalien verzichten, die ihrem Schutz dienen158. Die Sperrwirkung, die der bundesgesetzliche Vorbehalt zeitigt, beschränkt sich auf Maßnahmen der Leistungspflichtigen ohne Zustimmung der Leistungsempfänger oder sogar gegen deren Willen. Doch beide Seiten können einvernehmlich über die Staatsleistungen verfügen. Es ist ihnen unbenommen, sie neuen Gegebenheiten und Bedürfnissen anzupassen wie auch sie einvernehmlich abzulösen. Der kirchlichen Seite steht es auch frei, auf sie zu verzichten. Die einvernehmlichen Regelungen dürfen allerdings nicht das materiale Verfassungsgebot einer wertgerechten Abgeltung verletzen. Ein Kirchenvertrag kann die vom Grundgesetz erstrebte umfassende, gleichmäßige Bereinigung der Vermögensbeziehungen nicht ersetzen. Immerhin muß der staatliche Leistungsträger der Gleichbehandlung aller Destinatare dadurch Rechnung tragen, daß er, wenn er mit dem einen eine Ablösungsvereinbarung getroffen hat, sich den übrigen gegenüber zu entsprechenden Regelungen bereithält. Schließlich wird durch einvernehmliche Auseinandersetzung nicht die endgültige Entscheidung im regulären gesetzlichen Ablösungsverfahren vorweggenommen159. Im Ergebnis blockiert also die Staatsleistungsnorm nicht die Rechtsentwicklung. Sie ermöglicht Evolution – allerdings nur durch Koordination und in schonendem Ausgleich. 156 So

die Äußerungen der Abg. Heinze und Mumm im Weimarer Verfassungsausschuß (Sten. Ber. d. NatVers., Bd. 336, S. 520). Auf derselben Linie: RGZ 113, 349 (350); ­Israel, Reich (Anh. 1), S. 30; Hofmann, Ablösung (Anh. 2), S. 370 f.; Maunz, Regelungen (Fn. 120), S. 3; Maunz (Fn. 83), Art. 140 GG/Art. 138 WRV Rn. 2, 9; Helmut Quaritsch, Kirchenvertrag und Staatsgesetz, in: FS für Friedrich Schack. Harnburg 1966, S. 127; Wehdeking, Kirchengutsgarantien (Anh. 2), S. 122 – 123 (mit Nachw.); v. Mangoldt/Klein/v. Campenhausen, Art. 140 GG/Art. 138 WRV Rn. 9. Zurückhaltend: Hollerbach, Schutz (Fn. 89), § 139 Rn. 59. 157 Vgl. Huber, Garantie (Anh. 1), S. 99 f.; Anschütz, Verfassung (Fn. 58), Art. 138, Anm. 4; Koellreutter, Beiträge (Anh. 1), S. 25 f.; Zündorf, Ablösung (Anh. 2), S. 78 – 83, 118. 158  Daß die Destinatare nicht durch staatlichen Druck zur Annahme eines Vertragsdiktats, zur Unterwerfung unter einen „ungleichen Vertrag“ genötigt werden können, ist durch die verfassungsrechtlichen Freiheitsgarantien und Koordinationsbedingungen des Staatskirchenrechts sichergestellt. 159  Kirchenvertragliche Vermögensauseinandersetzungen werden häufig mit dem Vorbehalt verbunden, daß für die Ablösung nach Art. 138 Abs. 1 WRV (Art. 140 GG) die bisherige Rechtslage maßgebend sei. Siehe Art. 16 Abs. 2 NiedersKV; Art. 15 Abs. 2 NiedersK; Art. 18 Abs. 2 S. 1 Schlesw.-Holst. KV.

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III.  Verfassungsrechtlicher Bestandsschutz außerhalb des Art. 138 Abs. 1 WRV (Art. 140 GG) 1.  Kirchengutsgarantie Die Regelungsbereiche der Ablösungsvorschrift und der Kirchengutsgarantie (Art. 138 Abs. 2 WRV/Art. 140 GG) überschneiden sich – und zwar hinsichtlich solcher Staatsleistungen, die zwei Voraussetzungen erfüllen: – daß der zugrunde liegende Rechtstitel dem Destinatar ein subjektives Recht einräumt und – daß das Aufkommen Kultus-, Unterrichts- oder Wohltätigkeitszwecken gewidmet ist. Während die Ablösungsvorschrift an diese Kriterien nicht gebunden ist, reicht die Kirchengutsgarantie über Staatsleistungen im technischen Sinne hinaus. Soweit die Normen konkurrieren, ist Art. 138 Abs. 2 subsidiär: Das allgemeine Säkularisierungsverbot, das Art. 138 Abs. 2 enthält160, schützt einerseits nicht vor der Ablösung, bleibt andererseits aber an Schutzintensität hinter der vorläufigen Status-quo-Garantie zurück161. 2.  Eigentumsgrundrecht Ähnlich löst sich auch die Normenkonkurrenz zwischen Art. 138 Abs. 1 WRV (Art. 140 GG) und Art. 14 GG. Das Eigentumsgrundrecht umfaßt an sich auch die Staatsleistungen; es bleibt aber subsidiär, soweit für diesen „Eigentums“-Typus auf Verfassungsebene Inhalt und Schranken gesondert konstituiert werden und ein spezifischer Beendigungsgrund vorgesehen ist162. Art. 14 GG tritt aber in Erscheinung, wenn der Bestandsschutz der Dotationen über die Verfassungsbeschwerde verteidigt werden soll. Da die Garantien des Art. 140 GG nicht zu den beschwerdefähigen Grundrechten und grundrechtsähnlichen Rechten gehören (arg. Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG, § 90 Abs. 1 BVerfGG)163, kommt als zulässige Rüge nur die Verletzung des Eigentumsgrundrechts in Be160 Dazu J. Heckel, Kirchengut (Fn. 5), S. 129 – 143; Hesse, Bauplanungsrecht (Fn. 94), S.  67 – 77. 161 Vgl. Huber, Garantie (Anh. 1), S. 56 – 58; Wehdeking, Kirchengutsgarantien (Anh. 2), S.  126 – 133; Axer, Steuervergünstigungen (Anh. 2), S. 481 ff.; Link, Rechtsprobleme (Anh. 2), S. 210 ff. 162  Zu Art. 153 WRV: Huber, Garantie (Anh. 1), S. 56 – 58. 163  So BVerfGE 19, 129 (135). – Der Grundrechtscharakter des Art. 138 Abs. 1 WRV wird abgelehnt von Huber, Garantie (Anh. 1), S. 99. Die Gegenposition begründet hinsichtlich Art. 138 Abs. 2 WRV (Art. 140 GG) Wehdeking, Kirchengutsgarantien (Anh. 2), S.  67 – 111.

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tracht. Wird diesem Zulässigkeitserfordernis genügt, so steht der Weg zu einer verfassungsgerichtlichen (Begründetheits-)Prüfung am Maßstab der staatskirchenrechtlichen Norm offen164. 3.  Landesverfassungsrechtliche Garantien Den Bestimmungen der Landesverfassungen über die Staatsleistungen kommt angesichts der Regelung des Grundgesetzes keine besondere Bedeutung mehr zu165. Landesrechtliche Ablösungsdirektiven sind hinfällig geworden; und landesverfassungsrechtliche Bestandsgarantien vermögen nicht, die bundesrechtlich zu initiierende Ablösung zu verhindern (Art. 31 GG). Soweit die Landesverfassungen die Aufrechterhaltung der Staatsleistungen zusichern, verstärken sie den materiellen Schutz nur wenig über das Grundgesetz hinaus166. Immerhin verdoppeln sie den prozessualen Schutz, wenn sie den Zugang zur Staatsgerichtsbarkeit auf Landesebene eröffnen.

F.  Die Rechtslage in den neuen Bundesländern Die Wiedervereinigung Deutschlands bereitet der Spaltung der Staat-KirchenBeziehungen ein Ende. Mit dem Grundgesetz ist sein Staatsleistungsartikel auf dem Territorium der vormaligen DDR am 3. Oktober 1990 in Kraft getreten167. 164  Das BVerfG hält sich allgemein die Möglichkeit offen, im Rahmen einer zulässig erhobenen Verfassungsbeschwerde auch die Verletzung objektiven Verfassungsrechts zu prüfen (Nachw.: Gerhard Leibholz/Reinhard Rupprecht, Bundesverfassungsgerichtsgesetz, Rechtsprechungskommentar, Köln 1968, § 90 Rn. 68; Klaus Schlaich, Das Bundesverfassungsgericht. 2. Aufl., München 1991, Rn. 210 – 217). Der Verstoß gegen die Staatsleistungsgarantie muß aber nicht neben, sondern kann innerhalb der zulässig gerügten Beeinträchtigung des Eigentumsgrundrechts, dessen Ausprägung sie ist, geprüft werden. 165 Gewährleistungen ohne Ablösungsvorbehalt: Art. 145 Abs. 1 BayVerf.; Art. 45 Rheinl. – PfalzVerf.; Art. 39 SaarVerf.; Art. 7 Bad. – Württ.Verf.; Art. 112 Abs. 1 SächsVerf. – Fakultative vertragliche Ablösung: Art. 21 NWVerf.; Art. 37 Abs. 2 BrandenbVerf. – Obligatorische gesetzliche Ablösung: Art. 52 HessVerf. – Darstellung des Landesverfassungsrechts und seiner Fortgeltung: Wehdeking, Kirchengutsgarantien (Anh. 2), S. 137 – 164, 204 – 230 (Nachw.). Zu den Landesverfassungen s. unten F. II. 166  Diese Feststellung steht unter der oben begründeten Prämisse, daß Art. 138 Abs. 1 WRV (Art. 140 GG) auch die kommunalen Leistungen abdeckt. Zum Bestandsschutz der kommunalen Dotationen durch Landesverfassungen s. oben Fn. 93. 167 Dazu Wolfgang Rüfner, Deutsche Einheit im Staatskirchenrecht, in: EssGespr. 26 (1992), S. 61 ff., 73 f.; Holger Kremser, Der Rechtsstatus der evangelischen Kirchen in der DDR und die neue Einheit der EKD. Tübingen 1993, S. 248 f.; Joseph Listl, Der Wiederaufbau der staatskirchenrechtlichen Ordnung in den neuen Ländern der Bundesrepublik Deutschland, in: Die personale Struktur des gesellschaftlichen Lebens. FS für Anton Rauscher. Berlin 1993, S. 413 ff.

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Gleichwohl stößt die praktische Anwendung auf Schwierigkeiten. Unklar ist oftmals, ob und wieweit das Substrat der grundgesetzlichen Gewährleistung, das Vorweimarer Leistungsrecht, die Zeit der sowjetischen Besatzung und des DDRSozialismus überstanden hat.

I.  Sowjetische Besatzungszone und Deutsche Demokratische Republik Die sowjetische Besatzungsmacht tastete das vorgefundene System der vermögensrechtlichen Beziehungen zwischen Staat und Kirche dem Grunde nach nicht an und sagte den Kirchen den Fortbestand der Staatsleistungen zu. Die Regelung des Art. 138 Abs. 1 WRV wurde mit anderen Bestimmungen des Weimarer Staatskirchenrechts von der SED in ihrem Musterentwurf einer Verfassung vom 14. November 1946 übernommen. Diesem Vorbild folgten die Verfassungsgesetze der fünf Länder in der sowjetischen Besatzungszone168. Auf derselben Linie hielt sich die (erste) Verfassung der DDR von 1949: „Die auf Gesetz, Vertrag oder besonderen Rechtstiteln beruhenden öffentlichen Leistungen an die Religionsgesellschaften werden durch Gesetz abgelöst“ (Art. 45 Abs. 1). Im Unterschied zum Weimarer Vorbild bezog sie sich auf „öffentliche“, nicht allein auf „staatliche“ Leistungen, schloß also, anders als Art. 138 Abs. 1 WRV, schon dem Wortlaut nach auch Leistungen der Kommunen oder sonstiger öffentlich-rechtlicher Träger ein169. Nicht fortgeschrieben wurde der Vorbehalt eines Richtliniengesetzes des Reiches (Art. 138 Abs. 1 S. 2 WRV). Die (zweite) Verfassung der DDR von 1968/1974 sparte das Thema der Staatsleistungen aus. Damit leitete sie jedoch keine Wende in der Sache ein. So oder so kam den verfassungsrechtlichen Regelungen im totalitären System des Sozialismus keine rechtspraktische Bedeutung zu. Der politischen Führung in Partei und Staat war das Recht Instrument, nicht Richtmaß. Unter der Maxime sozialistischer Parteilichkeit konnte die Verfassung nicht in Normativität erwachsen170. 168  Vier Landesverfassungen sahen, wortidentisch mit der späteren DDR-Verfassung von 1949 (Art. 45 Abs. 1), die Ablösung durch Gesetz für „öffentliche“ Leistungen vor, nämlich Art. 76 Verf. des Landes Thüringen v. 1946; Art. 92 Verf. der Provinz SachsenAnhalt v. 1947; Art. 89 Verf. des Landes Mecklenburg v. 1947; Art. 92 Verf. des Landes Sachsen v. 1947. Eine Variante enthielt die Verf. für die Mark Brandenburg v. 1947, wenn sie ein Gesetz zur „Aufhebung“ der betreffenden „öffentlichen“ Leistungen vorsah (Art. 65). Dazu W. Weber, Ablösung (Anh. 2), S. 13 ff.; Erwin Jacobi, Staat und Kirche nach der Verfassung der Deutschen Demokratischen Republik, in: ZevKR 1 (1951), S. 113 f. 169 Dazu Jacobi, Staat und Kirche (Fn. 168), S. 129. Vgl. auch W. Weber, Ablösung (Anh. 2), S. 48 – zu den älteren Landesverfassungen der fünf Länder des DDR-Gebiets. 170  Es ist deshalb naiv, die Staatsleistungsgarantie der sozialistischen Verfassung wie die einer rechtsstaatlichen Verfassung zu behandeln und an ihr die DDR-Kirchenpolitik zu messen. So aber Kremser, Der Rechtsstatus (Fn. 167), S. 36 f.

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Die DDR erkannte nicht die rechtliche Verpflichtung an, die Staatsleistungen in Weimarer Verfassungstradition und in Erfüllung der einschlägigen Kirchenverträge zu prästieren171. Sie wies jedoch auch nicht förmlich alle Rechtspflichten von sich. Ein solches Vorgehen gegenüber der katholischen Kirche hätte die Frage des Konkordats aufgeworfen, das die DDR zwar nicht anwandte, aber in seiner Geltung auch nicht schlechthin bestritt172. Sie vermied die klare rechtliche Festlegung. Soweit sie Leistungen ruhen ließ, stornierte oder kürzte, berief sie sich – wie zuvor der NS-Staat bei entsprechenden Maßnahmen – auf Knappheit der Mittel. Den Kirchen war der Rechtsweg verschlossen, um ihre Ansprüche einzuklagen173. Was die DDR (oder zuvor die Länder der Sowjetischen Besatzungszone) leistete, geschah mehr oder weniger aus Kulanz. Immerhin: sie leistete. Anfänglich erbrachte sie Dotationen in hergebrachtem Umfang, 1952 erheblich vermindert, zu Beginn des Jahres 1953 überhaupt nicht, ab Juni 1953 – nach Proklamation des „Neuen Kurses“ – doch wieder, wenn auch mit Abzügen174. Entscheidend ist, daß die DDR, als Einheitsstaat die einzig mögliche Schuldnerin, die überkommenen Staatsleistungen nicht abschaffte und daß die Kirchen auf ihren Rechtspositionen beharrten. Die alten Leistungspflichten wurden nicht förmlich aufgehoben, weder einseitig noch einvernehmlich. Abweichendes Gewohnheitsrecht konnte nicht entstehen. Eine desuetudo ergab sich nicht. Das Traditionskontinuum der Staatsleistungen dünnte in der Phase der DDR aus, riß jedoch nicht völlig ab175.

II.  Verfassungen der neuen Bundesländer Obwohl die Staatsleistungen seit der Wiedervereinigung durch die Bundesverfassung rechtlich unterfangen werden, haben sich auch die Verfassungen der wiederhergestellten Länder des Themas angenommen. Vor ihrer rechtlichen steht die politische Bedeutung. Die Länder vollziehen freiwillig nach, was der Beitritt der DDR als verfassungsrechtliche Folge bewirkt hat, und machen sich die staats171  Zur Fortgeltung der Konkordate und Kirchenverträge: W. Weber, Ablösung (Anh. 2), S. 23 ff.; Rüfner, Deutsche Einheit (Fn. 167), S. 62 ff., 78 f. 172 Dazu Rüfner, Deutsche Einheit (Fn. 167), S. 62 f.; Listl, Wiederaufbau (Fn. 167), S. 420 ff.; Johannes Depenbrock, Fortgeltung des Reichskonkordats und des Preußenkonkordats in den neuen Bundesländern, in: NVwZ 1992, S. 736 (738); Axel Vulpius, Zur Fortgeltung des Preußenkonkordats in den neuen Bundesländern, in: NVwZ 1994, S. 40. 173  Oberstes Gericht der DDR in Zivilsachen: OGZ, Bd. II, 1954, S. 155 f. Dazu auch: Siegfried Mampel, Die sozialistische Verfassung der Deutschen Demokratischen Republik. 3. Aufl., Frankfurt a. M. 1972, S. 748. 174 Vgl. Mampel, Verfassung (Fn. 173), S. 748. Die Zahlungen an die evangelische Kirche beliefen sich auf 12 Mio. Mark (vgl. Rüfner, Deutsche Einheit [Fn. 167], S. 73). 175  Im Ergebnis auch Rüfner, Deutsche Einheit (Fn. 167), S. 74. s. auch die Hinweise bei Depenbrock, Fortgeltung (Fn. 172), S. 739.

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kirchenrechtliche Vorgabe der Bundesverfassung zu eigen176. Zwei Modalitäten der Regelung lassen sich unterscheiden. Zum einen werden die Weimarer Kirchenartikel (mit ihnen Art. 138 Abs. 1) inkorporiert177, zum anderen selbständige Garantien ausformuliert. Sachsen „gewährleistet“ die Leistungen des Landes ohne Ablösungsklausel (Art. 112 Abs. 1)178. Brandenburg stellt die Ablösung der Leistungen des Landes und die der Träger der kommunalen Selbstverwaltung unter den Vorbehalt einer Vereinbarung mit dem kirchlichen Destinatar, die, soweit sie das Land betrifft, der Bestätigung durch Landesgesetz bedarf (Art. 37 Abs. 2). Der Weg der vorläufigen pragmatischen Ablösung durch Kirchenvertrag dürfte allgemein gegangen werden. Das Land Sachsen-Anhalt findet in dem Vertrag mit den Evangelischen Landeskirchen vom 15. September 1993 eine exemplarische Regelung, indem es anstelle früher gewährter Dotationen für kirchenregimentliche Zwecke und Zuschüsse, für Zwecke der Pfarrbesoldung und -Versorgung sowie anderer auf älteren Rechtstiteln beruhender Zahlungen einen „Gesamtzuschuß“ vereinbart, der an die Entwicklung der Beamtenbesoldung angepaßt wird179.

III.  Rechtsschicksal einzelner Leistungstitel Die bisherigen Leistungspflichten der DDR sind seit dem 1. Oktober 1990 auf die neuen Länder (einschließlich Berlin) übergegangen. Der Wandel vom Einheitsstaat zum Bundesstaat hat zur Auswechslung des staatlichen Schuldners geführt. Die kirchlichen Gläubiger können darauf rechnen, daß die Leistungen fortbestehen, und zwar wenigstens in bisheriger, den neuen wirtschaftlichen Gegebenheiten angepaßter Höhe. Die restriktive Praxis der DDR markiert nur den Mindeststandard der Subsidien, der ohne weiteres als rechtlich fundiert behandelt werden darf. Es bleibt jedoch ein weites Feld diverser Leistungen, deren Fundierung unklar und umstritten ist, weil sie in der DDR-Zeit (unter Umständen auch schon in der NS-Zeit, zumal während des Krieges) von Staat oder Kommunen unzulänglich, verkürzt oder gar nicht erbracht wurden. Ein Erlöschen kraft Observanz („Entwöhnung“) kommt nur in Betracht, wenn die kirchliche Seite 176 Dazu Josef Isensee, Bedeutung und Grenzen der Landesverfassungen, in: Sächs­ VBl. 1994, S. 28 (31). 177  So Art. 109 Abs. 4 SächsVerf. v. 1992; Art. 9 Abs. 1 Meckl.-Vorp. Verf. v. 1993; Art. 32 Abs. 5 Sachs.-Anh. Verf. v. 1992; Art. 40 ThürVerf. v. 1993. 178 Die Landesverfassung enthält also eine zweifache Garantie, die eigene nach Art. 112 Abs. 1 und die der Verweisung auf Art. 138 WRV (Art. 109 Abs. 4). 179  Art. 13 Abs. 1 und 3 Sachs.-Anh. KV. Die pauschalierte Staatsleistung betrug 1991: 18,5 Mio. DM, 1992: 25,75 Mio. DM (Art. 13 Abs. 2). Ähnlich auch der Vertrag zwischen dem Land Mecklenburg-Vorpommern und der Evangelisch-Lutherischen Landeskirche Mecklenburg sowie der Pommerischen Evangelischen Kirche v. 20. 1. 1994 (Art. 12 – 16).

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die Rechtsauffassung der DDR teilte, daß kein aktueller Leistungsgrund mehr bestehe. Eine Aufhebung oder eine Ablösung von Rechtstiteln hätte des Einvernehmens zwischen Geber und Nehmer bedurft. Überdies müßte in solchen Fällen bewiesen werden, daß die Kirche wirklich aus freien Stücken zustimmte, nicht aber genötigt oder eingeschüchtert durch die staatliche Seite und nicht durch die repressiven Gesamtumstände des sowjetsozialistischen Systems. Die Vermutung spricht dafür, daß ein ungleicher Vertrag vorliegt. Die entsprechende Vermutung müßte auch widerlegt werden, damit ein wirksamer Rechtsverzicht oder der Tatbestand der Verwirkung angenommen werden darf. Vielfach mag sich die Frage erheben, ob die numerische Schrumpfung der Kirchen im vormaligen Gebiet der DDR Auswirkungen auf den rechtlichen Bestand der Leistungspflichten habe, etwa unter dem Gesichtspunkt der clausula rebus sic stantibus. Im Grundsatz ist die Frage zu verneinen. Destinatare der Leistungen sind kirchliche Körperschaften, die als juristische Personen von den statistischen Schwankungen ihrer Mitgliederzahl unabhängig sind. Auch die Fusion kirchlicher Körperschaften berührt nicht den Bestand ihrer Rechte gegen Staat und Gemeinde. Die kommunale Baulast für ein Kirchengebäude wird nicht deshalb hinfällig, weil der Besuch des Gottesdienstes nachläßt oder weil die zuständige kirchliche Stelle den Raum zunehmend für außergottesdienstliche Veranstaltungen (Konzerte, Kunstausstellungen etc.) nutzt. Die Rechtslage kann sich jedoch anders darstellen, falls die öffentliche Hand ihre Leistung für eine spezifisch kirchliche Agende erbringt und diese -nicht nur vorübergehend- entfällt, wenn etwa eine Pfarrstelle, zu deren Gunsten eine Gemeinde einen Besoldungszuschuß oder die Unterhaltung des Pfarrhauses schuldet, aufgehoben wird oder auf Dauer unbesetzt bleibt. Hier greifen die Regeln über Zweckerreichung oder über den Fortfall der Geschäftsgrundlage ein180.

G.  Begründung neuer Staatsleistungen I.  Verfassungsrechtliche Sperre? Nach herrschender Rechtsmeinung ist die Einführung weiterer Dotationspflichten auch noch unter der Geltung des Art. 138 Abs. 1 WRV zulässig181. Dagegen erhebt sich vereinzelt Widerspruch: Aus der Ablösungsvorschrift fol180 

s. oben E. II. 4. für die h. M.: Anschütz, Verfassung (Fn. 58), Art. 138, Anm. 3; J. Heckel, Ausgabeninitiative (Fn. 85), S. 435; Huber, Garantie (Anh. 1), S. 5 f., 96 f.; C. Schmitt, Verfassungslehre (Fn. 27), S. 33; Paul Schoen, Das neue Verfassungsrecht der evangelischen Landeskirchen in Preußen. Berlin 1929, S. 28; Ebers, Staat (Fn. 3), S. 245; August Roedel, Das bayerische Kirchenrecht. München 1930, S. 8; Ridder, Wiederaufbaupflichten (Anh. 2), S. 151; Scheuner, Bestand (Anh. 2), S. 384 f.; Mikat, Staat (Fn. 58), 181 Repräsentativ

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ge das Verbot neuer Staatsleistungen, denn Art. 138 Abs. 1 WRV verfüge die „Institutsliquidation“182. Diese These setzt sich darüber hinweg, daß die Weimarer Reichsverfassung stets ausdrücklich zu erkennen gibt, in welchen Fällen sie eine hergebrachte Rechtseinrichtung nicht weiter dulden will183, und daß der Text diese Absicht hinsichtlich der Staatsleistungen gerade nicht deutlich werden läßt184. Der Versuch, aus Art. 138 Abs. 1 WRV die Abschaffung der Dotation überhaupt zu deduzieren, überfordert diese Norm, weil sie ihrem Entscheidungsgehalt nach nur eine Überleitungsvorschrift bildet, welche die Abwicklung der übernommenen Schuldenmasse in der neuen Verfassungsära regelt. Die Überleitungsvorschrift gibt keine Auskunft darüber, ob das Gemeinwesen künftig noch gleichartige Verbindlichkeiten eingehen darf. Die Antwort hängt von den Verfassungsnormen ab, welche die neue Ordnung konstituieren. Unter diesen Normen findet sich keine, die der öffentlichen Hand verwehrte, im Verhältnis zu den Religionsgemeinschaften oder zu anderen Rechtsträgern dauerhafte Leistungspflichten zu übernehmen185.

II.  Neue Unterhaltszuwendungen Richtig ist freilich, daß das heutige Verfassungsrecht das staatliche Vorgehen ausschließt, das in früheren Epochen zur Begründung von Staatsleistungen geführt hat: die Säkularisation. Doch selbst dieses Verbot ergibt sich nicht aus dem Ablösungsauftrag (Art. 138 Abs. 1 WRV), sondern aus der Kirchengutsgarantie (Art. 138 Abs. 2 WRV), verbunden mit dem Eigentumsgrundrecht (Art. 14 GG), der korporativen Religionsfreiheit (Art. 4 Abs. 2 GG) und dem kirchlichen Selbstbestimmungsrecht (Art. 137 Abs. 3 WRV). Das Grundgesetz richtet sich gegen die Wiederkehr der historischen Ursache, nicht gegen die neue Zuwendung als solche, falls sie sich auf Gründe stützen kann, die dem heutigen Verfassungssystem entsprechen. Ein legitimer Grund ist gegeben, wenn der Staat Leistungen, die er den Kirchen aufgrund alter Rechtstitel zu erbringen hat, aus freien S. 1086; v. Mangoldt/ Klein/v. Campenhausen, Art. 140 GG I Art. 138 WRV Rn. 19; HdbBayStKirchR, S. 196 ff. 182  So die These Brauns’ (Staatsleistungen [Anh. 2], S. 82 ff., 131 ff.) – in der Nachfolge der wesentlich behutsameren Rechtsmeinung Israels, das Verbot, öffentliche Mittel für kirchliche Zwecke zu verwenden, bilde einen Programmsatz der WRV (Reich [Anh. 1], S. 19 ff.). Zustimmend Preuß, in: GG-Alt.-Komm. (Fn. 13), Art. 140 Rn. 62 f.; H. Weber, Die rechtl. Stellung (Fn. 44), S. 263. 183  Beispiele für „Institutsliquidationen“ finden sich in Art. 109 Abs. 3 S. 2 (Adelsbezeichnungen); Art. 137 Abs. 1 (Staatskirche); Art. 147 Abs. 3 (Vorschulen); Art. 155 Abs. 2 S. 2 (Fideikommisse). 184 Vgl. Scheuner, Bestand (Anh. 2), S. 384 f. 185  So aber Brauns, Staatsleistungen (Anh. 2), S. 101 f., 134; Preuß, in: GG-Alt.-Komm. (Fn. 13), Art. 140 Rn. 62 f.

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Stücken auch anderen Religionsgemeinschaften zuwendet, etwa Dotationen nach einer Meistbegünstigungsklausel oder Steuerbefreiungen nach allgemeinen tatbestandlichen Kriterien auf alle Gemeinschaften ausweitet, um so die historisch begründeten Unterschiede aufzufangen und auszugleichen. Die Ausweitung des Kreises der Destinatare und die Änderung des historischen Verteilungsschlüssels muß dem Gleichheitssatz Genüge tun und dem staatskirchenrechtlichen Prinzip der Parität Rechnung tragen. Die Maximen der Gleichheit und der Parität bestimmen nicht nur Reichweite und Höhe der Leistungen. Sie bilden auch deren Legitimationsgrund186. Auch neuartige Subsidien können heute begründet werden. Das Land Nord­ rhein-Westfalen verpflichtet sich erstmals durch Vertrag, den jüdischen Gemeinden seines Gebietes Dotationen zu erbringen187. Die Pflicht dient dem Ausgleich für die Vernichtung jüdischer Gemeinden und ihrer Einrichtungen durch den nationalsozialistischen Staat – einer Säkularisation diesseits des staatskirchenrechtlichen „Normaljahres“ 1919. Die Dotationen, die ab 1995 jährlich 3,5 Mio. DM betragen werden (mit künftiger Anpassung an die Beamtengehälter), tragen auch dem neuen Unterhaltsbedarf der Gemeinden Rechnung, die heute zahlreiche Emigranten aus der ehemaligen Sowjetunion aufnehmen188. Auch hier handelt es sich um echte Staatsleistungen. Sie scheitern nicht an einer verfassungsrechtlichen Sperre aus Art. 138 Abs. 1 WRV („Institutsliquidation“), aber sie fallen auch nicht unter den Ablösungsauftrag und die Bestandsgewähr, weil der altrechtliche Titel fehlt. Dagegen werden sie unterfangen von der Kirchengutsgarantie des Art. 138 Abs. 2 WRV und dem Eigentumsgrundrecht, ohne daß sich damit ihr Inhalt änderte oder ihre vorgesehene Geltung verfassungsrechtlich verstetigte. Das gleiche gilt für die paritätskonforme Ausweitung altrechtlicher Leistungen auf neue Destinatare.

186  Eine paritätische Ausweitung der positiven (nicht der negativen) Leistungen halten für unzulässig: Hollerbach, Anmerkung (Anh. 2), in: JZ 1965, S. 614; Brauns, Staatsleistungen (Anh. 2), S. 58, 80. – Anders dagegen Scheuner, Bestand (Anh. 2), S. 390. 187  Vertrag des Landes Nordrhein-Westfalen mit dem Landesverband der Jüdischen Gemeinden von Nordrhein, dem Landesverband der Jüdischen Kultusgemeinden von Westfalen und der Synagogen-Gemeinde Köln v. 1. 12. 1992. Zu Inhalt und Ratio des Vertrages: Clement, Politische Dimension (Fn. 2), S. 47. 188 Vgl. Clement, Politische Dimension (Fn. 2), S. 47. – Weitere Dotationspflichten neuer Art ergeben sich aus: § 7 Vertrag des Landes NW mit dem Hl. Stuhle über die Errichtung des Bistums Essen v. 19. 12. 1956; Dotationsvereinbarungen für die ostdeutschen Kirchenverwaltungen (Fn. 87).

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III.  Neue Ausgleichsleistungen Unter der Ägide des Grundgesetzes können den Kirchen aus dem Eigentumsgrundrecht neue Kompensationsansprüche zuwachsen. Das ist für sie als freie Träger von Krankenhäusern der Fall, soweit ihnen das Gesetz die Deckung der Investitionskosten über die Pflegesätze verwehrt und dafür die staatliche Investitionsförderung zusagt189. Zu Unrecht wird diese von der politischen Praxis als Subvention qualifiziert und behandelt190. In Wahrheit handelt es sich um den Ausgleich für das gesetzlich oktroyierte Defizit. Die Rechtsgrundlage liegt im Eigentumsgrundrecht, dessen Anforderungen jedoch vom Gesetz verletzt werden, weil es nicht ein freiheitswahrendes Finanzierungsäquivalent gibt, sondern das kirchliche Krankenhaus der staatlichen Investitionslenkung unterwirft191. Desgleichen widerspricht der Regelungszustand den staatskirchenrechtlichen Garantien aus Art. 137 Abs. 3 WRV und Art. 138 Abs. 2 WRV (Art. 140 GG)192. Ausgleichspflichten sui generis könnten auch erstehen, wenn sich die Kirchen einmal aus ihren diakonischen Einrichtungen zurückziehen und diese der öffentlichen Hand übertragen sollten, eine Säkularisation also auf der Grundlage der Freiwilligkeit.

IV.  Förderung säkularer Gemeinwohldienste der Kirche und Förderung der Religion Der Verfassungsstaat der Gegenwart hat, seinen eigenen Zielen folgend, jenseits des Schutzbereichs von Art. 138 Abs. 1 WRV, ein reiches Repertoire an finanziellen Leistungen hervorgebracht, um Kirchen und Religionsgemeinschaften bei der Wahrnehmung von Aufgaben zu unterstützen, die auch in seinem säkularen Interesse liegen. Die Zuwendungen müssen der haushaltsrechtlichen Vorgabe genügen, daß der Bund oder das Land an der Erfüllung durch die nichtstaatlichen Stellen ein erhebliches Interesse hat, welches ohne die Zuwendungen nicht oder nicht im notwendigen Umfang befriedigt werden kann193. Das ist der 189  Zur Rechtslage: Otto Depenheuer, Staatliche Finanzierung und Planung im Krankenhauswesen. Berlin 1986, S. 38 ff.; Josef Isensee, Verfassungsrechtliche Rahmenbedingungen einer Krankenhausreform, in: Robert Bosch Stiftung (Hrsg.), Krankenhausfinanzierung in Selbstverwaltung. T. II, Gerlingen 1990, S. 108 ff. 190 Exemplarisch Clement, Politische Dimension (Fn. 2), S. 51 ff. 191 Verfassungsrechtliche Kritik: Walter Leisner, Das kirchliche Krankenhaus im Staatskirchenrecht der Bundesrepublik Deutschland, in: EssGespr. 17 (1983), S. 23 ff.; Depenheuer, Staatliche Finanzierung (Fn. 189), S. 189 ff.; Isensee, Verfassungsrechtliche Rahmenbedingungen (Fn. 189), S. 124 ff. 192 Vgl. Depenheuer, Staatliche Finanzierung (Fn. 189), S. 283 ff. 193  Vgl. §§ 14, 26 HGrG und § 23 BHO.

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Fall in den Konvergenzbereichen der Erziehung, der Kultur, der Wohlfahrtspflege. Die Kirche entlastet den Staat, indem sie Kindergärten und Altenheime unterhält, Erwachsenenbildung anbietet und Denkmalpflege leistet194. Staatliche Zuwendungen ermöglichen die freiheitliche, plurale und dezentrale Verwirklichung öffentlicher Aufgaben gemäß dem Prinzip der Subsidiarität des Staates195. Bei staatsentlastenden Tätigkeiten genießen kirchliche Körperschaften auch die Steuervergünstigungen der Gemeinnützigkeit196. Als gemeinnützig anerkannt ist im geltenden Steuerrecht aber auch die Förderung der Religion als solcher und die Förderung kirchlicher Zwecke197. Sie ist dem religiös und weltanschaulich neutralen, säkularen Staat nicht von Verfassungs wegen verwehrt. Wenn er hier steuerliche Verschonungssubventionen einräumt oder wenn er gar positive Zuwendungen erbringt, identifiziert er sich nicht mit einer bestimmten Religion und Kirche. Aus der Freiheit der Religion folgt nicht ein Verbot der Religionsförderung, wie denn auch die Freiheit der Kunst nicht die Unzulässigkeit der staatlichen Kunstförderung bedeutet198. Im einen wie im anderen Falle greift der Staat nicht ein in die grundrechtlich geschützte Freiheit; er bietet vielmehr Hilfe zur Grundrechtsausübung. Die grundrechtlichen Probleme liegen weniger auf der Ebene der Freiheitsrechte als auf jener der Gleichheitsrechte199. Der Staat darf religiöse und kirchliche Tätigkeit nur nach verallgemeinerungsfä194 

s. oben B. I. 2. Josef Isensee, Gemeinwohl und Staatsaufgaben im Verfassungsstaat, in: HStR III, 1988, § 57 Rn. 165 ff., 171 ff.; Alexander Hollerbach, Grundlagen des Staatskirchenrechts, in: HStR VI, 1989, § 138 Rn. 103 f. 196  Definition der gemeinnützigen und der mildtätigen Zwecke in §§ 52, 53 AO. Zur Legitimation der Steuervergünstigungen: Josef Isensee, Gemeinwohl und Bürgersinn im Steuerstaat des Grundgesetzes – Gemeinnützigkeit als Bewährungsprobe des Steuerrechts vor der Verfassung, in: FS für Günter Dürig. München 1990, S. 33 ff., 47 f., 59 f. Nach Axer stehen die Steuervorteile der Kirchen kraft ihrer Gemeinnützigkeit einschließlich der Spendenbegünstigung unter der Garantie des Art. 138 Abs. 1 WRV (Steuervergünstigungen [Anh. 2], S. 470 ff.). Vgl. auch Lipphardt, Negative Staatsleistungen (Anh. 2), S. 414; Weides, Religionsgemeinschaften (Fn. 58), S. 916. 197  § 52 Abs. 2 Nr. 1 und § 54 AO. Dazu Isensee, Gemeinwohl und Bürgersinn (Fn. 196), S. 47 f., 62 ff. 198  Hans Heinrich Rupp, Förderung gesellschaftlicher Aktivitäten durch den Staat, in: EssGespr. 28 (1994), S. 5 (9 ff.); Dietrich Pirson, Die Förderung der Kirchen als Aufgabe des säkularen Staates, ebd., S. 83 ff. Zur Legitimation der Religionsförderung: Peter Häberle, Rezension, in: AöR 97 (1972), S. 326 ff. („grundrechtssanktionierende Staatsleistungen“); Klaus G. Meyer-Teschendorf, Staat und Kirche im pluralistischen Gemeinwesen. Tübingen 1979, S. 135 ff., 195 ff. – Ablehnung einer Religionsförderung: Hans Peter Bull, Die Staatsaufgaben nach dem Grundgesetz. Frankfurt a. M. 1973, S. 365; Brauns, Staatsleistungen (Anh. 2), S. 136, Fn. 15; Preuß, in: GG-Alt.-Komm. (Fn. 13), Art. 140 Rn. 63; H. Weber, Die rechtl. Stellung (Fn. 44), S. 262 f. 199  Zur staatlichen Kunstförderung: Wolfgang Knies, Schranken der Kunstfreiheit als verfassungsrechtliches Problem. München 1967, S. 205 ff., 224 ff.; Erhard Denninger, 195 Dazu

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higen Kriterien fördern. Die Wahrung der Parität sichert seine Neutralität. Die Förderung trägt dazu bei, die realen Grundrechtsvoraussetzungen auf dem Gebiet der Religionsfreiheit zu sichern. Indirekt geht es auch um die Pflege der Voraussetzungen des verfassungsstaatlichen Systems der Freiheit überhaupt200. Denn dieses lebt aus geistigen Voraussetzungen, die der Staat aus Achtung vor der grundrechtlichen Freiheit nicht gewährleisten kann 201. Aber er kann zu ihrer Erhaltung beitragen, dadurch, daß er die geistigen Mächte der Gesellschaft unterstützt, die, ihrerseits grundrechtsfähig und nicht neutral, die religiösen und sittlichen Grundlagen des Gemeinwesens beleben und wahren können. Die Förderung gründet auf der nicht erzwingbaren Erwartung, daß die Empfänger die religiösen und ethischen Dienste dem Gemeinwesen auch tatsächlich erbringen202. Die finanzielle Förderung neuer Art hat in ihrem Ausmaß und in ihren Wirkungen die historisch fundierten Staatsleistungen längst überflügelt und zu einer Randerscheinung werden lassen, deren förmliche Ablösung schon deshalb für Staat wie Kirche wenig dringlich erscheint, weil sich die heutigen Leistungen trotz ihrer alten Rechtsgrundlagen zumeist auch im neuen Lichte der Freiheitsrechte funktionsbezogen umdeuten und als gemeinwohlgemäß rechtfertigen lassen. Die Vermögensbeziehungen zwischen Staat und Kirche entwickeln sich auch ohne Ablösungsprozedur von der historisch begründeten Ungleichheit fort zur Parität, von der traditionalen Begründung zur funktionalen aus den Zielen des gegenwärtigen Verfassungsstaates.

Freiheit der Kunst, in: HStR VI, 1989, § 146 Rn. 34; Josef Isensee, Kunstfreiheit im Streit mit Persönlichkeitsschutz, in: Archiv für Presserecht 1993, S. 622. 200 Dazu Josef Isensee, Grundrechtsvoraussetzungen und Verfassungserwartungen an die Grundrechtsausübung, in: HStR V, 1992, § 115 Rn. 162, 261, 262 ff. 201 Vgl. Ernst-Wolfgang Böckenförde, Die Entstehung des Staates als Vorgang der Säkularisation (1967), in: ders., Recht, Staat, Freiheit. Frankfurt a. M. 1991, S. 112. 202 Dazu Isensee, Verfassungsstaatliche Erwartungen (Fn. 41), S. 123 ff.; ders., Grundrechtsvoraussetzungen (Fn. 200), § 115 Rn. 261, 263.

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Anhang: Auswahl-Bibliographie zum Recht der Staatsleistungen 1.  Schrifttum 1919 – 1945 Detlef Berner, Die Staatsleistungen an die Religionsgesellschaften, in: RuPrVBl. 51 (1930), S. 83–89; Arthur Breitfeld, Die vermögensrechtliche Auseinandersetzung zwischen Kirche und Staat in Preußen auf der Grundlage der Reichsverfassung, Breslau 1929; Deutsches Evangelisches Kirchenbundesamt: Denkschrift über den Umfang der Staatsleistungen der deutschen Länder an die evangelischen Kirchen bis zur Ablösung, Berlin 1928 (zit. Denkschrift); Johannes Duske, Die Dotationspflicht des preußischen Staates für die allgemeine Verwaltung der Evangelischen Kirche der altpreußischen Union, Berlin 1929; Friedrich Giese, Die hessischen Staatsleistungen zugunsten der evangelischen Landeskirche, in: VerwArch. 39 (1934), S. 189 – 227; Johannes Heckel, Rezension zu Breitfeld, Die vermögensrechtliche Auseinandersetzung …, in: ZRG Kan. Abt. 50 (1930), S. 858- 866; Günther Holstein, Über die Rechtsgrundlagen der Staatsleistungen an die evangelischen Landeskirchen Deutschlands, in: AöR 57 IN. F. 18 (1930), S. 161 – 187; Ernst Rudolf Huber, Die Garantie der kirchlichen Vermögensrechte in der Weimarer Verfassung, Tübingen 1927; ders., Rezension zu Breitfeld, Die vermögensrechtliche Auseinandersetzung …, in: AöR 57 IN. F. 18 (1930), S. 147 – 151; Karl Israel, Reich – Staat – Kirche, Berlin 1926; Otto Koellreutter, Die Beiträge des Staates zu den kirchlichen Verwaltungskosten, in: AöR 54 IN. F. 15 (1928), S. 1 – 33; Josef Kress, Ist der bayerische Staat zu den Leistungen an die Seelsorgegeistlichkeit rechtlich verpflichtet?, München 1931; Josef Schmitt, Staat und Kirche – Bürgerlich-rechtliche Beziehungen infolge von Säkularisation, Freiburg i. Br. 1919; ders., Die Ablösung der Staatsleistungen an die Religionsgesellschaften, Freiburg i. Br. 1921; ders., Die Ablösung der Staatsleistungen an die Kirchen, in: ArchKathKR 115 (1935), S.  3 – 52, 341 – 388; August Schott, Die Rechtsgrundlagen der Staatszuschüsse zur katholischen Kirche in Hessen, Mainz 1922. 2.  Schrifttum nach 1945 Peter Axer, Die Steuervergünstigungen der Kirchen im Staat des Grundgesetzes, in: ArchKathKR 156 (1987), S. 460 – 485; Hans-Jochen Brauns, Staatsleistungen an die Kirchen und ihre Ablösung, Berlin 1970; Werner Hofmann, Ablösung oder Anpassung der Kultusbaulast des Staates?, in: ZevKR 10 (1963 I 64), S. 369 – 381; Alexander Hollerbach, Anm. zum Beschl. des BVerfG vom 28. 4. 1965 (1 BvR 346 I 61), in: JZ 1965, S. 612 – 615; Christoph Link, Rechtsprobleme kommunaler Kultusbaulasten, in: ÖArchKR 39 (1990), S. 205 – 221; Hanns-Rudolf Lipphardt, Negative Staatsleistungen und Ablösungsvorbehalt, in: DVBl. 1975, S. 410 – 416; Helmut Ridder, Staatliche Wiederaufbaupflichten gegenüber den Domkapiteln und bischöflichen Stühlen im ehemals preußischen Gebiet, in: AöR 80 (1955 I 56), S. 127 – 157; Ulrich Scheuner, Der Bestand staatlicher und kommunaler Leistungspflichten an die Kirchen, in: Diaconia et ius. Festg. für Heinrich Flatten. München, Paderborn, Wien 1973, S. 381 – 396; Rudolf Smend, Zum Rechtscharakter bayerischer Dotationsleistungen (Gutachten vom 13. 4. 1953), in: ders., Kirchenrechtliche Gutachten.

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München 1972, S. 235 – 244; Werner Weber, Die Ablösung der Staatsleistungen an die Religionsgesellschaften, Stuttgart 1948; ders., Art. „Staatsleistungen an die Kirchen“, in: RGG3 VI, 1962, Sp. 316 – 318; Thomas-Dieter Wedeking, Die Kirchengutsgarantien und die Bestimmungen über Leistungen der öffentlichen Hand an die Religionsgesellschaften im Verfassungsrecht des Bundes und der Länder, München 1971; Herbert Wehrhahn, Rechtsgutachten über die Frage des rechtlichen Fortbestandes der 1833 begründeten Dotationsverpflichtung der Gemeinde Birresborn (Kreis Prüm) gegenüber der katholischen Kirchengemeinde Birresborn (Diözese Trier). Unveröff. Typoskript, Saarbrücken 1967; Volker Zündorf, Die Ablösung der Staatsleistungen an die Religionsgesellschaften unter dem Grundgesetz, Diss. Münster 1967.

Zwischen Ablösungsauftrag und Bestandsgarantie Zwischen Ablösungsauftrag und Bestandsgarantie Zwischen Ablösungsauftrag und Bestandsgarantie. Die historischen Staatsleistungen an die Kirchen

Die historischen Staatsleistungen an die Kirchen* Die Staatsleistungen an die Kirchen sind in Verruf gekommen. Eine Gesellschaft ohne historischen Sinn, die sich den Kirchen entfremdet hat, bringt wenig Verständnis auf für die aus alten Tagen überkommenen „Dotationen“. Diese erscheinen als Fossilien aus längst versunkenen Epochen des Staatskirchentums. Immer wieder erhebt sich die Forderung, mit ihnen ein rasches Ende zu machen, besonders ungeduldig angesichts der skandalisierten Fälle von Misswirtschaft und Missbrauch in der Hülle hierarchischer Geheimnistuerei. Ob jedoch diese Fälle überhaupt mit Staatsleistungen zu tun haben, wird in Enthüllungsfeuer und Entrüstungsqualm nicht gefragt. Der Skandal ist nicht die Stunde der Differenzierung. Zur Delegitimation aber hat er allemal die Macht. Das politische Unbehagen sieht sich durch die Verfassung bestätigt. Schon die Weimarer Reichsverfassung verfügte im Jahre 1919: „Die auf Gesetz, Vertrag oder besonderen Rechtstiteln beruhenden Staatsleistungen an die Religionsgesellschaften werden durch die Landesgesetzgebung abgelöst. Die Grundsätze hierfür stellt das Reich auf“ (Art. 138 Abs. 1). Das Grundgesetz macht sich diesen Weimarer Kirchenartikel zu eigen und schreibt ihn fort, wobei nunmehr an die Stelle des Reichs der Bund als Gesetzgeber einrückt (Art. 140). Doch weder das Reich noch der Bund haben das vorgesehene Grundsätzegesetz bislang zustande gebracht. Die Ablösung lässt seit fast einem Jahrhundert auf sich warten. Das lustvolle Jammern der Deutschen über das „nicht erfüllte Grundgesetz“ findet hier ein Thema. Die überfällige Ablösung, so die landläufige Erwartung, soll die finanziellen Beziehungen zwischen Staat und Kirchen vollständig entflechten und die reinliche Trennung beider Bereiche auch in vermögensrechtlicher Hinsicht herbeiführen. Doch die Ablösung, die von Verfassungs wegen vorgesehen ist, kann diese Erwartung nicht erfüllen, schon deshalb nicht, weil sie nicht das ganze Feld der staatlichen Zuwendungen erfasst, sondern nur einen Sektor, nämlich nur jene Zuwendungen, die vor Inkrafttreten der Weimarer Reichsverfassung – dem „Normaljahr“ 1919 – begründet waren und deren Rechtsgrundlagen seither nicht erloschen sind. *  Erstveröffentlichung in: Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 23. 12. 2013, Nr. 298, S. 7 mit dem Titel „Gut aufgehoben. Das Verhältnis von Staat und Kirche ist nicht nur originell. Es ist auch wohl ausbalanciert.“

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Im Wesentlichen handelt es sich um Folgen der Säkularisationen aus früheren Jahrhunderten, zumal denen der Reformation des 16. Jahrhunderts und des Reichsdeputationshauptschlusses im Jahr 1803. Die weltliche Gewalt übernahm mit dem Kirchengut die Verantwortung für den Unterhalt der Kirchen und verschaffte ihnen mit ihren Leistungen eine gewisse Kompensation für den Verlust der bisherigen wirtschaftlichen Basis. Im Einzelnen mögen auch landesherrliche Religionsfürsorge und landesväterliches Wohlwollen im Spiel gewesen sein. Die Wurzeln der gewachsenen Staatsleistungen liegen weithin im Dunkel der „Unvordenklichkeit“. Die Verfassung beharrt zwar auf einem Rechtstitel, nennt Gesetz und Vertrag, begnügt sich aber auch mit Gewohnheitsrecht, mit „rechtsbegründendem Herkommen“ und „unvordenklicher Verjährung“. Die Staatsleistungen bilden einen üppigen, bunten Strauß. Auffällig sind heute die Geldleistungen für die Kosten kirchlichen Wirkens, für den Unterhalt von Gebäuden, für die Aufwendungen der Verwaltung („kirchenregimentliche Zwecke“), für die Kosten des geistlichen Personals. Dem Staat obliegt die Baulast auch für kircheneigene Gebäude, damit die Pflicht, diese zu errichten, zu unterhalten, dem Wandel kirchlicher Bedürfnisse anzupassen, gegebenenfalls sie wiederherzustellen. Die Baulast aktualisiert sich nach den jeweiligen Bedürfnissen. Den genannten positiven Staatsleistungen korrespondieren negative: die Befreiung von Steuern und sonstigen Abgaben, soweit die Freistellung auch mit Rücksicht auf den Unterhaltsbedarf der Kirchen erfolgt ist. Schuldner der positiven Staatsleistungen sind in erster Linie die Länder. Streitig ist, ob auch die Gemeinden dazugehören. Gute Gründe sprechen dafür, sie als Bestandteile der säkularen öffentlichen Gewalt in das Verfassungskonzept einzubeziehen. Empfänger der Staatsleistungen sind die Großkirchen, die Säkularisierungsverluste erlitten haben und sich auf alte Rechtstitel berufen können. Damit werden jene Religionsgemeinschaften nicht diskriminiert, bei denen diese Voraussetzungen nicht gegeben sind. Die Verfassung sieht nicht sämtliche Zuwendungen des Staates an die Religionsgemeinschaften für die Ablösung vor, noch nicht einmal alle Staatsleistungen, sondern nur jene, die auf Vorweimarer Rechtstiteln beruhen. Später begründete Leistungen scheiden aus, so die Subsidien an die jüdischen Gemeinden, zu denen sich das Land Nordrhein-Westfalen 1992 zum Ausgleich für das Zerstörungswerk des NS-Staates verpflichtet hat. Es entfallen auch jene ursprünglich relevanten Leistungen, die in der Zwischenzeit umgewandelt und auf eine neue Rechtsgrundlage gestellt worden sind oder die sich erledigt haben, weil der Leistungsgrund entfallen, das Pfarrhaus verwaist ist, der Kirchenraum nicht mehr gottesdienstlich genutzt wird oder weil die Kirche auf die Leistung verzichtet hat. Nicht zur Ablösung bestimmt sind die sonstigen Finanzquellen der Kirche. Zu diesen gehören die Subventionen, darunter die Zuschüsse, die der Staat den Kirchen wie anderen freigemeinnützigen Trägern für ihre Einrichtungen im Er-

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ziehungs-, Bildungs- und Gesundheitswesen zukommen lässt, um sie zu unterstützen und sozial motivierte Defizite auszugleichen. Kirchliche Kindergärten, Privatschulen, Krankenhäuser und Pflegeheime entlasten die öffentliche Hand, ergänzen ihr Angebot und eröffnen eine Alternative. Kirchliche wie nichtkirchliche Stellen haben teil an den staatlichen Systemen der Krankenhausförderung, der Wohlfahrtspflege, des Denkmalschutzes, des Bildungswesens, der Entwicklungshilfe. Die Subvention ist ein Mittel des Sozial- und Kulturstaates, gesellschaftliches Potential unter den Bedingungen grundrechtlicher Freiheit zu aktivieren, an der Erfüllung gemeinwohlwichtiger Aufgaben mitzuwirken. Subventionen sichern die gegenwärtige Erfüllung öffentlicher Zwecke durch Private, indes Staatsleistungen einer in der Vergangenheit begründeten Unterhaltspflicht nachkommen. Nicht zum Ablösungsprogramm gehören zudem die Aufwendungen des Staates für den Religionsunterricht als ordentliches Lehrfach an öffentlichen Schulen, für die theologischen Fakultäten, die als Kondominium von Staat und Kirche auf Dauer bestehen sollen, sowie für die Gefängnis- und Militärseelsorge. Vollends hat die Kirchensteuer nichts mit dem Thema zu tun. Sie wird von den Kirchenmitgliedern aufgebracht, nicht vom Staat. Dieser zieht sie zwar ein; doch lässt er sich seine Verwaltungstätigkeit vergüten, und das nicht schlecht. Ablösung bedeutet nicht Abschaffung. Die verbreitete Vorstellung, die Staatsleistungen würden nunmehr eingestellt, notfalls mit der Begründung, der Staat habe nach Jahrhunderten der Erfüllung seine Schuld getilgt, verkennt das rechtliche Wesen der Ablösung. Die Ablösung vernichtet nicht ihren Gegenstand, sondern ersetzt ihn durch einen neuen, der dem Zweck des bisherigen Genüge tut. Die Ablösung umfasst zwei Rechtsvorgänge: die Aufhebung des bisherigen Leistungsverhältnisses und die Begründung einer Ausgleichspflicht. Sie stellt das Verhältnis von Staat und Kirche auf eine neue rechtliche Grundlage. Die wirtschaftliche Grundlage soll sie aber nicht schmälern und keine weitere Säkularisation herbeiführen. Die Ablösung ist vermögensneutral. In der Weimarer Nationalversammlung bestand denn auch Einigkeit darin, dass die Kirchen durch die Ablösung keinen Schaden erleiden sollten. Die Ablösung gewährleistet, so heißt es in Konkordaten, den angemessenen Ausgleich, den vollen Ersatz für das wegfallende Recht. Der Ausgleich kann auf vielerlei Wegen erfolgen: durch Pauschalierung der einzelnen Leistungen, durch Kapitalisierung von Baulasten, durch Übereignung (Rückerstattung) von Kirchengebäuden und anderen Immobilien, durch einmalige Abfindung, durch Ratenzahlung, sogar durch „ewige“ Rente mit oder ohne Dynamisierungsklausel. Das verfassungsrechtlich vorgesehene gesetzliche Verfahren der Ablösung erfolgt auf zwei Stufen: auf der ersten das Bundesgesetz, das die Grundsätze

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vorgibt, auf der zweiten die Landesgesetze, die den Ablösungsauftrag vollziehen. Doch die Weimarer Republik wie bislang auch die Bonn-Berliner Republik hatten dringlichere Aufgaben, als dieses komplizierte Verfahren durchzuführen, das aufwendige Recherchen über den vertrackten Bestand und die heikle Bewertung der altrechtlichen Zuwendungen erfordern würde, zumal der Naturallasten und der negativen Staatsleistungen. Schon die Frage, ob eine Leistung der Ablösung unterfällt, ist vielfach unklar. Die derzeit kursierende Annahme, die Summe der Staatsleistungen belaufe sich auf 460 Millionen Euro im Jahr, deckt allenfalls die Geldleistungen. Jedenfalls könnte die Summe keine verlässliche Ausgangsgröße für eine Gesamtablösung bilden. Doch reicht dies in der gegenwärtigen Haushaltslage aus, um vor einer Ablösung zurückzuschrecken. Ein Referentenentwurf zu einem Grundsätzegesetz des Reiches blieb 1924 auf der Ministerialebene stecken. Die einschlägige Gesetzesinitiative der Bundestagsfraktion Die Linke im Jahre 2012, die sich ironischerweise auf Papst Benedikts XVI. Appell zur „Entweltlichung“ der Kirche berief, scheiterte im Bundestag. Die nunmehrige große Koalition sieht keinen Anlass, auf diesem Feld tätig zu werden. Solange aber die Gesetzgebung auf sich warten lässt, sind die Leistungen gefeit gegen staatliche Eingriffe. Hier wirkt rechtsstaatliche Logik: Wird die Änderung des Status quo an ein anspruchsvolles Verfahren geknüpft, so ist der Status quo für den Staat unantastbar, solange er das Verfahren nicht durchführt. Vollends ist dem Staat verwehrt, kirchliches Wohlverhalten erzwingen zu wollen, indem er wie in alten Zeiten für den Fall der Widersetzlichkeit mit dem Abbruch der Leistungen („Temporaliensperre“) droht. Dennoch hat sich in den Staatsleistungen vieles verändert. Die Länder wie die Gemeinden haben sich mit den Kirchen verständigt, die fossilierten Staatsleistungen den gegenwärtigen Bedürfnissen anzupassen und neue Rechtsgrundlagen zu schaffen. Das Verfassungsrecht steht nicht im Wege. Denn die Ablösung, die sie vorsieht, bezieht sich auf die einseitig-hoheitliche Regelung durch den Staat. Die einvernehmliche Regelung durch die Beteiligten wird dadurch nicht ausgeschlossen. Die „schiedlich-friedliche“ Einigung bewährt sich als das einfachere, dem heutigen Verhältnis von Staat und Kirche gemäßere Verfahren. Denn es stellt auch die besseren Voraussetzungen bereit, um die unübersichtliche, disparate Materie in den Griff zu bekommen. Schon der Reichsgesetzgeber hatte sich vertraglich zu „freundschaftlichem Einvernehmen“ mit den Betroffenen verpflichtet. Das Einvernehmen als Bedingung des Ablösungsgesetzes ist heute praktisch zu dessen Ersatz geworden. Das Land Brandenburg statuiert sogar in seiner Verfassung, dass staatliche und kommunale Leistungen nur durch Vereinbarung abgelöst werden können. Manche Vereinbarungen machen freilich den vorsichtigen Vorbehalt, dass sie die grundgesetzlich vorgesehene Ablösung nicht vorwegnehmen

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wollen. Doch waltet hier unnütze Vorsicht: Die einschlägigen Vereinbarungen sind die Ablösung. Jedenfalls sind sie es dann, wenn sie sich nicht mit bloßen Klarstellungen und Verweisungen auf altrechtliche Titel begnügen, sondern das Leistungsverhältnis inhaltlich ändern oder sogar beenden, wenn sie etwa eine Vermögensübertragung, eine Abfindung oder einen Verzicht enthalten. Im Zweifel schaffen die Vereinbarungen einen neuen Rechtstitel, so dass die betroffenen Leistungen aus dem Anwendungsbereich der einseitig-gesetzlichen Ablösung ausscheiden. Deren Bedeutung lässt nach, je weiter die Ablösung durch Verträge voranschreitet. Am Ende wird sich die Ablösung, die sich die Verfassung so schwer gemacht hat, auf pragmatischem Wege ohne lautes politisches und juristisches Geräusch erledigen. Wie immer man auch verfährt: Die Staatsleistungen sind im System des Grundgesetzes gut aufgehoben. Doch der rechtliche Schutz richtet sich gegen den Staat, nicht gegen die öffentliche Meinung. Mit dieser aber steht und fällt auf Dauer auch eine verfassungsrechtliche Garantie. Von der allgemeinen Akzeptanz hängt auch das wohlausbalancierte System des Staatskirchenrechts ab, das zu den wenigen originellen Werken deutscher Verfassungstradition gehört. Die Akzeptanz leidet heute unter dem Glaubwürdigkeitsverlust der Kirche, der viele Ursachen hat. Eine von ihnen, wenngleich eine der geringeren, ist ein selbstherrlicher, zuweilen obszöner Umgang der kirchlichen Obrigkeit mit kirchlichem Geld. Die obwaltende Geheimnistuerei, die den Skandal fernhalten will, zieht den Skandal an. Das wirksamste Mittel gegen Gerüchte, Verdacht und Misstrauen sind Transparenz und Kontrolle. Transparenz und Kontrolle tun der kirchlichen Finanzwirtschaft not. Sie muss diese gewährleisten, wenn sie das Vertrauen des Kirchenvolkes, aber auch das der Gesamtgesellschaft erhalten will.

Gefangen im ewigen Dilemma Gefangen im ewigen Dilemma. In der „Weltbild“-Debatte offenbaren sich die Schwierigkeiten, die eine Entweltlichung der katholischen Kirche zur Folge hätte Gefangen im ewigen Dilemma

In der „Weltbild“-Debatte offenbaren sich die Schwierigkeiten, die eine Entweltlichung der katholischen Kirche zur Folge hätte* I. Die deutschen Bischöfe ziehen wieder einmal harsche Kritik auf sich. Doch dieses Mal nicht aus kirchenfremden, auch nicht aus kirchenrandständigen Kreisen, sondern aus der Mitte des Kirchenvolkes, von solchen, die sich – und dies nicht ohne Grund – zu den treuesten der treuen Katholiken zählen. Der Vorwurf: die Bischöfe übten Doppelmoral und gefährdeten die Glaubwürdigkeit der Kirche; in Liaison mit dem ungerechten Mammon agierten sie indirekt als Pornohändler und Pornoproduzenten; sie predigten Keuschheit und kassierten die Erlöse aus publizistischer Unzucht. Der Sachverhalt: Der „Weltbild“-Konzern, Deutschlands erfolgreichster Buchverkäufer, Herr über ein Fünftel des stationären Buchhandels und zweitgrößter Online-Buchhändler, mit 1,6 Milliarden Euro Jahresumsatz und 6400 Mitarbeitern, gehört in Gänze der katholischen Kirche. Die GmbH-Anteile verteilen sich auf verschiedene Körperschaften: den Verband der Diözesen Deutschlands (24,2 Prozent), zwölf Bistümer und die Soldatenseelsorge Berlin. Über hälftige Beteiligungen an Verlagen (darunter Droemer Knaur) und Buchhandlungen (Hugendubel) partizipiert der Konzern am allgemeinen Buchgeschäft in Produktion, Vertrieb und Verkauf. Er bedient die Nachfrage, ohne sich eigens auf religiöse und moralische Ziele auszurichten oder sich an intellektuelle und ästhetische Standards zu halten. Mithin verdient er auch an den Schundartikeln von Sex und Gewalt, von Astrologie, Esoterik und Kirchenfeindschaft. Kritiker wollen in den (vielfach vernetzten) Online-Offerten von „Weltbild“ 2500 erotische Titel gefunden haben. Nach Rechnung von „Weltbild“ selbst handelt es sich jedoch um weniger als 0,017 Prozent des Gesamtumsatzes. Dennoch bleibt das Ärgernis.

* Erstveröffentlichung in: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung v. 25. 12. 2011, Nr. 51, S. 9.

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II. Hinter der Kritik stehen gewichtige Gründe. Die Kirche ist nicht für unternehmerische Tätigkeit gerüstet. Mit dieser unterwirft sie sich aber den Gesetzen des Marktes und macht sich die Ziele der Erwerbswirtschaft zu eigen. Das Risiko einer Kollision mit den genuinen kirchlichen Zielen ist unvermeidlich. Kirchliche Gesinnung garantiert nicht Markterfolg. Tritt dieser aber ein, so erwacht der Argwohn, mit der Kirchlichkeit könne es nicht so weit her sein. Geheimnisumwitterte Geschichten um vatikanische Banken unter den Firmen des heiligen Geistes und des heiligen Ambrosius warnen. Doch auch ein Versagen auf dem Markt ist für die Kirche blamabel. Eine aussterbende Gattung „katholischer“ Verlage, Buchhandlungen und Gazetten lebte weniger von der kaufmännischen Tüchtigkeit ihrer biederen Inhaber als von der anspruchslosen Kundentreue des vormaligen katholischen Milieus und bestätigte so unfreiwillig die lutherische Rechtfertigungslehre, daß nicht die Werke, sondern allein der Glaube selig macht. Zu diesem Genre gehörte einstmals auch der „Weltbild“-Verlag, bis er, vor dem Absturz in die Insolvenz durch Kirchensteuermittel gerettet, sich vom kirchlichen Programm löste, sich auf das offene Terrain des Marktes begab – ohne Bedenklichkeit, sich hier und da die Hände schmutzig zu machen, und schließlich seinen kirchlichen Gesellschaftern über die Köpfe wuchs zu jener kolossalen Größe, die ihm nun zum katholischen Verhängnis gerät.

III. Die Kritiker sehen sich bestätigt durch die Forderung Papst Benedikts XVI. nach „Entweltlichung“ der Kirche und prüfen nicht, ob sie seine Forderung nicht banalisieren, verharmlosen und fehlleiten, wenn sie diese ausgerechnet an der Trennung von Kirche und „Weltbild“ festmachen. Dabei ist die Trennung seit 2007 von den Bischöfen beschlossene Sache. Die Durchführung stößt allerdings auf Schwierigkeiten in der Wirtschafts- und Finanzkrise, aber auch angesichts der Verantwortung, welche die Kirche aus vergangenem Tun für die wirtschaftlichen und moralischen Folgen trägt. Es geht ihr wie den USA im Irak und in Afghanistan: mag die Intervention am Anfang ein Fehler gewesen sein – ein jäher Rückzug wäre ein neuer, ein erheblich schlimmerer Fehler. Sollte das Geschäftsgebaren von „Weltbild“ Müll auf dem Kirchenplatz angehäuft haben – das bedürfte allerdings einer sorgfältigen Untersuchung –, so könnte die Kirche den Platz nicht dadurch reinigen, daß sie den Müll auf die öffentliche Straße vor die Haustüren anderer wirft. Das Vorhaben der vollständigen Trennung von „Weltbild“ steht nicht so makellos da, wie es die Bischöfe und ihre Kritiker einvernehmlich sehen. Es enthält das verzagte Eingeständnis der Kirche, daß sie sich nicht selber zutraut, ihre Mo-

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ral- und Soziallehre im Rahmen einer Kapitalgesellschaft unter den Bedingungen des Marktes zu verwirklichen, was sie sehr wohl von ihren Gläubigen erwartet. Sie wagt nicht, ein Zeichen zu setzen, daß ihre Gebote in die Lebenswelt passen, und beruhigt sich mit der Einsicht, daß der Wegweiser den Weg nicht geht, den er weist. „Entweltlichung“ bedeutet, daß die Kirche, deren Sendung nicht von dieser Welt ist, in dieser Welt nicht aufgehen darf. Dennoch richtet sich ihre Sendung an die Welt, auf daß sie in ihr verwirklicht werde. Daher lebt die Kirche in ständiger Gefahr, sich in weltliche Belange zu verstricken. Eigentlich müßte sie dem Himmel danken, wenn in ihren ureigenen pastoralen, karitativen und erzieherischen Agenden die Fehlerquote tatsächlich nur bei 0,017 Prozent läge wie bei „Weltbild“. Hier wie auch sonst ist die Flucht vor dem Risiko nicht die von vornherein bessere Lösung, nicht besser als der Verzicht auf Wirkungschancen. Wenn die Kirche die Beziehung mit der Welt meidet aus Sorge, sie könnte sich die Hände beschmutzen, erweist sie sich als feige und letztlich als überflüssig. Sie ist zum Dienst für diese unsaubere Welt geschaffen. Dennoch darf sie die Gebote, die sie lehrt, nicht verletzen und noch nicht einmal einen bösen Schein aufkommen lassen, daß es so sei. Die Kirche steht vor einem ewigen Dilemma.

IV. Daß die Kirche in Deutschland nicht auf erwerbswirtschaftliches Engagement angewiesen ist, verdankt sie nicht ihrer Spiritualität, sondern der Kirchensteuer. Kraft dieser bezieht sie einen Anteil am Markterfolg ihrer Angehörigen, ohne sich selbst auf die wirtschaftlichen und moralischen Risiken des Marktes einzulassen. Denn eine Steuer fragt nicht, ob der Erfolg mit rechten Dingen zustande gekommen ist oder nicht. Dieses „Wirklichkeitsprinzip“ formulierte bereits der römische Kaiser Vespasian gegenüber seinem Sohn Titus, als dieser sich über die Einführung einer Latrinensteuer entrüstete; der Kaiser hielt ihm eine Münze aus dem Steueraufkommen unter die Nase: „pecunia non olet“ (Geld stinkt nicht). Durch ihren notorisch großen und guten Magen verdaut die Kirche seit jeher auch Spenden und Mitgliedsbeiträge jedweder Herkunft, ohne unter gastrischen Beschwerden zu leiden. In Deutschland besteht kein Grund, hochmütig auf die Religionsgemeinschaften in Amerika herabzublicken, die sich, ohne steuerstaatlichen Rückhalt, privatwirtschaftlich finanzieren müssen – ein Schicksal, das auch auf die deutschen Kirchen zukäme, wenn es mit dem Kirchensteuersystem einmal zu Ende ginge, was nicht für alle Zeiten auszuschließen ist. Die eigenwilligen „Entweltlichungs“Interpreten in Deutschland, kirchensteuerverwöhnt wie sie sind, wollen denn auch nicht zurückkehren zu einem Zustand apostolischer Armut, doch wenn schon Katakomben, dann bitteschön Katakomben mit Zentralheizung.

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Gefangen im ewigen Dilemma

V. Das moralische Risiko wirtschaftlicher Tätigkeit der Kirche ist keine Besonderheit eines Medienkonzerns. Vielmehr hängt es als Damoklesschwert über der ganzen Vermögensverwaltung, insbesondere über kirchlichen Versorgungswerken, Krankenversicherungen, Banken und ähnlichen Einrichtungen, kraft derer die Kirche eine fragwürdige Autarkie gewinnen möchte, sich von den säkularen Anbietern fernhält und sich eben dadurch in das allgemeine Anlagen- und Finanzierungsgeschäft verstrickt mit allen Gefahren für ihre Integrität und Glaubwürdigkeit, darunter erheblich böseren als den Randnutzungen des Erotikgeschäfts. Der „Weltbild“-Skandal sollte Nachdenklichkeit auslösen, ob und unter welchen Bedingungen sich die Kirche überhaupt auf die Erwerbswirtschaft einläßt. Sie kann hier ihren Einfluß nur nach Maßgabe des staatlichen Gesellschaftsrechts und der betriebswirtschaftlichen Eigengesetzlichkeit ausüben. Drei Generalvikare und ein Jesuit im Aufsichtsrat von „Weltbild“ vermögen auch unter optimalem Einsatz aller ihrer Kräfte nicht, die Einzelheiten des Tagesgeschäfts zu steuern. Im übrigen vermitteln theologische Ausbildung und geistliche Weihen keine unternehmerische Kompetenz. Die Bischöfe, denen kirchenrechtlich das letzte Wort zukommt, sind ökonomische Laien. Allgemein sollte erwogen werden, die kirchlichen Finanzkompetenzen ausgesuchten Experten und Vertretungen des Kirchenvolkes zu überantworten.

VI. Im heiligen Eifer um die sauberen Hände der Kirche schwingen bei den „Weltbild“-Skandalisierern unheilige Motive mit: heimliche Angriffe auf den Vorsitzenden und den Sekretär der Bischofskonferenz, stille politische Abrechnungen, getarnte Richtungskämpfe. Der moralische Anspruch desavouiert sich durch denunziatorischen, rechthaberischen, maßlosen Vortrag. Der moralisierende Protest reduziert die Komplexität eines heiklen Problems auf einen einzigen Punkt, um es von diesem Punkt aus zu lösen. Er verkennt, daß ein Dilemma vorliegt, dem die Kirche nicht ohne Verletzungen entkommt, wie immer sie sich entscheidet. Hier tritt ein genereller Defekt innerkirchlicher Auseinandersetzungen zu Tage: daß die Diskutanten die Argumente nicht austauschen und abwägen, sondern sofort nach dem Raster von Gut und Böse sortieren, daß sie sich auf ewige Wahrheit berufen, wo zeit- und umständeorientierte Klugheit gefordert ist. Streitkultur gedeiht nicht gut in einschüchternden Hierarchien. Ein Weihnachtswunsch für die Kirche: daß sie Raum biete für den freien Diskurs über die bessere Lösung praktischer Probleme, daß der Streit, mit offenem Visier ausgetragen, sich bewege in den Bahnen des christlichen Friedens, daß es gelinge, die Aufrichtigkeit zu versöhnen mit der Liebe.

VI. Islam

Integration des Islam* Integration des Islam Integration des Islam

I. Wäre ein Staatsrechtslehrer vor 50 Jahren gefragt worden, ob die Zuwanderung von Muslimen in großer Zahl grundsätzliche Probleme verfassungsrechtlicher Art aufwerfen werde, so hätte er die Frage höchstwahrscheinlich verneint und darauf hingewiesen, dass das Grundgesetz in Fragen der Religion völlig indifferent sei. In der Tat ist der Staat des Grundgesetzes säkularer Natur. Er identifiziert sich mit keiner Religion. Die Frage nach transzendenter Wahrheit liegt jenseits seines Erkenntnis- und Entscheidungshorizontes. Er ist weder gläubig noch ungläubig. Er ist noch nicht einmal skeptisch. Die Wahrheit der Religion geht ihn schlichtweg nichts an. Ihm „gehört“ keine Religion, und er gehört keiner Religion an. Seine Einheit gründet nicht auf der Wahrheit eines Glaubens, sondern auf der grundrechtlichen Freiheit von jedermann, seinen Glauben zu haben und auszuüben oder sich jedwedem Glauben fernzuhalten. Die nationale Einheit der Deutschen hat sich über die Spaltung in Konfessionen hinweg hergestellt im säkularen Staat, der Heimstatt aller Bürger sein will, der gläubigen wie der ungläubigen, der engagierten wie der gleichgültigen. Er fragt auch nicht danach, ob ein religiöses Bekenntnis im Lande verwurzelt oder von außen importiert ist. So kommen die individuelle wie die kollektive Religionsfreiheit ohne weiteres den einzelnen Muslimen sowie ihren Gemeinschaften zu. Dennoch erscheint der Islam heute als Störenfried der Gesellschaft, ein Fremdkörper; der sich nicht integriert, eine latente Bedrohung. Die Furcht- und die Abwehrreflexe, die sich angesichts der Flut der Zuwanderer und Flüchtlinge aus der islamischen Welt regen, sind nicht nur eine Frage der Quantität, sondern auch und vornehmlich eine Frage der Qualität. Sie kamen nicht auf, wenn es sich um Lateinamerikaner handelte. Die dem Islam eigentümliche Qualität ist religiöser Natur, religiös aber in einem ganzheitlichen Sinn, in dem die gängigen Unterscheidungen zwischen Weltanschauung, Moral, Brauchtum, Politik aufgehoben sind. Daher fängt der Grundrechtstatbestand der Religionsfreiheit den Islam nicht in seiner Ganzheit ein, die alle Lebensbereiche erfasst und die sich am ehesten durch den dehnbaren, weiten, umfassenden Begriff von Kultur bezeichnen läßt.

*  Erstveröffentlichung in: Bonner Akademie für Forschung und Lehre praktischer Politik (Hrsg.), Integration durch Religion? Perspektiven des christlich-islamischen Dialogs, 2016, S.  23 – 29.

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II. In diesem Verständnis löst sich Kultur aus der Sphäre ästhetischer und folkloristischer Harmlosigkeiten und gewinnt politische Brisanz: Kultur, wenn nicht notwendig versehen mit der Kraft, den „Kampf der Kulturen“ auszulösen, so doch mit der Kraft, dem Integrationssog der modernen Gesellschaft zu trotzen. Damit erheben sich die Fragen: Wieviel kulturelle Differenz verträgt die deutsche Gesellschaft? Welche Art von Kulturimport ist der deutschen Kultur kompatibel? Bei welchen Personengruppen stoßen Integrationsbemühungen auf (bisher jedenfalls) unüberwindlichen Widerstand? Widerstand leisten nicht die Ausländer im Allgemeinen. Das Fehlen der Staatsangehörigkeit gibt keine Auskunft über kulturelle Differenzen. Die europäische Unionsbürgerschaft, das Akzessorium der Staatsangehörigkeiten der EU-Mitgliedstaaten, darf von vornherein ausscheiden, weil alle der (bisherigen) Mitgliedstaaten demselben, christlich vorgeprägten kontinentalen Kulturraum angehören. Im Übrigen bilden die Unionsbürger eine quantité negligeable; bislang leben hur mehr oder weniger als zwei Prozent dauerhaft in einem anderen Mitgliedstaat als ihrem Heimatstaat. Die außereuropäischen Zuwanderer sind unter integrationspolitischen Gesichtspunkten heterogen. Vietnamesen, Chinesen, Lateinamerikaner assimilieren sich zumeist rasch und geräuschlos. Dagegen schaffen das große, ungelöste Integrationsproblem die Zuwanderer aus muslimischen Ländern. Das ist, bei unserem Thema unvermeidlich, eine grob typisierende Feststellung, die nichts besagt über die einzelnen Biographien der Zuwanderer. Doch selbst die Typisierung bedürfte der Einschränkungen und Modifikationen. So haben sich die Iraner – zu einem erheblichen Teil Opponenten gegen das AyatollahRegime – mit ungewöhnlichem Erfolg in das deutsche Erwerbsleben, eingefügt. „Die Muslime“ bilden keine homogene Gruppe. Vielmehr zeigen sich vielfältige Unterschiede nach Glaubensrichtung und Glaubenseifer, nach nationaler Herkunft und sozialer Schicht, nach Lebensweise und Einstellung zur westlichen Welt. Doch ungeachtet aller notwendigen Vorbehalte bleibt es bei der typisierenden Feststellung: die letzte Ursache, dass Integration heute zum ungelösten und, soweit absehbar, zum unlösbaren Problem für Deutschland und für die ähnlich betroffenen Länder des abendländischen Kulturkreises geworden ist, liegt an der Integrationsresistenz des Islam, an seinem fundamentalen Widerspruch zum Geist der Moderne (nicht dagegen zu seinen technischen Errungenschaften), zur Säkularität des Staates, zur Verortung der Religion in einer offenen, auf Wettstreit der Geister ausgerichteten pluralistischen Gesellschaft, zur Unterscheidung von Recht und Moral, von Religion und Brauchtum. Im Islam verkörpert sich ein Einheitsdenken, wie es so dem Christentum niemals, auch nicht in früheren Entwicklungsstadien, eigen war, weil es von Anfang an unterschied zwischen

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dem Reich Gottes und den Reichen dieser Welt, zwischen Gesetz und Gewissen, zwischen dem, was des Cäsars, und dem, was Gottes ist. Das sind jene Unterscheidungen, aus denen in einem langen historischen Prozess die Moderne hervorgegangen ist.1 Die europäische Kultur hat keinen Grund, sich gegenüber der islamischen hochmütig zu gebärden und moralische Überlegenheit für sich zu reklamieren. Für den frommen, sittenstrengen Muslim mag diese Kultur geradezu ein schockierendes, Abscheu erregendes Bild abgeben, als schamlose und würdelose Szene der Unmoral, des Hedonismus, des Unernstes, der Dekadenz, eine gottlose Welt, der nichts mehr heilig ist. Allerdings legitimiert sich die europäische Kultur in ihrer realen Erscheinung auch nicht aus ihrer Moral, sondern aus der Freiheit aller, die ihr zugehören. Die Ausübung von grundrechtlicher Freiheit verbürgt keine moralische (wie auch keine intellektuelle) Qualität, weil Freiheit dem guten wie schlechten, dem klugen wie dummen Handeln gleichermaßen offensteht. Freiheit bedeutet die Fähigkeit, sich selber Gesetze zu geben und sich nicht fremden Gesetzen, damit auch den Moral- und Glaubensgeboten der anderen, beugen zu müssen. Der Widerspruch löst sich nicht von selbst in der zweiten oder dritten Generation. Er löst sich auch nicht durch Einbürgerung. Im amtlichen Sprachgebrauch gibt es zwei Klassen von Deutschen: die mit und die ohne Migrationshintergrund. Der Widerspruch der Kulturen läuft quer zur Distinktion zwischen Ausländern und Staatsangehörigen. Daher handelt es sich der Sache nach heute eigentlich nicht mehr um ein spezifisches Thema des Ausländerrechts. Es zeigt sich aber auch, daß die Zugabe der deutschen Staatsangehörigkeit an Ausländer, die in Deutschland geboren werden, das Problem nicht löst, sondern eher verfestigt, weil sie die Einbürgerung nicht als Lohn der gelungenen Integration gibt, sondern als Geschenk, das zu nichts verpflichtet. Die political correctness verwehrt, das Problem der kulturellen Identität und Differenz offen und freimütig zu diskutieren. Ihr widerstrebt, die Differenz überhaupt nur wahrzunehmen. Eine Verdrängungstechnik geht dahin, das kulturelle Problem umzudeuten in ein soziales und darauf zu bauen, es auf dem probaten Wege durch Anwerfen der Umverteilungsmaschinerie zu lösen (unbeeindruckt durch die immer wiederkehrende Erfahrung, daß sich die gefährlichste Sorte der Integrationsverweigerer vielfach aus den Oberschichten rekrutiert). Eine andere Argumentation leugnet, dass die kulturelle Identität Deutschlands, so es sie denn überhaupt gebe, rechtlichen Schutz verdiene, dass jedenfalls der Staat gehindert sei, den Schutz zu leisten. Ein Politiker der Grünen begründete die „Willkommenskultur“ gegenüber den Zuwanderungsmassen damit, daß es überhaupt nicht darauf ankomme, daß das deutsche Volk weiter bestehe, wenn nur die Demokra1 

Josef Isensee, Christliches Erbe im organisierten Europa, in: JZ 2013, S. 745 (751 ff.).

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tie des Grundgesetzes erhalten bleibe: Selbstauslöschung der Nation als Akt des Verfassungspatriotismus.2 Selbsthaß gibt allerdings keine Integrationsimpulse.

III. Im freiheitlichen Gemeinwesen ist Integration zunächst einmal Sache des Einzelnen. Ein jeder bestimmt, ob er sich in seine Privatheit zurückzieht oder am gesellschaftlichen Wettbewerb teilnimmt, wie er sein Familienleben gestaltet und seine Religion ausübt. Ein Jeder entscheidet darüber, ob und in welchem Maße er sich in seine soziale Umwelt fügt oder sich von ihr absetzt, sich der Mehrheitsgesellschaft anpaßt, in einer minoritären Gruppe aufgeht oder auf einem Dasein nach eigener Fasson besteht. Die grundrechtliche Freiheit zur Integration erschöpft sich aber auch in selbstbestimmtem Handeln. Kein Grundrechtsträger kann dem anderen seinen Willen aufzwingen, ihn zum Vertragsschluss nötigen und von ihm verlangen, seinen Lebensstil zu übernehmen, seine religiösen Überzeugungen zu teilen und sich seinen sozialen und kulturellen Bedürfnissen anzupassen. Denn dem anderen kommt die gleiche grundrechtliche Freiheit zu, über seine Lebensführung zu bestimmen, sich selbst die Personen auszusuchen, mit denen er umgeht, Beziehungen aufzunehmen oder zu verweigern. Daher ist gesellschaftliche Integration nicht nur eine Frage des guten Willens des Einzelnen. Ob es ihm gelingt, eine bestimmte Beziehung herzustellen, ob er in der jeweiligen sozialen Rolle als Nachbar, Vereinsmitglied, Mitspieler, Mitarbeiter, Unternehmer reüssiert, hängt ab von beeinflussbaren wie unbeeinflussbaren Faktoren: von der Attraktivität des eigenen Angebots, von Vertrauenswürdigkeit und Tüchtigkeit, von Gunst oder Ungunst der Umstände, letztlich aber davon, ob die anderen, auf die es ankommt, sich einlassen oder versagen. Integration ist Sache von Mehrheit und Minderheit zugleich. Sie setzt nicht nur voraus, „daß die Mehrheit der Bevölkerung religiöse oder weltanschauliche Minderheiten nicht ausgrenzt, sie verlangt vielmehr auch, daß diese sich nicht selbst abgrenzen und sich einem Dialog mit Andersdenkenden und -gläubigen nicht verschließen.“ Die Grundrechtsgesellschaft gründet auf allseitiger freier Verständigung und auf offenem Wettbewerb. Prinzipiell erwartet die Verfassung, daß sich die Integration aller, gleich ob Inländer oder Ausländer, im freien Spiel der gesellschaftlichen Kräfte vollzieht, daß die Bedürfnisse der Einzelnen ausreichen, um Kontakte, Leistungsaustausch und Interessenausgleich herbeizuführen, daß gleichwohl einem jeden noch Spielraum verbleibt, um für sich selbst Distanz oder Nähe zur sozialen Umwelt zu bestimmen. Integration wird weitgehend gesteuert von der unsichtbaren Hand der offenen Gesellschaft.

2

2 Phänomenologie und Analyse: Volker Kronenberg, Patriotismus in Deutschland, 2006, S. 175 ff., 231 ff.

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Dennoch bedarf Integration auch der sichtbaren Hand des Staates. Diesem obliegt es, ihr die rechtlichen Grundlagen bereitzustellen und, soweit die spontanen Kräfte der Gesellschaft nicht ausreichen, sie zu fördern, um sie zu werben, notfalls sie mit rechtlichem Nachdruck einzufordern. Die Aufgabe des Staates reicht weit. Seine Ausführungsbefugnisse aber sind von Verfassungs wegen knapp dosiert.

IV. Über den westlichen Gesellschaften steht das Menetekel „Islamische Gewalt“. Als sich diese im Januar 2015 – wieder einmal – entladen hatte im Anschlag auf die Redaktion des Pariser Satiremagazins „Charlie Hebdo“, wurden die Opfer als Märtyrer der Freiheit gefeiert. Doch sie hatten ihr Leben nicht für die Sache der menschenrechtlichen Freiheit geopfert; vielmehr hatten sie die Freiheit bis an ihre äußersten Grenzen (und darüber hinweg) genutzt, um den Islam wie die Religion überhaupt zu schmähen, und so die Gefühle derer verletzt, die ihre Mörder wurden oder die den Mord mit klammheimlicher wie offener Freude begrüßten. Die Morde sind nicht zu rechtfertigen und die Mörder nicht zu entschuldigen. Die Tat bleibt ein ungeheures Verbrechen. Staatsrechtlich gesehen, richtete sich die Tat aber nicht, jedenfalls nicht unmittelbar, gegen die Idee und das Recht der Freiheit, sondern gegen das staatliche Gewaltmonopol, dem die Pflicht des Bürgers korrespondiert, sich der Androhung und der Anwendung physischen Zwangs zu enthalten, selbst dann, wenn das Ehrgefühl auf das Tiefste verletzt wird. Die bürgerliche Friedenspflicht ist die Bedingung der Möglichkeit der grundrechtlichen Freiheit für alle. Die Freiheit als solche gibt kein moralisches Gütesiegel. Ihre Ausübung kann allen Regeln des Anstands und des Geschmacks spotten und so schärfsten Widerspruch auf sich ziehen, aber keine physische Gewalt. Eine Grundpflicht der Bürger eines freiheitlichen Gemeinwesens besteht darin, die Zumutungen der Freiheit des anderen auszuhalten. Das haben die Europäer in einem langen historischen Prozess lernen müssen. Das müssen nun die Zuwanderer aus geschlossenen Gesellschaften lernen. Daß sie es lernen, ist eine Vorbedingung ihrer Integration. Sie können nicht erwarten, daß ihrer Gefühle wegen die für alle geltende Grenze der Freiheit enger gezogen oder der Standard der inneren Sicherheit gesenkt wird. Doch Letzteres zeichnet sich schon hier und da ab. Als das Amtsgericht Lüdinghausen im Jahre 2006 einen Angeklagten, der Klopapierrollen mit Koranaufdruck an islamische Einrichtungen versandt hatte, – zu Recht – wegen Religionsbeschimpfung (§ 166 StGB) verurteilte, erkannte es als strafmildernd an, daß der Angeklagte selbst von den Folgen seiner Tat eingeholt worden sei: aufgrund erheblicher Bedrohungen und einer akuten Gefährdungslage lebe er nicht mehr unter seiner bisherigen Wohnanschrift, sondern halte sich an wechselnden Orten

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auf, um nicht weiter identifiziert werden zu können.3 Die staatliche Justiz kalkuliert die Selbstjustiz ein. Die Probleme, die sich hier abzeichnen, werden nicht dadurch gelöst, daß integrationseifrige Politiker und Journalisten jedwede islamistische Aggression als religiöses Missverständnis verharmlosen und die Muslime mit ausgewählten Zitaten aus dem Koran darüber belehren, wie friedlich und europatauglich der „wahre“ Islam denn sei. Die Schuster sollten bei ihren Leisten bleiben, die säkularen Erfordernisse des gedeihlichen Zusammenlebens beim Namen nennen und einfordern und den Koran den Koranschulen belassen. Integrationsziele und Integrationsrücksichten kommen knapp und kompakt zum Ausdruck in der Staatsrhetorik, wenn – wieder einmal – ein im Namen des Islam gezündeter Terroranschlag die Bevölkerung erschüttert. Amtsträger und staatstragende Medien appellieren an Gemüt und Vernunft, an Empathie und Bürgersinn, an Differenzierungsvermögen und Realitätsblindheit um des lieben Friedens willen. Der Duktus der Stellungnahmen ist ritualisiert, die Wendungen mehr oder weniger stereotyp. Am Anfang: Bekundung des Entsetzens, des Mitleids mit den Opfern und ihren Familien. Sodann: Appell zum Kampf gegen den Terrorismus, aber unter Aufrechterhaltung aller rechtsstaatlichen Normalitätsgarantien. Danach: Reinigung der Muslime vom „Generalverdacht“, sie könnten den Terrorismus unterstützen oder mit ihm sympathisieren, Freundschaftsbeteuerung an den Islam, der mit dem Islamismus nichts zu tun habe. Am Ende: energische Absage an rechtsextreme Versuche, Islamphobie zu schüren, Gewalt und Gegengewalt zu zündeln, statt dessen Aufruf zu Gelassenheit, Mitmenschlichkeit, Willkommenskultur.

V. Das wirksamste Integrationsinstrument des Staates ist seine Schulhoheit. Sie steht dem grundrechtlich gewährleisteten Elternrecht gegenüber. Je nach Lage des Einzelfalles kann sie der Kooperation mit den Eltern, der Ergänzung, der Korrektur wie des Gegengewichts zu ihrer Erziehung dienen. „Pflege und Erziehung der Kinder sind das natürliche Recht der Eltern und die zuvörderst ihnen obliegende Pflicht.“4 Die Eltern bestimmen Ziele und Wege der Erziehung; sie vermitteln dem Kind die Muttersprache und legen die religiösen, ethischen, lebenspraktischen Grundlagen. In der elterlichen Erziehung regeneriert sich die Kultur des Gemeinwesens. Sie vermag die Besonderheit von Gruppenethos und Milieus zu verstetigen und das Wachstum von Parallelgesell3  AG Lüdinghausen, Urt. v. 23. 2. 2006, 7 Ls 540 Js 1309/05 31/05, zitiert nach: www. juris.de. 4  Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG.

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schaften zu fördern. Es liegt an den Zuwanderern aus dem ostanatolischen Bergdorf, ob sie in ihrer Erziehung westlichen Leitbildern folgen oder aber denen ihrer Herkunft, ob sie ihr Kind auf ein Leben in der deutschen Gesellschaft vorbereiten oder auf ein Leben in der türkischen Enklave, die sich abschottet von der deutschen Großstadt, zu der sie staats- und völkerrechtlich gehört. Die Eltern entscheiden, mit welchen Kindern ihre Kinder spielen, welche Erwachsenen Einfluß nehmen dürfen, ob sie es in einen deutschen Kindergarten geben oder in eine Koranschule. Damit stellen sie die Weichen zwischen Integration oder Segregation. Der Staat respektiert die Entscheidung, wie immer sie ausfällt. Das verfassungsrechtlich garantierte Elternrecht hindert ihn, hier mit Rechtszwang zu intervenieren. Auch das Wächteramt, das ihm die Verfassung zuweist,5 bildet keinen Eingriffstitel. Er kann die Eltern nicht daran hindern, die Nichtmuslime als Feinde Gottes darzustellen und im Umgang mit ihnen das Gebot der Tagiyya einzuüben,6 der Verstellung im Feindesland, wie er ihnen auch nicht verbieten kann, das Kind dem Einfluss volkshetzerischer Imame in Moscheen auszusetzen. (Ein anderes Thema ist es, daß er den eingereisten Hasspredigern unter Umständen mit den Mitteln des Aufenthalts-, des Ordnungs- und des Strafrechts das Handwerk legen kann.). Doch lebt das staatliche Wächteramt über die elterliche Erziehung auf, wenn das Kind zu verwahrlosen droht, vollends wenn Rechte des Kindes, die auch die Eltern zu achten haben, gefährdet werden, etwa bei der Genitalverstümmelung von Mädchen oder ihrer Zwangsverheiratung. Hier stößt der grundrechtlich geschützte Sitten- und Religionsimport auf eine unüberwindliche Grenze im deutschen ordre public. Das Wächteramt ist ein Medium der Gefahrenabwehr, kein Medium staatlicher Erziehung. Es vermag nicht, das internum der Familie zu kontrollieren und zu dirigieren. Es vermag auch nicht, die formierten Parallelgesellschaften aufzulösen, deren grundrechtliches Lebenselixier gerade das Elternrecht bildet. Integration beginnt in der Familie oder sie bricht sich an ihr. Die Familie kann ein offenes Haus sein oder eine feste Burg, eine Operationsbasis, ein Bunker oder ein Gefängnis.

VI. Dagegen öffnet die allgemeine Schulpflicht die Tore der Kulturghettos, falls es nicht anders geht, auch mit staatlichem Zwang. Sie erfaßt alle Kinder, die der Einheimischen wie der Zugewanderten. Sie fragt nicht nach Staatsangehörigkeit, 5  Art. 6

Abs. 2 S. 2 GG. Dazu BVerfGE 24, 119 (144 ff.); 103, 89 (107 ff.); 107, 104 (117 ff.); Matthias Jestaedt, in: Bonner Kommentar zum Grundgesetz, Stand: 1995, Art. 6 Abs. 2 und 3 Rn. 162 ff. 6 Dazu Ursula Spuler-Stegemann, Muslime in Deutschland, 1998, S. 65 ff.

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nach ethnischer Herkunft, sozialer Schicht, Religion. Die Schule ist das wirksamste Integrationsinstrument des Staates, vielleicht das einzige, das nachhaltige Wirkung zeitigt. Daher behält er sich „die für alle gemeinsame Grundschule“7 vor, die nicht durch die Privatschule und nicht durch Privatunterricht ersetzt werden kann. Denn, so das Bundesverfassungsgericht, „soziale Kompetenz im Umgang auch mit Andersdenkenden, gelebte Toleranz, Durchsetzungsvermögen und Selbstbehauptung einer von der Mehrheit abweichenden Überzeugung können effektiver eingeübt werden, wenn Kontakte mit der Gesellschaft und den in ihr vertretenen Auffassungen nicht nur gelegentlich stattfinden, sondern Teil einer mit dem regelmäßigen Schulbesuch verbundenen Alltagserfahrung sind“.8 Von jeher hatte die öffentliche Schule den Auftrag, über gemeinsame Bildung die konfessionell, ständisch, politisch geteilte Gesellschaft zu einen, soziale Chancengleichheit herbeizuführen und nationalen Zusammenhalt zu stiften. Der Auftrag bewegte sich innerhalb der deutschen Gesellschaft, die über alle Widersprüche hinweg jedenfalls durch die gemeinsame Sprache geeint war. Selbst diese Gemeinsamkeit kann bei den Kindern von Zuwanderern nicht allgemein vorausgesetzt werden. Die Unterrichtssprache aber ist Deutsch. Wenn das Kind die notwendigen Sprachkenntnisse nicht bereits mitbringt, muß die Schule sie nachträglich aufbauen. Sie holt die Kinder dort ab, wo sie sich von Haus aus befinden. In der Ausübung seiner Schulhoheit erweist sich der Rechtsstaat als sittlicher Staat. Er bringt das allgemeine Ethos zur Geltung, das ein gedeihliches Zusammenleben in Verschiedenheit ermöglicht und die Einheit des Gemeinwesens gegenüber den Fliehkräften der Gesellschaft sichert, ein Ethos, das Selbstbehauptung, Rücksichtnahme und Gemeinsinn verbindet, das die Fähigkeit gibt, die eigene Freiheit verantwortlich auszuüben und die Freiheit des anderen zu ertragen, auch dann, wenn ihre Ausübung schmerzt. Die Demokratie legt ihr Schulprogramm für alle Schüler einheitlich fest nach verallgemeinerungsfähigen Maßstäben. Zu den verfassungsrechtlichen Vorgaben gehören die staatliche Pflicht zur religiösen Neutralität und das Gebot der Toleranz. „Die mit dem Besuch der Schule gleichwohl verbundene Konfrontation mit den Auffassungen und Wertvorstellungen einer zunehmend säkular geprägten pluralistischen Gesellschaft ist Schülern wie Eltern trotz des Widerspruchs zu ihren eigenen religiösen Überzeugungen zuzumuten.“9 Der Unterricht löst sich nicht auf in rechtliche und kulturelle Beliebigkeiten, und das Schulhaus wandelt sich nicht zur Multi-Kulti-Agentur. Was die Schule lehren und anstreben soll, ergibt sich aus dem deutschen Recht sowie aus der deutschen, sohin weltzugewandten Kultur. Die leibliche, seelische und gesellschaft7 

Art. 146 Abs. 1 S. 2 WRV. BVerfGK 1, 141 (143). 9  So BVerfGK 1, 141 (144). 8 

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liche Tüchtigkeit, zu der die Schule den Schülern verhelfen soll, hat sich in der offenen Gesellschaft zu bewähren, die nicht nur nach außen zu anderen Ländern offen ist, sondern auch offen im Innern, wo keine kulturellen Demarkationslinien gelten dürfen. Eben deshalb mißachtet die Schule ihren Erziehungsauftrag, wenn sie ihren für alle geltenden Anspruch zurücknimmt, sowie sie auf den Widerstand von Immigranten aus fremder Kultur stößt, die unter Berufung auf ihr Elternrecht zu religiöser Erziehung verlangen, daß ihre Tochter vom koedukativen Sport- und Schwimmunterricht, vom Sexualkundeunterricht oder vom Klassenausflug freigestellt und unter Sonderrecht nach dem Frauenbild der Scharia gestellt wird. Am verfassungsrechtlich verankerten Erziehungsauftrag des Staates brechen sich die Sonderwünsche und Abwehransprüche der Eltern. Das grundrechtlich gewährleistete Elternrecht trifft auf eine unüberwindliche Grenze. Freilich muß sich manches Unterrichtsprogramm auf seine allgemeine Zumutbarkeit für Schüler und Eltern, mit oder ohne Migrationshintergrund, überprüfen lassen, und das nicht allein in den heiklen Fragen der Sexualerziehung. Falls die Schule den muslimischen Schüler zu Recht vom Sexualkundeunterricht dispensiert, darf sie diesen auch den deutschen Schülern nicht aufzwingen. Es gibt nicht zweierlei Unterrichts- und Erziehungsziele. Es gibt nicht zweierlei Recht für deutsche und für muslimische Kinder. Wenn die Schule konsequent bleibt und nicht in eine bequeme, permissive Dispenspraxis ausweicht, leistet sie heilsame Integrationsarbeit. Sie vermittelt dem Schüler, nicht minder aber auch der Schülerin, die in einer arabischen Enklave in Bonn-Bad Godesberg aufwachsen, die Erfahrung der Rechtsgleichheit und sorgt dafür, daß er sich als Person anerkannt sieht, daß er Gunst und Last der hiesigen Rechtsordnung am eigenen Leibe erlebt. Das ist eine gute Vorbereitung dafür, daß sie bei Erreichung der Volljährigkeit die Freiheit ausüben können, die das deutsche Recht ihnen bietet, daß sie sich nicht wehrlos der familiären Dauervormundschaft unterwerfen, nicht dem Druck des Clans beugen müssen, sondern selbstverantwortlich entscheiden können, welche der nebeneinander bestehenden Lebensformen sie für sich wählen, schließlich sogar, ob und wen sie heiraten. Freilich hat die öffentliche Schule nicht die Aufgabe, die Kinder gegen ihre Eltern aufzuhetzen, paternalistische Familienverbände durch Indoktrination aufzubrechen, fremdes Ethos zu diskreditieren und die Einwanderer moralisch wie kulturell zu entwurzeln. Derartige Versuche stießen auf unüberwindlichen Widerstand in den Grundrechten. Es stimmt nachdenklich, daß viele muslimische Eltern ihre Kinder lieber einem katholischen Kindergarten und einer katholischen Schule überantworten als den entsprechenden öffentlichen Einrichtungen. Sie scheuen nicht das Christentum, sondern die aufklärerische Penetranz und die permissive Toleranz, die sie für gotteslästerlich und dekadent halten. Der Konflikt besteht nicht zwischen dem Islam und dem Christentum als Religionen, sondern zwischen der islamischen und der westlichen Lebensform.

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Dennoch darf der Staat nicht seinen eigenen Erziehungsauftrag zurücknehmen und den Widerspruch zu islamischen Vorstellungen aus Takt- und Toleranz­ erwägungen scheuen, aus Sorge, Anstoß zu erregen. Er darf nicht das Leitbild des Grundgesetzes schamhaft verhüllen, jenes Leitbild von Selbstbestimmung und Selbstbindung des Individuums, der Gleichheit aller Menschen, der Gleichberechtigung von Mann und Frau, vollends das Leitbild von Ehe und Familie, das all diese Grundsätze in sich vereinigt. Zu Pflichten der Lehrer, der Eltern wie der Schüler, sagt die Verfassung: „Die bürgerlichen und staatsbürgerlichen Pflichten werden durch die Ausübung der Religionsfreiheit weder bedingt noch beschränkt.“10 Die öffentliche Schule in Deutschland braucht nicht hinzunehmen, daß sich die afghanische Schülerin unter Berufung auf Religion oder Brauchtum des Heimatlandes in der Burka verhüllt, ihr Gesicht vor Lehrern und Mitschülern versteckt und so aus der schulischen Kommunikation ausschert. Vollends brauchen Schüler wie Eltern nicht zu dulden, daß die Lehrerin im Unterricht das muslimische Kopftuch trägt oder gar ihrerseits sich bis auf Augenschlitze vollständig verschleiert. Sie kann sich hier nicht auf ihre grundrechtliche Freiheit zur Religionsausübung und zur privaten Selbstdarstellung berufen. Der Unterricht ist grundrechtsgebundene Ausübung deutscher Schulhoheit und nicht Gegenstand privater Selbstverwirklichung, weder auf religiösem noch auf modischem Gebiet. Damit ihr Kopftuch und Schleier verwehrt werden, braucht es nicht erst zum Konflikt mit Schülern und Eltern zu kommen. Die Amtspflichten der Lehrerin erschöpfen sich nicht darin, Rechtsverstöße zu unterlassen. Vielmehr ist es Amtspflicht, bereits den bösen Schein zu vermeiden, daß sie die deutschen Unterrichtsziele nicht sachgerecht und nicht glaubwürdig umsetze oder dass sie sich von der deutschen Kultur distanziere, die sie doch vermitteln soll. Zu den pädagogischen Erfordernissen gehört Toleranz. Aufgabe der Lehrerin an der öffentlichen Schule ist es, Toleranz zu lehren und zu üben, nicht aber, sie für ihre Person in Anspruch zu nehmen und ihrerseits die Toleranz der Schüler und der Eltern zu strapazieren, die ihr ausgesetzt sind. Ob sie es will oder nicht: kraft ihres Amtes ist sie den Schülern Vorbild. Was aber die legitime Vorbildfunktion ausmacht, das beantwortet sich nicht aus subjektiven Leitvorstellungen der Lehrperson, sondern aus der deutschen Leitkultur, die sich im Erziehungsauftrag der Schule zur Geltung bringt.11

10 

Art. 136 Abs. 1 WRV i. V. m. Art. 140 GG. Josef Isensee, Grundrechtseifer und Amtsvergessenheit – Der Kampf um das Kopftuch (2004), in: ders., Recht als Grenze – Grenze des Rechts, 2009, S. 169 ff.; Axel Frhr. v. Campenhausen/Heinrich de Wall, Staatskirchenrecht, 42006, S. 72 ff.; BVerfGE 108, 282 (294 ff.); BVerfG, Urt. v. 27. 1. 2015, in: JZ 2015, S. 666 ff. 11 

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VII. Die Muslime genießen die Religionsfreiheit als Einzelne wie in ihren Gemeinschaften. Doch erheben sich Schwierigkeiten, die Institutionen des Staatskirchenrechts vom Religionsunterricht über die theologischen Fakultäten bis zum Körperschaftsstatus zu nutzen, weil diese, in langer deutscher Geschichte gewachsen, auf die christlichen Kirchen zugeschnitten sind. Das heißt nicht, daß sie den christlichen Kirchen vorbehalten wären. Im Gegenteil: sie stehen allen Religionsgemeinschaften offen, auch dem Islam. So können alle Religionsgemeinschaften den Status der Körperschaft des öffentlichen Rechts erwerben, „wenn sie durch ihre Verfassung und die Zahl der Mitglieder die Gewähr der Dauer bieten“.12 Eben diese Voraussetzungen gehen dem Islam von Haus aus ab. Er hat keine kirchenanalogen Strukturen entwickelt. Es fehlt – jedenfalls derzeit – an einer konsistenten, repräsentativen Organisation, die für den Islam oder für eine seiner Richtungen – wie zum Beispiel die Sunniten – dem säkularen Staat verantwortlich gegenübertreten könnte. Sollte sie sich in Deutschland künftig herausbilden, so wäre der Zugang zu den staatskirchenrechtlichen Institutionen frei. Eine übereifrige Integrationspolitik will das Wachstum von unten aber nicht abwarten, sondern die Institutionen dem Islam von oben her überstülpen, in der Hoffnung, die Integration auf diese Weise zu beschleunigen, sich mit willigen Kräften zu verbünden und integrationsfeindliche Kräfte („Haßprediger“) auszuschalten. Die gutgemeinten Bemühungen sind bislang erfolglos geblieben. Sie haben Mißtrauen erzeugt und Zwietracht gesät. Dennoch zielen unentwegte religionspolitische Hoffnungen dahin, dass sich auf europäischem Boden ein aufgeklärter, verfassungsgenehmer Euro-Islam entwickeln werde. Der säkulare Staat vermag ihn nicht zu züchten. Ihm bleibt nur, den Islam, der sich in Deutschland etabliert, zu nehmen, wie er ist, und gemeinsam mit ihm nach neuen Formen zu suchen, die ein friedliches Nebeneinander erleichtern und ein tunlichst gedeihliches Miteinander fördern.

12 

Art. 137 Abs. 5 S. 2 WRV i. V. m. Art. 140 GG.

Grundrechtseifer und Amtsvergessenheit Der Kampf um das Kopftuch* Grundrechtseifer und Amtsvergessenheit. Der Kampf um das Kopftuch Grundrechtseifer und Amtsvergessenheit

Das Bundesverfassungsgericht hat mit dem Kopftuchurteil1 den Apfel der Zwietracht in die deutsche Gesellschaft geworfen. Es hat erreicht, daß sich an einem Randproblem der Schulverwaltung ein politischer Fundamentalkonflikt entzündet und sich ein läppisches Kleidungsstück in die Fahne des Kriegs der Kulturen verwandelt. Ausgetragen wird der Streit derzeit in den Landtagen. Das Bundesverfassungsgericht stellt es ihnen frei, ob sie den Lehrkräften verbieten, in Schule und Unterricht ein Kopftuch zu tragen oder nicht; wenn sie es aber verbie­ ten wollen, müssen sie dafür eine hinreichend bestimmte gesetzliche Grundlage schaffen. Die Forderung ist neu. Sie schießt weit über den Vorbehalt des Gesetzes hin­ aus, wie das Gericht ihn bisher selbst verstanden hat. Für Praxis wie Lehre bildet sie einen Überraschungscoup. Der redundante Urteilstext bietet den um Verfas­ sungsgerichtsgehorsam bemühten Volksvertretungen keine verläßlichen Hinwei­ se dafür, wie ein Kopftuchgesetz, für das es kein Vorbild gibt, aussehen soll. Die vielen Argumente, die das Gericht aufbietet, ergeben keine konsistente Begrün­ dung. Es ist nicht möglich, tragende, also verbindliche Gründe aus den beiläufi­ gen, also unverbindlichen (obiter dicta) herauszufiltern. Die Länder entscheiden unter vollem verfassungsgerichtlichen Risiko. Wie immer ihre Regelungen aus­ fallen, am Ende werden sie vor dem Bundesverfassungsgericht landen. Das Prob­ lem wird dahin zurückkehren, von wo es in Umlauf gesetzt wurde. In der offenen Gesellschaft der Verfassungsinterpreten ist ein Überbietungs­ wettbewerb entbrannt, wer der muslimischen Lehrerin noch mehr Bekenntnisund Bekleidungsfreiheit in der Schule zuspricht, wer das Prinzip der religiös-wel­ tanschaulichen Neutralität noch weiter zurückdrängt, wer die Möglichkeit eines Kopftuchverbots, wenn er sie nicht sogleich ausschließt, noch enger einschränkt auf rare, anspruchsvolle Einzelfallentscheidungen und subtile Differenzierungen nach dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit. Dem Sieger winkt die Palme der multikulturellen Offenheit, der Progressivität, der Toleranz. Man mag beinahe bedauern, daß der interpretatorische Aufwand für ein schlichtes Kopftuch er­ folgt und nicht für die Totalverschleierung der Lehrerin im Unterricht und die *  Erstveröffentlichung in: Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 8. 6. 2004, Nr. 131, S. 11. 1 

BVerfG Urt. v. 24. 9. 2003, E 108, 282 (294 ff.).

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Burka, die umfassende Emanation religiös begründbarer Bekleidungsfreiheit. Der heilige Grundrechtseifer beschränkt sich freilich auf den Religions- und Kul­ turimport des Islam. Die autochthone Religion des Christentums wird nicht so verwöhnt. Die Schule stellt sich nun dar als der Ort einseitiger Grundrechtsop­ timierung des Lehrpersonals. Hier lebt die Lehrerin ihr Selbst aus in religiöser, politischer, kultureller Hinsicht. Hier manifestiert sie Geschmack und Gesinnung durch Wahl ihrer Gewandung. Die Grundrechte der Schüler und der Eltern ziehen sich zurück. Allenfalls machen sie sich als Störfaktoren bemerkbar und werden entschärft durch Abwägung gegen die dominanten Grundrechte der Lehrerin, bei der sie von vornherein verlieren müssen. Die Schule, so die stille Prämisse, ist um der Lehrer(innen), nicht um der Schüler willen da. Krasser kann sich die in Deutschland obwaltende Grundrechtsintrovertiertheit nicht ad absurdum führen. Sie krankt an Amtsvergessenheit. Der verfassungs­ rechtliche Kardinalfehler liegt darin, daß der Status der Lehrkraft in der Schule von ihren subjektiven Grundrechten her gedeutet wird und nicht von der objekti­ ven Unterrichts- und Erziehungsaufgabe, die ihr durch die demokratisch verfaßte staatliche Allgemeinheit anvertraut worden ist: als öffentliches Amt. Das Amt bildet ein Segment der Staatsgewalt, die im Verhältnis zum Bürger notwendig eingebunden ist in das Recht, abgeschottet gegen private Willkür und individu­ elle Laune seines Inhabers. Amt ist Dienst, nicht Selbstverwirklichung. Diese Askese ist der Preis für die Teilhabe an der Staatsgewalt. Die Amtsinhaber haben die Freiheit der Bürger zu wahren, doch sie nehmen nicht an ihr teil. Sie sind nicht Inhaber der Grundrechte, sondern deren Garanten, aber auch deren virtuel­ le Widersacher. Daß Inhaber staatlicher Ämter grundrechtsunfähig sind, ist kein Widerspruch zur Freiheit der Bürger, sondern Voraussetzung der Freiheit. Der Lehrer setzt das pädagogische Programm des demokratischen Rechtsstaa­ tes um, in dessen Dienst er steht. In seiner Amtsführung achtet er die Grund­ rechte der Schüler, die ihm kraft Schulzwangs überantwortet sind, und die der Eltern, vor deren primärem Erziehungsrecht er seinen Unterricht zu rechtfertigen hat. Das eigene religiös-weltanschauliche Engagement weicht im Unterricht der staatlichen Neutralitätspflicht. Er gewährleistet anderen Toleranz, doch seiner­ seits darf er die Toleranz der anderen nicht strapazieren. Zu seiner Aufgabe ge­ hört, Schüler unterschiedlicher nationaler, sozialer, kultureller Herkunft in die deutsche Gesellschaft zu integrieren. Wer integrieren will, muß bereits selbst integriert sein. Die Verfassung fordert, daß die Lehrer den Unterrichts- und Er­ ziehungsauftrag optimal erfüllen, nicht aber, daß sie selber ihre Grundrechte in der Schule optimal verwirklichen können. Denn diese Verwirklichung ginge auf Kosten der Grundrechte der Schüler und der Eltern. Daher besteht, grundrecht­ lich gesehen, ein wesentlicher Unterschied zwischen einem Verbot des Kopftuchs für Lehrerinnen und einem solchen für Schülerinnen. Letzteres stieße auf erheb­ lich stärkeren grundrechtlichen Widerstand.

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Freilich stehen die Grundrechte auch den Staatsbediensteten zu. Im privaten und gesellschaftlichen Leben genießen sie die gleiche grundrechtliche Freiheit wie jedermann. In einem schmalen Ausläufer ragt diese in den amtlichen Raum hinein. Die Beamten bestimmen selbst, wie sie ihr Erscheinungsbild im Dienst gestalten und wie sie sich kleiden. Doch handelt es sich nicht um den Wesensge­ halt freier Persönlichkeitsentfaltung, sondern um eine Randnutzung. Der Spiel­ raum für individuelle Beliebigkeit wird begrenzt durch die Erfordernisse des Amtes. Er wird sogar völlig aufgehoben, wenn der Polizeibeamte verpflichtet wird, eine Uniform, der Richter, eine Robe zu tragen, ohne daß sich grundrecht­ liche Bedenken erhöben. Allgemein steht das Recht, sich im Dienst nach persön­ lichem Geschmack zu gewanden, unter dem Vorbehalt der Amtsverträglichkeit. Das selbstbestimmte Erscheinungsbild darf nicht geeignet sein, die Achtung und das Vertrauen in die Integrität der Amtsführung zu beeinträchtigen. Eine solche Beeinträchtigung braucht nicht tatsächlich einzutreten. Der Staat hat vorzusorgen, daß bereits das Risiko einer solchen tunlichst vermieden wird. Mehr noch: der Inhaber eines öffentlichen Amtes hat die Pflicht, sogar den bö­ sen Schein zu meiden, damit das Grundvertrauen der Bürger, das Fundament des demokratischen Gemeinwesens, nicht Schaden nimmt. Daher kommt es nicht darauf an, was eine muslimische Lehrerin beim Tragen ihres Kopftuchs denkt, ob sie beabsichtigt, sich mit ihm zu schützen, sich zu schmücken oder ein Be­ kenntnis abzulegen; ob sie eine religiöse oder eine politische Tendenz bekundet, und welche, oder ob sie bloß an einem Brauch festhält. Entscheidend ist, wie das Kopftuch auf Schüler, Eltern und Öffentlichkeit wirkt; ob es geeignet ist, das Vertrauen in die religiös-weltanschauliche Neutralität und die moralische Zumut­ barkeit des Unterrichts zu beeinträchtigen, ob es Zweifel weckt, daß die Lehrerin sich hinlänglich mit den Erziehungszielen aus Verfassung und Gesetz identifi­ ziert, daß sie die rechtlichen, ethischen und kulturellen Leitbilder der Schule, die geprägt sind durch deren Herkunft aus Christentum und Aufklärung und zuge­ schnitten auf die Bedürfnisse einer offenen, pluralen Gesellschaft, glaubwürdig vermitteln kann, ob sie in Person als Vorbild taugt. Zweifel drängen sich geradezu auf. Der Gesetzgeber darf, um drohende Irritationen zu verhindern, das Kopftuch aus dem amtlichen Tätigkeitsbereich verbannen, er muß es sogar. Verfassungsjuristen raten den Ländern, das Kopftuch nicht generell zu verbie­ ten, sondern auf den Einzelfall abzustellen, ein Verbot also erst auszusprechen, wenn sich Störungen im Schulbetrieb ergeben sollten oder aber, wenn sie den Weg des gesetzlichen Verbots wählen, es durch einen Erlaubnisvorbehalt abzu­ mildern, damit die Bekenntnis- und Bekleidungsfreiheit der Lehrerin weitgehend geschont und dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit Rechnung getragen wer­ de. Bereits die Prämisse ist falsch: die Bestimmung der Amtspflichten nach den subjektiven Bedürfnissen des Inhabers statt nach den Bildungsaufgaben und der staatlichen Allgemeinheit. Gleichwohl mag die „weiche“ Einzelfall-Lösung auf

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eine entscheidungsängstliche Parlamentsmehrheit verführerisch wirken, weil sie als Mittelweg am wenigsten politischen und rechtlichen Anfechtungen ausge­ setzt sein dürfte und etwaige Konflikte auf die Verwaltung abgeschoben würden. Doch die Chance, die das Gesetz von seiner Form her bietet, wäre vertan. Rechts­ sicherheit, Rechtsgleichheit und Transparenz verlören sich in unübersehbaren Einzelfallentscheidungen, die sich aus der Aleatorik behördlicher und gerichtli­ cher Abwägungen ergäben. Ein striktes gesetzliches Verbot schüfe Rechtsklarheit und beanspruchte allge­ meine und gleiche Geltung. Es begnügte sich mit einer typisierenden Feststellung über die Amtsunverträglichkeit des Kopftuches, hielte Distanz zu Betroffenen und schonte ihre Persönlichkeitsrechte. Es ersparte ihnen wie den staatlichen Dienststellen peinliche Recherchen und aufdringliche Befragungen. Es wider­ spräche den grundgesetzlichen Kriterien der Eignungsauslese für den öffentli­ chen Dienst, wenn der Staat erkennbare Risiken für die künftige Amtsführung und den Schulfrieden planmäßig übersähe und sich damit beruhigte, daß er spä­ ter, wenn dienstliche Verfehlungen vorkämen, diese disziplinarisch ahnden oder, wenn Schulfrieden und Schulfunktion gestört werden sollten, Abhilfe schaffen könne. Die Abhilfe käme zu spät. Sanktionen könnten den Schaden nicht mehr aus der Welt schaffen. Freilich liegt in jeder Personalentscheidung ein rechtliches Risiko. Das Risiko aber, das die Bewerberin mit dem Tragen des Kopftuchs sig­ nalisiert, liegt von Anfang an offen zu Tage. Es darf nicht auf die Schüler abge­ wälzt werden. Eine islamische Lehramtskandidatin, die nicht bereit ist, um der effektiven, vertrauensbildenden Amtsführung willen auf die virtuelle Provokati­ on des Kopftuchs im Unterricht zu verzichten, ist für das Amt schlechthin unge­ eignet. Hier bietet sich auch kein Ausweg durch Verwendung in solchen Schulbe­ reichen, in denen die Provokation nicht verfängt. Diese lassen sich ohnehin nicht von vornherein ausmachen. Selbst eine Klasse, die sich nur aus muslimischen Schülern zusammensetzt, ist nicht immun. Im übrigen muß der Staat gerade hier mit besonderem Nachdruck seinen schulischen Integrationsauftrag zur Geltung bringen. Kein Land kann es sich leisten, Lehrerinnen einzustellen, die nicht die volle Gewähr ihrer amtlichen Zuverlässigkeit bieten, die nur begrenzt einsetzbar und bedingt belastbar wären. Ein Staat, der aus falsch verstandener Grundrechtsliberalität sich scheut, sei­ nen Lehrern die notwendige Anpassung an Erfordernisse der öffentlichen Schu­ le zuzumuten, gerät in Widerspruch zu den Grundrechten der Schüler und der Eltern, denen er zumutet, den pädagogischen Einfluß der Lehrer, die sie sich nicht aussuchen können, zu ertragen. Es gibt grundrechtliche Grenzen der Zu­ mutbarkeit des Schulzwangs. Der Unterrichtsboykott als Mittel der Notwehr von Schülern und Eltern wartet auf nähere juristische Diskussion. Zieht aber das Verbot des muslimischen Kopftuchs nicht notwendig das Verbot christlicher Symbole und Gewänder nach sich? Gilt nicht gleiches Recht für alle

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Religionen? Doch es geht nicht um Religion, sondern um die Verwirklichung des staatlichen Bildungs- und Erziehungsauftrags in der Schule. Die objektive Pro­ vokation, die das Kopftuch darstellt, geht von Ordenskutte und Kreuz nicht aus. Im Gegenteil: sie repräsentieren das Christentum als eine Quelle der Kultur und des Ethos, dem die Schule (nicht allein die christliche Gemeinschaftsschule Ba­ den-Württembergs und Bayerns) verpflichtet ist. Menschenrechte, Demokratie, Gewaltenteilung sind auf dem christlich geprägten Boden Europas gewachsen. Die historischen Konflikte zwischen liberaler Demokratie und Kirche sind längst beigelegt. Diese haben zum schiedlich-friedlichen Ausgleich gefunden und er­ kennen einander an, eine jede für ihren Bereich. In versöhnter Verschiedenheit arbeiten sie auf wichtigen Feldern zusammen. Für den Islam steht eine vergleich­ bare Entwicklung aus. Sie kann auch nicht durch forciertes Wunschdenken und rechtliche Fiktionen vorweggenommen werden. Wenn der Verfassungsstaat zwi­ schen Kopftuch und Kreuz nicht mehr unterscheidet, mißachtet er die geistigen Voraussetzungen, von denen er zehrt.

Private islamische Bekenntnisschulen Zur Ausnahme vom Verfassungsprinzip der für alle gemeinsamen Grundschule* Private islamische Bekenntnisschulen. Zur Ausnahme vom Verfassungsprinzip der für alle gemeinsamen Grundschule Private islamische Bekenntnisschulen

I.  Eine vergessene staatskirchenrechtliche Option: Art. 7 Abs. 5 GG „Eine private Volksschule ist nur zuzulassen, wenn die Unterrichtsverwaltung ein besonderes pädagogisches Interesse anerkennt oder, auf Antrag von Erziehungsberechtigten, wenn sie als Gemeinschaftsschule, als Bekenntnis- oder Weltanschauungsschule errichtet werden soll und eine öffentliche Volksschule dieser Art in der Gemeinde nicht besteht.“ Diese Vorschrift des Art. 7 Abs. 5 GG versteckt sich in einer Nische des Grundgesetzes, in die bislang nur selten juristisches Licht eingedrungen ist. Vor allem die staatskirchenrechtliche Konzeption der Möglichkeit einer privaten Bekenntnisschule ist bislang noch nicht ausgeleuchtet worden. Dazu bestand auch kaum praktisches Bedürfnis. Solange es nahezu flächendeckend öffentliche Bekenntnis(grund-)schulen gab, kamen private kaum zum Zuge. Seit öffentliche aber weithin von der Bildfläche verschwunden sind, haben die (wenigen) privaten Bekenntnis(grund-)schulen kein juristisches Aufsehen erregt. Nun haben muslimische Organisationen die staatskirchenrechtliche Option in ihrem Versteck entdeckt und suchen, sie zu nutzen. Sie stellen Anträge bei den zuständigen Landesbehörden, islamische Grundschulen in der Form privater Ersatzschulen zu genehmigen. Erste islamisch geprägte private (Ersatz-)Grundschulen bestehen bereits.1 Für das Recht der Bekenntnisschule handelt es sich um ein Novum. Der Schultypus ist zugeschnitten auf die christlichen Konfessionen. Er ist dazu bestimmt, * Erstveröffentlichung in: Stefan Muckel (Hrsg.), Festschrift für Wolfgang Rüfner, 2003, S.  355 – 380. 1  Derzeit gibt es zwei islamisch geprägte (Ersatz-)Grundschulen in Deutschland. Zum einen die „Deutsch-Islamische Schule“ in München, die aufgrund eines besonderen pädagogischen Interesses nach Art. 7 Abs. 5 GG genehmigt wurde und der Erziehung von Kindern aus arabischen Staaten dient, deren Eltern für ausländische Unternehmen im Großraum München tätig sind. Zum anderen das 1989 eröffnete „Islam-Kolleg Berlin e.V.“ (Berlin Islami Ilimler Okulu), eine staatlich genehmigte private Ersatzschule, in der nach den Berliner Rahmenplänen zusätzlich islamische Religion und Arabisch von der 1. bis zur 6. Klasse unterrichtet werden. Vgl. zur letzteren Ursula Spuler-Stegemann, Muslime in Deutschland, 1998, S. 236.

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die Eigenart der jeweiligen Konfession in der schulischen Erziehung zu entfalten. In ihnen bringen sich die konfessionelle Verschiedenheit und die christliche Gemeinsamkeit zur Geltung, die Deutschland seit der Reformation prägen. Problematisch ist jedoch, ob sich der Islam in dieses staatskirchenrechtliche Konzept fügt. Thema der anstehenden Untersuchung ist die Frage, ob das Konzept einer islamischen Grundschule die Bedingungen erfüllt, unter denen nach Art. 7 Abs. 5 GG eine private Ersatzschule genehmigt werden kann.

II.  Grundlagen und Grenzen der Privatschulfreiheit im Grundgesetz 1.  Ersatz- und Ergänzungsschulen (Art. 7 Abs. 4 GG) Das Grundgesetz gewährleistet unter bestimmten Voraussetzungen die Freiheit, eine Privatschule zu errichten und zu betreiben (Art. 7 Abs. 4 und 5 GG). Dabei unterscheidet es zwischen zwei Typen der Privatschule, der Ergänzungsund der Ersatzschule. Ersatzschulen sind „Privatschulen, die nach dem mit ihrer Errichtung verfolgten Gesamtzweck als Ersatz für eine in dem Land vorhandene oder grundsätzlich vorgesehene öffentliche Schule dienen sollen. Sie unterscheiden sich damit von den Ergänzungsschulen, für die vergleichbare öffentliche Schulen in der Regel nicht bestehen und in denen der Schulpflicht nicht genügt werden kann.“2 Die Ersatzschule ist der öffentlichen Schule akzessorisch.3 Während Art. 7 Abs. 4 S. 1 GG das Recht zur Errichtung privater Ergänzungsschulen vorbehaltlos gewährleistet, unterstellt Art. 7 Abs. 4 S. 2 GG die Errichtung und den Betrieb einer Ersatzschule einem Verbot mit Erlaubnisvorbehalt (Art. 7 Abs. 4 S. 2 GG). Die Erteilung der Genehmigung ist an besondere Voraussetzungen geknüpft, die in Art. 7 Abs. 4 S. 3 und 4 GG vorgezeichnet werden. Im einzelnen: – Die Schule darf in ihren Lehrzielen und Einrichtungen sowie in der wissenschaftlichen Ausbildung ihrer Lehrkräfte nicht hinter den öffentlichen Schulen zurückstehen (Art. 7 Abs. 4 S. 3 GG), – eine Sonderung der Schüler nach den Besitzverhältnissen der Eltern darf nicht gefördert werden (Art. 7 Abs. 4 S. 3 GG) und – die wirtschaftliche und rechtliche Stellung der Lehrkräfte muß genügend gesichert sein (Art. 7 Abs. 4 S. 4 GG). 2  BVerfGE

27, 195 (201 f.) – Zu der Unterscheidung zwischen den nur genehmigten und den anerkannten Ersatzschulen Rolf Gröschner, in: Horst Dreier (Hrsg.), Grundgesetz, Bd. I, 1. Aufl. 1996, Art. 7 Rn. 99, 101. 3  Norbert Niehues, Schul- und Prüfungsrecht, Bd. I, Schulrecht, 2000, Rn. 229, 245.

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Die Ausgestaltung und Konkretisierung dieser allgemeinen grundgesetzlichen Voraussetzungen für die Genehmigung einer Ersatzschule sind Sache des Landesgesetzgebers. Ihm kommt die ausschließliche Gesetzgebungskompetenz für das Schulwesen zu.4 2.  Private Volksschulen Zu diesen allgemeinen Voraussetzungen treten zusätzliche, strengere hinzu. wenn es sich um eine „Volksschule“ gemäß Art. 7 Abs. 5 GG handelt. Die Grundschule bildet einen Teil der als ganzheitlicher Schultypus überholten Volksschule, die das Grundgesetz in Art. 7 Abs. 5 nennt.5 Im gegenwärtigen Schulwesen kommt die Regelung über die private Volksschule nur noch für die Grundschule voll zum Zuge. Der Umstand, daß in der heutigen Gesetzessprache das Wort „Volksschule“ verschwunden und nur noch von Grundschule die Rede ist (vgl. §§ 5, 5a des Schulgesetzes Baden-Württemberg), entzieht die Materie nicht der Anwendbarkeit des Art. 7 Abs. 5 GG.6 Die Dauer der Grundschulpflicht beträgt mindestens vier Jahre.7 Sie kann, wie heute im Lande Brandenburg, auf sechs Jahre verlängert werden, ohne daß das Grundgesetz entgegensteht.8 Freilich darf der Staat die Kinder nicht übermäßig lange in einer „Schule mit undifferenziertem Unterricht“ festhalten.9 Die vom Landesgesetzgeber festgelegte Dauer der Grundschulpflicht zeitigt indirekt Wirkung auf den Umfang der Anwendbarkeit des Art. 7 Abs. 5 GG.10 Eine private (Ersatz-)Grundschule darf nur genehmigt werden, wenn sowohl die allgemeinen Voraussetzungen für Ersatzschulen als auch die speziellen für Volksschulen kumulativ erfüllt sind.11 Das Grundgesetz geht vom prinzipiellen Monopol der staatlichen Volksschule aus. Es sieht nur zwei Ausnahmetatbestände vor: 4  Baden-Württemberg regelt die Materie in dem „Gesetz für die Schulen in freier Trägerschaft (Privatschulgesetz – PSchG)“ in der Fassung vom 1. Januar 1990 (GBl. 1990, S. 105). 5  BVerwGE 75, 275 (277); OVG Hamburg KirchE 28, 328 (331); OVG Münster KirchE 29, 43 (46). 6  Vgl. BVerfGE 88, 40 (46). 7  BVerfGE 88, 40 (46). 8  BVerwGE 104, 1 (9 ff.). 9  So BVerfGE 34, 165 (187). 10  Dazu BVerwGE 104, 1 (7 ff.). 11  Vgl. BVerfGE 88, 40 (45, 47); BVerwGE 75, 275 (276); 90, 1 (6 f.); OVG Hamburg KirchE 28, 328 (331); BayVGH KirchE 28, 278 (282); Ulfried Hemmerich, in: Ingo von Münch/Philip Kunig (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, 5. Aufl. 2000, Art. 7 Rn. 44. – So schon die Rechtslage nach Art. 147 Abs. 1 und 2 WRV: Gerhard Anschütz, Die Verfassung des Deutschen Reiches, 14. Aufl. 1933, Art. 147/3; Walter Landé, Die Schule in der Reichsverfassung 1929, S. 158 f.

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– daß die Unterrichtsverwaltung ein besonderes pädagogisches Interesse anerkennt – oder, auf Antrag der Erziehungsberechtigten, daß die private Volksschule als Gemeinschafts-, als Bekenntnis- oder als Weltanschauungsschule errichtet werden soll und eine öffentliche Volksschule dieser Art nicht besteht. Der erste Ausnahmetatbestand, das „besondere pädagogische Interesse“, meint ein öffentliches Interesse an der Erprobung und Fortentwicklung pädagogischer Konzepte sowie ein Interesse an der angemessenen pädagogischen Betreuung spezieller Schülergruppen, denen das öffentliche Schulwesen keine hinreichenden Angebote macht oder machen kann, etwa Kindern, die wegen Behinderungen besonderer Zuwendung oder spezieller erzieherischer Maßnahmen bedürfen.12 Dem Grundgesetzgeber standen sogenannte Reformschulen vor Augen, die Pionierarbeit in der Pädagogik geleistet haben, wie die Waldorfschulen, Hermann-Lütz-Schulen, Salem, Wickersdorf, Schondorf.13 So erkennt das Privatschulgesetz von Baden-Württemberg die Freien Waldorfschulen, „Schulen besonderer pädagogischer Prägung“, unmittelbar als Ersatzschulen an und hebt im übrigen insbesondere die Sonderschulen als genehmigungsfähige Ersatzschulen hervor (§ 3 Abs. 2 PSchG). Es sei unterstellt, daß ein „besonderes pädagogisches Interesse“ bei der islamischen Grundschule nicht vorliegt. Eine Bekenntnisschule erhebt nicht notwendig den Anspruch, neue pädagogische Wege zu beschreiten. Das Projekt wäre den genannten Beispielen aber auch dann nicht vergleichbar, wenn neuartige und eigenständige pädagogische Methoden entwickelt würden. Denn überall, wo die Schule sich einem bestimmten Bekenntnis oder einer bestimmten Weltanschauung widmet, scheidet der erste Ausnahmetatbestand aus; es kommt allein der zweite in Betracht. Das Interesse an einer konfessionell oder weltanschaulich geprägten Volksschule schließt das besondere pädagogische Interesse im Sinne des Art. 7 Abs. 5 GG aus.14 Die Unterscheidung von Bekenntnis- und Weltanschauungsschule im zweiten Ausnahmetatbestand des Art. 7 Abs. 5 GG hat geringe praktische Bedeutung. Sowohl das religiöse Bekenntnis als auch die Weltanschauung setzen „ein alle Lebensbereiche umfassendes, geschlossenes Weltbild voraus; sie unterscheiden sich nur dadurch, daß das religiöse Bekenntnis durch die Gottesbezogenheit der Weltsicht geprägt ist, die bei einer Weltanschauungsschule fehlt“.15 Für den Islam als monotheistischer Religion kommt die Qualifikation als Bekenntnis in Betracht. Doch muß die islamische Grundschule nicht automatisch als Bekennt12 

BVerfGE 88, 40 (51, 52). BVerfGE 88, 40 (53). 14  So zu Art. 147 Abs. 2 WRV, der im wesentlichen von Art. 7 Abs. 5 GG übernommen worden ist, Landé (Fn. 11), S. 158. 15  BVerwGE 90, 1 (4). 13 

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nisschule im Sinne des Art. 7 Abs. 5 GG qualifiziert werden. Es gilt nicht die Subtraktionsmethode, daß, wenn die Tatbestände des besonderen pädagogischen Interesses und der Weltanschauungsschule ausscheiden, ipso iure eine Bekenntnisschule vorliegt. Vielmehr bedarf dieser Tatbestand der positiven Klärung aus dem Kontext des Art. 7 Abs. 5 GG und aus den Landesgesetzen, denen die Privatschulen nicht nur nach der allgemeinen Kompetenzordnung, sondern auch kraft ausdrücklicher Zuweisung in Art. 7 Abs. 4 S. 1 GG unterstellt sind.

III.  Der verfassungsrechtliche Vorrang der öffentlichen Grundschule 1.  Der Weimarer Schulkompromiß a)  Bildung „durch öffentliche Anstalten“ Das Grundgesetz hat die Regelungen über die Privatschule, insbesondere über die private Volksschule, im wesentlichen aus der Weimarer Reichsverfassung (Art. 145 – 147) übernommen und so einen wesentlichen Bestandteil des sogenannten Weimarer Schulkompromisses adaptiert.16 Die Weimarer Schulverfassung statuierte den prinzipiellen Vorrang der öffentlichen Schule vor der privaten: „Für die Bildung der Jugend ist durch öffentliche Anstalten zu sorgen“ (Art. 143 S. 1 WRV). Der Privatschule blieb eine sekundäre Rolle. Die Reichsverfassung schützte unter bestimmten Bedingungen ihre Existenz (Art. 147 WRV). Doch ihre Gewähr war mehr oder weniger defensiv angelegt. Grundsätzlich hatten sich in der Weimarer Nationalversammlung die Vertreter der öffentlichen „Einheitsschule“ durchgesetzt, vor allem Sozialdemokraten, Liberale und Deutsche Demokratische Partei, während die Verfechter der Privatschule, an ihrer Spitze das Zentrum (daneben Deutsche Nationale Volkspartei und Deutsche Volkspartei), das staatliche Schulmonopol wenigstens relativieren und der Privatschule das Überleben innerhalb bestimmter Grenzen sichern konnten. In der Verwaltungspraxis Preußens sollte aber auch die defensive Garantie kaum effektiv werden.17 b) „Für alle gemeinsame Grundschule“ Gemäß Art. 146 Abs. 1 S. 1 WRV war das öffentliche Schulwesen „organisch“ auszugestalten, d. h. als einheitlicher „Organismus, zu dem die einzelnen Schulen und Schularten sich verhalten wie Glieder zum Ganzen“.18 Der differenzierte Or16 Zu Geschichte und Inhalt des (doppelten) Schulkompromisses: Landé (Fn. 11), S. 27 ff.; Anschütz (Fn. 11), Art. 146/1 – 6; Lothar Theodor Lemper, Privatschulfreiheit, 1989, S. 75 ff. 17 Dazu Lemper (Fn. 16), S. 788. 18  Anschütz (Fn. 11), Art. 146/3.

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ganismus gründete auf einer einheitlichen Basis, der allgemeinen Grundschule: „Auf einer für alle gemeinsamen Grundschule baut sich das mittlere und höhere Schulwesen auf“ (Art. 146 Abs. 1 S. 2 WRV). Darin folgte die Weimarer Reichsverfassung dem politischen Programm der „Einheitsschule“, die einerseits die Einheit des Schulwesens insgesamt, andererseits dessen Unterbau, die für alle gemeinsame Grundschule, bedeutete.19 Die für alle gemeinsame Grundschule, also die Volksschule in ihren vier untersten Jahrgängen, sollte die einheitliche Basis bilden, von der aufsteigende Schulbahnen verschiedener Art, Richtung und Länge abzweigen.20 Das Attribut der „für alle gemeinsamen“ Grundschule schloß prinzipiell die Möglichkeit aus, den Bereich der öffentlichen Grundschule durch den einer privaten Grundschule oder durch Privatunterricht zu ersetzen. Die allgemeine Schulpflicht verstärkte sich zur allgemeinen Grundschulpflicht.21 Unvereinbar mit dem Prinzip der für alle gemeinsamen Grundschule waren öffentliche wie private Vorschulen, Sondereinrichtungen, die Kinder im Grundschulalter an der gemeinsamen Grundschule vorbei (in der Regel gegen Zahlung von Schulgeld) auf die mittlere und höhere Schule vorbereiteten.22 Die Ausnahmen, welche die Weimarer Verfassung vorsah, modifizierten diese Regel, hoben sie aber nicht auf. Art. 147 Abs. 2 WRV lautete: „Private Volksschulen sind nur zuzulassen, wenn für eine Minderheit von Erziehungsberechtigten … eine öffentliche Volksschule ihres Bekenntnisses oder ihrer Weltanschauung nicht besteht oder die Unterrichtsverwaltung ein besonderes pädagogisches Interesse anerkennt.“ Diese Bestimmung verkörperte einen Bestandteil des Weimarer Schulkompromisses, den Ausgleich zwischen den Vertretern der Simultan- und der Konfessionsschule. Die Weimarer Verfassung hatte sich für die öffentliche Grundschule als Einheitsschule für Kinder aller Konfessionen (Simultan- oder Gemeinschaftsschule) entschieden.23 Die Konfessionsschule sollte nur als private Ersatzschule möglich werden, doch nicht im Rahmen der allgemeinen Privatschulfreiheit gemäß Art. 147 Abs. 1 WRV, weil damit die einheitliche Grundschule in Frage gestellt worden wäre, sondern nur unter den speziellen Vorbehalten, die gewährleisten, daß die private Bekenntnisschule sich „auf ganz bestimmte, der öffentlichen Grundschule nicht abträgliche Fälle beschränkt“.24

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Anschütz (Fn. 11), Art. 146/3. Vgl. auch Landé (Fn. 11), S. 71 ff. Anschütz (Fn. 11), Art. 146/3. 21  Landé (Fn. 11), S. 82. 22  Vgl. Art. 147 Abs. 3 WRV; Landé (Fn. 11), S. 80, 82, 83; Anschütz (Fn. 11), Art. 145/5, Art. 147/4. 23  Art. 146 Abs. 1 S. 3 WRV „…nicht … das Religionsbekenntnis der Eltern maßgebend“. Dazu Anschütz (Fn. 11), Art. 146/4. 24  Landé (Fn. 11), S. 157. 20 So

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2.  Der grundsätzliche Vorrang der öffentlichen Grundschule unter dem Grundgesetz Das Grundgesetz übernahm aus der Weimarer Reichsverfassung nicht ausdrücklich den Satz über die für alle gemeinsame Grundschule als Unterbau des Schulwesens (Art. 146 Abs. 1 S. 2 WRV). Es übte Zurückhaltung, weil die Regelungsmaterie den Ländern belassen werden sollte. Doch wollte der Bonner Verfassunggeber nicht etwa dem Schulwesen eine neue Richtung geben. Auch das Grundgesetz geht von der für alle gemeinsamen öffentlichen Grundschule aus.25 Zu seinem System gehört die traditionell bestehende und von einem allgemeinen Konsens getragene „für alle gemeinsame Grundschule […] von mindestens vier Jahren“.26 Die Kontinuität des Weimarer Leitbildes wird im Text des Grundgesetzes daran sichtbar, daß es, mit leichter Abwandlung, die Bestimmung über die beschränkte Zulässigkeit der privaten Volksschule aus Art. 147 Abs. 2 WRV übernimmt und die öffentliche Grundschule der privaten gegenüber bevorzugt (Art. 7 Abs. 5 GG), Sonderung der Schüler nach den Besitzverhältnissen der Eltern vermeidet (Art. 7 Abs. 4 S. 3 GG) und seinerseits den Vorschulen eine Absage erteilt (Art. 7 Abs. 6 GG).27 Die Aufwertung der grundrechtlichen Stellung der Eltern und der Schüler im System des Grundgesetzes28 wirkt sich nicht aus auf den Vorrang der öffentlichen Grundschule. Im Ergebnis hat sich das Verhältnis von Regel und Ausnahme nicht verändert.29 Der prinzipielle Vorrang der öffentlichen Grundschule liegt etwa auch der Verfassung des Landes Baden-Württemberg zugrunde in ihren Bestimmungen über die allgemeine Schulpflicht und über die Schulform der christlichen Gemeinschaftsschule (Art. 14 – 16 BWVerf). Hierin setzt sich die Absage der Weimarer Verfassung an Vorschulen fort, die sich das Grundgesetz in Art. 7 Abs. 6 GG zu eigen macht: schulpflichtige Kinder sollen nicht von Anfang an auf Grund ihrer Begabung, des elterlichen Ehrgeizes oder der elterlichen Zahlungskraft (Schulgeld) abgesondert werden, damit sie sich auf höhere Lehranstalten vorbereiten. Damit wird das Verfassungsprinzip der für alle gemeinsamen Grundschule abgesichert. Das ist der bleibende Sinn des Vorschulartikels, dem ansonsten „kaum mehr als rechtshistorische Bedeutung“ zukommt.30 Die sozialstaatliche Intention der Einebnung gesellschaftlicher Unterschiede verbindet sich mit der Idee der nationalen Homogenität: Kinder aller Schichten werden der gleichen Schulpflicht unterworfen und in einer für alle einheitlichen 25 

BVerfGE 34, 165 (187). BVerfGE 34, 165 (185). 27  Vgl. BVerfGE 34, 165 (187). 28  Dazu BVerfGE 34, 165 (138). 29  BVerfGE 88, 40 (49). 30 Zitat: Gröschner (Fn. 2), Art. 7 Rn. 106. 26 

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Schule zusammengefaßt, in der sich der Erziehungsanspruch des Staates geltend macht.31 3.  Verfassungsstaatlicher Sinn des Vorrangs der öffentlichen Grundschule Die Weimarer Reichsverfassung will mit ihren einheitsschulischen Vorkehrungen sowohl soziale als auch nationale Ziele verfolgen.32 Das Kind soll seiner Anlage und Neigung gemäß ausgebildet werden, nicht aber nach der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Stellung oder nach dem Religionsbekenntnis seiner Eltern (Art. 146 Abs. 1 S. 3 WRV). Die Grundschule wird konzipiert als „Gegensatz zu jeder Art von Standes- und Gesellschaftsklassenschule“.33 In religiös-weltanschaulicher Hinsicht macht die Verfassung im Privatschulartikel eine Ausnahme von der Regel, nicht jedoch in sozialer Hinsicht. Die private Ersatzschule ist nur genehmigungsfähig, wenn in ihr eine Sonderung der Schüler nach den Besitzverhältnissen der Eltern nicht gefördert wird.34 Die Absage an „Standes- oder Plutokratenschulen“ war auch Argument in den Bonner Verfassungsberatungen.35 Zu den Erziehungszielen, welche die Weimarer Verfassung in Art. 148 Abs. 1 für „alle Schulen“, also auch für die privaten, aufrichtet, gehört die „staatsbürgerliche Gesinnung“, die wie die übrigen Ziele „im Geiste des deutschen Volkstums und der Völkerverständigung“ zu erstreben ist. Die staatsethischen Elemente mit nationalen und universalen Bezügen leben in gewandelter Form weiter in den pädagogischen Zielen der Landesverfassungen wie der baden-württembergischen mit ihrem Erziehungsprogramm „zur Brüderlichkeit aller Menschen und zur Friedensliebe, in der Liebe zu Volk und Heimat, zu sittlicher und politischer Verantwortlichkeit […] und zu freiheitlicher demokratischer Gesinnung“ (Art. 12 Abs. 1 BWVerf). Der Vorranganspruch der Grundschule verkörpert egalitär-demokratisches Gedankengut.36 Er schafft ein pädagogisches Fundament für die Egalität in der Demokratie, aber auch für die solidarische Verbundenheit ihrer Bürger. Die Integrationsaufgabe der öffentlichen Schule ist um so wichtiger, je stärker sich die gesellschaftlichen Unterschiede entwickeln und – durch die Grundrechte, zumal durch das Elternrecht, geschützt – sich Individualismus und Pluralismus entfalten. Die allgemeine Pflicht zum Besuch der Grundschule ist das wirkungsvollste Instrument des Staates, 31 Dazu Hans Heckel, Privatschulrecht, 1955, S. 290; Josef Isensee, Subsidiaritätsprinzip und Verfassungsrecht, 2. Aufl. 2001, S. 199 ff. 32  Zur Entstehungsgeschichte Landé (Fn. 11), S. 74, 76. 33  Anschütz (Fn. 11), Art. 146/4. 34  Art. 147 Abs. 1 S. 2 WRV (nunmehr Art. 7 Abs. 4 S. 3 GG). 35  Vgl. Hauptausschuß, HAStenBer., S. 558 ff. 36  BVerfGE 88, 40 (50).

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die zentripetalen Kräfte des Gemeinwesens zu stärken. Die Schule soll – auch – zur Eingliederung des Kindes in die Gesellschaft beitragen.37 Das Bundesverwaltungsgericht hält es für verfassungsrechtlich zulässig, daß der Brandenburger Gesetzgeber die Primarstufe auf sechs Klassen ausweitet, damit eine zu frühe Einteilung der Kinder nach zu erwartenden Bildungsbiographien und nach dem Bildungsniveau der Eltern vermieden werde, mit der Folge, daß nach dem Gesetz der kommunizierenden Röhren die private Ersatzschule nur als Grundschule möglich ist.38 Auf der Privatschule lastet das Risiko, daß sie gesellschaftliche Absonderung fördert. Das Bundesverfassungsgericht beschreibt die Gefahr, „daß Privatschulen ein einseitiges Bild von der Zusammensetzung der Gesellschaft widerspiegeln und den Schülern vermitteln, wenn sie nur von Kindern der Anhänger bestimmter pädagogischer, weltanschaulicher oder auch religiöser Anschauungen besucht werden. Bleiben gesellschaftliche Gruppen einander fremd, kann dies zu sozialen Reibungen führen, die zu vermeiden legitimes Ziel auch staatlicher Schulpolitik ist“.39 Das Bundesverwaltungsgericht sieht als ein Ziel der Grundschule, das Verständnis der Schüler für die jeweils anderen gesellschaftlichen Gruppen zu fördern und eine einseitige Zusammensetzung der Schülerschaft wie auch der Lehrerschaft zu vermeiden.40 Neben ihrer didaktischen Aufgabe hat die Grundschule die soziale, so etwas wie ein „melting pot“ der Gesellschaft zu sein. 4.  Politische Tendenz zur Ausweitung der Grundschulzeit Die historische Tendenz, die sich in dem Verfassungsprinzip der für alle gemeinsamen öffentlichen Grundschule seit 1919 verkörpert, findet aktuelle politische Stoßkraft in neueren, offensiven Bestrebungen, die Grundschulzeit von vier auf sechs Jahre auszudehnen, in der Meinung, daß der jetzige Umfang nicht genüge, um die notwendige gesellschaftliche Integration auf der Eingangsstufe des Schulsystems zu erreichen. Die Tendenz als solche ergibt zwar kein juristisches Argument zur Auslegung der Verfassung. Aber sie läßt erkennen, daß eine neuartige Aktivierung des Ausnahmetatbestandes der Bekenntnisschule auch zu politischen Tendenzen in Widerspruch gerät. Das Land Brandenburg hat eine ausnahmslos sechsjährige Grundschulpflicht eingeführt, und zwar, wie das Bundesverwaltungsgericht attestiert, in verfassungskonformer Weise.41 Im Ergebnis weitet sich der Anwendungsbereich des 37 

So BVerwGE 104, 1 (9). BVerwGE 104, 1 (10, 12). Der Brandenburger Gesetzgeber weitet allerdings für diese Jahrgänge die Genehmigungsfähigkeit der privaten Grundschule entsprechend. Dazu BVerwGE 104, 1 (6 f.). 39  BVerfGE 88, 40 (50). 40  BVerwGE 104, 1 (12 f.). 41  BVerwGE 104, 1 (9). 38 

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verfassungsrechtlichen Vorrangs der öffentlichen Schule nach Art. 7 Abs. 5 GG, indes der Anwendungsbereich der Privatschulgarantie nach Art. 7 Abs. 4 GG entsprechend schrumpft.42

IV.  Die Ausnahmetatbestände des Art. 7 Abs. 5 GG im System der Verfassung Private Volks- und Grundschulen werden nur zugelassen. wenn der Vorrang der öffentlichen Schulen aus besonderen Gründen zurücktreten muß,43 nämlich in den der öffentlichen Grundschule „nicht abträglichen Fällen“.44 Die öffentliche Grundschule bleibt die Regel. Die Ausnahmetatbestände sind abschließend. Der Landesgesetzgeber, dem die Gesetzgebungskompetenz zusteht, darf die Privatschule in das Gesamtgefüge des Schulwesens einbeziehen, doch die grundgesetzliehen Tatbestände weder einschränken noch erweitern.45 Als Ausnahmen von der Regel sind sie nach der einschlägigen Rechtsprechung eng auszulegen.46 Ist aber ein Ausnahmetatbestand erfüllt, so muß die private Grundschule zugelassen werden. Das war bereits Weimarer Rechtslage.47 Unter der Ägide des Grundgesetzes hat sich die objektive Pflicht des Staates, unter bestimmten Voraussetzungen Privatschulen zu genehmigen, zu einem subjektiven Recht der Erziehungsberechtigten auf Genehmigung verstärkt, das unterfangen ist vom Grundrecht der Privatschulfreiheit. Dieses wiederum steht im Zusammenhang mit anderen Grundrechten, zumal der Religions- und Weltanschauungsfreiheit und dem Elternrecht.48 Die Grundrechtsqualität der Privatschulfreiheit gibt den Ausnahmetatbeständen schärfere normative Kontur, gewährleistet, daß die Unterrichtsverwaltung nicht ausschließlich die Ausnahmefälle definiert, daß deren Entscheidungen vielmehr judiziabel sind.49 Im Licht der Grundrechte interpretiert, läßt der 42 

Zu den Brandenburger Besonderheiten BVerwGE 104, 1 (6 f.). BVerfGE 88, 40 (49 f.). 44  Landé (Fn. 11), S. 157. 45  BVerwGE 17, 236 (238); 23, 347 (349); VG Halle, in: LKV 1998, 495 (496 f.). Anders jedoch zur sechsjährigen Grundschule in Brandenburg BVerfGE 104, 1 (6 f.). 46  BVerwGE 89, 368 (376) zur Weltanschauungsschule mit Wortlautargument („nur“); BayVGH KirchE 28, 278 (283); 28, 350 (354, 356) jeweils zur Weltanschauungsschule. In diesem Kontext ist es nicht erforderlich, den in seiner Allgemeinheit problematischen Topos von der engen Auslegung der Ausnahmetatbestände zu hinterfragen. 47  Landé (Fn. 11), S. 157 f. Vgl. Gröschner (Fn. 2), Art. 7 Rn. 92. 48  Vgl. BVerwGE 89, 368 (372); 90, 1 (3 f.). Weit. Nachw. Theodor Maunz, in: ders./ Günter Dürig, Grundgesetz, 1980, Art. 7 Rn. 82; Gerhard Robbers, in: Hermann von Mangoldt/Friedrich Klein/Christian Starck, Das Bonner Grundgesetz, Bd. I, 4. Aufl. 1999, Art. 7 Rn. 136. 49  BVerfGE 75, 40 (62 f.); 88, 40 (46 ff.). 43 

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Genehmigungsvorbehalt in Art. 7 Abs. 4 und 5 GG auch eine grundrechtliche Schutzfunktion erkennen. Er dient dem Schutz der Schüler und ihrer Eltern vor untauglichen Ersatzschulen bzw. Schulträgern.50 Daher hat die Behörde vorausschauend festzustellen, ob sich ein – fachlicher Prüfung im übrigen standhaltendes – pädagogisches Konzept unter Berücksichtigung der personellen und sachlichen Voraussetzungen des Schulvorhabens verwirklichen läßt oder ob es unter den vorhandenen Rahmenbedingungen das Interesse der Schüler an einer vernünftigen Erziehung gefährdet.51 Der Genehmigungsvorbehalt wird als Ausdruck der staatlichen Schutzpflicht gegenüber Kindern und Jugendlichen gedeutet, die in den Jahren des Schulbesuchs besonders schutzbedürftig seien und verlorene, weil qualitativ unzureichende Schuljahre kaum oder gar nicht nachholen könnten. Überdies diene der Genehmigungsvorbehalt der Wahrung der grundgesetzlich strukturierten Bildungsziele sowie der Integrationsfunktion des Schulwesens für die Gemeinschaft.52 Die grundrechtliche Qualifikation der Privatschule verschiebt nicht das RegelAusnahme-Verhältnis zwischen der öffentlichen und der privaten Grundschule, wie es in Art. 146 Abs. 1 S. 2 und Art. 147 Abs. 2 WRV begründet und in Art. 7 Abs. 5 GG fortgeschrieben worden ist.53 Im Rahmen des Art. 7 Abs. 5 GG bildet die staatliche Verantwortung die Regel und die private Freiheit die Ausnahme. Mit ihrer Genehmigung als Ersatzschule partizipiert die Privatschule am staatlichen Schulsystem dadurch, daß in ihr die Schulpflicht erfüllt und – über die Anerkennung – der Zugang zum staatlichen Berechtigungswesen eröffnet wird.54 Daher gilt in diesem Sektor des staatlichen Lebens nicht das grundrechtliche Subsidiaritätsprinzip, das den prinzipiellen Vorrang des nichtstaatlichen Handelns gewährleistet, sondern der Vorrang der öffentlichen Schule.55 Die Grenzen, die in Art. 7 Abs. 5 GG der privaten Volksschule gesteckt sind, bestimmen a priori die tatbestandliche Reichweite der Privatschulfreiheit. Sie dürfen also nicht als Schranken verstanden werden, die, vom Gesetzgeber a posteriori eingeführt, sich vor dem Grundrecht rechtfertigen und einem Prozeß der Abwägung standhalten müssen. Der mögliche Bereich der privaten Schule wird von dem der öffentlichen abgegrenzt, nicht aber gegen ihn abgewogen. Das Bundesverwaltungsgericht kennzeichnet die Rechtslage zutreffend dahin, daß Art. 7 Abs. 5 GG gegenüber der prinzipiellen Privatschulfreiheit des Art. 7 Abs. 4 GG eine wesentliche Einschränkung enthält, „indem er die Errichtung und das Betreiben von 50 

BVerwGE 90, 1 (7 f.). Vgl. auch Niehues (Fn. 3), Rn. 241. BVerfGE 88, 40 (60). 52 So Robbers (Fn. 48), Art. 7 Rn. 185. 53  BVerfGE 88, 40 (49). 54 Vgl. Gröschner (Fn. 2), Art. 7 Rn. 93. 55 Vgl. Isensee, Subsidiaritätsprinzip (Fn. 31), S. 199 ff. 51 

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Volksschulen, also den Grund- und Eingangsbereich des gesamten Schulwesens prinzipiell umfassend von der Privatschulfreiheit ausnimmt und dem Staat vorbehält: nur unter den dort genannten engen Voraussetzungen läßt er eine Ausnahme von dem prinzipiellen Verbot privater Volksschulen zu“.56 Es handelt sich also um die Ausnahme von der Ausnahme, mit der sich, freilich auf schmalem Feld, die Regel wiederherstellt.

V.  Die private Bekenntnisschule im Lichte der Judikatur Der Ausnahmetatbestand hat als Spielarten: – das anerkannte besondere pädagogische Interesse, – die private Weltanschauungsschule und – die private Bekenntnisschule. Ein besonderes pädagogisches Interesse, kraft dessen sich das Schulvorhaben von den öffentlichen Grundschulen abhöbe, wie etwa die Waldorfschulen, ist hier nicht zu erörtern.57 Die Tatbestandsvarianten der Weltanschauungs- und der Bekenntnisschule sind gleichartig gefaßt, so daß die Unterscheidung zwischen (immanenzbeschränkter) Weltanschauung und (transzendenzbezogener) Religion nicht vertieft werden muß. Für den Islam steht die Qualität als Religion außer Zweifel. Daher kommt die Bekenntnisschule in Betracht. Dieser Unterfall des Ausnahmetatbestandes des Alt. 7 Abs. 5 GG weist drei allgemeine Merkmale auf: – Antrag der Erziehungsberechtigten, – Projekt einer Bekenntnisschule, – Fehlen einer entsprechenden Schule in der Gemeinde. Das dritte Kriterium ist problemlos. Die beiden anderen sollen zunächst vor die Klammer gezogen werden, und zwar auf der Basis der Judikatur, die bisher nur Bekenntnisschulen christlicher Observanz behandelt hat. 1.  Antrag der Erziehungsberechtigten Die Genehmigung nach Art. 7 Abs. 5, 2. Alt. GG setzt einen Antrag von Erziehungsberechtigten voraus; insbesondere wegen dieser Voraussetzung versteht die Rechtsprechung Art. 7 Abs. 5 GG als ein im Verhältnis zu Art. 4 und 6 GG

56  BVerwGE 90, 1 (8). Deutlich auch VG Halle, in: LKV 1998, 495 (496): Es wäre ein „Mißverständnis, die Bedeutung dieser Regelung lediglich im Sinne von Grundrechtsgewährleistung, Begrenzung und Schrankenschema zu sehen“. 57  Es bildet jedoch den Genehmigungsgrund für die „Deutsch-Islamische Schule“ in München (s. Fn. 1).

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besonderes Elternrecht.58 Die Voraussetzung eines Elternantrags ist vielfach problematisch, weil die Erziehungsberechtigten nur ausnahmsweise die persönlichen und die wirtschaftlichen Voraussetzungen besitzen, die von einem Schulträger zu erwarten sind, und sie für den Fortbestand der Schule, wenn ihre Kinder die Schule verlassen haben, regelmäßig nur noch ein vermindertes Interesse aufbringen.59 Zur Überwindung dieser Schwierigkeit billigt die Rechtsprechung, daß ein Schulträgerverein gebildet wird, zu dessen Gunsten interessierte Erziehungsberechtigte den Antrag stellen,60 oder daß der Träger(-verein) den Antrag stellt, mit dem Nachweis, daß Erziehungsberechtigte diesen mittragen.61 Jedenfalls ist sicherzustellen, „daß der Antrag auf Errichtung einer privaten Grundschule als Bekenntnisschule letztlich von den betroffenen Erziehungsberechtigten gestellt wird, ihnen zugerechnet werden kann“.62 Quantitativ müssen mindestens so viele Anträge gestellt werden, daß eine Klasse gebildet werden kann.63 2.  Projekt einer Bekenntnisschule a)  Prägung durch ein Bekenntnis Art. 7 Abs. 5, 2. Alt. GG enthält den sogenannten materiellen Begriff der Bekenntnisschule. Diesem muß die Konzeption des Antragstellers gerecht werden. Eine Bekenntnisschule ist danach eine Schule, an der Kinder möglichst eines religiösen Bekenntnisses von Lehrern grundsätzlich dieses Bekenntnisses im Geiste dieses Bekenntnisses unterrichtet werden, bei der also das religiöse Bekenntnis das Gepräge der Schule bestimmt.64 Erziehungsziele und Unterrichtsinhalte sind, soweit das Bekenntnis dies zuläßt, an den bekenntnismäßigen Grundsätzen auszurichten, die Schulerziehung insgesamt, nicht nur der Religionsunterricht, muß bekenntnismäßigen Charakter haben.65 Es gilt das Gebot sachlicher und personeller Homogenität. Die Schule verliert deshalb den Charakter einer Bekenntnisschule, wenn auch Kinder in die Schule aufgenommen werden, deren Eltern sich nicht mit der Prägung der Schule identifizieren; allenfalls kann eine Minderheit 58 

BVerwGE 90, 1 (6). Hierauf weist OVG Hamburg zu Recht hin: KirchE 28, 328 (337). 60  BayVGH KirchE 29, 261 (267); OVG Hamburg KirchE 28, 328 (337); BVerwGE 90, 1 (6). 61 OVG Hamburg KirchE 28, 238 (337), entsprechender Sachverhalt in BayVGH ­K irchE 29, 261 (264). Zum Antrag eines islamischen Vereins: VG Stuttgart, Urt. v. 11. 7. 2003, Umdruck S. 20 ff. 62  BVerwGE 90, 1 (6). 63  OVG Hamburg KirchE 28, 328 (337). 64  BVerwGE 17, 267 (269); Bay VGH KirchE 29, 261 (267); OVG Hamburg KirchE 28, 328 (332). 65  OVG Münster KirchE 29, 43 (51) zur Bekenntnisschule nach Art. 12 NRWVerf. 59 

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solcher Schüler hingenommen werden.66 Resümierend stellt das Bundesverwaltungsgericht fest, von einem Prägen in diesem Sinne könne nur die Rede sein, wenn die Weltanschauung für die Gestaltung von Erziehung und Unterricht in den verschiedenen Unterrichtsfächern nicht nur methodisch, sondern bei der Behandlung der jeweils berührten Sinn- und Wertfragen auch inhaltlich grundlegend sei. „Das läßt sich mit Anspruch auf Verbindlichkeit nur gewährleisten, wenn dafür auch in personaler Hinsicht entsprechende Gemeinsamkeiten gegeben sind […] und dies auf eine gewisse Dauer – gemessen an der Dauer der projektierten Schulexistenz – sichergestellt ist. Elternschaft (insbesondere die antragstellenden Erziehungsberechtigten, Art. 7 Abs. 5 GG), Schüler und Lehrer müssen also grundsätzlich eine gemeinsame weltanschauliche Überzeugung haben oder zumindest annehmen wollen. Dieser Grundsatz läßt zwar – bei entsprechender Offenlegung – Ausnahmen zu. Sie müssen jedoch nach Zahl und Bedeutung so gering sein, daß davon die gemeinsame und durchgehende Wahrnehmung der positiven Freiheit zum weltanschaulichen Bekenntnis im Schulleben nicht beeinträchtigt wird.“67 Die religiöse Ausrichtung des Religionsunterrichts macht noch keine Bekenntnisschule, auch nicht, daß er, für diesen Schultyp selbstverständlich, obligatorisch ist und keine Abmeldemöglichkeit kennt. Immerhin ist der Religionsunterricht auch an öffentlichen (Gemeinschafts-)Schulen ordentliches Lehrfach.68 Ebensowenig reichte es aus, wenn zu Beginn des Unterrichts oder an seinem Ende ein Schulgebet vorgesehen wäre. Auch dieses ist an Schulen ohne Bekenntnischarakter möglich und zulässig.69 Daraus ergeben sich Konsequenzen für den Antrag auf Genehmigung einer islamischen Bekenntnisschule. Der Antragsteller legt Lehrpläne vor mit hinreichend detaillierten Angaben, die eine Beurteilung ermöglichen, ob das Projekt den Anforderungen der Judikatur an die bekenntnismäßige Prägung genügt. Er trägt die Darlegungslast.70 Die Pläne müssen bei islamischen Bekenntnisschulen besonders gründlich und dicht sein, weil es sich um ein Novum handelt und die Genehmigungsbehörde sich, anders als bei den vorhandenen christlichen Be-

66 

BVerwGE 90, 1 (5). BVerwGE 89, 268 (372 f.). 68  Daß es – noch – keinen islamischen Religionsunterricht gibt, ist für diese strukturelle Frage ohne Belang. 69  BVerfGE 52, 223 (235 ff.), Thomas Oppermann, Schule und berufliche Ausbildung in: Josef Isensee/Paul Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland (= HStR), Bd. V, 2. Aufl. 2001, § 135 Rn. 89; Axel Frhr. von Campenhausen, Religionsfreiheit, ebd., § 136 Rn. 97; Alexander Hollerbach, Freiheit kirchlichen Wirkens, ebd., § 140 Rn. 31. 70  Darlegungslast beim Projekt einer islamischen Grundschule: VG Stuttgart (Fn. 61), S. 20, 23 ff. 67 

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kenntnisschulen, nicht an Vergleichsgrößen und Usancen im eigenen Erziehungsbereich, an Institutionen und Traditionen halten kann. b)  Formale Strukturen des Bekenntnisses und seiner Organisation Das Bekenntnis, das sich nach der Rechtsprechung von der Weltanschauung durch seine Gottesbezogenheit unterscheidet, muß, damit es einer Schule überhaupt das Gepräge geben kann, bestimmten Anforderungen genügen. Zwei, auch von der Rechtsprechung traktierte Fragenkreise lassen sich dabei unterscheiden: die formale Struktur des Bekenntnisses (dessen Wahrheit oder Wert den weltanschaulich neutralen Staat nichts angehen) sowie die formale Struktur der Organisation, die das Bekenntnis trägt. aa)  Was ist ein Bekenntnis? Beispielhaft für die Anforderungen an das Bekenntnis sind die Ausführungen des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofes zur Schule der Gemeinschaft „Universelles Leben“, die auf den Prophezeiungen einer seit 1977 im mainfränkischhessischen Raum auftretenden „Prophetin Jesu Christi“ gründet. Das Gericht verlangt, „daß das Bekenntnis […] einer (neu gegründeten) Gemeinschaft […] in seiner Lehre in ähnlicher Weise wie die großen, seit langem bestehenden Religionsgemeinschaften ein metaphysisches Gedankensystem zum Ausdruck bringt, das in einem Mindestmaß an vergleichbarer Geschlossenheit und Breite eine wertende Stellungnahme zum Ganzen der Welt zum Inhalt hat und Antwort geben will auf die Fragen nach Ursprung, Sinn und Ziel der Welt und des Lebens der Menschen darin. […] Einer erst im Bestehen begriffenen, rudimentären oder nur Teilbereiche weltanschaulich abdeckenden religiösen Lehre kann dagegen nicht der Rang eines Bekenntnisses zugesprochen werden, für das eine Schule eingerichtet werden könnte. Die religiöse Lehre […] darf daher nicht noch wesentlicher Ergänzungen bedürfen, um das erforderliche Mindestmaß einer ganzheitlichen Weltsicht zu gewährleisten. […] Darüber hinaus ist eine solche in ihren wesentlichen Grundzügen entwickelte Lehre eines neuen religiösen Bekenntnisses auch nur dann geeignet, Grundlage für eine private Volksschule zu sein, wenn sie auf zeitliche Dauer und darauf angelegt ist, von einem nicht unbedeutenden Personenkreis gepflegt zu werden.“71 Dabei lehnt der BayVGH ausdrücklich das Erfordernis ab, daß sich das Bekenntnis etwa fünf Jahre öffentlich durchgesetzt haben müsse, obwohl er das Interesse der Kinder an einer dauerhaften Schule an-

71  BayVGH KirchE 29, 261 (268 f.); der Gemeinschaft universelles Leben gehören in aller Welt einige 100.000, im streitentscheidenden Großraum Würzburg etwa 3.000 Mitglieder an. Parallelentscheidungen zur Weltanschauung mit entsprechenden Anforderungen: BayVGH KirchE 28, 350 (353).

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erkennt.72 Kann „der Islam“ ein Bekenntnis in diesem Sinne abgeben oder kommt nur eine der islamischen Glaubensrichtungen dafür in Betracht?73 Das Problem ist nicht neu. Schon in der Weimarer Ära galt als „Religionsgesellschaft“ gemäß Art. 137 Abs. 2 WRV auch der Zusammenschluß mehrerer verwandter Glaubensbekenntnisse, etwa unierter evangelischer Landeskirchen.74 Wolfgang Rüfner stellt fest, nichts hindere die Muslime verschiedener Richtungen in Deutschland, sich zu einer einzigen Vereinigung (oder zu mehreren größeren Vereinigungen) zusammenzuschließen und über die Gegensätze hinweg auf bestimmte einheitliche Lehrinhalte zu verständigen.75 bb)  Organisatorische Konsistenz des Bekenntnisses Im Hinblick auf die islamische Bekenntnisschule von besonderer Bedeutung ist die Frage, ob das Bekenntnis, das der Grundschule ein Fundament geben soll, einer (festgefügten) Religionsgemeinschaft bedarf. Tendenziell geht die Rechtsprechung davon aus; zu berücksichtigen ist allerdings, daß die Judikate sich auf unterschiedliche Landesverfassungen beziehen, die mehr oder weniger deutliche Aussagen enthalten, daß in Bekenntnisschulen Kinder einer Religionsgemeinschaft nach den Grundsätzen des betreffenden Bekenntnisses unterrichtet oder erzogen werden. Doch auch in Ländern, die keine entsprechende Vorschrift kennen, liegt es nahe, die Bekenntnisschule auf eine Religionsgemeinschaft hin auszurichten. Im einzelnen: (1) Relativ geringe Anforderungen an den Bekenntnisträger scheinen sich aus dem Urteil des Oberverwaltungsgerichts Hamburg zur Errichtung der „Freien Christlichen Bekenntnisschule Hamburg“ zu ergehen. Der antragstellende Verein als zukünftiger Schulträger legt in seiner Satzung fest, daß das Bekenntnis der Schule „evangelikal“ sein solle. Als Glaubensgrundlage diene allein die Heilige Schrift, das Apostolische Glaubensbekenntnis und die Grundsatzerklärung der Evangelischen Allianz, nach ihrem Selbstverständnis ein Bund von Christusgläubigen als Ergänzung zu den bestehenden Kirchen. Zudem werde die Zusammenarbeit mit (freievangelischen) Gemeinden angestrebt. Dies und insbesondere die Tatsache, daß dem Schulträgerverein nur Mitglieder der einschlägigen Glaubensrichtung angehören, läßt das OVG Hamburg genügen; insbesondere wird für die religiöse Gemeinschaft „hinter der Schule“ keine staatskirchenrechtliche Rechts72 

BayVGH KirchE 29, 261 (272). Zu den Problemen für islamische Bildungsstätten in Deutschland: Spuler-Stegeman (Fn. 1), S. 239, 245 et passim. 74  Anschütz (Fn. 11), Art. 137/2. 75  Wolfgang Rüfner, Erwiderung auf Renck, Islamischer Religionsunterricht – wann endlich?, in: NWVBl 2001, S. 426. 73 

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grundlage verlangt.76 Aus der fehlenden Übertragbarkeit der Genehmigung folgert das Gericht, daß die Genehmigung nur einem Träger erteilt wird, der die Gewähr dafür bietet, daß ihm das Betreiben der Schule nicht nur kurzfristig ein Anliegen ist; es kämen daher für die Errichtung einer privaten Bekenntnisschule von Eltern gegründete Vereine ebenso in Betracht wie Kirchen oder Religionsgemeinschaften.77 (2) Strenger sind die Anforderungen des Oberverwaltungsgerichts Münster: Ein eingetragener Verein, der selbst und dessen Mitglieder der Deutschen Evangelischen Allianz angehören, beantragte die Genehmigung einer evangelikal-pietistischen Schule. Da es im Schulsprengel bereits drei öffentliche Grundschulen als evangelische Bekenntnisschulen gab, kam es nach Auffassung des Gerichts darauf an, ob es sich bei der beantragten Schule um eine solche „derselben Art“ im Sinne von Art. 7 Abs. 5 GG handelte. Das OVG Münster verlangt, daß sich das Bekenntnis nicht nur von dem der evangelischen Kirche unterscheide; vielmehr müsse hinter dem Bekenntnis auch eine hinreichend stabile, organisierte und dauerhafte Religionsgemeinschaft stehen. Maßstab ist Art. 12 Abs. 6 S. 2 NRWVerf: „In Bekenntnisschulen werden Kinder des katholischen oder des evangelischen Glaubens oder einer anderen Religionsgemeinschaft nach den Grundsätzen des betreffenden Bekenntnisses unterrichtet und erzogen.“ Religionsgemeinschaft verlange eine auf Dauer angelegte Gemeinde von Gläubigen oder Überzeugten, die von gewisser Stabilität und deren Mitglieder auf einen gemeinsamen Glauben ausgerichtet seien und nach gemeinsamen Grundsätzen lebten. Unabhängig von der rechtlichen Organisationsform setze eine Religionsgemeinschaft als rechtlich noch faßbare Erscheinung Gemeinde voraus, und zwar Gemeinde mit eigenen Mitgliedern, mit auf Dauer angelegten eigenen Einrichtungen und mit einer daran ablesbaren eigenen, sie von anderen unterscheidenden, nicht ausschließlich geistigen Identität.78 (3) Der Bayerische Verwaltungsgerichtshof verlangt: „Das Bekenntnis oder die Weltanschauung setzt eine sie tragende Gemeinschaft voraus, die nicht nur als vorübergehende Erscheinung auftritt, sondern die Prognose zuläßt, daß sie auf Dauer bestehen wird und somit erst eine Bekenntnis- und Weltanschauungsschule gewährleisten kann. Insoweit dürfen keine Anhaltspunkte dafür bestehen, daß sich etwa die Zielsetzung der Gemeinschaft als völlig illusionär darstellt und daher ernsthaft damit zu rechnen ist, daß das religiöse oder weltanschauliche Bekenntnis alsbald wieder aus dem religiös-geistigen Leben verschwinden wird.“79 Und weiter: „Ohne das Element einer voraussichtlich auch in Zukunft vorhande76 

OVG Hamburg KirchE 28, 328 (335 f.). OVG Hamburg KirchE 28, 328 (337). 78  OVG Münster KirchE 29, 43 (47). Daran anschließend VG Stuttgart (Fn. 61), S. 22 f. 79  BayVGH KirchE 29, 261 (269). 77 

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nen Anhängerschaft, die einen Mindestbestand an Organisation aufweist, kann nicht von einem religiösen oder weltanschaulichen Bekenntnis im Sinne des Art. 7 Abs. 5 GG […] gesprochen werden.“80 Eine Parallele zur Anerkennungsfrist von fünf Jahren gemäß Art. 140 GG i. V. m. Art. 137 Abs. 5 S. 2 WRV wird indes ausdrücklich verworfen.81 Bedeutsam sind dagegen die „weltanschaulichen Gemeinschaften“, die nach Art. 133 Abs. 1 S. 3 BayVerf wie die anerkannten Religionsgemeinschaften auch als Bildungsträger gelten. Für die Weltanschauungsschule ist nach der Rechtsprechung des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs grundsätzlich das Vorhandensein einer Weltanschauungsvereinigung als Bekenntnisgemeinschaft erforderlich, ohne die sie in aller Regel nicht denkbar sei. Der Begriff der Weltanschauungsschule in Art. 7 Abs. 5 GG sei daher restriktiv dahingehend auszulegen, daß Weltanschauungsschule nicht schon jede von bestimmten Anschauungen beeinflußte Schule sei; die weltanschauliche Gebundenheit müsse sich darüber hinaus grundsätzlich im Angebot an nur eine bestimmte Elternschaft auf der Grundlage einer verbindlich gesetzten, gemeinsamen weltanschaulichen Überzeugung zeigen, die in einem einheitlichen, in der Schule vermittelten Weltbild zum Ausdruck komme.82 cc)  Ergebnis Im Ergebnis verlangt die Rechtsprechung, daß das Bekenntnis – eine ganzheitliche Weltsicht bietet, – auf Dauer angelegt und – auf einen größeren Personenkreis, nicht einen engen Zirkel, zugeschnitten ist und – nicht bloß von einer juristischen Person, sondern von einer – Religionsgemeinschaft getragen wird, die einen Mindestgrad an organisatorischer Verfestigung erreicht hat und die Gewähr von Dauer bietet. Die organisatorischen Erfordernisse sind für islamische Antragsteller schwer zu erfüllen. Ein ad hoc gegründeter Schulträgerverein ist noch keine Religionsgemeinschaft, auch wenn er die Religion in bestimmter Weise fördern will.83 Der Rekurs auf den Islam als solchen reicht nicht aus. Dieser ist der Inbegriff religiöser Lehren und ihrer Anhänger. Doch darum bildet er noch keine Religionsge80 

BayVGH KirchE 29, 261 (274). BayVGH KirchE 29, 261 (272). 82  BayVGH KirchE 28, 278 (283), von der Revision (BVerwGE 89, 368 [373]) gebilligt, soweit nur ein „Minimum an Organisationsgrad“ verlangt wird (arg. Begriff „Weltanschauungsschule“ in Art. 7 Abs. 5 GG). 83  So im Kontext des Art. 7 Abs. 3 GG: VG Düsseldorf, in: NWVBl 2001, S. 110 (112) – mit zustimmender Anmerkung von Wolfgang Rüfner, ebd., S. 114. 81 

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meinschaft, die als solche handlungsfähig und konsistent wäre. Vollends fehlen dem Islam kirchenanaloge Strukturen.84 In seinen Herkunftsländern hat er keine eigenständige Organisation neben und gegenüber dem Staat hervorgebracht.85 Überdies ist er nicht in sich homogen, sondern in eine Vielzahl von Glaubensbezeugungen ausdifferenziert.86 Daher gibt es für den deutschen Staat keinen genuinen Partner, der für „den Islam“ oder eine seiner Glaubensrichtungen sprechen, handeln und Verantwortung übernehmen könnte. Auf einen solchen ist er angewiesen für den Religionsunterricht wie in allen kondominialen Angelegenheiten des Staatskirchenrechts.87 Die in Deutschland gegründeten Moscheevereine und ähnliche Organisationen sowie deren Dachverbände bilden als solche keine Religionsgemeinschaft.88 Die islamischen Vereine, die sich auf deutschem Boden gebildet haben, repräsentieren nur ihre Mitglieder, diese aber häufig nicht in spezifisch religiöser, sondern in politischer, wirtschaftlicher oder allgemeinkultureller Hinsicht. Soweit die Vereine von staatlichen Stellen des Auslands gesteuert werden (etwa von einem türkischen Ministerium), scheidet die Annahme einer „Gemeinde“ von vornherein aus. So findet die deutsche Schulverwaltung auf islamischer Seite bislang noch keinen Ansprechpartner.89 Auf islamischer Seite fehlt die konsistente, handlungsund verantwortungsfähige Religionsgemeinschaft, die eine private Bekenntnisschule tragen, ihre religiöse Identität sichern und gewährleisten kann, daß die Schule nicht nur kurzfristig betrieben wird90 und ein Mindestbestand an Organisation vorhanden ist.91 Der Trägerverein bietet die Gewähr nicht aus sich heraus, sondern nur über eine Religionsgemeinschaft, die hinter ihm steht. Für ihn gilt nichts anderes als für die kirchlichen Vereine, Anstalten, Stiftungen im Erziehungswesen und in der Diakonie. Sie partizipieren nicht aus eigenem Recht an 84 Dazu Martin Heckel, Religionsunterricht für Muslime?, in: JZ 1999, S. 741 (752 ff.); Christian Hillgruber, Der deutsche Kulturstaat und der muslimische Kulturimport, in: JZ 1999, S. 538 (545); Wolfgang Loschelder, Der Islam und die religionsrechtliche Ordnung des Grundgesetzes, in: Essener Gespräche, Bd. 20 (1986), S. 149 (162 ff.); Stefan Muckel, Religionsfreiheit für Muslime in Deutschland, in: Festschrift für Joseph Listl, 1999, S. 239 (243). 85  Baber Johansen, Staat, Recht und Religion im sunnitischen Islam – Können Muslime einen religionsneutralen Staat akzeptieren?, in: Essener Gespräche, Bd. 20 (1986), S. 12 (13 ff.). 86 Hierzu Heckel (Fn. 84), S. 741 (753); Hillgruber (Fn. 84), S. 538 (539, 545). 87  Loschelder (Fn. 84), S. 149 (168 ff.); Alexander Hollerbach, Grundlagen des Staatskirchenrechts, in: HStR Bd. VI, 1989, § 138 Rn. 135; Hillgruber (Fn. 84), S. 538 (539 ff.). 88  Übersicht über die Organisationen: Spuler-Stegemann (Fn. 1), S. 101 ff. 89  Dazu Stellungnahmen in der Anhörung des Bayerischen Landtages zum Thema „Islamunterricht an den Schulen in Bayern“ am 25. Mai 2000, Wortprotokoll, S. 15 ff. 90  OVG Hamburg KirchE 28, 328 (337). 91  BayVGH KirchE 29, 261 (274).

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den Gewährleistungen des Staatskirchenrechts, zumal am Selbstbestimmungsrecht der Kirche aus Art. 140 GG i. V. m. Art. 137 Abs. 3 WRV. Vielmehr müssen sie ihrem Satzungszweck und ihrer Aufgabe nach dazu bestimmt sein, den kirchlichen Auftrag in der Welt wahrzunehmen, im Einklang mit deren Bekenntnis. Ferner müssen sie die Anerkennung der „Amtskirche“ gefunden haben und mit deren Amtsinhabern und Institutionen verflochten sein.92 Ebenso wie beim Religionsunterricht in staatlichen Schulen eine organisatorisch hinreichend verfestigte Religionsgemeinschaft als Kooperationspartner des Staates als Schulträger bereits bestehen muß,93 so genügt es auch für die Errichtung einer privaten Bekenntnisgrundschule nicht, daß die Religionsgemeinschaft, die letztlich die Schule tragen soll, sich erst beim Betrieb der Schule zu formieren beginnt.

VI.  Kompatibilität der islamischen Bekenntnisschule mit dem Konzept des Ausnahmetatbestandes nach Art. 7 Abs. 5 GG Die Möglichkeit einer privaten Grundschule als islamische Bekenntnisschule liegt außerhalb des Blickfeldes der bisherigen Judikatur. Die Frage nach der rechtlichen Zulässigkeit stößt in Neuland vor. Daher können deren Feststellungen, die sich im Kontext des Christentums bewegen, das Ergebnis nicht ohne weiteres vorwegnehmen. Das Problem soll aus wechselnder dogmatischer Perspektive angegangen werden. 1.  Grundrechtliche Öffnung des Schulartikels? a)  Deutung aus der Religionsfreiheit Dafür, daß die Bekenntnisschule im Sinne des Art. 7 Abs. 5 GG auch dem Islam offensteht, könnte eine Auslegung sprechen, die den Ausnahmetatbestand mit dem Grundrecht der Religionsfreiheit aus Art. 4 Abs. l und 2 GG verknüpft. In der Tat steht das Grundrecht jedweder Religion und Glaubensüberzeugung offen, gleich, ob sie in der deutschen Tradition verwurzelt oder jüngst importiert oder auch erst jüngst entstanden ist, gleich, ob ihre Anhänger Deutsche oder Ausländer sind. Das gilt nicht allein für die Grundrechtsfreiheit der Individuen, sondern auch für die der religiösen Vereinigungen.94 Der Islam genießt daher den gleichen Schutz des individuellen und des korporativen Religionsgrund-

92 

BVerfGE 24, 236 (247); 46, 73 (85 ff.); 53, 366 (391 ff.). Heckel (Fn. 84), S. 741, 752 ff.; Rüfner (Fn. 83), S. 115, 426 – gegen Ludwig Renck, Islamischer Religionsunterricht – wann endlich?, in: NWVBl 2001, S. 425. 94  Vgl. BVerfGE 83, 341 (353 ff.) – Bahá’í-Gemeinschaft. 93 Dazu

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rechts wie jede andere Religion.95 Daraus folgt jedoch noch nicht zwingend, daß die islamische Bekenntnisschule zulässig sei. Doch scheint die heute herrschende Auslegung des Art. 7 Abs. 5 GG in diese Richtung zu neigen, wenn sie den Tatbestand der privaten Grundschule von den Grundrechten her legitimiert und Art. 7 Abs. 5 GG als Sondervorschrift zum Elternrecht, vor allem zur Religionsfreiheit, versteht.96 Nach Auffassung des Bundesverwaltungsgerichts kommen als Bekenntnisschulen im Sinne von Art. 7 Abs. 5 GG nicht nur Schulen der katholischen Kirche, der evangelischen Landeskirchen und der jüdischen Gemeinden in Betracht, sondern – in Anknüpfung an die Glaubens- und Bekenntnisfreiheit in Art. 4 Abs. 1 GG – Schulen jeglichen Bekenntnisses.97 Daß es sich bei der Grundschule um eine Bekenntnisschule im Sinne des Art. 7 Abs. 5 GG handele, folge aus der gebotenen Zusammenschau dieser Vorschrift mit Art. 4 Abs. 1 GG, wonach die Freiheit des Glaubens, des Gewissens und die Freiheit des religiösen oder weltanschaulichen Bekenntnisses unverletzlich seien. Das weite Begriffsverständnis bei Art. 4 GG gelte auch für die Auslegung des Art. 7 Abs. 5 GG.98 Anläßlich der Genehmigung einer Weltanschauungsschule stellt das Bundesverwaltungsgericht fest, die in Art. 7 Abs. 4 GG garantierte Privatschulfreiheit sei nicht nur im Blick auf das Bekenntnis des Grundgesetzes zur Würde des Menschen (Art. 1 Abs. 1 GG) und zur Entfaltung der Persönlichkeit in Freiheit und Selbstverantwortlichkeit (Art. 2 GG) zu würdigen, sondern auch im Lichte der Religions- und Gewissensfreiheit (Art. 4 GG), der Verpflichtung des Staates zur religiösen und weltanschaulichen Neutralität und des natürlichen Elternrechts (Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG). Wenn Art. 7 Abs. 5 GG für den Bereich der Volksschule einen Vorrang der öffentlichen (Volks-)Schule normiere, hiervon aber für Gemeinschafts-, Bekenntnis- oder Weltanschauungschulen Ausnahmen zulasse, die an den Antrag von Erziehungsberechtigten anknüpften, so sei das Ausdruck eben dieses ,,Zusammenwirkens der Grundrechtsnormen“ sowie ein „sachgerechter Ausgleich in dem Spannungsfeld unterschiedlicher Grundrechtsgewährleistungen und staatlicher Schulhoheit“.99 Zu letzter Konsequenz geführt, stünde das Recht, eine Privatschule zu beantragen und zu betreiben, Anhängern einer jeden 95 Vgl. Loschelder (Fn. 84), S. 149 (152 ff.); Hillgruber (Fn. 84), S. 538; Muckel (Fn. 84), S. 239 ff. (Nachw.); Michael Brenner, Staat und Religion, in: VVDStRL 59 (1999), S. 264 (280 ff.). 96  Repräsentativ BVerwGE 89, 368 (372): Spezialregelung für die kollektive Ausübung der Religionsfreiheit. Nachw.: Robbers (Fn. 48), Art. 7 Rn. 236. 97  BVerwGE 90, 1 (1. Ls.). 98  BVerwGE 90, 1 (3 f.). Ebenso: BVerwGE 75, 275 (277), dezidiert auch OVG Hamburg KirchE 28, 328 (1. Ls., 334). 99  BVerwGE 89, 368 (369). Auf derselben Linie BayVGH KirchE 28, 350 (353): „Da Art. 7 Abs. 5 GG mit Art. 4 Abs. 1 GG korrespondiert, indem er die dort verankerte Freiheit des religiösen und weltanschaulichen Bekenntnisses für den Volksschulbereich konkretisiert“; BayVGH KirchE 29, 261 (1. Ls., 268 f.); OVG Münster KirchE 29, 43 (54).

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Religion zu, es sei denn, daß diese sich außerhalb der verfassungsimmanenten Schranken bewegte, die das Grundgesetz der Religionsfreiheit setzt.100 Doch ist Vorsicht geboten, der Judikatur diese Konsequenz zu unterstellen. Die bisherige Judikatur bewegt sich ausschließlich im Horizont des Christentums, wie es sich auf europäischem Boden entwickelt hat, einschließlich des Judentums, aus dem es hervorgegangen ist. Wenn das Bundesverwaltungsgericht es ablehnt, die private Bekenntnisschule dem exklusiven Kreis der bisherigen Träger vorzubehalten, öffnet es den Kreis der Berechtigten hin zu christlichen Minderheiten und kirchlichen Dissentern: freikirchlichen Gemeinden, evangelikalen Gruppen.101 Mit der Genehmigung der islamischen Grundschule würde aber der Horizont überschritten, innerhalb dessen sich die bisherige Verwaltungsund Gerichtspraxis bewegt. b)  Institutioneller Überhang des Art. 7 Abs. 5 GG Das Recht, eine private Grundschule als Bekenntnisschule zu errichten, läßt sich nicht unmittelbar aus dem Grundrecht der Religionsfreiheit oder auch aus dem Elternrecht ableiten. Vielmehr ergibt sich dieses Recht aus der primär schulorganisatorischen Bestimmung des Art. 7 Abs. 5 GG, welche die Ausnahmen definiert, denen gegenüber die von Verfassungs wegen geltende Regel der öffentlichen Grundschule zurücktritt. Gäbe es die geschriebenen Ausnahmetatbestände nicht, sondern allein die Regel, so könnte diese nicht substituiert werden durch interpretatorische Deduktion aus den Grundrechten der Eltern. Diese finden zwar in der privaten Grundschule eine schulorganisatorische Voraussetzung ihrer Ausübung. Doch sie bringen diese Voraussetzung nicht aus sich selbst hervor, und sie garantieren auch nicht deren Fortbestand. Der Vergleich zur Verfassungsgewähr des Religionsunterrichts als ordentliches Lehrfach (Art. 7 Abs. 3 GG) liegt nahe. Dieser dient der religiösen Erziehung der Kinder und vermag so, die elterliche Erziehung zu unterstützen und zu ergänzen. Doch beruht der Religionsunterricht auf einer institutionellen Garantie der Verfassung, also auf objektivem Recht. Aus den Grundrechten der Eltern allein ließe sich seine Existenz nicht ableiten und seine Einführung nicht erzwingen. Das gilt schon deshalb, weil diese Grundrechte von Verfassungs wegen als Abwehr-, nicht jedoch als Leistungsrechte konzipiert sind.102 Wenn aber die öffentliche Schule den Religionsunterricht anbietet, wie es die Verfassung verlangt, so entscheiden die Erziehungsberechtigten darüber, ob ihre Kinder an ihm teilnehmen (Art. 7 Abs. 2 GG). Der Religionsunterricht bedeu100  Zu den Schranken der Religionsfreiheit Frhr. von Campenhausen (Fn. 69), § 136 Rn. 79 ff. (81). 101  Vgl. etwa BVerwGE 90, 1 – Verein christliche Bekenntnisschule Hamburg; OVG Münster KirchE 29, 43 – Deutsche Evangelische Allianz. 102 Zutreffend Heckel (Fn. 84), S. 741 (750). Vgl. auch Hillgruber (Fn. 84), S. 545 f.

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tet also eine objektivrechtliche Option, über deren Realisierung die Erziehungsberechtigten (bzw., soweit grundrechtsmündig, die Kinder selbst) befinden.103 Die analoge Rechtslage gilt allgemein für die Institutionen des Staatskirchenrechts. Sie bieten günstige Voraussetzungen für die Ausübung der Religionsfreiheit und lassen sich als deren organisatorisches Medium deuten. Doch wären sie nicht eigens in der Verfassung gewährleistet, so könnten sie nicht allesamt und nicht in der derzeitigen Gestalt allein im Wege der Auslegung des Art. 4 GG als dessen ungeschriebene Bestandteile aufgewiesen werden.104 Vollends lassen sich die heiklen Abgrenzungen im Schulwesen, die das Grundgesetz und, soweit dieses offen ist, die Landesverfassungen aufwerfen, nicht allein und nicht einseitig von den Grundrechten her bewältigen. Freilich: die private Bekenntnisschule erweitert den grundrechtlichen Wirkungskreis der Erziehungsberechtigten, welche die Schule beantragen und diese über ihre Kinder nutzen, und den des Unternehmers, der die Schule betreibt. Von diesen Grundrechtsfragen hängt es ab, ob eine private Bekenntnisschule zustande kommt und ob sie auf Dauer Bestand hat. Darin liegt eine notwendige, doch nicht die hinreichende Bedingung für die Einrichtung einer privaten Bekenntnisschule. Zuvörderst muß festgestellt werden, ob sich die Einrichtung der privaten Grundschule mit dem an sich geltenden Vorrang der öffentlichen Grundschule verfassungsrechtlich verträgt. Das aber hängt ab von objektivrechtlichen Vorgaben der Verfassung. Die private Bekenntnisschule ist in erster Linie Institution des Staatskirchenrechts, erst in zweiter Linie Gegenstand der Religionsfreiheit und anderer Grundrechte. Der grundrechtliche Schutz der Religionsfreiheit reicht weiter als der institutionelle des Staatskirchenrechts. Daher läßt sich aus der Teilhabe des Islam an der Religionsfreiheit nicht ohne weiteres folgern, daß ihm auch die Möglichkeit zukommt, eine private Bekenntnisschule zu errichten. Als Zwischenergebnis, ist festzuhalten, daß die Bekenntnisschule im Sinne des Art. 7 Abs. 5 GG nicht notwendig sämtlichen religiösen Bekenntnissen offensteht, die vom Freiheitsrecht aus Art. 4 Abs. 1 GG gedeckt werden. 2.  Historische Reduktion Der Weimarer Schulkompromiß bezog sich allein auf katholische, evangelische und jüdische Volksschulen. Das gleiche gilt für den Bonner Schulkompromiß, der zur Fortschreibung des Art. 147 Abs. 2 WRV in der Form des Art. 7 Abs. 5 GG 103  Zu den subjektiv-grundrechtlichen Konsequenzen Josef Isensee, Die Garantie des Religionsunterrichts im Grundgesetz, in: Gottfried Bitter (Hrsg.), Religionsunterricht hat Zukunft, 2000, S. 19 (28 ff.). 104 Grundlegend Joseph Listl, Die Religionsfreiheit als Individual- und Verbandgrundrecht in der neueren deutschen Rechtsentwicklung und im Grundgesetz (1969), in: ders., Kirche im freiheitlichen Staat, 1. Hb., 1996, S. 3 (33 ff.). Vgl. auch Josef Isensee, Verfassungsstaatliche Erwartungen an die Kirche, in: Essener Gespräche, Bd. 25 (1991), S. 104 (111 f.).

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führte. In dem Kompromiß ging es um den Ausgleich zwischen den Prinzipien der staatlichen Einheitsschule und der Privatschule sowie den Prinzipien der Gemeinschafts- und der Bekenntnisschule. Daraus wird im Schrifttum gefolgert, daß das staatliche Schulwesen sich nur den Beteiligten am Weimarer Schulkompromiß habe öffnen sollen, nicht dagegen allen religiösen oder weltanschaulichen Gruppierungen.105 Die Position wird auch darauf gestützt, daß der Ausnahmetatbestand des Art. 7 Abs. 5 GG die Bekenntnis- und Weltanschauungsschule in eine Reihe stelle mit der Gemeinschaftsschule, für diese aber die systematische Verknüpfung mit dem Grundrecht des Art. 4 GG wenig Sinn mache.106 Von diesem Ansatz her käme eine islamische Bekenntnisschule nicht in Betracht. Die Position hat gewichtige Gründe für sich. Dennoch hat sie sich, jedenfalls bislang, nicht durchgesetzt. Gegen sie spricht, daß die Verfassung die Möglichkeit einer privaten Volksschule nicht auf die in der Zeit um 1919 bzw. 1949 etablierten Religionsgemeinschaften beschränkt. Vielmehr hält sie die Möglichkeit auch den Weltanschauungsgruppen offen. Diese aber waren von vornherein weder überschaubar noch endgültig formiert, ihre Entwicklung im Fluß. Das spricht dafür, daß der Schulkompromiß nicht die Konstellation zur Zeit der Verfassunggebung festschreibt. Freilich ist die praktische Bedeutung der staatskirchenrechtlichen Garantien in Art. 7 und Art. 140 GG für weltanschauliche Vereinigungen gering. Die Erwähnung der Weltanschauungen dient mehr der symbolischen Relativierung der staatskirchenrechtlichen Garantien, als der praktischen Ausweitung des Kreises der Destinatare. Gleichwohl: die These von der Reduzierung des Kreises auf den Umfang von 1919 wird hier nicht weiterverfolgt. 3.  Staatskirchenrecht unter Kulturvorbehalt Die staatskirchenrechtlichen Garantien gehen in ihrem sachlichen Schutzbereich über den des Grundrechts der Religionsfreiheit hinaus, bleiben aber in ihrem persönlichen Schutzbereich hinter dem des Grundrechts zurück. Die Kriterien, nach denen sich der Zugang zu den Gewährleistungen des Staatskirchenrechts wie Religionsunterricht, theologische Fakultäten oder Bekenntnisschulen bestimmt, fallen je nach Materie unterschiedlich aus; sie sind im einzelnen umstritten. Während das Grundrecht der Religionsfreiheit, seinem menschenrechtlichen Ursprung gemäß, universale Geltung beansprucht, gründen die staatskirchenrechtlichen Einrichtungen in der nationalen und kontinentalen Kultur. Sie gehen über den allgemeinen grundrechtlichen Standard hinaus und bedeuten eine institutionalisierte Förderung der Religion. Die Formen der Förderung sind zugeschnitten auf die christlichen Kirchen. Diese sind die prototypischen Destinatare, 105  Ingo Richter/Bernd-Martin Groh, Privatschulfreiheit und gemeinsame Grundschule, in: RdJB 1989, S. 276 ff. (292 ff.). 106  Richter/Groh (Fn. 105), S. 295.

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wenn auch nicht die einzigen, wie schon der Sprachgebrauch „Religionsgesellschaften“ bzw. „Religionsgemeinschaft“ zeigt. In den staatskirchenrechtlichen Garantien wird das Wirken der Kirchen für das Gemeinwesen und so – auch – ihre Bedeutung für den Kulturstaat anerkannt. Den Garantien korrespondiert die vorrechtliche Erwartung, daß sie die Grundlagen der geistigen Herkunft des Gemeinwesens, seine kulturelle Kontinuität und Identität sichern und durch ganzheitliche Erziehungsangebote, die dem Staat versagt sind, die ethischen Fundamente des demokratischen und sozialen Rechtsstaats bewahren und erneuern.107 Diesen Erwartungen entspricht das praktische Konzept der Kooperation von Staat und Kirche, das die beiderseitige Verschiedenheit und Unabhängigkeit voraussetzt und im komplementären Dienst für das Gemeinwohl fruchtbar macht. In diesen Erwartungshorizont fügt sich der Islam nicht. Die Möglichkeit einer islamischen Bekenntnisschule lag jenseits aller Vorstellungen und Institutionen des Weimarer wie des Bonner Verfassunggebers. Daher bietet sich die Auslegung an, daß die staatskirchenrechtlichen Einrichtungen unter Kulturvorbehalt stehen und nur solchen Religionsgemeinschaften offenstehen, die der deutschen Kultur zumindest kompatibel sind.108 Der Kulturvorbehalt betrachtet die Religionen ausschließlich unter säkularem Aspekt als kulturelle Potenzen der Gesellschaft. Die Frage nach Wahrheit und Wert der Religion liegt außen vor. Die religiöse Neutralität des Staates bleibt unangetastet. Dieser zeigt sich allein unter dem Aspekt der Kulturstaatlichkeit und der Kulturverfassung, zu der die Materie des Staatskirchenrechts zählt. Vom kulturstaatlichen Telos her interpretiert, würde sich der Ausnahmetatbestand des Art. 7 Abs. 5 GG der importierten Kultur des Islam sperren. Zumindest gälte das, solange der Islam noch nicht seine Fremdheit verloren und seinerseits noch nicht Bestandteil der deutschen und der europäischen Kultur geworden ist. Die These vom Kulturvorbehalt hat sich bisher nicht durchgesetzt, vollends nicht gegen die politische wie literarische Tendenz, das Staatskirchenrecht für den Aufbau einer multikulturellen Gesellschaft zu instrumentalisieren.109 Daher soll der dogmatische Ansatz des Kulturvorbehaltes in diesem Zusammenhang dahinstehen. 107 Dazu

Isensee (Fn. 103), S. 105 ff. eines Kulturvorbehalts für das Staatskirchenrecht: Isensee (Fn. 103), S. 105 f.; ders., Die Zukunftsfähigkeit des deutschen Staatskirchenrechts, in: Festschrift für Joseph Listl, 1999, S. 67 (87 f.); ders., Tabu im Verfassungsstaat, 2003; Martin Heckel, Das Gleichheitsgebot im Hinblick auf die Religion, in: Joseph Listl/Dietrich Pirson (Hrsg.), Handbuch des Staatskirchenrechts, Bd. I, 2. Aufl. 1994, S. 623 (646 f.); Paul Kirchhof, Die Kirchen und die Religionsgemeinschaften als Körperschaften des öffentlichen Rechts, ebd., S. 651 (669); ders., Der Staat als Organisationsform politischer Herrschaft und rechtlicher Bindung, in: DVBl 1999, S. 637 (642 f.: „Die Unverfügbarkeit des Vorgefundenen“); Hillgruber (Fn. 84), S. 538 (546, 547); Arnd Uhle, Staat – Kirche – Kultur, 2004, S. 131 ff. et passim („Identitätsvorbehalt“). 109 Vgl. Isensee, Die Zukunftsfähigkeit des deutschen Staatskirchenrechts (Fn. 108), S. 87. 108  Diskussion

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4.  Private Grundschulen unter Integrationsvorbehalt Die verfassungsrechtliche Regel der allgemeinen öffentlichen Grundschule erfährt eine Ausnahme zugunsten der privaten Bekenntnisschule mit Rücksicht auf die Konfessionsstruktur der deutschen Gesellschaft. Die anerkannten privaten Bekenntnisschulen beziehen sich auf Bekenntnisse, die in der deutschen Gesellschaft verwurzelt sind und ihre kulturelle wie nationale Identität wesentlich mitgeprägt haben. Der Islam aber ist Kulturimport.110 Eine islamische Bekenntnisschule wäre nicht nur in religiöser Hinsicht neu, sondern auch in kultureller wie nationaler. Träger wie Nutzer der Schule wären Einwanderer und ihre Nachkommen, der nationalen Herkunft nach überwiegend Türken. Diese Herkunftsbindung dürfte über Generationen bestehen bleiben, auch wenn die deutsche (Zweit-)Staatsangehörigkeit in der Zwischenzeit erlangt sein sollte. Die muslimische Religion ist in der Regel mit der nationalen Herkunft verknüpft. Wenn sie den Rechtstitel für die Errichtung einer muslimischen Bekenntnisschule abgibt, so führt sie im Ergebnis zur Pflege der nationalen und kulturellen Herkunftsidentität und zur planmäßigen Abschottung von Staat und Gesellschaft des Aufenthaltsstaates. Die islamische Grundschule bildet ein Instrument der Segregation. Die Religion ist Vehikel außerreligiöser, nicht zuletzt politischer Belange. Das ergibt sich einerseits aus der besonderen Situation einer Einwanderungsgruppe, die sich gegenüber der gesellschaftlichen Mehrheit behaupten und vor deren Einf1üssen abschirmen will, andererseits aus dem Wesen des Islam, dem die im Christentum angelegten Unterscheidungen von Staat und Religion, von geistlicher und weltlicher Sphäre fremd sind. Die verfassungsrechtliche Regel der öffentlichen Grundschule läßt Ausnahmen zugunsten religiöser Besonderheit zu, nicht aber Ausnahmen, die mit der religiösen weitere Besonderheiten, vor allem kulturelle und nationale, zur Geltung bringen und zur Segregation kultureller wie nationaler Gruppen führen. Zugespitzt: die islamische Schule erwiese sich bei entsprechender Rekrutierung der Schüler und Lehrer als türkische Schule. In einer privaten islamischen Grundschule weitete sich der Ausnahmetatbestand des Art. 7 Abs. 5 GG über den religiösen Bereich hinaus auf den kulturellen und den nationalen. Damit aber würde die Regel der Verfassung, die für alle gemeinsame öffentliche Grundschule, erheblich zurückgedrängt; und das auf dem Felde, auf dem ihr heute die größte Bewährung auferlegt ist, die Kinder außereuropäischer Einwanderer in die deutsche Gesellschaft zu integrieren. Der Staat gäbe mit der Zulassung einer islamischen Grundschule sein wirksamstes Mittel zur Integration aus der Hand. Das Privileg der privaten Bekenntnisschule nach Art. 7 Abs. 5 GG bezieht sich auf Schulen, die religiöse Besonderheit zur Geltung bringen, ohne sich aber prinzipiell von der deutschen Gesellschaft abzusondern. Die Verfassung nimmt die Bekenntnis110 Dazu

Hillgruber (Fn. 84), S. 538 ff.

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schule vom Grundschulmonopol aus unter den Voraussetzungen, die er 1919 und 1949 bei den kirchlichen Bekenntnisschulen vorfand. Die Kirchen erkannten in ihr ein Medium ihrer konfessionellen Eigenart. Doch diese war ihrerseits Element der pluralistischen Gesellschaft. Deren Kultur und deren konsensuales Ethos waren vom Christentum geprägt; die Kirchen tragen dazu bei, ungeachtet ihrer Unterschiede (die freilich mittelbar auch mentale, kulturelle und politische Folgen zeitigen), kulturelle und ethnische Tradition zu wahren und zu beleben. Das vermag die Religion von Einwanderern aus fremden Kulturkreisen – jedenfalls heute – nicht zu leisten. Noch hat sie sich nicht in die deutsche Gesellschaft integriert. Wenn sie sich dem Einfluß der für alle gemeinsamen Grundschule über eine separate private Grundschule entzöge, würde gesellschaftliche Desintegration institutionalisiert. Die Integrationsaufgabe ist im höchsten Maße gefordert für die Kinder von Immigranten aus einem fremden Kulturkreis. Deren besonderen religiösen und kulturellen Bedürfnissen kann durch Binnendifferenzierung der öffentlichen Grundschule Rechnung getragen werden, etwa durch das Angebot eines besonderen sprachlichen, landes- und religionskundlichen Unterrichts, nicht aber durch den Rückzug der öffentlichen Grundschule. Eine verfassungsrechtliche Wende hätte sich ergeben können, wenn die Empfehlung der Gemeinsamen Verfassungskommission von 1993 umgesetzt worden wäre, das Grundgesetz um den Satz zu ergänzen, daß der Staat die Identität der ethischen, kulturellen und sprachlichen Minderheiten achte.111 Die Verfassungsänderung scheiterte nicht zuletzt an dem Einwand, es könne nicht unsere Aufgabe sein, auf unserem Staatsgebiet das Nebeneinander möglichst vieler eigenständiger Kulturen zu organisieren. Vielmehr müsse erwartet werden, daß Zuwanderer sich in Staat und Gesellschaft integrierten.112 Im Ergebnis scheitert, jedenfalls im derzeitigen Stand der gesellschaftlichen Entwicklung, das Projekt der privaten islamischen Bekenntnisschule am Verfassungsprinzip der für alle gemeinsamen Grundschule.

111  112 

BT-Drs. 12/6000, S. 71 ff. BT-Drs. 12/6000, S. 75.

VII. Grundrechtskonflikte

Schulgebet im Spannungsfeld zwischen positiver und negativer Religionsfreiheit Zur Zulässigkeit eines freiwilligen überkonfessionellen Schulgebets außerhalb des Religionsunterrichts in einer nicht bekenntnisfreien Gemeinschaftsschule* Schulgebet im Spannungsfeld zwischen positiver und negativer Religionsfreiheit. Zur Zulässigkeit eines freiwilligen überkonfessionellen Schulgebets außerhalb des Religionsunterrichts in einer nicht bekenntnisfreien Gemeinschaftsschule Schulgebet im Spannungsfeld zwischen positiver und negativer Religionsfreiheit

I.  Der Anteil der grundrechtsgebundenen Öffentlichen Gewalt an der Veranstaltung des Schulgebets 1.  Zur Qualifikationsfrage Die Prüfung des Schulgebets am Maßstab der Grundrechte hängt wesentlich von der Vorentscheidung darüber ab, ob und wieweit die Veranstaltung des Gebets in einer Gemeinschaftsschule eine Manifestation der staatlichen Schulhoheit und damit „Öffentliche Gewalt“ im Sinne des § 90 Abs. 1 BVerfGG darstellt. Die vorliegende Verfassungsbeschwerde geht vom „staatlichen“ Charakter dieser religiösen Übung aus. Die Schule wird als Ganzes dem staatlichen Bereich zugerechnet; bei diesem wird vorausgesetzt, daß er gegen den gesellschaftlichen Bereich durch das objektiv-rechtliche Neutralitätsgebot abgeschirmt und jedwede religiöse Grundrechtsaktivität aus ihm verbannt sei.1 In dieser Vorstellung wirkt das anachronistische Modell einer starren Trennung von gesellschaftsneutralem Staat und staatsfreier Gesellschaft nach. Die Grenze beider Bereiche verläuft, jedoch im sozialen Rechtsstaat wesentlich differenzierter und beweglicher. Die Schule kann nicht pauschal der „staatlichen“ Sphäre, ebenso wenig allerdings pauschal der „gesellschaftlichen“ zugerechnet werden. In erster Linie ist sie zwar staatliche Organisationseinheit; Schulunterricht und Schulerziehung sind (schlicht-hoheitliche) Ausprägungen der Öffentlichen Gewalt. Der staatliche Erziehungsauftrag (Art. 7 Abs. 1 GG) wird aber durch das Elternrecht (Art. 6 Abs. 2 GG) begrenzt. In dem Maße, in dem die *  Stellungnahme vom 26. August 1974 für die Deutsche Bischofskonferenz zu der Verfassungsbeschwerde Az. 1 BvR 7/74. Das Bundesverfassungsgericht wies die Beschwerde als unbegründet zurück (Beschluß des Bundesverfassungsgerichts vom 16. Oktober 1979, BVerfGE  52, 223 – 255). 1 Auf dieser Linie auch Fischer, Trennung von Staat und Kirche, 2. Aufl. 1971, S.  283 – 285; v. Zezschwitz, JZ 1966, S. 338 – 344. Kritisch dagegen: Böckenförde, DÖV 1974, S. 255; Lorenz, JuS 1974, S. 438.

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staatliche Einheitsschule ihr effektives Monopol ausbaut, muß sie ihre innere Gestalt ausdifferenzieren, sich den Erziehungszielen der Eltern anpassen und damit den Besonderheiten der pluralistischen Gesellschaft öffnen. Das schulische Erziehungsprogramm darf in Abstimmung mit den Erziehungsberechtigten über den ethischen Minimalkonsens hinausgehen, den die Verfassung und die übrige verfassungsgemäße Rechtsordnung festgelegt haben.2 Die Schule zeigt sich damit auch als Stätte der individuellen Grundrechtsentfaltung – und zwar sowohl für die Schüler als auch für die Erziehungsberechtigten, welche die Grundrechte der Grundrechtsunmündigen als deren Sachwalter, legitimiert durch das Elternrecht, wahrnehmen. Die Schule als Stätte der Grundrechtsverwirklichung gibt auch dem Schulgebet Raum. Das Gebet als solches ist keine Emanation der Schulhoheit wie der Unterricht oder wie die Maßnahmen der Schuldisziplin. Nicht der Staat „betet“ (über den Lehrer als Amtswalter und die Schüler als Gewaltunterworfene). Vielmehr beten die (teilnehmenden) Schüler, als individuelle Grundrechtsträger. Sie üben ihre positive Glaubens- und Bekenntnisfreiheit aus. Dasselbe gilt für den Lehrer, soweit er sich am Gebet beteiligt. An amtlicher Funktion bleibt ihm allein die Überwachung der äußeren Ordnung. (Diese rollendifferenzierende Sicht ist bei der grundrechtlichen Würdigung aller Sonderstatus unausweichlich.)3 Der Anteil, der dem Träger der Schulhoheit an der Veranstaltung des Schulgebetes zukommt, liegt einzig darin, daß er die positive Grundrechtsbetätigung zuläßt und ihr den organisatorischen Rahmen gibt. 2.  Zur Identifikationsfrage Eine solche Grundrechts-Ermöglichung durch den Staat führt nicht ohne weiteres dazu, daß dieser sich mit den Grundrechtsaktualisierungen seiner Bürger identifiziert.4 Diese Feststellung ist keine Besonderheit des Schulgebetes. Sie gilt allgemein für staatliche Maßnahmen der Grundrechtsaktivierung, soweit sie die verfassungsrechtlichen Freiheits- und Gleichheitsgebote einhalten. Wenn der Staat in der Universitätsorganisation die institutionelle Grundlage für Forschung 2  Dazu richtiger Distinktionsansatz: Scheuner, Verfassungsrechtliche Fragen der christ­ lichen Gemeinschaftsschulen, in: Schriften zum Staatskirchenrecht, 1973, S. 280 – 297; ­Lorenz (Fn 1), S. 436, 439. Allgemein zum Verhältnis des Elternrechts zur staatlichen Schulhoheit: Ossenbühl, AöR 1973, S. 368 – 380 (Nachw.). 3  Zur Freiheit des Lehrers beim Schulgebet s. die grundgesetzkonforme Regelung im Saarländischen Erlaß betr. Schulgebet … v. 8. 1. 1971 (GMBl Saar S. 150), I 8. 4 Zutreffend Lorenz (Fn. 1), S. 439; Podlech, Das Grundrecht der Gewissensfreiheit und die besonderen Gewaltverhältnisse, 1969, S. 92; vgl. auch v. Zezschwitz (Fn. 1), S. 338 f. – Kritisch und zurückhaltend gegenüber voreiliger Annahme religiöser Identifizierung auch BVerfGE 35, 366 (374).

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und Lehre schafft, so kreiert er keine Staatsdoktrin. Legitimes staatliches Mäzenatentum schafft keine Staatskunst. Zulässige Formen der Parteifinanzierung heben die verfassungsgebotene staatliche Neutralität zu den Parteien nicht auf. Die Veranstaltung des Schulgebets enthält also allein in der organisatorischen Ermöglichung positiver Grundrechtsausübung ein Moment öffentlicher Gewalt.

II.  Mögliche Eingriffe in den Schutzbereich der Religionsfreiheit Die bloße Zulassung des Schulgebets berührt noch nicht den Schutzbereich des Individualgrundrechts aus Art. 4 Abs. 1 und 2 GG. Dabei macht es keinen Unterschied, ob dabei auf die Glaubensfreiheit des Erziehungsberechtigten oder auf die kraft Elternrechts repräsentierte Glaubensfreiheit des (grundrechtsunmündigen) Kindes abgestellt wird. Es muß ein konkreter Eingriff gerade gegenüber dem Beschwerdeführer vorliegen. Dieser wird nicht schon durch die vom Beschwerdeführer gerügte Verletzung objektiv-rechtlicher Normen (wie des Neutralitätsprinzips) herbeigeführt. 1.  Zwang zur Teilnahme am Schulgebet? a)  Ein solcher Eingriff läge vor, wenn die Teilnahme am Schulgebet in direkter oder indirekter Form von Seiten der Schule erzwungen würde.5 Die Freiwilligkeit eines religiösen Engagements wird durch das Grundrecht des Art. 4 Abs. 1 GG geschützt, darüber hinaus durch Art. 140 GG (Art. 136 Abs. 4 WRV) noch besonders hervorgehoben. Die Zulässigkeit des Schulgebets gründet im freien Konsens der teilnehmenden Schüler (bzw. deren Erziehungsberechtigten) und der Möglichkeit, daß der abweichende Schüler sich in freiwilliger und zumutbarer Weise der Teilnahme entziehen kann. Die negative Glaubensfreiheit des abweichenden umschließt das Recht, während des Schulgebets dem Klassenraum fernzubleiben oder lediglich passiv anwesend zu sein.6 Das Recht zur räumlichen Abwesenheit schließt von vorneherein jene Lage des unausweichlichen Zwangs aus, in die nach Auffassung des BVerfG (E 35, 366, 376) der Prozeßbeteiligte gerät, wenn er entgegen der eigenen religiösen oder weltanschaulichen Überzeugung in einem mit Kreuz ausgestatteten Gerichtssaal verhandeln muß.

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Davon geht der Staatsgerichtshof des Landes Hessen aus, ESVGH 16, 1 (8 f.). Zusammenfassende Nachw. der Kritik an diesem Urteil: Listl, Das Grundrecht der Religionsfreiheit in der Rechtsprechung der Gerichte der BRD, 1971, S. 274 – 280. 6  Zutreffend BVerwG U. v. 30. 11. 1973, BVerwGE 44, 196.

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b)  Ein rechtserheblicher „Zwang zum Gebet“ könnte etwa in einem Autoritätsmißbrauch des Lehrers oder der Androhung schulischer Sanktionen liegen; desgleichen in der Vernachlässigung der schulischen Fürsorgepflicht gegenüber einem Schüler, der wegen seiner Nichtteilnahme am Schulgebet von seinen Mitschülern tyrannisiert wird. Derartige konkrete Maßnahmen mit Nötigungseffekt werden von der Verfassungsbeschwerde nicht vorgetragen. Die bloß abstrakte Gefahr einer solchen Nötigung ist selbst noch keine Nötigung.7 Selbst wenn aber der Schüler grundrechtswidrigen Repressalien ausgesetzt wäre, so läge der Grundrechtsverstoß in diesen Repressalien selbst, nicht dagegen in der Zulassung des Schulgebets. c)  Im Schrifttum wird die Befürchtung geäußert, daß durch die Übung des Schulgebets einzelne Schüler, die berechtigt die Teilnahme verweigern, in eine Außenseiterrolle gedrängt und dadurch seelisch geschädigt werden können. Aus dieser Prämisse wird „eine tatsächliche Vermutung für die Unzulässigkeit eines nicht einstimmig gewünschten Schulgebets“ abgeleitet. Beim Einspruch von Beteiligten soll mit Rücksicht auf Art. 3 Abs. 3 und Art. 4 Abs. 1 GG die Übung nur zulässig sein, „wenn mit hinreichender Sicherheit feststeht, daß keinem Schüler psychische oder sonstige Nachteile aus der Teilnahme oder Nichtteilnahme erwachsen“.8 Diese These gibt dem einzelnen Schüler oder Erziehungsberechtigten die Möglichkeit in die Hand, die Unterlassung des Gebets zu erzwingen, weil der Negativbeweis über innerseelische Vorgänge und psychologische Prognosen praktisch nicht zu führen ist. Die negative Religionsfreiheit wird zum positiven Religionsverhinderungsrecht.9 In dieser Argumentation erscheint die freiheitliche Ordnung der Grundrechte als Ursache für die behauptete psychische Belastung des Schülers. Denn die Störung geht vom religiösen Anders-Handeln aus, das gerade grundrechtlich gewährleistet ist. Die Grundrechte garantieren die Unterschiede der Freiheitsentfaltung; sie legitimieren die Vielfalt. Grundrechtsfreiheit ist Freiheit zur tatsächlichen Ungleichheit. Nur totalitäre Gemeinwesen bieten spannungslose, künstliche Homogenität. Es kann nicht Aufgabe der Schule sein, am wenigsten der Gemeinschaftsschule als Regeltypus, daß sie den gesellschaftlichen Pluralismus aus ihren Mauern verdrängt, die religiöse Verschiedenheit unterdrückt und ableugnet und dem Schüler das Bild einer geschlossenen Gesellschaft vorspiegelt: ein Bild, das nicht nur unwahr, sondern sogar verfassungswidrig ist. Es gehört zu den Erziehungsaufgaben der Schule, daß der Schüler lernt, die legitimen Konflikte einer grund7 

Zur Irrelevanz abstrakter Grundrechtsgefährdung: BVerwGE 30, 29 (33). Podlech (Fn. 4), S. 109 f. 9  Gegen ein solches Recht: Böckenförde (Fn. 1), S. 254. 8 

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rechtlich differenzierten Gesellschaft auszuhalten, zu eigener Selbstentfaltung zu finden und dabei der abweichenden Entscheidung des Mitmenschen mit Achtung und mit Takt zu begegnen. Zu Recht deutet das Bundesverwaltungsgericht das Schulgebet als eine Bewährungsprobe für Toleranz.10 Das Verlangen, daß mit schulautoritären Mittel die Spannungen, die eine religiöse Übung in der Schule auslösen kann, unterdrückt werden, und daß schulische Veranstaltungen sich lediglich auf dem Minimalstandard der ethischen Homogenität, den das Grundgesetz festschreibt, bewegen, verkennt den Erziehungsauftrag der Schule.11 Wichtiges Erziehungsziel der Schule im freiheitlichen Gemeinwesen ist gerade die Einübung in die Grundrechte und das Hinführen zur Grundrechtsmündigkeit. Damit muß der Schüler lernen, die Konflikte, die sich aus der grundrechtlich legitimierten gesellschaftlichen Differenzierung ergeben, auszuhalten und die Freiheit des anderen zu akzeptieren. Wer sich in der negativen Glaubensfreiheit bereits durch die positive Religionsausübung der Mitmenschen verletzt wähnt, beweist nicht sensibles Gespür für Grundrechtsbeeinträchtigung, sondern mangelnde Grundrechtsreife.12 d) Der These vom Religionsverhinderungsrecht des Außenseiters wird die Begründung nachgeschoben, daß eine Klassengemeinschaft ein relativ geschlossenes, ein geleitetes soziales Gebilde mit intensiver Kommunikationsstruktur sei und daß der Außenseiter sich vom Schulgebet fortdauernd distanzieren müsse, sein Status damit fortdauernd beeinträchtigt werde.13 Es mag dahinstehen, ob die soziologischen Prämissen zutreffen, daß in der normalen Klasse ein Korpsgeist herrscht, der auf Teilnahme am Gebet drängt, und daß die Nichtteilnahme den Status des Einzelnen mindert oder ob nicht ebenso häufig das Gegenteil der Fall ist. Wesentlich ist dagegen, daß die Religionsunterschiede in einer Klasse bereits eine Spiegelung des gesellschaftlichen Pluralismus 10  U. v. 30. 11. 1973, BVerwGE 44, 196 (200). Vgl. auch Scheuner (Fn. 2), S. 297; Listl (Fn. 5), S. 280; Hollerbach, VVDStRL 26 (1968), S. 98. 11  Im Ergebnis ähnlich Scheuner (Fn. 2), S. 294 – 297. A. A. Fischer (Fn. 1), S. 272 f. 12 Das pädagogische Leitbild, das die Freiheitsrechte und der Gleichheitssatz aufrichten, läßt sich mit einer Feststellung Adolf Arndts zusammenfassen, daß das Gleichheitsgrundrecht keine Gleichmachungsnorm bildet, sondern als freies Recht die Freiheit verbürgt, anders zu sein. „Alle Freiheit fängt mit der vom allgemeinen Gleichheitssatz verbürgten Freiheit an: der Freiheit, anders sein zu können. Die Gleichheit als Gleichberechtigung gewährleistet es uns, ungleich zu sein“, Adolf Arndt, Gedanken zum Gleichheitssatz, Festschrift für Leibholz,m Bd. II, 1966, S. 185. 13 So Böckenförde (Fn. 1), S. 257. – Im Rahmen der Verfassungsbeschwerde könnte der Einwand, daß die Klasse sozialen Druck ausübe, nicht im Hinblick auf die Mitschüler, die nicht Träger „öffentlicher Gewalt“ sind, erheblich werden, sondern allenfalls in Hinblick auf die Schule, der dem Schüler gegenüber eine Fürsorgepflicht obliegt.

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im Kleinen darstellen. Der verfassungsrechtliche Auftrag an die Schule muß gerade die Einübung in die Grundrechte sein, die Entfaltung der Freiheit des einen Schülers unter Respektierung der Freiheit des anderen: die Klassengemeinschaft als Toleranzprobe für die heterogenen Wirkungskreise des Erwachsenendaseins. Daß die positive Religionsausübung eines Teils der Klasse einen atmosphärischen Einfluß auf den anderen ausübt, ist keine Grundrechtsbeeinträchtigung, sondern notwendige Folge der Grundrechtsausübung. Derartige Wirkungen zeitigt umgekehrt auch die Nichtteilnahme am Gebet. Grundrechtsausübung vollzieht sich nicht in keimfreier Isolierung, sondern im sozialen Raum der zwischenmenschlichen Wechselbeziehungen. Die negative Religionsfreiheit (wie sonstige Negativgrundrechte auch) verleiht niemandem den Anspruch darauf, daß die geistigen Einwirkungen der Umwelt ferngehalten werden, die sich aus der positiven Grundrechtsbetätigung der anderen ergeben.14 e)  Sicher mag im Einzelfall die Nichtteilnahme am Schulgebet ein gewisses Maß an Mut erfordern. Eine solche Mutprobe kann aber auch in der positiven Beteiligung liegen. Ein verfassungsrechtlich erheblicher Zwang liegt darin nicht. Das Grundgesetz legitimiert gleicherweise die freie Religionsausübung des Abweichenden wie die des Mehrheits-Konformen. Der Rechtsstaat stellt dem, der sich in diesem Grundrecht beschränkt sieht, administrative und gerichtliche Verfahren zur Durchsetzung zur Verfügung. Die Zivilcourage aber, die zur Ausübung der Freiheit erforderlich ist, muß der Einzelne schon selbst aufbringen. Ein Minimum an Zivilcourage wird vom freiheitlichen Gemeinwesen als selbstverständlich vorausgesetzt, das auf der Grundrechtsentfaltung seiner Bürger aufgebaut ist. Es wäre obrigkeitsstaatlicher Paternalismus, wenn der Grundrechtsstandard in der Schule niedrig geschraubt würde, damit dem ängstlichen Außenseiter die Mutprobe eines zulässigen abweichenden Verhaltens erspart bleibe. Zu Recht hält das Bundesverwaltungsgericht die Einschränkung der Glaubensfreiheit eines Beamten nicht dadurch für gerechtfertigt, daß sich Mitbürger aufgrund überholten Obrigkeitsdenkens ihm gegenüber gehemmt fühlen könnten: Die Bundesrepublik sei kein Polizeistaat, in dem man sich „ducken“ müsse. Es gebe keinen „Ersatz für mangelnde Zivilcourage“.15 Für die Schule zeigt sich damit ein weiterer Aspekt ihres Auftrags, die Schüler zur Grundrechtsmündigkeit zu erziehen: die Ausbildung des Mutes zur individuellen Grundrechtsentfaltung. Dieser Mut, verbunden mit Toleranz, kann sich in der Teilnahme wie in der Nichtteilnahme am Schulgebet entwickeln. 14 Zutreffend: Saarländischer „Erlaß betreffend Schulgebet …“ v. 8. 1. 1971 (GMBI Saar S. 150), I 4. Ähnlich v. Campenhausen, Staatskirchenrecht, 1973, S. 69. – Dagegen will der Staatsgerichtshof des Landes Hessen aus Art. 48 Abs. 2 HV den Abwehranspruch des Schülers ableiten, daß er nicht wider seinen Willen „einer unmittelbaren Beeinflussung“ im Sinne des Schulgebets ausgesetzt würde ([Fn. 5], S. 9). 15  BVerwGE 30, 29 (32 f.).

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f)  Es hieße, bei Art. 4 GG willkürlich mit anderem Maß messen als bei den anderen Grundrechten, wenn bereits legitime Einwirkungen der positiven Religionsausübung als Beeinträchtigung der negativen Grundrechtsfreiheit gewertet würden. – Nach Auffassung des Bundesverfassungsgerichts kann das in Art. 4 GG verkörperte Freiheitsrecht, von staatlichen Zwängen in weltanschaulich-religiösen Fragen unbehelligt zu bleiben, wegen der engen Beziehung der Glaubensfreiheit zur Menschenwürde einen Minderheitsschutz auch vor verhältnismäßig geringfügigen Beeinträchtigungen rechtfertigen – das jedoch unter dem Vorbehalt, daß die Inanspruchnahme dieses Schutzes nicht mit Rechten einer Bevölkerungsmehrheit auf Ausübung der Glaubensfreiheit kollidiert.16 Gerade dieser Vorbehalt greift beim Schulgebet ein, wo der negativen Glaubensfreiheit des einen die positive des anderen gegenübersteht und der Schutz der negativen Religionsausübung (durch Untersagung des Schulgebets) auf Kosten der positiven Grundrechtsfreiheit geht. Ein Mehr an negativer Freiheit weitet hier nicht die allgemeine Grundrechtssubstanz aus,17 sondern verkürzt die positive Freiheit. Ein Ausspielen der positiven Grundrechtlichkeit gegen die negative ist der Rechtsprechung fremd. So wird nicht jedweder mittelbare soziale Druck, der von der positiven Koalitionsbetätigung auf die Stellung des Nichtorganisierten ausgeht, schematisch als Grundrechtseingriff gewertet.18 Die Ausweichmöglichkeiten, die dem Schüler während des Schulgebetes offenstehen, genügen daher der Forderung, die Art. 4 Abs. 1 GG an den Staat erhebt: zumutbare Lösungsalternativen bereitzustellen, ein „System von Toleranz und partiellen Entpflichtungen“ (Adolf Arndt) zu entwickeln.19 2.  Eingriff in das „Recht auf Schweigen“? a)  Zum Schutzbereich der Religionsfreiheit gehört auch das Recht, grundsätzlich seine religiöse Überzeugung zu verschweigen. Dieses „Recht auf Schweigen“ (Anschütz) wird durch Art. 140 GG i. V. m. Art. 136 Abs. 3 WRV gesondert klargestellt.

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BVerfGE 35, 366 (376). Wie im Fall BVerfGE 35, 366 – 376. 18  Nach BVerfGE 20, 312 (322) darf ein „gewisser Druck“, der von einer Innung auf den einzelnen Handwerker ausgehen kann, „nicht überbewertet“ werden. Das BAG läßt im Bereich des Art. 9 Abs. 3 GG sogar „legitimen und sozial-adäquaten Druck“ explicite zu (AP Art. 9 GG Nr. 13). 19  Dazu näher Böckenförde, VVDStRL 28 (1970), S. 56 – 61, 65. 17 

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Der Staatsgerichtshof des Landes Hessen sieht dieses Recht dadurch verletzt, daß der Schüler, der am Schulgebet nicht teilnimmt, seine abweichende Überzeugung Tag für Tag offen bekunden müsse.20 b)  Diese Auffassung zieht sich den Einwand zu, daß sie in letzter Konsequenz die positive Bekenntnisfreiheit vom Boden aller öffentlichen Einrichtungen (Schulen, Krankenhäuser, Jugendstrafanstalten) ja weiterhin aus der allgemeinen (gesellschaftlichen) Öffentlichkeit verbannen müsse, um nicht den Anhänger einer abweichenden Überzeugung in die Verlegenheit zu bringen, seine Abweichung kundzugeben.21 Das Bundesverwaltungsgericht hat dieses argumentum ad absurdum weitergeführt dahin, daß kraft der negativen Bekenntnisfreiheit christlichen Schülern dann auch eine Morgenandacht vorenthalten werden müsse. Aus dieser Prämisse lasse sich auch die Abschaffung des Religionsunterrichts folgern, weil auf diese Weise Religionsunterschiede unsichtbar blieben, oder die Abschaffung der Wehrpflicht, weil diese die Geheimhaltung der Gewissensentscheidung des Wehrpflichtigen beeinträchtigte.22 c)  Diese Feststellungen werden durch eine systematische Überlegung bestätigt: Das Recht, seine religiöse Überzeugung geheim zu halten, wird in Art. 140 GG i. V. m. Art. 136 Abs. 3 WRV selbständig neben das Verbot des Zwanges zu einer religiösen Übung (Art. 136 Abs. 4 WRV) gestellt. Die Nichtteilnahme an einer solchen Übung wird damit nicht ohne weiteres als Offenbarung der religiösen Überzeugung gewertet. Andernfalls wäre Art. 136 Abs. 4 WRV überflüssig. Wer, legitimiert durch Art. 140 GG i. V. m. Art. 136 Abs. 4 WRV, die religiöse Eidesform nicht benutzt, leistet nicht ipso iure eine fundamentale Absage an das Christentum und gibt nicht notwendig ein Credo zum Agnostizismus ab. Diese Ablehnung der religiösen Eidesform kann geradezu Ausdruck einer christlichen Haltung sein.23 So deckt auch die schlichte Nichtteilnahme am Schulgebet nicht die motivierende Überzeugung auf. Hinter der Entscheidung können areligiöse wie religiöse, grundsätzliche wie pragmatische Gründe stehen. Das Recht zum Schweigen wird gar nicht berührt.

20 HessStGH (Fn. 5), S. 9. – Dagegen insbesondere: Hamel, NJW 1966, S. 19 – 21; Böcken­f örde DÖV 1966, S. 32 f. 21  So zutreffend Böckenförde (Fn. 19), S. 32. 22  BVerwG, VRspr. 21, Nr. 95, S. 385 (387). Bestätigend BVerwG, U. v. 30. 11. 1973, BVerwGE 44, 196 (200). 23  Aufschlußreich zur Eidesverweigerung schlechthin: BVerfGE 33, 23 – 35.

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3.  Verletzung des Übermaßverbotes? Es fragt sich dagegen, ob der einzelne Schüler oder der einzelne Träger des Elternrechts verlangen könnte, daß das Schulgebet durch eine religiöse Veranstaltung außerhalb des Unterrichtsraumes und außerhalb der Unterrichtszeit ersetzt werde.24 Als Begründung wäre an das Übermaßverbot zu denken, falls diese Alternative zum Schulgebet aus grundrechtlicher Sicht die schonendere Lösung für die Schüler darstellte. Jedoch setzt die Anwendbarkeit des Übermaßverbotes voraus, daß ein staatlicher Eingriff in den Schutzbereich eines Individualgrundrechts erfolgt.25 Die bloße Zulassung des Schulgebetes berührt das Grundrecht des nicht beteiligten Schülers thematisch noch nicht. Es fehlt am Grundrechtseingriff. 4.  Diskriminierung? a)  Die Zulassung des Schulgebets als solche enthält keine Benachteiligung derer, die nicht teilnehmen. Die Ungleichheit, die das Ergebnis freier Grundrechts­ entfaltung ist, verletzt weder Art. 3 Abs. 3 noch Art. 4 GG. Wenn sich an die unterschiedliche Grundrechtsbetätigung staatliche oder soziale Diskriminierungen knüpfen sollten, so läge der Verfassungsverstoß in diesen Maßnahmen, nicht im Schulgebet, an dem sie sich entzündeten.26 b)  Dagegen stellte sich die Frage einer ganz anderen Form von Diskriminierung, wenn nämlich das Grundrecht des Art. 4 GG auf der Linie des Staatsgerichtshofs des Landes Hessen als Bekenntnis-Verhinderungsrecht gedeutet oder wenn dem Grundrecht auf der Linie der vorliegenden Verfassungsbeschwerde ein laizistisches Trennungsmodell aufgepfropft werden sollte. Diskriminiert würde in beiden Fällen die positive Religionsausübung, die hinter der negativen zurückgesetzt würde. Es siegte die „Intoleranz der Negation“.27 Zugleich würde bei der Deutung der Religionsfreiheit als Religionsförderungsverbot dieses Grundrecht aus dem Zusammenhang der übrigen Grundrech24 

Zu dieser Alternative Podlech (Fn. 4), S. 108; Böckenförde (Fn. 1), S. 257. Dazu näher Lerche, Übermaß und Verfassungsrecht, 1961, S. 22 f. und passim. 26  Auf eine andere Ebene führt die Frage, welche Konsequenzen sich aus dem Paritätsgebot ergeben, wenn beim Schulgebet Wünsche von Eltern verschiedener Glaubensrichtungen konkurrieren. 27 Zitat: Martin Heckel, VVDStRL 26 (1968), S. 14. Die Tendenz, die negativen Aspekte des Art. 4 GG über die positiven zu stellen, wird verworfen von Böckenförde (Fn. 19), S.  32 – 36; Listl (Fn. 5), S. 279 f.; Scheuner (Fn. 2), S. 293 f. – Die Vereinbarkeit des Schulgebets mit dem Neutralitätsgebot wird begründet von: Böckenförde (Fn. 1), S. 255 f.; Lorenz (Fn. 1), S. 438 – 439. Allgemein: Scheuner (Fn. 2), S. 280, 292 – 294. 25 

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te gelöst, denen allgemein über die Abwehrfunktion gegen den Staat hinaus auch die Legitimierungsfunktion für staatliches Handeln zuerkannt wird. Die Grundrechte sind zugleich positive Staatsziele. Vollends verfehlt die einseitige Sicht der Grundrechte als Abwehrrechte den Sinn der Sozialstaatsklausel, die der Öffentlichen Gewalt das Mandat für die realen Bedingungen der Grundrechtsverwirklichung für alle Bürger zuweist.28 Das staatliche Mandat zur Grundrechtsaktivierung endet nicht vor Art. 4 GG.29 Diesem Grundrecht kommt eine hervorgehobene Stellung im Verfassungssystem zu – auf Grund der Nähe zur Menschenwürde, auf Grund des Fehlens eines Gesetzesvorbehalts, auf Grund seiner einmaligen Explikation und institutionellen Entfaltung über Art. 140 GG. Gerade deshalb kann diesem Grundrecht nicht die Funktion als Rechtfertigung staatlichen Handelns abgesprochen werden. Diese Legitimationsfunktion wirkt auch im Schulgebet. Die Rechtfertigung, deren alles Staatshandeln im Rechtsstaat bedarf, liegt darin, daß die Zulassung des Schulgebets als Grundrechtsofferte des Staates die Ausübung der positiven Religionsfreiheit ermöglicht.30

III. Ergebnis Die Verfassungsbeschwerde ist unbegründet.

28  Vgl. dazu Scheuner, DÖV 1971, S. 511 – 513; Martens/Häberle, VVDStRL 30 (1972), S. 7 ff., 43 ff. (bes. S. 102 – 120). 29 Vgl. Scheuner (Fn. 2), S. 293 f. 30  Von dieser objektiven Rechtfertigungsfunktion zu unterscheiden ist die Frage, ob das Individualgrundrecht des Art. 4 GG den Schülern bzw. Erziehungsberechtigten einen Anspruch auf die Zulassung des Schulgebetes einräumt.

Grundrechtliche Konsequenz wider geheiligte Tradition Der Streit um die Beschneidung* Grundrechtliche Konsequenz wider geheiligte Tradition. Der Streit um die Beschneidung Grundrechtliche Konsequenz wider geheiligte Tradition

Der Jahrtausende alte Ritus der Beschneidung stößt heute auf Widerstand im Grundrecht des Kindes auf körperliche Unversehrtheit. Das Grundrecht sucht Schutz durch das Wächteramt der staatlichen Gemeinschaft gegenüber der Tradition, die sich ihrerseits auf das Elternrecht und auf die Religionsfreiheit beruft. Wenn die Tradition aber keinen Rückhalt im individualistischen Grundrechtskonzept der Moderne mehr findet, erhebt sich die Frage, ob eben dieses Konzept das letzte Wort behält und ob nicht nach einem neuen Konzept zu suchen ist.

I.  Ein Strafurteil als Skandalon Seit langem hat kein Strafurteil in Deutschland so viel Aufsehen erregt wie das Urteil des Landgerichts Köln vom Mai dieses Jahres: daß die rituelle Beschneidung eines muslimischen Knaben durch einen muslimischen Arzt eine strafbare Körperverletzung bilde. Der operative Eingriff des Arztes werde nicht durch Einwilligung der Eltern gerechtfertigt. Deren gesetzliches Sorgerecht decke nur Erziehungsmaßnahmen, die dem Wohl des Kindes dienten. Die irreparable und dauerhafte Veränderung des Körpers aber laufe seinem Wohl zuwider. Das grundrechtliche Erziehungsrecht der Eltern finde seine Grenze in den Grundrechten des Kindes auf körperliche Unversehrtheit und auf religiöse Selbstbestimmung. Jedenfalls werde das elterliche Erziehungsrecht nicht unzumutbar beeinträchtigt, wenn sie gehalten seien, abzuwarten, bis sich der Knabe später, wenn er mündig sei, selber für diese Maßnahme entscheide.1 Die Entscheidung über einen Einzelfall trifft den Ritus der Weltreligion des Islam. Die stetig wachsende Minderheit der Muslime in Deutschland sieht sich in ihrer religiösen Ehre gekränkt. Die ohnehin schon schwierige Staatsaufgabe, die muslimischen Zuwanderer zu integrieren, stößt auf ein neues, strafrechtli*  Erstveröffentlichung in: Juristenzeitung 2013, S. 317 – 327. 1  LG Köln, in: JZ 2012, S. 805 f., 2128 f. mit Anm. Barbara Rox, in: JZ 2012, S. 806 ff.; Helmut Goerlich/Benno Zabel, Säkularer Staat und religiöses Recht, in: JZ 2012, S. 1058 ff. – Zum Stand der Judikatur und Literatur vor diesem Urteil Holm Putzke, Juristische Positionen zur religiösen Beschneidung, in: NJW 2008, S. 1568 ff. Sammlung kritischer Stimmen: Johannes Heil/Stephan Kramer (Hrsg.), Beschneidung: das Zeichen des Bundes in der Kritik, 2012.

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ches Hindernis. Mittelbar berührt das Verdikt der Beschneidung auch die Juden und verletzt deren Gefühle.2 Aber es tastet auch ein deutsches Tabu an, und es provoziert das kollektive Schuldbewußtsein der Deutschen. Eben darum erfährt das Urteil heftige moralische wie politische Schelte. Daß die Beschneidung als Körperverletzung im Sinne des Strafgesetzbuchs gekennzeichnet werde, sei pervers, so ein Publizist. Es handele sich um „sprachliche Produktion von Sadismus“, wenn im Jahre 2012 „eine jahrtausendealte Praxis wie die Beschneidung von deutschen Gerichten als Körperverletzung verurteilt wird und in Deutschland eine Debatte darüber beginnt, die Judentum und Körperverletzung in einen juristisch-semantischen Zusammenhang bringt, der einen sprachlos macht, in dem jüdische Eltern angeblich ihre eigenen Söhne verletzen, wo es einem doch erst einmal gereicht hätte, wenn die Justiz, die sich jetzt für Jahrtausende zuständig fühlt, damals sich nur für zwölf Jahre zuständig gefühlt hätte, als Deutsche und ihre Helfer nicht nur Körperverletzung an Juden betrieben, sondern Mord und Totschlag.“3 Das ist nicht die Sprache, in der Juristen Kritik an gerichtlichen Entscheidungen üben. Dem Kritiker geht es denn auch nicht um die Frage, ob eine Norm richtig interpretiert oder dogmatisch konsistent begründet worden sei. Vielmehr wird die juridische Anwendung des Rechts überhaupt in Frage gestellt, weil sie die Grenzen ihrer legitimen Möglichkeiten überschritten habe. Die juridische Logik bricht sich an einer geheiligten Tradition, die nach ihren biblischen Quellen auf den Bund Gottes mit dem Stammvater Abraham zurückgeht. Laut dem Buche Genesis sollte alles Männliche nach acht Tagen an seiner Vorhaut Fleisch beschnitten werden, Generation für Generation. „So sei mein Bund an eurem Fleisch zum ewigen Bunde! Doch wer gesund und dennoch unbeschnitten, wer nicht an seiner Vorhaut beschnitten, ein solches Wesen wird ausgerottet werden aus seinem Volk. Zerrissen hat es meinen Bund.“4 Und Abraham, so heißt es, beschnitt sogleich alles Männliche in seinem Haus; auch sich selber, damals 99 Jahre alt.5 Bis heute sieht das Judentum in der Beschneidung einen „zentralen Bestandteil“ seiner Identität.6 2 Repräsentativ

Heil/Kramer (Fn. 1), Vorwort, S. 9 ff. Frank Schirrmacher, Den Schmerz verdoppeln, in: FAZ v. 22. 9. 2012, Nr. 222, S. 31. Vgl. auch Daniel Krochmanlik, Mila und Shoa, in: Heil/Kramer (Fn. 1), S. 41 ff. 4  Genesis, 17, 10 – 14. 5  Genesis, 17, 23 f. Ein Exempel Exodus 4, 24 – 26. 6  Zentralrat der Juden in Deutschland, Stellungnahme zur Anhörung im Rechtsausschuß des Deutschen Bundestages am 26. 11. 2012, S. 2, 6 ff. (Zitat: S. 7); Micha Brumlik, Ein Urteil aus Köln – der Gesetzgeber vor dem Ernstfall, in: Heil/Kramer (Fn. 1), S. 228 (229 f.). – Zum Selbstverständnis des Islam die Stellungnahme des Zentralrats der Muslime vor dem Rechtsausschuß (a. a. O.), S. 2 f. – Zu Geschichte, Bedeutung und Praxis der Beschneidung im Judentum und im Islam: Hans Wißmann, Beschneidung, in: Theologische Realenzyklopädie, Bd. V, 1980, S. 716 ff.; Otto Betz, ebd., S. 716 ff.; Ferdinand 3 

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Das Problem ist, ob und wie die heutige Rechtsordnung diese Tradition aufnehmen und anerkennen kann. Die Position des Kölner Urteils, das einen Widerspruch aufdeckt, wenn nicht gar aufreißt, behält paradigmatische Bedeutung, unabhängig von der Intervention des Gesetzgebers, der, rasch auf das Urteil reagierend, die Beschneidung unter bestimmten Voraussetzungen für zulässig erklärt.7 Er will der Unklarheit ein schnelles Ende bereiten und mit einer Ad-hocRegelung verhindern, daß das Kölner Urteil Schule macht. Die Unklarheit hält an. Berolina locuta causa non finita. Wenn das Problembewußtsein einmal geweckt worden ist, dann kann das Gesetz es nicht wieder einschläfern. Die rechtliche Reflexion geht weiter. Der Streit hat sich an der Frage entzündet, ob die rituelle Beschneidung eines nicht einsichts- und urteilsfähigen Kindes eine strafbare Körperverletzung ist oder nicht.8 Die Tatbestandsmäßigkeit der Körperverletzung zieht die Rechtswidrigkeit nach sich, falls kein Rechtssatz das tatbestandliche Handeln gestattet. Als Rechtfertigungsgrund kommt die Einwilligung der Eltern in Betracht, denen die Personensorge für das noch nicht einwilligungsfähige Kind obliegt. Das strafrechtliche Unwerturteil hängt ab von den bürgerlichrechtlichen Vorgaben der Personensorge. Daher bestimmt das bürgerliche Recht, welchem Elternteil im Fall der Scheidung das Sorgerecht zukommt. So darf ein geschiedener, nicht sorgeberechtigter muslimischer Vater nicht aus religiösen Gründen seinen zwölfjährigen Sohn beschneiden lassen, wenn die allein sorgeberechtigte Mutter, die nicht Muslima ist, widerspricht.9 Das bürgerliche Recht umschreibt Gegenstand und Reichweite der Personensorge. Doch ob das bürgerliche Recht eine solche Einwilligung zu decken vermag, hängt ab von den Grundrechten der Beteiligten. So läuft die Frage der Rechtmäßigkeit letztlich auf die der Vereinbarkeit mit den Grundrechten hinaus.

Dexinger, ebd., S. 722 ff.; Johannes Heil, Beschneidung als Motiv in Alteritätsdiskursen und Judenfeindschaft, in: Heil/Kramer (Fn. 1), S. 23 ff.; Günter Jerouschek, Beschneidung und das deutsche Recht, in: NStZ 2008, S. 13 ff.; Begründung des Gesetzentwurfs der Bundesregierung: Entwurf eines Gesetzes über den Umfang der Personensorge bei einer Beschneidung des männlichen Kindes (Bundestag, Drs. 17/11295 v. 5. 11. 2012 [im folgenden: „Begründung der BReg“], S. 6 ff.). 7  Gesetz über den Umfang der Personensorge bei der Beschneidung eines männlichen Kindes, § 1631d BGB, BGBl 2012/I, S. 2749 f. 8  Die strafrechtliche Literatur zu dem Thema hat der Verfassungsdogmatik den Weg bereitet. Hervorzuheben sind die Arbeiten von Jerouschek (Fn. 6); Holm Putzke, Die strafrechtliche Relevanz der Beschneidung von Knaben, in: FS für Rolf Dietrich Herzberg, 2008, S. 669 (676 ff., 679 ff.); Rolf Dietrich Herzberg, Rechtliche Probleme der rituellen Beschneidung, in: JZ 2009, S. 336 ff. 9  OLG Frankfurt, in: NJW 2007, S. 3580 ff.

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II.  Prämissen des grundrechtlichen Diskurses 1.  Sichtweise und Sinngebung der Beschneidung In den Augen des Arztes ist die rituelle Beschneidung ein invasiver Eingriff. Das Fehlen der Vorhaut ist ein factum brutum. Geistige Bedeutung gewinnt es erst in einem bestimmten sozialen Kontext durch Interpretation. Dem Judentum wie dem Islam gilt es als Zeichen, das über sich hinausweist. Für sie gewinnt es den Status eines Symbols, des Symbols jüdischer oder islamischer Identität. Freilich taugt das Symbol nicht zum öffentlichen Bekenntnis, weil es unter zivilisierten Bedingungen schamhaft verborgen bleibt.10 Es eignet sich auch schwerlich zum Erkennungs- und Unterscheidungsmerkmal, weil es nicht exklusiv für eine Gruppe und nicht spezifisch für eine Sache steht. Der Rückschluß auf eine bestimmte religiöse Motivation ist unmöglich, weil auch religionsindifferentes Brauchtum sowie medizinische, hygienische, ästhetische und weitere Faktoren Einfluß haben können.11 Es heißt, weltweit seien heute 30% aller Männer beschnitten.12 Die rituelle Beschneidung hat also sowohl eine physische als auch eine geistige Natur. Das Verfassungsrecht kann sich nicht auf die physische beschränken und die geistige ausblenden, deshalb, weil religiöse Sinngebung außerhalb seines säkularen Wahrnehmungshorizonts liege. Soweit religiöse Sinngebung gesellschaftlich in Erscheinung tritt, ist diese als Emanation grundrechtlicher Freiheit zu achten und zu schützen, auch wenn dem staatlichen Recht das Urteil über die Wahrheit der Religion und die Richtigkeit des jeweiligen Glaubensverständnisses versagt ist. Daher kann es sich nicht über das orthodox-jüdische Verständnis der Zirkumzision hinwegsetzen, weil sich zahlreiche Juden vom traditionellen Brauch abkehren. Die Berufung des Muslim auf seine Religion verliert nicht darum an grundrechtlicher Plausibilität, weil die Beschneidung nicht im Koran ausdrücklich angeordnet wird.13 Die religiöse Natur vermag ihrerseits aber nicht, den 10  Freilich kennt die Geschichte der Verfolgung von Minderheiten Konstellationen, in denen das Vorhandensein oder das Fehlen des praeputium zum Erkennungszeichen wurde, so 1947 nach der Aufteilung des indischen Subkontinents, als Minderheiten (beschnittener) Muslime aus ihrer hinduistisch dominierten Heimat und Minderheiten (unbeschnittener) Hindus aus ihrer muslimisch dominierten Heimat fliehen und sich in der Fremde dem jeweiligen Mob als Freund oder Feind ausweisen mußten. Davon hing ab, ob sie gerettet oder gelyncht wurden. 11  Zu den disparaten Motiven: Begründung der BReg (Fn. 6), S. 6 ff.; Tonio Walter, Der Gesetzentwurf zur Beschneidung – Kritik und strafrechtliche Alternative, in: JZ 2012, S. 1110 f. 12  Zahlen: Begründung der BReg (Fn. 6), S. 5 ff. 13  Immerhin enthält der Koran aber die Aufforderung der „Religion des rechtgläubigen Abraham“ zu folgen (Sure 3, 97); im übrigen gibt es ausdrückliche Weisungen in der Sunna. Dazu Zentralrat der Juden (Fn. 6), S. 2; Tilman Nagel, Der Koran, 1998, S. 11 f.

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physischen Schnitt wegzuspiritualisieren. Wo immer Blut fließt, tritt der säkulare Staat auf den Plan. Die Amputation der Vorhaut ist irreversibel. Das gilt jedoch nicht für ihre Folgen im staatlichen Recht. Wenn die Beschneidung auch die Identifikation des Beschnittenen mit seiner Glaubensgemeinschaft symbolisiert, so gewährleistet das staatliche Recht ihm doch die Freiheit, sich aus der Gemeinschaft zu lösen und von seinem Glauben abzuwenden.14 Das gehört zur Religionsfreiheit. Dieselbe Freiheit garantiert aber der Religionsgemeinschaft, von sich aus die religiösen Folgen zu definieren und damit zu bestimmen, ob die Beschneidung im geistlichen Sinne unumkehrbar ist oder nicht, ob die Abkehr vom Glauben als Apostasie zu verwerfen oder zu dulden ist. Das deutsche Staatskirchenrecht sieht um der Religionsfreiheit willen die Option des Kirchenaustritts vor. Gleichwohl rührt es nicht an das sakramentale Verständnis der Taufe: daß diese dem Getauften einen character indelebilis verleiht und ein unauslöschliches Siegel aufprägt.15 2.  Das grundrechtliche Koordinationssystem Die Frage des Ausgleichs der religiösen Tradition mit den säkularen Grundrechten der modernen Verfassung wird von der Verfassung her gestellt und nach ihren grundrechtlichen Maßstäben beantwortet. Die grundrechtliche Ordnung ist individualistisch angelegt. Ihr Fundament ist die Würde des Individuums als Person und als Träger ursprunghafter Freiheit. Die Beschränkung der individuellen Freiheit durch das staatliche Recht bedarf der Rechtfertigung. Daher können die Eltern, welche die Beschneidung veranlassen, und die Person, die sie durchführt, sich gegenüber der Staatsgewalt auf ihre Grundrechte berufen, die in ihrer Abwehrfunktion aufleben. Gegen diese erhebt sich jedoch das Grundrecht des Kindes, das, grundrechtlich gesehen, Opfer der Beschneidung ist. Freilich richtet sich dieses Grundrecht nicht gegen den Beschneider und nicht gegen die Eltern, sondern gegen die Staatsgewalt, die hier nicht abgewehrt, sondern gefordert wird, vor dem privaten Übergriff zu schützen. Die Grundrechte in ihrer Abwehrfunktion auf der einen Seite und die in der Schutzfunktion auf der anderen ergeben das Dreieck Staat – Eltern (Täter) – Kind (Opfer).16 Es wird zu fragen sein, ob und gegebenenfalls wie sich die ebenfalls grundrechtlich gewährleistete Autonomie der Glaubensgemeinschaft in das individualistische Konzept fügt. Am Ende aber stellt sich die Frage, ob das individualisti14  Zum Kirchenaustritt Stefan Mückl, Kirchliche Organisation, in: HStR VII, 32009, § 160 Rn. 30 ff. 15  So das Konzil von Trient: Heinrich Denzinger, Enchiridion Symbolorum, 371991, n. 1624 – 1627. 16  Zu dieser Konstellation allgemein Josef Isensee, Das Grundrecht als Abwehrrecht und als staatliche Schutzpflicht, in: HStR IX, 32011, § 191 Rn. 1 ff., 47 ff., 217 ff. (Nachw.).

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sche Konzept überhaupt dazu taugt, einer geheiligten Tradition Maß zu nehmen und ob hier die Grenzen seiner Möglichkeiten überschritten werden.

III.  Grundrechte der Beteiligten 1.  Die abwehrrechtliche Position des Beschneiders Die Beschneidung muß sich an den Abwehrrechten des Beschneiders messen lassen. Soweit er Deutscher ist, professionell tätig, gleich, ob als Arzt approbiert oder nicht, kommt das Grundrecht der Berufsfreiheit (Art. 12 Abs. 1 GG) in Betracht; soweit es an einem dieser Merkmale fehlt, das Auffanggrundrecht der Allgemeinen Handlungsfreiheit (Art. 2 Abs. 1 GG), darüber hinaus, wenn er sich in den Dienst einer Religion stellt, auch die Freiheit der Religionsausübung (Art. 4 Abs. 1 und 2 GG). Doch keines dieser Grundrechte gibt ihm die Befugnis, aus eigener Machtvollkommenheit das nicht einwilligungs- und urteilsfähige Kind zu beschneiden, also in dessen Körper einzugreifen, auch nicht in einer medizinischen Behandlung lege artis. Die Freiheitsrechte gewährleisten ihrem Träger Selbstbestimmung, nicht aber Fremdbestimmung über einen anderen. Darin liegt die Grenze der möglichen Freiheit des Individuums, also die Grenze des grundrechtlichen Schutzbereichs.17 Aus eigener grundrechtlicher Kompetenz kann der Beschneider nicht operieren. Er ist angewiesen auf die Zustimmung des Betroffenen.18 Da das betroffene Kind jedoch nicht selber einwilligungsfähig ist, kommt es auf die (sorgeberechtigten) Eltern an, die für ihr Kind die Einwilligung erteilen. Die grundrechtliche Rechtfertigung verschiebt sich also vom Beschneider auf die Eltern und führt auf die Frage, ob die Eltern ihrerseits von ihrem grundrechtlichen Status her kompetent sind, eine rechtswirksame Einwilligung zu erteilen. 2.  Die abwehrrechtliche Position der Eltern Die Religionsfreiheit der Eltern bietet keine Grundlage.19 Denn auch dieses Freiheitsrecht hält sich in den Grenzen der Selbstbestimmung. Das Kind ist für 17  Isensee (Fn. 16), § 191 Rn. 97 ff., 231 ff. Konkret zur Beschneidung: Reinhard Merkel, Die Haut eines anderen, in: http://www.sueddeutsche.de/wissen/2.220/beschneidungsdebatte, S. 2 f. 18  Vgl. BVerfGE 128, 282 (301). 19 Zutreffend Matthias Jestaedt, Das elterliche Erziehungsrecht im Hinblick auf die Religion, in: Joseph Listl/Dietrich Pirson (Hrsg.), Handbuch des Staatskirchenrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. II, 21995, S. 371 (385 f.). Im Ergebnis auch Herzberg (Fn. 8), S. 336 ff. Dagegen Kyrill Schwarz, Verfassungsrechtliche Aspekte der religiösen Beschneidung, in: JZ 2008, S. 1125 (1128); Michael Germann, Die grundrechtliche Freiheit zur religionsbezogenen Beschneidung, in: Heil/Kramer (Fn. 1), S. 83 (89 f.). Undiffe-

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die Eltern ein anderer Mensch: Person, von Anfang an, ausgestattet mit eigenen Grundrechten. Mit dieser Erkenntnis verabschiedet sich die hergebrachte Vorstellung, daß das Kind rechtloses Substrat der elterlichen Gewalt und somit so etwas wie ihr Eigentum sei. Die Religionsfreiheit ermächtigt nicht, über das Kind rechtlich zu verfügen, auch nicht deshalb, weil die Beschneidung „von zentraler Bedeutung für das kulturell-religiöse Selbstverständnis“ der Eltern ist.20 Denn das Selbstverständnis eines Grundrechtsträgers vermag nicht, eine Grundrechtskollision einseitig aufzulösen und sich auf Kosten der objektiven Position des anderen Grundrechtsträgers zu verwirklichen.21 Wenn überhaupt, so kommt für eine Disposition der Eltern nur das Elternrecht in Betracht.22 Die Eltern nehmen die grundrechtlichen, damit auch die religiösen Belange des Kindes treuhänderisch wahr, soweit das Kind noch nicht grundrechtsmündig ist. Der grundrechtliche Tatbestand korrespondiert dem bürgerlichrechtlichen der elterlichen Sorge (§ 1627 S. 1 BGB). Die Eltern sorgen für das physische wie das seelische Wohl des Kindes und bestimmen von sich aus, was dieses erheischt. Sie entscheiden damit auch über die Zugehörigkeit zu einer Religion. Sie bestimmen über die religiöse Erziehung,23 und in erster Linie sind sie es, die diese Erziehung leisten. Damit können sie nachhaltig die Psyche des Kindes prägen, wie immer es sich später entwickeln wird. Die Eltern sind Schicksal, und sie bereiten Schicksal. Grundrechtlich gesehen, besteht keine Notwendigkeit für die Eltern, die Entscheidung über die Religion aufzuschieben, bis das Kind religionsmündig geworden ist, und sie ihm selbst zu überlassen. Eine Pflicht zum Aufschub spräche wider die Erziehung überhaupt. Die religiöse Erziehung aber gehört zur Kernkompetenz des Elternrechts. Das bedeutet nicht, daß das Recht zur religiösen Kindererziehung die Einwilligung in die Beschneidung ohne weiteres abdeckte.24 Sie deckt die elterliche Entscheidung über die Aufnahme in die Religionsgemeinschaft. Das aber ist nur die spirituelle Dimension des Initiationsrituals. Dagegen wehrt sich das Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit gegen die Amputation der Vorhaut, also gegen renzierte menschenrechtliche Berufung auf die Religionsfreiheit: Heiner Bielefeld, Menschenrecht kein Sonderrecht, in: Heil/Kramer (Fn. 1), S. 71 ff. 20  So aber Schwarz (Fn. 19), S. 1128. 21  Josef Isensee, Wer definiert die Freiheitsrechte?, 1980, S. 29 ff. 22 Vereinbarkeit mit dem Elternrecht bzw. der Religionsfreiheit: Jestaedt (Fn. 19), S. 394; Schwarz (Fn. 19), S. 1128 f.; Begründung der BReg (Fn. 6), S. 16. Ablehnend Jerouschek (Fn. 6), S. 318; Putzke (Fn. 1), S. 705 ff.; Herzberg (Fn. 19), S. 333 ff. Unentschieden Wolfram Höfling, Elternrecht, in: HStR VII, 32009, § 155 Rn. 85 („konkrete Umstände des Einzelfalls“); Rox (Fn. 1), S. 808. 23  Jestaedt (Fn. 19), S. 371, 375 ff.; Germann (Fn. 19), S. 90 f. 24  Jestaedt (Fn. 19), S. 394; Schwarz (Fn. 19), S. 1128 f. Ablehnend Jerouschek (Fn. 6), S. 318; Putzke (Fn. 1), S. 705 ff.; Putzke (Fn. 8), S. 697 ff.; Herzberg (Fn. 19), S. 333 ff.

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die physische Dimension der Beschneidung. Das elterliche Erziehungsrecht gibt nicht die gleiche Freiheit über das Kind, wie sie der Erwachsene für sich selbst beanspruchen kann. Diesen schützen seine Grundrechte nicht vor sich selbst.25 Das Kind aber bedarf auch in grundrechtlicher Hinsicht eines Schutzes vor seinen Eltern. Diesen leistet die staatliche Gemeinschaft, indem sie über die Ausübung des Elternrechts wacht (Art. 6 Abs. 2 S. 2 GG).26 Ihre Sache ist es freilich nicht, das Wohl des Kindes zu optimieren, sondern nur, zu verhindern, daß das Kind keinen Schaden erleidet, vor allem keinen körperlichen Schaden. Das Elternrecht lebt aus dem Grundvertrauen darauf, daß die Eltern das Beste für das Kind wollen und in der Regel sein Wohl nicht gefährden. Doch das Vertrauen hält sich in den Grenzen des Tatbestandes, es hebt dessen Grenzen nicht auf, und es setzt sich über die körperliche Unversehrtheit des Kindes nicht hinweg. 3.  Schutz der körperlichen Unversehrtheit des Kindes a)  Tatbestandliche Körperverletzung Der Schutz der körperlichen Unversehrtheit ist nicht bloßer Reflex des staatlichen Wächteramtes, sondern Gegenstand eines eigenen Kindesgrundrechts. Das Kind ist Träger des Rechts auf Leben und körperliche Unversehrtheit. Es steht also den Eltern als eigenes Grundrechtssubjekt gegenüber, auch wenn diese, soweit es um die Ausübung geht, die Grundrechte treuhänderisch wahrnehmen. Die staatliche Schutzpflicht lebt auf, wenn die Eltern die physische Integrität des Jungen verletzen oder die Verletzung anordnen, ohne sich dafür rechtfertigen zu können. Der grundrechtliche Tatbestand, der die Schutzpflicht für die körperliche Unversehrtheit auslöst, entfällt nicht deshalb, weil die Zirkumzision zu einem religiösen Ritual gehört.27 Die tatbestandlichen Voraussetzungen für den grundrechtlichen Schutz der körperlichen Unversehrtheit entsprechen weitgehend dem strafrechtlichen Tatbestand der Körperverletzung.28 Tatbestandlich relevant ist der physische Akt, nicht die religiöse Bedeutung. Es geht um die Wahrung von Körperinteressen, nicht um Spiritualität. Außerhalb des Grundrechtstatbestandes halten sich freilich leichte körperliche Berührungen, wie sie das Ausgießen 25  Ingo von Münch, Grundrechtsschutz vor sich selbst?, in: FS für Hans Peter Ipsen, 1977, S. 113 ff.; Christian Hillgruber, Der Schutz des Menschen vor sich selbst, 1992, S. 111 ff., 121 ff.; Isensee (Fn. 16), § 191 Rn. 244 ff. Andere Sicht aber BVerfGE 90, 145 (172) – Cannabis. 26  Zum Wächteramt des Staates nach Art. 6 Abs. 2 S. 2 GG als Emanation der grundrechtlichen Schutzpflicht Isensee (Fn. 16), § 191 Rn. 38 ff. Vgl. auch Höfling (Fn. 22), § 155 Rn. 82 ff. 27  So aber im Ergebnis Goerlich/Zabel (Fn. 1), S. 1059. 28  Allgemein zum Tatbestand der Schutzpflicht Isensee (Fn. 16), § 191 Rn. 218, 222 ff.

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des Taufwassers auf den Täufling oder der sanfte Wangenstreich des Bischofs in der Firmung darstellen.29 Diese sind unerheblich, weil sie nicht die Physis verletzen, nicht aber deshalb, weil sie innerhalb einer liturgischen Zeremonie erfolgen. Strafrechtlich gesehen, ist das Abschneiden des Praeputiums eine körperliche Mißhandlung im Sinne des § 223 Abs. 1 StGB:30 als dauerhafter, irreversibler Eingriff, der unter Risiken erfolgt, und Komplikationen nach sich ziehen und das Schmerzgedächtnis nachhaltig belasten kann.31 Vollends provoziert sie das staatliche Wächteramt, wenn sie in herkömmlicher Form ohne Narkose erfolgt32 oder wenn die Narkose nicht den Regeln ärztlicher Kunst genügt. Außerhalb des Tatbestandes hält sich dagegen eine in Israel geübte minimalistische Form des Initiationsritus, die sich mit der Entnahme eines Tropfens Blut bescheidet. Eine körperliche Mißhandlung kann nicht mit der Annahme ausgeschlossen werden, daß die Beschneidung, millionenfach in der Welt praktiziert, sozialadäquat sei. Statistische Häufigkeit ist kein negatives Tatbestandsmerkmal. Der diffuse, sinnvariable Topos der Sozialadäquanz, den die Strafrechtsdogmatik hier als Moment des Tatbestandes, dort als Moment der Rechtswidrigkeit verwendet, erfaßt Belästigungen des persönlichen Wohlbefindens, die noch nicht die Schwelle zur Verletzung eines Rechtsguts überschreiten, und Freiheitsbeschränkungen, die als unvermeidliche Folgen des gesellschaftlichen Daseins hinzunehmen sind.33 29  So zur strafrechtlichen Seite Herzberg (Fn. 19), S. 323. Ebenso Jerouschek (Fn. 6), S. 314 ff. Gegenposition: keine erhebliche Mißhandlung: Schwarz (Fn. 19), S. 1128; Bijan Fateh-Moghadam, Religiöse Rechtfertigung?, in: RW 2010, S. 115 (134 f.). Allgemein zum Bagatellvorbehalt der grundrechtlichen Schutzpflicht Isensee (Fn. 16), § 191 Rn. 239. 30  Strafbare Körperverletzung bejahen Jerouschek (Fn. 6), S. 317 f.; Putzke (Fn. 1), S. 673 ff.; ders. (Fn. 8), S. 673 ff.; ders., Rechtliche Grenzen der Zirkumzision bei Minderjährigen, in: MedR (2008), S. 268 ff.; Herzberg (Fn. 19), S. 323 ff.; Theodor Lenckner/Detlef Sternberg-Lieben, in: Schönke/Schröder, StGB, 282010, Vorbem. zu §§ 32 ff. Rn. 41; Kristian Kühl, in: Lackner/Kühl, StGB, 272011, Vorbem. zu den §§ 32 ff. Rn. 16; Rox (Fn. 1), S. 807 Dagegen hält Herbert Tröndle die traditionelle Beschneidung für tatbestandslos (StGB, 481997, § 223 Rn. 16a); ebenso Goerlich/Zabel (Fn. 1), S. 1059. 31  Zur Praxis der Beschneidung: Zentralrat der Juden (Fn. 6), S. 8. Die Einschätzungen der Komplikationen und Risiken schwanken erheblich, desgleichen die statistischen Angaben. Beispiele: die Angaben des Zentralrats der Juden, ebd., S. 2, 9; Wolfram Hartmann, Präsident des Berufsverbands der Kinder- und Jugendärzte zur Bundestags-Anhörung am 26. November 2012, S. 4 f.; Antje Yael-Deusel, Medizinische Aspekte der Brit Mila, in: Heil/Kramer (Fn. 1), S. 181 ff.; Begründung der BReg (Fn. 6), S. 9. 32  Herkömmlich wird die Beschneidung ohne Betäubung durchgeführt. Dazu Jerouschek (Fn. 6), S. 316. Vgl. auch die Begründung der BReg (Fn. 6), S. 8 f. 33 In diesem Sinne der Vater des Begriffs Hans Welzel, Das deutsche Strafrecht, 6 1958, S. 74, 114 f. – Zu der schwindenden Bedeutung der Kategorie: Albin Eser, „Sozialadäquanz“ eine überflüssige oder unverzichtbare Rechtsfigur?, in: FS für Claus Roxin, 2001, S. 199 ff.; Claus Roxin, Strafrecht AT, 42006, S. 295 ff.; Hans-Ullrich Paeffgen, in: Kindhäuser/Neumann/Paeffgen (Hrsg.), StGB, 32010, Vorbem. zu § 32 Rn. 28 ff.; Georg Freund, in: Münchener Kommentar zum StGB, 22011, Vorbem. zu den §§ 13 ff. Rn. 159 f.

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Die Kategorie der Sozialadäquanz, falls nicht überhaupt überflüssig, ist auf die Amputation der Vorhaut nicht anwendbar.34 Die Schutzpflicht bezieht sich auf die Abwehr von Gefahren. Es kommt nicht darauf an, ob die Eltern ein Verschulden trifft oder nicht.35 Daher ist es unerheblich, ob sie in guter Absicht handeln oder ob ihnen „rohe Gesinnung“ vorzuwerfen ist.36 b)  Rechtfertigung der Körperverletzung Allein der Eingriff, den die Eltern veranlassen, reicht nicht, um die Schutzpflicht auszulösen. Vielmehr muß sich der Eingriff als Übergriff darstellen: als verfassungsrechtlich mißbilligte Beeinträchtigung der grundrechtlichen Position des Kindes. Die Rechtswidrigkeit des privaten Eingriffs muß positiv festgestellt werden; sie ergibt sich nicht ipso iure aus der Feststellung, daß ein Eingriff vorliegt.37 Die Beschneidung ist gerechtfertigt, wenn sie medizinisch notwendig ist wie im Fall der Phimose. Generell obliegt den Eltern die Sorge für die Gesundheit des Kindes. Ist es krank oder in Lebensgefahr, so sind sie es, welche die Einwilligung in ärztliche Maßnahmen erteilen, soweit sie der Einwilligung bedürfen. Dagegen ergibt sich kein hinreichender Grund dafür, im frühkindlichen Alter die Vorhaut zu entfernen in der Besorgnis, daß andernfalls im Erwachsenenalter hygienische Defekte oder gesundheitliche Risiken auftreten könnten. Die Prophylaxe kann warten, bis die Person selbst einsichts- und urteilsfähig geworden ist. Bloße Vorsorge wider virtuelle, entfernte, spätere Gefahren rechtfertigt nicht hic et nunc die irreversible, ihrerseits mit potentiell schädlichen Folgen belastete Amputation,38 die im übrigen – wie bei jeder Operation – unter aktuellen Risiken erfolgt. Eine Blinddarm- oder Prostataoperation als Prophylaxe ins Blaue hinein wäre nicht anders zu beurteilen.39 Vollends sind kosmetische Motive nicht tragfähig.40 Wenn ein Bagatelleingriff wie der Durchstich für Ohrringe unbedenklich sein mag, so ist das kein Analogon für einen invasiven Eingriff mit erheblichen Folgen.41 Ein 34 

So im Ergebnis LG Köln (Fn. 1), S. 2129; Jerouschek (Fn. 6), S. 317; Putzke (Fn. 1), S. 679 f.; Herzberg (Fn. 19), S. 338; Rox (Fn. 1), S. 807. 35  Isensee (Fn. 16), § 191 Rn. 242. 36  A. A. Schwarz (Fn. 19), S. 1128. 37  Isensee (Fn. 16), § 191 Rn. 225 ff. 38  Anders Begründung der BReg (Fn. 6), S. 16. Zu physischen und psychischen Folgen der Zirkumzision Jerouschek (Fn. 6), S. 316; Putzke (Fn. 8), S. 688 ff. 39  Putzke (Fn. 38), S. 688 ff., 692 f.; Herzberg (Fn. 19), S. 334. 40  Putzke (Fn. 38), S. 696 f. 41  Zum Elternrecht in Fragen der „wunscherfüllenden Medizin“ Höfling (Fn. 22), § 155 Rn. 82.

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geläufiges rechtspolitisches Argument geht dahin, daß ein strafrechtliches Verbot eines medizinischen Eingriffs das Übel vergrößern kann, das es unterbinden will, dadurch nämlich, daß sich die inkriminierten Vorgänge in die illegale Szene der Kurpfuscher verlagern und damit unabsehbare, unkontrollierbare Gefahren für die Gesundheit des Kindes aufkommen könnten. Das Bundesverfassungsgericht hat sich auf vergleichbare Einwände wider die Strafbarkeit der Abtreibung nicht eingelassen42 – zu Recht.43 Zur Rechtfertigung wird auch ein sozialer Grund genannt: die Beschneidung nehme den Jungen in die muslimische bzw. jüdische Gemeinde auf, verschaffe ihm Akzeptanz und vermittle ihm Identität.44 Zweifel erheben sich, ob das Argument der Abwägung nach dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit standhält. Jedenfalls besteht es nicht die Probe am Grundsatz der Erforderlichkeit. Das angestrebte Ziel läßt sich auch und schonender erreichen, wenn der Betroffene die Volljährigkeit erreicht hat und selber entscheiden kann. Dann nämlich entfallen alle grundrechtlichen Bedenken. c)  Das religiöse Argument Gewicht hat dagegen das religiöse Argument. Das Schrifttum rechtfertigt die rituelle Beschneidung aus dem Recht zur religiösen Kindererziehung, die Bestandteil des Elternrechts ist. Die Beschneidung, jedenfalls die nach jüdischem Ritus, wird mit der Taufe nach christlichem Ritus verglichen.45 Daß aber die Kindertaufe vom Elternrecht abgedeckt wird, ist herrschendes Verfassungsverständnis.46 Das Bundesverfassungsgericht sieht keine Beeinträchtigung der Glaubens- und Bekenntnisfreiheit des Kindes darin, daß nicht auf seinen (noch gar nicht existenten) Willen abgestellt wird, sondern auf den seiner sorgeberechtigten Eltern, solange es sein Grundrecht noch nicht selbst ausüben kann. Unbedenklich sei daher, daß die Taufe nach christlicher Lehre die Kirchenmitgliedschaft begründe. Belastende Rechtsfolgen für das Kind würden in der Regel erst 42  BVerfGE 39, 1 (58 ff.). Vgl. auch BVerfGE 88, 203 (279). Dagegen das Sondervotum Rupp- v. Brünneck/Simon, BVerfGE 39, 68 (83 f.). 43  S. auch Jerouschek (Fn. 6), S. 319; Herzberg (Fn. 19), S. 338 f.; Walter (Fn. 11), S. 1113. 44  Zentralrat der Juden (Fn. 6), S. 2, 6 f., 9; Zentralrat der Muslime (Fn. 6), S. 2, 7. These der rechtlichen Irrelevanz des Motivs: Putzke (Fn. 30), S. 701; Herzberg (Fn. 19), S. 334 ff. 45  Jestaedt (Fn. 19), S. 394. 46  Vgl. BVerfGE 30, 415 (424); Axel Freiherr v. Campenhausen, Die staatskirchenrechtliche Bedeutung des kirchlichen Mitgliedschaftsrechts, in: Listl/Pirson (Fn. 19), S. 755 (769 f.); Heiner Marré, Das kirchliche Besteuerungsrecht, ebd., S. 1101 (1119). – Daß es darüber hinaus theologische Kontroversen gibt, zumal zwischen verschiedenen Konfessionen, ist für die Interpretation des Art. 6 Abs. 2 GG unerheblich.

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an die Taufe anknüpfen, zu einem Zeitpunkt, an dem es die Religionsmündigkeit erlangt habe und jederzeit durch Austritt seine Mitgliedschaft mit Wirkung für den Staat beenden könne.47 Diese Rechtfertigung bezieht sich auf die Anknüpfung des staatlichen Rechts an die Taufe und auf deren säkular-rechtliche Folgen, nicht aber auf den kirchlichen Akt als solchen, vollends nicht auf ihren sakramentalen Charakter. Dieser liegt jenseits des staatlichen Wahrnehmungsund Regelungshorizonts. Auch wenn nach kirchlichem Verständnis die Taufe ein unauslöschliches Siegel bildet, sind die säkular-rechtlichen Folgen jederzeit reversibel.48 Gleiches gilt für die rituelle Beschneidung in ihren spirituellen Aspekten. Der Staat darf ihre religiöse, kulturelle und soziale Bedeutung, die sie für die Beteiligten hat, nicht zensieren. Er ist nicht dazu befugt, die Glaubensund Bekenntnisfreiheit des religionsunmündigen Kindes gegen die elterlichen Entscheidungen zu verteidigen. Jedoch verteidigt er Leib und Leben, wenn von seiten der Eltern Schaden droht.49 Im Unterschied zur Taufe ist die Zirkumzision aber – auch – ein Eingriff in die Physis des Kindes. Zu deren Schutz ist sein Wächteramt da. Die „Ausstrahlungswirkung“, die das Bundesverfassungsgericht der Religionsfreiheit zuerkennt,50 ergibt kein Argument dafür, aus dem Elternrecht zur religiösen Erziehung das Recht zum körperlichen Eingriff abzuleiten.51 Der Sachverhalt, der zu entscheiden war, bietet zu solcher Folgerung keinen Anlaß: Nach der Geburt ihres vierten Kindes war eine Frau gestorben, weil sie abgelehnt hatte, sich ärztlichem Rat gemäß in Krankenhausbehandlung zu begeben und einer Bluttransfusion zu unterziehen. Das Strafgericht warf dem Ehemann vor, daß er seinen Einfluß auf die Ehefrau nicht im Sinne der Ärzte geltend gemacht habe, und verurteilte ihn wegen unterlassener Hilfeleistung.52 Beide Eheleute, Mitglieder einer protestantischen Sekte, hatten aus religiösen Gründen die angeratene Heilbehandlung abgelehnt aus der Überzeugung, daß das Gebet zu Gott der „bessere Weg“ sei als eine medizinische Behandlung. Die schwerkranke Ehefrau hatte für sich selbst entschieden; der Ehemann, der die Glaubensüberzeugung seiner Frau teilte, hatte ihren Willen respektiert.53 Ein Übergriff in die Rechtssphäre der Frau fand also nicht statt. Einen Übergriff hätte das Bundesverfassungsgericht auch nicht gebilligt. Denn es sagt ausdrücklich, die Pflichten, die der Ehemann gegenüber seinen Kindern habe, hätten „selbst47 

BVerfGE 30, 415 (424). Vgl. auch Jestaedt (Fn. 19), S. 373, 394. s. o. II. 1. 49  So allgemein Jestaedt, ohne Bezug auf die Beschneidung, die er für grundrechtlich legitim hält (Fn. 19, S. 382, 394). 50  BVerfGE 32, 98 (108). 51  Anders aber Goerlich/Zabel (Fn. 1), S. 1061. 52  § 330c StGB a. F., jetzt § 323c StGB. 53  Zutreffende Analyse Hillgruber (Fn. 25), S. 95. 48 

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verständlich“ zu einer anderen Beurteilung geführt, wenn er unter dem Vorwand der eigenen Glaubensüberzeugung den Tod seiner Ehefrau hingenommen hätte, um seinen Kindern die Mutter zu nehmen.54 Der Fall ist also nicht zu vergleichen mit dem der Beschneidung. Der religiöse Zweck heiligt nicht jedwedes Mittel. Daher entzieht sich die Beschneidung nicht schon deshalb der grundrechtlichen Kritik, weil sie zu einem religiösen Ritual gehört. Immerhin gibt es Riten, die – nicht zuletzt aus grund- und menschenrechtlicher Sicht – hierzulande schlechthin als verwerflich angesehen werden. Das gilt vornehmlich für die Beschneidung der weiblichen Genitalien, wie sie in bestimmten Gegenden Afrikas, aber auch in lateinamerikanischen und asiatischen Ländern üblich ist, und neuerlich auch auf deutschem Boden in Zuwandererfamilien praktiziert wird.55 Man machte es sich zu leicht, wenn man dieser Operation schlichtweg die religiöse Eigenschaft abspräche („religiös“ im Sinne der Grundrechte) und sie lediglich als minder schutzwürdiges Brauchtum behandelte. Religion und Brauchtum bilden vielfach eine Einheit, die sich nicht mit externer Begrifflichkeit auflösen läßt. Im übrigen beschränkt sich die jüdische Beschneidung nicht nur auf orthodoxe Juden; sie kann auch für „liberale“ ein Bekenntnis zu ihrer Herkunftsgemeinschaft bilden. Die Operation an den weiblichen wie an den männlichen Geschlechtsorganen ist eine Verletzung der körperlichen Unversehrtheit im strafrechtlichen wie im grundrechtlichen Sinne.56 Die tatbestandliche Qualität ist gleich. Schlechthin ungleich ist dagegen die rechtliche Bewertung.57 Die Beschneidung von Mädchen und Frauen wird als gefährliche oder sogar als schwere Körperverletzung (§§ 224, 226 StGB), unter Umständen auch als Mißhandlung von Schutzbefohlenen geahndet (§ 225 StGB), als schwerwiegende Verletzung der Grund- und Menschenrechte der Einwilligung der Eltern entzogen.58 Die rechtspolitische, teilweise auch die juridische Diskussion stellt allein auf die krasseste Form, die Genitalverstümmelung, ab und 54 

BVerfGE 32, 98 (111). Geschichte Wißmann (Fn. 6), S. 714 ff. Zur Praxis: Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage der FDP-Fraktion, in: BT-Dr 16/1391, S. 4 ff.; Marion Rosenke, Die Verstümmelung weiblicher Geschlechtsorgane, in: ZRP 2001, S. 377 ff. Vgl. auch Diana Kuring, Weibliche Genitalverstümmelung in Eritrea, 2008. – Die Strafbarkeit wird bejaht von Thomas Fischer, Strafgesetzbuch, 592012, § 223 Rn. 6d. 56  So aus strafrechtlicher Sicht Herzberg (Fn. 19), S. 333; Walter (Fn. 11), S. 1112 f. 57 Die rechtliche Ungleichbehandlung lassen Herzberg (Fn. 19, S. 333) und Walter (Fn. 11, S. 1112 f.) nicht gelten. 58  Begründung der BReg (Fn. 6), S. 13 f., 17. In Deutschland wird sogar gefordert, einen eigenen Straftatbestand für die Genitalverstümmelung einzuführen. So die rechtspolitische Forderung von Rosenke (Fn. 55), S. 379 ff.; Jörg-Uwe Hahn, Genitalverstümmelung: Wirksamer Opferschutz durch einen eigenen Straftatbestand, in: ZRP 2010, S. 37 ff.; Andrea Hagemeier/Jens Bülte, Zum Vorschlag eines neuen § 226a StGB zur Bestrafung der Genitalverstümmelung, in: JZ 2010, S. 406 ff. 55  Zur

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unterscheidet nicht die schonenderen Formen.59 Sie mißt hier die Geschlechter nach mehrerlei Maß, ohne sich vor dem Gleichheitssatz zu rechtfertigen.60 Außer Streit steht aber, daß die echte Genitalverstümmelung unter das straf- und verfassungsrechtliche Verdikt fällt. Sie tastet die Menschenwürde des Opfers an, die im Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit Ausdruck findet.61 Diese schwere Mißhandlung ist unvereinbar mit dem deutschen ordre public und ließe sich auch nicht durch Gesetz dem deutschen Recht einfügen. Dieses Ergebnis ist aber nicht übertragbar auf die Beschneidung von Knaben nach jüdischer wie auch nach islamischer Observanz. Jenseits des mit dem ordre public Verträglichen läge ein Rückfall in den Atavismus eines religiösen Menschenopfers in der Nachfolge des Patriarchen Abraham, der, wie die Bibel berichtet, sich auf Gottes Befehl rüstete, seinen Erstgeborenen Isaak zu töten. Daß dies nur eine Probe auf den Gehorsam war und Gott selbst Einhalt gebot,62 markierte eine Entwicklungsstufe in der Geschichte der Menschheit. Man mag die Beschneidung als Ablöse eines solchen furchtbaren Rituals deuten, wie auf der nächsten Entwicklungsstufe die christliche Urgemeinde die fleischliche Komponente der Beschneidung ablöste durch die Taufe, in der das jüdische Initiationsritual in spiritualisierter Form als „Beschneidung des Herzens dem Geiste, nicht dem Buchstaben nach“ fortlebt.63 Der säkulare Staat aber kann dem Sublimierungsprozeß nicht nachhelfen und von sich aus vorschreiben, wie man Jude oder Muslim wird.

59  Laut BGH NJW 2005, S. 672 (673) – zustimmend zitiert in der Begründung der BReg (Fn. 6, S. 14) – verbietet sich die Unterscheidung nach der Art der Verstümmelung, denn in allen Fällen liege eine „grausame, folgenschwere und durch nichts zu rechtfertigende Misshandlung“ vor. 60  Walter (Fn. 11), S. 1112 f. 61  Zu den Grundrechten als Medium der Menschenwürde Josef Isensee, Würde des Menschen, in: HGR IV, 2011, § 87 Rn. 111 ff. 62  Genesis 22. 63  Paulus in Röm 2, 27 – 29. Vgl. auch Kol 2, 11; Phil 3, 3; Gal 5, 6; Apg 15. Dazu Betz (Fn. 6), S. 719 ff. Die Kirche spricht der Beschneidung den Charakter eines alttestamentarischen Sakraments zu: Denzinger (Fn. 15), n. 780; Thomas, Summa theologiae III, q. 70, a. 1 ff.; Karl Rahner, Beschneidung, theologisch, in: Lexikon für Theologie und Kirche, 2. Bd., 21958, Sp. 291.

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IV.  Grundrechtlicher Sonderstatus religiös begründeten Handelns? 1.  Individualrechtlicher Ansatz Eine Leitvorstellung der Grundrechtsinterpretation geht dahin, daß derjenige, der frei sein soll, in letzter Instanz zu entscheiden habe, was Freiheit sei.64 Folglich müsse der Träger der Religionsfreiheit darüber befinden, was Glauben im grundrechtlichen Sinne bedeute und welche Akte als Religionsausübung zu behandeln seien. Eine solche subjektivierende Betrachtungsweise von den Grundrechtsträgern her erlöse den religionsneutralen Staat aus der Verlegenheit, von sich aus über ihm wesensfremde Sachverhalte judizieren zu müssen.65 Auf dieser Prämisse baut die Rechtsmeinung, daß die rituelle Beschneidung nach dem Selbstverständnis der Eltern als religiöser Akt („sinnstiftende Integration und Anerkennung als Person“66) zu qualifizieren sei und schon deshalb keine Körperverletzung sein könne.67 Doch die Prämisse ist nicht haltbar. Die Religionsfreiheit, das Elternrecht wie die anderen Grundrechte sind Bestandteile der staatlichen Rechtsordnung. Das Grundrecht der Religionsfreiheit öffnet sich zwar dem Selbstverständnis des Grundrechtsträgers. Doch ob und wieweit es sich öffnet, bestimmt nicht dieser, sondern das Grundrecht. Sein Träger erkennt der Beschneidung religiöse Bedeutung zu. Doch ob der Akt damit auch als religiös im Sinne der Grundrechte aus Art. 4 und Art. 6 Abs. 2 GG gilt, entscheidet sich nach den weltlichen Kriterien der staatlichen Verfassung. Die Begriffe „Glaube“, „religiöses Bekenntnis“ und „Religionsausübung“ in Art. 4 GG sind keine religiösen, sondern säkulare Begriffe, nicht subjektive Prätentionen, sondern objektive Vorgaben. Die Grundrechte bieten dem Einzelnen rechtliche Räume, sich in seiner Subjektivität zu entfalten, nicht aber über Art, Reichweite und Grenzen dieser Räume zu disponieren. Denn damit könnte er über den Freiraum der anderen bestimmen. Da diese das gleiche Recht über ihn beanspruchen könnten, schlüge grundrechtliche Freiheit um in Anarchie. Daher bietet das Grundrecht der Eltern zur religiösen Erziehung keine Ermächtigung dazu, die Amputation der Vorhaut als exklusiv 64 

Klassische Formulierung Carl Schmitt, Freiheitsrechte und institutionelle Garantien (1931), in: ders., Verfassungsrechtliche Aufsätze aus den Jahren 1924 – 1954, 1958, S. 140 (167). 65  Zu der grundsätzlichen Kontroverse zwischen subjektivierender und objektivierender Betrachtungsweise Isensee (Fn. 21); ders. (Fn. 16), § 191 Rn. 73 ff.; Wolfram Höfling, Offene Grundrechtspositionen, 1987, S. 15 ff.; Martin Morlok, Selbstverständnis als Rechtskriterium, 1993; Stefan Muckel, religiöse Freiheit und staatliche Letztentscheidung, 1997; Martin Heckel, Der Einfluß des christlichen Freiheitsverständnisses auf das staatliche Recht (1996), in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. III, 1997, S. 490 (541 ff.). 66  Goerlich/Zabel (Fn. 1), S. 1059. 67  Schwarz (Fn. 19), S. 1127; Goerlich/Zabel (Fn. 1), S. 1059 f.

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religiösen Akt zu qualifizieren und sich über die Grundrechtsposition des Kindes hinwegzusetzen. Gerade dieser Grundrechtskonflikt macht das Versagen der subjektivierenden Betrachtungsweise deutlich, weil über sie nur die Eltern ihr Selbstverständnis artikulieren können und das Kind auf einen unparteiischen Hüter seiner Belange angewiesen ist. Der Grenzstreit zwischen dem religiösen Erziehungsrecht der Eltern und der körperlichen Unversehrtheit des Kindes kann nur nach objektiven, verallgemeinerungsfähigen Kriterien entschieden werden, die letztverbindlich vom Rechtsstaat gemäß seiner gewaltenteiligen Kompetenzordnung definiert werden. 2.  Institutioneller Ansatz Aus den Individualgrundrechten der Beteiligten läßt sich die Beschneidung nicht rechtfertigen. Doch stellt sich die Frage, ob sich die Rechtfertigung nicht aus den Kollektivgrundrechten der Glaubensgemeinschaft ergibt, um deren Initiationsritus es sich handelt. Der Gedanke liegt nahe, die verfassungsrechtliche Grundlage der Zirkumzision in der kollektiven Religionsfreiheit (Art. 4 Abs. 1 und Abs. 2 i. V. m. Art. 19 Abs. 3 GG) sowie im institutionellen Selbstbestimmungsrecht (Art. 137 Abs. 3 S. 1 WRV i. V. m. Art. 140 GG) zu suchen. Bestätigte sich diese Hypothese, so hätte die Gemeinschaft einen weiteren Freiraum als das Individuum; dieses aber gewänne für sich Freiheit dadurch, daß es sich innerhalb der Gemeinschaft nach deren Regeln bewegte. Im Schrifttum wird denn auch die Beschneidung als eine eigene Angelegenheit der jüdischen wie der islamischen Gemeinschaft gewertet, zu deren traditionsfundierter, Identität konstituierender Praxis sie gehöre. Dieser müsse die verfassungsrechtlich aufgerichtete Schranke des für alle geltenden Gesetzes weichen, weil andernfalls das Leben der Religionsgemeinschaft nahezu unmöglich und die Ausübung des Glaubens erheblich erschwert werde. Diesem Bedürfnis halte das strafrechtliche Verbot der Körperverletzung nicht stand. Die körperliche Komponente der Beschneidung trete zurück hinter der seelisch-geistigen, damit die Strafvorschrift nicht nur ein einseitig säkulares Interesse erreiche, aber die „gelebte Verfassungskultur“ verfehle. Der moderne Staat relativiere daher seinen Rechtsdurchsetzungs- und Strafanspruch.68 Das Verfassungsrecht wird hier abgelöst durch den biegsamen, ergebnisorientierten Maßstab der „gelebten Verfassungskultur“, was immer diese auch sei. Die Argumentation entzieht sich der juridischen Nachprüfung und entschwebt in den Himmel wolkiger Begriffe. Verfassungsrechtlich gesehen, ist sie implausibel. Die eigenen Angelegenheiten der Gemeinschaft halten sich im Rahmen der Interpretation. Dazu gehören die Regeln über die Zugehörigkeit und die Teilnahme am Kult. Doch greifen die 68 So

Goerlich/Zabel (Fn. 1), S. 1059 f.

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eigenen Angelegenheiten nicht über auf die grundrechtlich geschützten Positionen ihrer Mitglieder und Anhänger. Nur über deren Zustimmung und Mitwirkung kann die Gemeinschaft ihre Lehren und Riten umsetzen. Zwar ist ihre erzieherische Tätigkeit grundrechtlich geschützt. Doch deren Ausübung setzt die Zustimmung der Eltern voraus. Daher hat die Religionsgemeinschaft von Verfassungs wegen kein unmittelbares Erziehungsrecht,69 so daß die Diskussion des § 223 StGB als für alle geltendes Gesetz ins Leere läuft. Denn diese Strafnorm ist Medium des Rechts des Kindes auf Schutz seiner körperlichen Unversehrtheit. Dieses Recht aber ist keine einfachgesetzliche Schranke, die sich vor den Religionsgrundrechten zu rechtfertigen hätte, sondern selber Grundrecht und somit verfassungsvorgegebene tatbestandliche Grenze der Religionsgrundrechte. Die Religionsgemeinschaft kann nicht von sich aus auf die Physis des Kindes zugreifen. Die Beschneidung bedarf der Zustimmung der Eltern. Diese aber bricht sich am Grundrecht des Kindes. Vor dessen Grundrecht endet auch das Selbstbestimmungsrecht der Religionsgemeinschaft.70 Damit erledigt sich auch die Diskussion, ob § 223 StGB ein für alle geltendes Gesetz sei.71 Denn die Strafvorschrift ist Medium der staatlichen Schutzpflicht für die körperliche Unversehrtheit des Kindes. Dessen Grundrecht aber hat gleichen Rang wie das Selbstbestimmungsrecht der Religionsgemeinschaft und bildet dessen tatbestandliche Grenze. Daher läßt sich die körperliche Unversehrtheit des Kindes nicht gegen die Selbstbestimmung der Religionsgemeinschaft abwägen. Wo die Verfassung tatbestandliche Grenzen zieht, hat der Interpret nichts abzuwägen. In dem individualrechtlichen Dreiecksverhältnis Staat – Eltern – Kind ist kein Platz für die Religionsgemeinschaft.72 Wer in der Diskussion um die rituelle Beschneidung für deren rechtliche Zulässigkeit plädiert, bezieht die Exemtion von allgemein geltenden Normen durchwegs auf das Judentum und den Islam, will aber nicht die Tore öffnen für unabsehbare religiöse Praktiken, die im Widerspruch zur deutschen und europäischen Rechtsordnung stehen.73 Die Exemtion ist also Sonderrecht,74 das aber deshalb dem Willkürverbot standhalten soll, weil es sich beim Judentum und beim Islam 69 

Jestaedt (Fn. 19), S. 410 f. Rox (Fn. 1), S. 1061; Merkel (Fn. 17), S. 2 f. 71  Es wäre auch müßig, die heute nicht mehr angewandte „Jedermann“-Formel zu reaktivieren, die, handelte es sich um eine bipolar-abwehrrechtliche Konstellation, die Exemtion von der Strafvorschrift rechtfertigen könnte; denn die Norm des § 223 StGB träfe die jüdische und die islamische Gemeinde „nicht wie den Jedermann, sondern in ihrer Besonderheit als Gemeinde härter, ihr Selbstverständnis, insbesondere ihren geistlichreligiösen Auftrag beschränkend, also anders als den normalen Adressaten“ (BVerfGE 42, 312 [334]). 72  Rox (Fn. 1), S. 1062 f. 73 So Goerlich/Zabel (Fn. 1), S. 1061; Bielefeld (Fn. 19), S. 77 ff. Kritisch Rox (Fn. 1), S. 1061 f. 74 Dementierend Bielefeld (Fn. 19), S. 74 ff. 70 Zutreffend

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um „rechtsförmige Kulturen der Sinnstiftung“ handele, um Rechtspositionen, die „seit Jahrhunderten im forum externum der Lebenspraxis dieser Kulturen verortet“ seien.75 Den verfassungsrechtlichen Anforderungen der Rationalität, der Verallgemeinerungsfähigkeit und der Rechtsgleichheit genügen diese Gründe nicht. Doch sie weisen auf eine andere Begründungsebene: die der Tradition.

V.  Traditionsvorbehalt Das Unbehagen am Kölner Urteil rührt auch daher, daß eine Rechtsordnung, die das Grundrecht der Religionsfreiheit besonders hochhält, einen religiösen Ritus kriminalisiert, den die Juden unter nahezu allen Regimen der Geschichte, toleranten wie intoleranten, durchwegs unbehelligt ausgeübt haben. Vor dieser Folie erscheint das strafrechtliche Verdikt paradox. Das Paradoxon löste sich auf, wenn sich nachweisen ließe, daß das Grundgesetz die religiöse Tradition und ihre kulturellen Derivate nicht antasten wolle und daß seine Gewährleistungen insoweit unter einem Traditionsvorbehalt stünden.76 In der Tat ist es schwer vorstellbar, daß der historische Verfassunggeber von 1949 es billigend in Kauf genommen hätte, daß die von ihm formulierten Grundrechte einmal gegen den jüdischen Ritus in Stellung gebracht werden könnten. Jedoch wäre das nicht die einzige Folge des Verfassungsgesetzes, die der historische Verfassunggeber sich nicht hätte vorstellen können, schon deshalb, weil er die künftige Entwicklung von Staat und Gesellschaft nicht vorhersehen konnte, mit ihr die Herausforderungen und Bewährungsproben, die auf die Verfassung zukommen sollten. Ein genereller Traditionsvorbehalt ist der Verfassung fremd. Sie ist angelegt auf Neubegründung der staatlichen Ordnung, nach rationalen Prinzipien aus dem aufklärerischen Geist der Freiheit. Ihr normativer Geltungsanspruch setzt sich im Konfliktfall über das geschichtlich Gewordene hinweg. Die Verfassung ist in Wesen und Wirkung ungeschichtlich.77 Freilich kommt auch der ehrgeizigste Verfassunggeber nicht umhin, an Traditionen und an übernommene Bestände anzuknüpfen, sei es übergangsweise oder dauerhaft, sei es ausdrücklich oder stillschweigend. Selbst wenn er wollte, könnte er nicht alles regeln. Und was er ändert, ist immer weniger, als was er an vorhandenem Regelungsgut voraussetzt.78 75 

Goerlich/Zabel (Fn. 1), S. 1061. Diskussion eines Kulturvorbehalts in der Verfassung Arnd Uhle, Freiheitlicher Verfassungsstaat und kulturelle Identität, 2004, S. 108 ff., 353 ff., 420 ff. – Ablehnung des Traditionsarguments Putzke (Fn. 1), S. 807. 77  Walter Leisner, Antigeschichtlichkeit des öffentlichen Rechts? (1968), in: ders., Staat, 1994, S. 221 ff. 78 Zur Theorie der Anknüpfung Josef Isensee, Staat und Verfassung, in: HStR II, 3 2004, § 15 Rn. 43 ff. 76 

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Dennoch will er das, was er geregelt hat, nicht durch den Rückgriff auf das immer schon Gewesene relativieren lassen und seine Normen abschotten gegen neue Anfragen und neue Deutungsansätze. Das gilt in besonderem Maße für die Grundrechte, die, ausgerichtet auf die universale, emanzipatorische Idee der Menschenrechte, alle hergebrachten Ordnungen unter Rechtfertigungszwang stellen und den status quo aufbrechen, auch wenn sich in ihm eine ehrwürdige Tradition verkörpert. Die Grundrechte wachsen nach der ihnen eigenen Gesetzlichkeit des Individualismus, der hergebrachte Bindungen nicht respektiert, nur weil sie hergebracht sind. Das Grundrecht der Gleichberechtigung der Frau hat übernommene Strukturen der Ehe und Familie aufgelöst, obwohl die Verfassung diesen Instituten ihren „besonderen Schutz“ versprochen hat.79 Die Vorzugsstellung der Ehe wird in der neueren Rechtsentwicklung abgebaut durch Aufwertung der gleichgeschlechtlichen Partnerschaft. Selbst das Bundesverfassungsgericht folgt mehr dem Zeitgeist als dem Wort der Verfassung und der sich in deren Wort verkörpernden Tradition.80 Das Prinzip der „Einheit der Familie“ vermochte die Gleichberechtigung nicht aufzuhalten und die patriarchalische Tradition des Familienrechts nicht zu retten.81 Die Einheit der Familie kann auch nicht mehr auf elterlicher Herrschaftsgewalt gegründet werden, seit eigene Grundrechte des Kindes, unverfügbar den Eltern, anerkannt werden. Zu diesen Rechten gehört nach Völkervertragsrecht „das Recht des Kindes auf das erreichbare Höchstmaß an Gesundheit“82 – und das mit einer Spitze wider gefährliche Traditionen: „Die Vertragsstaaten treffen alle wirksamen und geeigneten Maßnahmen, um überlieferte Bräuche, die für die Gesundheit der Kinder schädlich sind, abzuschaffen.“83 Diese Deklaration hat freilich keine normative Relevanz für die Lösung des grundrechtlichen Konflikts, und das nicht obwohl, sondern weil sich 193 Staaten jedweden menschenrechtlichen Niveaus auf den formelkompromißhaften Text verständigt haben. Immerhin ist der Text Symptom der emanzipatorischen Tendenz, der die Entwicklung der Menschen- und Grund79  Zu den Folgen der Gleichberechtigung Michael Sachs, Besondere Gleichheitsgarantien, in: HStR VIII, 32010, § 182 Rn. 99 ff. (Nachw.). 80 BVerfGE 126, 400 (415 ff.). B. v. 19. 6. 2012, in: NVwZ 2012, S. 1304 ff.; B. v. 18. 7. 2012, in: NVwZ 2012, S. 1310 ff. 81  Vgl. BVerfGE 10, 59 (76). 82  Art. 24 Abs. 1 S. 1 UN-Übereinkommen über die Rechte des Kindes vom 20. November 1989, für die Bundesrepublik Deutschland in Kraft getreten am 5. April 1992 – der bisher erfolgreichste aller globalen Menschenrechtspakte mit 193 Vertragsstaaten (ausgenommen: USA und Somalia). 83  Art. 24 Abs. 2 Übereinkommen (Fn. 82). – Für Anwendung auf die Beschneidung Putzke (Fn. 1), S. 704. Rechtfertigung Franziska Kelle, Die Vereinbarkeit der rituellen Beschneidung bei Jungen mit der UN-Kinderrechtskonvention, in: Heil/Kramer (Fn. 1), S. 115 (122 ff.).

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rechte folgt. Auf dieser Linie argumentieren übrigens die deutschen Kinderärzte wider die Freigabe der Beschneidung: „Es muß uns als Anwälten für das Kindeswohl aber erlaubt sein, Jahrtausende alte religiöse Riten und Gebräuche, die die körperliche Unversehrtheit eines minderjährigen und nicht einwilligungsfähigen Kindes dauerhaft beeinträchtigen, aufgrund neuer Erkenntnisse im 21. Jahrhundert zu hinterfragen und ein Nachdenken darüber anzuregen, ob es nicht auch für Jungen möglich ist, in der religiösen Tradition ihrer Eltern erzogen zu werden, ohne daß ihnen die Vorhaut entfernt wird.“84 Die Zuwanderung aus fremden Kulturkreisen führt zu Widersprüchen zwischen dem deutschen ordre public und den importierten Traditionen. Zu diesen gehören die absolute Herrschaft des Vaters über die Familie, seine Prätention des „Eigentums“ an den Kindern, die ehernen, gewaltbewehrten Vorstellungen über Familienehre und Geschlechtsehre. Die Beschneidung aber gehört nicht in diese Fallgruppe. Sie ist der deutschen wie der gemeineuropäischen Rechtskultur, die auch eine jüdische Wurzel hat, nicht fremd und nicht unverträglich, also nicht jenseits des ordre public.85 Damit ist freilich der Widerspruch zum geltenden Recht, der heute sichtbar geworden ist, noch nicht aus der Welt geschafft. Aber er ist auflösbar, ohne daß die Verfassung geändert werden müßte. Vollends stieße eine Änderung der Verfassung nicht an die Grenze ihrer Möglichkeiten, weil sie die Menschenwürde nicht antastet. Mithin darf der Gesetzgeber die Beschneidung erlauben, wenn er die Erlaubnis an bestimmte Kautelen knüpft, die der grundrechtlichen Schutzpflicht für das Kind genügen.

VI.  Zulassung der Beschneidung durch Gesetz 1.  Freigabe unter Kautelen Die verfassungsrechtliche Untersuchung ergibt, daß die Eltern (wie auch die Religionsgemeinschaften) nicht allein kraft ihrer Grundrechte die rituelle Beschneidung des Kindes durchführen können. Wo aber das eigene Recht endet, kann das Gesetz den Handlungsraum erweitern, indem es in der Form einer Beleihung die Ermächtigung zum Handeln erteilt. Das Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit steht unter Gesetzesvorbehalt. Mithin erweist es sich einer gesetzlichen Einschränkung gegenüber als elastisch, wenn diese sich an die Direktiven des Übermaßverbots hält. Eine solche Ermächtigung liegt nun vor in dem im Jahre 2012 neu eingeführten § 1631 d BGB:

84  85 

Hartmann (Fn. 31), S. 6. Im Ergebnis auch Schwarz (Fn. 19), S. 1128.

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(1) Die Personensorge umfaßt auch das Recht, in eine medizinisch nicht erforderliche Beschneidung des nicht einsichts- und urteilsfähigen männlichen Kindes einzuwilligen, wenn diese nach den Regeln der ärztlichen Kunst durchgeführt werden soll. Dies gilt nicht, wenn durch die Beschneidung auch unter Berücksichtigung ihres Zwecks das Kindeswohl gefährdet wird. (2) In den ersten sechs Monaten nach der Geburt des Kindes dürfen auch von einer Religionsgesellschaft dazu vorgesehene Personen Beschneidungen gemäß Abs. 1 durchführen, wenn sie dafür besonders ausgebildet und, ohne Arzt zu sein, für die Durchführung der Beschneidung vergleichbar befähigt sind.

Das Gesetz reagiert auf das Urteil des Landgerichts Köln und will verhindern, daß es präjudizielle Wirkung erlangt. Es hält sich an dessen Thematik und versucht erst gar nicht, das konkrete Problem in einen systematischen Zusammenhang zu stellen und nach allgemeinen Kriterien zu behandeln.86 Als Maßnahmegesetz87 will es eine bestimmte politische Situation meistern und die durch das Kölner Urteil irritierten Religionsgemeinschaften beruhigen. Ziel ist es, der bisherigen Beschneidungspraxis eine ausdrückliche rechtliche Grundlage zu verschaffen und so den jüdischen wie den islamischen Brauch zu legalisieren. Da eine Grundlage notwendig ist und es bislang an einer solchen gefehlt hat, geht das Gesetz über eine bloße Klarstellung hinaus und zeitigt konstitutive Wirkung. Soweit es keine eigene Regelung trifft, läßt es die bisherige Rechtslage unberührt. Insofern schafft es exklusives Sonderrecht. Aus gutem Grund setzt die Regelung beim bürgerlichen Recht an.88 Denn der Schlüssel zur Lösung des Problems liegt im Recht der elterlichen Personensorge. Von dieser hängt die Rechtmäßigkeit oder Rechtswidrigkeit der Beschneidung ab, mithin auch die Entscheidung darüber, ob eine strafbare Körperverletzung vorliegt. Das Strafrecht erweist sich insofern als bloßes Folgerecht. Das Gesetz bezieht sich auf das männliche Kind. Beschneidung des weiblichen ist kein Thema. Unzulässigkeit wird als gegeben vorausgesetzt, auch dann, wenn ihr Ausmaß, mutatis mutandis, hinter dem der nunmehr erlaubten Beschneidung zurückbleibt und auch sie auf religiöse Gründe gestützt wird. Eine Einwilligung von Sorgeberechtigten wird hier von vornherein abgetan.89 Der potentielle Widerspruch zum Gleichheitssatz wird nicht aufgelöst.90 86 

Begründung der BReg (Fn. 6), S. 17. Ernst Forsthoff, Über Maßnahme-Gesetze (1955), in: ders., Rechtsstaat im Wandel, 1964, S. 78 ff.; Hans Schneider, Gesetzgebung, 32002, S. 142 ff.; Fritz Ossenbühl, Gesetz und Recht, in: HStR V, 32007, § 100 Rn. 11 f., 32. – Nach BVerfGE 25, 371 (396) ist der Begriff des Maßnahmegesetzes verfassungsrechtlich irrelevant. 88  Kritik und Gegenentwurf eines strafrechtlichen Ansatzes Walter (Fn. 11), S. 1115 ff. 89  Begründung der BReg (Fn. 6), S. 17. 90  s. o. III. 3. c). 87 Begriff:

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Die elterliche Personensorge umfaßt die Einwilligung für das nicht einsichtsund urteilsfähige Kind. Das Gesetz sagt aber nicht, ab welchem Alter das Kind anzuhören ist und seinen eigenen Willen geltend machen, ab wann es sich widersetzen, ab wann es allein entscheiden kann.91 Die bürgerlichrechtlichen Regeln über die Geschäftsfähigkeit passen hier nicht. Die gesetzlichen Regelungen über die abgestufte Religionsmündigkeit, die für die religiöse Seite der Zeremonie gelten, erfassen nicht die physische Seite.92 Dagegen greifen die Kriterien über die Einwilligungsfähigkeit bei ärztlichen Heileingriffen; diese stellen auf die der Entscheidung gemäße geistige und sittliche Reife ab, also auf ein „natürliches“ Kriterium.93 Ist die Reife gegeben, darf nicht gegen den Willen des Kindes operiert werden. Ihm steht damit ein Vetorecht zu.94 Hat es die Volljährigkeit erreicht, so entscheidet es allein.95 Die Entwicklung des Kindes kennt keine scharfen Zäsuren. Soweit seine Einsichts- und Urteilsfähigkeit noch nicht vollständig entwickelt ist, kann es seinen Willen schon bilden und ausdrücken. In der Phase des Übergangs verdient sein Wille jedenfalls Berücksichtigung, wie sein Wohl zu bestimmen ist.96 Die Entscheidung, welche die Eltern für ihr Kind treffen, muß aus freier Einsicht, nicht aber aus unwiderstehlichem Druck des sozialen Umfeldes erfolgen. Die Einwilligung der Eltern setzt eine sachkundige Beratung über die gesundheitlichen Folgen und Risiken voraus (informed consent). Die Eltern entscheiden zum Wohl des Kindes, wie sie es verstehen. Eine religiöse Begründung wird vom Gesetz nicht gefordert. Eine Nachprüfung der Motive würde den Rechtsstaat denn auch in ein Dilemma führen. Die religiöse Ernsthaftigkeit läßt sich nicht zuverlässig feststellen und nicht verfahrensrechtlich zumutbar kontrollieren.97 Das aber bedeutet, daß die Freigabe der Beschneidung allen Eltern zugute kommt, gleich, welche Motive sie leiten.98 Daher gibt das Gesetz die Beschneidung generell frei. 91 

Vage Hinweise in der Begründung der BReg (Fn. 6), S. 2 f. Putzke (Fn. 8), S. 68 f. 93  BGHSt 12, 379 (382); Heiko H. Lesch, Die strafrechtliche Einwilligung beim HIVAntikörpertest an Minderjährigen, in: NJW 1989, S. 2309 ff. (Nachw.); Putzke (Fn. 8), S. 684 ff. – Zum Vetorecht eines Kindes bei der Knochenmarkspende A. Katarina Weilert, Das Kindeswohl und die Knochenmarkspende Minderjähriger aus verfassungsrechtlicher Perspektive, in: Rechtswissenschaft 2012, S. 292 (320 ff.). 94  Zum Vetorecht eines Kindes bei der Knochenmarkspende A. Katarina Weilert, Das Kindeswohl und die Knochenmarkspende Minderjähriger aus verfassungsrechtlicher Perspektive, in: Rechtswissenschaft 2012, S. 292 (320 ff.). 95  Putzke (Fn. 1), S. 683 ff. 96  Zutreffend Begründung der BReg (Fn. 6), S. 18. 97  Zum Dilemma der Gewissensprüfung der Wehrdienstverweigerer Herbert Bethge, Gewissensfreiheit, in: HStR VII, 32009, § 158 Rn. 84 f. 98  In diesem Sinne die Begründung der BReg (Fn. 6), S. 19. 92 Zutreffend

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So scheint es jedenfalls. Doch die Einwilligung der Sorgeberechtigten soll nicht gelten, wenn die Beschneidung „auch unter Berücksichtigung ihres Zwecks“ das Kindeswohl gefährdet (§ 1631 d Abs. 1 S. 2 BGB). Das sei möglich, so die Begründung der Bundesregierung, wenn die Beschneidung aus ästhetischen Gründen oder zur Erschwerung der Masturbation erfolge, oder wenn sie dem Willen des (sc. noch nicht hinreichend) einsichts- und urteilsfähigen Kindes widerspreche.99 Die verbannte Differenzierung nach dem Motiv der Beschneidung und nach sonstigen subjektiven Momenten kehrt also wieder zurück durch die Hintertür des Kindeswohls. Damit kehrt auch das Problem zurück, wie sich diese Umstände verläßlich feststellen lassen. Das Gesetz fordert, daß die Regeln der ärztlichen Kunst eingehalten werden. Dieser (selbstverständliche) Vorbehalt soll den medizinischen Standard sichern, der seinerseits durch den erforderlichen hygienischen Standard zu ergänzen ist. Die Garantie erstreckt sich auch auf eine etwaige Nachbehandlung. Die dynamische Verweisung auf die Regeln ärztlicher Kunst beschränkt sich aber auf die medizinisch-technische Durchführung der Operation. Sie läßt offen, ob herkömmliche Techniken, die hinter den heutigen ärztlichen Standards zurückbleiben, zu respektieren sind oder nicht. Probleme dieser Art erheben sich, wenn nach dem Urteil des Arztes Narkose erforderlich ist, aber nach der Tradition, auf die sich die Eltern berufen, die Zufügung von Schmerzen zum Zweck der Zirkumzision gehört. An sich darf der Gesetzgeber die Beschneidung nur bis zu der Grenze freigeben, die das Untermaßverbot der Schutzpflicht steckt.100 Jedenfalls heiligt die Achtung vor dem religiösen Brauchtum nicht Prozeduren, welche die körperliche Qual des wehrlosen Jungen planmäßig in Kauf nehmen oder geradezu ritualisieren („Wer den Schmerz nicht erträgt, gehört nicht dazu.“101). Schmerzhafte Riten setzen die volle Einsichts- und Urteilsfähigkeit derer voraus, die sich ihnen unterziehen und den Schmerz aus freien Stücken auf sich nehmen. Aus grundrechtlicher Sicht ist es allen Beteiligten zumutbar, mit einer Maßnahme solcher Art zu warten, bis das Kind selber die Einwilligung erteilen kann. Das Gesetz weicht dem Problem aus. Nur seine Begründung (nicht etwa sein Text) fordert eine „effektive Schmerzbehandlung“ und fordert – unter Bezugnahme auf die Regeln ärztlicher Kunst – „eine im Einzelfall angemessene und wirkungsvolle Betäubung“.102 Überhaupt scheut der Gesetzgeber, sich an konkreten Problemen die Finger zu verbrennen und begnügt sich mit der salvatorischen Klausel, daß die Ermäch99 

Begründung der BReg (Fn. 6), S. 18. Zum Untermaßverbot Isensee (Fn. 16), § 191 Rn. 301 ff. (Nachw.). 101  Zu der uneinheitlichen Praxis: Jerouschek (Fn. 6), S. 316; Begründung der BReg (Fn. 12), S. 8 f. Zur Praxis in ländlichen Regionen der Türkei Necla Kelek, Die verlorenen Söhne, 2006, S. 118 ff. 102  Begründung der BReg (Fn. 6), S. 17. 100 

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tigung nicht gilt, wo das Kindeswohl gefährdet würde. Die Klausel ist zu unbestimmt, zu weit, zu weich, um Inhalt und Ausmaß des Vorbehalts mit der gebotenen Deutlichkeit erkennen zu lassen und Rechtssicherheit herzustellen. Das staatliche Wächteramt vermag die Durchsetzung des Vorbehalts schon deshalb nicht zu gewährleisten, weil ihm die erforderlichen Voraussetzungen dafür fehlen. Das Gesetz sieht keine Melde- und Informationspflichten, Genehmigungserfordernisse, Beratungsmodelle oder Aufsichtsbefugnisse vor. Das Defizit besteht auch für die anderen Kautelen, die Altersgrenze, das Fehlen der Einsichts- und Urteilsfähigkeit, die Regeln der ärztlichen Kunst. Behördliche Kontrollen würden sich freilich an der grundrechtlich geschützten Privatheit der Beteiligten reiben. So steht denn die praktische Durchsetzung der Kautelen dahin. Doch sie sind auch gar nicht auf praktische Durchsetzung angelegt. Vielmehr ist ihr Sinn, den Kindesrechten symbolische Reverenz zu erweisen. Der Gesetzgeber sucht sich mit der Erklärung zu rechtfertigen, bei einer aus kindeswohlgetragenen und fachgerecht durchgeführten Beschneidung ohne besondere Risiken für das Kind sei der Staat „regelmäßig nicht in seinem Wächteramt berufen“.103 Doch berufen ist er immer, nur ist er nicht permanent gefordert. Das Wächteramt begleitet die Ausübung des Elternrechts von Anfang an und ohne Unterbrechung. Der Staat kann sich seines Amtes nicht entledigen und das Gesetz kann ihn davon auch nicht zeitweilig und nicht gegenständlich beschränkt suspendieren. Doch verkörpert sich im Wächteramt nur ein Handlungspotential. Solange die primär verantwortlichen Eltern das Notwendige tun und das Kind keinen Schaden erleidet, bedarf es seines Eingreifens nicht.104 Die Bereitschaft zum Eingreifen, wenn Gefahr droht, und die Vorsorge, daß Risiken vermieden werden, ist jedoch fortdauernde, unbedingte Pflichtaufgabe des Staates. 2.  Mohel-Klausel Die Regeln der ärztlichen Kunst gelten auch für Operationen an Kindern in den ersten sechs Monaten, für die das Gesetz eine Sonderregelung an sich trifft (§ 1631 a Abs. 2 BGB). Das Gesetz insistiert aber nicht auf dem professionellen Garanten dieser Regeln, dem approbierten Arzt. Im ersten Lebenshalbjahr dürfen Zirkumzisionen von einem nichtärztlichen Beschneider durchgeführt werden, der keiner behördlichen Erlaubnis bedarf, wenn ihn die Religionsgemeinschaft in einem bestimmten Verfahren ausgewählt und er eine besondere Ausbildung absolviert hat. Dahinter stehen die Berufsbilder des „Mohel“ im Judentum und des „Sünnetci“ im türkischen Islam.105 Nach der Begründung des Gesetzes (nicht 103 

Begründung der BReg (Fn. 6), S. 18. Zum Verhältnis des Elternrechts der Verfassung zur bürgerlichrechtlichen elterlichen Sorge Matthias Jestaedt, in: Bonner Kommentar, Stand 1995, Art. 6 Abs. 2 und 3, Rn. 182. 105  Dazu die Begründung der BReg (Fn. 6), S. 8, 9. 104 

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aber nach seinem Wortlaut) sollen jedoch spezialgesetzliche Arztvorbehalte wie der für den Anästhesisten und die Vorbehalte nach dem Betäubungsmittelgesetz unberührt bleiben.106 Anästhesie, die dem Vorbehalt unterliegt, wird nicht gesetzlich vorgeschrieben. Sie unterbleibt also, oder sie liegt in unbefugten Händen. Nach gesetzlicher Vorschrift muß der nichtärztliche Beschneider für die Durchführung der Beschneidung „vergleichbar“ befähigt sein wie der Arzt.107 Überhaupt gelten die materiellen Kautelen der lex artis und des Kindeswohls uneingeschränkt auch hier. Doch die Verantwortung für die Einhaltung der Vorgaben liegt bei der Religionsgesellschaft, die den Beschneider ordiniert, freilich unter der Bedingung, daß sie sich auf die Einwilligung der Eltern stützen kann. Sie bestimmt die Regeln und deren Durchführung. Der Staat sieht sich hier nicht in seinem Wächteramt „berufen“.108 Die hobbesianische Frage „quis iudicabit?“ erhält verschlüsselt, aber deutlich die Antwort: die Religionsgesellschaft definiert, was das Kindeswohl erheischt und was die Regeln ärztlicher Kunst für die Zirkumzision verlangen. Das Gesetz schafft in § 1631 d Abs. 2 BGB ein Reservat religiösen Brauchtums. Dieses ist auf die Bedürfnisse der jüdischen Gemeinde zugeschnitten, die das Kind im frühen Alter (nach dem Gebot der Orthodoxie am achten Tag nach der Geburt) beschneidet. Der Mohel kann ohne Assistenz eines Arztes oder einer Krankenschwester operieren. Die Operation durch den Arzt wird nicht als rituell anerkannt.109 Die jüdische Gemeinde bestimmt, ob und wie der Säugling betäubt wird.110 Das abstrakte Merkmal der Religionsgemeinschaft erfaßt auch die muslimische Gemeinde, die den Sünnetci bestellt, doch zieht sie keinen praktischen Nutzen daraus, wenn sie, wie in der Türkei üblich, bei Jungen erst in höherem Alter bis kurz vor der Pubertät die Zirkumzision durchführt. Die Erstreckung der Ausnahmevorschrift auf einen weiteren Zeitraum als sechs Monate ist ausgeschlossen, der Umkehrschluß zwingend, so daß eine Beschneidung ohne den approbierten Arzt nicht in Frage kommt. Ein weiteres Hindernis: die Regelvorschrift des § 1631 106 

Begründung der BReg (Fn. 6), S. 19. Zur Qualifikation des Mohel: Zentralrat der Juden (Fn. 6), S. 3 f., 7 f. 108  Begründung der BReg (Fn. 6), S. 18. 109  Zentralrat der Juden (Fn. 6), S. 4, 7. 110  Zentralrat der Juden (Fn. 6), S. 8 f.; s. auch S. 3, 5.: „Eine örtliche Betäubung (meist durch eine EMLA-Salbe) ist im Einklang mit den religiösen Regeln. Zusätzlich wird durch Zäpfchen eine Schmerzlinderung erreicht. Zudem bekommt der Säugling vor dem Eingriff einige Tropfen süßen Wein (z. B. in süßen Wein getunkten Schnuller). Der Zusammenhang zwischen der Verabreichung von Glukose und dessen schmerzreduzierender Wirkung bei Säuglingen ist wissenschaftlich nachgewiesen. Eine vollständige Narkose des Säuglings wird abgelehnt, da sie den Körper des Babys weit mehr strapaziert als die Beschneidung ein Risiko für das Baby darstellt.“ 107 

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d Abs. 1 BGB ist nur anwendbar auf Knaben, die noch nicht einsichts- und urteilsfähig sind. Siebenjährige – so das Durchschnittsalter in Deutschland111 – dürften zumeist begreifen und beurteilen können, was sie in der Operation erwartet. Soweit das der Fall ist, kommt ihnen ein Vetorecht zu, so daß die Eltern aufgrund ihres Sorgerechts die Beschneidung nicht mehr einseitig anordnen können. Die „Mohel-Klausel“ trägt nach Ansicht der Bundesregierung dem grundrechtlichen Schutz der Religionsfreiheit und der Selbstbestimmung der Religionsgemeinschaften zur selbständigen Ordnung und Verwaltung ihrer Angelegenheiten Rechnung, bleibt jedoch angesichts der staatlichen Schutzpflicht für die körperliche Unversehrtheit des Kindes auf dessen erste sechs Lebensmonate beschränkt.112 Der Ausschluß oder die Reduzierung der Schutzpflicht innerhalb dieser ersten Lebensmonate, in denen das Kind völlig hilflos ist, aber auch das mindere Gewicht der Religionsfreiheit nach dieser Frist, werden auf diese Weise nicht plausibel begründet. Plausibel ist dagegen der (unausgesprochene) Grund, daß der Konflikt des staatlichen Rechts mit dem jüdischen Initiationsritus verhindert werden soll. 3.  Ergebnis Das Maßnahmegesetz hat sein Ziel nicht erreicht. Es stiftet nicht Rechtssicherheit, und es genügt nicht dem Untermaß der grundrechtlichen Schutzpflicht für das Kind. Der Gesetzgeber ist auf halbem Wege stehengeblieben, um den Ausgleich der widerstrebenden Belange herzustellen. Es wäre klüger gewesen, wenn er sich überhaupt nicht auf die Ausformulierung des Ausgleichs eingelassen, sondern wenn er, den Vorwurf mangelnder Bestimmtheit in Kauf nehmend, sich mit dem lapidaren Satz begnügt hätte, daß die Personensorge auch die Einwilligung in die Beschneidung umfaßt, im übrigen aber der Praxis und der Lehre überlassen hätte, dieser Feststellung den genaueren Schliff zu geben, um sie in den bürgerlichrechtlichen Kontext einzubauen und sie den verfassungsrechtlichen Vorgaben konform auszulegen.

VII.  Tabuvorbehalt praeter constitutionem? Wenn das Gesetz auch verfassungsrechtlich gescheitert ist, so waltet in seinem Vorhaben doch ein Stück politische Weisheit. Im Konflikt zwischen rechtsstaatlicher Konsequenz und Wahrung des religiösen und des gesellschaftlichen Friedens entscheidet es sich für den Frieden.113 Ein Kampf der Kulturen soll in 111 

Zentralrat der Muslime (Fn. 6), S. 1, 3. Begründung der BReg (Fn. 6), S. 18. 113  Merkel nennt das Gesetz einen „Sündenfall des Rechtsstaats“ und das Produkt eines „rechtspolitischen Notstands“ (Fn. 17, S. 6). 112 

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Deutschland nicht ausbrechen,114 am allerwenigsten ein Kampf mit der jüdischen Kultur. Der Gesetzgeber will noch nicht einmal den bösen Schein aufkommen lassen, in Deutschland werde jüdisches Leben (mittelbar auch islamisches) unterdrückt und ausgerechnet im Namen der Grundrechte ein religiöses Ritual verboten, das Jahrtausende hindurch allen Anfechtungen standgehalten hat. Der Gesetzgeber sichert ein nationales Tabu, wenn er einer Rechtsanwendung entgegentritt, welche die Gefühle der Juden kränken könnte. Das Thema Beschneidung liegt nun einmal in der Tabuzone, zumindest in ihrem Vorfeld. Der Gesetzgeber handelt guten politischen Gewissens. Sollte er gleichwohl unter verfassungsrechtlichen Gewissensbissen leiden, so mag er Trost suchen in der Hypothese eines ungeschriebenen Tabuvorbehalts. Immerhin neigt in Deutschland die Schuljurisprudenz dazu, sich zurückzuhalten, wenn nicht gar, sich zurückzuziehen, wenn eine Kollision mit den NS-Traumata, zumal den Nachwirkungen der Shoa, droht. Das Bundesverfassungsgericht weicht dem Tabu aus, zuweilen auch im offenen Widerspruch zum Verfassungstext und unter Bruch der juridischen Konsequenz. So soll das Grundrecht der Meinungsfreiheit, das an sich nur durch ein allgemeines Gesetz eingeschränkt werden darf, auch ein Sondergesetz wie die Strafnorm der Volksverhetzung (§ 130 Abs. 4 StGB) ertragen, wenn es darum geht, die propagandistische Gutheißung der nationalsozialistischen Gewalt- und Willkürherrschaft zu vereiteln.115 Das Gericht meidet den Konflikt mit dem Islam und mittelbar auch den mit der jüdischen Orthodoxie in der Frage des Schächtens: Die Tätigkeit eines nichtdeutschen gläubigen muslimischen Metzgers, der Tiere ohne Betäubung schlachtet, um seinen Kunden in Übereinstimmung mit ihrer Glaubensüberzeugung den Genuß von Fleisch geschächteter Tiere zu ermöglichen, wird grundrechtlich aus der Handlungs- und Religionsfreiheit des Metzgers gerechtfertigt, obwohl die Verfassung ausdrücklich den Tierschutz als Staatsziel anerkennt.116 Freilich ist diese Entscheidung nicht ohne weiteres für die Beschneidung präjudiziell. Denn es ist ein wesentlicher Unterschied, ob den Abwehrrechten des Handelnden ein mehrfach relativiertes Staatsziel Tierschutz gegenübersteht oder die körperliche Unversehrtheit des Menschen.117 Überhaupt reichen Präjudizien dieser Art nicht aus, um die Hypothese eines Tabuvorbehalts praeter constitutionem zu verifizieren.118 Praeter constitutionem könnte sich der Gesetzgeber, hätte er ein historisches Gedächtnis, aber darauf berufen, daß er aus der Verfassungsgeschichte gelernt habe und er einen Kulturkampf vermeiden wolle, den im späten 19. Jahrhundert 114 

Samuel P. Huntington, The Clash of Civilisations, 1996. BVerfGE 124, 300 (321 ff.). 116  BVerfGE 104, 337 (345 ff.). 117  Die Analogiefähigkeit verneint Jerouschek (Fn. 6), S. 318. 118 Allgemein Josef Isensee, Tabu im freiheitlichen Staat, 2003, S. 23 ff., 35 ff., 65 ff. 115 

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ein liberaler Fundamentalismus gegen die katholische Kirche entfesselte,119 mit der Folge, daß er sogar das politisch Vernünftige und rechtsstaatlich Sinnvolle an seinen Zielen durch Intransigenz und Ungeduld nachhaltig desavouierte, religiöses Leben drangsalierte und die Gesellschaft durch obrigkeitlichen Fortschritts­ oktroi spaltete. Einer solchen Gefahr will der Gesetzgeber heute wehren. So inhaltlich unklar und verfassungsrechtlich anfechtbar das Gesetz auch ist – darin trifft es eine deutliche Entscheidung: in Deutschland darf es keinen Kulturkampf mehr geben. Das ist eine politische Erklärung der gesetzlichen Regelung, doch nicht deren verfassungsrechtliche Rechtfertigung.

119  Zu Ursachen und Folgen Rudolf Morsey, Der Kulturkampf – Bismarcks Präventivsieg gegen das Zentrum und die katholische Kirche, in: Essener Gespräche Bd. 34 (2000), S. 5 ff., 13 ff., 22 ff.

Kirchliche Loyalität im Rahmen des staatlichen Arbeitsrechts Verfassungsrechtliche Aspekte des kirchlichen Arbeitsverhältnisses* Kirchliche Loyalität im Rahmen des staatlichen Arbeitsrechts. Verfassungsrechtliche Aspekte des kirchlichen Arbeitsverhältnisses Kirchliche Loyalität im Rahmen des staatlichen Arbeitsrechts

I.  Exemplarische Konfliktfälle Zwei arbeitsrechtliche Streitigkeiten aus dem kirchlichen Bereich, die erst durch Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts im Verfassungsbeschwerdeverfahren beigelegt wurden,1 zeigen exemplarisch das Konfliktpotential, das dem kirchlichen Arbeitsverhältnis innewohnt: Ein Assistenzarzt, Angestellter eines katholischen Krankenhauses, beteiligt sich an einem Aufruf, der das Recht und die Praxis der Abtreibung gegen Angriffe „von klerikal-konservativer und standesärztlicher Seite“ verteidigt. Der Aufruf wird als Leserbrief in einer Illustrierten veröffentlicht. Der Assistenzarzt bestätigt seine Auffassung in einem Fernsehinterview. – Ein Buchhalter, seit 30 Jahren in einem Jugendwohnheim des Salesianerordens beschäftigt, erklärt aus beruflicher Verärgerung den Austritt aus der katholischen Kirche; die Leitung des Hauses erfährt davon durch den entsprechenden Eintrag in der Lohnsteuerkarte. – In beiden Fällen spricht der Arbeitgeber dem Angestellten wegen seines Verhaltens die Kündigung aus, sowohl die ordentliche als auch die außerordentliche. Beide Male scheitert er im Arbeitsprozeß, den der Arbeitnehmer gegen die Kündigung anstrengt, letztinstanzlich jeweils vor dem Bundesarbeitsgericht.2 Alle Kündigungen gelten als unwirksam, die ordentliche als nicht sozial gerechtfertigt gemäß § 1 Abs. 2 KSchG, die außerordentliche als nicht abgedeckt durch einen wichtigen Grund nach § 626 Abs. 1 BGB. Es bedarf hier keiner Worte, daß die öffentliche Apologie der heutigen Abtreibungspraxis und daß der Kirchenaustritt gegen das katholische Kirchenrecht

* Erstveröffentlichung in: Richard Bartlsperger/Dirk Ehlers/Werner Hofmann/Dietrich Pirson (Hrsg.), Festschrift für Klaus Obermayer, 1986, S. 203 – 216. 1  BVerfG B. v. 4. 6. 1985, E 70, 138 – 173. Erste Kommentierungen: Richardi, in JZ 1986, S.  135 – 137; ders., in NZA Beil. 1/1986, S. 4 f., 6 – 8; Dütz, ebd., S. 11 – 15; Rüthers, in: NJW 1986, 356 – 359; Weber, ebd., S. 370 f. 2  BAG AP Art. 140 GG Nr. 16 – Abtreibungsaufruf; BAG AP Art. 140 Nr. 14 – Kirchenaustritt.

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verstoßen.3 Die Verstöße sind schwer und offenkundig. Problematisch ist allein, ob und wieweit die Kirche4 die Verletzung ihrer Gebote mit dem säkularen In­ strument der arbeitsrechtlichen Kündigung sanktionieren kann. Die Kirche hat das staatliche Arbeitsrecht als die Form ihres Dienstes gewählt.5 Folglich gilt in diesem Bereich das staatliche Kündigungsrecht einschließlich des Kündigungsschutzes. Die Frage ist jedoch, ob deshalb das kirchliche Arbeitsverhältnis dem säkularen in jeder Hinsicht inhaltlich gleichsteht und die Kirche sich vorbehaltlos dem Regime des staatlichen Rechts unterworfen hat. Aus ihrer Sicht kann und darf das nicht sein. Sie bedient sich des staatlichen Arbeitsrechts als Mittel, um ihren spezifischen Heilsauftrag in der Caritas wie in ihren anderen Wirkungsfeldern zu erfüllen. Ihre Krankenhäuser und Jugendheime sollen nicht Anstalten wie alle anderen sein, in denen private Träger soziale Dienste erbringen und den Sozialstaat entlasten. Vielmehr sollen sie über ihre säkulare Nützlichkeit hinaus Kirche sein: Zeichen des Glaubens und Bekundung der Nächstenliebe inmitten der nachchristlichen, pluralistischen Gesellschaft. Die Kirchlichkeit der Einrichtungen steht und fällt mit den Menschen, die in ihnen tätig sind. Die Kirchlichkeit ist in erster Linie eine Frage religiöser Vitalität und geistlicher Loyalität, aber sie ist notwendig auch eine Rechtsfrage, die im Ernstfall der Kündigung zu entscheiden ist. Es ist daher unerläßlich für die Existenz der kirchlichen Einrichtungen, daß die Kirche ihren besonderen Auftrag, ihr Proprium, in das staatliche Arbeitsrechtskonzept einbringen und in seinem Rahmen geltend machen kann.

3 Zur Abtreibung: CIC 1983 c. 1398. Zum Kirchenaustritt nach katholischem Kirchenrecht: Krämer, in: Listl/Müller/Schmitz (Hrsg.), HdbKathKR 1983, S. 169; Listl, Die Bewertung und die Rechtsfolgen des Kirchenaustritts nach katholischem Kirchenrecht, unveröff. Gutachten, vorgelegt dem BVerfG in dem oben genannten Verfahren (Fn. 1), 1984. Zum evangelischen Kirchenrecht: v. Campenhausen, Staatskirchenrecht, 1983, S.  149 – 159; ders. (unveröff.), Gutachterliche Stellungnahme zu Mitgliedschaft und Kirchenaustritt nach evangelischem Kirchenrecht und ihre Bedeutung für den kirchlichen Dienst, vorgelegt dem BVerfG in demselben Verfahren, 1984. 4 Verfassungsrechtliche Vorbehalte gegen den unkritischen Sprachgebrauch der Rechtswissenschaft hinsichtlich „Kirche“ und „Kirchenartikel“: Obermayer, Art. 140 Rn. 47, 68, in: BK (Zweitbearb.), 1971. 5  Jüngere Literatur zum kirchlichen Arbeitsrecht: Jurina, Das Dienst- und Arbeitsrecht im Bereich der Kirchen und der Bundesrepublik Deutschland, 1979; v. Campenhausen, in: Essener Gespräche Bd. 18, 1984, S. 9 – 41; Dütz, ebd., S. 67 – 115; Richardi, Arbeitsrecht in der Kirche, 1984; Rüthers, in: Deutsch-französische Kolloquien Kirche – Staat – Gesellschaft, Straßburger Kolloquien, Bd. 6, 1984, S. 3 – 23; Richardi, ebd., S. 95 – 127.

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II.  Die Auszehrung der Privatautonomie im Sozialstaat Das wäre kein Problem, wenn die Vertragsfreiheit im Arbeitsrecht noch so uneingeschränkt herrschte wie in der Blütezeit des Liberalismus und folglich die kirchlichen Vertragsparteien den Arbeitsvertrag nach Maßgabe der kirchlichen Bedürfnisse ausgestalten könnten. Doch diese Voraussetzung ist heute nicht mehr gegeben. Im Zeichen des Sozialstaates wird die vertragliche Gestaltungsfreiheit überlagert und eingeengt durch eine Fülle gesetzlicher und richterrechtlicher Regelungen, die jeweils soziale Schutzvorkehrungen zugunsten des Arbeitnehmers bilden sollen. Das Arbeitsverhältnis ist schwerfällig, starr, schematisch geworden. Es sperrt sich gegen Differenzierung. Die Privatautonomie, verfangen in immer dichter werdenden sozialen Netzen, hat ihre Elastizität eingebüßt. Sie vermag auch nicht, aus der Verfassung hinreichende normative Kraft zu ziehen, um auf ganzer Linie der sozialstaatlichen Einebnung standzuhalten. Das gilt für ihre allgemeinen verfassungsrechtlichen Grundlagen, die Allgemeine Handlungsfreiheit (Art. 2 Abs. 1 GG) und – als lex specialis für Arbeit und Beruf – die Berufsfreiheit (Art. 12 Abs. 1 GG).

III.  Das kirchliche Selbstbestimmungsrecht als Reservat der Privatautonomie Den Kirchen verbleibt jedoch ihr verfassungsrechtlich gewährleistetes Selbstbestimmungsrecht. Dieses erweist sich als relativ resistent gegenüber der Einwirkung des Sozialstaats. Ähnlich wie die Presse- und Rundfunkfreiheit bildet es eine bereichsspezifische Bastion der Privatautonomie, in der sich gesellschaftliche Besonderheit zu behaupten vermag.6 Das kirchliche Selbstbestimmungsrecht gründet auf zwei verfassungsrechtlichen Fundamenten: dem grundrecht­ lichen der freien Religionsausübung (Art. 4 Abs. 2 i. V. m. Art. 19 Abs. 3 GG) und dem institutionsrechtlichen der Kirchenautonomie (Art. 137 Abs. 3 WRV i. V. m. Art. 140 GG).7 Hier geht es vornehmlich um die zweite Komponente: die Freiheit der Kirche, über die institutionellen Rahmenbedingungen zu verfügen, innerhalb deren sie ihren geistlich-karitativen Auftrag erfüllt. Zur Kirchenautonomie gehören die Organisationsgewalt, die Personalhoheit und die Regelungskompetenz für das Dienstrecht. Die Kirchen befinden darüber, „welche Dienste es in ihren Ein-

6  Dazu näher: Isensee, Kirchenautonomie und sozialstaatliche Säkularisierung in der Krankenhausausbildung, 1980, S. 77 – 80 et passim; ders., in: Kath. Krankenhausverband Deutschlands e.V. (Hrsg.), Eigene Wege im katholischen Krankenhaus, 1982, S. 7 – 23. 7  Zu dem Zusammenhang der Grundlagen: Obermayer (Fn. 4), Art. 140 GG Rn. 67; Hollerbach, in: VVDStRL 26 (1968), S. 60; Listl, in: Handbuch des Staatskirchenrechts, Bd. I, 1974, S 399 f.

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richtungen geben soll und in welchen Rechtsformen sie wahrzunehmen sind“.8 Sie sind nicht auf die Formen des staatlichen Rechts angewiesen. An sich könnten sie ein Dienstrecht nach eigener Façon entwickeln.9 Wenn sie sich aber des Arbeitsrechts bedienen, so verlassen sie nicht den Schutzbereich ihres Selbstbestimmungsrechts. Die Arbeitsverhältnisse verbleiben ihre eigenen Angelegenheiten.10 Die Verfassungsgarantie hält ihnen die Chance offen, die Arbeitsverhältnisse der Eigenart des kirchlichen Dienstes anzupassen und ihrem Selbstverständnis gemäß zu gestalten, dem Arbeitnehmer besondere Loyalitätsobliegenheiten einer kirchlichen Lebensführung durch Vertragsschluß aufzuerlegen und auf diesem Wege das besondere Leitbild einer christlichen Dienstgemeinschaft verbindlich zu machen.11

IV.  Die arbeitsvertragliche Begründung der kirchlichen Loyalität Rechtsgrundlage der kirchenspezifischen Loyalität ist allein der Arbeitsvertrag,12 nicht etwa das Verfassungsrecht oder das Kirchenrecht. Der Arbeitsvertrag muß die Pflichten nicht im einzelnen regeln. Er kann auf ein allgemeines Normenstatut „in der jeweils gültigen Fassung“ verweisen, wie es die „Richtlinien für Arbeitsverträge in den Einrichtungen des Deutschen Caritasverbandes“ (= AVR) darstellen. Die Treupflicht muß noch nicht einmal ausdrücklich Gegenstand, sie braucht nur Geschäftsgrundlage des Arbeitsvertrages zu sein. Jeder Vertrag enthält, als Nebenpflicht kraft Treu und Glauben, die Leistungstreupflicht, Beeinträchtigungen des Vertragszwecks zu unterlassen (§§ 157, 242 BGB). Dieser Mindeststandard an Loyalität steigert und spezifiziert sich in dem Arbeitsvertrag, der mit einem kirchlichen Träger geschlossen wird und der die Erbringung kirchlicher Dienste zum Gegenstand hat.13 Kollektivrechtliche Gestaltungsmöglichkeiten spielen derzeit praktisch keine Rolle.14 8 

BVerfGE 70, 138 (164). Richardi (Fn. 5), S. 11 – 20; v. Campenhausen (Fn. 5), S. 13; Maurer, in: FS Menger, 1985, S. 297 f. Diese in der Literatur umstrittene These wird von BVerfGE 70, 138 (164) bestätigt. Dazu Weber (Fn. 1), S. 370. 10  BVerfGE 70, 138 (165). Entsprechend zum staatlichen Organisationsrecht: BVerfGE 53, 366 (392). 11  Zur möglichen Verbindlichkeit des Leitbildes: BVerfGE 53, 366 (403 f.); 70, 138 (165 f.); BVerfG, 5. 6. 1981, in: FamRZ 81, S. 943. – Weit. Nachw.: Jurina (Fn. 5), S. 163; S.  38 – 41. 12 Vgl. Jurina (Fn. 5), S. 69; Richardi (Fn. 5), S. 13 f., 18; Rüthers (Fn. 5), S. 163; S.  38 – 41. 13 Dazu Rüthers (Fn. 5), S. 19 f. 14 Näher Berchtenbreiter, Kündigungsschutzprobleme im kirchlichen Arbeitsverhältnis 1984, S. 51 – 53; Rüthers (Fn. 5), S. 19 f. 9 Dazu

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Die kirchliche Treupflicht des Arbeitnehmers geht also aus vertraglicher Selbstbindung hervor. Der kirchliche Arbeitgeber könnte sie nicht einseitig oktroyieren. Das gewährleistet ihm auch nicht das Selbstbestimmungsrecht der Verfassung. Dieses schließt zwar die Möglichkeit der Hierarchie und Rechtsetzung der Kirche ein; aber es gibt ihr damit nicht Hoheitsgewalt und heteronome Gesetzgebungskompetenz, wie sie dem staatlichen System eigen sind. Kirchenautonomie ist, verfassungsrechtlich gesehen, gesellschaftliche Selbstregulierung auf der Basis individueller Freiheit der Beteiligten. Daher werden die kirchlichen Grundsätze nur dadurch für das staatliche Arbeitsrecht verbindlich, daß der einzelne Arbeitnehmer sich ihnen freiwillig unterwirft. Der säkulare, religiös neutrale Staat beachtet und schützt daher die genuin kirchenrechtliche Normensubstanz nur, soweit sie arbeitsvertraglich fundiert und so in den staatlichen Rechtskreis transformiert ist.

V.  Die arbeitsrechtliche und die verfassungsrechtliche Dimension des Loyalitätskonflikts Der Streit zwischen dem kirchlichen Arbeitgeber und Arbeitnehmer über eine Loyalitätsverletzung und über die Wirksamkeit der Kündigung ist an sich ein normaler privatrechtlicher Konflikt. Dieser läßt sich nicht über die Doktrin von der Drittwirkung der Grundrechte in einen verfassungsrechtlichen Konflikt umdeuten dergestalt, daß die Kirchenautonomie des Arbeitgebers und Grundrechte des Arbeitnehmers einander gegenübergestellt und gegeneinander abgewogen würden.15 Die Verfassungsgarantie der kirchlichen Selbstbestimmung gilt nicht zwischen der Kirche und ihren Bediensteten, sondern in der konventionellen Relation zwischen Kirche und Staat. So ging es in dem Verfassungsstreit über die eingangs beschriebenen Kündigungsfälle nicht etwa um die Kollision der Kirchenautonomie mit einem Individualgrundrecht des Bediensteten, sondern um die Kollision der Kirchenautonomie mit der Staatsgewalt, genauer: mit der Anwendung des gesetzlichen Kündigungsschutzrechts durch die Arbeitsgerichtsbarkeit. Auf der anderen Seite richten sich auch die Grundrechte des kirchlichen Arbeitnehmers nicht gegen den kirchlichen Arbeitgeber, sondern gegen den Staat. Grundrechtsbindungen, die auf das heteronome Recht des Staates abgestellt sind, können nicht auf das autonome Vertragsrecht der Privaten übertragen werden. Soweit sich die vertragsbegründete Loyalitätspflicht im Rahmen der Privat- und Kirchenautonomie hält, kann sie nicht vom Arbeitnehmer in Frage gestellt werden unter Berufung auf seine Religionsfreiheit, Meinungs- und Berufsfreiheit.16 15 Unklare

Konstruktion einer mittelbaren Drittwirkung: Berchtenbreiter (Fn. 14), S.  31 – 34. 16  Gegen die Anwendbarkeit des Art. 5 Abs. 1 GG auf den arbeitsrechtlichen Pflichtenstatus des kirchlichen Arbeitnehmers, der sich mit einem Appell zur Abtreibung, gemes-

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Aus grundrechtlicher Perspektive ist der Abschluß eines kirchlichen Arbeitsvertrages Betätigung der Berufs- und der Religionsfreiheit. Die vertragliche Pflichtenbindung ist die legitime Konsequenz der Grundrechtsausübung. Der Staat hat die Selbstbindung zu respektieren, nicht aber aufzulösen. Dazu geben auch die grundrechtlichen Schutzpflichten keinen Rechtstitel. Diese leben auf bei Übergriffen Privater in grundrechtlich geschützte Rechtsgüter, nicht aber bei legitimer Rechtsausübung.17 Wohl enthält die Sozialstaatsklausel die Ermächtigung für den Gesetzgeber, die Privatautonomie innerhalb bestimmter rechtsstaatlicher Grenzen zugunsten des sozial Schwächeren einzuschränken. Sie bildet die verfassungsrechtliche Legitimation des Kündigungsschutzes. Doch dieser ist damit Schranke, nicht darüber hinaus Gegenstand einer Grundrechtsgarantie. Die Berufsfreiheit scheidet als mögliche Grundlage aus, weil sie als Staatsabwehrrecht, nicht als soziales Grundrecht in der Art eines „Rechts auf Arbeit“ ausgestaltet ist.18 Die verfassungsrechtliche Problematik, die den Fällen der Kündigung eines kirchlichen Arbeitsverhältnisses innewohnt, tritt auf in der Relation zwischen dem kirchlichen Arbeitgeber, der die Kündigung ausspricht, und dem staatlichen Gericht, das über die Rechtswirksamkeit der Kündigung entscheidet. Der Staat sichtet und wägt eigenverantwortlich die Gründe, die für und wider die Wirksamkeit sprechen. Er folgt nicht nur den vertragsimmanenten Maßstäben, sondern fügt eigene, vertragstranszendente Wertungen hinzu, insbesondere solche sozialer Art. Die Position des Arbeitnehmers erhält dadurch in der Abwägung ein Gewicht, das über den vertraglich vorgesehenen Umfang hinausgehen kann. Der privatautonom begründete Vertragsinhalt wird sozialstaatlich korrigiert. Die Verfassungsverstöße, die das Bundesverfassungsgericht in thematisch einschlägigen Urteilen des Bundesarbeitsgerichts festgestellt hat, bestehen darin, daß es bei der Abwägung der kündigungsrechtlichen Gesichtspunkte dem Selbstverständnis der Kirche nicht das von Verfassungs wegen geforderte Gewicht beigemessen und damit in verfassungswidriger Weise die Freiheit der Kirche, ihre Angelegenheiten selbst zu regeln, beschränkt hat.19 Die Funktion der verfassungsrechtlichen Freiheitsgarantie geht dahin, die kirchliche Besonderheit, soweit sie in den Arbeitsvertrag eingegangen ist, gegen sen an kirchlichen Normen, außerhalb der kirchlichen Gemeinschaft gestellt hat: BVerfGE 70, 138 (172). Vgl. auch BAG AP Art. 140 GG Nr. 16. 17  Dogmatik der grundrechtlichen Schutzpflichten: Isensee, Das Grundrecht auf Sicherheit, 1983, S. 27 – 55; Murswiek, Die staatliche Verantwortung für Risiken der Technik, 1985, S. 88 – 287. 18  A. A. Schneider, in: VVDStRL 43 (1984), S. 30 f., 42. – Zutreffende Unterscheidung der sozialstaatlichen Schutzvorkehrungen im Arbeitsrecht vom Freiheitsrecht des Art. 12 GG: Lecheler, in: VVDStRL 43 (1984), S. 68 – 70. 19  BVerfGE 70, 138 (172).

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eine nivellierende Anwendung des Kündigungsschutzrechts abzusichern. Vor allem gilt es, die privat- und kirchenautonome Substanz der Loyalitätsobliegenheiten vor Abwertung und vor staatlicher Fremdbestimmung zu bewahren. Die kirchliche Treuepflicht wird damit nicht verfassungsrechtlich festgeschrieben. Die Verfassung beschränkt sich darauf, der Kirche den Freiraum zu sichern, innerhalb dessen sie ihrem Selbstverständnis Geltung verschaffen kann. Soweit ihr dieses gelingt und sie das Arbeitsverhältnis den besonderen Erfordernissen ihrer Sendung anpaßt, hat der Staat die Aktualisierung der verfassungsrechtlichen Freiheitsgarantie, grundsätzlich jedenfalls, zu respektieren.

VI.  Keine Verfügungsmacht des Staates über die Kirchenloyalität Das Bundesarbeitsgericht gerät in Konflikt mit der Verfassung, weil es die Loyalitätspflichten nicht hinnimmt, wie sie durch Arbeitsvertrag und Kirchenrecht vorgegeben sind, sondern sie von sich aus, nach „funktionsbezogener“ Betrachtungsweise, zuteilt, bemißt und gewichtet: Die besondere Loyalität soll nicht für alle kirchlichen Arbeitnehmer gelten, sondern nur für jene, deren Funktion nach ihrer Art und ihrer Nähe zu den spezifisch kirchlichen Aufgaben die Bindung erfordere. Es komme darauf an, ob die Tätigkeit des einzelnen Bediensteten mit der Kirche identifiziert und ob die Glaubwürdigkeit der Kirche berührt werde, wenn dieser gegen ein Gesetz der Glaubens- und Sittenlehre verstoße.20 Die Loyalitätspflicht wird infolgedessen akzeptiert für die Lehrerin einer katholischen Privatschule,21 nicht aber für den Buchhalter eines katholischen Jugendheims.22 Das Bundesarbeitsgericht definiert von sich aus, was eine „spezifisch kirchliche“ Tätigkeit und was die „Nähe“ zu ihr ausmacht, was „Verkündigung“ der Kirche bedeutet, worin ihre „Glaubwürdigkeit“ besteht und was die wesentlichen Grundsätze ihrer Glaubens- und Sittenlehre aussagen. Es übernimmt damit ein ekklesiologisches Mandat. Das staatliche Gericht setzt sich über die Grenzen hinweg, die ihm durch die säkularfreiheitliche Verfassungsordnung gezogen sind. Die längst verfassungsrechtlich begrabene Kirchenhoheit des Staates feiert Urständ – nunmehr in sozialstaatlicher Gewandung. Das Bundesarbeitsgericht versucht, dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit gerecht zu werden, wenn es auf die Erfordernisse der jeweils wahrgenommenen 20  Beispiele: BAG AP Art. 140 GG Nr. 2, 3, 4, 7, 14, 16, 20. Dazu affirmativ: Berchtenbreiter (Fn. 14), S. 34 – 45. Kritische Darstellung der Judikatur: Jurina, in: FS Broermann, 1982, S.  789 – 808; Richardi (Fn. 5), S. 51 – 63. 21  BAG AP Art. 148 GG Nr. 4. Analoge Fälle: BAG AP Art. 140 GG Nr. 7 (Caritas-Sekretärin); Nr. 14 (Krankenhausarzt); Nr. 20 (Lehrerin an einem Missionsgymnasium). – Jenseits der Abstufungstheorie: BAG AP KSchG § 1 Nr. 15 (Anstreicher). 22  Das Urteil BAG (AP Art. 140 GG Nr. 16) läßt zwar die Entscheidung in diesem Punkt formell offen. Im praktischen Ergebnis negiert es aber die Pflicht.

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kirchlichen Funktion abstellt. Der Versuch gilt jedoch dem untauglichen Objekt. Das gemäße Objekt ist die Staatsgewalt, die um der grundrechtlichen Freiheit willen der Begrenzung bedarf. Hier aber wird gerade die grundrechtliche Freiheit beschränkt zugunsten eines staatlichen Ordnungsschemas. Die funktionsbezogene Sicht führt zur Einebnung und Minimierung des kirchlichen Sonderrechts, während der legitime Sinn des Übermaßverbotes darin besteht, grundrechtliches Differenzierungspotential zu schonen und staatliche Ordnung auszudifferenzieren. Der Oktroi eines staatlichen Abstufungsschemas ist für die Identität einer kirchlichen Einrichtung gefährlich. Der Staat trennt dort, wo die kirchliche Sache Einheit erfordert. Das kirchliche Krankenhaus ist auf religiös-ethische Einheit des Dienstes angelegt. Es hat sich nicht nur durch medizinisch-technische Funktionstüchtigkeit auszuweisen, sondern auch durch seinen Geist, der den Geboten des Christentums Genüge tut. Die Arbeitsteilung im Funktionellen muß in bestimmtem Maße aufgewogen werden durch Homogenität im christlichen Ethos. Das ist der eigentliche Sinn der Dienstgemeinschaft als Leitbild der kirchlichen Mitarbeiter, das keine Unterschiede in der christlichen Grundverpflichtung kennt zwischen Verkündigung und technischem Dienst, Außen- und Innentätigkeit, Führung und Ausführung. Die Einheit des kirchlichen Dienstes wird durch den Staat aufgebrochen, der eine funktionstechnische Differenzierung der Pflichten aufnötigt. Im Zeichen des sozialstaatlichen Arbeitnehmerschutzes und freiheitlicher Pflichtenemanzipation wird das Kirchliche aus der kirchlichen Einrichtung hinwegsäkularisiert. Übrig bleibt eine Art kirchlicher Tendenzbetrieb in der Art einer Zeitungsredaktion, in der ein Teil der Beschäftigten zu Tendenztreue verpflichtet ist, ein anderer nicht.23 Die Loyalitätsabstufung des Bundesarbeitsgerichts verletzt die Verfassungsgarantie der kirchlichen Selbstbestimmung. Das Bundesverfassungsgericht, das einschlägige Urteile aufhebt, weist den verfassungsgemäßen Weg: Im Streitfall haben die Arbeitsgerichte die vorgegebenen kirchlichen Maßstäbe zugrunde zu legen, soweit die Verfassung den Kirchen das Recht anerkennt, darüber selbst zu befinden. Diese entscheiden grundsätzlich selbst darüber, ob und wie eine Abstufung der Loyalitätspflichten stattfinden soll.24 Damit ist es Sache der Kirchen, gemäß ihrer geistlichen Sendung das Loyalitätskonzept zu bestimmen, die Einheit des christlichen Dienstes jenseits der funktionsrationalen Differenzierungen zu wahren oder – bei selbstgewählter Abstufung der arbeitsrechtlichen Pflichten – eine Mindesthomogenität sicherzustellen. 23 Die

kirchliche Einrichtung ist kein Tendenzbetrieb im Sinne von § 118 Abs. 1 ­ etrVerfG: v. Campenhausen (Fn. 5), S. 18 f.; Richardi (Fn. 5), S. 44; ders., in: ZfA 1984, B S. 114 f. 24  BVerfGE 70, 138 (167 f.).

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Das verfassungsrechtliche Fazit: Die kirchlichen Grundverpflichtungen, die Gegenstand eines Arbeitsverhältnisses werden können, richten sich prinzipiell nach den von der verfaßten Kirche anerkannten Maßstäben, über die sich das Arbeitsgericht im Bedarfsfalle durch Rückfrage bei den zuständigen Kirchenbehörden Aufklärung zu verschaffen hat.25 Kurz: In der Regel kommt es auf das Selbstverständnis der Kirche an. (Dabei sei jedoch ein sprachliches Bedenken angemerkt gegen den gängigen Ausdruck „Selbstverständnis“, der schief ist, weil es in der Sache nicht um Selbst-Verständnis geht, sondern um Selbst-Bestimmung, nicht um Reflexion, sondern um Ordnungsansprüche.)

VII.  Staatliche Entscheidungsvorbehalte gegenüber dem kirchlichen Selbstverständnis Der Staat überläßt jedoch das arbeitsrechtliche Feld der Loyalitätspflichten nicht vorbehaltlos den Kirchen. Er wahrt wesentliche Entscheidungskompetenzen. 1. Er verfügt über die Jurisdiktionsgewalt. Diese könnte auch nicht ohne weiteres durch kirchliche Gerichte ersetzt werden, weil der Staat von Verfassungs wegen zur Justizgewährleistung verpflichtet ist. Seine Kompetenz ist im kirchlichen Arbeitsrecht klar gegeben,26 im Unterschied zum öffentlichen Recht der Kirchenämter,27 vollends im Gegensatz zu den rein geistlichen Angelegenheiten des kirchlichen Innenbereichs (Gottesdienst, Glaubenswahrheit etc.), die sich dem Urteil des weltlichen Staates entziehen. Das Zulässigkeitskriterium der staatlichen Gerichtsbarkeit (§§ 18 – 20 GVG) ist die elementarste aller Prozeßvoraussetzungen.28 Rechtslogisch steht es vor der Gabelung der einzelnen Rechtswege (mit denen es manchmal identifiziert wird). 2. Auch in materiell-rechtlicher Hinsicht wahrt der Staat seine Überordnung gegenüber den Kirchen, auf der er um des Rechtsfriedens und der Rechtsgleichheit willen bestehen muß.29 Diese staatliche Grundstruktur würde allerdings in Frage gestellt, wenn die Respektierung des kirchlichen Selbstverständnisses – einer Tendenz der heutigen Literatur entsprechend – bedeutete, daß die Kirchen selbst die Reichweite ihrer verfassungsrechtlichen Freiheit definieren. Doch die 25 

BVerfGE 70, 138 (166). Dazu eingehend Berchtenbreiter (Fn. 14), S. 56 – 93 (Nachw.). 27 Dazu Steiner, Offene Rechtsschutzprobleme im Verhältnis von Staat und Kirchen, 1981; Ehlers, in: ZevKR 27 (1982), S. 269 – 295. Weit. Nachw.: v. Campenhausen, Staatskirchenrecht, 2. Aufl. 1983, S. 198 – 220. 28  BVerwGE 68, 62 (63); OVG Rheinl.-Pfalz, 29. 4. 1985, in: DÖV 1986, S. 115; Isensee, in: GS Constantinesco, 1983, S. 306 f.: Winands, in: DÖV 1986, S. 99 f.; Thieme, in DÖV 1986, S. 65. 29 Dazu Obermayer (Fn. 4), Art. 140 Rn. 85 (Nachw.). 26 

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Freiheitsrechte gelten nach Maßgabe des staatlichen Verfassungsrechts, nicht nach Maßgabe des kirchlichen Selbstverständnisses. Dieses ist ein Faktor der Grundrechtsausübung, allenfalls auch ein Orientierungspunkt für die Grundrechtsauslegung.30 Dem Staat bleibt die letztverbindliche Entscheidung im Konflikt über die Relevanz für den Tatbestand und die Schranken der Freiheitsrechte des kirchlichen Selbstverständnisses. 3. Mehr noch: Der Staat rezipiert die heterogenen, kirchlichen Regelungen mit dem Vorbehalt, daß sie seinen sozialethischen Mindestanforderungen genügen. Kirchliche Loyalitätspflichten werden nur anerkannt, soweit sich die staatlichen Gerichte nicht in Widerspruch zu Grundprinzipien der Rechtsordnung begeben, wie sie im allgemeinen Willkürverbot (Art. 3 Abs. 1 GG) sowie in den „guten Sitten“ (§ 138 Abs. 1 BGB) und im ordre public (Art. 30 EGBGB) ihren Niederschlag gefunden haben.31 Man könnte geradezu von einer staatskirchenrechtlichen Ordre-public-Klausel sprechen, die das Verfassungskollisionsrecht für die Anwendbarkeit der kirchlichen Treuepflichten im staatlichen Arbeitsrecht vorsieht, ähnlich dem Vorbehalt, den das Internationale Privatrecht für die Übernahme ausländischen Rechts geltend macht. Nicht jede staatliche Norm kommt daher als Kontrollmaßstab in Betracht, auch nicht jede Verfassungsnorm. Der kirchliche Pflichtenkodex kann legitim anders sein als der staatliche. Er fällt in der Regel strenger aus (etwa im Eherecht). Der Staat akzeptiert die kirchliche Beurteilung eines Handelns als Pflichtverletzung, das aus seiner Sicht zulässige Rechtsausübung, sogar Grundrechtsausübung sein kann (so die Eheschließung des Katholiken mit einem Geschiedenen).32 Der kirchliche Arbeitgeber kann das öffentliche Bekenntnis zu staatlichen Normen als Illoyalität betrachten, wenn diese aus kirchlicher Sicht religiös und moralisch verwerflich sind wie das permissive Abtreibungsrecht. Das staatliche Gericht hat das prinzipiell zu akzeptieren.33 Ihm kommt keine Inhalts-, sondern nur eine äußere Rahmenkontrolle zu. Deren praktische Bedeutung dürfte gegenüber den Großkirchen gleich Null sein, weil diese den sozialethischen Horizont wesentlich mitgeprägt haben, in dem sich heute der weltliche Verfassungsstaat bewegt. 4. Ein anderes Kriterium (vom Bundesverfassungsgericht logisch verfehlt als Unterfall des eben beschriebenen Vorbehalts angeführt) kann dagegen erhebliche Wirkung zeitigen: Es bleibe Aufgabe der staatlichen Gerichtsbarkeit, sicherzustellen, daß die kirchlichen Einrichtungen nicht in Einzelfällen „unannehmbare 30 Dazu Isensee, Wer definiert die Freiheitsrechte?, 1980. Zu den staatskirchenrechtlichen Momenten s. die Diskussion bei den 20. Essener Gesprächen (Bd. 20, 1986, S. 183 – 188, 189, 191 f., 196). 31  BVerfGE 70, 138 (168). 32  Vgl. BAG AP Art. 140 GG Nr. 4, 7, 20. 33  BVerfGE 70, 138 (170 – 172). Vgl. auch BAG AP Art. 140 GG Nr. 14.

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Anforderungen“ – insoweit möglicherweise entgegen den Grundsätzen der eigenen Kirche und der daraus folgenden Fürsorgepflicht – an die Loyalität ihrer Arbeitnehmer stellten.34 Hier geht es also um die Prüfung des Einzelfalles, die konkrete Angemessenheit der Arbeitnehmerpflichten, ihr Verhältnis zu den korrespondierenden Vertragspflichten des Arbeitsgebers, die innere Konsequenz der kirchlichen Position. Damit werden auch die Grenzen des staatlichen Arbeitsrechts an das Kirchenrecht abgesteckt. Die Anpassungsmöglichkeiten kirchlicher Arbeitsverhältnisse können „keine säkulare Ersatzform für kirchliche Ordensgemeinschaften und Gesellschaften des apostolischen Lebens“ sein.35 Es wäre Formenmißbrauch, versuchte die Kirche das Arbeitsverhältnis den Orden gleichzustellen, die Person des Arbeitnehmers total in die geistliche Pflicht zu nehmen. Jedenfalls ist die Akzeptanz der kirchlichen Forderung für den säkularen Staat um so unproblematischer, je stärker der kirchliche Dienst insgesamt durch christlichen Glauben effektiv geprägt wird. Im konkreten Fall wird es nicht einfach sein, die Grenze zu bestimmen, ab der die kirchliche Forderung aus staatlicher Sicht „unannehmbar“ wird. Die Polarität von Maßgeblichkeit des kirchlichen Selbstverständnisses und staatlichen Entscheidungsvorbehalten ist in der Verfassungsgarantie des Art. 137 Abs. 3 S. 1 WRV begründet. Sie ergibt sich nicht nur aus dem Dualismus von Freiheit und Schranke, sondern auch aus der inneren Struktur der Schranke selbst, dem „für alle geltenden Gesetz“. Dieses wird bestimmt durch Güterabwägung zwischen der Kirchenfreiheit und dem staatlichen Schutz anderer für das Gemeinwesen bedeutsamer Rechtsgüter.36 Eine Rechtsvorschrift erlangt nicht schlechthin die Qualität der Schranke, sondern nur in der Relativierung, wie sie sich aus der Wechselwirkung von Kirchenfreiheit und Schrankenzweck ergibt. Die kündigungsschutzrechtlichen Normen der §§ 1 KSchG, 626 BGB sind zwar „für alle geltende Gesetze“;37 dennoch gehen sie nicht auf ganzer Linie dem kirchlichen Selbstbestimmungsrecht vor.

34 

BVerfGE 70, 138 (168). BVerfGE 70, 138 (166). 36  BVerfGE 53, 366 (400 f.); 66, 1 (22); 70, 138 (167). – Zur Güterabwägung und zur „Jedermann-Formel“: Geiger, in: ZevKR 26 (1981), S. 156 – 174; Isensee, Kirchenautonomie (Fn. 6), S. 57 – 62, 79; ders., in Eigene Wege (Fn. 6), S. 10 – 14; Depenheuer, Staatliche Finanzierung im Krankenhauswesen, 1986. 37  BVerfGE 780, 138 (166 f.); BAG AP Art. 140 GG Nr. 16 – st. Rspr. 35 

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VIII.  Folgerungen für die Arbeitsgerichte im Fall des Kirchenaustritts Für die Arbeitsgerichte ergeben sich Probleme, wie sie die verfassungsrechtlichen Vorgaben in die Anwendung der kündigungsschutzrechtlichen Normen umsetzen sollen. In der Literatur wird eine „zweistufige Prüfung“ vorgeschlagen: Auf der ersten Stufe sei zu prüfen, ob nach dem Selbstverständnis der verfaßten Kirche eine – arbeitsrechtlich abgesicherte – Loyalitätspflicht und eine Verletzung der Pflicht vorlägen und wie schwer die Verletzung wiege, ferner ob die Übernahme des kirchlichen Selbstverständnisses gegen den verfassungsrechtlichen Ordre-public-Vorbehalt verstoße. Wenn eine relevante Loyalitätsverletzung vorliege, so habe das Arbeitsgericht nun auf der zweiten Stufe zu prüfen, ob diese die Kündigung sachlich rechtfertige. Diese Frage sei allein aus den Vorschriften der §§ 1 KSchG, 626 BGB zu beantworten, nicht aus dem kirchlichen Selbstverständnis. Das Arbeitsgericht könne eine umfassende Interessenabwägung vornehmen, als deren Ergebnis eine Kündigung auch bei schwerwiegenden Loyalitätsverletzungen für ungerechtfertigt gehalten werden könne, wenn ihr noch schwerer wiegende Interessen des Arbeitnehmers entgegenstünden. So sei es vertretbar, der Kündigung des Buchhalters wegen seines Kirchenaustritts die Rechtfertigung abzusprechen, weil dieser, nach fast 30 Jahren Beschäftigung im kirchlichen Dienst, kurz vor der Altersgrenze, kaum eine andere Arbeit finden könne.38 Mit dieser „Zwei-Stufen“-Prüfung könnte der verfassungsrechtliche Schutz der Kirchenautonomie praktisch unterlaufen werden. Sie mündet ein in die kirchenindifferente soziale Abwägung des Arbeitsgerichts. Die „Zwei-Stufen“-Prüfung ist schon vom Ansatz her verfehlt. Die Kirchenautonomie ist auf jeder Stufe relevant. Die Kündigungsschutzvorschriften sind auf keiner Stufe autark gegenüber dem kirchlichen Selbstverständnis, soweit dieses sich in dem weiten Rahmen der materiellen Staatsvorbehalte hält. Aus dem Selbstverständnis ergibt sich nicht nur der Inhalt, sondern auch das Gewicht der Pflichtverletzung für das Arbeitsverhältnis. Damit ist die Entscheidung über die soziale Rechtfertigung nach § 1 Abs. 1 KSchG oder über den wichtigen Grund nach § 626 BGB in einem wesentlichen Punkte präjudiziert. Das maßgeblich vorab bestimmte Gewicht der Loyalität kann so schwer sein, daß praktisch nichts mehr abzuwägen ist. Das gilt für den Kirchenaustritt. Dieser ist mehr als Verletzung der kirchlichen Treupflicht. Er ist deren Aufkündigung. Die Zugehörigkeit zur Kirche ist nicht Inhalt, sondern Grundlage der Loyalität. Zwar tastet der Kirchenaustritt – an sich ein Institut des staatlichen Rechts – nach katholischer Lehre nicht die Kirchenmitgliedschaft als solche an, die durch die Taufe begründet wird und dadurch den 38 

Weber (Fn. 1), S. 370 f.

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character indelebilis erhält. Jedoch werden nach kanonischem Recht die kirchlichen Rechte suspendiert, die aus der Mitgliedschaft erwachsen. Der Betreffende verliert die kirchenrechtliche Qualifikation, in seiner Dienststelle weiter zu arbeiten. Der kirchliche Arbeitgeber ist kirchenrechtlich verpflichtet, die Tätigkeit zu unterbinden und zu kündigen.39 Der Staat kann die Kirche nicht zwingen, im Widerspruch zum Kirchenrecht zu leben, ihr proprium preiszugeben und die innere Säkularisierung des Arbeitsverhältnisses hinzunehmen. Aus der Sicht der katholischen Kirche ist es schlechthin unzumutbar, einen Arbeitnehmer weiterzubeschäftigen, der das Band zu ihr in staatsrechtlicher Hinsicht zerschnitten hat. Diese Belastung der Kirche kann nicht durch soziale Gesichtspunkte aufgewogen werden wie das hohe Lebensalter oder die lange Beschäftigungsdauer. Wäre das so, würde sich das arbeitsrechtliche Loyalitätsband im Laufe der Jahre immer mehr lockern. Die Zulassung der Kündigung ist von Verfassungs wegen unausweichlich, weil dem kirchlichen Arbeitgeber kein anderes, schonenderes Mittel zur Verfügung steht. Er kann weder auf Erfüllung der Treupflicht noch auf Unterlassung des Kirchenaustritts klagen, weil hier die individuelle Religionsfreiheit des Arbeitnehmers staatlichem Rechtszwang entgegenstünde. Nur die Kündigung ermöglicht die praktische Konkordanz zwischen den widerstreitenden Rechten. – Die sozialen Belange sind damit nicht aus dem kirchlichen Arbeitsrecht verbannt. Ginge es um eine religiös indifferente, betriebsbedingte Kündigung (etwa im Interesse haushaltsmäßiger Beweglichkeit), so kämen sie über den Kündigungsschutz zum Zuge, ohne Widerstand in der Kirchenautonomie zu finden.40 Der Kirchenaustritt steht in seiner praktischen Bedeutung einem absoluten Kündigungsgrund gleich.41 Das arbeitsrechtliche Tabu des „absoluten“, abwägungsresistenten Kündigungsgrundes wird von Verfassungs wegen durchbrochen. Unvereinbar mit der Verfassung ist die Neigung der Literatur, die Verletzung kirchlicher Loyalitätsobliegenheiten nie als wichtigen Grund im Sinne des § 626 Abs. 1 BGB anzuerkennen.42 Denn der Kirche ist es im Regelfall unzumutbar, nach der Austrittserklärung das Arbeitsverhältnis fortzusetzen. Das Bundesverfassungsgericht setzt hier ein Zeichen dadurch, daß es, allen widerstreitenden sozialen Momenten des Einzelfalles zum Trotz, die Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts aufhebt, welches die außerordentliche Kündigung ablehnt.43 39  Der Kirchenaustritt erfüllt nach kanonischem Strafrecht zumindest den Tatbestand des Schismas, der ipso iure die Exkommunikation auslöst. Dazu näher Listl (Fn. 3). 40  BVerfGE 70, 138 (170). 41  Im Ergebnis gleich: Rüthers (Fn. 1), S. 358 f.; Dütz (Fn. 1), S. 14. 42  Berchtenbreiter (Fn. 14), S. 107 f. (Nachw.). – Kritisch Mayer-Maly, in: ZevKR 30 (1985), S. 466. 43  BVerfGE 70, 138 (172).

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Das Arbeitsgericht kann die Austrittserklärung auch nicht – entgegen dem kirchlichen Selbstverständnis – unterschiedlich gewichten, je nachdem, ob sie diskret oder demonstrativ, ohne oder mit Folgen für den Betriebsfrieden, aus beruflicher Verärgerung oder aus Kirchenfeindlichkeit erfolgt.44 Lägen provokative Begleitumstände vor, so bildeten sie zusätzliche, eigenständige Loyalitätsverletzungen. – Irrelevant ist auch für die Beurteilung des Kirchenaustritts der Umstand, daß die Kirche Mitarbeiter anderer Konfessionen und Religionen beschäftigt. Denn es sind völlig unterschiedliche Tatbestände, ob sie von sich aus ein Nichtmitglied beschäftigt, das nur eine verminderte Loyalitätspflicht übernehmen kann, oder ob ein ihr angehörender Arbeitnehmer die arbeitsvertraglich vorausgesetzte Kirchenbindung kappt und damit in Widerspruch zu seiner kirchlichen Grundpflicht wie zu seiner Dienstpflicht tritt.45 – Ein Loyalitätsverstoß läge jedoch nicht vor, wenn die Kirche bei Vertragsschluß die Religionszugehörigkeit ignoriert oder dem zuvor getätigten Austritt keine Bedeutung beigelegt hätte. Hier wie auch sonst gilt, daß die Kirche die Loyalitätsobliegenheit, deren Verletzung sie durch Kündigung ahndet, zuvor ernsthaft verankert und effektiv eingefordert haben muß.

44 

So aber BAG AP Art. 140 GG Nr. 16 im Anschluß an Ruland, in: NJW 1980, S. 89, 95. A. A. Richardi (Fn. 5), S. 62. 45 Vgl. Richardi, in: ZfA 1984, S. 129; v. Campenhausen (Fn. 5), S. 25. – A. A. Weiß, in: Sonderheft KuR Kirche und Arbeitsrecht 1979, S. 31.

Meinungsfreiheit im Streit mit der Religion „Gotteslästerung“ heute* Meinungsfreiheit im Streit mit der Religion. „Gotteslästerung“ heute Meinungsfreiheit im Streit mit der Religion

I.  Problemfeld Eine Welle menschenrechtlicher Entrüstung lief durch Europa, als ein Moskauer Gericht im August 2012 drei Mitglieder der feministischen Punk-Gruppe Pussy Riot zu je zwei Jahren Straflager verurteilt hatte wegen „Rowdytums motiviert aus religiösem Haß“, aufgrund eines Auftritts, der die Gefühle der Gläubigen auf das tiefste verletzt habe. Die Frauen hatten in der Moskauer Erlöser-Kathedrale, maskiert vor dem Altar tanzend, ein einminütiges „Punk-Gebet“ gegen Präsident Putin und gegen den russisch-orthodoxen Patriarchen Kirill aufgeführt und die Mutter Gottes angerufen, Putin zu verjagen.1 Eine Textprobe: „Der KGBChef ist euer oberster Heiliger,/er steckt die Demonstranten ins Gefängnis./Um den Heiligsten nicht zu betrüben, müssen Frauen gebären und lieben./Göttlicher Dreck, Dreck, Dreck! Göttlicher Dreck, Dreck, Dreck!/Mutter Gottes, du Jungfrau, werde Feministin, werde Feministin, werde Feministin!“2 Die Strafe weckte den Protest von Regierungen und von Demonstranten in aller Welt, und das nicht nur wegen des nach westlichem Verständnis abnormen Strafmaßes und nicht nur wegen der Unterdrückung der politischen Kritik, sondern auch und wesentlich wegen des ausdrücklich genannten Strafgrundes: der Strafe wegen einer Verletzung religiöser Gefühle. Popstar Madonna erklärte ihre Verbundenheit mit der Punkgruppe. Amnesty International sprach von einem „harten Schlag gegen die Meinungsfreiheit“. Die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa protestierte, die Meinungsfreiheit dürfe nicht beschränkt oder unterdrückt werden – egal, wie provokativ, satirisch oder heikel sie auch sei.3 Die Stadt Wittenberg benannte Pussy Riot für den mit 10.000 € dotierten Preis „Das unerschrockene Wort“, der jenen zugedacht ist, die im Sinne Martin Luthers „in Wort und Tat für die Gesellschaft, die Gemeinde, den Staat bedeutsame Aussagen *  Erstveröffentlichung in: AfP. Zeitschrift für Medien- und Kommunikationsrecht 44 (2013), S.  189 – 119. 1 

Quelle: http://www.tagesschau.de/ausland/pussyriot124.html. http://www.focus.de/politik/ausland/punk-gebet-von-pussy-riot-im-wortlautmutter-gottes-vertreibe-putin_aid_790159.html. 3  Quelle: Fn. 1. 2  Quelle:

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gemacht und gegenüber Widerständen vertreten haben“. Den Solidaritätsbekundungen setzte die Krone auf Heiner Geißler, der mehr weiß als alle anderen und sogar weiß, was Jesus täte, wüßte dieser, was Heiner Geißler weiß: „Jesus wäre an der Seite von Pussy Riot.“4 Die deutsche Strafjustiz hat sich mit einem analogen Auftritt dreier Nachahmer im Kölner Dom zu beschäftigen. Bunt kostümiert, Parolen schreiend, ein Transparent „Free Pussy Riot and all Prisoners“ hochhaltend, stürmten sie während des Pontifikalamts zum Altar, wurden jedoch rasch von den Domschweizern festgehalten, aus der Kirche getragen und der Polizei übergeben, die den Demonstranten sodann Gelegenheit bot, ihr Protestanliegen auf der Domplatte öffentlich zu verkünden. Der Zelebrant, Weihbischof Koch, blieb gelassen und nahm nach dem Eklat das Anliegen der Demonstranten und der Menschen in Rußland in das liturgische Gebet auf. Freilich folgte später eine Anzeige wegen Störung der Religionsausübung, Hausfriedensbruchs und Verstoßes gegen das Versammlungsrecht.5 Im Nachgang: Pussy Riot hat den Luther-Preis doch nicht bekommen. Die Auszeichnung geht – nicht weniger zeitgeistgemäß – an die Initiative von Gastwirten in Regensburg „Keine Bedienung für Nazis“. Im Originalfall Pussy Riot wie in der Kölner Nachahmungstat streitet Meinungskundgabe wider Religion. Hier wie da liegt die Sanktion bei der Strafjustiz des Staates; im Kölner Dom geht ihr der kirchliche Notwehrakt zur Wahrung des Hausrechts voraus. Dagegen fällt die Sanktion im Konflikt um die dänischen Mohammed-Karikaturen dem muslimischen Straßenmob zu. Der von Imamen angeheizte Volkszorn reagiert sich ab an allem, was ihm als dänisch, westlich oder christlich begegnet: Kirchen, Botschaften, Menschenleben. Im Fall des amerikanischen Videos „Innocence of Muslims“, das den Propheten als „Kinderschänder, Homosexuellen, blutrünstigen Feldherrn und Feigling“ darstellt,6 genügen die Nachricht, daß es ein solches Video gibt, und ein vierzehnminütiger Auszug im Internet, daß islamische Gottesgelehrte Fatwas erlassen, die Beteiligten zu töten, daß sich die Lynchjustiz in Libyen, Ägypten und dem Sudan großflächig austobt, aber auch daß der UN-Generalsekretär, die US-Außenministerin und der deutsche Bundesinnenminister energisch protestieren. Letzterer gibt bekannt, er werde die Vorführung des Films mit allen rechtlich erlaubten Mitteln verhindern.7 4  Quelle: http://www.faz.net/aktuell/politik/inland/streit-um-lutherpreis-nominierungladiladiho-11940749.html. 5  Quellen: http://www.focus.de/panorama/welt/nach-russischem-urteil-pussy-riot-nach ahmer-im-koelner-dom-_aid_802717.html; http://www.spiegel.de/panorama/pussy-riot-nach ahmer-stoeren-gottesdienst-im-koelner-dom-a-850881.html. 6  Inhaltsangabe: Spiegel online, 15. 9. 2012 (s. Fn. 5). 7  Quelle: http://de.wikipedia.org/wiki/Innocence_of_Muslims.

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So ganz anders verläuft die Reaktion auf eine Veralberung der Person Christi im Zusammenhang mit einer Veralberung biblischer Geschichten durch eine aus unerfindlichen Gründen als Satire ausgeflaggte deutsche Comedy-Serie mit dem Titel „Götter wie wir“, die ab Herbst 2012 im Fernsehkanal ZDF-Kultur ausgestrahlt worden ist. Der brave Protest wird vom Fernsehrat zurückgewiesen; schließlich kommt er auch nur von harmlos randständigen Gruppen, von denen gewalttätige Ausschreitungen nicht zu erwarten sind: von evangelikalen Protestanten und von frommen Katholiken, darunter Anhängern der Pius-Bruderschaft.8 Für die Entscheidung des Fernsehrats spricht die bekannte deutsche Regel, daß Satire alles darf.9 Sie darf sogar allgemeinverbindlich bestimmen, was Satire ist und daß sie selbst Satire ist. Der Fall ist symptomatisch für die religiöse Taubheit der Szene. Hier muß nicht durchgängig Christophobie walten (wie manche vermuten), obwohl der Haß auf die katholische Kirche längst wieder öffentlichkeitsfähig ist. Es ist eher (pseudo-)intellektuelle Blasiertheit gegenüber Dingen, die man nicht kennt, aber von denen man zu wissen meint, daß es sich auch nicht lohnt, sie kennenzulernen. Eine Spaßgesellschaft, der nichts ernst ist, merkt gar nicht, daß sie die Empfindungen von Außenseitern verletzt, denen noch etwas heilig ist, und sie hält den für einen Spaßverderber, der sie darauf aufmerksam macht. Aber sie zuckt erschrocken zusammen, wenn ihr im blutigen Protest des Islam auf einmal heiliger Ernst entgegentritt. Genug der Fallbeispiele und der atmosphärischen Kostproben! In ihnen erneuert sich das alte Problem der Blasphemie unter den verfassungsrechtlichen Vorgaben der Säkularität des Staates und der allgemeinen grundrechtlichen Freiheit. Die Konstellation ist überall gleich: eine Meinungsäußerung verletzt religiöse Gefühle. Die Verletzung geht nicht von der Staatsgewalt aus, sondern von Privaten. Beide Parteien könnten für sich Grundrechte ins Feld führen: die eine die Meinungs- und Medienfreiheit sowie sonstige Kommunikationsgrundrechte, die andere die Religionsfreiheit und das Recht der persönlichen Ehre. Prima facie liegt eine Kollision zwischen Grundrechten vor.10 Als Raster bietet sich das grundrechtliche Dreieck von Staat – Störer – Opfer an: der Störer in einer abwehrrechtlichen, das Opfer in einer schutzrechtlichen Beziehung zum Staat, beide zueinander in einer deliktsrechtlichen Beziehung.11 8 

Quelle: http://de.wikipedia.org/wiki/Götter_wie_wir. des Topos: Herbert Bethge, Grundrecht auf Humor – Darf Satire wirklich alles?, in: Hermann Wehr (Hrsg.), Juristen hinter Literatur und Kunst, 2012, S. 11 ff. Vgl. schon Wolfgang Knies, Schranke der Kunstfreiheit als verfassungsrechtliches Problem, 1967, S. 25 f. („Kunst darf alles“). 10 Zur Rechtsfigur: Herbert Bethge, Zur Problematik von Grundrechtskollisionen, 1977. 11 Dazu Andreas von Arnauld, Grundrechtsfreiheit zur Gotteslästerung?, in: Josef Isensee (Hrsg.), Religionsbeschimpfung, 2007, S. 63 (66 ff.). Allgemein Josef Isensee, Das 9  Analyse

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Doch wer ist hier Störer, wer Opfer? Ist Störer der Karikaturist, der das religiöse Ehrgefühl der Muslime beleidigt, oder der Fanatiker, der dem Beleidiger nach dem Leben trachtet? Ist Opfer, wer die Schmähung dessen ertragen muß, was ihm heilig ist, oder ist Opfer, wer um seine Sicherheit fürchtet? Wie immer auch diese Rollen zu verteilen sind – sie reichen nicht aus, um die grundrechtliche Problematik erschöpfend darzustellen. Denn der Konflikt greift über die Staatsgrenze hinaus, wenn und soweit grundrechtliche Belange auf ausländischem Territorium durch die Randale gefährdet werden oder ein ausländischer Staat seinerseits protestiert und mit Sanktionen droht. Die Schutzpflicht des Staates endet nicht an der Grenze.12 Doch kann der Staat sich zu ihrer Erfüllung nicht auf seine Gebietshoheit stützen. Grundsätzlich sind ihm interventionistische Übergriffe auf fremdes Territorium verwehrt. Er ist angewiesen auf Kooperation mit dem auswärtigen Staat. Die grundrechtliche Schutzpflicht wird also durch das Völkerrecht mediatisiert und relativiert.13 Das Problem verschärft sich und gewinnt eine zusätzliche Dimension, wenn in der Beurteilung blasphemischer Akte inkompatible Rechtskulturen aufeinanderstoßen: auf Seiten des Verletzers religiöser Gefühle die säkular-liberale Rechtskultur Europas, auf Seiten des Verletzten die des Islam, dem die Trennung von Staat und Religion wie auch der grundrechtliche Individualismus fremd sind. Die Unbefangenheit des grundrechtlichen Diskurses wird gefährdet, soweit die echte oder vermeintliche Blasphemie durch gewalttätige Proteste im In- und Ausland geahndet wird, wenn Deutschland unter außenpolitischen Druck gerät oder aus dem innenpolitischen Motiv, die islamischen Zuwanderer zu integrieren, das grundrechtliche Schrankensystem neu justiert wird.

II.  Ausschluß physischer Gewalt Eine Problemschicht der komplexen Materie läßt sich ablösen und vorab behandeln: die gewalttätigen Reaktionen auf die als blasphemisch wahrgenommenen Karikaturen. Die Androhung wie die Anwendung körperlicher Gewalt Grundrecht als Abwehrrecht und als staatliche Schutzpflicht, in: Josef Isensee/Paul Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland (= HStR), Bd. IX, 3 2009, § 191 Rn. 4 ff., 47 ff., 217 ff. 12  Markus Heintzen, Auswärtige Beziehungen privater Verbände, 1988, S. 127 ff.; Florian Becker, Grenzüberschreitende Reichweite deutscher Grundrechte, in: HStR XI, 3 2013, § 240 Rn. 6 ff., 13 ff., 73 ff. 13 Zur räumlichen Reichweite der grundrechtlichen Schutzpflicht Matthias Ruffert, Dogmatischer und konsularischer Schutz, in: HStR X, 32012, § 206 Rn. 34 ff.; Becker (Fn. 12), § 240 Rn. 108 ff. Vgl. auch Peter Szekalla, Die sogenannten grundrechtlichen Schutzpflichten im europäischen Recht, 2002, S. 96 f., 133, 194 f.; Isensee (Fn. 11), § 191 Rn. 208 ff.

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gehören nicht zur grundrechtlichen Freiheit. Sie sind per se illegitim als Verstöße gegen das staatliche Gewaltmonopol.14 Der Mob, der Autos, Häuser oder Menschen anzündet, genießt nicht den Schutz der Versammlungsfreiheit, gleich, ob ihn religiöse Empörung, politischer Protest oder bloßer Vandalismus leitet, gleich, ob er sich aus Muslimen, Christen oder Agnostikern rekrutiert. Wer, von heiligem Zorn übermannt, andere terrorisiert, kann sich nicht auf das Grundrecht der freien Religionsausübung berufen. Das steht auch dem Muslim nicht zu, der sich aufmacht, die Fatwa des Ayatollah Khomeini vom 14. 2. 1989 endlich zu vollstrecken und den Autor des Romans „Die satanischen Verse“ zu töten;15 dabei spielt es keine Rolle, ob er aus Glaubenseifer handelt oder in der Absicht, das Kopfgeld von nunmehr 3,3 Mio. US-Dollar zu verdienen. Desgleichen entfällt jeglicher Grundrechtsschutz für den Aufruf des türkischen „Kalifen von Köln“, Gotteslästerer zu ermorden.16 Der Ausschluß des grundrechtlichen Schutzes enthält keinen Widerspruch zur religiösen Neutralität des Staates und keine unzulässige Differenzierung nach der Religion, etwa eine solche zwischen „richtiger“ und „falscher“ Überzeugung, zwischen moderatem und fanatischem Handeln, aufgeklärtem und fundamentalistischem Glauben. Es geht überhaupt nicht um die inhaltliche Qualität der Religion, und es geht auch nicht um das Motiv des Handelns, sondern allein um deren Mittel, die physische Gewalt. Diese aber ist schlechthin verpönt. Das Recht, Gewalt gegen Personen oder Sachen anzuwenden, lebt auch dann nicht auf, wenn die Schmähung der Religion das äußerste Maß des Widerwärtigen, des Niederträchtigen, des moralisch wie rechtlich Verwerflichen erreicht. Obwohl sie die Bahnen des Geschmacks, der guten Sitten, des Rechts verläßt, verbleibt sie immerhin noch in den Bahnen der Kommunikation. Auf die Bahnen der Kommunikation ist auch der Protest wider die Blasphemie verwiesen. Er darf sich als Retorsion zu schärfster Intensität steigern, doch nur, solange er unterhalb der Gewaltschwelle verbleibt. Die Voraussetzungen der Notwehr oder der Nothilfe, die ausnahmsweise private Gewalt gestatten, liegen nicht vor, wenn eine Religion 14 Dazu Josef Isensee, Die Friedenspflicht des Bürgers und das Gewaltmonopol des Staates, in: FS Kurt Eichenberger, 1982, S. 23 ff.; ders., Staat und Verfassung, in: HStR II, 3 2004, § 15 Rn. 83 ff. (Nachw.). 15  Fatwa v. 14. 2. 1989: „Ich informiere das stolze muslimische Volk der Welt, daß der Autor des Buches Die satanischen Verse, welches sich gegen den Islam, den Propheten und den Koran richtet, sowie alle, die zu seiner Publikation beigetragen haben, zum Tode verurteilt sind. Ich bitte sämtliche Muslime, die Betroffenen hinzurichten, wo immer sie auch sein mögen“ (Quelle: Der Spiegel Nr. 38 v. 17. 3. 2012, S. 142). Zur Erläuterung fügte Ayatollah Chomeini hinzu: „Selbst wenn Salman Rushdie bereut und der frömmste Mann unserer Zeit wird, obliegt es jedem Muslim, sein Leben, sein Vermögen und alles daranzusetzen, ihn zur Hölle zu schicken“ (Quelle: Zeit online, http://www.zeit.de/1989/09/ worte-der-woche). 16 Dazu Ursula Spuler-Stegemann, Muslime in Deutschland, 1998, S. 89 ff.

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durch Wort und Bild beschimpft wird, desgleichen nicht die Voraussetzungen des rechtfertigenden gesetzlichen oder übergesetzlichen Notstandes, weil der Einsatz von physischem Zwang zur Abwehr ideellen Frevels nicht taugt und der Güterabwägung nicht standhält. Soweit Gewalt im Spiel ist, herrscht Klarheit über die grundrechtliche Rollenverteilung. Wer mit physischem Zwang droht oder agiert, ist Störer, der Adressat Opfer. Der Staat wird nicht durch die Abwehrrechte des Störers gehindert, ihm in den Arm zu fallen.17 Doch ist er verpflichtet, das Opfer privater Gewalt zu schützen. Dabei kommt es nicht darauf an, ob das Opfer, gewollt oder ungewollt, den Zorn des Täters hervorgerufen und die Gewalt letztlich verursacht hat oder ob das Opfer mit der Provokation überhaupt nichts zu tun hat, sondern lediglich mit einer Kollektivverantwortung als Deutscher, als Europäer, als Christ überzogen oder rein zufällig, als Passant etwa, zum Kollateralgeschädigten wird. Der Skandal, den die Intendantin der Berliner Städtischen Oper im Oktober 2006 mit der Absetzung einer Aufführung des „Idomeneo“ auslöste, weil sie Terrorakte von Islamisten fürchtete, die sich durch eine (an sich opernfremde Passage) der Inszenierung hätten beleidigt fühlen können, ist ein heilsames Lehrstück darüber, daß grundrechtliche Freiheit nur in einem Gesamtzustand der Sicherheit gedeiht und daß ohne die Freiheit von Furcht die Unbefangenheit des bürgerlichen Daseins und des kulturellen Lebens nicht gedeiht. Das Menetekel des Islamismus zeigte sich in der Fatwa des Ayatollah Khomeini wider den Roman „Die satanischen Verse“ von Salman Rushdie wie in dem Protest des türkischen Religionsministers gegen ein unliebsames historisches Zitat in der Regensburger Rede von Papst Benedikt XVI.: daß künftig muslimische Autoritäten Zensur ausüben über Kunst, Wissenschaft, Religion des Westens und sie im Fall der Widersetzlichkeit den muslimischen Mob entfesseln können. Der Rechtsstaat, der gegenüber religiös motivierter Gewalt Toleranz übt, praktiziert Beihilfe zur Intoleranz und verleugnet sich selbst. In der Attitüde der Generosität, die im Westen zu beobachten ist, verbirgt sich vielfach Feigheit. Ein Rabatt in der Einhaltung der allgemeinen Bürgerpflicht zur Friedlichkeit widerspräche auch der Rechtsgleichheit. Ein Privileg wäre schon deshalb unangebracht, weil hinter der bereits großen, rasant wachsenden Zahl der Muslime im Lande ausländische Schutzmächte stehen und ein gewaltiges und gewaltfähiges Solidarisierungspotential. Gleichwohl neigen politische Klasse und Medien dazu, auf die Schmähung der Religion unterschiedlich zu reagieren, wenn es sich um das Christentum

17  Zu der Kontroverse, ob der Schutzbereich der Freiheitsrechte die Androhung und Anwendung physischer Gewalt abdeckt oder nicht: Josef Isensee, Grundrechtsvoraussetzungen und Verfassungserwartungen an die Grundrechtsausübung, in: HStR IX, 32011, § 190 Rn. 82 ff. (Nachw.).

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oder um den Islam handelt: hier die Politik des rohen Eies, dort die Politik der abgewetzten Fußmatte. Bemerkenswert ist ein Strafurteil des Amtsgerichts Lüdinghausen, das den Angeklagten wegen Religionsbeschimpfung (§ 166 StGB) verurteilte, weil er Klopapierrollen mit Koranaufdruck an islamische Einrichtungen versandt hatte. Als Grund zur Strafmilderung erkannte das Gericht jedoch an, daß der Angeklagte „selbst von den Folgen seiner Tat eingeholt wurde: aufgrund erheblicher Bedrohungen und einer akuten Gefährdungslage lebt der Angeklagte nicht mehr unter seiner bisherigen Wohnanschrift, sondern hält sich an wechselnden Aufenthaltsorten auf, um nicht weiter identifiziert werden zu können“.18

III.  Die abwehrrechtliche Position des Verletzers Wer durch verbale oder bildliche Äußerungen, gewollt oder ungewollt, religiöse Belange verletzt, kann die Kommunikationsfreiheit für sich reklamieren. Im Fall der dänischen Karikaturen – nach Deutschland versetzt – streiten für den Täter prima facie mehrere Grundrechte: die Meinungsfreiheit in der Tendenz, die Kunstfreiheit in der Gestaltung, die Pressefreiheit im Medium, die Freiheit der Berufsausübung in der erwerbsbezogenen Professionalität. Durchgängig aktualisiert sich die Meinungsfreiheit, die sich auf die Schmähung dem Inhalt nach bezieht. Dieses Grundrecht deckt auch kritische, provozierende, alberne, dümmliche, bösartige Meinungsäußerungen.19 So mag man die Meinungsfreiheit i. S. v. Art. 5 GG selbst dem Trio von Pussy Riot zuerkennen, das schon in seinem Namen von allem abrückt, was auch nur entfernt an Geist, Geschmack oder Gesittung erinnern könnte. Die Freiheit der Meinung verbindet sich in der Ausübung vielfach mit der Freiheit des Mediums, das Publizität verschafft.20 Provokationen erreichen ihr Ziel, die öffentliche Aufmerksamkeit zu gewinnen, nur über Presse, Funk, Fernsehen, Internet. Manches blasphemische Spektakel wird von vornherein auf die Medien hin inszeniert. Bei den Zeitungskarikaturen wirkt die Redaktion mit, die Provokation herbeizuführen. Soweit es aber um die Rechtsfragen geht, ob eine bestimmte Äußerung erlaubt ist und ob der andere die ihn kränkende Äußerung 18 

AG Lüdinghausen, Urt. v. 23. 2. 2006, zitiert nach: http://www.juris.de. v. Arnauld (Fn. 11), S. 68 ff.; Barbara Rox, Schutz religiöser Gefühle im freiheitlichen Verfassungsstaat?, 2012, S. 47 ff. Zu Art. 10 EMRK Katharina Pabel, Grundrechtsbeschränkungen bei grenzüberschreitenden Konfliktlagen, in: JRP 2006, S. 92 ff.; Rox (Fn. 19), S. 270 ff. 20  Zu einschlägigen Konflikten der Mediengesellschaft Wolfgang Wunden, Blasphemie: Ärgernisse oder Herausforderung der Christen, in: Gerhard Schmied/Wolfgang Wunden, Gotteslästerung? Vom Umgang mit Blasphemien heute, in: Mainzer Perspektiven – Orientierungen 3, 1996, S. 83 (95 ff.). 19 Eingehend

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hinzunehmen hat oder nicht, ist ungeachtet des Verbreitungsmediums der Tatbestand der Meinungsfreiheit einschlägig.21 Am Grundrecht der Meinungsfreiheit werden vorrangig auch blasphemische Kundgaben gemessen, die innerhalb einer Versammlung erfolgen 22 oder für die eine Versammlung demonstriert.23 Soweit sich die Religionsbeschimpfung allerdings in künstlerischer Form vollzieht, greift das Grundrecht der Kunstfreiheit ein und absorbiert das der Meinungsfreiheit.24 Hier finden die blasphemische Karikatur und Satire ihren grundrechtlichen Unterschlupf, und das besonders leicht, weil es keine Einlaßkontrolle nach dem Niveau gibt. Die obszöne oder fäkalistische Besudelung von Christentum und Kirche hält sich gern in den hintersten und finstersten Winkeln des erweiterten Kunstbegriffs auf, aus denen die letzten Residuen von Geschmack und Moral entwichen sind.25 Der Überbietungswettbewerb in Tabubrüchen kennzeichnet gerade das moderne Regietheater, für das die skandalisierte Berliner „Idomeneo“-Aufführung mit ihrem albernen Appendix, der Enthauptung von Religionsstiftern, ein vergleichsweise harmloses Exempel abgibt. Hindemiths Frühwerk „Sancta Susanna“ – Höhepunkt: eine erotisch verzückte Nonne reißt dem Gekreuzigten das Lendentuch vom Leib – löste bei der Uraufführung im Jahre 1922 noch einen Skandal aus, während jedoch bei der Wiederaufnahme des Werkes nach 90 Jahren, in der Bonner Oper, das Werk gefeiert wurde.26 Das krampfhafte Bemühen, die abgeschlaffte Aufmerksamkeit einer reizüberfluteten, reizabgestumpften Gesellschaft zu erlangen, beschränkt sich nicht auf die Kunstszene, sondern erfaßt auch die Wirtschaftswerbung, greift also über auf den grundrechtlichen Schutzbereich der Berufsfreiheit, so der Slogan für „JesusJeans“: „Du sollst keine anderen Jeans neben mir haben“. Ein Beispiel für die Konvergenz von Kunst- und Berufsfreiheit ist der Werbespot für die Zeichentrickserie „Popetown“: der vom Kreuze herabgestiegene, dornengekrönte, von 21  Zum Verhältnis der Meinungs- zur Medienfreiheit BVerfGE 20, 162 (175 f.); 85, 1 (11, 12 f.); 86, 122 (128); 95, 28 (34); 97, 391 (400); 113, 63 (75). Differenzierend Matthias Jestaedt, Meinungsfreiheit, in: Detlef Merten/Hans-Jürgen Papier (Hrsg.), Handbuch der Grundrechte in Deutschland und Europa (= HGR), Bd. IV, 2011, § 102 Rn. 101 ff. 22  BVerfGE 90, 241 (246). 23  Zur Konkurrenz von Meinungs- und Versammlungsfreiheit Edzard Schmidt-Jortzig, Meinungs- und Informationsfreiheit, in: HStR VII, 32009, § 162 Rn. 47; Michael Kloepfer, Versammlungsfreiheit, in: HStR VII, 32009, § 164 Rn. 120. 24  BVerfGE 30, 173 (200); 75, 369 (377). 25  Exemplarisch das Rock-Musical „Das Maria-Syndrom“ – dazu OVG Koblenz, in: NJW 1997, S. 1174 ff. – Phänomene der Blasphemie in Literatur, Medium, Kabarett etc.: Gerhard Schmied, „Du sollst den Namen Gottes nicht verunehren“, in Schmied/Wunden (Fn. 20), S. 11 (42 ff.); Wunden (Fn. 20), S. 83 (93). 26 So Heinz Dietl/Bernhard Hartmann, Die spinnen, die Banausen, in: General-Anzeiger v. 3./4. 11. 2012, Beilage: Das Wochenende, S. 1.

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der Lanzenwunde gezeichnete Jesus, lachend vor einem Fernsehapparat: „Lachen statt rumhängen“, im Hintergrund das leere Kreuz von Golgatha.27 So paradox es klingen mag: die Gotteslästerung findet einen grundrechtlichen Ort auch in der Religionsfreiheit, und zwar dann, wenn sie sich über das Trivialniveau von Kino, Kabarett und Regietheater zur Höhe Nietzsches erhebt: als Abkehr von Gott und als Kampf mit dem Engel, als Ausbruch prophetischen Zorns, als Anklage gegen Religion und Kirche, aus Enttäuschung über den Widerspruch zwischen christlichem Anspruch und kirchlicher Realität, als Rebellion wider die Mächte der gesellschaftlichen Tradition und der persönlichen Biographie, als Haß auf das eigene Über-Ich, das sich im Gewissen meldet. Wer Gott für tot erklärt, kann von ihm abhängig bleiben und, wer ihn schmäht, nach ihm suchen. „Sein bin ich, ob ich in der Frevler Rotte/auch bis zur Stunde bin geblieben:/sein bin ich – und ich fühl die Schlingen, die mich im Kampf darniederziehn/und, mag ich fliehn,/mich doch zu seinem Dienste zwingen.“28 Grundrechtlich gesehen, ist die Negation der Religion ihrerseits Religion, freilich unter dem Vorbehalt, daß sich darin existentieller Ernst und Drang nach letzter Wahrheit regen, wie sie sich in Nietzsches Fluch auf das Christentum entladen. Nietzsche selbst setzt sich in seinem Antichristentum ab von der „Freigeisterei unserer Herren Naturforscher und Physiologen“, die in seinen Augen nur Spaß ist, weil die Leidenschaft in diesen Dingen fehle, das Leiden an ihnen.29 Die landesübliche, seichte „Freigeisterei“ kann nicht das Grundrecht der Religionsfreiheit für sich reklamieren. Wenn sie sich zum weltanschaulichen Bekenntnis aufrafft, genießt sie aber von Verfassungs wegen die gleiche grundrechtliche Freiheit wie das religiöse Bekenntnis (Art. 4 Abs. 1 GG).

IV.  Religiöse Belange als Schranken der Meinungsfreiheit Den unterschiedlichen Schutzbereichen korrespondiert ein unterschiedliches Schrankenregime. Diese Unterschiede können jedoch in diesem Rahmen vernachlässigt werden, schon deshalb, weil sich die verfassungsimmanenten Schranken durch großzügige Interpretation des Verfassungstextes den konstitutiven gesetzlichen Schranken weitgehend angeglichen haben, zumal über die Rechtsfigur 27 

Grundrechtliche Qualifikation v. Arnauld (Fn. 11), S. 67 f. Friedrich Nietzsche, Dem unbekannten Gott, in: ders., Werke (hrsg. von August Messer), 2. Bd., o. J., S. 541. Zu den christlichen Antrieben in Nietzsches Kampf gegen das Christentum: Karl Jaspers, Nietzsche und das Christentum, 1952, S. 41 ff.; Bernhard Welte, Nietzsches Atheismus und das Christentum, 1964; Heinrich Detering, Der Antichrist und der Gekreuzigte, 22010. – Zur religiösen Relevanz der Blasphemie Wunden (Fn. 20), S. 86 ff. 29  Friedrich Nietzsche, Der Antichrist (1888), in: ders., Werke, hrsg. von Karl Schlechta, 2. Bd., 1955, S. 1161 (1169). 28 

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der grundrechtlichen Schutzpflicht, der verfassungsimmanenten Schranke par excellence. 1.  Vorbehalt des Gesetzes Generell bedürfen Eingriffe der formell-gesetzlichen Grundlage. Diese ist auch erforderlich, wenn der Staat kraft einer grundrechtlichen Schutzpflicht gehalten ist, die Ausübung des Freiheitsrechts zu beschränken. Einfachgesetzliche Medien der Schutzpflicht sind vornehmlich das bürgerliche Deliktsrecht und das Recht der polizeilichen Gefahrenabwehr. Dem Strafrecht kommt nur nachrangige Bedeutung zu, und diese vornehmlich in seiner Präventivfunktion und seiner normstabilisierenden Wirkung. Die Strafvorschriften erlangen jedoch mittelbare Relevanz für die Gefahrenabwehr, weil die Aufgaben und Befugnisse der Polizei auch die Verhütung von Straftaten umfassen.30 Die grundrechtliche Schutzpflicht setzt keine strafbare Handlung voraus. Es kommt also nicht darauf an, daß der Täter schuldhaft gegen die Strafvorschrift der Religionsbeschimpfung nach § 166 StGB oder der Beleidigung nach § 185 StGB verstößt. Überhaupt spielen auf Seiten des Störers subjektive Momente wie Vorsatz und Fahrlässigkeit keine Rolle. Es kommt allein an auf die objektive Gefährdung oder Verletzung des grundrechtlichen Schutzgutes. Insofern entsprechen der grundrechtlichen Schutzpflicht die polizeirechtlichen Kriterien der Gefahrenabwehr, nicht die strafrechtlichen der Ahndung von individuell vorwerfbaren Rechtsverstößen. Da es also auf die Wirkung ankommt, nicht aber auf die Absicht, kann die Schutzpflicht im Dissens der Kulturen zum Zuge kommen, wenn der Lästerer sich gar nicht bewußt ist, daß er Persönlichkeitsrechte verletzt, weil ihm die Welt der Religion völlig fremd ist und er nicht versteht, daß der Glaube die Identität einer Person begründen kann. Diese Fundamentalignoranz findet sich nicht nur im Verhältnis des Okzidents zum Orient, sondern auch innerhalb des Okzidents zwischen den paganisierten und den gläubigen Gruppen der deutschen Gesellschaft. Im Zentrum der rechtspolitischen Diskussion steht die Strafnorm des § 166 StGB mit der amtlichen Bezeichnung „Beschimpfung von Bekenntnissen, Religionsgesellschaften und Weltanschauungsvereinigungen“ – kurz: Religionsbeschimpfung, weiland Gotteslästerung. Der Straftatbestand erfaßt die Beschimpfung des religiösen oder weltanschaulichen Bekenntnisses anderer in einer Weise, die geeignet ist, den öffentlichen Frieden zu stören. In der Beschimpfung manifestiert sich Mißachtung, die durch die Roheit des Ausdrucks oder durch die Verächtlichkeit des vorgeworfenen Verhaltens besondere Inten30  Exemplarisch für die vorbeugende Bekämpfung von Straftaten § 1 Abs. 1 S. 2 und § 8 PolGNRW; § 1 Abs. 5 und § 14 Abs. 1 BPolG.

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sität annimmt.31 Der Grad an Bösartigkeit, den die Religionsbeschimpfung voraussetzt, wird deutlich in der auf das Christentum bezogenen Kasuistik,32 etwa in der Darstellung eines gekreuzigten Schweins auf dem T-Shirt;33 der Deutung des Leidens Christi als perverses Sexualverhalten34 und als „Identifikationsangebot für psychische Outsider“;35 in der Kreuzesdarstellung mit der Beschriftung „Masochismus ist heilbar“;36 der Schmähung des Meßopfers als „uralter kannibalischer Ritus“ und des Christentums als „Liebesreligion mit Killermentalität“;37 der Bezeichnung der Kirche als „größte Verbrecherorganisation der Welt“;38 dem Autoaufkleber: „Maria, hättest du abgetrieben, der Papst wäre uns erspart geblieben.“39 Die Bezeichnung der katholischen Kirche als „Kinderficker-Sekte“ soll laut Amtsgericht Tiergarten zwar eine Beschimpfung nach § 166 StGB, doch nicht geeignet sein, den öffentlichen Frieden zu stören. Angesichts des durch den Mißbrauchsskandal erschütterten Vertrauens in die katholische Kirche seien durch die Äußerung keine weiteren Erschütterungen des friedlichen Nebeneinanders zu gewärtigen.40 Hätte das Amtsgericht Tiergarten ebenso entschieden, wenn der Täter die Muslime als „Terroristen-Sekte“ geschmäht hätte mit der Begründung, die radikal-islamischen Gewaltexzesse seien der Normalzustand des Islam? Immerhin hätte das Gericht das Merkmal des öffentlichen Friedens nach denselben Kriterien bestimmen müssen, also nach geläufiger Definition als Zu-

31 Vgl. Thomas Fischer, Strafgesetzbuch, 602013, § 166 Rn. 12; Theodor Lenckner/Nikolaus Bosch, in: Adolf Schönke/Horst Schröder, Strafgesetzbuch, 282010, § 166 Rn. 9; Karlhans Dippel, in: Leipziger Kommentar zum Strafgesetzbuch, Bd. 5, 122010, § 166 Rn. 26 ff.; Tatjana Hörnle, in: Münchener Kommentar zum StGB, Bd. 3, 22012, § 166 Rn. 14 ff.; Stephan Stübinger, in: Nomos-Kommentar zum StGB, Bd. 2, 42013, § 166 Rn. 5; Karl Lackner/Kristian Kühl, Strafgesetzbuch, 272011, § 90a Rn. 6, § 166 Rn. 4; OLG Köln, in: NJW 1982, S. 657 (658); OLG Karlsruhe, in: NStZ 1986, S. 363 (364 f.). 32  Zusammenstellung bei Fischer (Fn. 31), § 166 Rn. 12; Lenckner/Bosch (Fn. 31), § 166 Rn. 9 f. 33  OLG Nürnberg, in: NStZ-RR 1999, S. 238 ff. 34  LG Göttingen, in: NJW 1985, S. 1652 (1653). 35  OLG Düsseldorf, in: NJW 1983, S. 1211. 36  LG Göttingen, in: NJW 1985, S. 1652 f. Ähnliches Niveau: der Kruzifixus in der Form eines Klorollenhalters als Illustration zu dem Text „Spielt Jesus noch eine Rolle?“ im Satiremagazin Titanic (Beispiel neben anderen bei Andreas Püttmann, Durch die Lauheit des Glaubens abgestumpft, in: Die Tagespost v. 11. 2. 2006, Nr. 18, S. 11). 37  OLG Düsseldorf, in: NJW 1983, S. 1211. 38  LG Göttingen, in: NJW 1985, S. 1653. 39  LG Düsseldorf, in: NStZ 1982, S. 290 (291). Vgl. auch OVG Koblenz in: NJW 1997, S. 1147 f. – „Das Maria-Syndrom“. – Weitere Beispiele: Schmied (Fn. 25), S. 41 ff.; Püttmann (Fn. 36), S. 11. 40  AG Tiergarten, B. v. 6. 2. 2012, zitiert nach: http://www.juris.de.

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stand der Rechtssicherheit und des allgemeinen Rechtsvertrauens der Bürger.41 Könnte die Partei der Grünen sich strafrechtlich zur Wehr setzen, wenn sie öffentlich als „Kinderficker-Netzwerk“ geschmäht würde, weil sie vor Jahren die gesetzliche Freigabe der Pädophilie gefordert und weil ihre Exponenten einschlägige öffentliche Bekenntnisse abgelegt haben? 2.  Mögliche Schutzgüter Eine Strafvorschrift, welche die Kommunikationsfreiheit einschränkt, bedarf der inhaltlichen Rechtfertigung vor dem betroffenen Grundrecht. Das gilt auch für das bürgerliche Deliktsrecht und das Verwaltungsrecht der Gefahrenabwehr. Die Rechtfertigung setzt ein legitimes Schutzgut voraus, um dessentwillen die Einschränkung erfolgt. Doch die Frage ist, ob und wieweit religiöse Belange den Schutz der staatlichen Rechtsordnung genießen und erlangen können. Hier erheben sich die Barrieren der staatlichen Säkularität und der individualistischen Konzeption der Grundrechte. a)  Name und Ehre Gottes Von vornherein scheidet die Intention aus, Gott vor Beleidigung zu schützen. Gott ist kein Grundrechtsträger und seine Ehre kein Rechtsgut. Religiöse Ziele und Aufgaben liegen jenseits des säkularen Horizonts des Verfassungsstaates.42 Für einen Staat jedoch, der sich mit einer bestimmten Religion identifiziert und der seine Einheit auf ihr gründet, bedeutet die Gotteslästerung einen Angriff auf seine eigenen Grundlagen, die er mit allen Mitteln abzuwehren hat, um sich selbst zu behaupten, aber auch um die Gottheit nicht zu erzürnen. Das gilt nicht nur für den Islam, sondern auch für die jüdisch-christliche Tradition. Das zweite Gebot des Dekalogs, den Namen Gottes nicht zu verunehren, wurde vom ganzen Volk aufgenommen und sanktioniert. Laut alttestamentarischem Zeugnis vernahm Moses die göttliche Botschaft: „Wer seinen Gott lästert, lädt Schuld auf sich. Wer aber des Herrn Namen schmäht, leide den Tod! Die ganze Gemeinde soll ihn steinigen. Ob Fremdling oder Eingeborener, wer den Namen lästert, muß sterben.“43 Wer Gottes Namen schändet, gehört nach Luther in „des Henkers Schule.“44 Doch gerade vom Christentum geht der Impuls aus, den Gottesfrevel 41 Näher Theodor Lenckner/Detlev Sternberg-Lieben, in: Schönke/Schröder (Fn. 31), § 126 Rn. 1, 7 ff.; Lackner/Kühl (Fn. 31), § 126 Rn. 1; Fischer (Fn. 31), § 126 Rn. 3; Hörnle (Fn. 31), § 166 Rn. 22 ff. Kritisch Günther Jakobs, Kriminalisierung im Vorfeld der Rechtsgutsverletzung, in: ZStW 97 (1985), S. 751 (774 ff.). 42  Josef Isensee, Staatsaufgaben, in: HStR IV, 32006, § 73 Rn. 60 ff. 43  Levitikus 24,15 – 16. 44  Martin Luther, Der große Katechismus (1529), in: Luthers Werke, hrsg. von Otto Clemen, 4. Bd. 1967, S. 1 (11).

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nicht weiter mit Gewalt und staatlicher Strafe zu ahnden, weil er nicht unter die Gerichtsbarkeit der Menschen falle, sondern unter das Gericht Gottes, und daß das Urteil erst im Endgericht Gottes ergehen werde, nicht aber hier auf Erden, wo Weizen und Unkraut durcheinander wachsen. Mithin, so die Urkirche, sei der Gotteslästerer ebenso zu ertragen wie andere Sünder auch.45 Im konstantinischen Zeitalter gerät diese urchristliche Lehre weithin in Vergessenheit; sie erwacht wieder – unter wenig kirchenfreundlichen Vorzeichen – in der Aufklärung, mit praktischen Konsequenzen für die staatliche Rechtsordnung bis heute. b)  Religiöse Gefühle und religiöses Selbstverständnis Die Karikaturen beleidigen die religiösen Gefühle von Muslimen. Der Schutz religiöser Gefühle gehörte zu den Aufgaben des hergebrachten Polizeirechts. So hielt das Thüringer OVG noch nach dem Zweiten Weltkrieg, in dem kurzen Intermezzo seiner Existenz unter der sowjetischen Besatzung, die Fronleichnams­ prozession für eine Störung der öffentlichen Ordnung, weil sie, wegen ihres herkömmlichen Charakters als Demonstration wider die Ketzerei, die Gefühle einer überwiegend evangelischen Bevölkerung ebenso verletze wie ein protestantischer Umzug mit Lutherliedern und Posaunenchören in einem katholischen Wallfahrtsort die Gefühle der dortigen Bevölkerung.46 Nach heute dominierender Rechtsauffassung riebe sich eine solche Argumentation an dem Grundrecht der freien Religionsausübung. Im übrigen hat die Polizei auch rechtsstaatliche Hemmungen, von der gesetzlichen Ermächtigung, die öffentliche Ordnung zu schützen, Gebrauch zu machen. Das Schutzgut muß objektiv und allgemein sein. Subjektiv ist lediglich die jeweilige Betroffenheit. Gefühle konstituieren kein allgemeines Gesetz. Sie lassen sich nicht normativ fassen. So sind denn religiöse Gefühle auch kein mögliches Objekt einer staatlichen Schutzpflicht.47 Die zufälligen Gemütswallungen des einen ergeben keine Schranke für die Freiheit des anderen. Niemand kann kraft seiner Sicht von grundrechtlicher Freiheit seinen eigenen Handlungsraum erweitern oder den des anderen schmälern. Generell verbietet das Prinzip der Rechtsgleichheit, die Konflikte nach dem Maß der Empfindlichkeit oder Robustheit einer der streitenden Parteien aufzulösen. Zu diesem Thema Salman Rushdie, Autor der „Satanischen Verse“, gegen den die heilige Fatwa das Todesurteil verhängt hat: 45  Arnold Angenendt, Gottesfrevel, in: Josef Isensee (Hrsg.), Religionsbeschimpfung, 2007, S. 9 (11 ff.); ders., Toleranz und Gewalt, 52009, S. 232 ff. Vgl. auch Schmied (Fn. 25) S. 20 ff. 46  ThürOVG, Jahrb. 1946/47, S. 243 (247 f.). 47 Zutreffend von Arnauld (Fn. 11), S. 66 (78 f.); Rox (Fn. 19), S. 112 ff., 164 ff. Zum Schutz religiöser Gefühle nach der EMRK Christoph Grabenwarter, Filmkunst im Spannungsfeld zwischen Freiheit der Meinungsäußerung und Religionsfreiheit, in: ZaöRV 55 (1995), S. 143 ff.; Pabel (Fn. 19), S. 95 f.

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„Ich habe eine heftige Abneigung gegen diese Kultur des Beleidigtseins. Offenbar reicht allein die Behauptung, man sei beleidigt, um sich ins Recht gesetzt zu sehen, herumzulaufen und Randale zu machen … Es wird immer zu Respekt vor irgendwelchen Gefühlen geraten und zu Umsicht … Dies sind Codewörter der Angst.“48 Über Grund und Ausmaß des staatlichen Schutzes entscheidet nicht das religiöse Selbstverständnis des Einzelnen oder einer Glaubensgemeinschaft. Das Selbstverständnis hat legitimen Einfluß auf die jeweilige Ausübung des Grundrechts der Religionsfreiheit, nicht aber auf seine thematische Reichweite und sein Schutzniveau.49 Daher zieht der Religionsimport des Islam nicht die Scharia als Interpretationsfolie für das deutsche Verfassungsrecht nach sich. Der Rechtsstaat mit seinen groben Händen vermag nicht, die Subjektivität als solche zu schützen, sondern nur deren rechtliches Gehäuse, eben die Grundrechte. Diese aber haben objektiven und allgemeinen Rechtscharakter. Das Gesetz trifft eine Sonderregelung für öffentlich-rechtliche Rundfunkanstalten. Sie haben den volkserzieherischen Auftrag, dazu beizutragen, die Achtung vor „Glauben und Meinung anderer zu stärken“. Sie selber sind gehalten, „die sittlichen und religiösen Überzeugungen der Bevölkerung“ zu achten.50 Trotz ihrer öffentlich-rechtlichen Organisation genießen die Rundfunkanstalten den Schutz der Meinungsfreiheit.51 Im Zentrum steht die Programmautonomie,52 und zwar grundsätzlich für jede Sendung.53 Dennoch unterscheidet sich der grundrechtliche Status der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten von dem privater Medien. Sie sind keine Geschöpfe der Privatautonomie, sondern Kunstprodukte des Gesetzes, von diesem gestaltet und der Aufgabe gewidmet, freie und umfassende Meinungsbildung zu gewährleisten. Die Freiheit des Rundfunks ist dienende Freiheit,54 die in eine objektive Ordnung, die Rundfunkverfassung, eingebunden und auf einen gemeindienlichen Auftrag hin ausgerichtet ist. Zu diesem Auftrag gehören die Erziehung zu religiöser Toleranz und die Achtung vor den religiösen Überzeugungen der Bevölkerung.55 Die Achtungspflicht verlangt 48  Salman Rushdie, Es geht nur um eines. Wer kontrolliert die Erzählung?, Interview, in: FAZ v. 5. 10. 2012, Nr. 232, S. 31. 49 Näher Josef Isensee, Wer definiert die Freiheitsrechte?, 1980; Stefan Muckel, Religiöse Freiheit und staatliche Letztentscheidung, 1997, S. 27 ff.; Rox (Fn. 19), S. 154 ff. Gegenauffassung Martin Morlok, Selbstverständnis als Rechtskriterium, 1993, S. 309 ff. 50  Repräsentativ: § 5 Abs. 2 S. 2 und 3 Gesetz über den Westdeutschen Rundfunk Köln. 51  BVerfGE 10, 118 (121); 66, 116 (133); 77, 65 (74 f.). 52  BVerfGE 59, 231 (258). 53  BVerfGE 35, 202 (222 f.); 74, 297 (323); 91, 125 (134 ff.). 54  BVerfGE 57, 295 (320). 55  Dagegen werden nach Christoph Link die religiösen Empfindungen gesetzlich geschützt (Die gesetzlichen Regelungen der Mitwirkung der Kirchen in den Einrichtungen

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von den Anstalten ein Mindestmaß an Kenntnis der religiösen Überzeugungen der Bevölkerung und ein Mindestmaß an Sensibilität für deren religiöse Empfindlichkeiten. Beides scheint heute abzustumpfen. Andernfalls hätte das ZDF die Person Christi nicht zum Lachobjekt benutzt. Die rundfunkrechtliche Achtungspflicht gründet in den spezifischen Gegebenheiten der öffentlich-rechtlichen Medien. Sie läßt sich nicht zur allgemeinen Rechtspflicht und zur Schranke der Meinungsfreiheit von jedermann ausweiten. Für diesen hat sie nur ethischen Charakter: als Gebot bürgerlichen Anstandes im Umgang mit den religiösen Überzeugungen der anderen. c)  Religion als gesellschaftliche Potenz Wenn der Staat nicht religiöse Subjektivität als Maß für die grundrechtlichen Freiheiten anderer gelten läßt, so bleibt doch die Möglichkeit, daß er die Religion als objektive Potenz des gesellschaftlichen Lebens schützt.56 Der Vergleich zur Kultur liegt nahe. Die Kultur entwickelt sich nach ihren eigenen Gesetzen auf dem Boden grundrechtlicher Freiheit. Der Staat verhält sich neutral zu den kulturellen Richtungskämpfen, und er macht keinen Kunststil amtsverbindlich. Es gibt keine Staatskultur, und dennoch versteht sich der Staat als Kulturstaat.57 Er betrachtet die Pflege der Kultur als legitime Aufgabe,58 entsagt allem Kultur- und Kunstrichtertum59 und muß doch, soweit er knappe Fördermittel verteilt, Prioritäten setzen, die dem Gleichheitssatz genügen. Der säkulare Staat fördert auch die Religion.60 Zwar ist er blind für ihre transzendente Wahrheit, doch sieht er ihre soziale Mächtigkeit. Über das Faktum der Religion und ihre rechtliche Relevanz täuscht das geläufige Gerede von der „säkularen Gesellschaft“ hinweg. Wesenhaft säkular ist der Staat, nicht aber des Rundfunks und des Fernsehens, in: Joseph Listl/Dietrich Pirson [Hrsg.], Handbuch des Staatskirchenrechts der Bundesrepublik Deutschland, 2. Bd., 21995, S. 285 [297 f.]). 56  Religion verstanden im Sinne Jacob Burckhards, der sie neben Staat und Kultur als sich gegenseitig bedingende Potenzen stellt (Weltgeschichtliche Betrachtungen, 1905, Ausgabe 1949, S. 51 ff.). 57  So ausdrücklich der Freistaat Bayern in Art. 3 S. 1 BayVerf. Dogmatik: Ernst Rudolf Huber, Zur Problematik des Kulturstaats, 1958; Udo Steiner, Kultur, in: HStR IV, 32006, § 86 Rn. 1 ff. 58  Zu Legitimität und Praxis Steiner (Fn. 57), § 86 Rn. 9 ff. 59  Knies (Fn. 9), S. 170 f. 60 Dazu Gerhard Robbers, Förderung der Kirchen durch den Staat, in Listl/Pirson (Fn. 55), 1. Bd., 21994, S. 867 (873 ff.). – Zur Säkularität und religiösen Neutralität des Verfassungsstaates mit Nachw. Stefan Mückl, Grundlagen des Staatskirchenrechts, in: HStR VII, 32009, § 159 Rn. 61 ff., 67 ff., 94; Klaus Ferdinand Gärditz, Säkularität und Verfassung, in: Otto Depenheuer/Christoph Grabenwarter (Hrsg.), Verfassungstheorie, 2010, § 5 Rn. 19 ff., 37 ff.

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die Gesellschaft. In dieser wirken sowohl säkulare als auch religiöse Kräfte. Der säkulare Staat erkennt die Bedeutung der Kirchen für das Gemeinwohl. Die verfassungsgebotene Trennung von den Religionsgemeinschaften hindert ihn nicht, mit ihnen zusammenzuarbeiten, soweit sich ihre Aufgaben überschneiden oder ergänzen. Die Förderung, die er ihnen über die Institutionen des Staatskirchenrechts angedeihen läßt, kommt mittelbar dem Gemeinwesen insgesamt zugute.61 Doch der Spielraum, den die Verfassung der staatlichen Förderung offenhält, erstreckt sich nicht auf den Schutz vor privaten Eingriffen. Die Religion muß sich im offenen Diskurs und im gesellschaftlichen Wettbewerb der Sinnangebote auf der Basis allgemeiner grundrechtlicher Freiheit selbst behaupten. Affirmation oder Kritik, Identifikation oder Absage, Faszination oder Gleichgültigkeit – alle diese Faktoren, von der ihre gesellschaftliche Wirksamkeit abhängt, ergeben sich aus individuellen Entscheidungen, die der Staat nicht beeinflussen darf. In grundrechtlicher Sicht steht die Religion nicht anders da als wissenschaftliche Erkenntnis, politische Meinung und künstlerische Richtung. Die Grundrechte sichern den freien Fluß der Entwicklung. Der Staat gewährleistet die rechtlichen Rahmenbedingungen, vor allem das Gebot des neminem laedere. Die laesio aber setzt ein Rechtsgut voraus, ein Persönlichkeitsrecht, einen Besitzstand wie das Eigentum oder einen rechtlich definierten Raum der Selbstbestimmung. Ein solcher Raum ist die Freiheit der Religion. Die Religion als solche aber steht nicht unter staatlichem Schutz. d)  Religionsfreiheit Geschützt wird das Grundrecht der Religionsfreiheit sowohl in seiner individuellen als auch in seiner kollektiven Dimension. Dem Staat, so das Bundesverfassungsgericht, obliegt die Pflicht, den Einzelnen wie den religiösen Gemeinschaften „einen Betätigungsraum zu sichern, in dem sich die Persönlichkeit auf weltanschaulich-religiösem Gebiet entfalten kann“ und sie „vor Angriffen oder Behinderungen anderer Glaubensrichtungen oder konkurrierender Religionsgruppen zu schützen“.62 Hinzuzufügen ist: auch vor Angriffen oder Behinderungen religionsindifferenter und religionsfeindlicher Kräfte. Doch die Schmähung der Religion hindert keinen ihrer Anhänger daran, seine Religion nach seiner Fasson auszuüben, wie sie auch keine Religionsgemeinschaft in ihrem Wirken stört. Das Maß religiöser Selbstbestimmung wird nicht gemindert. Es steht den Muslimen frei, ob sie von den dänischen Karikaturen Kenntnis nehmen oder sie ignorieren, ob sie mit Gleichmut reagieren oder mit Zorn. Die Bilder tasten also 61  Zu den religiösen Voraussetzungen des freiheitlichen Staates: Isensee (Fn. 17), § 190 Rn. 195 ff. (Nachw.). 62  BVerfGE 93, 1 (16).

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ihre Religionsfreiheit nicht an,63 wenn auch, nach Meinung vieler Muslime, ihre Religion. Doch zwischen der Kommunikationsfreiheit der einen und der Religionsfreiheit der anderen besteht hier keine Kollision. Der Umstand, daß eine blasphemische Äußerung in der Welt ist, reicht also nicht aus, um einen Eingriff in die Religionsfreiheit zu begründen. Es bleibt jedoch die Frage, ob ein Eingriff dann anzunehmen ist, wenn der Einzelne mit dieser Äußerung konfrontiert und er aufgrund der staatsbürgerlichen Friedenspflicht gezwungen wird, den Eingriff auszuhalten. Das BVerfG sieht einen staatlichen Eingriff dann für gegeben, wenn Schüler, aufgrund der allgemeinen Schulpflicht ohne Ausweichmöglichkeit dem christlichen Symbol des Kruzifixes an der Schulwand „ausgesetzt“, gezwungen werden, „unter dem Kreuz zu lernen“.64 Doch ist die Prämisse eines pauschalen Abwehrrechts gegen religiöse Symbole in staatlichen Räumen schon in sich nicht haltbar.65 Doch das Gericht überträgt seine Vorstellung vom staatlichen Eingriff nicht auf das Verhalten der Privaten zueinander. Das Konfrontationsverbot solle nicht gelten für die „im Alltagsleben häufig auftretende Konfrontation mit religiösen Symbolen der verschiedensten Glaubensrichtungen“, die nicht vom Staat ausgingen, die in der Regel nicht denselben Grad von Unausweichlichkeit besäßen, jedenfalls nicht auf einem notfalls mit Sanktionen durchsetzbaren Zwang beruhten.66 Im Gegenteil: das Gericht stellt ausdrücklich fest, daß in einer Gesellschaft, die unterschiedlichen Glaubensüberzeugungen Raum gibt, niemand ein Recht darauf hat, von fremden Glaubensbekundungen verschont zu bleiben.67 Das läßt sich übertragen auf Bekundungen des Unglaubens, der Glaubenskritik, der Glaubensschmähung, soweit diese nicht gegen ein für alle geltendes, verfassungsgemäßes Gesetz verstoßen. Konfrontation ist Folge der grundrechtlichen Freiheit, aber kein Eingriff in diese Freiheit. Sie reicht daher nicht aus, um einen Grundrechtseingriff anzunehmen. Vielmehr gehört zu den unvermeidlichen Zumutungen einer pluralistischen Gesellschaft, die Freiheit des anderen auszuhalten. Kein Staat nimmt dem Einzelnen diese Last ab. Kein Staat erspart dem, der sich in grundrechtslegitimen Wider63  Eine Beeinträchtigung der Religionsfreiheit nach Art. 9 EMRK durch einen blasphemischen Film nimmt der EGMR an – dazu Grabenwarter (Fn. 47), S. 128 (143 ff.). Ähnlich wohl auch Gerhard Luf/Brigitte Schinkele im Karikaturenstreit, wenn sie einen schonenden Ausgleich der beiderseitigen Rechte fordern (Kommunikationsfreiheit und der Schutz religiöser Gefühle, in: JRP 2006, S. 88 [92 ff.]). 64  BVerfGE 93, 1 (18). Erheblich vorsichtiger BVerfGE 35, 366 (375 f.) – Kreuz im Gerichtssaal in Bezug auf jüdischen Rechtsanwalt. 65 Näher Josef Isensee, Bildersturm durch Grundrechtsinterpretation, in: ZRP 1996, S. 10 (13 f.); Matthias Jestaedt, Das Kreuz unter dem Grundgesetz, in: JRP 1995, S. 237 (249 ff.); ders., Grundrechtsschutz vor staatlich aufgedrängter Ansicht, in: FS Joseph Listl, 1999, S. 259 ff. (bes. S. 274 ff.); Rox (Fn. 19), S. 134 ff., 187. 66  BVerfGE 93, 1 (18). 67  BVerfG v. 16. 5. 1995 – 1 BvR 1087/91, BVerfGE 93, 1 (16).

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spruch zu seiner gesellschaftlichen Umwelt begibt, die erforderliche Zivilcourage, den Widerspruch zu leisten, und die erforderliche seelische Hornhaut, den Widerspruch anderer zu ertragen. Im Karikaturenstreit fehlt es schon an der Konfrontation. Wer bei der Zeitungslektüre auf blasphemische Bilder stößt, kann die Lektüre einstellen und braucht nicht seinerseits für die Verbreitung der Bilder zu sorgen; er hat es nicht nötig, in zeitaufwendiger öffentlicher Arbeit die allgemeine Empörung zu organisieren. Das gilt auch für die Zeichentrickserie „Popetown“, die in gequältem Humor einen computeranimierten Vatikanstaat zeigt, in dem von einem geheimen Swimmingpool aus Kardinäle finstere Pläne schmieden, indes der Papst als 77jähriges Kleinkind japanischen Touristen auf die Nerven geht. Der Katholik, der im Programm von MTV auf diesen Unflat stößt, mag abschalten. e)  Voraussetzungen der Religionsausübung aa)  Raum, Funktion, Atmosphäre Die Ausübung der Religionsfreiheit wie anderer Freiheitsgrundrechte hängt ab von vielfachen Voraussetzungen rechtlicher und realer Art. Der Staat hat die Aufgabe, unter Umständen sogar die Pflichtaufgabe, für die Voraussetzungen zu sorgen und diese zu schützen.68 Die Sicherung der Voraussetzungen bedeutet nicht nur eine Beschränkung der grundrechtlichen Freiheit des Störers. Sie ermöglicht und fördert auch die grundrechtliche Freiheit des Opfers. Den Schutz einer Voraussetzung leistet die gesetzliche Strafdrohung für die Störung einer gottesdienstlichen Handlung in einer Kirche (§ 167 Abs. 1 Nr. 1 StGB) – Pussy-Riot-Plagiat im Kölner Dom; desgleichen die Strafdrohung für beschimpfenden Unfug an einem dem Gottesdienst gewidmeten Ort (§ 167 Abs. 1 Nr. 2 StGB) – Pussy-Riot-Original in der Erlöser-Kathedrale zu Moskau. In diesem Fall wird der sakrale Ort in seiner Zweckbestimmung und Würde geschützt, in jenem Fall die sakrale Funktion. In diesen Zusammenhang gehört auch der an sich religiös indifferente, virtuell aber religiös erhebliche Tatbestand der Störung einer Bestattungsfeier (§ 167a StGB). Der von Verfassungs wegen gebotene Schutz der Sonn- und Feiertage als Tage der Arbeitsruhe und der seelischen Erhebung69 ist nicht auf einen religiösen Sinngehalt beschränkt und zielt auf die Verfolgung profaner Ziele. Aber er umfaßt eben auch die Möglichkeit der Religionsausübung.70 Dabei geht es nicht allein um die Freizeit als Bedingung der Möglichkeit, am Gottesdienst teilzunehmen, sondern wesentlich auch um die Lösung von der werktäglichen Geschäftigkeit und somit um eine sonn- und feiertägliche 68 Näher

Isensee (Fn. 17), § 190 Rn. 160 ff. (Nachw.). Art. 140 GG i. V. m. Art. 139 WRV. 70  BVerfGE 111, 10 (51). 69 

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Atmosphäre, die zur christlichen Tradition unseres Landes gehört. In allen Fällen wird nicht die Religionsfreiheit als solche geschützt, sondern Voraussetzungen ihrer Ausübung. Diese werden durch Gesetz definiert, ausgestaltet und sanktioniert.71 Diese Voraussetzungen gehen über den generellen Schutz vor Hausfriedensbruch, Nötigung oder Lärmimmission hinaus. bb)  Klima der „Angstfreiheit“ Zu den Grundrechtsvoraussetzungen gehört der öffentliche Frieden, wie ihn das Strafrecht in den Tatbeständen der Religionsbeschimpfung (§ 166 StGB), der Androhung von Straftaten (§ 126 StGB) und der Volksverhetzung (§ 130 StGB) versteht: als das gesellschaftliche Klima, in dem das allgemeine Rechtsvertrauen gedeiht, nicht aber der Rechtsbruch; ein Klima, das nicht geprägt wird von der Sorge vor dem Rechtsbruch; ein Klima, „in dem nicht einzelne Bevölkerungsgruppen zum geistigen Freiwild und zu Parias der Gesellschaft gemacht oder sonst ausgegrenzt werden, und zwar unabhängig davon, ob auf diese Weise zugleich ein latentes Gewaltpotential produziert wird“.72 Die Friedensstörung braucht nicht offene und latente Feindschaft zu erzeugen, die sich jederzeit in Gewalt und Gegengewalt entladen kann. Es genügt die begründete Furcht der Betroffenen, in der Gesellschaft um des Glaubens willen diskriminiert zu werden und, ohne sich wehren zu können, Schmähungen ausgesetzt zu sein.73 Beunruhigende Meinungen sind sub specie der Meinungsfreiheit unerheblich. Der öffentliche Frieden wird nicht verletzt, wenn das „allgemeine Friedensgefühl“ verletzt oder das gesellschaftliche Klima „vergiftet“ werden könnte.74 Vollends spielen volkspädagogische Intentionen zur Einübung in Menschenrechte und Toleranz keine Rolle.75 Beim Schutz des öffentlichen Friedens geht es um das Grenzgebiet gegenüber der Gewalttätigkeit. Das Strafrecht bezieht sich hier „auf die Außenwirkungen von Meinungsäußerungen, etwa durch Appelle oder Emotionalisierungen, die bei den Angesprochenen Handlungsbereitschaft auslösen oder Dritte unmittelbar einschüchtern“. Es handelt sich um „vorgelagerten Rechtsgüterschutz“.76 71  Zu

Art. 140 GG i. V. m. Art. 139 WRV: BVerfGE 111, 10 (50, 51 ff.). Lenckner/Sternberg-Lieben (Fn. 41), § 126 Rn. 1. Vgl. auch Dippel (Fn. 31), § 166 Rn. 59 ff. Kritisch zur Klimapflege durch das Strafrecht Jakobs (Fn. 41), S. 774, 776, 778, 782 f. Zum Schutz des religiösen Friedens nach der EMRK Grabenwarter (Fn. 47), S. 143 ff. 73  OLG Nürnberg, in: NStZ-RR 1999, S. 238 (240). – In mancher Hinsicht vergleichbar ist das Schutzgut des öffentlichen Friedens als Teil der öffentlichen Ordnung i. S. d. Art. 10 Abs. 2 EMRK: Grabenwarter (Fn. 47), S. 74; Pabel (Fn. 19), S. 94. 74  BVerfGE 124, 300 (334) – zu § 130 Abs. 4 StGB. 75  BVerfGE 124, 300 (334). 76  BVerfGE 124, 300 (335). – Dagegen geht Rox sehr weit, wenn sie Furcht vor Ausgrenzung genügen läßt (Fn. 19, S. 213 ff., 235 f.). 72 

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Religionsbekenntnis und Religionsausübung mögen in einem bestimmten Milieu Zivilcourage erfordern. Wenn sie aber Heldentum fordern, ist der öffentliche Frieden dahin. Auf die Religionsbeschimpfung bezogen: die Anhänger der beschimpften Religion sollen nicht Grund haben zu der Furcht, hierzulande leben zu müssen wie Christen in der heutigen Türkei oder wie katholische Kleriker, die sich, in der Gewandung erkennbar, nach dem Mißbrauchsskandal in Berlin auf die Straße wagten, wo sie riskieren mußten, von Passanten verunglimpft und angepöbelt zu werden. Dieser Aspekt der Mißbrauchsaffäre ist übrigens der Aufmerksamkeit des AG Tiergarten entgangen, als es sich bei der Frage, was öffentlicher Frieden sei, in Amateur-Soziologie übte.77 Mit dem Merkmal des öffentlichen Friedens tut sich eine Richtung der Strafrechtsdogmatik schwer, für die „Universalrechtsgüter ohne Funktion zu einzelmenschlichen Interessen (oder, was praktisch auf dasselbe herauskäme: Strafrechtsnormen ohne die Tendenz, aufweisbaren Individualinteressen zu dienen)“ mit einer „am Grundgesetz orientierten sozialen Werterfahrung“ nicht vereinbar sind.78 Vereinfacht und zugespitzt: Strafnormen sollen nur legitim sein, wenn sie sich als unmittelbarer Schutz grundrechtlich geschützter Interessen des Einzelnen rechtfertigen können. Die Gegenposition erinnert daran, daß ohne Institutionen, die ein Handlungsfeld strukturieren, ein in seiner Willkür freies Individuum nicht durchkommen könne.79 Das Strafrecht sei daher als Gesellschaftsschutz zu verstehen, und seine Legitimation müsse sich von der Wahrung individueller Rechtsgüter wandeln zur Abwehr von Sozialschaden. Zum Bestand einer Gesellschaft gehörten „angstfrei“ agierende Personen, „angstfrei“ in der Verwirklichung ihrer Rechte wie in der Verwirklichung ihres Wohls.80 Hier begegnen sich die Strafrechtsdogmatik und die Verfassungstheorie der Grundrechtsvoraussetzungen. Beide gehen davon aus, daß die grundrechtliche Freiheit nicht die voraussetzungslose, anarchische Freiheit des status naturalis, sondern eine solche des status civilis ist, daher Bestandteil der positiven Rechtsordnung des Staates, abhängig von deren Wirksamkeit und von der Funktionsfähigkeit der staatlichen Institutionen. Auch von diesem Ansatz her bleibt die Frage, ob ein ernsthafter Sozialschaden droht und ob es des Strafrechts bedarf, um ihn abzuwenden, und ob das Strafrecht dazu das taugliche und angemessene Mittel ist.81 77 

s. oben Fn. 18. Winfried Hassemer, Theorie und Soziologie des Verbrechens, 1973, S. 233. Dagegen Günther Jakobs, Rechtsgüterschutz? Zur Legitimation des Strafrechts, 2012, S. 25 ff. 79  Jakobs (Fn. 78), S. 26. 80  Jakobs (Fn. 78), S. 28 f. – freilich ohne Konsequenzen für die Legitimation des § 166 StGB (ebd., S. 31 f.). 81  Die Schwierigkeit, die Praxis und Lehre im Umgang mit § 166 StGB haben, würden sich erheblich mindern, wenn die Eignung zur Friedensstörung nicht als vorsatzrelevantes 78 

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Eine terminologische Randbemerkung: Wenn hier von „Angstfreiheit“ die Rede ist, handelt es sich in Wahrheit nicht um Angst, sondern um Furcht. Furcht ist die empirisch begründete Sorge vor einem Schaden. Angst hat keinen Gegenstand. Sie ist ein nicht weiter empirisch begründbares Gefühl oder aber eine Grundgestimmtheit der Ungeborgenheit menschlicher Existenz. „In der Welt habt Ihr Angst“ (Joh 16,33) – das ist Thema der Religion wie der Philosophie (Kierkegaard, Heidegger, Sartre) und der Psychologie (Freud). Im politischen Leben flottieren irrationale Ängste, die über demokratische Verfahren politischen Einfluß auf Entscheidungen gewinnen. Doch zur Rechtfertigung von Grundrechtsbeschränkungen taugen sie nicht. Diese ist ein rational-juridischer Prozeß, für den nur begründete Gefahren und begründbare Risiken erheblich sind und der nur darauf angelegt ist, Furcht zu bannen. f)  Persönliche Ehre des Gläubigen – korporative Ehre der Glaubensgesellschaft Die Beschimpfung einer Religion kann unter Umständen die persönliche Ehre ihrer Anhänger verletzen. Im Recht der persönlichen Ehre findet die Meinungsfreiheit, wie das Grundgesetz ausdrücklich vorsieht, eine Schranke. Die persönliche Ehre, Bestandteil des Allgemeinen Persönlichkeitsrechts,82 hat auch einen religiösen Aspekt: die Ehre des Menschen als homo religiosus, die ihrerseits an seiner Menschenwürde teilhat. Wie die persönliche Ehre betroffen ist, wenn der Mensch seiner Rasse wegen beleidigt wird, so auch, wenn er seiner Religion wegen Schimpf und Schande erfährt. Für den Gläubigen konstituiert die Religion seine Persönlichkeit und läßt sich von ihr nicht lösen. Die Identifikation mit einer letzten Wahrheit greift tiefer als die Beziehung des Arztes zu seinem Beruf oder die des Forschers zu seinem Gegenstand. Das heißt jedoch nicht, daß jede abfällige Äußerung über eine Religion, die ihren Anhänger kränkt, als Ehrverletzung im rechtlichen Sinne zu werten ist. Es kann nicht ein jeder in jedweder Hinsicht die Sache seines Glaubens zur Sache seiner persönlichen Ehre machen. Ebenso vermag der Einzelne nicht aus eigener Machtvollkommenheit die Reichweite seiner Ehre mit Wirkung gegen andere zu bestimmen. Ehre ist kein „selbst definierter sozialer Geltungsanspruch“,83 sondern ein von der Verfassung objektiv vorgegebenes und definiertes Rechtsgut. Im Schutz der religiösen Dimension der persönlichen Ehre erneuert sich kein ständischer Ehrenkodex.84 Der „soziale Geltungsanspruch“ muß verallgemeineTatbestandsmerkmal, sondern als objektive Bedingung der Strafbarkeit verstanden würde, was sich jedenfalls de lege ferenda ermöglichen ließe. 82  Josef Isensee, Das Grundrecht auf Ehre, in: FS Martin Kriele, 1997, S. 5 (8 ff.). 83  So irreführend BVerfGE 54, 148 (155). 84  Zu dessen Erlöschen im egalitären Grundrechtsstaat Isensee (Fn. 82), S. 8 ff., 20 ff.

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rungsfähig und rechtlich objektiviert sein. Ob eine Verletzung der persönlichen Ehre vorliegt, ist aus der Sicht eines nichtbetroffenen Dritten zu beurteilen.85 Die Schmähung einer Religion trifft auch die Personen, die sich zu ihr bekennen, wenn der Täter ihnen „die Anerkennung als ernstzunehmende, ebenbürtige Mitbürger“ bestreitet, als „Personen, deren gemeinsame Lebensgrundlage, obwohl sie kritikwürdig sein mag, dennoch verdient, mit einem Mindestmaß an Fairneß behandelt zu werden“.86 Doch je größer und offener der Kreis der Anhänger ist, desto geringer die mögliche Betroffenheit in ihrer persönlichen Ehre. Abfällige Äußerungen über „die“ Muslime oder „die“ Katholiken im allgemeinen und Kollektivvorwürfe treffen in der Regel nicht die persönliche Ehre des einzelnen Religionsangehörigen.87 Sub specie des Ehrenschutzes kann die Strafnorm des § 166 StGB spezifische Bedeutung erlangen. Doch auch hier muß der Kreis der Betroffenen näher bestimmbar und individualisierbar sein. Die Beschimpfung der Religion muß auf die Personen ihrer Anhänger durchschlagen. Ob das der Fall ist, hängt von den Umständen des Einzelfalls ab. Eine Zeitungskarikatur des Propheten Mohammed greift nicht den Persönlichkeitsstatus des einzelnen Muslim im In- oder Ausland an,88 ebenso wenig der Comic-Schwachsinn von „Popetown“ den des einzelnen Katholiken. Wenn dagegen – wie aus dem Irak berichtet wird – US-Soldaten ein Exemplar des Koran in die Toilette werfen, bedeutet diese Schmähung der Religion auch eine Schmähung der Personen, die das ekelhafte Geschehen mit ansehen müssen. Mit Grund fühlt sich auch der in Deutschland lebende Muslim beleidigt, wenn er in seinem Briefkasten ein Stück Klopapier mit dem Aufdruck „Koran“ vorfindet.89 Nicht minder widerwärtig agierten deutsche Feministinnen, die einen Besuch des Papstes in Köln zum Anlaß nahmen, gegen seine „frauenfeindliche“ Lehre zu protestieren, und aus der oberen Etage eines Hauses Hostien auf die Straße warfen, auf der die Menge den Papst begrüßte. In der Verhöhnung der Eucharistie wurden die Menschen mitverhöhnt, vor deren Augen die widerwärtige Demonstration erfolgte. Das letzte Beispiel zeigt, daß hier mit der persönlichen Ehre Einzelner zugleich die katholische Kirche als solche geschmäht werden kann. Die Rechtslehre zögert

85  Zum Tatbestand der Schmähkritik BVerfG, in: EuGRZ 1993, S. 146 (147) – Böll/ Henscheid; BVerfGE 66, 116 (151); Rolf Stark, Ehrenschutz in Deutschland, 1996, S. 67 ff. (Nachw.); Winfried Brugger, Verbot oder Schutz von Haßrede?, in: AöR 128 (2003), S. 372 ff. 86  Michael Pawlik, Der strafrechtliche Schutz des Heiligen, in: Isensee (Fn. 11), S. 31 (48 f.). Dazu Jakobs (Fn. 78), S. 31 f.; Rox (Fn. 19), S. 184 ff. 87  Pawlik (Fn. 86), S. 51 f.; Jakobs (Fn. 78), S. 31 f.; Rox (Fn. 19), S. 183. 88  So auch Pabel (Fn. 19), S. 96. 89  AG Lüdinghausen (Fn. 18).

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freilich, einen korporativen Ehrenschutz anzuerkennen.90 Die Deutschen tun sich heute auch schwer, die Würde des Staates anzuerkennen, obwohl das Völkerrecht wie das Staatsrecht von jeher deren Schutz vorsehen.91 Der Staat überläßt sich und seine Symbole immerhin auch nicht wehrlos der Verunglimpfung. Das Bundesverfassungsgericht läßt das strafrechtliche Verbot, wenn auch mit gequälter Grundrechtsmiene, passieren.92 Die Religionsgemeinschaften sind gem. Art. 19 Abs. 3 GG grundrechtsfähig, unabhängig davon, ob sie den Status der Körperschaft haben oder nicht. Doch kommt die Menschenwürde, die den letzten Grund des Persönlichkeitsrechts bildet, nur natürlichen Personen zu. Das ist aber kein Grund, den juristischen Personen den Ehrenschutz schlechthin zu versagen und sie als rechtliches Freiwild jeglicher Diffamierung preiszugeben. Der Ehrenschutz ist die Konsequenz der Grundrechtssubjektivität. Zu Recht erkennt die Zivilrechtsprechung ein Verbandspersönlichkeitsrecht an.93 Das Bundesverwaltungsgericht spricht denn auch Personenvereinigungen mit ideeller Zielsetzung den Ehrenschutz zu.94 Dieser leitet sich über die grundrechtliche Schutzpflicht aus der Religionsfreiheit ab. Sanktionen bietet vornehmlich das bürgerliche Deliktsrecht, ferner das öffentliche Recht der Gefahrenabwehr. Auch das Strafrecht kann zum Zuge kommen, nicht nur über die Beleidigungstatbestände,95 sondern auch über den Tatbestand der Beschimpfung einer Religionsgesellschaft nach § 166 Abs. 2 StGB. Die gängige Interpretation verkürzt und verschiebt seine Schutzintention auf den öffentlichen Frieden96 und vernachlässigt die übrigen Tatbestandsmerkmale: die Beschimpfung einer im Inland bestehenden Kirche oder anderen Religionsgesellschaft oder Weltanschauungsvereinigung. Die Eignung zur Friedensstörung bildet lediglich, wie der Text ausweist, eine besondere Qualität der Beschimpfung. Der tatbestandliche Angriff will die beschimpfte Gemeinschaft öffentlich demütigen und der allgemeinen Verachtung preisgeben. „Der Eindruck einer verselbständigten, durch die Lust an der Provokation und am Skandal motivierten Beschimpfung“ wird unabweisbar.97

90 Dazu

Hanno Kube, Persönlichkeitsrecht, in HStR VII, 32009, § 148 Rn. 75. Karl Josef Partsch, Von der Würde des Staates, 1967; Detlef Merten, Zur Würde des Staates, in: FS Josef Isensee, 2007, S. 123 ff. 92  BVerfGE 81, 278 (289 ff.); 81, 298 (305 ff.). 93 Dazu Diethelm Klippel, Der zivilrechtliche Persönlichkeitsschutz von Verbänden, in: JZ 1988, S. 625 (631 ff., 633 ff.). 94  BVerwGE 82, 76 (78). Dazu Kube (Fn. 90), § 148 Rn. 74 ff. 95  Beleidigungsfähig sind auch Personengemeinschaften. Vgl. Fischer (Fn. 31), Vor § 185 Rn. 12. 96 Repräsentativ Fischer (Fn. 31), § 166 Rn. 2. Kritische Analyse Pawlik (Fn. 86), S. 41 ff. Ebenso Jakobs (Fn. 78), S. 31 f. 97  Pawlik (Fn. 86), S. 51. 91 

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g)  Auswärtige Belange und innere Sicherheit Staatliche Stellen in Deutschland sind bemüht, alles zu verhindern, was die religiösen Gefühle der Muslime kränken könnte. Ein Beispiel bilden die spontanen Absichtserklärungen von Ministern, die Aufführung des vorab inkriminierten Films „Innocence of Muslims“ zu verbieten. Die Motive liegen weitab von denen, welche der juridischen Schrankendiskussion der Meinungs-, Medien- und Kunstfreiheit vertraut sind. Vielmehr regt sich das innenpolitische Bedürfnis, alles fernzuhalten, was die Integration der muslimischen Zuwanderer stören könnte,98 und einen Schutzschirm für ihre religiöse Empfindlichkeit aufzubauen. Darüber hinaus liegt es im außenpolitischen Interesse, dem Druck der Staaten nachzugeben, die als Weltanwälte des Islam und als Schutzmächte der Muslime in Deutschland auftreten. Damit verbindet sich die immer wieder bestätigte Sorge, daß der islamische Mob zu Ausschreitungen gegen deutsche Personen und Einrichtungen provoziert werden könnte. Mit dieser Sorge tritt die grundrechtliche Schutzpflicht für Leib, Leben und Eigentum der Deutschen im In- und Ausland auf den Plan. Doch keiner dieser Gründe rechtfertigt Beschränkungen der Freiheitsrechte. Das Niveau der Kommunikationsfreiheit wird in Deutschland durch Verfassung und Gesetz bestimmt, nicht durch politische Opportunität, nicht durch auswärtige Mächte, nicht durch private Gewalt, noch nicht einmal durch die Berufung auf eine grundrechtliche Schutzpflicht. Die Funktion der Schutzpflicht erweitert die Grundrechtsverantwortung des Staates auf das Ausland, aber sie verkürzt und relativiert nicht die Grundrechtsgeltung im Inland.99 Es bleibt das Notstandsargument, daß ohne Nachgiebigkeit gegenüber den politischen Zumutungen und Bedrohungen schwerer Schaden für Staat und Bürger im In- und Ausland nicht zu vermeiden wäre. Das Muster könnte der „unechte“ polizeiliche Notstand abgeben: Wenn die Kräfte der Polizei nicht ausreichen, gegen den Störer einzuschreiten und die von ihm ausgehende Gefahr abzuwehren, greift sie in die Freiheit des Gefährdeten ein, eines Nichtstörers also. Das gängige Beispiel: die Verwaltung verbietet eine legale Demonstration, weil sie sonst der drohenden Gewaltsamkeit der Gegendemonstranten nicht Herr würde und weil sie die Einbuße an grundrechtlicher Freiheit für geringer erachtet als die körperlichen Schäden, die der Ausbruch der illegalen Gewalt nach sich ziehen könnte.100 Im „unechten“ Notstand bewährt sich die Polizei nicht darin, die öffentliche Sicherheit zu wahren; vielmehr versagt sie vor ihrer gesetzlichen Aufgabe, weil sie ein Rechtsgut opfert und der physischen Gewalt weicht. Eine solche 98  Allgemein zum Integrationsargument im Kontext der Religionsbeschimpfung Rox (Fn. 19), S. 214 ff. 99  In diesem Sinne Pabel (Fn. 19), S. 94 f., zu Art. 10 EMRK. 100  Exemplarisch OVG Saarlouis, in: JZ 1970, S. 286 ff. – mit kritischer Anmerkung von Ernst Pappermann, ebd., S. 286 f.

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Konfliktlösung taugt auch nicht zum Muster für das internationale Dilemma. Die Stringenz des grundrechtlichen Geltungsanspruchs läßt Nachgiebigkeit gegenüber grenzüberschreitender Gewalttätigkeit und außenpolitischem Druck nicht zu. Außenpolitische Opportunität und illegitime Gewalt sind keine zulässigen Faktoren einer grundrechtlichen Güterabwägung. Sie können ein Opfer grundrechtlicher Substanz nicht als das „geringere Übel“ rechtfertigen. Der Jurist darf nicht auf ein ungeschriebenes Notrecht zurückgreifen, um konkrete Konflikte in der Art des Karikaturenstreits zu lösen. Der Verfassungsstaat trägt keine völkerrechtliche Verantwortung für das grundrechtslegitime Handeln seiner Bürger.101 Deutschland braucht sich nicht gegenüber anderen Staaten zu entschuldigen, wenn diese eine bestimmte Ausübung der Meinungsfreiheit für gotteslästerlich halten. Der Staat darf sich noch nicht einmal dafür entschuldigen, daß er grundrechtliche Freiheit gewährleistet, selbst dann nicht, wenn die Ausübung der Freiheit im Einzelfall schändlich, peinlich, politisch „wenig hilfreich“ sein mag.

V.  Folgerungen für die Rechtspraxis 1.  Genügen des geltenden Rechts Die rechtspolitische Bilanz: unter den rechtlichen wie den gesellschaftlichen Gegebenheiten ist es nicht ratsam, das geltende Recht zum Schutz der Religion zu ändern. Am wenigsten Grund besteht, an den einschlägigen Vorschriften des Strafrechts zu rühren, obwohl immer wieder Initiativen darauf drängen.102 Die Praxis zögert sogar, die geltenden Vorschriften anzuwenden. Die Kirchen halten sich zumeist wohlweislich zurück, staatliches Eingreifen zu fordern, weil sie fürchten, daß ein Gerichtsverfahren der Schmähung zusätzliche Publizität zuführen und dem Schmäher die Medienpalme des Menschenrechtsmärtyrers verschaffen könnte. Gleich ob aus Resignation oder aus Einsicht: die Kirchen sind zunehmend abgehärtet. Ein Kurienbischof in Rom, der sich die Verfilmung eines Kolportageromans aus der Werkstatt von Dan Brown angesehen hatte, wurde von einem Journalisten nach seinem Eindruck gefragt. Die Antwort: er bedauere, daß das literarische Niveau der Kirchenfeinde heute auf solches Trivialniveau gesunken sei. Er trauere den Zeiten nach, in denen die Kirche noch auf Feinde vom literarischen Rang eines Voltaire oder eines André Gide gestoßen sei.

101 Skeptisch

S. 97.

zur Ausweitung der völkerrechtlichen Verantwortung Pabel (Fn. 19),

102  Kritisch zu einzelnen Vorstößen Pawlik (Fn. 86), S. 60 f.; Barbara Rox, Vom Wert der freien Rede, in: JZ 2013, S. 30 ff.

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2.  Potential der polizeilichen Generalklausel Selten genutztes Potential zum Schutz religiöser Belange steckt in der polizeiund ordnungsrechtlichen Generalklausel, die anwendbar ist, soweit keine speziellen Ermächtigungen vorliegen.103 Zum Schutz der „öffentlichen Sicherheit“ im Sinne der Generalklausel gehört der Schutz einer Religion oder der anderweit gesetzlich konstituierten Rechtsgüter, damit auch einer Religionsgesellschaft, vor friedensstörender Beschimpfung, ohne daß es, wie allgemein im Recht der Gefahrenabwehr, auf den Vorsatz des Störers ankommt. Weiter reicht die „öffentliche Ordnung“. Diese umfaßt die Gesamtheit jener ungeschriebenen, außerrechtlichen Gebote der Moral, des guten Geschmacks, des Takts, deren Beobachtung nach den jeweils herrschenden Anschauungen als unerläßliche Voraussetzung eines gedeihlichen Zusammenlebens betrachtet wird.104 Der Rechtstitel der öffentlichen Ordnung bietet der Verwaltung die Grundlage, unter Berücksichtigung des in der konkreten sozialen Umwelt Üblichen und Zumutbaren Ärgernissen vorzubeugen, exzessive Geschmacklosigkeit und wildeste Provokation zu unterbinden und einen schonenden Ausgleich zwischen den Belangen von Minderheit und Mehrheit zu erwirken. Die öffentliche Ordnung bildet gleichsam das Öl im Getriebe des Rechts, weil sie gesellschaftliche Reibungen mindert. Das gute Leben des Gemeinwesens erschöpft sich nicht in bloßer Verwirklichung des Rechts und allseitiger Rechthaberei. Es bedarf auch außerrechtlicher, gesellschaftlicher Regeln, die das Zusammenleben steuern. Doch die Blankoverweisung auf außerrechtliche Maßstäbe zieht verfassungsrechtliche Kritik auf sich, mit der Folge, daß ihre Anwendung gegen Null geschrumpft ist.105 Doch die Kritiker wollen päpstlicher sein als der Papst und grundgesetzlicher als das Grundgesetz. Das Grundgesetz selbst bezieht sich auf die öffentliche Ordnung als Kriterium einer Kompetenzverschiebung.106 Das Bundesverfassungsgericht läßt bürgerlich-rechtliche Generalklauseln für den Vorbehalt des Gesetzes genügen, wenn es die Blankette von „Treu und Glauben“ und „gute Sitten“ mit Ausstrahlungen und Wertderivaten des Grundgesetzes füllt, um bei der Inhaltskontrolle ihrer Verträge grundrechtlich fundierte, privatautonome Regelungen zu

103  Exemplarisch § 12 Abs. 1 PAG Thür oder § 14 Abs. 1 OBG NRW. Dagegen beschränkt sich § 8 Abs. 1 PolG NRW auf die „öffentliche Sicherheit“. 104  Musterhafte Definition PrOVG 91, 139 (140). Näher Drews/Wacke/Vogel/Martens, Gefahrenabwehr, 91986, S. 245 ff.; Markus Möstl, Die staatliche Garantie für die öffentliche Sicherheit und Ordnung, 2002, S. 136 ff. 105 Zum verfassungsrechtlichen Streit mit Nachw.: Drews/Wacke/Martens/Vogel (Fn. 104), S. 246 ff.; Möstl (Fn. 104), S. 139 f. 106  Art. 13 Abs. 7, Art. 35 Abs. 2 S. 1 GG.

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korrigieren oder zu kassieren.107 Eine unbegrenzte Auslegung solcher Art steht hier nicht an. Die Anwendung der „öffentlichen Ordnung“ kann lediglich Konfrontationen im Einzelfall lösen und verhindern, daß der antiislamische Protest mit Parolengeschrei und Vuvuzela-Gedröhne sich ausgerechnet vor der Moschee zur Zeit des Freitagsgebets entlädt oder daß das Christopher-Street-Day-Spektakel sich vor der Fronleichnamsprozession vollzieht. In der Regel bedarf es keines Verbots, sondern nur der Herstellung von räumlicher oder zeitlicher Distanz, um den schonenden Ausgleich unverträglicher Grundrechtsausübung zu erwirken. Der Titel der öffentlichen Ordnung ermöglicht der Polizei, Provokationen umzuleiten oder abzufedern und regionalen Besonderheiten Rechnung zu tragen.108 Was in Berlin üblich, muß in Altötting nicht sozialverträglich sein. Maßnahmen im Dienste der öffentlichen Ordnung, deren Erlaß ohnehin dem Opportunitätsprinzip folgt, können nur situationsabhängige Problemlösungen bringen. Diese ersetzen nicht allgemeine gesetzliche Regelungen; aber sie können den Bedarf nach ihnen verringern. Überhaupt ist von staatlichen Vorkehrungen wenig zu erhoffen. Mit Abwehrrechten und Schutzpflichten, mit Polizei- und Strafrecht allein ist kein Staat zu machen, noch weniger das gedeihliche Leben einer Gesellschaft. Hier bedarf es in erster Linie spontaner Kräfte bürgerlichen Anstands, der Manieren, des Takts und der Nächstenliebe.

VI.  Kontrastfolie Zivilreligion Die Schüchternheit, die hierzulande obwaltet, wenn es um den Schutz der christlichen Religion geht, schlägt um in leidenschaftliche, unnachsichtige Härte, mit der ein jeder verfolgt wird, der an die politische Weltanschauung der Deutschen rührt: die Abkehr vom Nationalsozialismus. Diese trägt alle Züge einer Zivilreligion im Sinne Rousseaus. Die Schuld für die Nazi-Verbrechen bildet die deutsche Erbsünde, die auf den Nachgeborenen lastet, zu der sie sich bekennen, für die sie Verantwortung übernehmen und in der sie zu nationaler Gemeinsamkeit finden. Auschwitz wird zum säkularen Golgatha, das absolute Ereignis der Geschichte, das keinen Vergleich duldet, das immer neu vergegenwärtigt wird und sich niemals wiederholen darf. „Nach Auschwitz“ ist Beginn einer neuen Zeitrechnung. Die Zivilreligion hat ihre Kultstätten, Wallfahrtsorte und Sühnezeichen, ihre Bekenntnisrituale und Bußübungen. Die furchtbare Wahrheit bildet 107  Exemplarisch BVerfGE 89, 214 (233). Die Leitentscheidung: BVerfGE 7, 198 (206). Kritisch Sebastian Müller-Franken, Bindung Privater an Grundrechte, in: FS Herbert Bethge, 2009, S. 223 (237 f.). 108  Insofern verdient das Urteil des Thür OVG zur Fronleichnamsprozession Nachdenken (Jahrb. 1946/47, S. 243 [247]).

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das politische Tabu, das sich mit weiteren Vorfeldtabus umgibt. Davor verstummt selbst die Satire. Die Spaßgesellschaft gelangt wenigstens hier zu heiligem Ernst. Wer den politischen Glauben schmäht und seine Wahrheit leugnet, verfällt der Acht und dem Bann aller politischen Mächte im Lande. Der Widerspruch gegen die historische Faktizität wird durch das Verbot der „Auschwitzlüge“ mit Strafe bedroht, obwohl die liberale Verfassung eigentlich darauf vertraut, daß die Wahrheit sich von selber durchsetzt und nicht des staatlichen Zwangs bedarf, daß der richtige Ort, Geschichte zu vermitteln, die Schule ist und nicht die Strafanstalt. Der Verstockte, der gegen historische Evidenz angeht, schließt sich von selbst aus der Diskursgemeinschaft aus. Das Bundesverfassungsgericht spricht dem Verbot der Auschwitzlüge die Qualität des allgemeinen Gesetzes ab. Die Strafnorm erfüllt also nicht die Bedingung, die das Grundgesetz an die Einschränkbarkeit der Meinungsfreiheit stellt.109 Damit müßte das Verbot eigentlich fallen. Doch das Bundesverfassungsgericht gibt dem zivilreligiösen Impuls nach und nimmt es als extrakonstitutionelles Sonderrecht hin.110 Das alles ist hier aber nicht das Thema. Es geht allein darum, den Schutz der Zivilreligion als Kontrastfolie zum Schutz der christlichen Religion zu zeigen. Was dort verpönt ist, lebt hier wieder auf: heiliger Eifer, heilige Strenge, gesellschaftliche Überhitzung, rechtstaatliche Abnormität, Ketzerriecherei. Indem der deutsche Verfassungsstaat hier einen Bestandteil seiner säkularen Identität verteidigt, nimmt er, ohne es zu merken, Züge an, die den Vergleich mit Staaten nahelegen, die eine sakrale Identität gefunden haben. Deren Praxis mag manche Kritik aus menschenrechtlicher Warte verdienen. Doch zu menschenrechtlichem Hochmut hat Deutschland keinen Grund.

109  110 

BVerfGE 124, 300 (321 f.). BVerfGE 124, 300 (327 ff.).

Personenverzeichnis Adenauer, K.  4, 324 Anschütz, G.  381, 709 Aristoteles  39, 52, 95, 147, 176, 242, 283 Arndt, A.  709 Augustinus  17, 27, 32, 56, 82, 189, 226, 231, 354

Fiore, J. von  188 Fischer, J.  270 Fontane, T.  255, 517 Franziskus, Papst  27, 127, 133 Friedrich Wilhelm III., König v. Preußen  132, 199, 230

Bach, J. S.  213 Bellarmin, R.  87 Benedikt XIV., Papst  355 Benedikt XVI., Papst  63, 202, 302, 311, 325, 646, 650, 760 Bismarck, O. von  284, 587 Bloch, E.  158, 240 Böckenförde, E.-W.  169, 197, 325–327, 333 Bodin, J.  54 Bruckner, A.  213 Burckhardt, J.  20, 286

Gandhi, M.  279 Gehlen, A.  293 Geißler, H.  756 Gneisenau, A. N. von  230 Goethe, J. W. von  270, 303, 423, 489, 529 Görres, J.  70, 593 Graf, F. W.  362 Gregor XVI., Papst  56 f., 69 f., 72, 81 f., 85 f., 104 Guiccardini, F.  54

Calvin, J.  9 Cardenal, E.  179 Casaroli, A., Kardinal  295 Chateaubriand, F.-R. de  70 Constantinesco, L.-J.  567 Cortés, Donoso  70, 90 Czermak, G.  330 De Gasperi, A.  4 De Maistre, J.  32, 70 Delors, J.  5 Drewermann, E.  267 Dürer, A.  213 Erdogan, R. T.  15 Falstaff, Sir John  338 Farthmann, F.  505

Habermas, J.  280, 326 Haydn, J.  58 f. Hegel, G. W. F.  33, 37, 79, 82, 96, 137, 158, 189, 245, 260 Heidegger, M.  188, 775 Heine, H.  179 Heinrich VIII., König v. England  8 Herder, J. G.  82 Heuss, T.  327 Hindemith, P.  762 Hitler, A.  201, 202, 243, 352 Hobbes, T.  38, 54, 91, 95, 116, 188, 193, 384 Horaz  201 Huber, W.  176, 329 Johannes XXIII., Papst  69, 121, 328 Johannes Paul II., Papst  30, 31, 53, 67, 121, 211, 311

784

Personenverzeichnis

Jonas, H.  158 Joseph II., Kaiser v. Österreich  590 Kant, I.  54, 83, 98 f., 106, 137, 148, 162, 216, 252, 313, 383 Käßmann, M.  203 Kaufmann, F.-X.  324 f. Ketteler, W. E. von  70, 91 Khomeini, R.  759, 760 Kierkegaard, S.  188, 795 Kirill I., Patriarch d. russisch-orthodoxen Kirche  755 Koch, H.  756 Konstantin d. Große, römischer Kaiser  16, 191 Lamennais, F. de  70, 72 Lenin  185 Leo I., der Große, Papst  42 Leo X., Papst  8 Leo XIII., Papst  51, 56, 59 f., 69 f., 71, 73, 79, 80 f., 83, 87, 91, 94 f., 97–100, 121, 192, 281, 295, 328 Lessing, G. E.  58, 82, 127, 128, 133, 198 f. Leutheusser-Schnarrenberger, S.  362 Listl, J.  256, 260 Locke, J.  38, 54,116, 193 Lorenzer, A.  211 Lübbe, H.  230 Ludwig I., König v. Bayern  55, 167 Ludwig XVI., König v. Frankreich  31 Lustiger, J. M., Kardinal  31 Luther, M.  356, 755, 766 Lütz, H.  676 Machiavelli, N.  54, 202, 503 Madonna  755 Mandela, N.  279 Manzoni, A.  59 Marquard, O.  248 Marx, K.  182, 187 f., 220, 280

May, K.  518 Meisner, J., Kardinal  132 Merkel, A.  202 Mixa, W.  203 Montesquieu, C.  47, 54 Mozart, W. A.  59, 311 Muckel, S.  341–343 Mussolini, B.  352 Napoleon de Bonaparte  230, 579, 593 Naumann, F.  205 Nero, römischer Kaiser  234 Nietzsche, F.  20, 24, 43, 117, 192 f., 211, 216, 217, 763 Obama, B.  11, 196 Ottaviani, A., Kardinal  85 Paul III., Papst  43 Paul VI., Papst  59, 295, 328 Paulus, Apostel  32, 55, 96, 144, 180, 234, 252, 279 Petrus, Apostel  279 Pius VI., Papst  32, 34, 51 f., 59, 68, 70, 72, 74 f., 80 f., 96, 104, 191 Pius VII., Papst  68 Pius IX., Papst  29 f., 34, 51, 69, 72, 77, 85, 103 f. Pius X., Papst  69 Pius XI., Papst  53, 69, 91, 352 Pius XII., Papst  34, 59 Preuß, H.  205 Pufendorf, S. von  54 Putin, W.  755 Rahner, K.  325 Ratzinger, J.  76, 77 Rau, J.  132, 199 Reichold, H.  334 f. Renan, E.  5 Renck, L.  330 Robespierre, M. de  195

Personenverzeichnis Rousseau, J.-J.  38, 54, 113, 191, 193 ff., 201, 230, 383, 781 Roth, C.  362 Rox, B.  332 f. Rushdie, S.  760, 767 Schäfer, H.  229 Schäuble, W.  400 Schmid, C.  327 Schmitt, C.  328, 597 Schneider, R.  17, 254 Schröder, G.  270 Schuman, R.  4 Schwarz, K. A.  336 f. Servet, M.  9 Smend, R.  95, 225, 329 Smith, A.  87 Sobánski, R.  144, 162 Stalin, J.  352 Stein, T.  325–327 Steiner, R.  171 Süsterhenn, A.  229, 327

785

Talleyrand-Périgord, C.-M. de  72, 74 Thomas v. Aquin  38 f., 44, 242, 283 Tocqueville, A. de  10, 43, 47, 61, 65, 195 Treitschke, H. v.  82 Uertz, R.  327 Vespasian, Kaiser  370, 651 Vollmer, A.  400 Voltaire  311, 779 von Brentano, B.  358 von Ebner-Eschenbach, M.  361 von Humboldt, W.  215 f. von Liguorie, A. M.  355 Waldhoff, C.  328 f. Weber, M.  21, 357 Wittreck, F.  330 f., 335, 343 f. Wolff, D.  323, 329 Wysziński, S. Kardinal  295 Zapp, H.  338 f., 340 f.

Sachwortregister Abendland, abendländisch  3 f., 17, 344, 656

– Fakultät  371

Ablösung(sauftrag) s. Staatsleistungen

– Kultursachgebiete  328

Abtreibung/Lebensschutz  110, 121, 185, 247, 266, 272, 295, 299

– menschliche  81 f., 108 f., 118

– Schwangerenkonfliktberatung  266, 347–349

– Theonomie  118, 145

– Verbot staatlichen Drucks  465 Amt, Amtsprinzip  21 f., 45 f., 123, 297, 309, 328, 668 f. Amtseid, Gottesbezug  270, 325 f. Amtskirche  110, 127, 200, 267, 294, 350, 387, 460, 462, 523, 586 Anstaltspfarrer  516–519 Anstaltsseelsorge  183, 235, 331, 367 f., 369, 509–519, 574, 599 – Gefängnisseelsorge  351, 413, 513–519 – Krankenhausseelsorge  413, 512 – Militärseelsorge  229 f., 268, 413, 512 Arbeitsrecht, kirchliches  333–335, 372 f., 410 f., 500 ff., 741–754 – „Dritter Weg“  334 f., 528 ff. – Grenzen des Einflusses und der Beurteilungskompetenz des Staates  465 f., 747 ff. – Kündigungsoption der Kirche  742 – Loyalitätsverpflichtung kirchlicher Arbeitnehmer  109 ff., 223, 235 f., 264, 360 f., 372 f., 418–420, 466, 524–527, 744–754

– Glaubensgemeinschaft  717

– Teilkirche  295

Baulast  483, 579, 602 f., 609, 626, 634, 644 f. Bekenntnisschule  396 f. – allgemeine Merkmale, Bekenntnisprägung  684 ff., 690 ff. – islamische  664, 686 f., 686, 690 f. – keine Option für sämtliche religiöse Bekenntnisse  694 f. Berufsfreiheit  122, 273, 285, 363, 366, 372, 440 ff., 448, 450, 525, 761, 762 Beschneider, berufsrechtliche Stellung  718 Beschneidung  335–338, 713–740 – Bestandteil jüdischer Identität  714 – eigene Angelegenheit nach Art. 137 Abs. 3 WRV  728–730 – Elternrecht  715, 718–720, 723 f., 727, 734, 736 – Grundrechtskonstellationen  717 ff. – Kindeswohl (und körperliche Unversehrtheit)  720 ff. – Mohel-Klausel § 1631d BGB  736 ff.

Atheismus/Atheist  148, 212

– Rechtfertigung aus Individualgrundrechten  272 f.

Aufklärung  18–20, 26 f., 127–129, 251, 259

– Regelung im bürgerlichen Recht  733–738

Augsburger Religionsfrieden  289, 319

– religiöser Zweck  723–726

Autonomie (s. a. Kirchenautonomie, Selbstbestimmungsrecht)

– Symbolgehalt  716 f.

– Sozialadäquanz  721 f.

Sachwortregister – Traditionsvorbehalt  730–732 – Unterschied zur Taufe  723 f. Blasphemie (Religionsbeschimpfung)  331–333, 659, 755–758 – Rechtfertigung aus den Grundrechten: Meinungsfreiheit (761 f.), Kunstfreiheit (762 f.), Religionsfreiheit (763) – Schranke des § 166 StGB  763 ff. – Staatliche Schutzverpflichtung zugunsten der Religion  766 ff. Böckenförde-Diktum  107, 184, 197, 231, 279, 298, 326 f., 402 – Böckenförde-Philologie  327 Bonner Verfassungskompromiss  394 f. „Bremer Klausel“  377, 399 – Anwendbarkeit in den neuen Bundesländern  399 Breve „Quod aliquantum“ Pius VI.  32, 51, 68, 72, 74, 191 Brüsseler Kreis  526 Bundesstaat  260, 386, 394 f., 618, 633 Caritas  236, 371 f., 402–487, 489–507 – „Caritas-Dinosaurier“  236, 423, 507 – Diakonie  406, 519, 521 f. – Gefahren der Institutionalisierung caritativ-diakonischer Betätigung  408 , 498 ff. – Grundfunktion von Kirche  402–407, 424, 491 f., 521 ff. – grundrechtliche Legitimation als korporative Religionsausübung  428, 450–456, 490 f., 519 – Identitätsmarker von Kirchlichkeit  412–421 – in Staatskirchenverträgen  520 – kirchliches Selbstbestimmungsrecht  456, 457–466, 492, 519 – Rechtsquellen, staatliche zur kirchlichen Wohlfahrtspflege  480–487 – Säkularisierungsdruck in Monopolstellung  421 f., 425

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– Sozialstaatsprinzip  434–440 – Staatliche Gewährleistungspflicht für trägerplurale Angebotsstrukturen s. Subsidiaritätsprinzip – Staatsbedürftigkeit (Abhängigkeit von externen Funktionsbedingungen wie staatlicher Finanzförderung / Kosten­ deckung u.a.; s.a. Kooperation)  409– 412, 426, 431, 435, 442–444, 475–478, 502–506 – Vitalitätsfaktoren und kirchliche Selbstverpflichtung zu religiös begründeter Wirksamkeit  421–423, 507, 521 ff., 529 – Wahrnehmung einer öffentlichen Auf­ gabe  432 f. Christentum  3 ff., 35 ff., 39 ff. – autochthone Vielfalt  132 – christliches Erbe  14, 16 ff., 26 f., 143 – Distanz zur Aufklärung  251 – eigenes Freiheitsverständnis (s. a. Wahrheit/Wahrheitsanspruch)  108 – Kulturphänomen  231 – in der Moderne  18 ff. – sozialkulturelle Prägekraft  21, 26, 34, 46 f., 150 – Säkularisierung  39, 179 – Staatskonzepte  38 – Universalitätsanspruch  23 – Ursprung und Wirkung auf heutige Kultur  16, 18, 46 f., 92, 213, 671 Cooperatio ad malum  348 ff., 356 f. – Begriff cooperatio  350 f. Cooperatio in malum  352 f. Corpus iuris canonici  22, 94 DDR  225, 233, 290, 303, 399, 509, 631–634 Definitionsgebot, staatliches  385 Demokratie  110, 186–188, 191 f., 199 – und Kirche  63 f., 200 Denkmalschutz/Denkmalpflege  64, 149, 232, 233, 367, 370, 531 ff.

788

Sachwortregister

– Argumentationslast bei Schaffung kircheneigener Lösungen  540 – Ausdruck der Kirchenautonomie und kirchlicher Selbstverpflichtung  532, 534 ff., 538–541 – Ausprägung des Kooperationsgrund­ satzes  533, 539 – in Verfassungen  531 f. Diakonie (s. a. Caritas)  417, 512 f., 519 – Dienste/Aufgaben  521 f. – höheres Ansehen als die „Amtskirche“  523 – organisierte Form der Nächstenliebe  519 „Dignitas humanae“ (Konzilserklärung über die Religionsfreiheit)  30–32, 58–63, 69, 75, 77, 88, 100, 103 f. – Kompostierungseffekt  33, 76 Diskriminierung  111, 113 Ehe/Eherecht  110, 124–127, 367 – Einfluss des kirchlichen auf das staatliche  23 – Homo-Ehe  126 – kirchliche  126 f., 360, 367 – obligatorische Zivilehe  125, 367 Eid, Amtseinführung (USA)  11, 196 Eidesformel, religiöse (s.a. Amtseid)  152 Eigentumsgarantie (s.a. Kirchengutsgarantie)  363, 444 ff., 450, 491 Elternrecht (s. a. Beschneidung)  59, 61, 71, 100, 151, 166, 168 f., 336 f., 377, 388 f., 472, 582, 660 ff., 668 ff., 680, 682, 684 f., 693, 694 f., 703 f., 705, 711, 713, 718 ff. Entweltlichung  19, 356, 370 – Freiburger Konzerthausrede Papst Benedikt XVI.  63, 646, 650 f. Enzykliken – „Centesimus annus“ Johannes Paul II.  30 – „Humanae vitae“ Paul VI.  59, 328

– „Laborem exercens“ Johannes Paul II.  53 – „Libertas praestantissimum“ Leo XIII.  69, 281 – „Mirari vos“ Gregor XVI.  56 f., 69, 70, 72, 74 – „Pacem in terris“ Johannes XXIII.  121 – „Quanta cura“ Pius IX.  51, 69, 85, 103 – „Redemptor hominis“ Johannes Paul II.  67 Erbsünde  122, 127 Erziehungsauftrag, staatlicher  174 f., 176 f., 217, 247, 308, 342, 663 f., 668, 671, 680 Europa  3 ff., 49 f. – Begriffsbestimmung  15 f. – Christlichkeit  50 – Europäische Kulturidentität  277 – Formen des Staat-Kirchenverhältnisses  321 Europäische Union – Christlichkeitsprüderie  14 f. – Europäische Rechtsvereinheitlichung und mitgliedsstaatliches Staatskirchenrecht  260–263, 286 f. – nationales Staatskirchenrecht als inte­ grationsresistentes Hausgut  12 f. Fakultät, theologische  289, 371 f., 696 FDP-Kirchenpapier  256, 290 f. Finanzausstattung der Kirchen (s. a. Staatsleistung) – Finanzielle Förderung durch den Staat (historisch)  573 – staatliche Religionsförderung in Subventionsform  576 ff., 599 ff., 637 ff. – Steuerliche Privilegierung zur Förderung der religiösen Substanz  575 f., 638 f. – Typologie der Finanzquellen  573 f. Französische Revolution  72, 103, 191, 195, 328

Sachwortregister – Auswirkung auf die Kirche  58 f., 72 f. Freiheit  122 f. – als status negativus  56, 122, 226 – Gott als höchstes Ziel menschlicher Freiheit  78–80 – im kirchlichen Verständnis  56 f., 60 f., 84, 117 f., 187, 268 – Kritik am liberalen Freiheitskonzept  69, 89, 121 – subjektive Freiheit  127 – Subjektivismus  123 Fronleichnamsprozession (s. a. Prozession)  767, 781 Fußballweltmeisterschaft  201 Gebet (s. a. Schulgebet) – Freitagsgebet  781 – für das staatliche Wohlergehen  234 ff. – Gebetnachahmungen („Punk-Gebet“, s.a. Pussy Riot)  755 – in kirchlichen Einrichtungen  298, 524 – Präambel-Gebet (s.a. Invocatio Dei)  154 f. – Staatliches Ritual (USA)  11, 196 Gefahrenabwehr, polizeilich  764 Gefängnisseelsorge (s.a. Anstaltsseel­ sorge)  513 – Negative Religionsfreiheit  515 Gemeinnützigkeit  638 f. Gemeinsame Angelegenheiten von Staat und Kirche, s. res mixtae Gemeinschaftsschule, christliche  397 – Konfessionsschule/Bekenntnisschule  257, 292 – Verfassungsmäßigkeit  174 f. Gemeinwesen – freiheitliches  183–185, 193 – kulturelle Identität d.  214 Gemeinwohl – Herstellung als öffentliche Aufgabe  432, 464

789

– Verhältnis kirchliches/staatliches  221 f. Gesellschaftsvertrag  191–193 Gewaltenteilung  25, 30, 40, 48, 189, 110, 117, 134, 186, 249 – christliche (Dualismus zwischen weltlich und geistlich)  91 f., 134, 187 ff., 252 ff. – sozialstaatliche  236 f., 439 f., 475, 577 Gewissen, Gewissensfreiheit  35, 44, 55, 62 f., 68, 71, 10, 118 – Gewissen wandelt Theonomie in Autonomie  145 – „Höllensturz der modernen Gesellschaft“ (Gregor XVI., 1832)  56 Glaubensfreiheit  497 – als Grundlage des Verfassungsstaates und der Religionen  47, 62, 78–80 – Solidarität und Wahrheit als Gegenentwurf/Widersprüche  53, 82–84, 88 Glaubwürdigkeit der Kirche  59, 131, 136, 224 f., 266 f., 272, 298 f., 301, 328, 349, 353, 370, 408, 415 f., 647, 649, 652, 747 Gleichheit (s.a. Parität) – Gleichheitsgarantie der kirchlichen Träger  448 f. Glockenläuten, kirchliches  214, 541–567, – Ausdruck grundrechtlicher Freiheit  551 f. – kirchlicher Realakt  549 – Öffentliche Präsenz  559 – Rechtslage in Frankreich  565–567 – Rechtslage in Österreich  562–564 – Rechtsnatur , Rechtswegproblematik 545 ff., 549 ff., 560 f. – Typische Lebensäußerung der Kirche(n)  560 Glucken-Metapher (Zuordnung diakonischer Einrichtungen) von Ulrich Scheuner,  417 Fn. 27 Gottesbezug (s. a. Invocatio Dei, Präambeln)

790

Sachwortregister

– in Gesetzen  151 f. – Problem der Religionsfreiheit  161 f.

Immissionsabwehrklage (s. a. Glockenläuten)

Gotteslästerung (s.a. Blasphemie)  755–782

– Rechtswegbestimmung  555–557

– Ausdruck von Religionsfreiheit?  763

Integration  658–661

– physische Gewalt  758–760

Investiturstreit  46

Grundgesetz

Invocatio Dei (s. a. Präambeln)  9, 141 f., 153 ff.

– zivilreligiöse Elemente  205, 252, 292 f. Grundrechte als Abwehrrechte  169, 283 f., 712, 717 ff.

Individualismus  52, 116–118

– provocatio ad deum  156 ff.

Grundrechtsofferte  172, 712

Islam  16–18, 112, 275–277, 306–319, 341–344, 655–665, 691

Handlungsfreiheit  24, 32, 52, 105, 109, 447 f., 525, 537, 718

– Gewaltvorwürfe  659

– Willensfreiheit  24 Heiliger Stuhl  263, 291, 294 f., 252, 482, 510, 512, 620 Hermeneutik des Bruchs (Benedikt XVI.)  114 f. Humanität als Aufklärungsethos  127 f. Hüter- und Wächteramt der Kirche s. Mandat, Wächteramt Identität – europäische  3, 11 f., 150, 203, 277, 318, 392 – kircheneigene (geistliches Proprium)  246, 365, 415, 465, 4784, 499, 501, 523 f., 527, 529 – kirchliche (historisch)  76 – kulturelle  657, 697, 698 – nationale/staatliche  13, 202, 262, 285 – religiöse  691, 716, 723, 728 – Religion als kultureller und nationaler Identitätsfaktor  11 f., 149 f., 212 f., 214, 277, 285 f. – Sonntagsschutz als kulturelle Identität  318 – staatliche (aus dem der Verhältnisbestimmung zu Kirche und Religion)  260, 286

– „Euro-Islam“  200, 315, 342 – Gefängnisseelsorge  518 f. – islamische Bekenntnisschule  673–699 – islamische Vereinigungen (z. B. DITIB)  276 f., 316, 691 – islamischer Religionsunterricht  276, 315–318, 383 f., 387 f. – Kopftuch  292, 308–310, 325, 342, 664, 667–671 – mangelnde Kompatibilität mit der staatskirchenrechtlichen Ordnung (z. B. mangels kirchenanaloger Strukturen)  275 ff., 317 ff., 383 f., 518 f., 665, 690 ff., 694 – Scharia  310–315 – Sport- und Schwimmunterricht/Sexualkundeunterricht, Befreiung  310, 343 f., 663 f. – Status der Körperschaft des Öffent­ lichen Rechts  317 f. – „Teuto-Islam“  200 – Widerspruch zur europäischen Kultur  656 f. – Widerspruch zur Moderne  306–308 Jedermann-Formel (s. Selbstbestimmungsrecht)  495 f. Judentum – jüdisches Kulturgut  279

Sachwortregister Kanonisches Recht, mittelalterliches Kirchenrecht  22 f. Karikaturen, religiöse  767 Kindergarten  198, 269, 298, 333, 371 f., 416, 419, 441, 484 f., 513, 645 Kirche(n), allgemein – Grundrechtsträgerschaft  224, 226–228, 251 f., 440 f. (auch der wirtschaftlichen Grundrechte)t  574–576 – Institution getrennt vom Staat  218 f., 266–268 – kirchliche Lehre als Identitätsgenerator  76 f. – komplementäre Größe / mit komple­ mentären Aufgaben zum Staat  65, 106 ff., 135, 187, 197, 220 ff., 231, 387 – Kulturmacht  212 – Organisationsvorbild für den Staat  46 Kirche, anglikanische  8 Kirche, evangelische – Verträge mit dem Staat, Sozial- und Gesundheitswesen  482 f. Kirche, katholische  22 – Akzeptanz des Staates  40, 218 f. – Annäherung an die Moderne  50 ff., 122, 358 ff. – Distanz zum Fortschritt  129 f. – ekklesiologisches Selbstverständnis  129 – Entweltlichung  325, 650 f. – Neutralität in Fragen der Staatsform  192 – Rechtstreue  368 – Selbstbehauptung im Pluralismus  222 f. – Verfassungskompatibilität  327 f. Kirchenasyl  272 f., 351, 467 f., 522 Kirchenaustritt  370, 717, 741 – Ausfluss negativer Religionsfreiheit  583 – Causa Zapp  338–341

791

– Folgen für Kirchensteuer  582–584 – innerkirchliche Folgen  340 – Verletzung der Loyalitätspflichten des kirchlichen Arbeitnehmers und Kündigungsgrund  752 ff. Kirchenautonomie (s. a. Schranken des für alle geltenden Gesetzes)  44, 109 f., 125, 183, 262 ff., 299 f., 333, 437, 439 f., 453, 456 f., 457–466, 469, 472, 475, 477, 490–492, 496, 502 f., 507, 519, 534 ff., 540 f., 543, 552, 558, 563, 584, 743 ff., 752 f. – im Denkmalschutz  537 f. – im Verhältnis zur Religionsfreiheit  493 Kirchenbaulast (s. a. Baulast) – Finanzierung durch Staatsleistungen  602 f. Kirchenglocken (s. a. Glockenläuten, res sacrae)  543 f. Kirchengutsgarantie  460, 468, 537, 574 f., 629, 635 f. – Verhältnis zur Eigentumsgarantie Art. 14 GG  468, 629, 635 f. Kirchenmitgliedschaft(srecht), autonome Definitionshoheit der Kirche  582 Kirchensteuer  338–341, 369 f., 580–587, 651 – Beleihung durch zur Verfügung stellen von Hoheitsmacht  580 f. – Erhebungsmodalitäten  584–586 – gemeinsame Angelegenheit von Staat und Kirche  370 – Grundrechtsbindung durch Teilhabe an staatlicher Besteuerungsgewalt  429 – Legitimität  219 f., 257 f., 288, 305, 584 – (primäres) Mittel zur Finanzierung der kirchlichen Aufgaben  243 f., 411, 476, 586 f., 624 – Verfassungsmäßigkeit  580 f. Kirchensteuerpflicht – Beendigung durch Erklärung des Kirchenaustritts  339

792

Sachwortregister

– der Fall Zapp  338–341 Kirchlichkeit  324 f. – religiöse Vitalität als Voraussetzung  742 Kirchturm/Kirchengebäude  214 Koalitionsfreiheit  333 f. 453, 504 – Widerspruch zum kirchlichen Arbeitsrecht  528 f. Kompostierungseffekt bei kirchlichen Lehren (s. a. Dignitatis humanae)  359 Kondominium von Staat und Kirche beim Religionsunterricht  269, 315, 379 ff., 387, 402, 645, 691 – kondominiale Verantwortung  275 Konkordat (s. Staatskirchenvertrag[srecht], Reichskonkordat) Konstantinische Wende  324 f. Kooperation zwischen Staat und Kirche (s.a. cooperatio ad malum, res mixtae)  196 ff., 296 ff., 348–373, 573 – Klugheitsgebot  297 – Kooperationsrisiken  297 ff., 366 f. – Mitmachzwang  271, 298 – Sektor sozialer Dienstleistungen (Phänomen „goldener Zügel“, „wer zahlt, schafft an“) – Verhältnis zwischen Heteronomie und Kirchenautonomie  539 f., 298, 426 f., 478 f., 504–506 – Zusammenwirken beim Religionsunterricht  378 Kopftuch (s. Islam) Körperschaftsstatus von Kirchen und Religionsgesellschaften (Rechtsform Körperschaft des Öffentlichen Rechts nach Art. 137 Abs. 5 WRV)  183, 218, 219 f., 262, 268 ff., 275 f., 286, 289, 305 f., 331, 365, 572 – Abgabenbefreiung/Steuervergünstigung  453, 604 f.

– Differenz zwischen ekklesiologischer Größe und kirchensteuerhebender Körperschaft  338–341 – Ergänzung korporativer Religionsfreiheit  105 – Gemeinwohldienlichkeitsvoraussetzung  317 f. – Grundlage für öffentlich-rechtliche, nicht notwendig hoheitliche Handlungsform  546 – Grundrechtsfähigkeit  440 f., 444, 551 f. – kein Gesamtstatus  558 – Legitimation für finanzielle Vorzugsstellung  604 – Medium der Grundrechtsfreiheit  557 – objektivrechtlicher Charakter  123 – Organisationsform auch für Sekten  305 – Rechtsformgarantie der Verfassung und Rechtsweg bei kirchlichen Realakten (s.a. Glockenläuten)  543, 559 ff. – Rechtstreue  270 ff., 368 – Statusvorenthaltung kein Eingriff in Art. 4 GG  306 – Steuererhebungsrecht (Beleihung mit Steuerhoheit durch Art. 137 Abs. 6 WRV)  220, 580 f. – Voraussetzung für den Erlass kirchen­ eigener Denkmalschutzregeln  540 – Zuschnitt auf christliche Kirchen  305 f., 665 Krankenhaus, katholisches  110, 360, 367, 489 ff., 513, 522 f., 741 – Loyalitätsobliegenheit der Arbeitnehmer  418 f. Krankenhaus, kirchliches  13, 198, 233 f., 235, 235 f., 269 , 298, 333, 408, 410, 413 ff., 419, 441 Krankenhausförderung, -finanzierung durch den Staat  442 ff., 505 f., 637 f. Kreuze/Kruzifixe (s. a. Symbol, religiöses) – appellativer Charakter  172 f.

Sachwortregister – Grundrechtseingriff  172, 771 – Identität des Staates  175 f. – Schule  163, 169, 292 – Sinnbezüge  173 – Symbolcharakter  163 Kruzifix-Beschluss des BVerfG  163 ff. – Konfrontation/Konfrontationsverbot  168 f., 771 f. – Kritik  164–166, 257 – Lernen „unter dem Kreuz“  168 Kulturkampf  197, 294, 352, 367, 369, 587, 594, 596, 739 f. – kulturkampfähnliche Angriffe auf das Arbeitsrecht  334 Kulturstaat  211 f., 214, 215 f., 237, 277, 573, 579, 697, 769 Kulturvorbehalt (des Staatskirchenrechts)  331, 368 f., 696 f. – in der Variante Traditionsvorbehalt  730 ff. Kunstfreiheit  169, 311, 537, 576, 761, 762 Laizität, laizistisches Trennungsmodell  148 f., 156, 177, 183, 197, 259, 261, 265, 287, 296, 310, 321, 323, 656 ff., 571 f., 573, 594, 711 Lebensgestaltung-Ethik-Religionskunde (LER) in Brandenburg  392–400 – Modellversuch im Land Brandenburg  392 ff. – zivilreligiöses Surrogat  270 Lehrerlaubnis, kirchliche (s. a. missio canonica, vocatio)  382 Leitkultur  664 Loyalitätspflicht kirchlicher Arbeitnehmer  264, 372 f., 466, 524–526, 741–754 – Bundesarbeitsgericht  747 f. – Jurisdiktionsgewalt des Staates  749–751 – staatliche Anerkennung  750 – Verletzung durch Kirchenaustritt  752 f.

793

Mandat der Kirchen (s. a. Wächteramt) – moralisches/sittliches  184 f., 246 ff. – politisches der Kirchen  183 Meinungsfreiheit  56, 57, 60, 81, 82, 86, 109, 122, 183, 202 f., 246, 285, 328, 446, 467, 739, 755–782 – Schranke der religiösen Belange  763 Menschenbild, christliches  23 f., 41 ff., 49, 127 Menschenrechte  6, 24, 34, 37, 42, 49, 61, 62, 67, 70 f., 74, 92, 96, 100 f., 104 f., 115, 130, 133 f., 325, 358 – Begriffsbestimmung  104 f. – Derivat bzw. Impuls des Christentums  34, 144, 325 – Genese und Verhältnis zur Moderne  108 f., 111 f., 116 – Kirche  130, 134–137, 245, 282, 361 – religiöse Überhöhung  204 – Universalität  134, 136 Menschenrechtsverständnis  69 f., 76 f., 93, 133 – Drei-Perioden-Modell  71 Menschenwürde (s.a. Abtreibung)  23 f., 98 ff., 325 f. – Christliche Substanz, Gottesebenbildlichkeit/dignitas humana  23 f., 98 ff., 250 ff. – Delegitimation der Sklaverei (Papst Paul III.)  43 – Grundlage der Grundrechte  468 – Grundlage der Menschenrechte 98 – Schöpfungs- und Erlösungslehre  42, 98–100 Militärseelsorge (s. Anstaltsseelsorge) Minarett  214 Missbrauch, sexueller  198, 361 f. – (Missbrauchs-)Skandal in katholischer Kirche  128, 361 f., 765 Missio canonica (s.a. vocatio)  109, 267, 294, 382, 390

794

Sachwortregister

Mohammed-Karikaturen  756, 761 Moral 184 ff., 274 f., 279, 351, 354–356, 655, 657 Moraltheologie (Morallehre, kirchliche)  108, 328, 347 ff., 354 ff. – Ehe und Sexualität  128 Moschee  276, 316, 318, 781 Muezzin-Ruf  214

– objektivrechtlicher Grundsatz  703, 706

Nächstenliebe  213, 236, 246, 251, 315, 351, 455, 781 – christliche  24, 37, 127, 134, 404 ff., 407 ff., 491 f., 529 – kein Rechtfertigungsgrund für Norm­ überschreitungen (s. a. Kirchenasyl)  467 f., 522 – kirchlich-organisatorische Seite  407 ff., 519 f. – religionsfreiheitliche Dimension  450 f., 519 – Tätigkeit des Einzelnen  424 Nationalismus  201 f. Nationalstaat  4 f., 146, 150, 294 Naturrecht  32, 36 ff., 57 f., 60 f., 68, 78, 94 f., 98, 100, 103, 108 f., 116, 122, 126, 327 f., 355, 359, 360 – Begründungsexzesse  74 Negative Seite der Religionsfreiheit – kein Konfrontationsschutz  167 ff., 708 – kein Religionsförderungsverbot  771 – kein Religionsverhinderungsrecht  706 f. Neutralität, religiös-weltanschauliche des Staates  26, 113, 149, 151, 166, 175, 184, 235, 247, 252, 261, 267, 274, 276, 293, 296, 298, 304, 322, 326, 331, 338, 342, 368, 379, 377, 382, 384 f., 391 f., 427, 455, 459, 498, 572, 576, 581, 582, 623, 638 f., 662, 667, 669, 687, 693, 697, 703, 726, 745, 759 – gegenüber kulturellen Richtungskämpfen  769

– Öffentliche Ordnung als Schutzgut der polizeilichen Generalklausel  780 f.

– religiös- und kirchenfreundlicher Charakter  298 „Nihil obstat“  109 f., 267, 289, 294, 371 Nominatio Dei (s.a. Präambeln)  156 f. Notstand, polizeilicher  778 Notwehr  759 Öffentliches Recht (s. a. Glockenläuten)

– Zuordnung über Sonderrechtslehre  554 Öffentlichkeitsanspruch der Kirchen (s. a. Mandat, Wächteramt)  184, 241, 559 Ökumene  132 f. – Übereinstimmende diakonische Funk­ tionen/Kooperationsmodell  405 f., 424 Ordre public  726, 732, 752 – Prägung durch Christentum  466 Pantheon in Rom  10 Papst, Papsttum  29 ff. – Päpstliches Weltbild  78 ff. – Primat  9 Paritätsgrundsatz  12, 26, 149, 166, 176, 214, 259, 289, 298, 318, 342, 368, 475, 572 f., 623 f., 616, 620, 623 f., 636 Patriarchat  80 Patriotismus  5, 201 f. – Negativpatriotismus  203 – Verfassungspatriotismus  203 f., 657 f. Piusbruderschaft  202 Pluralismus  233, 279, 301 Präambeln 141 ff., 175, 510 – Gottesbezug/religiöse Bezüge  10, 141–143 , 153–158, 197, 252 – In Kirchenverträgen  510 Privatautonomie  111, 363, 420 f., 438, 469, 525, 743 f., 745 f., 768, 780 f. Privatschule (Art. 7 Abs. 4 und 5 GG)  674 f., 692 f.

Sachwortregister – Genehmigungsbedürfnis  683 – kirchliche  232, 257, 292 Proprium (geistliches, religiöses)  269, 298, 371,402, 414, 421, 424, 438, 498, 500, 501, 522 ff. Provocatio ad deum (s.a. Präambeln)  9, 156, 160 – Gründe  156 – in Landesverfassungen  157 f. Prozession (s. a. Fronleichnamsprozession)  367 Pussy Riot  755 f., 772 Recht, kanonisches  22 Rechtskirche  21 Rechtskultur  21 ff., 608, 732, 758 – Grundrechtskultur  576 Rechtspositivismus  291 Rechtsstaat  107, 119–122, 181, 212, 222, 284, 292, 469 – rechtsstaatliches Verteilungsprinzip  119 f., 436, 473 – Vorbehalt des Gesetzes  764 Rechtsweg bei Kirchenbezug  548 f. Rechtsweg, ordentlicher  543 ff. Reformation  7, 146, 321 f. Reich Gottes als christliche Grundbotschaft  20, 36, 35 f., 134, 179 ff., 189, 248 Reichsdeputationshauptschluss  591, 608 Reichskonkordat  352 f., 383, 482 Religion – Element einer pluralen Gesellschaft  220 – Existenzgrundlage des Staates  192 – im Religionsunterricht  384 f. – nationale Integrationskraft  149 f. – zum Nutzen des Staates  193 Religionsausübung, freie  103, 115, 452 – Kirche als Medium zur Erfüllung  223

795

Religionsbeschimpfung  331–333, 659, 761 f., 764 f. Religionsfreiheit  7 ff., 12, 49, 56 f., 92 ff., 182 f., 195–197, 266, 273, 284 f., 330, 358, 450 ff., 572, 718 ff, 727 f., 746, 757, 770 ff. – Abwehrrecht  62, 515 – Basis für Staat-Kirche-Relation  283 – blasphemische Äußerungen als Eingriff  771 – erwerbwirtschaftliche Tätigkeit  363, 449 – individuelle  12, 106, 111, 321, 572, 692 – interpretativer Grundrechtssubjektivismus/subjektivierende Betrachtungsweise (s.a. Selbstverständniskriterium)  123, 170 f., 495, 762 f. – Kehrseite der Säkularität des Staats  148, 181, 284 – kein religionsrechtliches Weltenei  219 – keine Deckungsgleichheit mit Kirchenfreiheit  85 – keine Negation von Religion im öffent­ lichen Raum  113 – kollektive R.  655, 665 – korporative R.  12, 106, 111, 219, 321, 436, 450 ff., 537, 692 – negative R.  148, 162, 167 ff., 515, 583 – Passepartout  106 – Schrankenvorbehalt aus Art. 136 Abs. 1 WRV  342 ff. – Schulsektor  167–170, 288 – Schutzbereich  167 f., 454–456, 491, 770 f. – staatliche Religionsförderung als Grundrechtsvoraussetzungsschutz  639 – staatskirchenrechtliche Gewährleistungen als Medium der Religionsfreiheit  260, 275, 288, 428, 468, 694 f. – Verhältnis negative und positive Seite  106–108, 162, 177, 469 f., 703 ff.

796

Sachwortregister

– Verhältnis zur Kirchenautonomiegewährleistung  457 f., 493, 770 – Verhältnis zur moralischen Wahrheitspflicht  88 – Verwerfung und spätere Versöhnung in der katholischen Lehre (s. a. „Dignitatis humanae“)  32 f., 56 ff., 67 ff., 71, 72, 86 f., 327 ff., 350 f. Religionsgemeinschaft(en)  12 f., 62 f., 115, 149, 150, 195, 274 f., 276, 289 f., 298, 305, 316, 321 f., 336, 340, 341 f., 366, 367, 387 f., 389, 433, 452, 490, 511, 515, 518, 533 f., 547, 558, 560, 571, 580 f., 614, 623 f., 635 f., 665, 687 ff., 717, 728 f., 770 f., 777 – altrechtliche R.  612 – elterliche Entscheidung über Aufnahme  719 – korporative Ehre  775–777 – nicht historisch etablierte R.  594 – überindividuelle Ganzheit  492 Religionsgesellschaften  332, 340, 367, 387, 580, 697 Religionslehrer  388 f. Religionsrecht des Staates  12, 216 Religionsunterricht  216 ff. , 268 f., 271, 371, 377–402 – Abmeldemöglichkeit  391 – Alternativverpflichtung Ethik  391 f. – Erteilung in Übereinstimmung mit den Religionsgemeinschaften  216, 269 – institutionelle Garantie  386, 394 f. – Konfessionelle Positivität und Gebundenheit des Lehrinhalts  286, 379, 381 ff. – Legitimation, kulturstaatlich  216–218 – L-E-R in Brandenburg  392 ff., 400 – Medium sittlicher Erziehung  279, 302, 401 f. – ordentliches Lehrfach  215–218, 268 f., 275 f., 379 f., 395–397 – Recht der Eltern  386, 388, 694 f.

– Recht des Schülers 388 – Rechtsanspruch der Religionsgemeinschaft  387 f. – Rechtsposition des Lehrers  389 ff. – schulübergreifender R.  398 f. – Versetzungserheblichkeit  380 f. Res mixta(e) (s.a. Kondominium)  263, 378 f., 425, 463, 513, 531, 599 – Aufgabenteilung zwischen Staat und Kirche (bei der Anstaltsseelsorge)  516 ff. Res sacrae (s.a. Denkmalschutz)  531 – Glocke(n)  545 f., 547 , 561 – gottesdienstliche Gebäude  532 ff., 565 – kultische Prinzipalstücke Altar und Taufstein  536 – Widmung  547, 557, 561 Rundfunkanstalten, öffentlich-rechtliche – grundrechtlicher Status  768 f. Sakralisierung säkularen Rechts  329 Säkularisierung  25, 36 f., 39, 179, 223, 282, 635, 637 – religiöse Ziele in Schutzgütern der Verfassung  766 f., 769 – theologischer Begriff  328 f. Säkularität des Staates  7 f., 11 f., 35, 51 f., 92 f., 112–114, 173, 181, 187, 221, 259,284, 514, 589, 654 Schranken des für alle geltenden Gesetzes (Art. 137 Abs. 3 WRV)  264, 296 f., 300, 366, 456 f., 463–466, 492–498, 728 – Ausschluss von Sondergesetzen  366 – Güterabwägungserfordernis  463 ff., 496 ff., 537 f. – Jedermann-Formel des BVerfG  464, 494 ff., 537 – „Wechselbalg“ des Staatskirchenrechts  492 Schule, bekenntnisfreie (s. a. Bekenntnisschule, Privatschule, Schulwesen) Schulgebet  171 f., 703–712

Sachwortregister Schulhoheit der Länder  174, 394 f., 660, 662, 664, 703 f. Schulwesen  703 f. – bekenntnisfreie Schulen als Ausnahme der öffentlichen Schule  395–397 – Erziehungsrecht der Eltern  682, 685, 693 – Mittel des Staates zur Integration  690 – öffentliches  676, 682 – Schule als Stätte individueller Grundrechtsentfaltung  704 ff. – sozialstaatliche und pädagogische Intention öffentlicher Schulen  679 f. Schwangerschaftskonfliktberatung s. Abtreibung Scientology Church  304 f. Sekten  17, 273 f., 303–306, 383 f., 401, 449, 457 – Grundrechtlicher Schutz  449 Selbstbestimmungsrecht, kirchliches/religionsgesellschaftliches (Art. 137 Abs. 3 WRV, s. a. Arbeitsrecht, Denkmalschutz, Kirchenautonomie, „Schranken des für alle geltenden Gesetzes“)  219, 223, 246, 262, 266, 288, 299, 366, 372, 379, 382 f., 389, 436 f., 454 ff., 458 ff., 472, 490 f., 502, 536 ff., 581, 599, 627, 635, 692, 728 f., 738, 743 ff., 748 – Absage der Rspr. an Bereichsausnahmen  496 – Absorption des Eigentumsrechts und der Kirchengutsgarantie  491 – Destinatare, Teilhabe religionsgesellschaftlicher Untergliederungen oder zugeordneter Organisationen („kirch­ liche Satelliten“)  417, 459 ff. – grundrechtsgleiche Gewährleistung  226, 440 – Grundrechtsvoraussetzungsschutz von Religionsfreiheit  456 – Körperschaftsstatus  272 – Mohel-Klausel § 1631d BGB  738

797

– Organisationsfreiheit  499 f., 743 f. – Selbstbindung  478 – Umfang („ihre“, d.h. die eigenen Angelegenheiten)  459, 461 ff. – Verhältnis zur Religionsfreiheit  490 Selbstsäkularisierung/Selbstsäkularisation  64, 133 ff., 183, 198, 278–280, 301 f., 329, 524 – Folge von Politisierung  240 – Gefahr kirchlicher Sozialeinrichtungen (sozialstaatliche Nivellierung)  236, 263 ff., 265 f., 299 ff., 422 – Kapitulation der Religionsfreiheit  524 – Religionsunterricht  401 f. – Widerspruch zur christlichen Botschaft  134 f. Selbstverständnis als Rechtskriterium (s. a. Religionsfreiheit)  123, 344, 452, 495, 519, 551, 749 ff., 767 f. – als Selbst-Bestimmung  749 – Form anarchischer Definitionsmacht  123 – objektivierende Betrachtung anhand Genese  452, 459 Selbstverständnis, kirchliches  76, 228, 246, 339, 403 f., 417, 421, 424, 437, 490, 498 ff., 519, 534, 537, 540 f., 547, 563 Societas perfecta (et completa)  54, 89, 95 f., 147, 222, 281, 283, 362 Sonn- und Feiertagsschutz  213, 264 f., 300 f., 369, 772 f. Sozialstaat  236 f., 434 ff., 439 f., 491, 494, 502, 523, 525, 743 – christliches Ethos als Vorbild  24 – Defizitkompensation durch Caritas  185 – Freie Träger  521 – Gefahr „kalter Säkularisierung“ für Caritas/Diakonie  263 ff., 299 ff., 371, 416, 420 – Kirche als Agentur/Medium  236 f., 263–265, 298 f., 425, 427, 434 – Staatsziel  437 f., 502

798

Sachwortregister

– Zustimmung der Kirche von Anfang an  60 Staat (s.a. Kulturstaat, Säkularität) – Allzuständigkeit  91, 222, 462 f., 497, 511 – bracchium saeculare  87, 106, 284, 315, 365 – christlicher  147, 162, 282, 594 – Derivat des Christentums  35 f., 37, 250 f. – Gewaltmonopol  50, 107, 369, 759 – Grundstrukturen des Verfassungsstaates  51, 93 f., 218 – (keine) societas perfecta  222 Staat-Kirche-Verhältnis  59, 72, 96, 116 – Bedeutung des Staatskirchenrechts  260–263, 552 – Dualismus geistlich-weltlich  25, 40, 134 – Einheit von Staat und Kirche, mittelalterliche (bi)polare  92, 146, 181, 189, 191 – Finanzielle Unterstützung durch den Staat und Abhängigkeit  571 f., 578, 623 f. – gemeinsame Aufgaben  369–373 – Identitätsdefinition durch Verhältnisbeschreibung  286 – Katholische Kirche und die monarchische Ordnung  55, 90–92, 96 – Kirchlicher Einfluss auf politische Prozesse  232 f., 242 f. – Kooperation (und deren Ambivalenz)  130 ff., 149, 196 ff. 241 f., 287; 367 f., 533 – Politische Betätigung und Engagement der Kirchen  237–240, 296 – Staat und Gesellschaft  220 f., 256 – status negativus der Kirche gegenüber dem Staat  387 – Verbot der Staatskirche (Art. 137 Abs. 1 WRV/Art. 140 GG, s.a. Trennung)  623

– Ziele und Aufgaben  362 f. Staatskirche  8 f. Staatskirchenrecht  197, 200, 224 f., 256–258, 315, 321 ff. – autochthones Recht  286 – Bedingungen des Schutzes der staatskirchenrechtlichen Garantie  460 f., 552 – Bestandsschutz des Besitzstandes des Kirchen aus Art. 138 I WRV (Art. 140 GG)  622, 627 – coincidentia oppositorum  321, 571 – Gefüge von Grundrechten und institutionenbezogenen Gewährleistungen  218 ff. 266 ff., 287 f. – konstitutionelle Instabilität  288 – Leitgedanken des Staat-Kirchen-Kompromisses  572 f. – Medium der Ausübung von Religionsfreiheit  219, 260, 288 f., 428, 557 – Religionsverfassungsrecht  290, 329 f. – staatskirchenrechtliche Freiheitsgarantie  458 f. – Vorprägung durch christliche Kirchen/ Kirchen als Prototypen staatskirchenrechtlicher Gewährleistungen  258 f., 277, 387, 665 Staatskirchenvertrag(srecht)  291, 367, 482 f., 511 – Regelungsinstrument des Ausgleichs  149 – Reichskonkordat , Abschluss  353 Staatslehre, kirchliche/päpstliche  34, 38, 52, 85, 88 ff., 94 ff., 227 – Neutralität gegenüber Staatsform  59, 97 Staatsleistungen an Kirchen  578 f., 589–641, 643–647 – Ablösung, vertragliche  627 f., 646 f. – Ablösung keine Abschaffung  645 – Ablösungsauftrag  259, 293, 595–597, 609, 613–622, 635, 643 ff.

Sachwortregister – Ablösungsmodalitäten (etwa Einmaloder Ratenzahlung)  614 ff. – Ablösungsverfahren  597 f., 614 f., 620 f., 643–647 – Änderbarkeit  625 f. – Begriff  597 ff. – Bestandsschutz  622 ff., 627 – Betrags-, Bedarfsleistungen  602 f. – Bund-Länderzuständigkeiten  609, 616 f., 630, 632 f. – Bundesgrundsätzegesetz  617–620 – de facto-Ablösung durch Vertrag  627, 646 f. – historische Bedingtheit und Begründetheit  293, 579, 589–592 – Kommunale Bau- und Unterhaltungsverpflichtungen (s. a. Kirchenbaulast)  610 ff., 644 – Legitimationsanfragen  592 ff., 643, 647 – Neubegründungsoption  634–636 – neue (östliche) Bundesländer  630–634 – positive und negative St.  579, 603–605, 609 – Rechtsgrundlagen  606, 608 – Säkularisationsvorgänge der Neuzeit als Entstehungsmotiv (RDHSchl 1803 u. a.)  590–592, 608 – Status quo-Garantie, vorläufige  622, 626 ff., 646 – Veränderungssperre  625–627 – Wegfall infolge veränderter Verhältnisse?  624 ff. – 1919 als ‚Normaljahr‘  607, 613 Staatstheorie  53 ff., 91, 95–96, 116 f. Subsidiaritätsprinzip  4, 91, 234,371, 408, 426, 447, 470–472, 475, 503, 520 – Ausnahme bei Vorrang öffentlicher Schulen  683 – Bundessozialhilfegesetz  471, 485 – sachdifferenzierte Umsetzung von Grundrechten  475

799

– Trägerpluralität als Absage an staatliches Sozialmonopol (relativer Vorrang freier Träger zur Erfüllung öffentlicher Aufgaben)  470 f., 502–504, 520 Syllabus errorum von 1864  29 f., 51, 59, 69, 74 f., 85, 103 Symbole – Doppelfunktion als religiös und kulturell  331 – religiöse  163 ff., 167 f., 169 f., 171, 172 ff., 212 f., 216, 308 f., 532, 670, 716 f., 771 – staatliche  777 Tarifautonomie  373, 411, 528 Taufe  723 Terrorismus, islamistischer  128, 133 Theologische Fakultät(en)  123, 200, 276, 289, 368, 371, 574, 599, 645, 696 – Islamische Fakultät(en)  276, 341 Toleranz  16, 18, 69, 73, 84, 128 f., 132 f., 229, 237, 274, 304, 314, 400, 522, 760, 773 – Amtspflicht  309 – Bedeutungsfacette des Kreuzes  177 – Christliche Toleranzreligion  135 – Erziehungsziel  151, 247, 393, 768 – Kirchlichkeit  523 f. – Schulgebet  707 ff. – Staat als neutraler Hüter  234 – Tugend  470 – Verfassungsprinzip  166, 186, 707 Transparenz in kirchlichen Vermögensangelegenheiten  364 f., 647 Transzendenz  10, 179–187 Trennung von Staat und Kirche  218, 283, 365 f., 511 – beidseitige Unabhängigkeit  265 f., 297 – historisch  258–260, 281 – Identitätsverkörperung der Kirche  285 f.

800

Sachwortregister

– im Islam  49

Wächteramt

– Religionsunterricht Modifikation der Trennung zu einem Kondominium  378 ff., 402

– der Kirche  184, 241

– Widerspruch/Kritik  51, 57, 266

Wahrheit  82 ff., 84 ff., 99, 106, 114, 199, 204, 226, 284 f.

Treuepflicht  744 f. Universitäten – Grundrechtsverpflichtung  552 f. Vereinsfreiheit  246, 185, 446 ff.

– staatliches  336 f., 430, 661, 713, 721, 724, 736 f.

– als päpstliches Gegenprinzip  82, 84 – Wahrheitsanspruch, kirchlicher (als Relativierungsresistenz)  33, 56 ff., 59, 61, 76, 84–87, 106, 114 f., 137, 199 f.

Verfassung

Weimarer Kirchenartikel  224, 269, 288, 293, 322, 510, 512

– Europa  146

Weimarer Schulkompromiss  677

– Gefahr religiöser Überhöhung  204

– Programm der Einheitsschule  678

– Legitimation  152 f.

Weltanschauungsgemeinschaften  12, 215, 332

– polnische  141 f., 159 – säkulares symbolum fidei  206 – staatliche Normenhierarchie  314 – Verfassungstheorie und Strafrechts­ dogmatik  774 Verfassungserwartungen an die Kirche  65, 184, 226–230, 245 f., 269, 313 f., 423 – Religionsunterricht  400 ff.

Weltbild-Affäre  649–655 Westfälischer Frieden  319 Wiedervereinigung  620 f. Wirtschafts- und Finanzkrise  650 Wissenschaftsfreiheit  105, 116, 328 – Interpreten der Wissenschaftsfreiheit  576

– Typologie  231–237

Zeugen Jehovas  270 f., 305

Verfassungsstaat  30, 34 f., 173, 207, 212, 249 f.

Zivilreligion  25, 193–197, 200–203, 205–207, 383

– als Raum für kirchliches Leben  359

– Ausprägungen  781

– säkularer Charakter  321, 326

Zwei-Reiche-Lehre  189

Verfassungstext  8–10

Zweites Vatikanisches Konzil (s. a. Dignitatis humanae)  32 f., 57, 61 ff., 69, 76, 103 f., 180, 211, 284, 324, 358, 533

– Berufung auf Gott  158 f. – Nennung des Worts „Gott“  151 f. Versammlungsfreiheit  246 Virginia bill of rights  195 Vocatio (s.a. missio canonica)  382, 390 Volkskirche, Erosion  253, 302 f., 323, 334 Volksschule, private  675 – Monopol der staatlichen Schule  675 f.

– Dekret über den Ökumenismus  405 f. – historischer Friedensschluss mit der Moderne  103 f. – „konziliarer Vandalismus“ (hinsichtlich Liturgiereform)  211 f. – Liturgiereform und Kirchengebäude  603